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ARCHIV
FÜR
SOZIALE GESETZGEBUNG UNI) STATISTIK.
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ARCHIV
FÜR
SOZIALE GESETZGEBUNG
UND STATISTIK.
ZEITSCHRIFT
ZUR ERFORSCHUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN
ZUSTÄNDE ALLER LÄNDER
IN VERBINDUNG MIT
EINER REIHE NAMHAFTER FACHMÄNNER DES
IN- UND AUSLANDES
HERAUSGEGEBEN VON
Dr. HEINRICH BRAUN.
ACHTZEHNTER BAND.
BERLIN.
CARL HEYMANNS VERLAG.
1903.
HK UXELI.ES: L1BRAIHIE EL’ROl'EKN.YF. C. MUQCAKDT. — BUDAPEST: FKRÜ1 NAN B
I’Peifkr. — CHRISTIANIA : B. aschekouo & co. — HAAG: i.ibkairie belinfantk
frRrkd. — KOPENHAGEN: amdk frkd. höbt* sön. — LONDON: david nutt. —
NEW- YORK: GUSTAV b.stbchkht. — PAPIS: H. i.k soudier. — ST. PETERSBURG:
k. L. ricker — ROM: loeschf.r a co. — STOCKHOLM : samson & wallin. —
WIEN : manische k. k. hokvbrlaos- ünd oniversitatebochhandluno. — ZÜRICH :
MEYER & ZELLEU.
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Nachdiuck und Uebersetsung voi behalten.
VerlagvArcliiv 3732.
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Abschiedswort.
Nach sechzehn Jahren lege ich hiermit die Redaktion des von
mir begründeten Archivs nieder. Ob die in 18 Bänden verkörperte
Arbeit dieser Zeitschrift die im Einführungsartikel geäufserte Hoff-
nung, dafs sie „für Wissenschaft und Leben nicht ohne ein frucht-
bares Ergebnis bleiben wird“, erfüllt hat, darüber zu urteilen steht
mir nicht zu. Ich will lediglich mit einem Wort erklären, worin
ich die Berechtigung erblicke, von der freiwillig übernommenen
Aufgabe mich aus eigener Entschliefsung zu trennen und sie anderen
Händen zu überlassen.
Als ich vor mehr als einem halben Menschenalter das Archiv
ins Leben rief, um einen Mittelpunkt für die wissenschaftliche Er-
forschung der wichtigsten Teile des sozialen Problems zu bilden,
war die soziale Gesetzgebung in ihren ersten Anfängen und das
Interesse für Sozialpolitik — von den Kreisen der sozialdemokra-
tischen Partei abgesehen — ein spärliches. Dieses Interesse zu
steigern durch eine wissenschaftlich unbefangene , rückhaltlose
Darstellung der thatsächlichen Zustände der Gesellschaft und die
kritische Erörterung der Leistungen wie der Erfordernisse der
sozialen Gesetzgebung, bedurfte es eines bis dahin fehlenden Organs.
Ein solches zu schaffen, war m. E. damals nur jemand im stände,
der als Sozialdemokrat einen stark entwickelten Sinn für die sozial-
politische Seite jeder volkswirtschaftlichen Frage, als Akademiker
ausreichende Beziehungen mit den littcrarisch thätigen Fachmännern
Deutschlands wie des Auslandes und zugleich nach allen Seiten
eine vollkommene Unabhängigkeit bcsafs, um eine streng wissen-
schaftliche Haltung glcichermafsen gegen die Einflüsse der Regierungen,
-
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VI
Abschiedswort.
der politischen Parteien und akademischen Richtungen zu sichern.
So stellte ich mir die Aufgabe und bemühte mich um ihre Lösung.
In der seitdem verflossenen Zeit hat sich ein unverkenn-
barer Umschwung vollzogen. Zwar befindet sich die soziale Gesetz-
gebung trotz relativer Fortschritte in einem sehr unbefriedigenden
Zustand, aber das sozialpolitische Verständnis und die Einsicht in
das dringende Bedürfnis einer Förderung der sozialen Gesetzgebung
und ihres Ausbaues nach allen Richtungen ist heute weitverbreitet.
Und an Kräften mit der spezifischen Begabung, eine Zeitschrift
wie das Archiv zu leiten, ist jetzt auch kein Mangel.
Ohne eine Pflicht zu verletzen, kann ich deshalb von der
Redaktion zurücktreten, um mich fernerhin der politischen Thätig-
keit zu widmen.
Mit Vertrauen darf ich die Leitung der Zeitschrift der neuen,
aus den Herren Professor Werner Sombart, Professor Max Weber
und Dr. Edgar Jaffe sich zusammensetzenden Redaktion überlassen,
die die Zusage gegeben hat, das Archiv im alten Geist weiter-
zuführen; ich kann das umso mehr, als Prof. Sombart vom 2. bis
zum 18. Band durch eine Fülle von Arbeitcn’das Archiv wesent-
lich unterstützt, und Prof. Weber auch bisher schon durch Beiträge
zu seiner Förderung beigetragen hat.
So scheide ich vom Archiv mit dem Wunsch für sein Ge-
deihen und mit herzlichem Dank an seine Mitarbeiter, an die ich
ebenso wie an die Leser die Bitte richte, der Zeitschrift fernerhin
ihr thätiges Interesse zu bewahren.
Berlin, Dezember 1903.
Heinrich Braun.
INHALT DES ACHTZEHNTEN BANDES.
Seite
Braun, Dr. Heinrich, in Berlin, Abschiedswort . ... V
ABHANDLUNGEN.
Braun, Dr. Adolf, in Nürnberg, Die Reichstagswahlen von 1898 und 1903.
Eine statistische Studie 539
l.evy, Dr. Hermann, in Berlin, Landarbeiterfrage und Landflucht in
England 483
Macrosty, Henry \W, in London, Der Kechtszustand der Gewerkvereine
in England 322
Mangoldt, Dr. Karl von, in Dresden, Ein Reformprogramm für die
Wohnungs- und Ansiedlungsfrage in Deutschland 1 1 2
Mombert, Dr. Faul, in Karlsruhe, Wohlfahrtseinricbtungen der Arbeitgeber 519
Schüler, Dr. F., ehemal. schweizerischem Fabrikinspektor, Die Revision des
schweizerischen Fabrikgesetzes 21. 282
Schulz, M. von, Vorsitzendem des Gewerbegerichts in Berlin, Zur Koali-
tionsfreiheit 457
So zn hart, Prof. Dr. W., in Breslau, Beruf und Besitz . . . . .. I
Vandervelde, Prof. Dr. Emil, Die Rückkehr nach dem Lande ... 66
Verkauf, Dr. Leo, in Wien, Agrarschutz und Sozialreform . . 225
GESETZGEBUNG.
Deutsches Reich. Der Gesetzentwurf betreffend Kaufmannsgerichte. Von
Dr. K. Flesch , Stadtrat in Frankfurt a. M 127
Gesetzgeberische Fortschritte auf dem Gebiet des Wohnungswesens. Von
Dr. Hugo Lindanaitn in Stuttgart-Degerloch 138
Schutz der Arbeiter in den Tierhaar- und Borstenindustrien. Von Dr. Adolf
Braun in Nürnberg 377
Lübeck. Wortlaut des Gesetzes betreffend die Wobnungspflege in der Stadt
Lübeck und deren Vorstädten 149
Württemberg, Verfügung des Ministeriums des Innern über die Wohnungs-
aufsicht .... 152
Hessen. Gesetz betreffend die Wohnungsfürsorge für Minderbemittelte 157
Frankreich. Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffentlicher Arbeiten
in Frankreich. Von Raoul Jayt Professor an der juristischen Fakultät
in Paris 161
Wortlaut des Dekretes Uber die Arbeitsbedingungen bei Vergebung von Auf-
trägen seitens des Staates 179
Wortlaut des Dekretes über die Arbeitsbedingungen bei Vergebung von Auf-
trägen seitens der Departements 1 8 1
Wortlaut des Dekretes über die Arbeitsbedingungen bei Vergebung von Auf-
trägen seitens der Gemeinden und der öffentlichen Wohlthätigkcits-
anstalten .... 183
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VIII
Inhalt.
Seite
Italien. Das neue Gesetz betr. die Frauen- und Kinderarbeit. Eingeleitet
von Prol. Carlo F. Ferraris , in Padua 564
Wortlaut des Gesetzes vom 19. Juni 1902, betr. die Frauen- und Kinderarbeit 573
Ucstcrrcich. Der neue österreichische Gesetzentwurf zur Hintanhaltung der
Trunksucht. Von Prof. Dr. Max Gruber , Direktor des hygienischen
Instituts der Universität München 184
Wortlaut des Gesetzentwurfs, womit Bestimmungen zur llmtanhaltung der
Trunksucht getroffen werden . . ~ 192
Schweiz. Ein Gesetz über Arbeitstarife und Kollektivstreiligkeiten. Von
Jean Sigg in Genf 344
Vereinigte Staaten von Amerika. Die amerikanische Arbeitergesetz-
der Rechte an der Universität von Texas in Austin 199
Die amerikanische Arbeitergesetzgcbung des Jahres IQQ2. Von Dr. jur.
Charles Henry Huberichy Dozent der Rechte an der Universität von
Texas in Austin 578
Flesch, Dr. Karl, Stadtrat in Frankfurt a. M., Die deutschen Stadtgemeinden
und ihre Arbeiter 445
Heiss, Dr. Clemens, in Berlin, Die Arbeitseinstellungen und Aussperrungen
in Oesterreich wahrend der Jahre 1894—1901 . . 38s
Kümmel, H., Zahnarzt in Perlin, Die progressive Zahnen ries in Schule und
Heer und die zahnhygienischen Aufgaben der Sanitätsbehörden im
Interesse der Volkswirtschaft ^91
Paszkowski, Dr. W., Bibliothekar in Herlin, Die Hugo Heimannschc Biblio-
thek und Lesehalle in Berlin in den ersten vier Jahren ihres Be-
stehens und ihr gedruckter Katalog 630
LITTERATUR
Curti, Theodor, Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert. Besprochen
von Dr. E. Hof mann in Fraucnfcld ... 645
David. Eduard. Sozialismus und I^andwirtscliaft. 1. Band. Die Betriebs-
frage. Besprochen von Dr. Conrad Schmidt in Berlin 637
Litteratnr von und über Gewerkschaften. Besprochen von Dr. Adolf Braun
in Nürnberg 204
Schulz, M. vM Gcwcrbegerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung
vom 29. September 1901 erläutert. Besprochen von Dr. Karl Flesch
in Frankfurt a. M 223
Die direkten Staatssteuern des Kantons Zürich im 19. Jahrhundert. Be-
sprochen von Dr. E. Hofmann in Frauenfeld Ö50
REGISTER zu Band I- XVlll dea Archivs,
Autorenregister 6^2
Topographisches Register 679
Sachregister 689
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Beruf und Besitz.
Von
WERNER SOMBART.
I. Die Gliederung der Bevölkerung nach dem Berufe.
Seit der Menschen so viele geworden sind, beschäftigt man
sich gern damit, sie nach allen möglichen Unterscheidungsmerk-
malen zu rubrizieren, in Gruppen zu ordnen. Der Kriterien, nach
denen die Gruppierung vorgenommen wird, existieren so viele, als
ein Mensch Eigenschaften besitzt. Ob er alt, ob jung, ob Mann,
ob Frau, ob Jude, ob Christ, ob Deutscher, ob Pole, ob Lediger,
ob Ehemann, ob Verrückter oder Gesunder, ob Verbrecher, ob
wohlgesitteter Bürger, ob Rundkopf, ob Langkopf: alles kann einen
Anlafs zur Registrierung und Klassifizierung des einzelnen bieten.
Und offenbar giebt es nun auch ökonomisch bemerkenswerte Eigen-
schaften , die die Bürger eines Landes voneinander unterscheiden
und nach deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein man die
Bevölkerung in Gruppen einteilen kann. Wir können in diesem
Falle von sozialen oder wirtschaftlichen Gruppen sprechen.
Das erste Unterscheidungsmerkmal, nach dem man die sozialen
Gruppen sondert, ist die Berufszugehörigkeit Nach den Ergebnissen
der Berufszählung von 1882 und 1895 für das Deutsche Reich ge-
hörten von je hundert Personen der Gesamtbevölkerung zu der Be-
rufsabteilung
1 8S2 1 895
A. Landwirtschaft, Gärtnerei und Tierzucht, Forstwirtschaft und
Fischerei 42,5 35,7
darunter: Landwirtschaft allein . . 41,4 34,4
B. Bergbau und Hüttenwesen, Industrie und Bauwesen. . . . 35,5 .39,1
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. I
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Werner Sombart,
1882 1 895
C. Handel und Verkehr 10,0 11,5
D. Häusliche Dienste (cinschl. persönliche Bedienung), Lohn-
arbeit wechselnder Art 2,1 1,7
E. Armee-, Hof-, Staats-, Gemeinde-, Kirchendienst, freie Berufs-
arten 4,9 5,5
E. Ohne Beruf und Bcrufsangabc . . . 5,0 6,4
100 100
Aus diesen Ziffern vermögen wir die uns bekannten Tendenzen
der volkswirtschaftlichen Entwicklung ohne weiteres abzulesen :
Verringerung der landwirtschaftlichen Bevölkerung; Ver-
mehrung der Erwerbstätigen in Gewerbe, Handel und Verkehr;
Anwachsen der Gruppe E und F: Beamte aller Art, denn die
Menge in Ordnung zu halten wird immer schwieriger; freie Be-
rufsarten und Rentiers: denn die Gesellschaft wird immer reicher.
Noch deutlicher treten diese Grundzüge unserer gesellschaft-
lichen Umschichtung zu Tage, wenn wir entfernte Zeiträume mit-
einander vergleichen. So gehörten im Königreich Preufsen (ich
stelle die Ziffern für das Königreich alten und neuen Bestandes
zusammen, weil die Verschiebungen in dem Anteilsverhältnis un-
bedeutend sind) von je hundert Personen zu den Berufsgruppen
(nach den amtlichen Zählungen)
■843
1895
A.
Landwirtschaft
60,84 — 61,34
36.12
B.
Gewerbe
23.37
38.37
C.
Handel und Verkehr
•.95
11,39
D.
Häusliche Dienste
(in den übrigen Berufs-
gruppen mitgezählt)
2,09
E.
u. F. Beamte, freie Berufe u. Berufslose
4,5-5
11,67
100
100
Betrachten wir nun aber die Gliederung der Bevölkerung nach
Berufen im einzelnen etwas genauer, so fallt uns zunächst die That-
sache auf (die sich ebenfalls als ein Ergebnis uns bekannter Ent-
wickelungsreihen darstellt), dafs die Zahl der verschiedenen Berufe —
durch Differenzierung namentlich der gewerblichen Thätigkeit — - in
fortwährendem Wachsen begriffen ist.
Das Berufsverzeichnis von 1895 weist nicht weniger als
10397 Berufsbenennungen auf: 4218 mehr als im Jahre 1882.
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1 1 •. 1
Beruf und Besitz.
3
Eine Differenzierung ist wohl auch insofern eingetreten , als heute
weniger Personen verschiedene Berufe zu gleicher Zeit ausüben.
Ununterbrochen hat sich die allgemeine Tendenz zur Trennung der
einzelnen Berufstäthigkeiten .siegreich durchgesetzt, trotzdem in
einzelnen Sphären des Wirtschaftslebens, namentlich im Handwerk,
eine Gegentendenz sich deutlich verfolgen läfst.
Der Rückgang der handwerksmäfsigen Organisation und die
damit vielfach verbundene Verringerung des Produktionsumfanges der
einzelnen Handwerke hat nämlich in wachsendem Mafse die Hand-
werker veranlagt, den Ausfall an Einnahme durch einen Neben-
erwerb zu decken. Während die einen versuchen , sich aus einem
mit ihrem Produktionsbetriebe verbundenen Ladengeschäfte Ein-
nahmen zu verschaffen (man denke an die Buchbinder, Bürsten-
macher, Drechsler, Glaser, Hutmacher, Kammmacher, Klempner,
Kürschner, Sattler, Schuhmacher, Töpfer, Uhrmacher!), haben die
anderen sich zu helfen gewufst durch Vereinigung mehrerer ehe-
mals selbständiger Produktionszweige: der Schlosser sucht die
Schmiedearbeiten, der Schmied die Schlosserarbeiten an sich zu
ziehen, die Zimmereibetriebe verrichten die Bautischlerarbeiten, die
Tischler setzen die Fensterscheiben ein; die Bäcker treiben nebenher
Konditorei und Pfefferküchelei; Sattler- und Tapezierarbeiten, Stell-
macher- und Schmiedearbeiten werden kombiniert. Noch andere
endlich suchen einen irgend welchen, wie auch immer gearteten
Nebenerwerb zu bekommen. Da finden wir Handwerker im Neben-
berufe thätig als: Zeitungskolporteure, Versicherungsagenten, Spe-
diteure, Pensionshalter, Karusselbesitzer, Lohnkellner, Leichenträger,
Vereinsdiener, Ausläufer, Laternenanzünder , Kirchendiener, Nacht-
wächter, Schulpedelle, Küster, Hausmeister, Ausrufer, Totengräber
und was weiCs ich, als was sonst noch.
Trotz dieser Tendenz zur Berufsvereinigung im Handwerk
(die allerdings wohl nicht in ihrem ganzen Umfange von der Be-
rufsstatistik erfafst wird!) läfst sich nun aber, wie gesagt, im
grofsen Ganzen eine auch in der Gegenwart zunehmende Verselb-
ständigung der einzelnen Berufstätigkeiten nachweisen. Wenigstens
ist dieses das Ergebnis eines Vergleichs der beiden Berufszählungen
von 1882 und 1895. In dem Zeitraum, der zwischen ihnen liegt,
stieg die Anzahl der Personen, die einem „Nebenberuf" obliegen,
nur bei den berufslosen Selbständigen: von diesen hatten 1882
179679, 1895 dagegen 201 335 einen Nebenberuf. Da aber doch
im Grunde das Nichtsthun kein selbständiger Beruf ist, so bedeutet
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\V erner Sombart,
die Zunahme der Ausübung einer Erwerbsthätigkeit in der „Berufs-
abteilung“ der Berufslosen doch eher eine Zunahme als eine Ab-
nahme der Berufstrennung, sicher aber nicht das letztere. Uebrigens
hat die Zahl der Berufslosen von 1882 bis 1895 stärker zugenommen,
als die Zahl der „erwerbsthätigen Berufslosen", so dafs diese von der
Gesamtheit der Berufslosen 1895 nur 9,40, 1882 dagegen noch 13,27 11 „
ausmachten.
Wo jedoch schon ein Beruf ausgeübt wurde , ist auf der
ganzen Linie die Kombination verschiedener Berufe sogar in
absoluten Ziffern seltener geworden. Und zwar erscheint mir die
Abnahme der Nebenberufsfälle, angesichts der Kürze des Zeitraums
als eine rapide: sie betrug nämlich über eine halbe Million (3 272 1 1 1
gegen 3 799 596).
Zieht man nun aber die Vermehrung der Erwerbsthätigen in
Rücksicht, so erscheint die Verminderung der Bedeutung neben-
beruilicher Thätigkeit noch erheblicher. Es ergiebt sich dann nämlich,
dafs 1882 noch etwa ein Fünftel (20,96 %), 1895 dagegen nur noch
ein Siebentel (14,29 °/„) aller Erwerbsthätigen (einschüefslich der „be-
rufslosen Selbständigen“) einem Nebenerwerbe nachgingen. Von
loo Nebenberufslallen kommen (1895) auf die Landwirtschaft 32,06,
auf die Gewerbe 45,58, auf Handel und Verkehr 1 1 ,73 , auf häus-
liche Dienste u. s. w. 0,96, auf öffentliche Dienste u. s. w. 3,52,
auf die Berufslosen 6,15.
Diese Verselbständigung der Berufe bringt naturgemäfs in
mehr als einer Hinsicht schwerwiegende Folgen für das Los des
einzelnen Wirtschaftssubjektes mit sich. Oekonomisch bedeutet sie
eine Steigerung des Konjunkturrisikos; also der Unsicherheit, denn
je ausschliefslicher ein Beruf ausgeübt wird, desto gröfser die Wahr-
scheinlichkeit für den Selbständigen wie für den Abhängigen, von
ungünstiger Konjunktur heimgesucht zu werden. Physiologisch ist
die Berufsspezialisierung ebenfalls von tiefeinschneidender Wirkung;
insbesondere darf die Verringerung einer landwirtschaftlichen Neben-
beschäftigung, namentlich für den Handarbeiter, als eine erhebliche
Verschiebung seiner körperlichen wie seelischen Existenzbedingungen
angesprochen werden.
Angesichts dieser Thatsachen könnte man nun zu der Annahme
gelangen : die Berufszugehörigkeit habe heute eine gröfsere Bedeutung
auch für die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft als ehedem.
Eine solche Annahme wäre jedoch durchaus irrig. Es trifft vielmehr
das Gegenteil zu: welchem Berufe jemand angchört, wird immer
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Beruf und Besitz. c
gleichgültiger; anders ausgedrückt: die Ausübung eines bestimmten
Berufs verliert unausgesetzt an gesellschaftbildender Kraft, weil
die Berufsgruppe immer mehr an Festigkeit einbüfst. Und das hat
einen doppelten Grund: es wird nämlich sowohl die äufsere als
auch namentlich die innere Beziehung des einzelnen zu dem Berufe,
den er ausübt, immer lockerer.
Wer aufmerksam meinen Ausführungen gefolgt ist, l) dem mufs
klar geworden sein, dafs das neunzehnte Jahrhundert eine Epoche
unerhört zahlreicher beruflicher Neubildungen gewesen ist. Das
gilt vor allem für die Sphäre der gewerblichen Produktion. Hier
sind die alten Handwerke grofsenteils durch gänzlich anders geartete
Industrieen ersetzt; ehemals zusammengehörige Thätigkeiten sind zer-
legt, heterogene Verrichtungen zu einem einheitlichen Produktions-
prozesse zusammengefügt, zahlreiche Berufe (man denke nur an die
chemische Industrie oder an die Surrogatindustrie!) überhaupt neu
geschaffen worden. Aber es ist nicht nur eine Eigenart der kapi-
talistischen Wirtschaft, dafs sie berufliche Neubildungen hervorruft;
nicht minder charakteristisch ist es für sie, dafs sie die neugeschaffenen
Gewerbezweige einer unausgesetzten weiteren Umbildung unterwirft.
Die Berufsbildung kommt also niemals zur Ruhe. Warum das
der Fall ist, wissen wir. Es ist in der Eigenart der kapitalistischen
Interessen und der ihr dienstbar gemachten Technik und Betriebs-
organisation gleichermaßen begründet.
Die alte handwerksmäfsige Produktionsweise -) beruht auf der
Gruppierung einer bestimmten Anzahl von Arbeitsverrichtungen um
die Persönlichkeit eines technischen Arbeiters. Diese Gruppierung
war das Ergebnis eines langen, organischen Anpassungsprozesses
und mufste ihrer inneren Natur nach die Neigung zur Beständigkeit
besitzen : die empirische Technik enthielt dafür die Gewähr. Denn
was diese an Aenderungen brachte, flofs doch immer wieder nur
aus dem Born des persönlichen Könnens eines lebendigen Arbeiters.
Heute werden die einzelnen Verrichtungen nach sachlich-rationalisti-
schen Gesichtspunkten, ohne jede Rücksicht auf eine organische
Persönlichkeit zu einem einheitlichen Arbeiterprozefs zusammenge-
fafst, der seine Gestalt mit jeder neuen (auf wissenschaftlichem Wege
gewonnenen) Verbesserung des Verfahrens verändert.
Diese sachlich-rationalistische Gruppierung der einzelnen Thätig-
keiten, die in ihrer Gesamtheit einen Beruf bilden, führt also ebenso
notwendig zu einem steten Wechsel, wie die persönliche Gruppierung
die Stereotypierung der Berufe im Gefolge haben mufs. Der ein-
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Werner Sombart,
zelne Produzent hat demnach heutzutage aus rein äufserlichen
Gründen gar keine Zeit mehr, mit einer bestimmt umgrenzten
Berufsthätigkeit zu verwachsen. Die einzelnen Berufe laufen fort-
während durcheinander.
Aber noch bedeutsamer ist wohl die Thatsache, dafs die Mög-
lichkeit, mit seinem Denken und Fühlen ein festes Verhältnis zu
einem bestimmten Berufe zu gewinnen , immer geringer geworden
ist. Zweifellos wird das Bewufstsein der Berufszugehörigkeit um
so stärker sein, je eigenartiger die ausgeübte Thätigkeit ist, dagegen
mufs das Berufsgefiihl auf ein Minimum herabsinken , wenn die
Thätigkeit ihre qualitative Färbung so gut wie verloren hat Be-
rufsgefühl entfaltet sich zum Berufsstolz , der Berufsstolz erzeugt
eine bestimmte Berufsehre. Hat ein Beamter noch eine spezifische
Berufsehre ? Hat sie insbesondere der niedere Beamte ? Als
solcher? Oder in dem Verwaltungszweige, in dem er gerade
beschäftigt ist? Aber diesen kann er beliebig vertauschen: er kann
aus dem Staatsdienst in den Gemeindedienst treten — und um-
gekehrt, und hier wiederum aus einem Bureau ins andere kommen.
Hat der Händler ein spezifisches Berufsbcwufstsein ? Als solcher?
Oder innerhalb seiner Branche? Aber er handelt heute mit Fellen
und morgen mit Kohle. Auch wird die Beziehung des Kauf-
manns zu seiner Ware, wie wir sehen, immer loser. Er bekommt
sie oft gar nicht mehr zu Gesicht; das Handelsgeschäft ist nur noch
quantitativ bestimmt. Hat ein Getreidchändler in Mannheim oder
ein Warenhausbesitzer noch einen ausgeprägten Berufsstolz? Oder
fühlen sie sich nicht vielmehr beide in erster Linie als kapitalistische
Unternehmer? Jedenfalls kann es nur immer der Schatten eines
Berufsbewufstseins sein von dem, was etwa im Mittelalter ein
Handwerksmeister hatte, der sich mit seinen Berufsgenossen um die
Embleme seines Gewerkes scharte wie der Soldat um die Fahne.
Nun sind aber, wie die Statistik lehrt, alle jene, sagen wir einmal
qualitätslosen Berufsarten im Vordringen begriffen, die Erwerbs-
zweige also, die gar keine oder nur geringe berufsbildende Kraft
besitzen, werden immer zahlreicher. Aber auch in der Sphäre
solcher Berufe, die ehemals ein ganz besonders starkes Zugehörig-
keitsgefühl in denen, die sie ausübten, erzeugt haben, also namentlich
auch in der Sphäre der gewerblichen Produktion (für die l^and-
wirtschaft hat sich , aul'ser an den wenigen Stellen , wo sie rein
kapitalistisch betrieben wird, wenig gegen früher geändert) sind
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Beruf und Besitz.
7
Berufsbewufstsein, Berufsstolz, Berufsehre heute stark verringert
Und es wäre wunderbar, wenn es anders wäre.
Da ist gleich die neue Technik, die das Aufkommen eines
Berufsgefühls in den meisten Fällen schlechterdings ausschliefst.
Die Thätigkeit erscheint ja gar nicht mehr als Emanation einer
Persönlichkeit, sondern als Abwickelung eines Prozesses : sie ist ver-
sachlicht Was kann der einzelne aus ihr an persönlichem Eigen-
artsbewufslsein ableiten? Ein Schneider, ein Schlosser, ein Bäcker,
ein Gerber: sie alle haben einen wohlumschriebenen Kreis von
Thätigkeiten, deren Ausübung ihnen einen Lebensinhalt gewähren
und mit Stolz erfüllen kann. Wie aber soll ein Arbeiter in einer
Insektenpulverfabrik oder in einer Hühneraugenringefabrik oder in
einer Schwefelsäurefabrik ein innerliches Verhältnis zu seiner Be-
rufstäthigkeit gewinnen?
Weiter: die empirische Technik beruhte auf einem persönlichen
Können und persönlichen Erlernen; die moderne Technik auf einem
objektiven Wissen. Der Handwerker umgab seine Thätigkeit gern
mit dem Nimbus des Geheimnisvollen, dessen innerstes Wesen nur
ihm und seinen Genossen offenbar ward. Man erinnere sich der
fast mystischen Verschleierung, deren beispielsweise die alten Bau-
gewerbe teilhaftig wurden. Der heutige Produktionsprozel's wird
paragraphenweise in den Lehrbüchern beschrieben und kann von
jedermann gegen Entrichtung der Kosten erlernt werden. An die
Stelle des mit den Schauern der Mystik umkleideten Berufsgeheim-
nisses tritt das ordnungsmäfsig erteilte D. R.-P. Nr. so und sa
Auch das Fabrikationsgeheimnis wird zum Geschäft.
Mit der neuen Technik ist, wie wir wissen, die neue Betriebs-
organisation gekommen: der arbeitsteilig-kooperative und grofeen-
teils der automatische Betrieb. Nun ist es aber ersichtlich, dafs
auch die neueren Betriebsformen der Entfaltung eines spezifischen
Berufcgefühls hinderlich sind. Der einzelne Arbeiter hat nichts
mehr mit der Gesamtthätigkeit seines Produktionszweiges zu thun,
sondern ist zu einem wesenlosen Teilfunktionär in dem gesellschaft-
lichen Produktionsprozefs geworden.
Soll die Knopflochnähterin in einer Schuhfabrik sich als
Schusterin fühlen? oder der Bursche, der eine Nägelmaschine
bedient, als Schmied ? Dazu kommt, dafs die hochentwickelte mo-
derne Berufsorganisation immer mehr Raum für die sogenannte
,, ungelernte“, besser qualitätslose Arbeit bietet, oder aber die ehe*
mals „gelernte“ Handarbeit zu einer (unter Umständen sehr kom*
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Werner Sorobart,
plizierten und darum nach wie vor „gelernten“) Maschinenarbeit
umwandelt. In diesen Fällen ist aber wiederum die Beziehung
des Arbeiters zu dem inneren Wesen der gesamten Produktions-
thätigkeit loser geworden, die Arbeit ist wiederum um ein weiteres
Stück versachlicht.
Aber der wichtigste Umstand ist doch vielleicht dieser: im
Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsform ist der technische
Arbeiter, in dem doch vor allem die bestimmt gefärbte Berufs-
arbeit das Berufsbewufstsein erzeugen mufs, an dem wirtschaft-
lichen Erfolge seiner Thätigkeit nicht mehr interessiert. Der Pro-
duktionsleiter jedoch, der allein noch ökonomisch an dem Pro-
duktionserfolge ein Interesse hat, ist nicht mehr technischer Ar-
beiter, hat also gar kein qualitativ gefärbtes Verhältnis mehr zu
dem Inhalt seiner produktiven Thätigkeit. Er entwickelt immer
mehr seine abstrakte Händlernatur. Dafs er gerade Leder statt
Eisen, Mehl statt Garn herstellt, ist doch für seine Eigenschaft als
kapitalistischer Unternehmer vollständig gleichgiltig. Morgen wird er
das I.eder mit dem Eisen, das Garn mit dem Mehl vertauschen:
der Inhalt seines Produzententums ist beliebig auswechselbar. Wie
sollte er ein Berufsbewufstsein entwickeln? Höchstens einmal bei
der Berechnung der Unfallrenten oder bei der Beratung des Zoll-
tarifs. Aber darauf kann sich doch keine feste Berufsgliederung auf-
bauen. Zu den dümmsten Gedanken unserer an dummen Gedanken
so reichen Zeit gehört deshalb auch der : einen modernen Staat auf
.der Grundlage etwa der Berufsgenossenschaften, d. h. in „Berufs-
ständen“, organisieren zu wollen.
II. Die Einkommensverteilung in alter undneuerZeit.
Der zweite Gesichtspunkt, unter dem man soziale Gruppen
unterscheiden kann, ist der Besitz, oder richtiger das Einkommen.
Leider sind die zuverlässigen Ziffern, die uns über Besitz oder Ein-
kommensverteilung in Deutschland zur Verfügung stehen, so gering
und reichen vor allem so kurz zurück, dafs die Betrachtung, die
weit auseinanderliegende Zeiträume in Vergleich stellen will, viel-
fach auf die Wertung symptomatischer Erscheinungen, allgemeine
Stimmungsbilder und Totaleindrücke angewiesen ist. Dadurch
empfängt sie aber begreiflicherweise leicht eine subjektive Färbung
-und kann zu Bedenken Anlafs geben. Ich werde deshalb auch nui
mit aller Reserve in den folgenden Zeilen, soweit nicht völlig ein-
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Beruf und Besitz.
9
wandsfreie und vergleichbare Zahlen vorliegen (was nur für die
letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts der Fall ist), mein Urteil ab-
geben über die Veränderungen, welche die Einkommensschichtung
in Deutschland während des neunzehnten Jahrhunderts erfahren hat.
Man kann diese Veränderungen unter einem zweifachen Ge-
sichtspunkte betrachten': man kann entweder den Zustand vor
hundert Jahren mit dem heutigen vergleichen und feststellen, worin
sich die beiden unterscheiden; oder man kann die Verschiebungen
in Betracht ziehen, denen der alte Status während der hundert
Jahre unterworfen worden ist. Wir werden sehen, dafs diese beiden
Betrachtungsweisen zu wesentlich verschiedenen Ergebnissen führen.
Was jedermann, dem die vergangenen und die gegenwärtigen
Einkommens- und Vermögensverhältnisse auch nur einigermafsen
vertraut sind, bei einem Vergleiche sofort und vor allem auffallen
mufs, ist die Thatsache, dafs am Ende des Jahrhunderts eine Kate-
gorie von Einkommensbeziehern eigentlich ganz neu hinzugetreten
ist: die Kategorie der reichen Leute. Anders und etwas genauer
ausgedrückt: das hervorstechende Merkmal der modernen Ein-
kommensverteilung (im Gegensatz zu der vor hundert Jahren) ist
der (private) Geldreichtum als Massenerscheinung. Reichtum war
vor hundert Jahren in Deutschland nur bei dem grundbesitzenden
Adel zu finden. Dessen Reichtum ist aber (von ganz wenigen
Gebieten abgesehen) bei uns niemals ein sehr beträchtlicher ge-
wesen und vor allem, er war in damaliger Zeit gewifs noch ein
vorwiegend naturaler. Aufserhalb des Adels jedoch gab es reiche
Leute nur in verschwindender Anzahl. Wir dürfen das ohne
weiteres schliefsen, wenn wir sehen, dafs noch um die Mitte des
Jahrhunderts ihre Zahl selbst in den reichen Städten Westdeutsch-
lands ganz aufserordentlich gering ist. Wobei man die Reichtums-
grenze sehr niedrig ziehen kann: etwa bei ioooo Mark Ein-
kommen. Wenn ich sage: es gab (aufserhalb des grundbesitzenden
Adels) im Jahre 1800 keine tausend Personen in ganz Deutschland,
die ein Einkommen von ioooo Mark bezogen, so kann ich das
ziffermäfsig nicht belegen. Es ist ganz freie Schätzung. Aber ich
habe doch einige Anhaltspunkte. Ich kenne die Einkommens-
verhältnisse der 1840 er Jahre aus Aachen, Köln, Düsseldorf und
einigen anderen rheinischen Städten, der 1850er Jahre aus Berlin,
Breslau und anderen norddeutschen Städten, und diese bieten fol-
gendes Bild, dem ich gleich immer zum Vergleich das Gegenwarts-
bild gegenüberstellen will. 3)
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fO
Werner Sombart,
In Aachen hatten vor sechzig Jahren nur 133 Personen ein
Einkommen von mehr ab 2400 Thalern, das sich durchschnittlich
auf 4950 Thaler belief. Aachen war aber damals eine der reichsten
Städte der preufsischen Monarchie, viel reicher als das gleich zu
erwähnende Köln. Trotzdem giebt es heute (1900) schon mehr als
zehnmal so viel Leute mit jenem Einkommen (über 6000 Mark
1 573), die etwa das dreifache Gesamteinkommen beziehen. In
Köln gab es (1846) nur 533 Personen mit einem Einkommen
von mehr als 1800 Thaler, deren Durchschnittseinkommen etwa
3000 Thaler betrug. 1900 hatten 4233 Personen mehr als
6000 Mark Einkommen. Und während die „reichen“ Leute im
Jahre 1846 ein Gesamteinkommen etwa 4 */* bis 5 Millionen Mark
zu verzehren hatten , verfugt dieselbe Kategorie heute über ein
solches von 90 bis 100 Millionen Mark, es beträgt also heute das
Durchschnittseinkommen in dieser Sphäre 20 bis 2 5 ex» Mark,
woraus vor allem auf das Anwachsen und die Vermehrung der
höheren Einkommen zu schliefsen ist.
Ueber diese besitzen wir genauere Angaben für die Zeit nach
1851, d. h. nach erfolgter Reform der preufsischen Einkommensteuer.
Ich wähle Berlin zum Vergleich, weil sich hier die Eigenart der
modernen Entwickelung wohl am deutlichsten beobachten läfst. Im
Jahre 1854 bezogen in Berlin ein Einkommen von mehr als
3600 Thaler rund 1000 Personen, denen 1900 die 13 503 Personen
mit mehr als 9500 Mark gegenüberstehen. Mehr als 20000 Thaler
Einkommen hatten vor fünfzig Jahren nur 23, mehr als 40000 Thaler
gar nur 6. Also in ganz Berlin gab es damals 6 Thalermillionäre.
Heute (1900) dagegen hundertmal mehr (639 Personen mit einem
Einkommen von mehr als 100000 Mark), während sich jene 23
Anderthalbemarkmillionäre auf 1323 vermehrt hatten. Welch ein
Szenenwechsel : das ganze Tiergartenviertel ist in dem letzten
halben Jahrhundert aus dem Erdboden gestampft ! Damab hatte
der Höchstbesteuerte auch nur 64000 Thaler Einkommen; heute
hat er sicher das fünfzehnfache Einkommen, denn schon 1898
bezog er 2485000 bis 2490000 Mark. Ich sagte: es sei die
Kategorie der reichen Leute in dem verflossenen Jahrhundert den
übrigen Einkommensbeziehern neu hinzugefügt worden. Das bt,
wie man sieht, richtig, wenn man die Menge ihrer Vertreter in
Rücksicht zieht. Da es ja aber vereinzelte reiche Leute schon vor
hundert Jahren gab, so kann man die Veränderung, die sich voll-
zogen hat, auch so ausdrücken: die Gruppe der Reichen ist ganz
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Beruf und Besitz.
I
gewaltig, viel viel rascher, als irgend eine andere Einkommens-
kategorie, in diesen hundert Jahren angewachsen.
Am Ende des Jahrhunderts giebt es in Preufsen rund 7000
Thalermillionäre, rund 34 OCX) Markmillionäre und angehende Thaler-
millionäre und immerhin rund 166000 Personen, die genug zu
leben haben (Einkommen über 9500 Mark). Viel ist es noch nicht,
was wir an wohlhabenden Leuten besitzen (wie die Vergleiche mit
der Gesamtzahl der Bevölkerung noch deutlicher erkennen lassen
werden). Ich glaube sogar, es giebt in ganz Deutschland noch
keinen einzigen Markmilliardär, denn Krupp scheint doch nicht
mehr als etwa 200 Millionen Mark zu besitzen. Während beispiels-
weise Carnegie seinen Anteil am Stahltrust mit 300 Millionen S
(über 1200 Millionen Mark) bar ausgezahlt erhielt.
Eine zweite E genart, die die heutige Einkommensgestaltung
zum Unterschiede der früheren aufweist, ist der Ausfall einer Kate-
gorie von Einkommensempfängern am entgegengesetzten Pol: der
ganz Elenden und schlechterdings Notleidenden. Wie auf der einen
Seite der Reichtum als Massenerscheinung neu aufget'"ten ist, so
ist auf der anderen Seite das graue Elend als Massenerscheinung
verschwunden. Wir besitzen keine Einkommensstatistik aus der
früheren Zeit. Aber wer die Schilderungen der zeitgenössischen
I.itteratur (von der der Leser in meinem Kapitalismus Bd. II
S. 266 ein Verzeichnis findet) auch nur anblättert, kann nicht
zweifeln daran , dafs sich ein grofser Teil der arbeitenden Be-
völkerung, ja man darf vielleicht sagen, die grofse Masse des nie-
deren Volkes in Stadt und Land, zumal während der 1830 er und
1840 er Jahren, in Deutschland in einem Zustand chronischer Not
befand. Positiver Mangel am allernotwendigsten, Hunger sans
phrase waren die ständigen Begleiter zahlreicher Familien, und der
Hungertyphus in Oberschlesien und die Weberunruhen sind deut-
liche Wahrzeichen des allgemeinen, tiefen Elends jener Zeit. Man
wird nun aber, denke ich, noch nicht der Schönfärberei beschuldigt
werden, wenn man behauptet, dafs heute von wirklicher Not
weniger zu spüren ist, als vor fünfzig oder hundert Jahren. Was
man auch so ausdrückcn könnte : eine massenhafte Besetzung von
Einkommensstufen (dafs es vereinzelte Fälle schlimmster, positiver
Not immer noch geben wird, ist selbstverständlich) beginnt heute
bei einem höheren Einkommensbetrage, als ehedem : sagen wir
(um eine Zahl zu nennen) bei 300, statt bei 150 Mark Familien-
einkommen. Die ganze Masse der Einkommensempfänger ist also
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Werner Sombart,
um ein paar Grade in die Höhe geschoben und ist dafür nach
oben hin, wie wir sahen, um einige Striche über ihr früheres Ende
hinausgewachsen.
Fragt sich : wie sieht es in den Mittelschichten aus, also um
wiederum Zahlen anzugeben: in den Einkommensstufen zwischen 300
und 16000 Mark, also beim Gros der Bevölkerung? Ist dieses in
seinen Einkommensverhältnissen wesentlich anders gruppiert, als
vor hundert oder fünfzig Jahren ? Wohlverstanden, die Frage lautet :
haben von je tausend Personen ebensoviel heute wie damals 300
bis 400, 500 bis 600 Mark Einkommen und so fort ? Ich möchte
fast antworten: ja, die Schichtung ist heute annähernd dieselbe.
Jedenfalls sind wesentliche Verschiebungen nicht nachweisbar und
auch wahrscheinlich nicht vorgekommen. Wenn sich etwas mit
einiger Sicherheit aussagen Iäfst, so ist es dieses, dafs die niedrigen
Einkommen — unter 600 Mark und unter 900 Mark — eine Ten-
denz zur Verringerung aufzeigen, d. h. also, dafs die Personen^ die
solche kleinen Einkommen beziehen, von der Gesamtbevölkerung
einen immer geringeren Prozentsatz bilden. Dafür lassen sich
einige Ziffern als Beweis anführen: so machten beispielsweise in
Breslau diejenigen Personen, die ein Einkommen über 900 Mark
bezogen, im Jahre 1858 erst 4,8 °/#, 1900 dagegen 11,8% der Ge-
samtbevölkerung aus. Nach einer Zusammenstellung Ernst Engels
vermehrten sich je 100 Steuerzahler in Preufsen von 1852 bis 1873
in der Einkommensstufe unter 400 Thaler auf 122,8, in derjenigen
von 400 bis 1000 Thaler auf 175, dagegen in derjenigen über
1000 Thaler auf 225,7.
Nach einer Berechnung Soetbeers wäre diese Abnahmetendenz
in den untersten Einkommensstufen (bis 525 Mk.) während der
1870 er und einem Teil der 1880 er Jahre nicht zu beobachten ge-
wesen ; im Gegenteil : es hätte 1 876 jene Kategorie von aller-
kleinsten Einkommenserr.pfangern nebst Angehörigen nur 25,65%,
1888 dagegen 29,20%, 1890 nur wieder 28,62 % ausgemacht. Sicher
dagegen ist, dafs die Verminderungstendenz, die auch Soetbeer für
das Ende der 1880er Jahre beobachtet, seitdem in Preufsen nicht
wieder stillgestanden hat, sondern scheinbar sogar stärker geworden
ist. Und seit 1892 besitzen wir doch erst recht eine leidlich brauch-
bare Statistik. Nach dieser ergiebt sich, dafs 1892 noch 70,27 %,
1900 nur noch 62,4 1 % der Bevölkerung ein Einkommen von weniger
als 900 Mark bezogen. Im Königreich Sachsen bildeten 1879 die
Personen mit einem Einkommen von weniger als 500 Mark 51,51
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Beruf und Besitz.
13
1894 36,59%, 1900 nur noch 28,29%, diejenigen mit einem Ein-
kommen von weniger als 800 Mark bezw. in den genannten
Jahren 76,39, 65,30, 55,69%. In Summa ist die Veränderung,
die die Einkommensverteilung im neunzehnten Jahrhundert erfahren
hat. herzlich unbedeutend. Von dem Zuwachs an Reichtum, den
wir ja auf ein Mehrfaches des Bevölkerungszuwachses glaubten an-
setzen zu dürfen,1) ist ein Teil verwandt, um Millionäre oder Millionärs-
aspiranten in gröfseren Mengen zu züchten: eine Spezies des homo
sapiens, die früher nur in vereinzelten Exemplaren , gleichsam nur
in Probeexemplaren vorkam; ein anderer Teil ist dazu benutzt
worden, um die untersten Einkommensstufen auszukaufen, die Slums
der Gesellschaft zu sanieren. In den Rest teilt sich die so viel
stärkere Bevölkerung annähernd zu gleichen Teilen wie ehedem.
Man wird auch wohl sagen dürfen, die Einkommensverteilung
sei heute differenzierter als vor hundert oder vor fünfzig Jahren.
Denn sicher ist zwischen den Aermstcn und den Reichsten heute ein
gröfserer Abstand als damals, nicht etwa weil die Aermsten ärmer
geworden wären, sie sind vielmehr weniger arm, sondern weil die
Reichsten um so viel rascher an Reichtum gewachsen sind.
Aber im grofcen Ganzen ist das Bild , das die deutsche Be-
völkerung in ihrer Einkommensschichtung darstellt , nach wie vor
so ziemlich das nämliche. Es ist dieselbe breite Bettelsuppe armer
und kümmerlicher Existenzen, auf der die paar Reichen wie Fett-
augen schwimmen. Vielleicht ist die Mehlsuppe etwas konsistenter
und sicher sind die Fettaugen zahlreicher geworden. Oder pafst
der Vergleich etwa nicht, wenn man sieht, daüä in Preufsen (1900)
nur 4,19 vom Hundert der Gesamtbevölkerung ein Einkommen
von mehr als 3000 Mk. beziehen, nur % Prozent aber ein solches
von mehr als 9500 Mk. ?
Ich sagte vorhin : das Bild, das uns die Einkommensverteilung
gewähre, verändere sich , wenn wir — statt den Status quo ante
mit dem Status quo hodie zu vergleichen — die Verschiebung des
vormaligen Zustandes selber ins Auge fafsten. Dann müssen wir
offenbar von der Annahme ausgehen: die Bevölkerung habe sich
während der letzten hundert Jahre nicht vermehrt, und müssen
fragen: was ist aus den Bewohnern Deutschlands vor hundert
Jahren und ihren Nachkommen geworden ? Bei dieser Fragestellung
ergiebt sich, dafs die Steigerung des Wohlstandes in allen Schichten
eine beträchtliche gewesen sein mufs. Im Jahre 1900 bezogen
1 1 Millionen in Preufsen ein Einkommen von mehr als 900 Mk.
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14
Werner Sombart
Das Königreich Preufsen alten Bestandes hatte 1816 rund io Millionen
Einwohner, in seinem heutigen Umfange also wohl wenig mehr
als 1 1 Millionen. Heute würde also kein Preufse weniger als
900 Mk. Einkommen beziehen. Sicher hätten diejenigen , die ehe-
dem 900 bis 3000 Mk. bezogen, jetzt zwischen 3000 und 10 000 Mk.,
diejenigen , die schon damals auskömmlich zu leben hatten,
würden jetzt ein reichliches Einkommen (über toooo Mk.) be-
ziehen u. s. w.
Diese Fiktion bedeutet mehr als eine Spielerei. Nicht nur.
dals sie uns die Leistungen des Jahrhunderts klar machen hilft
Sie giebt uns auch die Handhabe , um für eine ganze Reihe von
Fällen die tatsächlichen Wandlungen richtig zu beurteilen. Das
sind diejenigen Fälle , in denen die Einkommensbezüge gleichsam
schematisch mit dem steigenden Wohlstände gewachsen sind. Also
namentlich bei den besoldeten Berufen. Diese haben thatsächlich
während des neunzehnten Jahrhunderts eine Veränderung in ihrer
Lage erfahren , wie ich sie eben für die (als stabil fingierte) Ge-
samtbevölkerung andeutete : was ehemals dürftig lebte, lebt jetzt in
bescheidenen aber leidlichen Verhältnissen ; wer früher ein beschei-
denes Einkommen hatte, bezieht jetzt ein auskömmliches u. s. w.
Ganz interessante Studien lassen sich z. B. über die materielle
Lage der Volksschullehrer heute und vor hundert Jahren anstellen.
Wir besitzen eine genaue Uebersicht über die Gehaltsbezüge der
kurmärkischen Landschullehrer um das Jahr 1 800 (vgl. Krug,
Nationalreichtum 2, 495). Daraus ergiebt sich , dafs der Höchst-
gehalt 250 Thaler betrug. Diesen erreichten jedoch von insgesamt
1650 Lehrern noch nicht 3 (die 220 bis 250 Thaler „jährliche
Einkünfte“ — also wohl cinschliefslich der Naturalbezüge? —
hatten), nur weitere 2 hatten ein Einkommen aus ihrer Stelle von
mehr als 200 Thaler. 195 insgesamt bezogen mehr als 100 Thaler,
1455 Lehrer also hatten weniger als 100 Thaler Gehalt, 421 zwischen
20 und 40 Thaler, 236 zwischen 10 und 20 Thaler, 184 zwischen
5 und 10 Thaler. Demgegenüber ist festzustellen, dafs im
Jahre 1896 das durchschnittliche Gesamteinkommen der Land-
schullehrer in der Provinz Brandenburg 1395 Mk., also 465 Thaler
betrug !
Derselbe Gewährsmann berichtet uns, dafs in Schlesien durch
den Studien- und Erziehungsplan von 1801 jedem katholischen
I .andschullehrer, der im Seminarium gewesen war, jährlich als Mini-
mum seines Einkommens versprochen (!) wurde:
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Beruf und Besitz.
5
50 Thaler bar Geld :
1 5 Scheffel Getreide ;
3 Scheffel Küchenspeise;
frei Holz und Wohnung;
1 Scheffel Aussaat an Gartenland;
Gräserei für 2 Stück Rindvieh und I Stück Schwarzvieh.
Wie man sieht, wurde als selbstverständlich angenommen, dal's
der Volksbildner nebenher Landwirtschaft betrieb. Im Jahre 1896
betrug das durchschnittliche Gesamteinkommen für Landschullehrer
in Schlesien 1287 Mk.
Ganz analoge Vergleiche liefsen sich für die meisten übrigen
Beamtenkategorien anstellen.
Wie man schon aus diesen wenigen Andeutungen, die ich über
die Einkommensverteilung im neunzehnten Jahrhundert gemacht
habe, ersehen haben wird, sieht sich die Sache ganz anders an, je
nach dem Standpunkte, von dem aus man sie betrachtet. Das hat
es bewirkt, dafs in der Diskussion über dieses Problem die ver-
schiedensten und häufig entgegengesetzte Meinungen vertreten sind,
und zwar zweifellos in vielen Fällen mit vollem Recht.
Sagt einer: die pekuniäre Lage der Volksschullehrer ist heute
zehnmal günstiger als vor hundert Jahren, so ist das richtig; sagt
einer: die arbeitenden Klassen beziehen heute durchschnittlich ein
höheres Einkommen als vor hundert Jahren, so ist das richtig;
sagt einer: der gesteigerte Wohlstand ist vornehmlich den Reichen
zugute gekommen, so ist das richtig; sagt einer: die Einkommens-
verteilung ist heute ungleicher als vor hundert Jahren, so ist das
richtig; sagt einer: die ganze ökonomische Entwicklung ist für die
Katze gewesen, denn im grofsen Ganzen lebt die Menge heute noch
ebenso kümmerlich wie ehedem , oder auch : denn es giebt heute
viel mehr armselige Existenzen (sage Leute mit weniger als 900 Mk.
Einkommen), so ist das richtig. Und so liefsen sich die richtigen,
sich scheinbar widersprechenden Urteile noch nach Belieben ver-
mehren. Je nach dem gröfseren oder geringeren Taschenspicler-
geschick kann man die Dinge genau in der Gestaltung zeigen, wie
man es für den gerade vorliegenden Zweck möchte. Nur freilich
sind in der Hitze des Gefechts einige Irrtümcr untergelaufen, die
sich im I.aufe der Zeit zu hartnäckigen Irrlehren ausgewachsen
haben und die ich doch wenigstens registrieren will. Also: I. Es
ist sicher nicht wahr, dafs die Armen ärmer geworden sind; im
Gegenteil : die Aermsten sind heute „reicher“ als vor hundert Jahren,
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Werner Sombart,
ganz gleich ob man die ärmsten Hunderttausend oder die ärmsten
Zehnmillionen nimmt.
2. Es ist sicher nicht wahr, dafs die mittleren Schichten des
Einkommens — sage zwischen 900 und 3000 Mk. — schwächer
geworden seien: im Gegenteil: sie werden (durch raschen Zuzug
von unten) immer kräftiger. So waren in diesen Schichten in
Preufsen 1892 bis 1893 81,89%, *9°° dagegen 87,47% aller
Zensiten veranlagt; im Königreich Sachsen stieg ihre Zahl (800
bis 3300 bezw. 3400 Mk.) von 20,94 % im Jahre 1879 auf 31,14*/,,
im Jahre 1894 und 40,35 % im Jahre 1900; in Bremen machten
die Steuerzahler zwischen 1500 und 3000 Mk. Einkommen 1874
12,89%, '895 14,32% aus; in Hamburg bezogen 1895 (vorher
nicht vergleichbar) zwischen 1000 und 2000 Mk. Einkommen
39,85%, 1899 dagegen 52,21% aller Zensiten u. s. vv. Diese Ziffern
sind für denjenigen nicht auffallend, der weifs, dafs eine der Eigen-
arten der kapitalistischen Entwickelung gerade darin besteht,
Existenzen mit einem mittleren Einkommen in unübersehbarer
Fülle ins Leben zu rufen : kleinkapitalistische Unternehmer, hoch-
gelohnte Qualitätsarbeiter, höhere Angestellte, Agenten, besser
situierte Ladeninhaber, Wirte u. dgl.
3. Es ist sicher nicht wahr, dafs die Zahl der Reichen immer
mehr zusammenschrumpfe; im Gegenteil: man mag die Grenze
ziehen, wo man will: bei 10000, 20000, 50000, 100000 Mk.:
immer wird das Ergebnis sein, dafs die Leute mit derartigen Ein-
kommen sich rascher vermehren, als irgend eine andere Spezies der
Einkommensbezieher. Und sich vermehren gerade etwa im Ver-
hältnis zu dem Anwachsen des von ihnen zusammen bezogenen
Einkommens, so dafs also jeder von ihnen immer gleich reich im
Durchschnitt bleibt. Greifen wir — zum Beweis — das reiche
Hamburg heraus und zwar gerade die Aufschwungsperiode 1895
bis 1899. Da hatten 1895 ein Einkommen zwischen 10000 und
25000 Mk. 3443 Personen, 1899 schon 4082. Jene bezogen
zusammen 53,5 Millionen Mark, diese 63,1 Millionen Mark, jene
hatten also ein Durchschnittseinkommen von 15853 Mark, diese
von 15 750 Mark. Zwischen 25000 und 50000 Mark lag das
Einkommen 1895 von 1054, 1899 von 1322 Hamburgern; jenen
fielen insgesamt 36,9 Millionen Mark , diesen 46,0 Millionen
Mark jährlich in den Schofs, dem einzelnen also 1895 35 987 Mark,
1899 nur noch 35384 Mark. Zwischen 50 000 und 100000 Mark
Einkommen bezogen 1895 484 Personen, 1889 585; das Gesamt-
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Beruf und Besitz.
«7
einkommen dieser besser situierten Leute betrug im einen Falle
33,i Millionen Mark, im anderen 40,4 Millionen Mark. Durch-
schnittseinkommen 68390 Mark und 69060 Mark. Endlich
lebten in guten Vermögensverhältnissen (mehr als 100000 Mark
Einkommen) in den beiden Jahren 2;o bezw. 31 1 Personen.
Sie vereinnahmten durchschnittlich 2 10 000 bezw. 219646 Mark.
Mit „der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten“ ist
cs also ein- für allemal nichts: man mag die Ziffern der Statistik
drehen und wenden , wie man will. Je näher wir dem Moment
des „Zusammenbruchs“ des kapitalistischen Wirtschaftssystems
kommen, desto mehr „Expropriateurs" wimmeln herum. Das Ge-
schäft der „Expropriation“ wird immer schwieriger werden !
Hat nun die Einkommensstatistik schon genug Unfug ange-
richtet bei der Aufstellung von allgemeinen Theorieen der ökono-
mischen Entwickelung, so ist sie gar verhängnisvoll geworden für
alle Sozialethiker, d. h. für diejenige Spezies von Nationalökonomen
die es nicht lassen können, die Bilanz eines Wirtschaftssystems zu
ziehen und irgend einen Debet- oder Credit-Saldo herauszurechnen.
Man hat sowohl zur Verherrlichung als zur Verunglimpfung des
Kapitalismus gleichcrmafsen die Entwickelung der Einkommensver-
teilung herangezogen, und seit Jahrzehnten kommt regelmäfsig alle
paar Jahre ein Buch heraus, welches ziffermäfsig nachweist, dafs
das kapitalistische Wirtschaftssystem in der Wurzel faul sei: Be-
weis, die zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung; wo-
durch dann einer Gegenschrift zum Leben vcrholfen wird, in der
zu lesen steht : im Gegenteil, das herrschende Wirtschaftssystem ist
das beste aller Wirtschaftssysteme : Beweis, die Hebung der unteren
Volksklassen u. s. w.
Ist es nun schon (nach meiner Meinung) im allgemeinen
unstatthaft und der Wissenschaft unwürdig, sich an solchen Kanne-
gietsereien: ob es in der Welt immer besser oder immer schlechter
werde, zu beteiligen, so ist es geradezu gefährlich, als Waffe in
diesem Meinungskampfe sich der Einkommensstatistik zu bedienen,
was ich doch noch mit einigen Worten dartun möchte.
Zum ersten : wenn man die Frage entscheiden will , ob ein
Wirtschaftssystem günstig oder ungünstig auf die Einkommensver-
teilung eingewirkt habe , so wird sich der klaren Beantwortung
entgegenstellen, dafs während des Zeitraums, dessen Ende und
dessen Anfang man ins Auge fafst, eine Veränderung im Stande
der Bevölkerung Platz gegriffen hat. Was verlangt man denn
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 2
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Werner Sombart,
von einem Wirtschaftssysteme: dafs es eine vermehrte Bevölkerung
ebenso gut ernähre wie die vorher kleinere Menge? oder dafs es
nur der anfangs vorhandenen Bevölkerung ein gleiches Auskommen
ermögliche? Zumal für das neunzehnte Jahrhundert ist diese
Frage , wie ersichtlich , von besonderer Bedeutung , für ein Jahr-
hundert, in dem sich die Bevölkerung in Deutschland verdoppelt
hat. Ich meine nun : wenn ein Wirtschaftssystem es fertig bringt,
die doppelte Anzahl Einwohner eines Landes nicht nur ebenso
reichlich, sondern reichlicher mit „Glücksgütern" auszustatten, wenn
es ihm — in Ziffern gesprochen — gelingt , dreifsig Millionen
Menschen mehr zu erhalten, ohne das Existenzniveau der grolsen
Massen wesentlich zu senken, so ist dieses eine Leistung, die
beispiellos in der Geschichte dastcht. Ich mufs sagen, dafs diese
That für mich an das Wunderbare grenzt, und dafs ich — wenn
ich lediglich die Entwickelung des Reichtums, auch des Teils des
Reichtums, der auf die niederen Volksschichten entfällt, ins Auge
fasse — die Bastiat und Genossen verstehe, wenn sie die kapita-
listische Ordnung der Dinge als die von Gott in eigener Person
gesetzte Ordnung ansahen. Dafs heute in Deutschland nicht Jahr
für Jahr ein paarmal hunderttausend Menschen Hungers sterben,
ist geradezu erstaunlich und der höchsten Bewunderung wert. Es
ist seltsam, dafs man immer gerade aus der ungünstigen Ent-
wickelung der Einkommensverteilung dem Kapitalismus den Strick
hat drehen wollen. Ich kann mir denken, dafs man ohne viel
Mühe ein Sündenregister des Kapitalismus zusammenstellt, grofs
genug, um gegen dieses Wirtschaftssystem in manchem Herzen Ab-
scheu und Hafs zu erzeugen. Er hat uns die Masse gebracht, er
hat unser l.eben der inneren Ruhe beraubt, er hat uns der Natur
entfremdet, er hat uns den Glauben unserer Väter geraubt, indem
er die Welt in ein Rechenexempel auflöstc und eine Ueberwertung
der Dinge dieser Welt in uns wach rief, er hat die grofse Masse
der Bevölkerung in ein sklavenartiges Verhältnis der Abhängigkeit
von einer geringen Anzahl von Unternehmern gebracht. Aber
dafür hat er eines gerade in bewundernswürdiger Weise geleistet :
er hat eine riesig angewachsene Menschenmenge auf das beste zu
sustentieren vermocht, er hat gerade das Futtcrproblem meisterhaft
gelöst, besser als irgend eine Wirtschaftsverfassung vor ihm.
Stellt man sich auf den Standpunkt der reinen Quantität
— und fast alle Beurteiler stehen auf ihm — so ist der Kapitalis-
mus thatsächlich mit einem Glorienscheine umgeben, aus dem sich
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Beruf und BesiU.
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mit flammender Schrift die Worte abheben : Dreifsig Millionen
Menschen mehr!
Nun ist aber das andere Bedenken, das jeder Versuch erweckt,
aus den Ziffern der Einkommensstatistik Material für die Wertung
eines Wirtschaftssystems zu gewinnen, dieses : dafs die Zahlen, weil
rein quantitativ bestimmt, sich so vorzüglich zum Abmessen zu
eignen scheinen und doch in Wirklichkeit diese Eignung nicht
besitzen. Denn wir dürfen nicht vergessen, dafs hinter den kommen-
surabeln Zahlengröfeen die völlig unmefsbaren Qualitäten der subf
jektiven Bedarfsbefriedigung stehen.
Es mufs dringend vor dem Irrtum gewarnt werden: man
könne nach irgend einem Umrechnungsschematismus schliefslich
doch zu reinen Quantitäten der Bedarfsbefriedigung gelangen ; oder
man dürfe etwa den Brotpreis oder den Preis sonst eines einzelnen
Konsumartikels zu Grunde legen, um daraufhin die Bedeutung
eines bestimmten Einkommens in verschiedenen Zeiten zu ermessen.
Nein, es bleibt bei der absoluten Unvergleichbarkeit, denn die un-
wägbaren und unmefsbaren Umstände bei der Verwendung des
Einkommens sind das Entscheidende. Die Lage des Städters oder
des Landbewohners, des Konsumenten von Mehlsuppe oder Kar-
toffeln, von Schnaps oder Zeitungen, von Wolle oder Baumwolle
ist eine so grundverschiedene, dafs man sie niemals in ein reines
Quantitätsverhältnis zu einander stellen kann. Wie will man fest-
stellen, ob IOOO Mark Einkommen in der kleinen Stadt vor hundert
Jahren und IOOO Mark Einkommen heute in der (irofsstadt
mehr oder weniger für den einzelnen bedeuten? Was nützt es zu
sagen: damals kostete das Brot soviel, heute soviel? Jener afs ja
Roggenbrot, dieser ifst Weizenbrot; jener afs früh Mehlsuppe, dieser
trinkt Kaffee mit Zucker und Milch; jener hatte eine gleich grofse
Wohnung wie dieser zum halben Preise, auch noch ein Gärtchen
vor dem Hause, während dieser im Hof vier Treppen hoch wohnt.
Aber dafür bekommt der Grofsstädter mit einem Einkommen von
1000 Mark viel billigere Hemden (wenn sie auch nicht mehr so
lange halten), gut gebrautes Bier, den „Vorwärts" und alle Sonntage
Freikonzert für sein Geld, kann auch ein paarmal in der Woche
in der Strafsenbahn fahren und kann zehnmal so viel Briefe für
den gleichen Portobetrag absenden. Seine Kinder werden ihm
gratis unterrichtet, während sein Vorgänger vor hundert Jahren
sich ein Schwein mästen konnte; nachts wenn er betrunken aus der
Kneipe kommt, läuft er nicht Gefahr, im Sumpfe stecken zu bleiben,
2*
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Werner Sombart, Beruf und Besitz.
denn die Strafsen sind wohlgepflastert und gut beleuchtet, während
der Kleinstädter vor hundert Jahren doppelt so viel Fleisch essen
konnte und halb so viel Steuern zahlte. Wer hat denn nun mehr?
Die blofse Zahl besagt noch gar nichts; erst was dahinter
steckt, giebt uns Aufklärung über Wesen und Wert einer wirtschaft-
lichen Kultur, und deshalb scheint mir auch, als sei (dank der all-
gemeinen , auf quantitative Betrachtungsweise gerichteten Zeit-
tendenz)1) der Erörterung der Einkommensverteilung in der Dis-
kussion über das Wesen und den Wert der wirtschaftlichen Ent-
wickelung oft ein zu breiter Raum angewiesen worden. Ich will
einmal geradezu sagen : es ist für die Beurteilung eines gesell-
schaftlichen Zustandes sehr wenig bedeutungsvoll, ob eine Gruppe
von Personen 1000 oder 2000 Mark Einkommen bezieht, ob sich
ihr Einkommen gesteigert oder verringert hat, solange ich von
den sonstigen Veränderungen, von den veränderten Qualitäten nichts
weifs. Selbstverständlich (aber das meine ich gar nicht) vom all-
gemein menschlichen Standpunkte aus. Aber auch in rein ökono-
misch-sozialer Betrachtungsweise, wie aus den eben gemachten An-
deutungen ohne weiteres hervorgeht. Und deshalb wird man auch,
wenn man die Veränderungen untersucht, denen die Schichtung
einer Gesellschaft unterworfen worden ist, sein Augenmerk nicht
sowohl auf die Verschiebungen in der Einkommensverteilung richten
müssen, als vielmehr auf die Veränderungen der Lage in quali-
tativer Hinsicht. Sie werden die eigenartige Struktur einer Gesell-
schaft viel besser zum Ausdruck bringen, als jene rein quantitativen
Verschiebungen. l)
*) Dieser Aufsatz gehört in einen gröfseren Zusammenhang. Wenn daher ein-
zelne Aussagen unverständlich bleiben, so wird der Leser gebeten, sich den ge-
wünschten Aufschlui's zu holen in meinem demnächst (im Verlage von Georg Bondi,
Berlin) erscheinenden Buche: „Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert.“
*) Für die Gedankengänge auf der Seite 5 flf. sind zur Ergänzung heranzu-
ziehen die einschlägigen Kapitel in meinem „Kapitalismus“ im 1. und 2. Bande.
Auch sind zu vergleichen meine Aufsätze in diesem „Archiv“ Band XIV*.
s) Vgl. hierzu meinen Kapitalismus Band II Kapitel 13.
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes. *)
Von
Dr. F. SCHÜLER,
ehern, schweizerischen Fabrikinspektor.
Es ist ein Vierteljahrhundert vorübergegangen, seit das heute
noch unverändert zu Recht bestehende schweizerische Fabrikgesetz
geschaffen worden. Schon in den ersten Jahren seiner Existenz
sind ihm allerlei Mängel vorgeworfen worden und man hat seine
Revision verlangt Die dahin zielenden Wünsche sind nie ganz
verstummt. Sowohl Freunde, als geheime oder offene Gegner eines
ausgiebigen Schutzes der industriellen Arbeiterschaft haben sie vor-
gebracht. Die im Laufe der Jahre gemachten Erfahrungen haben
gezeigt, dafs in der That sowohl das Gesetz selbst, als die Art seiner
Ausführung manches zu wünschen übrig lasse. Dies wurde auch
von allen Behörden und Amtsstellen anerkannt, die mit dem Ge-
setzesvollzug sich zu beschäftigen hatten.
Der Bundesrat hat sich immerwährend bemüht , bestehende
Lücken aaszufüllen, Mangelhaftes im Sinn und Geist des Gesetz-
gebers von 1877 zu beseitigen oder zu ergänzen. Er that dies durch
eine möglichst extensive, aber stets gewissenhaft den Wortlaut des
Gesetzes respektierende Interpretation seiner Vorschriften. Wo
') Der hier mitgeteilte Aufsatz ist weder offizieller, noch auch nur offiziöser
Natur, sondern eine ganz private Ansich tsäufserung, welche sich auf die Erfahrungen
von einigen dreifsig im Dienst der Fabrikinspektion zugebrachten Jahren stützt.
F.r bezweckt, die baldige Revision des bestehenden Gesetzes anzuregen und zu einer
möglichst allgemeinen und gründlichen Diskussion der vorzunehmenden Acnderungen
den Anstofs zu geben. Eine Neugestaltung des Gesetzes hat allerdings vom Bundesrat
und der Bundesversammlung auszugehen, aber mit dem Volksentscheid zu rechnen.
Bei der ungeheuren Verschiedenheit der Anschauungen und Interessen mufs mit aller
Vorsicht vorgegangen und nicht allzuviel auf einmal in Angriff genommen werden,
wenn man auf Gelingen hoffen will.
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F. Schüler,
Zweifel darüber erhoben wurden, haben die eidgenössischen Räte
sein Vorgehen als ein korrektes anerkannt. Der Dank, den er dafür
erntete, war ein geringer. Während ihm von der einen Seite der
Vorwurf zu geringer Energie, des Mangels an Arbeiterfreundlichkeit
gemacht wurde, beschuldigte man ihn von der anderen Seite der
Kompetenzüberschreitung, der einseitigen Förderung der Arbeiter-
interessen. Will der Bundesrat wirkliche Fortschritte in der Arbeiter-
schutzgesetzgebung erzielen, soll unser Land, das so lange sich
rühmte, auf diesem Gebiete zu den fortgeschrittensten Völkern zu
gehören, nicht gegenüber vielen anderen Zurückbleiben und sollen
die angestrebten Verbesserungen unserer Gesetzgebung wirklich
einen festen Halt gewinnen, bleibt wohl nichts anderes übrig, als
eine Revision unseres F'abrikgesetzes, welche alle streitigen oder neu
auftauchenden Fragen zur allgemeinen Diskussion stellt und für ein
neu zu schaffendes Gesetz, das die Unklarheiten des bisherigen be-
seitigt, Unzweckmäfsiges ändert und Notwendiges beifügt, die Ge-
nehmigung der höchsten Instanz, des Schweizervolkes einholt.
Die Verbesserungsbedürftigkeit des 1877 er Gesetzes ist vom
Bundesrat durch verschiedene Mafsnahmen thatsächlich anerkannt.
Die Berichte einzelner Kantonsregierungen über den Vollzug des
Fabrikgesetzes, ihre Motivierungen des Erlasses kantonaler Arbeiter-
schutzgesetze zeigen deutlich genug, dafs auch sie verschiedener
Mängel bewufst sind. Die Fabrikinspektoren haben seit Jahren auf
eine Reihe von Punkten hingewiesen, wo nach ihren Erfahrungen
eine bessernde Hand angelegt werden sollte. Sie halten es für
dringend notwendig, dafs damit nicht länger gezögert werde.
Im Jahre 1877 glaubte man noch, allen Anforderungen an den
Schutz der Arbeiter genügt zu haben, wenn man ein Fabrik-
gesetz schuf. Das war kaum zu bedauern. Eine noch weiter in
das gewerbliche Leben eingreifende Gesetzgebung hätte nicht die
mindeste Aussicht auf Annahme gehabt. Ein umfassenderes Gesetz
hätte sich auch nicht so bald und so vollständig eingelebt, wie das
F'abrikgesetz es gethan hat. Die Durchführung wäre eine weit
schwierigere gewesen, wenn kompliziertere Verhältnisse hätten be-
rücksichtigt werden müssen1. Aber mit der Zeit tauchte immer
mehr die Frage auf: warum soll denn nur der Arbeiter in der Fabrik
geschützt sein, nicht aber derjenige, der in einem Kleinbetriebe oder
in der Hausindustrie genau die gleiche Arbeit verrichtet? Die un-
gleiche Behandlung wurde um so schwerer empfunden, als der eine
Entschädigung bei gewerblichen Unfällen beanspruchen konnte, der
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
23
andere nicht. Man hat dem Vorwurf der Ungleichheit vor dem
Gesetz wenigstens einigermafsen zu begegnen gesucht, indem man
die Haftpflicht auf weitere Kreise ausdehnte. Der Entwurf eines
Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes hat möglichste Gleichheit
herbeizuführen getrachtet; sein böses Schicksal ist bekannt.
Mit jedem Jahr mehren sich die Stimmen, welche den Schutz,
den das Gesetz den Fabrikarbeitern gewährt, auch auf andere Kate-
gorieen von Arbeitern ausgedehnt wissen möchten. Wie weit man
damit gehen solle oder könne, darüber gehen die Ansichten sehr
auseinander und nicht minder darüber, in welcher Weise dies ge-
schehen sollte. Wo irgend die Frage ernstlich diskutiert wurde,
vermied man es, von einer gesetzlichen Regelung der Verhältnisse
der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiterschaft zu sprechen. Man
hatte in der Regel nur die industriellen Lohnarbeiter im Auge, so-
wie die des Handels- und Wirtschaftsgewerbes. Eine Besprechung
weiter gehender Wünsche hätte wohl hier keinen Zweck. Es wird
schwierig genug sein, die Frage des Schutzes der vorerwähnten
Lohnarbeitergruppen zu einer dem Schweizervolk genehmen und
doch alle berechtigten Ansprüche befriedigenden Lösung zu bringen.
Man ist in den verschiedenen Ländern bei der Schaffung von
Arbeiterschutzgesetzen sehr ungleich vorgegangen. Einzelne der-
selben haben die bezüglichen Bestimmungen als Bestandteile einer
umfassenden Gewerbegesetzgebung behandelt. Eine Menge Aus-
nahmen von deren allgemein gehaltenen Vorschriften sind notwendig
geworden. Die Gesetzgebung ist auch so kompliziert ausgefallen,
dals der Mann aus dem Volke sich nicht so leicht darin zurecht
findet In anderen lindern hat man sich von Anfang an auf eine
bestimmte eng begrenzte Aufgabe beschränkt und ist nur ganz
allmählich weiter gegangen. So machte es England, welches seiner
Zeit die wirksamsten Anregungen und das Vorbild für unser eid-
genössisches Fabrikgesetz geliefert hat Der englische Gesetzgeber
Wulste wohl, dafs nicht alles nach der gleichen Schablone behandelt
werden könne. Er pafste die Gesetze den Bedürfnissen der ein-
zelnen Industriegruppen an und fafste von Zeit zu Zeit verallgemei-
nernd zusammen, was allgemein pafste.
Bei uns hat man vielfach den Wunsch aussprechen gehört, dafs
das Fabrikgesetz einfach auf weitere Kreise ausgedehnt werde.
Dies wäre allerdings der kürzeste Weg, einer weit grölseren Arbeiter-
zahl gesetzlichen Schutz angedeihen zu lassen. Der Bundesrat hat
ihn auch betreten, soweit dies irgend zulässig war. Dafür zeugt
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F. Schüler,
die in weit höherem Grad, als das Wachsen der Industrie bedingte,
angewachsene Zahl der unter dem Fabrikgesetz stehenden Betriebe
und Arbeiter. Weiter zu gehen, als jetzt schon geschehen, dürfte
nach der Ansicht vieler kompetenten Leute kaum möglich sein. Es
wird zwar behauptet, der zweite Satz von Art. 34 der Bundes-
verfassung, „ebenso ist der Bund berechtigt, Vorschriften zum Schutze
der Arbeiter gegen einen die Gesundheit und Sicherheit gefährdenden
Gewerbebetrieb zu erlassen“, sich auf den Betrieb jedes beliebigen
Gewerbes beziehe, obschon der erste Satz lautet : „der Bund ist be-
fugt, einheitliche Bestimmungen über die Verwendung von Kindern
in den Fabriken und über die Dauer der Arbeit erwachsener Per-
sonen in denselben aufzustellen.“ Es mag anderen die Erörterung
überlassen bleiben, ob eine solche Interpretation des Verfassungs-
artikels richtig ist; ich begnüge mich mit der Beantwortung der
Frage, ob denn wirklich eine richtige Durchführung der jetzt be-
stehenden fabrikgesetzlichen Bestimmungen möglich wäre, wenn
diese auf alle, auch die kleinsten Betriebe angewendet würden,
deren Unterstellung bereits vorgeschlagen worden ist. Hat man
doch z. B. verlangt, dafs auch die Einzelsticker, die kleinsten Haus-
ateliers der Uhrmacherei, alle Bäckereien mit Gesellen oder Lehr-
lingen unter das Fabrikgesetz fallen. Wie man sich die Hand-
habung des Gesetzes denkt, ist freilich nicht beigefügt worden und
doch hätte man Veranlassung genug hierzu gehabt, als die konto-
nalen Arbeiterschutzgesetze im Stadium der Beratung sich befanden.
Sie alle, auch das fortschrittlichste nicht ausgenommen, gewähren
den von ihnen erfafsten Betrieben einen weit gröfscren Spielraum,
als das Fabrikgesetz. Sie sind zum Teil gerade deshalb geschaffen
worden, weil man nicht nur keinen anderen Weg als möglich er-
achtete, die schutzbedürftigen Lohnarbeiter kleinster Betriebe, sowie
ihrer Lehrlinge und auch die dem Laden- und Wirtschaftspersonal
angehörigen zu berücksichtigen, sondern weil man die Anwendung
aller fabrikgesetzlichen Bestimmungen teils als unmöglich, teils als
für diese Industrieen verderblich erkannte. Man hat also spezialisiert.
Dies scheint auch im Wunsche des Volks zu liegen, das den Ver-
such der Bundesbehörden, die vom Wunsche beseelt waren, durch
ein schweizerisches Gewerbegesetz den Arbeitern einen vollständigeren
Schutz zu Teil werden zu lassen, als einen unzweckmäßigen zurückwies.
Wenn wir also zu einem guten Ziele gelangen wollen, werden
wir am besten thun, Schritt für Schritt vorzugehen, das Beispiel
der Kantone zu befolgen, die Spezialgesetze für die Kleinindustrie,
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
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vorläufig meist nur für die weiblichen Angehörigen derselben, ge-
schaffen haben, deren Erfahrungen zu benutzen, wie seiner Zeit das
Fabrikgesetz auf Grund der Erfahrungen einiger Kantone aufgebaut
wurde. Dabei braucht auch die Hausindustrie mit ihren vielen und
schweren Uebelständen nicht leer auszugehen. Aber bevor an diese
Aufgabe geschritten werden kann, wird es notwendig sein , sich
Kenntnis von Bedeutung, Umfang und Verhältnissen der Haus-
industrie zu verschaffen, eine Kenntnis, die uns noch völlig abgeht.
Alle unsere Nachbarländer bemühen sich, auf den verschiedensten
Wegen sich die erforderlichen Aufschlüsse über ihre Hausindustrieen
zu verschaffen und damit eine Grundlage für eine auch diese Klasse
von Arbeitern so weit möglich schützende Gesetzgebung zu ge-
winnen. Leider sind bei uns derartige Vorschläge mehr auf Grund
von Theorieen und unbewiesenen Voraussetzungen, als auf prak-
tischen Studien beruhend aufgetaucht Machen wir uns nun an
ein ernstliches Studium der Haus- und Kleinindustrie, um auch
hier besseres bieten zu können. Vorerst aber wird es am ge-
ratensten sein, unsere Fabrikgesetzgebung unter Benutzung der bis-
herigen Erfahrungen und gewissenhafter Berücksichtigung der zu
Tage getretenen Bedürfnisse zu revidieren.
L Welche Betriebe unterstehen dem Fabrikgesetz?
Diese Frage muls notwendigerweise verschieden beantwortet
werden, je nach den Bestimmungen, welche das Gesetz enthält. Es
giebt eine grofse Zahl von Vorschriften, welche auf jeden indu-
striellen Betrieb ihre Anwendung nicht nur finden können, sondern
auch angewandt werden sollten. Hierher gehören die zum Schutz
von Leben und Gesundheit der Arbeiter, über die Verantwortlichkeit
des Arbeitgebers bei gewerblichen Verletzungen oder Erkrankungen,
über Anstellungs- und Zahlungsverhältnisse. Eine Reihe anderer
Bestimmungen, namentlich solche, welche sich auf die Arbeitszeit
beziehen, sind in gewissen Industriecn nicht oder doch nicht allge-
mein und jederzeit durchführbar. Eis müssen Ausnahmen zugestanden
werden, wenn die betreffende Industrie nicht schwer geschädigt oder
gar verunmöglicht werden soll. Je häufiger diese Abweichungen
von der gemeinsamen Norm gestattet werden müssen, um so kom-
plizierter gestaltet sich die Gesetzgebung, je schwieriger wird ihr
Vollzug, je leichter verwischen sich die Grenzlinien, bis zu welchen
die gewerbepolizeilichen Vorschriften ihre Anwendung finden sollen.
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26
F. Schüler,
Die Gefahr, dafs ein Fabrikgesetz nur mangelhafte Anwendung finde,
steigt mit der Ausdehnung seines Wirkungsgebiets auf Betriebe mit
ganz verschiedenartigen Verhältnissen und Bedürfnissen.
Dies war einer der wichtigsten Gründe, warum unser schweize-
risches Fabrikgesetz nicht die ausgedehnte Anwendung fand, die
von mancher Seite gewünscht wurde. Es zeigte sich sofort, dafs
einzelne wenige Berufsarten nicht allen Anforderungen des Fabrik-
gesetzes nachkommen konnten, ohne ihre Existenz zu gefährden.
Man war vor die Alternative gestellt, eine offenbare Gesetzesver-
letzung zu dulden oder auf die Unterstellung dieser Betriebe zu
verzichten. Man zog das letztere vor, um nicht selbst den Anstois
zu einem laxen Gesetzesvollzug zu geben. Die Einbeziehung der
Kleinindustrie , des Handwerks unter das Fabrikgesetz hätte die
Zahl solcher Fälle vermehrt, das Bedürfnis nach Ausnahme-
gestattungen vervielfacht. Wie zahllos sind die Fälle, wo z. B. der
Glaser eine zerschlagene Fensterscheibe in einem Schlafzimmer
nach Feierabend noch einsetzen, der Schlosser einen Schrank, den
der Besitzer nicht öffnen kann, aufmachcn, der Schneider oder die
Näherin ein zerrissenes Kleidungsstück des eiligen Reisenden noch
flicken, der Schmied den verunglückten Reisewagen wieder in
stand stellen, der Koch oder Zuckerbäcker für unverhoffte Gäste
etwas bereit machen mufs. Arbeiten ja doch alle diese Leute
nicht wie die Fabrik auf Vorrat hin, sondern auf Stückbestellung
für feste Kunden, an die sie ihr Produkt absetzen, deren Bedarf sie
aber nicht voraussehen können. Welche unendliche Schwierigkeiten
würden aus solchen Fällen für den Gesetzesvollzug erwachsen !
Es bedarf keiner langen Erörterung, um den Nachweis zu
leisten, dafs auch die Ueberwachung seines Vollzugs ganz andere
Zahlen von Beamten und selbstverständlich auch andere Summen
erfordern würde, als sie dem Bund jetzt zu Gebote stehen. Die
Zahl der zu überwachenden Betriebe wäre eine vielfach gröfsere,
als jetzt und sollte ihre Beaufsichtigung in gleicher Weise statt-
finden, wie dies bei den Fabriken der Fall ist, würde das vierfache
Aufsichtspersonal kaum hinreichen. Denn nach dem Vorbild der
vielgepriesenen neuseeländischen Gesetzgebung auf je zweihundert
Betriebe einen nebenbei beliebig einen anderen Beruf betreibenden
Inspektor anzustellen, also sich mit einer so jämmerlichen Aufsicht
zu begnügen, wie sie jetzt so viele Gemeindebehörden zu Gunsten
der Arbeiterinnenschutzgesetze ausüben, würde unserem Volk doch
nicht einfallen. Sollte aber eine mangelhaftere Gewerbeaufsicht,
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
2 7
als die jetzige, Folge der Ausdehnung der Inspektion sein, wäre
damit der Arbeiterschaft schlecht gedient. Wir miifsten aber diese
Folge befürchten, wenn wir sehen, welche ein geringer Bruchteil
der kleinindustriellen Betriebe alljährlich da besucht wird, wo, wie
in Deutschland z. B. die gleiche gewerbliche Aufsicht auch auf sie
sich erstreckt.
Diese Erwägungen und Erfahrungen fuhren zum Schlufs, dafs
es für die Sache des Arbeiterschutzes vorteilhafter sei , für die
Kleinindustrie eine besondere Gesetzgebung zu schaffen, welche
sich den besonderen Bedürfnissen derselben anpassen kann und
eben deswegen eine bessere Aussicht sowohl für Annahme des
Gesetzes durch das Volk, als auch der richtigen und strengen
Durchführung durch die Behörden bietet. Mit dieser Scheidung
sind aber die Schwierigkeiten der Frage noch nicht überwunden,
was denn alles unter das Fabrikgesetz gehöre. Die
meisten Gewerbe- oder Fabrikgesetzgebungen lassen sich gar nicht
auf eine genaue Definition der „Fabrik“ ein. Sie überlassen es den
Oberbehörden , in zweifelhaften Fällen zu entscheiden. Aehnlich
ist auch die Schweiz vorgegangen. Mit der Interpretation des Art i
des Fabrikgesetzes begann das schweizerische Eisenbahn- und Handels-
departement seine Thätigkeit im Vollzug des Fabrikgesetzes. Zahl-
reiche Bundesratsbeschlüsse, Kreisschreiben, Rekursentscheide etc.
haben diese Interpretation vervollständigt Ein Beschlufs vom 3. Juni
1891 hat festgestellt, es seien Fabriken:
a) Betriebe mit mehr als fünf Arbeitern, welche mechanische
Motoren verwenden, oder Personen unter achtzehn Jahren
beschäftigen, oder gewisse Gefahren für Leben und Gesund-
heit der Arbeiter bieten;
b) Betriebe mit mehr als zehn Arbeitern, bei welchen keine
der sub. lit. a) genannten Bedingungen zutrifft;
c) Betriebe mit weniger als sechs, beziehungsweise weniger
als elf Arbeitern, welche aufsergcwöhnliche Gefahren für
Gesundheit und Leben bieten, oder den unverkennbaren
Charakter von Fabriken aufweisen.
Damit war gröfsere Sicherheit und Klarheit für die Beurteilung
der Unterstellbarkeit eines Betriebs unter das Gesetz geschaffen. Es
waren bestimmte Zahlen festgesetzt, deren kein Fabrikgesetz
entraten kann. Je kleiner die Betriebe sind, um so mehr werden
freilich diese Zahlen bald unter das erforderliche Minimum sinken,
bald über dasselbe ansteigen. Jeder dieser Schwankungen ent-
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F. Schüler,
sprechend eine Streichung oder Wicderunterstellung vorzunehmen,
geht nicht an und es mufste deshalb mit einiger Willkür der Mo-
dus innegehalten werden, dafs erst nach längerem Bestand der Mini-
malarbeiterzahl die Unterstellung erfolgen und erst bei sicher an-
dauerndem Herabsinken unter diese Ziffer die Streichung erklärt
werden dürfe. Dies und der Grundsatz, dafs bei der Entscheidung
die erreichte Maximalzahl gilt, sofern sie regelmäfsig wiederkehrt,
dürfte wohl zweckmäfsig mit Rücksicht auf die Entscheide in Haft-
pflichtstreitigkeiten, im Gesetz angedeutet werden.
Das Gesetz verlangt für die Qualifikation als Fabrik das Vor-
handensein eines „geschlossenen Raums". Dies hat schon zu den
abenteuerlichsten Begehren den Anstofs gegeben. Man anerbot
Ausheben der Fenster, selbst Beseitigung des Daches, um keinen
geschlossenen Raum und damit keine Verpflichtung zu haben,
sich dem Fabrikgesetz zu fügen. Der Bundesrat hat eine solche
Interpretation des Wortlautes nicht zugelassen und erklärt, die Ar-
beit im „geschlossenen Raum" sei im Gegensatz zu derjenigen im
Freien aufzufassen und könne auch da schon vorhanden sein, wo
nur nach einzelnen Richtungen Schutz gegen die atmosphärischen
Einflüsse besteht. Ein andermal entschied er, dafs die sogen. Platz-
arbeiter in einem Sägereigeschäft zur Gesamtarbeiterzahl einzu-
rechnen seien, da sie mit dem übrigen Betriebspersonals ein un-
trennbares Ganze bilden. Die Leute brauchen somit nur im Gebiet
der industriellen Anstalt, also in der Regel in einem abgeschlossenen,
nicht aber geschlossenen Raum zu arbeiten, um zu den Fabrik-
arbeitern gerechnet zu werden. Eine dieser Auffassung entsprechende
Wortung des Gesetzes liefse sich wohl leicht finden.
Sehr oft hört man die Ansicht äufsern, dafs Art. I als Fabrik
alle industriellen Betriebe erklären sollte, in welchen Motoren
verwendet werden. Der Wunsch war sehr begreiflich, so lange
elementare Kraft gewöhnlich nur in einem Umfang in Anspruch
genommen wurde, dafs durch deren Verwendung eine gewisse Ge-
fahr für den Arbeiter herbeigeführt wurde. Heute ist die elektrische
Betriebskraft, oft in ganz minimem Umfang, in die kleinsten Hand-
werksbetriebe gedrungen, sie wird sogar mit jedem Jahr mehr im
gewöhnlichen Haushalt verwendet. Bald dürfte auch die Haus-
industrie sich an dieser Benutzung beteiligen. In zahlreichen Fällen
kann von einer Gefährdung des Arbeiters durch diese elektrischen
Installationen gar nicht gesprochen werden. Die Gefährdung aber
ist der einzige Grund, der zur Unterstellung unter das Fabrikgesetz
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
29
veranlassen könnte. Man würde daher weit über das Ziel hinaus-
schiefsen, wenn man jeden Betrieb, in welchem ein noch so unbe-
deutender Motor verwendet würde, dem Fabrikgesetz unterstellen
und einer grofsen Zahl von Kleinbetrieben eine ausnahmsweise Be-
handlung angedeihen lassen wollte, weil sie die Arbeit, vielleicht
einer einzelnen Arbeiterin, durch einen Kraft und Zeit ersparenden
Apparat auf gefahrlose Weise erleichtern möchten. Wo aber wirk-
liche Gefahren für Gesundheit und Leben der Arbeiter durch einen
Motor herbeigeführt werden , verleiht ja schon der Bundesrats-
beschlufs vom 3. Juni 1891 das Recht zur Unterstellung.
Genügt also hier das bestehende Gesetz, dürfte cs in anderer
Hinsicht eine etwas veränderte Fassung erhalten, welche die Unter-
stellung verschiedener Arten von Betrieben künftighin ermöglichen
würde. Dahin gehören vor allem aus die Bergwerke und
unterirdischen Brüche und Gruben. Sie sind seit einigen
Jahren allerdings einer speziellen Inspektion unterstellt, die sich
mit der Unfallsverhütung und der Durchführung des Haftpflicht-
gesetzes zu befassen hat; aber die Anstellungs- und Zahlungsver-
hältnissc der Arbeiterschaft, ihre Arbeitszeit sind nicht gesetzlich
geregelt, obschon dies ebenso wünschbar sein dürfte und auf gleiche
Weise geschehen könnte, wie bei den Fabrikarbeitern. Auch aus-
ländische Gesetzgebungen, wie z. B. die deutsche, wenden die all-
gemeinen Arbeiterschutzbestimmungen auch auf diese Kategorie
von Arbeitern an. Man wird vielleicht einwenden , dafs es eine
Inkonsequenz sei, wenn nicht auch die offenen Brüche und
Gruben ganz gleich behandelt werden. Es mufs aber doch auf-
merksam gemacht werden, dafs die Verhältnisse hier etwas anders
gestaltet sind. Denn erstlich sind diese Betriebe zu einem grofsen
Teil nicht andauernde, sondern sie existieren oft nach wenigen
Wochen nicht mehr. Ihre Arbeiterzahl ist eine sehr schwankende,
oft ganz kleine. Die Arbeit ist sehr von den Witterungsverhält-
nissen abhängig und eine „regelmäfsige" tägliche Arbeitszeit kaum
durchführbar. Daraus würden zahllose Schwierigkeiten für den Ge-
setzesvollzug erwachsen. Freilich läfst sich nicht leugnen, dafs
namentlich die grofsen, regelmäfsig seit Jahren betriebenen Unter-
nehmungen in diesem Erwerbszweig den lebhaften Wunsch wach
rufen, dafs auch hier die Arbeiterverhältnisse gesetzlich geordnet
werden; aber sie müfsten jedenfalls zuerst genauer gekannt und
studiert sein, bevor eine Ausdehnung des Fabrikgesetzes auf dieses
Gebiet vorgcschlagen werden dürfte. Es giebt weiterhin eine ganze
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F. Schüler,
Reihe von industriellen Anstalten, die ganz den Charakter des
Grofsbetriebs an sich tragen, deren Einrichtungen derselben Kon-
trolle, deren Arbeiter desselben Schutzes bedürfen, wie ganz ge-
wöhnliche Fabriken, die aber in der Erfüllung ihrer speziellen Be-
stimmung gehemmt, zum Teil ganz daran verhindert würden, wenn
alle Bestimmungen des Fabrikgesetzes ohne Ausnahme auf sie An-
wendung finden müfsten. Von ihrer Unterstellung kann daher nur
ernstlich die Rede sein, wenn die Möglichkeit der Aufhebung
gewisser Vorschriften für sie geschaffen wird. Dahin ge-
hören die industriellen Armen- und Erziehungsanstalten,
die gewerblichen Lehranstalten in Verbindung mit Werk-
stätten, die irgend welche Industriezweige betreibenden Zucht-
häuser und Besserungsanstalten. Ist es doch klar, dafs
allen Insassen dieser Anstalten der gleiche Schutz gebührt, wie
jedem anderen Arbeiter oder Lehrling. Es ist eben so notwendig,
dafs ein speziell mit den Mafsregeln zum Schutz der Arbeiter vor
Verletzung oder Erkrankung vertrauter Beamter beratend, eventuell
auch fordernd, Einsicht in die Einrichtungen einer solchen Anstalt
nehme. Eis ist dies sogar mehr als einmal von den Leitern von
Zuchthäusern und Armenanstalten ausdrücklich von den Fabrik-
inspektoren gewünscht worden und es ist nicht einzusehen, wie ein
Anstaltsvorstand einer Aufsicht in diesem Sinn sich zu entziehen
versuchen sollte. Ebenso sollten ihm die Gewerbebeamten als Ver-
treter der Hygieine überhaupt und mit der praktischen Anwendung
derselben vertraute Männer nur willkommen sein. Auch eine Be-
schränkung der Arbeitszeit auf ein gewisses Mals darf für diese An-
staltsbcwohner aus denselben Gründen , wie bei den anderen Ar-
beitern, gefordert werden, wenn es je — wofür freilich kaum Fälle
namhaft gemacht werden können — überschritten würde.
Die Frage, wem die Gestattung von Ausnahmen zufallen müfste,
ohne welche die Unterstellung dieser Anstalten kaum denkbar
wäre, ist wohl bald gelöst. Würde den Kantonen diese Kompetenz
'eingeräumt , müfste man zum vorneherein auf eine gleichmäfsige
Behandlung der Angelegenheit in den verschiedenen Landesteilen
verzichten. Nur eine generelle Entscheidung durch den Bundesrat
böte genügende Garantie, dafs sie gestützt auf genaue Kenntnis
der Verhältnisse solcher Betriebe in der ganzen Schweiz und unter
Beanspruchung des Fabrikinspektorats für eine genaue Unter-
suchung derselben getroffen werden könne.
In engem Zusammenhang mit der Erörterung, welche indu-
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
31
striellen Betriebe unter die Bestimmungen des Fabrikgesetzes fallen
sollen, steht auch die Beantwortung von zwei anderen Fragen. Es
ist schon oft die Frage aufgeworfen worden, ob nicht auch alle
die unter dem Kollektivnamen der Wohlfahrtseinrichtungen
gewöhnlich zusammengefafsten Veranstaltungen, die in so hohem
Mafs die ganze Lebenshaltung des Arbeiters und sein Verhältnis
zum Arbeitgeber beeinflussen , als zum Fabrikbetrieb gehörig zu
betrachten und demgemäfs amtlicher Aufsicht zu unterstellen seien.
Dieser Punkt dürfte aber besser bei Feststellung der Aufgaben und
Kompetenzen des Inspektorats zur Sprache kommen.
Ebenso dürfte zweckmäfsiger bei Besprechung von Art. 6 des
Fabrikgesetzes genauer festgestellt werden , wer als Fabrik-
arbeiter zu betrachten und zu behandeln sei, ein Gegen-
stand, der nicht nur das Inspektorat, sondern auch den Bundesrat
schon wiederholt beschäftigt hat; auch würde wesentlich zur Ver-
meidung unrichtiger Auffassungen beitragen, wenn schon im ersten
Artikel nicht von „Arbeitern", sondern einfach von „Personen“ ge-
sprochen würde.
II. Schutz von Gesundheit und Leben der Arbeiter.
Die Ausführung der Vorschriften dieses Artikels stöfet nicht
selten in der Weise auf Schwierigkeiten, dafs da, wo gemietete
Lokale benutzt werden, Eigentümer und Mieter sich gegenseitig
die Pflicht zuzuschieben versuchen, den auf Grund dieses Gesetzes
erlassenen Weisungen nachzukommen. Wo nur ein einziger Mieter
den besser einzurichtenden Raum benutzt oder von den Schutz-
vorrichtungen erheischenden technischen Einrichtungen Gebrauch
macht, könnte man sich wohl an den Betriebsinhaber halten, der
sich seinerseits vertraglich das Rückgriffsrecht auf den Vermieter
für die ihm entstehenden Unkosten sichern könnte. Wo aber
mehrere Mieter gemeinsam den gleichen Raum oder die gleichen
Maschinen benutzen, erwachsen für die Behörden oft die gröfsten-
Schwierigkeiten, den Vollzug der Vorschriften durchzuführen. Die-
selben Erfahrungen hat man auch in anderen Ländern gemacht.
England z. B. wurde dadurch zu folgenden Gesetzesvorschriften
veranlafst : der Eigentümer, der mechanische Kraft in verschiedene
Teile seiner Gebäude liefert, in welchen von Mietern Fabriken be-
trieben werden, sei für folgendes verantwortlich: dafs die Räume
in reinlichem Zustand, frei von Ausdünstungen von Kanälen, Ab-
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F. Schüler,
tritten oder anderen verunreinigten Orten gehalten, nicht überfüllt
und ventiliert werden; dafs die gesetzlich vorgeschriebenen Schutz-
vorrichtungen an Aufzügen, Krahnen, Motoren aller Art und Trans-
missionen angebracht werden. Nur wenn der Mietzins 200 Pfund
übersteigt, geht die Verantwortlichkeit auf den Mieter über. Ebenso
fällt sic diesem zu, wo es sich um Schutzvorrichtungen an Ma-
schinen handelt, die er beschafft.
Eine ähnliche Bestimmung würde auch bei uns klare Verhält-
nisse schaffen, während jetzt der Mieter, der eine mit allerlei
Mängeln behaftete Fabrik übernommen, sich in der Regel nur an
Art. 276 des Oblig.-Rechts zu halten wufste, welcher verlangt,
dafs die vermietete Sache „in einem zum vertragsmäfsigen Gebrauch
geeigneten Zustand übergeben werde“. Diese Eignung wurde dann
bestritten, weil der Zustand nicht ein den gesetzlichen Anforde-
rungen entsprechender sei. Die angeregte Bestimmung würde aber
nicht nur ein sichereres Rechtsverhältnis schaffen und vielen Streitig-
keiten zuvorkommen, sondern auch einen weit rascheren und meist
auch zweckmäfsigeren Vollzug der gesetzlichen Vorschriften herbei-
fuhren.
Nur in einer verhältnismäfsig geringen Zahl von Fabriken ent-
stehen von Zeit Differenzen darüber, wer für Heizung, Be-
leuchtung und Reinhaltung der Lokale zu sorgen habe.
Alles dies wird hier und da den Arbeitern zugemutet. Sehr selten
haben sie für die Heizung durch Abzüge aufzukommen, die sie
sich hierfür gefallen lassen müssen; öfter haben sie für die Be-
leuchtung zu sorgen. Namentlich in den Uhrmacherdistrikten
scheint diese Sitte zu herrschen. Sie wird mit der allgemeineren
Einführung von elektrischer oder Gasbeleuchtung immer mehr in
Abnahme kommen; wo man aber daran festhält, besteht die Ge-
fahr, dafs die Beleuchtung durch qualmende Lampen erfolgt, welche
die Luft des Arbeitsraums verpesten und so die Nebenarbeiter be-
lästigen und gesundheitlich schädigen. Am wenigsten dürfte gegen
die Pflicht der Arbeiter einzuwenden sein, in gewissen Perioden
ihre Arbeitsstellen aufzuräumen und zu reinigen. Sie ist ein wirk-
sames Mittel, die Leute zur Ordnung und Reinlichkeit anzuhalten.
Wenn aber das Waschen des Fufsbodens und der Ab-
tritte von den Arbeitern oder gewöhnlich von den Arbeiterinnen
verlangt wird, bedeutet diese Extrathätigkeit sehr häufig eine
Ueberschreitung der gesetzlichen Arbeitszeit und überhaupt eine
Zumutung, die von den meisten Arbeiterinnen sehr unangenehm
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Die Revision des schweizerischen FabrikgeseUes.
33
und zudem, wenn keine besondere Vergütung geleistet wird, als
Unrecht empfunden wird. Es würde sich gewifs rechtfertigen,
■wenn zum Beginn des Alinea 2 gesagt würde: „der Arbeitgeber
hat “ Zu dem sollte nach „beleuchtet" eingeschaltet werden:
„genügend erwärmt und nach Möglichkeit rein gehalten"; diese
letztere Vorschrift sollte aber auch auf alle andern Räumen, wo der
Arbeiter sich aufzuhalten hat, Efslokale, Gänge, Abtritte ausgedehnt
und auch hinlängliche Beleuchtung für dieselben vorgeschrieben
werden. Um den Fabrikinspektoren sofort ein sicheres Urteil zu
ermöglichen, ob ein Arbeitslokal überfüllt sei, würde ein An-
schlägen der Mafse jedes Arbeitsraumes an auffallender
Stelle, wie dies in einzelnen Gegenden oder Industrien bereits ein-
geführt ist, von grofsem Nutzen, eine solche Vorschrift recht em-
pfehlenswert sein, wenigstens in Lokalen mit relativ zahlreichem
Personal. Am besten würde zugleich die zulässige Maximal -
arbeiterzahl angegeben. In mangelhaften Lokalen sollte zudem
<lie in denselben erlaubte Arbeiterzahl durch Verordnung des betr.
Regierungsrats oder des eidgenöss. Industriedepartements auf An-
trag der Inspektoren heruntergesetzt werden können.
Es mag gestattet sein, an dieser Stelle noch auf eine Lücke
der Gesetzgebung hinzuweisen. In manchen Betrieben bildet Kost
und Logis einen Teil des Arbeitslohnes. Hier und da kommt
es vor, dafs das eine oder andere in sehr mangelhafter Weise ge-
währt wird. Dies ist ohne Zweifel eine Beeinträchtigung der dem
Arbeiter zukommenden Löhnung und er kann mit dem gleichen
Recht, wie die Sorge für regelmäfsige und bare Zahlung auch die
richtige Beschaffenheit dieses Teils seiner Löhnung verlangen. Eine
amtliche Aufsicht hierüber liegt im Interesse nicht nur des Ar-
beiters, der sich oft nicht gegen allzugeringe Leistungen des Arbeit-
gebers zu wehren vermag und also des Schutzes bedarf, sondern
nicht selten auch des Arbeitgebers, über dessen angeblich geringe
Wohnräume, schlechte Betten und geringe Beköstigung zuweilen
sehr grundlos geklagt wird. Die Fabrikinspektoren sind deshalb
zum Besuch von Pensionaten, Speiseanstalten, Schlafräumen u. dgl.
nicht selten ausdrücklich von den Fabrikbesitzern aufgefordert
worden. Prinzipale, die ihren Arbeitern zu Teil werden lassen, was
ihnen gebührt, werden gegen eine amtliche Nachschau nichts einzu-
wenden haben , wo aber die Leistungen billigen Anforderungen
nicht entsprechen, darf die Arbeiterschaft mit Recht ein Einschreiten
•des amtlichen Aufsichtspersonals verlangen.
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 3
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34
F. Schüler,
Die Anforderungen, die bezüglich der Vorkehrungen zum
Schutz von Gesundheit und Leben der Arbeiter zu
stellen sind, variieren selbstverständlich sehr je nach der Art der
Industrie und den Einrichtungen zum Betrieb derselben. Trotzdem
ist es möglich und zweckmäßig, allgemein für gewisse Industrieen
oder Industriegruppen gültige Vorschriften zu erlassen. Der Bundes-
rat hat in dieser Richtung schon manches gethan und der Nutzen
dieser Vorschriften wird allgemein anerkannt. Es wäre aber wünsch-
bar, dafs der Erlaß solcher Vorschriften noch in ausgedehnterem
Maß stattfände. Die bisher erlassenen sind meist aus Beratungen
mit den Inspektoren oder Anträgen derselben hervorgegangen, auch
aus der Konsultation hervorragender Fachmänner. Es wäre aber
von großen Nutzen, wenn eine Einrichtung geschaffen würde, die
auch den zunächst Beteiligten, Fabrikanten und Arbeitern
eine regelmäßige Mitwirkung bei der Schaffung solcher Verord-
nungen ermöglichen würde. Der Vollzug derselben würde sicher-
lich gefördert, die Gleichgültigkeit gemindert, der Widerstand, der
sich in einzelnen Dingen geltend macht, gemildert. Die deutschen
Berufsgenossenschaften, die schon so viel Gutes geschaffen, könnten
uns hierbei, wenigstens teilweise, als Vorbild dienen.
Nicht weniger wichtig, als die Erstellung von Schutzvorrich-
tungen, ist die Sorge dafür, dafs den Verletzten oder Er-
krankten die richtige Pflege zu teil werde. Es ist hierfür in
unseren schweizerischen Fabriken sehr viel geschehen, aber hier und
da trifft man entsetzliche Gleichgültigkeit. Eis darf wohl die Frage
aufgeworfen werden, ob Betriebe, welche eine gewisse Arbeiterzahl
beschäftigen und bestimmte Gefahren bieten , nicht zu verpflichten
seien, für die Ausbildung von Leuten zu sorgen, die in Ver-
letzungsfallcn die erste Hilfe bringen könnten und ebenso für die
Anschaffung in Notfällen erforderlichen Verbandmaterials und
Medikamenten Vorrats, sowie die Ueberweisung eines
geeigneten Verbandlokals.
Die meisten Detailvorschriften behufs Ausführung von Art. II
werden von den Inspektoren bei Anlaß ihrer Inspektionen erlassen.
Sie werden nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich zur
Kenntnis gebracht. Kommt man ein Jahr später wieder, ist oft
nichts oder nichts recht ausgefuhrt. Allerlei Gegengründe werden
angeführt, welche die Ausführung verzögert haben oder den Ver-
zicht auf dieselbe begründen sollen. Das Verlangen wird wieder-
holt, ein Termin mit Androhung von Klage gesetzt, Nachschau
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
35
gehalten, ein Amtsbefehl der kantonalen Regierung erwirkt, Be-
strafung verlangt. So wird die ganze Mafsnahme verschleppt, die
vorhandene Gefahr bleibt Jahr und Tag bestehen. Die Sache
würde sich ganz anders gestalten, wenn die Weisung der Inspek-
toren Rechtskraft erhielte und Renitenz Strafe nach sich
zöge, sofern nicht innerhalb eines bestimmten kurzen Termins
schriftliche Einsprache gegen das Begehren des Inspektors bei ihm
oder bei der kantonalen Regierung erhoben würde.
Die Anwendung von Zwangsmafsregeln zur Durchführung
von Schutzvorschriften irgend welcher Art ist bisher selten vorge-
kommen. Und doch besteht nicht die mindeste Aussicht, ohne
solche auszukommen. Die Zahl derjenigen, welche sich um Ver-
ordnungen und amtliche Befehle nicht kümmern , hat sich eher
gemehrt als gemindert. Oft werden die verlangten Vorrichtungen
zwar erstellt, aber nicht benutzt oder wieder entfernt oder auch
unbrauchbar gemacht. Auf diese Weise werden alle Bestrebungen,
die Arbeiter vor maschinellen oder gesundheitlichen Gefahren zu
schützen, lahm gelegt. Aber die Schuld liegt nicht nur an den
Arbeitgebern, deren Interesse an der Vermeidung von Verletzungen
so oft den sonstigen Widerwillen gegen die Erstellung kostspieliger
oder unbequemer Einrichtungen aufwiegt, sondern ebenso sehr, in
manchen Industrieen weit mehr, an den Arbeitern. Sehr häufig
werden die erprobtesten und nach einiger Uebung bequemsten
Vorrichtungen von ihnen verschmäht oder gar demoliert. Alle
Neuerungen haben gegen ihr Vorurteil zu kämpfen. Die Voraus-
setzung, dafs es dem Prinzipal möglich sei, durch Bufsen oder An-
drohung der Entlassung diesem thörichten Benehmen entgegen-
zutreten, ist an zahlreichen Orten eine irrige. Die Bufsen werden
von den Arbeitern so lebhaft bekämpft, dafs manche Arbeitgeber
keinen Gebrauch mehr von ihrem Buisenrecht machen. Dies ist
namentlich in kleineren Betrieben der Fall, zumal in denjenigen der
Holzindustrie, wo die Prinzipale durch ihre Arbeiter zum Verzicht
auf jede Bufse wegen Beseitigung oder Nichtgebrauch der Schutz-
vorrichtungen gezwungen worden sind. Durch die Androhung der
Enüassung wird, namentlich in Zeiten des Arbeitermangcls, gar
nichts erreicht. Es darf daher wohl behauptet werden, dafs auch
die besten Einrichtungen zum Schutz von Gesundheit und Leben
der Arbeiter zu einem grofsen Teil wertlos sind, so lange nicht
strengere Mafsrcgeln nicht allein gegen renitente Arbeitgeber, son-
dern auch gegen fehlbare Arbeiter ergriffen werden. Letzteres ist
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36
F. Schüler,
aber erst möglich, wenn das Gesetz nicht nur von einer Bestrafung
der Arbeitgeber wegen Verletzung des Fabrikgesetzes spricht, son-
dern auch der Arbeiter da zur Rechenschaft gezogen werden kann,
wo er eine Gesetzesverletzung begangen hat, deren Verhütung nicht
in der Macht des Arbeitgebers lag. Wie sehr diese bisherige U n -
möglichkeit den Arbeiter zu bestrafen, der Durchführung
des Gesetzes überhaupt schadet, sie in zahlreichen Fällen geradezu
unmöglich macht, werden wir später noch sehen. Es dürfte wohl
auch kein anderes Land in der Weise vorgegangen sein, wie das
unsrige. Im englischen Fabrikgesetz z. B. heifst es : „wenn ein Ar-
beitgeber beweist, dafs er alle gebotene Sorgfalt angewandt, das
Gesetz durchzuführen, und dafe die Uebertretung ohne sein Wissen,
Einverständnis oder Duldung erfolgte, ist nicht der Arbeitgeber,
sondern die schuldbare Person zu strafen", eine Vorschrift, die
übrigens nur den einfachsten Begriffen von Recht und Billigkeit
entspricht.
Wie übrigens auch ohne Verhängung zahlreicher Bufsen der
Renitenz der Arbeitgeber bei Ausführung von Art. II des Fabrik-
gesetzes entgegengetreten werden kann, lehren uns ebenfalls aus-
ländische Fabrikgesetzgebungen, welche den Fabrikanten, welche
von den kompetenten Behörden erlassenen Weisungen nicht nach-
gekommen sind, alle Ausnahmebewilligungcn, wie Llcber-
zeit- oder Schichtenarbeit, versagen und zudem die zulässige
Arbeiterzahl in schlechten Lokalitäten niedriger ansetzen, als sie
sonst durch den vorhandenen Kubikinhalt bedingt würde.
Ueber die Berechnungsweise und das Mafs der Bufsen oder
sonstigen Bestrafungen soll bei Besprechung von Art. 19 des Fabrik-
gesetzes verschiedenes beigebracht werden.
III. Bau und Betrieb der Fabriken.
Dieser Artikel hat erst seine rechte Bedeutung gewonnen, seit
der Bundesrat seine „Vorschriften betreffend den Neu- oder Umbau
von Fabrikanlagen“ erlassen hat (13. Dezember 1897). Gewöhnlich
werden auch die Pläne für Bauten, welche sogen. Wohl-
fahrtscinrichtunen zu dienen haben, von den Fabrikbesitzern
zur Begutachtung und Genehmigung eingesandt. Es ist nirgends
bestimmt gesagt, ob ihnen diese Pflicht obliegt oder nicht. Da
aber die Fabrikarbeiter durch ihre Stellung und ihre Verhältnisse
zum Teil wenigstens genötigt sind, von diesen Einrichtungen Ge-
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
37
brauch zu machen, hat sich die staatliche Aufsicht wohl auch dar-
über zu erstrecken. Es wären also die Pläne zu Arbeiterwohnungen,
Schlafsälen, Speiseanstalten ebensogut einzureichen, wie diejenigen
für die Fabriken selbst.
Schwieriger dürfte die Frage zu beantworten sein, ob nicht
auch die Erstellung von gemeinsamen Werkstätten der
staatlichen Aufsicht unterliege. An der Wünschbarkeit derselben
ist nicht zu zweifeln, da es sich ja auch hier um Räume handelt,
wo eine Menge Arbeiter nachteiligen gesundheitlichen Einflüssen
ausgesetzt sein können, wie in Fabriken und wo sie ebenso wenig,
als dort, die Beseitigung derselben ohne Zustimmung des Besitzers
erwirken können. Auch ist der Wortlaut von Art. I unseres Fabrik-
gesetzes derart, dafs die Unterstellung solcher Werkstätten unter
das Fabrikgesetz nicht unmöglich wäre , obwohl unter Fabrik-
arbeitern gewöhnlich nur solche verstanden werden, welche im
Lohn und Auftrag einer anderen Person arbeiten, in den Werk-
stätten dieser Art aber die Leute auf eigene Rechnung ihre Arbeit
verrichten. Eine Entscheidung hierüber sollte hier oder schon in
Art. I getroffen werden.
Bei Vorlage der Fabrikbaupläne ist es schon vorgekommen,
dafs ein Urteil über die Zweckmäßigkeit eines Baues oder die
Hinlänglichkeit der Einrichtungen zum Schutz von Gesundheit und
Leben der Arbeiter nicht möglich war, weil nicht bekannt war,
W’elche Substanzen zur Verarbeitung kommen und welche
F'abrikationsmethoden angewendet werden sollen. Dies war
z. B. der Fall, wo chemische Präparate erstellt werden sollten, deren
Darstellung Geschäftsgeheimnis war. Die Furcht vor Verrat des-
selben bewog die Bauherren, die erwähnten Angaben zu ver-
weigern. Obwohl sie dann auf Andringen der Behörden doch ge-
macht wurden, sollte doch die Verpflichtung dazu ausdrücklich in
einem revidierten Gesetz erwähnt werden.
Die Begutachtungen der Pläne für Neu- oder Umbauten von
Fabriken sind nach dem Kreisschreiben des Bundesrats vom 13. De-
zember 1897 von einigen wenigen Kantonsregierungen als nicht in
den Geschäftskreis des Fabrikinspektorats fallend betrachtet worden.
Der Bundesrat hat aber die Zweckmäfsigkeit der M i t b e g u t -
achtung durch die Inspektoren nachgewiesen und es ist
seither kein Widerspruch mehr gegen seine Vorschrift erhoben
worden. Dessenungeachtet möchte eine ausdrückliche Forderung
dieser doppelten Prüfung durch das Fabrikgesetz am Platz sein,
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3»
F. Schüler,
wobei der Entscheid bei Differenzen zwischen den Ansichten der
kantonalen Regierungen und der Inspektoren dem Bundesrat vor-
zubehalten wäre.
Aus den Amtsberichten der Inspektoren ergiebt sich , dafs
nicht selten versucht wird , Bauten ohne Einreichung der
Baupläne oder unter Mifsachtung der an die Plangenehmi-
gung geknüpften Bedingungen auszuführen. Die Versuchung-
zu solchen Gesetzesverletzungen ist grofs, denn dadurch werden
oft Tausende an den Baukosten erspart oder es kann nicht selten
zum Nachteil eines hygienisch zweckmäßigen Betriebs — eine be-
trächtliche Ersparnis an den Betriebskosten erzielt werden. Sollte
auch eine scheinbar sehr scharfe Bufse für die Nichtbeachtung des
Gesetzes ausgesprochen werden, resultiert aus derselben für den
Bauherrn doch oft ein sehr bedeutender Gewinnst. Allerdings be-
steht die Möglichkeit, dafs die Bewilligung zum Betrieb gar nicht
erteilt wird; allein die Wahrscheinlichkeit, dafs eine so strenge
Mafsregel ergriffen werde, ist so gering, dafs sie kaum in Betracht
kommt. Es erscheint daher empfehlenswert, dafs der Bund ein
gewisses, den Wert der Baute berücksichtigendes Straf-
minimum feststelle, das Zuwiderhandlungen weniger lukrativ er-
scheinen läßt.
IV. Anzeige der Unfälle. Unfalluntersuchung.
Art. V des Fabrikgesetzes schreibt in Lit. d) vor, dafs die
Haftpflicht auch auf gewisse durch den Fabrikbetrieb erzeugte
Krankheiten auszudehnen sei. Man hätte also erwarten sollen,
dafs eine Anzeigepflicht nicht nur für Tötungen und Körper-
verletzung im Art. IV vorgesehen sei, sondern auch für die er-
wähnten Gewerbekrankheiten. Dies ist merkwürdigerweise
nicht der Fall. Das Ucbersehene sollte daher nachgeholt werden.
Der Erfüllung dieser Anzeigepflicht stellen sich aber Schwierig-
keiten entgegen, die bei der Anzeige von Verletzungen nicht Vor-
kommen. Der Arbeitgeber denkt oft nicht daran, als eine durch
den Betrieb hervorgerufene Krankheit anzusehen, was jeder ver-
ständige Arzt als solche erklären muß. Er will auch nicht ohne
dringende Not seinen Betrieb als einen krankmachenden hin-
stellen, ganz abgesehen von den ökonomßchen Folgen, die ihm
aus einer Gewerbekrankheit erwachsen können. Noch weniger ist
oft der Arbeiter imstande, die Krankheit, die ihn befallen, als eine
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
39
zur Haftpflichtentschädigung berechtigende zu erkennen. So bleiben
manche Erkrankungen unangezeigt und unentschädigt. Die einzige
Person, der man das Erkennen der Krankheit unbedingt zumuten
darf, wenige schwierig zu erkennende und leicht zu verwechselnde
Formen ausgenommen, ist der Arzt. Es fragt sich daher, ob
nicht ihm auch eine Anzeigepflicht zugemutet werden dürfte und
sollte.
Eis sind nur „erhebliche" Unfälle anzuzeigen. Schon am
6. Januar 1882 hat der Rundesrat diesen Ausdruck dahin de-
finiert. dafs als erhebliche Verletzung eine solche gelte, welche
eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Tagen nach sich ziehe.
Da diese Interpretation nicht jedermann zugänglich ist, würde sie
am besten in das Gesetz mit aufgenommen.
Dasselbe gilt von einer schon am 28. November 1878 er-
lassenen Vorschrift des eidgen. Eisenbahn- und Handelsdeparte-
ments, die durch ein Kreisschreiben vom 8. November 1887 ihre
Ergänzung fand und verlangt, dafs dem Fabrikinspektor nicht nur
jeder Unfall angezeigt, sondern auch die betreffenden Unter-
suchungsakten übermittelt werden. Auch diese Vorschrift in
das Gesetz aufzunehmen, wäre nicht überflüssig. Und nicht minder
wünschbar wäre es, den Ausdruck „sofort" dahin zu mildern, dafs
zwar in schweren Fällen sofortige Anzeige verlangt wird, in leich-
teren aber, entsprechend der bundesrätlichen Weisung, innerhalb
spätestens sieben Tagen.
Nach dem Buchstaben des Art. IV wäre in jedem Verletzungs-
fall eine amtliche Untersuchung über dessen Ursachen
und Folgen einzuleiten. Der Gesetzgeber dachte bei Erlafs dieser
Vorschrift jedenfalls nur an die Unfälle, welche den Tod oder
bleibenden Nachteil oder lange Arbeitsunfähigkeit herbeiführen,
nicht aber an die Tausende minimer Verletzungen, die alljährlich
zur Anzeige und zur Entschädigung gelangen. Der betreffende
Passus hat zur Folge, dafs einzelne auf Sporteln erpichte Beamte
eine Unzahl Untersuchungen vornehmen, welche nur ihrem Beutel,
aber nicht zum mindesten dem verletzten Arbeiter zum Vorteil
gereichen. Manche Kantone bemühen sich, dieser bureaukratischen
Pedanterie oder Ausbeutung des Gesetzes vorzubeugen und es
wäre sicherlich sehr zu begrüfsen, wenn eine Formulierung ge-
funden werden könnte, die sie in diesem Bestreben unterstützen
würde. Noch mehr aber wäre eine Bestimmung zu begrüfsen,
welche den mit der Unfalluntersuchung betrauten Beamten ver
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F. Schüler,
pflichtet, bei Bufse die Untersuchung wirklich bedeutender Un-
fälle in kürzestem Termin, wo möglich sofort, spätestens aber
innerhab einer Woche vorzunehmen. Die zahllosen Fälle von
Verzögerung dieser Untersuchungen bis zu einem Zeitpunkt, wo
die Verletzten abgereist und unauffindbar, die Zeugen nicht mehr
aufzutreiben, die Ursachen und der Verlauf nicht mehr zu ermitteln
sind, sprechen Jahr aus und ein mit allem Nachdruck dafür. Der
so oft durch die Nachlässigkeit der Beamten um die Unfallentschä-
digung gebrachten oder doch darin beeinträchtigten Arbeiterschaft
wäre damit ein grofser Dienst geleistet.
Ueber die Frage, wo die Unfallanzeigen zu machen
seien, bestehen sehr verschiedene Ansichten. Nach den einen ist
die Anzeige da zu machen, wo der Arbeitgeber seinen Wohnsitz
hat, nach den anderen da, wo der Unfall erfolgt ist Für das erstere
spricht , dafs dort die Entschädigungsansprüche geltend gemacht
werden müssen, für das zweite, dafs die Unfalluntersuchung am
raschesten und zweckmäfsigsten wird vorgenommen werden, wenn
der Unfall sofort bekannt wird und die zur Untersuchung pflichtigen
Beamten mit allen Verhältnissen, Lokalitäten und Personen vertraut
sind. Untersuchungen, welche, wie in solchen Fällen oft, im Auftrag
einer anderen Kantonsregierung vorgenommen werden müssen, werden
in der Regel mit geringerem Eifer ausgeführt, als im Dienst und
unter Kontrolle der eigenen Vorgesetzten. Jedenfalls sollte die
Frage nach dem richtigen Ort der Unfallsanzeige durch das Gesetz
entschieden werden.
Wünschbar ist ferner, dafs die Vorschriften des Bundesrats
betreffend Führung einer Unfallsliste vom 25. Oktober 1887
ebenfalls im Gesetz Erwähnung finden.
VI. Wer ist Fabrikarbeiter.
Während Art. V des Fabrikgesetzes keiner Besprechung bedarf,
da er durch das Bundesgesetz betreffend die Haftpflicht aus Fabrik-
betrieb ersetzt worden ist, bietet der kurze Art. VI Anlafs zu ver-
schiedenen Bemerkungen.
Man trifft bei den Fabrikbesitzern die verschiedenartigsten An-
sichten, welche der in ihren Anstalten beschäftigten Personen in
die vorgeschriebene A r b e i t e r 1 i s t e aufzunehmen seien. Die Ent-
scheidung darüber ist nicht nur deswegen von Bedeutung, weil
davon die Anwendbarkeit der fabrikgesetzlichen Bestimmungen auf
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
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diese oder jene Personen abhängt, sondern weil sie auch eine ein-
flufsreiche Rolle bei der Entscheidung in manchen Haftpflicht-
streitigkeiten spielt.
Unser Gesetz spricht, ohne sich in eine nähere Definition ein-
zulassen einfach von Arbeitern, welche in den Anstalten eines
Fabrikbesitzers beschäftigt seien. Nach diesem Wortlaut kommt
es also durchaus nicht darauf an, dafs die Arbeiter einer Fabrik
im Lohn und Dienst des Besitzers der Fabrik stehen, sondern es
ist nur die Vereinigung einer gewissen Zahl von Ar-
beitern in den Lokalitäten der F'abrik mafsgebend.'
Diese Auffassung entspricht der vorzugsweise durch sanitarische
Motive herbeigefiihrten Entstehungsweise unseres Fabrikgesetzes.
Sie wurde auch vom Bundesrat geteilt, als er am 9. Mai 1882 be-
schlofs, „in Stickereien, welche von mehreren Mietern betrieben
werden, ist der jeweilige Eigentümer des Etablissements für die
Handhabung des Gesetzes verantwortlich.“ Er teilte also nicht die
Ansicht, dafs nur unselbständig arbeitende, im Lohn oder doch im
Dienst eines anderen stehende Personen als Fabrikarbeiter betrachtet
werden dürfen, noch weniger giebt er zu, dafs alle im Dienst des
gleichen Arbeitgebers stehen müssen.
Dieser Auffassung entspräche es auch, eine gemeinsame
Werkstätte, die von einer Anzahl Berufsgenossen gemietet
worden ist, dem Fabrikgesetz zu unterstellen. Dafür spricht ferner,
dafs hier alle Bedingungen vorhanden sind, welche das Charakte-
ristische einer Fabrik ausmachen: die Gesamtheit treffende, vom
einzelnen nicht zu vermeidende Nachteile für die Gesundheit,
manchmal gemeinsame maschinelle oder andere Gefahren, bei ge-
mischter Arbeiterschaft auch Gefährdung der Sittlichkeit. Gegen eine
solche Einbeziehung unter das Fabrikgesetz kann die Schwierigkeit
der Handhabung gewisser Gesetzesbestimmungen geltend gemacht
werden. Bei dem in manchen Industriezweigen überhand nehmenden
Bestreben der Arbeiter, statt in den Werkstätten der Prinzipale zu
arbeiten, gemeinsame, von einer Genossenschaft gemietete oder er-
worbene Werkstätten zu erstreben, darf diese Frage in einem revi-
dierten Fabrikgesetz nicht ungelöst bleiben.
Schon längst entschieden ist die Frage, ob nur Personen, die
um Lohn in einer Fabrik arbeiten, als Fabrikarbeiter dem Gesetz
unterstehen. Sie wurde wiederholt in dem Sinn beantwortet, dafs
auch Familienglieder, die nicht Mitbesitzer einer Fabrik seien
und unter Aufsicht und Weisung des Inhabers zu arbeiten haben,
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F. Schüler,
als Fabrikarbeiter zu betrachten seien. Konsequenterweise gilt dies
auch für freiwillig, aber regelmäfsig in der Fabrik mitarbeitende
Personen, sogen. Volontairs. Verschiedene Beantwortung hat da
gegen die Frage gefunden, ob derjenige, der noch keine definitive
Anstellung in einem Etablissement gefunden, sondern zuerst eine
Probezeit durchzumachen hat, vom Tage seines Eintritts in die
Fabrik an als Arbeiter derselben zu behandeln sei. Fis scheint dies
fast selbstverständlich, denn es läfst sich nicht denken, dafs für den
auf Probe zugelassenen andere Regeln für den Betrieb gelten sollten,
als für jeden anderen. Eine solche Ausnahmestellung würde ja die
Durchführung des ganzen Fabrikgesetzes im betreffenden Etablisse-
ment gefährden. Was aber die Bedeutung der Qualifikation als
Fabrikarbeiter für die Haftpflicht anbetrifft, handelt es sich ja für
den seine Arbeiter gegen Unfall versichernden Prinzipal um eine
ganz minime Mehrleistung für die kurze Probezeit.
Im übrigen galt bisher allgemein die Norm, dafs jede regel-
mäfsig in einer Fabrik beschäftigte Person, die an der Herstellung
eines Fabrikats oder eines Teiles desselben mittelbar oder unmittel-
bar sich zu beteiligen hat oder beim Verkaufsbereitstellen, Ver-
packen oder der Spedition von Materialien und Waren mitwirkt,
als vom Fabrikgesetz geschützt zu betrachten sei, dafs aber die-
jenigen nicht inbegriffen seien, welchen die selbständige Leitung
des Betriebs oder die Besorgung des kaufmännischen
Teils desselben obliegt. Unter dem Titel der Bureauarbeiter
werden aber nicht selten Personen, namentlich Kinder, dem Schutz
des Fabrikgesetzes entzogen , die denselben dringend notwendig
hätten. So werden Kinder angeblich als zum Bureau gehörige
„Laufkinder" angestellt, aber zu allen möglichen anderen
kleinen , zum Betrieb gehörigen oder auch anderen Dienst-
leistungen verwendet ; Mädchen werden z. B. als sogen. „Falze-
rinnen“ in enge Räume zusammengepfercht und unter dem Vor-
wand, dem kaufmännischen Teil des Buchdruckereigeschäfts dienst-
bar zu sein, bis tief in die Nacht zur Arbeit angehalten. Es ist
klar, dafs der Wortlaut des Gesetzes solcher Ausbeutung ein Finde
machen sollte. Man darf wohl die Frage aufwerfen, ob man über-
haupt nicht weiter gehen und auch die Bureauarbeiter, zum min-
desten die Jugendlichen und die F'rauen, durch die Unterstellung
unter das Fabrikgesetz schützen sollte. Je mehr die Verwendung
des weiblichen Geschlechts in den Bureaux überhand nimmt, um so
mehr drängt sich diese Frage auf und verlangt ihre baldige Lösung.
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
43
Inbezug auf die Handlanger, Fuhrleute und ähn-
liches Personal hat sich der Bundesrat in einem Spezialfall
höchst vorsichtig dahin geäufsert (Kommentar pag. 31), dafs sie als
Fabrikarbeiter gezählt werden sollen , sofern nicht nachgewiesen
werden könne, dafs sie im Innern der betreffenden Etablissemente
nicht beschäftigt werden. Dieser Nachweis wird selten genug ge-
leistet werden können und die Arbeitgeber versuchen es auch
selten. In den Arbeiterlisten findet man sehr gewöhnlich Hand-
langer und Fuhrleute ohne weitere Bemerkung mit aufgezählt.
Ausnahmen zu gestatten scheint daher überflüssig und man könnte
wohl alle im Dienst eines Fabrikbetriebs regelmäfsig
beschäftigten Personen gleichmäfsig unter das Fabrikgesetz
stellen, gleichviel zu welcher Dienstleistung sie als Arbeiter der
Fabrik verpflichtet sind.
Es würden zahlreiche Kontroversen über die Anwendbarkeit
des Fabrikgesetzes sowie über das Zutreffen der Haftpflicht ver-
mieden, wenn das zu revidierende Gesetz über die erwähnten
Punkte gröfsere Klarheit schaffen würde.
Aber auch in einem anderen Punkt wäre eine deutlichere Be-
stimmung zu wünschen. Art. VI schreibt nur vor, dafs die Arbeit-
geber eine Arbeiterlistc nach bestimmtem Formular zu führen
haben. Es sagt nicht, wo diese vom Fabrikinspektor zu kon-
trollierende und besonders wegen den Angaben über das Geburts-
datum der beschäftigten Kinder wichtige Liste zur Einsicht bereit
zu halten sei. Nun kommt es oft vor, dafs sie sich in dem eine
halbe Stunde oder noch weiter entfernten Fabrikbureau vorfindet.
Der Inspektor mufs also die Einsichtnahme durch eine grofse Zeit-
versäumnis und eine nicht geringe Mehranstrengung erkaufen und
kommt nicht selten in Versuchung, wenn keine Gründe zu beson-
ders genauer Nachschau vorliegen, auf dieselbe für einmal ganz zu
verzichten. Der Wunsch ist daher gewifs gerechtfertigt, dafs das
Arbeiterverzeichnis stets in der Fabrik selbst aufliegen müsse.
VII. Regiemente. — Bufscn. — Lohnabzüge.
An der Berechtigung der Vorschrift, dafs jeder Fabrikbesitzer
verpflichtet sei, eine Fabrikordnung zu erlassen, ist nie gezweifelt
worden. Auch über das, was hinein gehöre, hat sich noch wenig
Streit erhoben. Ein vielfach geäufserter Wunsch ist, dafs gleich-
artige Betriebe auch gleichartige Regiemente besitzen und
dafs die Aufstellung und Annahme von Normalreglementen, wie sie
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F. Schulrr,
vielfach entworfen worden, sehr zu empfehlen sei. Ganz wohl be-
gründet ist auch der weitere Wunsch, dafs gleichzeitig mit dem
Reglement die Adresse des Kreisinspektors angeschlagen
werden müsse. Wer weifs, wie oft die Arbeiter mit ihren Fragen
oder Beschwerden sich an die unrichtigen Personen wenden, wird
dieses Verlangen sehr begreiflich finden. Dafs die Regiemente immer
gedruckt werden müssen, wo es sich nur um kleinste Betriebe
handelt, ist wohl überflüssig, wenn sie nur in deutlicher und grol'ser
Schrift angeschlagen und an die Arbeiter verteilt werden. Dagegen
darf mit Recht darauf gedrungen werden, dafs das Reglement im
Besitz des ausgetretenen Arbeiters bleibe, denn hier
und da werden nachträgliche Beschwerden erhoben , über deren
Berechtigung die Arbeiter oder ihre Ratgeber nicht im klaren
sind, wenn sie kein Exemplar besitzen. Aus dem gleichen Grund
sollte auch vorgeschrieben sein, dals der Kreisinspektor ein Exem-
plar jedes genehmigten Reglements zugestellt erhalte.
Alle diese Bestimmungen würden zweckmäfsig mit denen des
Art. VIII zu einem Artikel vereinigt und die Vorschriften betreffend
Bufsen und Lohnabzüge in einem besonderen behandelt.
Diese letzteren beide sind vielen Anfechtungen ausgesetzt. Ob-
wohl fast alle Vereinsstatuten B u fs e n androhen, alle Arbeiterkranken-
kassen solche Bestimmungen enthalten, wird von vielen Seiten auf
deren Beseitigung in den Fabriken gedrungen. Sonderbarerweise weifs
ich mich aber keines dahin zielenden Begehrens der Arbeiter bei
Genehmigung der F'abrikordnungen zu entsinnen. Richtig ist, dafs
der Wert der Bufsen auch von den Arbeitgebern immer geringer
taxiert, dafs sie immer seltener verhängt werden, auch wo sie nach
der Fabrikordnung zulässig wären. Ihr Betrag wird von den
Arbeitern sehr gewöhnlich weit überschätzt, weil sie auch einen
grofsen Teil der Lohnabzüge als Bufsen betrachten. Daher kommt
es auch, dafs von den wegen ungesetzlichen Bulsen erhobenen
Klagen der gröfste Teil abgewiesen werden mufs, da es sich um
gesetzlich zulässige Abzüge handelt Die Gegner der Bufsen
glauben im Appell an das Ehrgefühl der Arbeiter ein weit besseres
Mittel zur Bekämpfung allfälliger Ausschreitungen zu finden, als in
den Bufsen und verweisen auf das Mittel der Androhung der
Entlassung. Diese mag wohl fruchten, wenn die Arbeit gesucht
ist, sehr wenig aber bei vorhandenem Mangel an Arbeitern. Weit
mehr Verlafs ist auf die Einsicht und das Ehrgefühl, namentlich
der Männer. Wie soll man sich aber helfen, wenn — wie so oft —
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetz«.
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einer Arbeiterschaft die Einsicht in den Nutzen vorgeschriebener
Schutzvorrichtungen fehlt und sie dieselben nicht anwendet oder
beseitigt; was ist zu thun gegenüber Leuten, die so tief gesunken
sind, dafs sie sich in allerlei Unflätereien und Unsittlichkeiten ge-
fallen, die man aber um ihrer armen Haushaltung oder auch um
ihrer Unentbehrlichkeit im Geschäft willen nicht von heute auf
morgen wegschicken kann; was ist zu machen gegenüber unge-
zogenen Kindern, die man doch nicht körperlich strafen, nicht so-
fort wegschicken darf, die aber bei Hause ihre Strafe empfangen,
wenn das Lohnbuch einen Bufsenabzug für ihre Ungezogenheiten
aufweist? Die häufigsten Bufsen sind aber glücklicherweise nicht
die eben erwähnten, sondern die Verspätungsbufsen. Dafs
die Arbeitszeit inne gehalten werden mufs, ist selbstverständlich,
denn wo die Arbeiten ineinander greifen, oder gemeinsam ausge-
führt werden (z. B. Sticker und Fädlerin, Spinner und Ansetzer)
wird auch der Nebenarbeiter durch Verspätung geschädigt; es
werden Schwierigkeiten im Betrieb herbeigeführt. Bleibt der Ar-
beiter sogar einen halben oder ganzen Tag aus, mufs oft ein Teil
der Betriebskraft, ein Teil der Maschinerie, die jeden Tag einen
zuweilen nicht unbeträchtlichen Wert, hier und da selbst mehr, als
den Lohn des Arbeiters repräsentieren, unbenutzt bleiben. Kann
nicht durch eine Verhängung von Bufsen mit Nachdruck zur Ord-
nung gemahnt werden, wird der Arbeitgeber veranlafst werden,
den ihm zugefügten Schaden zu berechnen und in Abzug vom
Lohn zu bringen. Dieser Abzug ist aber nicht das Eigentum der
Arbeiterschaft, wie das Bufsengeld.
Gegenüber diesen praktischen Erwägungen werden nun freilich
theoretische Gründe ins Feld geführt. Der Arbeitgeber ist An-
kläger und Richter zugleich, er kann büfsen oder straffrei ausgehen
lassen, er kann je nach Gutdünken hohe oder niedrige Bufsen aus-
sprechen. Man braucht aber nur die Urteile der Gerichte in Fällen
von Uebertretung des Fabrikgesetzes zu durchblättern, wird man die-
selben Ungleichheiten und Willkürlichkcitcn in der Bestrafung finden.
Es bleiben also nur die theoretischen Bedenken des Juristen und
der bei vielen Arbeitern vorhandene Widerwillen gegen das Bufsen-
wesen übrig. Ich mufs gestehen, dafs ich nach sorgfältiger Ab-
wägung der Gründe für und wider glaube, dafs die Beibehaltung
der Bufsen im Interesse unserer Arbeiterschaft liege, obwohl ich
den sehnlichen Wunsch hege, dafs die Häufigkeit derselben immer
abnehme, da mit ihrer Verminderung auch die Veranlassung zu
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}
I
46 F. Schüler,
allerlei kleinlichen Reibereien und gegenseitiger Verstimmung
zwischen Prinzipal und Arbeiter abnimmt. Wo die Notwendigkeit
des Bufsenwesens nicht vorhanden ist, wie in der Mehrzahl der
schweizerischen Betriebe, ist gewils der förmliche Verzicht darauf
anzuraten ; wo aber ernstliche Gründe für Beibehaltung vorliegen,
liegt es durchaus nicht im Interesse der Industrie, die Abschaffung
zu erzwingen.
Dagegen soll das Bufsen recht in engen Schranken gehalten
werden. Es ist die Höhe der Bufsen schon durch das bisherige
Gesetz auf die Hälfte des Tagesverdienstes beschränkt. Dieser Be-
trag wird in zahlreichen Etablissementen selten oder nie erreicht.
Er läfst sich auch kaum rechtfertigen, aufser etwa, wenn es sich um
Blau machen handelt, in welchem Fall der Arbeiter oft schlechter
wegkäme, wenn eine Entschädigungsforderung an die Stelle der Bufse
träte. Das Heruntersetzen des Maximalbetrages auf einen Dritteil
oder Vierteil dürfte wohl vorgeschlagen oder auch einige andere
Normen über Bufsenberechnung in das Gesetz aufgenommen
werden. Ebenso dürfte die Ansicht der Mehrheit der ständerätlichen
Kommission der 70 er Jahre im Gesetz zum Ausdruck kommen,
dafs nur Bufeen verhängt werden dürfen, welche in derFabrik-
ordnung angedroht sind. Endlich — und das ist wohl das
Wichtigste von allem — sollte die Führung einer Bufsenliste
mit Angabe des Grundes, des Betrags und des Verhängers der
Bufse von allen F'abriken verlangt werdeti , wo man nicht auf
Bufsen überhaupt verzichtet hat. Diese Liste wäre dem Fabrik-
inspektor vorzuweisen und auf Verlangen auch den Arbeitern zur
Einsicht vorzulegen. Durch letzteres würde manchem falschen
Verdacht und manchem Mifsverständnis vorgebeugt, wie die In-
spektoren schon oft zu beobachten Gelegenheit hatten. Da ja all-
gemein anerkannt wird, dafs die Bufsen Eigentum der Arbeiterschaft
seien, kann darin auch nichts Beleidigendes für die Prinzipale ge-
legen sein, so wenig, wie in der Ueberlassung der Entscheidung
über die Verwendungsweise der Bufsengelder an die Arbeiter, die
in so zahlreichen Betrieben längst üblich ist. Auch diese Be-
stimmung könnte unter Beibehaltung der Vorschrift, dafs sie
namentlich für Unterstützungskassen Verwendung finden sollen, un-
bedenklich im Gesetz Aufnahme finden.
Zu weit mehr Bedenken, als die Bufsen, geben die Lohn-
abzüge Veranlassung. Ihre rechtliche Zulässigkeit wird
bestritten in allen denjenigen Fällen, wo der Abzug von nicht
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
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pfändbaren Lohnguthaben gemacht werden soll. Nicht pfändbar
sind aber diejenigen Lohnbeträge, welche nach dem Entscheid des
Betreibungsbeamten dem Schuldner und seiner Familie zum Lebens-
unterhalt unumgänglich nötig sind. Dies trifft, wird behauptet, in
vielen Industrieen fast regelmäfsig zu. Die Verrechnung der Schaden-
ersatzforderung des Arbeitgebers, resp. der Lohnabzug soll daher in
allen diesen Fällen verunmöglicht werden und dies „kann wirksam
nur durch ein Verbot der Lohnabzüge geschehen.“
Selbstverständlich müfste aber nicht nur dem Arbeitgeber
untersagt werden, durch Lohnabzüge sich für den erlittenen Schaden
Ersatz zu schaffen, sondern es müfste auch angenommen werden,
dafs die Bedürftigkeit der Arbeiter im ganzen eine so grofse sei,
dafs seine übrigen Kreditoren aller Art gar nicht daran denken
dürften, sich durch Pfändung eines Teils seines Lohnes, seiner ein-
zigen Einnahmequelle, bezahlt zu machen. Wie es, die Richtigkeit
dieser Annahmen vorausgesetzt, um den Kredit der Fabrikarbeiter-
schaft stehen müfste, liegt auf der Hand.
Vermutlich würden sich aber die Arbeitgeber zu helfen wissen.
Sie würden sich durch Verträge, Lohnabtretungen sichern, die
nirgends untersagt sind, wenigstens für Leute, die eigenen Rechtes
sind. Sie könnten sich auch durch die Forderung eines Depositums
schützen, das der Arbeiter vor Erlangung irgend welcher Arbeit zu
leisten hätte; sie könnten den I.ohnbetrag heruntersetzen und in
Form regelmäfsig gezahlter Prämien für richtig erstellte Arbeit doch
wieder das frühere Lohnverhältnis herstellen. Es mag damit nur
angedeutet sein, wie auf verschiedenste Weise der Erfolg eines
Lohnabzugverbotes zu nichte gemacht werden könnte.
Wenn also auch die juridischen Ausführungen, die oben er-
wähnt wurden, richtig sind, was in Betracht der Bedeutung der
gestellten Forderungen Juristen vom Fach beurteilen mögen, wäre
der Effekt eines Verbotes der Lohnabzüge nicht der erwartete,
sondern weit eher der entgegengesetzte.
Sind denn aber die Uebelslände, welche dem Lohnabzugswesen
anhaften, wirklich so grofs und auf keinem anderen, als dem vor-
geschlagenen Weg zu beseitigen? Dringen die Arbeiter wirklich
auf völlige Abschaffung der Abzüge? Die Frage mufs nach meinen
Erfahrungen mit „Nein" beantwortet werden. Die zahlreichen
Klagen über Lohnabzüge, welche im I.auf der Jahre beim Fabrik-
inspektorat eingingen, beanstandeten nur den Betrag der Abzüge,
selten die Begründetheit derselben; das Recht zu Abzügen
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F. Schüler,
wurde nicht in Frage gestellt. Am meisten Streit entstand über Ab-
züge für schlechte Arbeit. Von den Schädigungen des Arbeit-
gebers durch fahrlässige oder mutwillige Beschädigung von Werk-
zeugen, Maschinen, Rohmaterial etc. wurde allgemein zugegeben,
dafs der Abzug fast nie den ganzen Betrag des Schadens ausmache,
oft aber nur einen kleinen Bruchteil davon. Es giebt grofse Ge-
schäfte, welche besondere Listen aufgestellt haben, aus denen der
Arbeiter selbst die an ihn zu erhebende Schadenersatzforderung
berechnen kann. Die Ansätze machen durchschnittlich etwa 20 Pro-
zent des wirklichen Schadens aus. Selbst Arbeitervereine gaben den
üblichen Abzug auf blofs 5 Prozent des Schadens an. Eine Ver-
trauenskommission der Arbeiter meldet bei Anlafs einer umfassenden
amtlichen Enquete, dafs die Abzüge „bis 2 Fr.“ ansteigen. Geradezu
empörende gegenteilige Thatsachen vernahm man freilich aus dem
Stickereigebiet. Aber auch hier suchte man bekanntlich die Abhilfe
im stickereireichsten Kanton nicht in der Abschaffung der Abzüge,
sondern in der Einführung von Schiedsgerichten, die
aus Sachverständigen zusammengesetzt rasch und ohne Verur-
sachung grofser Kosten oder langer Zeitversäumnisse urteilen und
somit dem ungerecht beanspruchten Arbeiter einen leicht erreich-
baren Schutz bieten. Die Erfahrungen , welche man bisher mit
diesen Gerichten gemacht hat, sind vortreffliche. Um ihre allge-
meine Einführung sich zu bemühen, läge weit mehr im Interesse
der Arbeiterschaft, als die Untersagung aller Abzüge. Denn es ist
nicht zu übersehen, dafs eine solche Mafsregel bedenkliche Folgen
für unsere Industrie haben müfste. Entweder würden sich unsere
Industriellen einen anderen Schutz vor Schädigungen irgend welcher
Art zu schaffen wissen, der die Arbeiter in ein noch ungünstigeres
Verhältnis zu ihren Arbeitgebern brächte, sie würden z. B. die
Akkordlöhne reduzieren, oder wenn dies nicht gelänge, würde die
Produktion so sehr verschlechtert, dafs hieraus die gröfste Gefahr
für unsere Industrie erwüchse. Denn das ist ja klar, dafs mit der
Gefahr, einen Lohnabzug zu erleiden, auch der Eifer sich ver-
mindern würde, untadelhafte Arbeit zu liefern und mit den anver-
trauten Gegenständen sorgfältig umzugehen.
1
VIII. Fabrikordnungen und ihre Genehmigung.
Den Fabrikordnungen wird nicht selten eine Bedeutung
beigemessen, welche sie gar nicht besitzen. Sie werden als ein
zwischen Arbeiter und Arbeitgeber abgeschlossener Vertrag an-
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
49
gesenen, erfüllen aber in keiner Weise die Requisite eines solchen.
Zu einem Vertrag ist doch Willensübereinstimmung der Kontra-
henten erforderlich, während der Arbeiter sich zuweilen nur wider-
willig den Bestimmungen der Fabrikordnung unterzieht, die nicht
er aufgestellt, ja sogar ohne Erfolg bei den Behörden beanstandet
hat. Der Kommentar zum Fabrikgesetz enthält wiederholte Ent-
scheide des Bundesrats, welche den Fabrikordnungen die Eigen-
schaft eines Vertrags absprechen; es würde aber zweckmäfsig im
■Gesetz ausdrücklich gesagt.
Jede Fabrikordnung bedarf der Genehmigung, aber nicht
nur bei ihrem ersten Erlafs, sondern auch bei jeder Abänderung.
Denn auf diese Weise ist schon wiederholt dem Gesetz wider-
sprechendes in das Reglement hineinzubringen versucht worden.
Es kam aber auch vor, dafs dieser Versuch durch Aufstellung von
„Spezialreglemcnten", „Hausordnungen" und wie diese Erlasse alle
hiefsen, gemacht wurde. Solche Erfahrungen haben dazu geführt,
dafs die Genehmigung auch für diese Spczialvorschriften ver-
langt wurde. Auch dies dürfte im Gesetz ausdrücklich erwähnt werden.
Der Genehmigung, %velche der Kantonsregierung zusteht, mufs
selbstverständlich eine Prüfung vorausgehen. Sie kann nur erteilt
werden, wenn die Fabrikordnung nichts dem Gesetz wider-
sprechendes enthält. Es können aber Bestimmungen in ein Regle-
ment hinein gebracht werden, welche schlimmer sind, als manche
Verstöfsc gegen das Gesetz. Schon öfter haben Dinge Aufnahme
gefunden, welche jeder mit den Verhältnissen vertraute als grobe
Unbill betrachten mufste. Verschiedene Regierungen haben auch
das Vorhandensein solch' grober Unbill als Grund anerkannt, einem
Reglement ihre Genehmigung zu versagen. Besser wäre aber,
wenn das Gesetz sagen würde, das die Genehmigung wegen Un-
gesetzlichkeiten versagt werden m u fs , wegen offenbarer U n -
bill aber verweigert werden kann. Eine solche Bestimmung
würde manche später entstehende Konflikte verhüten.
Es bedarf einer ziemlichen Vertrautheit mit den Verhältnissen
eines Betriebs, wenigstens in manchen Fällen, um über die Zu-
lässigkeit und den Effekt gewisser Bestimmungen ein richtiges Ur-
teil zu fällen. Daher haben sehr viele Kantonsregierungen seit
Jahren die zu genehmigenden Regiemente den Fabrikinspek-
toren mitgeteilt und ihr Gutachten eingeholt. Es würde kaum
auf Widerspruch stofsen, wenn man dies ausdrücklich im Gesetz
vorschreiben würde.
Archiv für toz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 4
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F. Schüler
Schon das Fabrikgesetz von 1877 bezweckte durch Aufnahme
einer entsprechenden Bestimmung der Arbeiterschaft die Mög-
lichkeit zu gewähren, sich über die Fabrikordnungen auszusprechen,
resp. Einsprache gegen gewisse Bestimmungen zu erheben. Da
deren Gesetzwidrigkeit auch von einem blofsen Theoretiker oder
sonst von einem mit dem Fabrikwesen nicht vertrauten Mann meist
leicht erkannt werden könnte, ist anzunehmen, dafe der Gesetzgeber
namentlich solche grofse Unbilligkeiten im Auge hatte, wie sie oft
nur durch die zunächst beteiligten aufgedeckt werden können.
Die Art und Weise, wie in der Regel die Meinungsäufserung der
Arbeiter eingeholt wird, ist aber nicht geeignet, in Etablissementen,
wo die Verhältnisse zwischen Arbeitgeber und Arbeiter gespannte
sind, dieselbe zum Ausdruck gelangen zu lassen. Es wird an
solchen Orten nicht selten — ob mit oder ohne Grund, ist jeweilen
schwer zu entscheiden — geklagt, dafs schon die blofse Einsicht-
nahme in den im Bureau aufgelegten oder in der Fabrik ange-
schlagenen Reglementsentwurf als eine Anmalsung scheel angesehen
werde. Jedenfalls ist an eine ungescheute Besprechung desselben
nicht zu denken. Es dürfte deshalb eher dem Zweck entsprechen,
wenn die Entwürfe an neutralem Ort, z. B. auf der Gemeinde-
kanzlei, nach vorgängiger Anzeige des Vorhabens, aufgelegt und
die Einsendung allfälliger Einsprachen oder Abänderungsvorschläge
direkt an die Regierung verlangt würde. Für Anbringung
derselben wäre eine bestimmte kurze Frist anzusetzen.
Das dritte Alinea des Fabrikgesetzes erklärt die Fabrikordnung ver-
bindlich für den Fabrikbesitzer und den Arbeiter. Zuwiderhandlungen
sollen aber nur bestraft werden, wenn sie vom ersteren be-
gangen werden. Diese Ungleichheit vor dem Gesetz wird dadurch
zu erklären versucht, dafs dem Arbeitgeber Zwangsmittel zu Ge-
bote stehen, um den Arbeiter zur Beobachtung der Reglements-
vorschriften anzuhalten. Man verweist darauf, dafs der Arbeiter
sonst in die I-age kommen könnte, für die gleiche Uebertretung
doppelt bestraft zu werden. Das ist richtig, wo Bufsen bestehen
und zwar in einem Betrag, der die Uebertretung für Arbeiter nicht
mehr vorteilhaft erscheinen läfet. Dies ist aber sehr oft nicht der
Fall. Die Wöchnerin z. B., die gestützt auf lügenhafte Angaben
sich einige Wochen zu früh wieder in die Fabrik einschmuggelt
oder in eine andere Fabrik, wo ihre Schwangerschaft nicht be-
kannt war, zu früh eintritt, wird sich aus der zulässigen maximalen
Bufsc von einem halben Tagesverdienst nichts machen, wenn sie
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes. 5 j
durch ihre Uebertretung ein oder anderthalb Dutzend Tagelöhne
gewinnt. Der Arbeitgeber wird freilich auch nicht bestraft werden,
wenn er beweist, dafs er betrogen worden ist. Durch diese all-
seitige Straflosigkeit, ein nicht seltenes Vorkommnis, ge-
langt man aber dazu, den Wöchnerinnenausschlufs ganz illusorisch
zu machen. Der gleichen Straflosigkeit erfreut sich auch der Ar-
beiter , welcher durch Nichtverwendung oder Beseitigung einer
Schutzvorrichtung zahlreiche Nebenarbeiter aufs höchste gefährdet.
Er kann für seinen Leichtsinn höchstens mit einem halben Tag-
lohn gebüfst werden, der Prinzipal aber, der seiner Renitenz hilflos
gegenübersteht, unterliegt möglicherweise wegen Nichtgebrauch
der vorgeschriebenen Schutzvorrichtungen der Bestrafung. Darauf
beruht zum nicht geringsten Teil die aufserordentliche Nachlässig-
keit im Gebrauch von Schutzvorrichtungen, über welche jeder Amts-
bericht der Inspektoren zu klagen hat, denn selten wird sich ein
Richter entschliefsen, einen Arbeitgeber dafür zu strafen, der gegen-
über dem Arbeiter machtlos war. Wohl könnte er auch vom
zweiten seiner Zwangsmittel Gebrauch machen und den Arbeiter
entlassen, aber es wurde früher schon darauf aufmerksam gemacht,
dafs dies in manchen Fällen gleichbedeutend wäre mit der schwer«
sten Schädigung des Geschäfts.
Nach meinem Dafürhalten ist es nun freilich eine falsche
Auslegung des Gesetzes, wenn angenommen wird, Alinea 3 des
Art. VIII beziehe sich auf alle Uebertretungen des Fabrikgesetzes
durch die Arbeiter. Es hat dem genauen Wortlaut nach nur die-'
jenigen im Auge, denen gegenüber die Fabrikordnung dem Arbeit-
geber eine Strafgewalt verleiht. In Wirklichkeit aber wird von
den Gerichten gewöhnlich Straflosigkeit des Arbeiters bei Fabrik-
gesetzübertretungen aller Art angenommen. Eine Aenderung des
2. Satzes Alinea 3 schiene daher gerechtfertigt, wonach es heifsen
würde: Zuwiderhandlungen fallen unter Art. 19 des Gesetzes, für
die Arbeiter jedoch nur dann, wenn der Arbeitgeber die Unmög-
lichkeit nachzuweisen vermag, die Arbeiter an denselben zu ver-
hindern.
IX. Die Auflösung des Dienstverhältnisses.
Nach Art. 349 des Obligationenrechts bleiben die von den
Vorschriften desselben abweichenden Bestimmungen des Fabrik-
gesetzes in Kraft, soweit es sich um den Dienst vertrag handelt,
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F. Schüler,
Zur Auflösung desselben verlangt das Fabrikgesetz eine mindestens
14 Tage vorher erklärte Kündigung. Nach der Gesetzesinter-
pretation des Bundesrates ist dies so zu verstehen, dafs ausschliefs-
lich eine 14 tägige Frist durch die Fabrikordnung bedungen
werden kann, dafs aber jede Verkürzung oder Verlängerung dieses
Termins nur auf dein Weg des Vertrags festgestellt werden
kann. Dies sollte jedenfalls in deutlicherer Weise gesagt werden,
als Art. IX. es thut, denn die Auffassung, es sei eine mehr als
14 tägige Frist durch das Reglement festzusetzen gestattet, war
sehr verbreitet. Dafs vertraglich vereinbarte Abweichungen von
der 14 tägigen Frist möglich gemacht werden, ist sehr notwendig.
Versetze man sich nur in die I-age einer neu einzuführenden In-
dustrie, deren Aufkommen oft so sehr davon abhängt, dafs ihr aus
dem Ausland herbeigezogenes, geschultes Arbeits- oder Aufsichts-
personal für eine gewisse Zeitdauer gesichert bleibt. Auch gewisse
Arbeiter, Spezialisten, welche nur in sehr kleiner Zahl Verwendung
finden können, wären sehr übel daran, wenn sie sich ihre Stellen
nicht auf längere Zeit sichern könnten. Arbeiter, wie Arbeitgeber
haben also ein Interesse an der Ermöglichung von Ausnahmen.
Es kommt aber vor, dafs solche Verträge ganz einseitig zu
Gunsten der einen Partei, meist des Arbeitgebers, abgeschlossen
werden. Es ist nicht einzusehen, warum eine solche Rechts-
ungleichheit zugestanden werden soll, denn beiden Kontrahenten
ist ja durch das Gesetz die Möglichkeit gewährt, das Verhältnis zu
lösen, wenn von der einen oder anderen Seite die eingegangenen
Verpflichtungen nicht inne gehalten werden oder die bedungenen
Leistungen nicht gemacht werden können. Daher erscheint der
Wunsch gerechtfertigt, dafs gesetzlich gleiche Rechte für
beide Kontrahenten gefordert werden.
Ob eine Ausnahmsbestimmung auch für neueintretende Arbeiter
in der Weise aufgenommen werden sollte, dafs eine Probezeit fest-
gesetzt wird, während der Austritt oder die Entlassung jeden Augen-
blick oder doch in ganz kurzer Frist stattfinden kann, dürfte sehr
verschiedene Beantwortung finden. Es giebt Fabrikgesetze, z. B.
das österreichische, welche eine solche Probezeit und zwar in der
Dauer von vier Wochen, ausdrücklich verlangen. Manches spricht
dafür. Setzen wir z. B. den Fall, dafs ein Etablissement Arbeiter-
familien aus weiter Ferne herbeizieht, weil es sie, was bekanntlich
öfter vorkommt, in der Nähe nicht mehr findet, mufs man es doch
mehr als bedenklich finden, diese Leute Wochen lang der willkür-
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
53
liehen Entlassung auszusetzen, die sie arbeitslos in fremder Gegend
machen und dem Elend preis geben würde. Ist ein einzelner absolut
unbrauchbar, giebt ja Art. IX ohnehin das Recht zu sofortiger Ent-
lassung. Von einer dringenden Notwendigkeit einer Probezeit kann
also, so lange dieser Schutz für den Arbeitgeber besteht, nicht ge-
sprochen werden. Es dürfte somit genügen, das Recht zu einer
vertraglichen Feststellung einer Probezeit zuzuge-
stehen. Durch diese Formalität werden beide Kontrahenten zum
voraus auf die Folgen einer solchen Bestimmung aufmerksam ge-
macht, was durch blofse Aufnahme eines bezüglichen Passus ins
Gesetz nicht erreicht würde.
Die Kündigung des Dienstvertrags kann nicht jeden Augen-
blick stattfinden, sondern nur am Samstag oder Zahltag. Dies
wurde öfter so verstanden , dafs nach freier Wahl der eine oder
andere dieser Tage als Kündigungstag durch die Fabrikordnung
bezeichnet tverden könne. Solche Irrtümer würden vermieden, in-
dem gesagt würde: >an jedem Samstage sowie auch an jedem
Zahltag. <
Entlassung oder Austritt kann aber auch ohne Kündigung
erfolgen , wenn bestimmte Gründe vorliegen , die im Art. IX auf-
gezählt werden. Eis hat sich im Lauf der Jahre herausgestellt, dafs
diese Bestimmungen ergänzungsbedürftig sind.
Es ist in verschiedenen Industrieen eine vielfach befolgte Praxis,
bei Arbeitsmangel wenigstens einen Teil der Arbeiter ohne
weiteres zu entlassen, sei es für kürzere oder längere Zeit. Es mag
nun Industriezweige geben, wo Arbeit nur von Zeit zu Zeit vor-
handen ist und wo diese Schwankungen vom Arbeitgeber weder
vorausgesehen , noch vermieden werden können. Das ist aber die
grofse Minderzahl. Sie werden am besten thun, mit ihren Arbeitern
von Anfang an eine möglichst kurze Kündigungsfrist zu vereinbaren,
damit diese vom Tag der Anstellung an wissen, dafs sie von einem
Tag auf den anderen arbeitlos werden können. Die meisten In-
dustrieen sehen aber den Arbcitsmangel voraus und können recht-
zeitig denjenigen Arbeitern kündigen , für welche voraussichtlich
keine Arbeit mehr vorhanden sein wird. Das Recht der Entlassung
ohne Kündigung bei Arbeitsmangel braucht somit gar nicht zuge-
standen zu werden. Weit schwieriger ist die oft ventilierte Frage
zu beantworten, ob einem Arbeiter wegen andauernder Verun-
möglichung der Arbeitsleistung durch Krankheit, Unfall oder
Militärdienst gekündigt werden kann. So sehr der Gedanke
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K. Schulrr,
jedem Billigdenkenden widerstrebt, dafs derjenige, welcher seine
Bürgerpflicht erfüllt, deshalb erwerbslos werden oder der Kranke
durch den Verlust seiner Stellung noch unglücklicher werden soll,
darf doch auch nicht aufser acht gelassen werden, in welche fatale
I.age ein Geschäft versetzt werden kann, welches viele Monate lang
die Dienste eines schwer ersetzbaren Arbeiters entbehren mufc.
Mufs die Stelle dem bisherigen Inhaber offen gehalten werden, wird
kaum ein tüchtiger Ersatzmann zu ihrer Uebernahme sich entschliefsen.
Was ist in solchen Fällen gerecht? Bei der Entscheidung dürfte
wohl auseinander zu halten sein , ob Militärdienst oder Krankheit
die Möglichkeit der Dienstleistung zeitweise aufhebt. Im erstem
Fall kann der Arbeitgeber schon bei der Anstellung eines Arbeiters
in Erfahrung bringen, auf welche Unterbrechungen der Arbeit durch
Militärdienst er zu rechnen habe. Es wird selten genug Vor-
kommen, dafs er einen militärdienstfähigen, also körperlich und
geistig leistungsfähigen jungen Mann wegen dessen Dienstpflicht
nicht anstellt. Bestehen aber besondere Verhältnisse, welche er-
schwerend einer solchen Unterbrechung der Arbeit entgegenstehen,
kann er sich vertraglich das Nötige sichern. Anders verhält es
sich bei Erkranku ngen. Sie sind weder vorauszusehen, noch ist
der Zeitpunkt des Wiedereintritts der Arbeitsfähigkeit zu bestimmen.
Vielleicht folgt sogar jahrelanges Siechtum. Es ist daher gar nicht
gedenkbar, dafs einem Arbeitgeber verboten werden dürfe, einem
Kranken zu kündigen. Aber es sollte ein bestimmter Termin fest-
gesetzt werden, nach dessen Ablauf die Kündigung erst zulässig
ist, sofern nicht vertraglich etwas anderes ausgemacht worden ist.
Solche Bestimmungen enthalten auch ausländische Fabrikgesetze,
wie denn z. B. das österreichische sofortige Entlassung zulässig er-
klärt, wenn ein Arbeiter über vier Wochen krank oder arbeitsun-
fähig ist. Wenn auch unser Gesetz künftig eine, wenn auch weniger
strenge, Bestimmung darüber aufstellt, dürfte es gerathen sein, den
ausdrücklichen Vorbehalt zu machen, dafs dadurch der Fortbezug
einer Haftpflichtentschädigung oder der Beiträge
einer Krankenkasse bis zur Heilung in keiner Weise be-
einflufst werde. Sehr bemühende Thatsachen mahnen an die Notli-
■wendigkeit einer solchen Vorsichtsmafsregel , obschon anerkannt
werden muls, dafs Kranke meist sehr human behandelt und nach
ihrer, selbst unvollständigen Genesung, wenn irgend möglich in
gleicher Weise wieder angestellt werden.
Das in sehr allgemein gehaltener Formulierung den Arbeitern
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgeselzes.
55
zugestandene Recht zum Austritt ohne vorausgegangene
Kündigung bedarf wohl keiner weiteren Bestimmungen. Ent-
stehen Differenzen, die sogar zu Strikes fuhren, oder auch zu Aus-
sperrungen, kann deren Berechtigung nicht durch allgemeine Regeln,
sondern nur durch sorgfältige Prüfung der Verhältnisse von Fall zu
Fall , durch die gewöhnlichen oder besser durch Schiedsgerichte
festgestellt werden. Dafs die blofse Teilnahme an einem in ge-
setzlicher Weise durchgeführten Strike nicht strafbar sein könne,
also auch nicht durch Entlassung ohne Kündigung geahndet werden
dürfe, ist wohl heute allgemein, wenigstens in unserem I.and, aner-
kannt. Wie ein oft verlangter, weiterer Schutz gegen Mafsregelungen
wegen Strike gewährt werden könne, ist nicht wohl einzusehen,
denn wer will dem Arbeitgeber, der es nicht ausdrücklich selbst
sagt, den Beweis leisten, dafs er von dem Arbeitern und Arbeit-
gebern in gleicher Weise zustehenden Kündigungsrecht nicht aus ganz
anderen Gründen, als wegen der Teilnahme am Strike Gebrauch
gemacht habe? Uebrigens wird auch hier dem Richter das ent-
scheidende Wort zustehen, wenn gesetzlich unzulässige Gründe
nachgewiesen werden können. Doch mag ein Punkt hier Er-
wähnung finden , der wiederholt die Behörden beschäftigt hat : das
Recht des Arbeiters zum Austritt ohne zu kündigen, wenn sein
Lohn eine Verkürzung erfahren soll, die eintreten wird,
bevor er Zeit hatte, sich um eine bessere Stellung umzusehen oder
wo eine solche Lohnverkürzung dadurch herbeigeführt wird , dafs
der Arbeitgeber durch offenbares Selbstverschulden eine Betriebs- •
Störung hat eintreten lassen, welche dem Arbeiter verunmöglicht,
sich den vollen Tageslohn zu erwerben. So kommt cs beispiels-
weise vor, dafs in einem Betrieb alljährlich Wassermangel eintritt.
Derselbe könnte durch Anschaffung eines Hilfsmotors leicht kompen-
siert werden, der Prinzipal zieht aber vor, ohne den Arbeiter im
voraus hiervon in Kenntnis zu setzen, schichtenweise Halbtagsarbeit
einzuflihren. Leider sagt das Gesetz nirgends mit genügender
Deutlichkeit, dafs auch in diesem Fall dem Arbeiter das Recht zu-
kommt, eine Arbeit zu verlassen, welche ihm nicht mehr den in
Aussicht stehenden Erwerb und damit nicht mehr die Möglichkeit
der bisherigen Lebenshaltung gewährt.
Die sofortige Lösung des Dienstverhältnisses in-
volviert in der Regel die Schädigung der einen oder anderen Partei.
Ist sie ungesetzlich, ist der Unrechthabende zum Schadenersatz
verpflichtet. Ein Mafs hierfür setzt das Gesetz nicht fest. Da-
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F. Schüler,
gegen sucht es die Leistung dieser Entschädigung zu sichern, aber
nur für die eine Partei und zwar durch die Festsetzung eines
Decompte. Es setzt voraus, dafs der geschädigte Arbeiter beim
Arbeitgeber immer so viel finden werde, dafs er für seine Ansprüche
gedeckt sei. Es ist dies auch aufserordentlich selten nicht der Fall,
während allerdings bei den Arbeitern in einem grofsen Teil der
Fälle nichts erhältlich wäre. In der erwähnten Bestimmung liegt aber
doch eine Rechtsungleichheit. Aber sie wird in der Praxis dadurch gut
gemacht, dafs bei ungesetzlichem Austritt vom Arbeiter nur der
Betrag dieses Decompte, d. h. im Maximum des Lohnes von sechs
Tagen verlangt wird, während die vom Arbeitgeber zu leistende
Entschädigung in der Regel auf den Lohnbetrag angesetzt wird,
welchen der Arbeiter sich in der gesetzlichen Kündigungs-
fr st hätte erwerben können. Seine Entschädigung beträgt also
gewöhnlich das doppelte, was er für die gleiche Rechtsverletzung zu
leisten hat. Mit diesem Ausgleich hat sich bisher die Arbeiterschaft
begnügt, ohne Wiederspruch zu erheben. Vielleicht würde er am
besten gesetzlich in dieser Weise fixiert. Es ist aber noch ein weiterer,
den Decompte betreffender Punkt oft streitig gewesen. Die Fabrik-
ordnungen zählen oft gewisse Vergehen auf, welche den Arbeit-
geber zu sofortiger Entlassung berechtigen. Manche beanspruchen nun
das Recht, in solchen Fällen auch den Decompte zurückzu-
behalten. Sie gehen dabei von dem Gedanken aus, dafs es nicht
eine von ihnen gewollte Entlassung sei, sondern eine solche, zu
denen sie das Vergehen des Arbeiters gezwungen habe; sie glauben
deshalb Anspruch auf Schadenersatz zu haben. Dann ist es aber
wohl nicht ihre Sache, sondern die des Richters, zu entscheiden, ob
dem Fehlbaren nicht nur die oft recht empfindliche Strafe sofortiger
Entlassung, sondern auch die des Verlustes des Decompte zudiktiert
werden dürfe. Dies im Fabrikgesetz zu erwähnen, würde ziemlich
oft zur Vermeidung von Streitigkeiten von grofsem Nutzen sein.
Es kommt auch vor, dafs in Fällen, wo unter dem Fabrikgesetz
stehende Angestellte durch Fahrlässigkeit grofsen Schaden verursachen
oder durch die plötzliche Versagung ihrer Mitwirkung den ganzen
Betrieb in hohem Mafs beeinträchtigen oder gar verunmöglichen
könnten, diese nur unter der Bedingung einer Kautionsleistung, sei
es in bar, durch Bürgschaft oder irgendwie sonst, beschäftigt werden.
Gegen eine solche Vereinbarung dürften wohl keine gesetzlichen Ein-
wendungen zu erheben sein, wenn sie durch förmlichen Vertrag er-
folgt, wohl aber, wenn sich der Arbeitgeber — wie es hie und da vor-
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Die Revision des schweizerischen Kabrikgesctzes.
57
gekommen ist • — ohne weiteres das Recht eines Lohnrückhalts bis
zur Ansammlung einer gewissen Kaution anmafst. Eine schützende
Bestimmung, wie das Verlangen einer schriftlichen Vereinbarung,
wäre in solchen Fällen nicht überflüssig.
\
X. Die Lohnzahlung.
Ueber die richtige Lohnzahlung in den Fabriken haben die
Fabrikaufsichtsorgane ebensowohl zu wachen, wie über die Aus-
führung jedes anderen Artikels des Fabrikgesetzes. Sie können aber
diese Pflicht nur erfüllen, wenn sie Einsicht in die Zahltagbücher
des Arbeitgebers, wie in die Lohnbüchlein des Arbeiters nehmen
können. Da es, obwohl sehr selten, vorkommt, dafs ihnen dieser
Einblick verweigert wird, würde diese Befugnis am besten durch
das Gesetz gewährt
Die Frage, was der Arbeiter zu fordern berechtigt sei, wird
durchaus nicht von jedermann gleich beantwortet. Bis zur Stunde
hat die Regel allgemein gegolten, dafs dem Arbeiter gemachte Vor-
schüsse, Lohnbeträge, welche der Arbeiter einem Gehilfen zu ent-
richten hatte, die aber der Arbeitgeber für ihn ausgelegt hatte,
Mietbeträge für gewährte Wohnung, die Rechnungen für gelieferte
Lebensbedürfnisse, für Fournituren, die der Arbeiter zur Herstellung
seines Fabrikates bedurfte, als zum voraus geleistete An-
zahlungen an den Arbeitslohn betrachtet und demgemäfs
vom Lohnbetrag in Abrechnung gebracht werden dürfen. Zudem
verleiht das Gesetz dem Prinzipal als weitern Schutz das Recht zum
Rückhalt eines Decompte. Einzelne Arbeitgeber sind aber noch
weiter gegangen, wie früher schon erwähnt wurde und haben sich
das Recht vindiziert, für Heizung, Beleuchtung, Reinlichkeitspflege
Abstriche vom Lohnguthaben zu machen. Endlich kamen dazu die
Beträge für Versicherungen und andere sogen. Wohlfahrts-
einrichtungen, von denen allerdings schon das bestehende Ge-
setz sagt, dafs sie nur im gegenseitigen Einverständnis zulässig seien.
Alle diese Verrechnungen haben sehr ungleiche Ansprüche auf
Duldung. So sind an anderer Stelle bereits ernste Bedenken gegen
die Zulässigkeit der Abzüge für Heizung, Beleuchtung etc. geäufsert
worden. Am wenigsten sind selbstverständlich die Vorschüsse auf
den verdienten Lohn beanstandet worden. Sind sie doch im Grund
nichts anderes, als eine freiwillig geleistete teilweise frühere Be-
zahlung des Lohnes, sofern sie nicht, was äufserst selten oder nie
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F. Schüler,
Vorkommen dürfte, nur gegen Berechnung von Zins oder Skonto
gewährt werden. Die englische Gesetzgebung hat es aber doch
nötig gefunden, Forderungen letzterer Art ganz einfach zu verbieten.
Auch die an den Gehilfen eines Arbeiters geleistete Lohnzahlung
ist dem letzteren wohl noch immer ohne Widerspruch verrechnet
worden, obwohl allgemein anerkannt ist, dafs der Arbeitgeber für
die richtige Ausbezahlung dieser Hilfsarbeiter verantwortlich sei
und es eigentlich in seinem Interesse läge, durch direkte Zahlung
an die Gehilfen vor Unannehmlichkeiten sich zu schützen. Ganz
anders verhält es sich mit einer anderen Art von „Vorschüssen“
welche nicht selten Arbeitern gemacht werden, welche z. B. in
entfernter Gegend für eine Fabrik angeworben worden oder die
in finanzielle Verlegenheiten gerathen sind und denen der Arbeit-
geber durch ein Anleihen beigestanden ist. Hier läfst sich der
Arbeitgeber eine Anweisung auf den Lohn ausstellen, der erst
verdient werden soll und es ist nicht abzusehen, warum er
mit so entstandenen Forderungen günstiger gestellt sein soll , als
irgend ein Dritter, der einem Arbeiter aus blofsem Wohlwollen
durch ein Anlehen hilfreich beisprang. Ein Vorzugsrecht wäre hier
um so weniger gerechtfertigt, als das Anlehen vom Arbeitgeber oft
nur in der ausgesprochenen Absicht gewährt wird, den zur Rück-
zahlung lange nicht oder gar nie befähigten Arbeiter ans Geschäft
zu fesseln. Dieser gerät so oft mit seiner ganzen Familie in ein
Abhängigkeitsverhältnis, dem das Gesetz nicht noch besonderen
Vorschub leisten sollte.
Manche Unternehmer bieten bekanntlich ihren Arbeitern
Wohnungen zur Benutzung an. Ueber deren Beschaffenheit ist
schon wiederholt und von den verschiedensten Beobachtern berichtet
worden. Es hat sich ergeben, dafe diese Wohnungen durchschnitt-
lich mindestens ebensogut, meist besser sind, als die, welche von
Privatleuten gewöhnlich gemietet werden. Der Mietpreis ist ge-
wöhnlich ganz erheblich niedriger , als der gleichwertiger Privat-
wohnungen, ja es kommt vor, dafs er nur die Hälfte, sogar ein
Drittel der letzteren beträgt. Es soll nun nicht behauptet werden,
dafs diese Wohnungen, wovon die in den letzten Jahrzehnten er-
bauten immer besser den Anforderungen der Hygieine entsprechen
und oft einen recht bedeutenden Komfort darbieten, aus blofsem
Wohlwollen für die Arbeiter erbaut worden seien. Die Not zwang
dazu, wenn man Arbeiter haben wollte und die guten Wohnungen
trugen viel dazu bei , die Arbeiter im Geschäft festzuhalten. Sei
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Die Revision des schweizerischen Kabrikgesetzes.
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dem aber, wie ihm wolle, so viel ist sicher, dals die Prinzipale durch
die Erstellung von Arbeiterwohnungen meist eine pecuniäre Ein-
bulse erleiden. Zu dieser würden sie sich aber kaum verstehen,
wenn sie nicht mindestens die Sicherheit hätten, den Mietzins
richtig zu erhalten. Diese Sicherheit zu gewähren , liegt also im
wohlverstandenen Interesse der Arbeiterschaft. In anderen Fabriken
wird den Arbeitern zu billigen Preisen, z. B. durch gemeinschaftlichen
Ankauf, selbst durch besondere Konsumanstalten, allerlei Lebens-
bedarf verschafft. Oder es wird dafür gesorgt , dals gewisse
wichtige Nahrungsmittel, wie etwa Milch, in bester Qualität zu be-
scheidenem Preis erhältlich sind. In zahlreichen Betrieben wird den
Arbeitern auch zu äufserst mäfsigen Preisen sonstige gesunde Nahrung
geboten. Aus den Berichten der Fabrikinspektoren geht hervor, dals
d ese Bestrebungen der Fabrikbesitzer oft mit bedeutenden finan-
ziellen O 'ern verbunden sind, dafs sie aber eine grofse Wohlthat
für die Arbeiterschaft bedeuten. Weniger häufig, aber mit dem
Ueberhandnehmen der fremden Arbeiter immer öfter, kommt es
vor, dafs eigentliche Pensionatc gegründet werden, worin die
Leute nicht nur Kost, I x>gis , Wäsche, sondern zum Teil auch
theoretischen oder praktischen Unterricht finden. Aus amtlichen
Untersuchungen hat sich ergeben, wie erspriefslich solche Anstalten,
richtig geführt, nicht nur für das körperliche Gedeihen , sondern
auch für das moralische, namentlich für die aus ihren Familien heraus-
gerissenen, den bedenklichsten Einflüssen preis gegebenen fremden
jugendlichen Arbeiterinnen sind.
Alle diese Veranstaltungen haben keinen Anspruch auf den
Namen von Wohlfahrtseinrichtungen, wenn sie auf Gewinnst
ab zielen. Das dürfte aber nicht häufig Vorkommen. Uebrigens
wäre es leicht, dies zu ermitteln, da ja über solche Unternehmungen
immer spezielle Rechnung geführt wird. Solche Rechnungen sind
auch bisanhin mit aller Bereitwilligkeit den Inspektoren zur Ver-
fügung gestellt worden, wo irgend ein Umstand zu diesem Begehren
Veranlassung gab. Dafs sogar das Recht zu dieser Einsichtnahme
ohne bedeutenden Widerstand im Gesetz Aufnahme finden könnte,
wurde schon früher erwähnt. Wo nun aber dieser Ausweis — sei
es nur auf spezielles Verlangen, sei es nach allgemeiner amtlicher
Vorschrift — geleistet werden kann und will, sollte das Recht
der Verrechnung am Lohn ohne weiteres zugestanden werden,
denn auch hier ist es eine Art der Bezahlung des verdienten Lohnes
durch Naturalleistungen, gerade wie die Gewährung von Wohnungen,
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F. Schüler
(ur deren Mietverrechnung ja auch die Bedingung aufgcstellt werden
könnte, dafs sie die für gleiche Räume üblichen Mietpreise nicht
übersteigen dürfen.
Eine Ausnahme dürfte von den verschiedensten Seiten und
nicht mit Unrecht, für die da und dort eingerichteten Verkaufs-
stellen für geistige Getränke gemacht werden. Diese geben
freilich öfter ihre Ware zu Ankaufspreisen oder mit geringem Zu-
schlag ab, der, soweit er nicht die Verwaltungskosten zu decken
hat, in die Kasse irgend einer Wohlfahrtsanstalt fällt oder zur
Herabsetzung des Lebensmittelpreises verwendet wird. Ob diese
Verwendung des Gewinnsts eine Bevorzugung solcher Verkaufs-
stellen rechtfertigt oder ob nicht Barzahlung der Getränke ver-
langt werden sollte, müfste ernstlich erörtert werden.
Am meisten Anfechtung von allen Verrechnungen haben schon
längst die der sogenannten Fournituren erfahren , d. h. des
Materials, welches der Arbeiter bei der Herstellung seines Produktes
selbst zu liefern hat. Diese hat er sehr gewöhnlich vom Arbeit-
geber zu beziehen. Es scheint auf den ersten Blick befremdlich,
warum ihm die Bezugsquelle nicht freigestellt ist oder warum über-
haupt der Arbeitgeber nicht alles erforderliche selbst liefert. Für
das erstere wird als Grund angegeben, dafs der Arbeiter um der
gröfseren Billigkeit willen oft allzugeringes Material anschafien und
durch dessen Verwendung die Ware diskreditieren würde; für das
zweite aber wird angeführt, dafs das vom Arbeitgeber selbst ge-
lieferte Material sehr häufig eigentlich vergeudet, jedenfalls nicht ge-
spart und, weil eine Kontrolle über den notwendigen Verbrauch
kaum möglich ist, nicht gar selten zum eigenen Nutzen verwendet
wird. Für die Richtigkeit dieser Behauptungen sind schon oft Be-
lege vorgebracht worden; aber gleichzeitig hat sich ergeben, dafs
in vereinzelten Fällen diese Fournituren zu beträchtlich höherem
als dem Ankaufspreis verrechnet werden. Der Prinzipal qualifiziert
auf diese Weise seine Fourniturenlieferung als ein Handelsgeschäft,
für das ihm nicht die mindeste Begünstigung zuzukommen braucht.
Führt er aber besondere Rechnung darüber und überläfst er den
allfallig bei* der Detailabgabe der Waren gemachten Gewinnst der
Arbeiterschaft, ist nicht einzusehen, warum seine Lieferung nicht
als eine Anzahlung an den Lohn angesehen werden soll.
Schlimmer, als alle anfechtbaren Lohnverrechnungen, beein-
flussen die Oekonomie des Arbeiters die Fälle, wo dem Aufsichts-
personal einer Fabrik das Recht, allerdings in ganz gesetzwidriger
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Die Revision des schweizerischen Kabrikgesetzes. 6l
Weise, zugestanden wird, die Beträge vom Lohn des Arbeiters
zurück zu behalten, welche ihm dieser durch Bezüge aus dem
Laden des Aufsehers schuldig geworden ist. Wie oft dies vor-
kommt, entzieht sich aus naheliegenden Gründen zum mindesten
der amtlichen Kenntnis, also ist auch ein sicheres Urteil über die
Notwendigkeit besonderer schützender Bestimmungen für die Ar-
beiter nicht möglich. Dagegen ist allgemein bekannt, wie oft die
Aufseherstellung ausgebeutet wird, um einen Zwang auf die Arbeiter
auszuüben, Kunden eines Aufsehers zu werden, mag derselbe auch
noch so teure oder schlechte Ware liefern. Häufig sind Stimmen
aus der Arbeiterschaft laut geworden, welche ein Verbot des
Betreibens von Läden für Fabrikleiter und Aufseher
und deren Familien verlangten. Ob dies zulässig sei, ist mir
sehr unwahrscheinlich, obwohl ein solches Verhältnis als ein die
Arbeiterschaft oft schwer schädigendes, seine Untersagung als etwas
sehr Wünschbares zugegeben werden mufs.
Es mögen endlich noch die Lohnrückhalte erwähnt werden,
welche das bestehende Fabrikgesetz zugiebt. Einer derselben, der
Decompte, ist bereits besprochen worden und cs bleibt hier nur
beizufügen, dafs der wiederholt aus Arbeiterkreisen geäufserte Wunsch,
dafs dieser Rückhalt auf zwei Zahltage verteilt werde, Be-
rücksichtigung finden sollte, wie dies übrigens schon in vielen Ge-
schäften geschehen ist.
Nur wenn der Arbeiter einverstanden ist, gestattet
das Fabrikgesetz einen Lohnrückhalt für Spezialzwecke. Ob
dieses Einverständnis schriftlich erklärt werden müsse, ist nirgends
gesagt, wohl aber erklärt der Bundesrat die blofse Anerkennung eines
solchen Abzugsrechts durch einen Paragraphen der Fabrikordnung als
unzureichend. Als „Spezialzwecke“ bezeichnet eine Interpretation des
Bundesrats vom 6. Dezember 1875 zum Fabrikgesetzentwurf, Fabriks-
kranken-, Unterstützungs-, Unfalls-, Versicherungs-Sparkassen und dgl.
Es ist sehr fraglich, ob diese Bestimmung heute noch im vollen Um-
fang in das Gesetz aufgenommen würde. Ihre Formulierung er-
folgte zu einer Zeit, wo allerlei Zwang in den meisten grofsen
Fabriken geübt wurde, um alle Arbeiter zum Beitritt zu Versiche-
rungen gegen Krankheit oder Alter, auch zur Teilnahme an Spar-
kassen zu vermögen. Durch diese Kassen mit zweckentsprechend
abgefafsten Statuten sollten die Arbeiter an das Geschäft gefesselt
werden. Diese Tendenz zeigt sich immer seltener. Die Verwaltung
der Krankenkassen namentlich, das Verfügungsrecht über ihr Ver-
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F. Schüler,
mögen , liegt heutzutage meist in der Hand der Mitglieder. Wo den
Fabrikbesitzern noch ein bestimmter Anspruch auf die Vertretung
in den Verwaltungskommissionen Vorbehalten ist, sind sie doch
selten mehr die allein mafsgebenden Personen. Nur ein Uebelstand
ist in den meisten Kassen geblieben : mit der Entlassung aus der
Fabrik hört auch die Mitgliedschaft der Fabrikkrankenkasse und
damit jedes Anspruchsrecht an deren Vermögen auf. Wer entlassen
wird, kann aber nicht mehr in eine andere Kasse eintreten, wenn
er ein gewisses Alter überschritten hat. Er ist im Krankheitsfall
hilflos geworden. Um dies zu vermeiden, wird er sich manches
gefallen lassen, damit er der Wohlthat der Kasse, zu der er viel-
leicht Jahrzehnte seine Beiträge gezahlt hat, teilhaft bleibe. Diese
Gebundenheit war das Hauptmotiv, warum in den 70 er Jahren die
Fabrikkrankenkassen so verhafst waren und es an manchen Orten
noch heute sind, warum auch der Zwang zum Beitritt aufgehoben
wurde. Wo aber heute die Regierung die Kassenstatuten zu ge-
nehmigen hat, zur Ueberwachung der Kassenverwaltung berechtigt
und berufen ist , wo ein austretender Arbeiter doch Mitglied der
Krankenkasse bleiben oder infolge von Freizügigkeit in eine
andere eintreten oder endlich eine Auskaufssumme behufs Ein-
kaufs in eine andere Kasse verlangen kann, ist kein stichhaltiger
Grund vorhanden, warum eine F'abrikkrankenkasse zum mindesten
für die, welche nicht anderwärts versichert sind, obligatorisch
erklärt werden sollte. Jedenfalls dürfte aber in einem revidierten
Fabrikgesetz die Möglichkeit vorgesehen werden, dafs ein Ver-
sicherungsgesetz dieses Obligatorium einführe und damit zugleich
eventuell die Berechtigung schaffe, die zu zahlende Prämie oder
einen Teil derselben vom Lohn zurück zu behalten. Dafs auch
die Unfallversicherung in nächster Zeit vom Bund aus ein-
geführt und die allfälligen Beiträge der Arbeiter an die Prämien
geregelt werden , darf hoffentlich als sicher vorausgesetzt werden.
In dieser Voraussetzung mag die Frage der Beteiligung des Arbeiters
an der Unfallversicherung hier unberührt bleiben.
Die Fabriksparkassen mit obligatorischen Beiträgen,^ sowie
andere Versicherungen , zu . denen der Arbeiter verpflichtet wird,
sind so zu sagen ganz verschwunden, das wenige, was noch existiert,
beruht auf F'reiwilligkeit, so dafs eine gesetzliche Bestimmung da-
rüber kaum mehr erforderlich ist.
Inbezug auf alle die erwähnten Arten von Kassen darf wohl
der Wunsch ausgesprochen werden , dafs die Kantonsregierungen
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
63
verpflichtet werden sollen, dieRechnungen aller derKassen
einzufordern, zu denen die Arbeiter Beiträge, wenn auch nur frei-
willige, zu zahlen haben, sie zu prüfen und alle Mafsregcln zum
Schutz vor Schädigungen der Kassen zu ergreifen. Wie notwendig
diese Oberaufsicht ist, haben die Erfahrungen der letzten Jahre
gezeigt, wo angesammelte Kapitalien selbst da verloren gingen,
wo die Ortsbehörden mit dieser Absorge betraut waren , aber
wegen zu nahen Beziehungen zu den Schuldnern der Kasse nicht
einzuschreiten wagten.
Ucber die Art und Weise der Lohnzahlung giebt das
Gesetz einige Vorschriften. Sie soll in der Fabrik selbst, in bar
und in gesetzlichen Münzsorten gemacht werden. Daran dürfte
wohl kaum gerüttelt werden. Dagegen erweist sich der Zusatz mit
jedem Jahr als notwendiger, dafs dem Arbeiter ein Mittel an die
Hand gegeben werden müsse, die Richtigkeit der Lohnbe-
rechnung nachzuprüfen und im Fall entstehender Lohnstreitig-
keiten einen Ausweis über den erhaltenen Betrag zu besitzen. Dazu
dienen Lohntarife, wo Akkordlohn gezahlt wird und vor allem
aus die in zahlreichen Fabriken längst eingeführten Zahltagzettel
oder Zahltagbüchlein. Diese obligatorisch zu erklären, wäre für beide
Teile gleich empfehlenswert.
Wem der Lohn auszubezahlen sei, sagt Art. X nicht.
Man setzte vermutlich als selbstverständlich voraus, demjenigen,
welcher ihn verdient habe. Wird aber dieser Grundsatz auf die
Entlohnung der jugendlichen Arbeiter angewendet, entstehen da-
raus oft sehr fatale Folgen. Kinder, die das Geld in die Hände
bekommen, fühlen sich ökonomisch selbständig, ihren Eltern gegen-
über unabhängig und so kommt die bedauerliche Erscheinung zu-
stande, dafs sie sich von der Familie loslösen. Eine Bestimmung,
dafs Jugendliche, allermindestens bis zum erfüllten 16. Jahr, besser
aber alle Minorennen denLohnbetrag nicht erhalten dürfen,
sondern dafs er an die Eltern, soferne diese nicht anders verfügen,
oder an den Vormund gezahlt werden müsse, wäre empfehlensweit.
Eine solche Vorschrift dürfte übrigens allen, auch Erwachsenen gegen-
über am Platz sein, die unter Vormundschaft stehen. Indirekte
Bezahlung ist allgemein üblich , wo ein Arbeiter Gehilfen be-
schäftigt, die er anstellt, und bezahlt, ein Verhältnis, wie es zwischen
Sticker und Fädlerin, Zigarren- und Wickelmacher, Gruppenchefs
und Gehilfen so oft vorkommt. Die häufigen Klagen über mangel-
hafte oder ganz ausbleibendc Zahlung lassen es wünschbar er-
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64
F. Schüler,
scheinen, dal's der Arbeitgeber nicht nur verantwortlich für die
richtige Zahlung erklärt, sondern angehalten werde, auf Rechnung
des zur Zahlung verpflichteten Arbeiters seine Gehilfen aus-
zubezahlen. Bei Akkordarbeit gelangt der Arbeiter so auch eher
zu seinem richtigen und billigen Lohntreffhis.
Die Ansichten darüber, wann, in welchen Zwischenräumen und
an welchen Tagen der Arbeitslohn auszuzahlen sei, gehen sehr
auseinander. Prinzipale und Arbeiter fuhren die verschiedensten
Gründe für ihre Meinungen an. Während die letzteren meist kurze
Fristen wünschen, um langedauerndes Kreditieren entbehrlich zu
machen , behaupten die ersteren , dafs gerade durch die kurzen
Zahltagsperioden der Kredit bei den Lieferanten gefährdet
werde, die nicht alle 8 bis 14 Tage mit Abschlagszahlungen und
Bemühungen , überhaupt Zahlung zu erlangen , sich plagen wollen.
Sogar die Hausfrauen wünschen bald kurze Fristen, bald scheuen
sie dieselben wegen den Jubeltagen, die in der Regel auf die Zahl-
tage folgen. Die Prinzipale scheuen vor allem die vermehrte Mühe
mit der Abrechnung, welche durch die kürzeren Zahlungsperioden
bedingt ist. Wägt man alle für und wider angeführten Gründe
sorgfältig ab, gelangt man zum Schlufs, dafs ein allgemein auf
14 Tage festgesetzter Zahlungstermin am besten allen berechtigten
Wünschen entsprechen dürfte. Sollten längere Fristen zugestanden
werden, was in einzelnen Fällen, namentlich aber bei viel Zeit be-
anspruchenden Akkordarbeiten, wünschbar sein kann, wäre doch die
Bedingung daran zu knüpfen, dafs auf Verlangen des Arbeiters dem-
selben den Fortschritten der Arbeit entsprechende Abschlags-
zahlungen zu machen seien.
Als Zahltag war früher allgemein der Samstag üblich.
Man erkannte aber immer allgemeiner, wie die Verlegung der
Zahlung auf diesen Tag die unbedachte Verschleuderung des Er-
werbs für allerlei Sonntagsvergnügungen fördere. Der Wunsch, dafs
die Wahl eines anderen Wochentags ausdrücklich vorge-
schrieben werde, ist daher sehr verbreitet. Noch mehr aber werden
gesetzliche Bestimmungen gewünscht, die Verspätungen der
Lohnzahlung mit empfindlicher Bufse belegen , wenn sie einen
gewissen sehr kurzen Termin, z. B. von 2 — 3 Tagen, überschreiten.
Solche Verspätungen kommen zwar seltener aus Gewinnsucht vor,
als in Folge schlechter Ordnung im Geschäft oder chronischem
oder zufälligem Geldmangel. Immerhin gefährden sie den Arbeiter
einigermafsen , bringen ihn in ökonomische Verlegenheiten und
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
65
schädigen seinen Kredit bei den Lieferanten seines Lebensbedarfs.
Ein empfindlicher Verzugszins wäre eine sehr gerechtfertigte
Strafe.
Nicht selten vernimmt man aber bei den Arbeitern noch weiter
gehende Wünsche. Manche glauben Auszahlung des Lohnes
bis auf den letzten Arbeitstag fordern zu sollen. Diesem
Verlangen könnte in einzelnen Industriezweigen entsprochen werden;
wo aber eine komplizierte Berechnung der Zahlung, wo eine Prüfung
der gelieferten Arbeitsprodukte auf ihre Brauchbarkeit und Fehler-
losigkeit vorausgehen muls, zeugt ein solcher Wunsch von totaler
Unkenntnis des Geschäftsbetriebs. Die erforderlichen Fristen sind
sehr ungleich lang; es können mehrere Tage notwendig sein. Eine
längere Dauer als eine Woche kann aber überall vermieden werden.
Behält man daher den Decompte von 6 Arbeitstagen bei, kann
man unbedenklich mit aller Strenge daran festhalten , dafs immer
der volle verdiente Lohn, mit Ausnahme dessen für die sechs
letzten Arbeitstage, ausbezahlt werden mufs.
Ein anderer Wunsch geht dahin, dafs der Lohn innerhalb
der normalen Arbeitsstunden ausbezahlt werden müsse.
Wer schon gesehen hat, wie infolge unpraktischer Einrichtungen
bei der Auszahlung die Arbeiter, die sich nach Hause sehnten, noch
eine oder zwei Stunden auf das Verabfolgen ihres Lohnes warten
mufsten, wird diesen Wunsch begreiflich finden und es könnte ihm
bei besserer Organisation der Entlohnung wohl ohne Schwierigkeit
entsprochen werden.
[Fortsetzung folgt.j
Archiv für s«z. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 5
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Die Rückkehr nach dem Lande.
Von
Prof. Dr. EMIL VANDER VELDE,
Mitglied der Deputiertenkammer in Brüssel,
Seit dem Ausbruch der landwirtschaftlichen Krise ist die Land-
flucht, die Wanderung der bäuerlichen Bevölkerung nach den Städten,
ein Lieblingsthema unserer zeitgenössischen Litteratur geworden.
Man kann kaum eine landwirtschaftliche Zeitschrift in die
Hand nehmen, ohne darin bittere Klagen über Arbeitcrmangel und
hohe Arbeitslöhne zu finden. Die Demographen ergehen sich —
besonders in einem Lande mit fast gleich bleibender Bevölkerungs-
Ziffer, wie es Frankreich ist — in Klagen über die Entvölkerung
der Dörfer zu Gunsten der grofsstädtischen Zentren. Die Hygieniker
beunruhigt die Gefahr, die durch die Ansammlung der Menschen
zu Hunderttausenden, ja zu Millionen hervorgerufen wird mit Rück-
sicht auf die Entwicklung der Tuberkulose, der Syphilis und des
Alkoholismus, dieser drei gewaltigen Grundursachen der überaus
hohen Krankheits- und Sterblichkeitsziffern, die von den Städten
geliefert werden. Die Konservativen schliefslich sehen mit Schrecken,
wie die Herde der sozialistischen Propaganda von Jahr zu Jahr an
Umfang gewinnen.
Diese verschiedenen vorgefafsten Meinungen sind in so hohem
Mafse geistiges Gemeingut geworden, dafs sie sich nun auch in
verschwenderischer Fülle über die Tagespresse ergiefsen, nachdem
sie erst alle Fachschriften erfüllt hatten, ja sie finden immer häu-
figer auch in den Werken der schöngeistigen Litteratur ihre Spie-
gelung.
So schildert der belgische Dichter Emile Vertweren in einer
wunderbaren Trilogie, die voll ist von tiefsinnigen Erkenntnissen und
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Die Rückkehr nach dem Lande.
67
hellsichtigen Bildern der Zukunft , wie sich das sinnlos bethörte
Land nach den grofsen Ansiedelungen hin entvölkert, wie die ver-
führerischen Städte, allgewaltig und allverschlingend ihre Herrschaft
über das flache Land ausdehnen , wie dann schliefslich die Sonne
der grofsen siegreichen sozialen Revolution aufgeht, die Einheimische
und Fremde, Bürger und Bauer zu einem einzigen Volk der Arbeit
versöhnend vereint.
Wenn das Phänomen der Landflucht auf so verschiedenen Ge-
bieten einen so starken Eindruck hervorruft, so ist klar, dafs es
»
während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine
ganz aufserordentliche Bedeutung erlangt haben mufs. Dennoch
wäre es ein Trugschlufs, wollte man annchmen, die Wandemng der
Landbevölkerung nach den Städten sei eine durchaus neue Er-
scheinung und nicht blofs ein schärferes Hervortreten einer Be-
wegung, die sich seit jeher vollzogen hat, solange es städtische An-
siedelungen giebt.
Es soll hier nicht von den analogen Tendenzen gesprochen
werden, die für den Ausgang des Altertums und, wie Bücher1)
gezeigt hat, auch für das Ende des Mittelalters einen Markstein
bilden. Auch sonst beweisen zahlreiche Zeugnisse, dafs man sich
lange vor dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts mit der Ent-
völkerung des Landes und dem Zustrom der Landleute nach den
grofsen Bevölkerungszentren beschäftigt hat.
So bemerkt Weber in seinem wichtigen Werke, The growth
of cities in the nine-teenth Century, die Klagen der Physiokraten
über den Mangel an Landarbeitern seien aller Welt geläufig ge-
worden. *) In seinem berühmten Encyklopädieartikel „Fermiers“
stellt Quesnay fest, dafs die Klügsten und Willensstärksten aus
dem I .and volke nach den Städten abwanderten, und er führt diese
Erscheinung auf die grofsen Geldausgaben zurück, die in Paris und
den anderen grofsen Städten von Hof und Adel gemacht wurden.
Kurzum, die Physiokraten waren darüber einig, dafs eine Abwan-
derung nach den Städten stattfände; sie sprachen von einer Ent-
’) Karl Bilcher, Die inneren Wanderungen und das Städtewesen in ihrer
entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung. In „Entstehung der Volkswirtschaft“, Tü-
bingen 1893.
*) A. H. Weber, The growth of cities in the nine-teenth Century p. 230 u. f.
London. P. S. King and Son 1899. — Siehe auch Levasscur. La population
frangaisc I p. 207 et s. Paris, Rousseau 1891 und Kar eie w. Les paysans et la
question paysannc en France p. 240.
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68
Emil Va n der» el de,
völkerung der ländlichen Gebiete und erklärten, dal’s eine solche
in Frankreich schon seit langem bestände.
In den „Ephömörides du citoyen“, die im Jahre 1765 erschienen
waren, konnte man folgendes lesen:
„Welche Ursachen stimmen hierzulande zusammen, um die
Zahl unserer Bauern zu vermindern? Oder besser gesagt, was
stimmt hier nicht zusammen ? Das Kriegswesen, die Marine, die
Finanz, die Rechtsverwaltung, der Handel, die Künste, ja selbst die
Kirchen, reifsen eines nach dem anderen die Bauernkinder aus dem
Erdenwinkel, in dem sie geboren sind.“
In England traten die gleichen Wanderbewegungen mit einer
noch viel gröfseren Gewalt zu Tage. Nur dafs hier die Landlords,
statt solche Erscheinungen zu bedauern und ihnen entgegenzu-
arbeiten, einzig darauf bedacht waren, eine Umwälzung der land-
wirtschaftlichen Verhältnisse zu ihrem Vorteil herbeizuführen und
dafs sie zu den gewaltthätigsten und schwindelhaftesten Mitteln
griffen, um die Bauern zu expropriieren, die kleinen Lehenhöfe
durch grofse Pachtgüter zu ersetzen und das arbeitende I^ndvolk
der städtischen Industrie in die Arme zu treiben.
So bedeutend aber auch zu jener Zeit die bäuerliche Zuwan-
derung nach den städtischen Ansiedelungen war, so diente sie doch
viel eher dazu, die durch eine aufserordentliche Sterblichkeit verur-
sachte Entvölkerung wieder auszugleichen, als dafs sie die städtische
Bevölkerungsziffer (etwa gar mit der Schnelligkeit, die wir heutzu-
tage gewohnt sind) erhöht hätte.
Thatsächlich waren die hygienischen und gesundheitlichen Ver-
hältnisse, unter denen die Städte lebten, fast überall so kläglich,
dafs die Sterbiichkeitsziffer die Geburtenziffer überstieg.
Im Jahre 1761 schrieb Süfsmilch '): „In Städten, besonders in
volkreichen Städten, ist mehrentheils die Zahl der Todten gröfser.
als der Geborenen. Wenn auch zuweilen aufserordentlich gesunde
Jahre vorfallen, da die Zahl der Gebornen etwas gröfser ist; so
verschwindet doch der Ueberschufs der Gebornen, wenn man die
Listen einiger Jahre in eine Summe bringet."
Als einzige unter den Hauptstädten der damaligen Zeit wies
Paris eine schwache natürliche Vermehrung auf. London brachte
es erst vom Beginn des 19. Jahrhunderts an soweit. Berlin er-
*) Sülsmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des mensch-
lichen Geschlechts. Berlin 1761.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
69
reichte diesen Zustand dauernd erst im Jahre 1810, Leipzig im
Jahrzehnt zwischen 1821 und 1830, Frankfurt im Jahre 1841, Stock-
holm erst nach dem Jahre 1860. “)
Gegenwärtig sind es in Westeuropa nur mehr einige Städte
Italiens und — das verdient festgehalten zu werden — die Hälfte •
der grofsen Städte Frankreichs, wo die Sterbeziffer gröfser als die
Geburtenziffer geblieben ist, und wo sich infolgedessen die Be-
völkerung nur durch Zuwanderung vermehrt. *)
Was heute Ausnahme ist, war vordem Regel, und J. J. Rousseau
konnte sich auf unbestreitbare Thatsachen stützen, wenn er die
Rückkehr zur Natur predigte und gegen die Städte als die Herde
der Volks Vernichtung seine Anklage erhob.
Jeder kennt die berühmte Stelle im Emile *) : „Die Menschen
sind nicht dazu geboren, sich zu Ameisenhaufen anzusammeln,
sondern verstreut zu leben auf dem Lande, das sie bebauen müssen.
Je dichter sie sich vereinigen, desto verderbter werden sie. Die
Schwäche des Körpers sowohl wie die Mängel des Gemütes sind
unausreichliche Folgen zu starker Ansammlungen. Unter allen
lebenden Wesen ist der Mensch am wenigsten dazu geeignet, als
Herdentier zu leben. Menschen, die man wie die Schafe zusammen-
pfercht , werden allesamt rasch zu Grunde gehen. Des Menschen
Hauch wirkt tödlich auf seinesgleichen ; das ist im wörtlichen Sinne
nicht weniger wahr als im figürlichen.
Das Städtewesen ist der gefräfsige Rachen, der das mensch-
liche Geschlecht verschlingt. Nach wenigen Generationen stirbt
die Rasse aus, oder sie degeneriert; sie bedarf der Erneuerung und
immer ist es wieder das Umd, das den Stoff zu dieser Erneuerung
hergiebt.“
Zur Zeit, da Rousseau diese Worte schrieb, hatte sich die
industrielle Revolution noch nicht vollzogen, und die verheerenden
Folgen, die aus ihr, zumal in ihrem Anfänge für jene Bevölkerung
erwachsen sind, die sich in den Städten mit ihrem Manufaktur-
betrieb anhäufte, waren noch nicht eingetreten. Da diese Revo-
lution in ihrer Entwicklung tausende landflüchtiger Arbeiter in Orte
zusammenwarf, in denen nichts vorgekehrt war, um den Gefahren
*) Weber, The growth of cities in the nine-teenth Century p. 258. New York.
Macmillan Ö* 1899. .
r) Idem p. 246.
*) ). J. Rousseau. Emile. Livie I p. 36.
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7°
Emil Vandervelde,
einer solchen Menschenanhäufung zu begegnen, ist es weiter nicht
verwunderlich, dafs sich der Hafs gegen die Städte in alle jene
Herzen, die ohnehin von Zorn über die Knechtschaft und das
Elend des Proletariats erfüllt waren, noch tiefer eingrub,
v Besonders sind die Schriften der meisten Sozialisten voll der
beredtesten und bittersten Urteile über die Entfremdung des Ge-
werbes vom Ackerbau als eine Hauptursache der Landverödung
und der Hypertrophie des Städtewesens.
Robert Owen z. B. schrieb:
„Prinzip ist es — sofern bei dem gegenwärtigen Zustande
der Unordnung und der sozialen Anarchie von einem Prinzip noch
die Rede sein kann — Prinzip ist es, den Ackerbau von der In-
dustrie, dem Handel und den anderen Berufen loszulösen, ihm in
seiner ganzen Stellung und seinen Gewohnheiten jeden Zusammen-
hang, jede unmittelbare Berührung mit den anderen Berufszweigen
zu nehmen, diese wieder in Strafsen, Gassen, Plätze zu sperren, die
Städte und Altstädte bilden und denen der Ackerbau die Früchte
des Landes liefert; diesem Ackerbau wieder innerhalb der unend-
lichen Teilung der Berufe in Industrie, Handel und Manufakturen
besondere Interessen zuzuweisen und obendrein in jedem dieser
Berufszweige, das persönliche Interesse allen anderen Interessen
entgcgenzustellen ')."
Im Gegensatz zu dieser Erscheinung ging der grolse englische
Utopist in seinen Plänen zur Erneuerung der Gesellschaft von dem
Grundsätze der Vereinigung und der gegenseitigen Kooperation
aus, er predigte die Versöhnung der Industrie mit der Landwirt-
schaft und schlug zur Heilung der Schäden, die die städtische Kon-
zentration verursacht hatte, die Verteilung der Bevölkerung in
Gruppen von durchschnittlich zwölfhundert Personen vor. Diese
sollten quadratische Städte bewohnen — die berühmten Parallelo-
gramme — und sich nach einem System gemeinschaftlicher Pro-
duktion und gemeinschaftlichen Konsums dem Ackerbau oder der
Industrie zuwenden *).
In gleicher Weise verschwinden in F o u r i e rs sozialer Oekonomie
die grofsen Bevölkerungszentren , um den Phalansteren Platz zu
machen, die nur mit einigen Hundert Bewohnern besiedelt sein
sollten.
') Book of the new moral world. II p. 16.
’) Siehe dazu die sehr ausführliche Analyse der einschlägigen Schriften. Owen
bei Quack, „De socialistcn“ tweede deel p. 307 — 325. Amsterdam, van Kämpen 1900.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
7
Schon in der Uebergangszeit des Garantismus waren die Städte
Gegenstand systematischer Mafsregeln. Eine garantistische Stadt
setzt sich aus drei Gürteln zusammen : der erste enthält die City
oder die innere Stadt, der zweite die Faubourgs und die grofsen
Werkstätten, der dritte die Avenuen und die Bannmeile. Diese
drei Gürtel sind durch Pallissaden voneinander getrennt. Rasen
und Anpflanzungen, die die Aussicht nicht behindern dürfen. Jedes
Haus der inneren Stadt mufs anschliefsend als Hof und Garten
einen freien Raum von zum mindesten gleicher Ausdehnung wie
die eigene Baufläche besitzen. Dieser freie Raum soll doppelt so
grofs sein im zweiten Gürtel, den Faubourgs, und dreimal so
grofs im dritten Gürtel, der Bannmeile *).
Das aber sind nur die Vorbereitungen zu einer noch viel
tiefer einschneidenden Reform der Arbeits- und Wohnverhältnisse.
In der Harmonie „hat das Haus, das eine Phalange bewohnt,
keinerlei Aehnlichkeit mit unseren städtischen oder ländlichen Bau-
lichkeiten; wenn man eine grofse Harmonie von 1600 Personen
gründen will, kann man keines unserer Gebäude dazu gebrauchen,
weder ein grofses Schlofe wie das von Versailles, noch ein grofses
Kloster wie den Escorial *).“ Und unter den Bewohnern des I’halan-
steres verteilt der Kreislauf der Arbeit, in kurze Abschnitte geteilt,
die einzelnen Verrichtungen so, dafs allmählich und abwechselnd
alle an den Arbeiten des Haushalts, der Landwirtschaft und der
Industrie teil haben.
An Stelle der jetzigen Felder und Fabriken, die dem gerecht
Denkenden nur ein Schauspiel der Betrübnis bieten, wird der Philo-
soph, wenn er einen Kanton der Harmonie durchreist, „von seinem
Gefährte herab das entzückende Schauspiel betrachten, das ihm die
wahren Freunde des Gemüsebaues und der Rübenkultur bieten wer-
den, die Erben von Phokions und Dentatus' Tugenden, die mit Stolz
ihre Fahnen wehen lassen, ihre Zelte errichten und ihre Scharen
ausbreiten werden auf den Höhen und in den Thälern. Diese aber
sind weithin überstreut mit glanzvollen Gebäuden, in deren Mitte
sich das Phalanstere erheben wird, die allgemeine Behausung, die
majestätisch den Kanton beherscht *).
') L'barmonic universelle et le phalanstere, exposes par Fourier, Tome 1 cr
p. 179. Paris, Librairie phalanstcrienne 1849.
*) Ibid. p. 254.
*) Ibid. p. 284.
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72
Emil Vandervelde,
In diesem verführerischen Gemälde, wie in all den anderen, die
das Werk Fouriers schmücken, finden wir nur ländliche Gesichts-
punkte vertreten. Die Industrie spielt im System des Phalansteres
nur eine nebensächliche Rolle.
Der Haushalt, der Gartenbau, die Baumzucht verbrauchen der
Thätigkeiten gröfsten Teil. Wie es immer geht: die Utopie leidet
unter den Nach wehen der sozialen Verhältnisse, aus denen sie ge-
boren ist. Als Zeitgenosse der wirtschaftlichen Umwälzung, die
sich in England vollzog, aber in einem Lande lebend, wo die
Grofsindustrie noch nicht zur Herrschaft gelangt war, hatte der be-
rühmte Verfasser des „Traite de l’association domestique agricole"
(1822) scheinbar noch nicht die Gesamtentwicklung vorausgesehen,
welche die industrielle Industrie bald unter dem Einflüsse der Er-
findungen auf dem Gebiete der Mechanik, Physik und Chemie vor
allem aber durch die Vervollkommnung der Verkehrsmittel nehmen
sollte.
Erst später, als die ersten Eisenbahnen auf dem Kontinent ent-
standen waren, begann der französische Sozialismus das Problem
des Verhältnisses zwischen Industrie und Agrikultur, Stadt und Land
unter den gleichen Bedingungen ins Auge zu fassen, unter denen
er sich uns heutzutage darstellt.
Im Jahre 1838, damals also, da die französische Regierung in
den Kammern eine riesige Eisenbahnvorlage einbrachte, (nach deren
Plan Paris mit der belgischen Grenze, dem Rhein und den grofsen
Häfen von Havre, Bordeaux und Marseille verbunden werden sollte)
stellte die Academie des Sciences morales et politiques folgende
Preisfrage :
Welchen Einflufs können die motorischen Kräfte und Verkehrs-
mittel, die sich gegenwärtig über beide Erdhälften verbreiten, auf
den materiellen Wohlstand, das bürgerliche Leben, die sozialen Zu-
stände und die nationalen Machtverhältnisse gewinnen?
Der preisgekrönte Aufsatz war das Werk eines Sozialisten
C. Pequeur und wurde im Jahre 1 839 in Paris veröffentlicht.
Es führte den Titel : „Des intercts du commerce, de l’industrie et
de l’agriculture et de la civilisation, en general, dans l'influence des
applications de la vapeur.“
Von den vielen interessanten Kapiteln dieses Buches, das
nach mehr als einer Richtung hin erwähnenswert ist, verdienen jene
hervorgehoben zu werden, in denen sich der Autor beschäftigt : mit
der Zukunft der landwirtschaftlichen und der der gewerblichen Er-
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Die Rückkehr nach dem Lande.
73
werbsthätigkeit ; mit der gleichzeitigen Ausübung beider; mit der
künftigen Verteilung der Bevölkerung, mit dem Bebauungsplan
und der baulichen Hinrichtung von Städten und Dörfern.
Genau so wie Rousseau, Robert Owen und Fourier
beklagt Pequeur die Trennung von Landwirtschaft und Industrie,
die Verödung der Felder, die Ansammlung der handarbeitenden Be-
völkerung in den grofsen Städten. Aber im Gegensatz zu seinen
Vorläufern, erwartet er eine rückläufige Entwicklung nicht von der
Einkehr zu vernünftigeren Anschauungen, nicht von einer klareren
Erkenntnis dessen, was den sozialen Interessen entspricht, sondern
als Folge jener rein materiellen Wirkungen, welche von Eisenbahn
und Dampfschiffahrt ausgeübt werden.
„In vielen Beziehungen“ — so schreibt er u. a. — „findet sich
die Grundlage der Zivilisation sonst nirgends noch als in den
Städten. In den Städten herrscht Höflichkeit und guter Ton,
herrscht Leben und Bewegung, Wohlstand und Luxus. Hier ist
licht und Pracht und Glanz der Künste, hier giebt es breite Wege,
grofsartige öffentliche Gebäude, Wohnhäuser, elegant, bequem und
gesund, und gepflasterte Strafsen 1 Auf dem Lande aber herrschen
Elend oder mittlerer Wohlstand ; Unwissenheit und grobe Freuden
roher Sinnlichkeit; die Hütten sind strohgedeckt, modrig, finster,
häfslich und stinkend, und die Wege sind in einem Zustande bar-
barischer Verwahrlosung. In den Städten finden sich grofse Werk-
stätten, die Geschäftigkeit des Handels in allen Formen. Auf dem
I-ande die Landwirtschaft allein, vereinzelt, wie in der Verbannung,
der Schlaf der Geister, die Unterdrückung der Fähigkeiten — die
Trägheit!“
Die neuen Verkehrswege werden den so natürlichen und frucht-
baren Bund der verschiedenen Berufszweige wieder herstellen. Das
Land wird ein wenig zur Stadt und die’ Stadt zum Lande werden.
Eisenbahn, Kanäle und Dampfschiffahrt, die durch ihre aufser-
ordentliche Schnelligkeit die natürlichen Entfernungen des Raumes
zwischen Stadt und Dorf verringern, werden unfehlbar auch die
Gegensätze verringern, die beide voneinander trennen *).
Dadurch aber, dafs die Transportwege das flache Land durch-
ziehen werden, wird sich eine ungeheure und gerechte Verteilung
der Erwerbszweige über das ganze Gebiet des Staates und in wei-
ter F'olge über die ganze Erde hin anbahnen. Die Industrieen,
*) Les intercts du Commerce I p. 121. Paris 1839.
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74
Emil V ander vclde,
denen Eisen und Steinkohle, Eisenbahnen und Kanäle zur Verfü-
gung stehen, werden sich auf dem Lande niederlassen und sich
gegenseitig ihre Hilfskräfte leihen. Nach allen Seiten werden sich
die Unternehmungen über das I .andgebiet verstreuen, entsprechend
den Bedürfnissen jedes Industriezweigs; und auf diese Weise wird
sich eine glückliche Verteilung der Bevölkerung von selbst voll-
ziehen.
Gewiss werden die Städte nicht verschwinden; sie werden
sogar noch weiter hin an Ausdehnung zunehmen. Die Zivili-
sation scheint ein Bedürfnis nach solchen mächtigen Zentren
zu haben, in deren Gedränge und deren Freiheit die Ideen und Ge-
fühle ausgähren, in denen sich Geist, Macht und Wissen jeder Art
ihr Stelldichein geben, gleichsam um hier durch ihre Zahl zur
moralischen Autorität zu werden und sich gegenseitig in dem Ab-
glanz des Lichtes, das jeder ausstrahlt, neuen Glanz zu holen, von
welchen schliefslich, in fruchtbaren Wellen, Vorahnung, Vorberei-
tung und Anstofs jener gemeinsamen Bewegung ausstrahlen, die
die Massen auf die Ziele der Zukunft weisen und ihnen die Kraft
verleihen, sie zu erreichen.
Aber die Wohlthaten dieser städtischen Zivilisation werden
sich — dank der wachsenden Vervollkommung der Transport-
mittel — reichlich über das verstadtlichte Land verbreiten, so dafs
das Dorf der Zukunft eine regelmäfsige Zusammensetzung von
grofsen Landgütern, schmucken Fabriken, bequemen Stadthäusern
sein wird. Umgekehrt werden die Städte aus lauter Villen bestehen
anstatt wie bisher Orte zu sein voll von Stickluft, Kloaken, Traufen
und Winkelwerk, ohne ein grünes Fleckchen, ohne jede Spur, die
an die Wiege des Menschengeschlechts erinnerte: an die Erde mit
ihren 'Wäldern und des Himmels klaren frischen Hauch . . . *)
Dies ist in Kürze und 'in des Autors eigener ein wenig dekla-
matorischen Art die Vorstellung, die sich Pequeur von der Stadt
und dem Lande der Zukunft machte. Dieses sollte alle Vorteile
unserer Grofsstädte geniefsen, wie jene alle Annehmlichkeiten des
Dorfes, ohne dafs eine der anderen Mängel mitzutragen hätte.
Was Pequeur im Jahre 1858 prophezeite, verkündete auch noch
dreifsig Jahre später Proudhon in den „Rcformes ä operer dans
l’exploitation des chemins de fer" (1868), einem Buche, das tiefe
echte Wahrheit mit fast unbegreiflichen Irrtümern verbindet.
*) Les inter£ts du Commerce. Siehe besonders p. 122 u. 172.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
75
Nachdem er beispielsweise die seltsame Ansicht vertreten hat,
dass der Reiseverkehr voraussichtlich nach einer kurzen Periode das
Anschwellen wieder zurückgehen und auf jenen Punkt sinken würde,
den er sein „normales Minimum“ nennt, findet man bei ihm wieder
ein sehr bemerkenswertes Kapitel über die Verschiebung des poli-
tischen Schwerpunkts durch die Eisenbahnen.
Durch die Schnelligkeit des Verkehrs hat nach dem Verfasser
die Anhäufung der Bevölkerung in den Städten ihre Daseinberech-
tigung verloren:
„Seit der Privatmann ohne Unzuträglichkeit jeden Tag in Paris
seine Geschäfte erledigen und dabei etwa in Versailles, in St. Denis,
St. Germain, Sccaux oder Pontoise wohnen kann, fünfzehn, zwanzig,
ja fünfundzwanzig Kilometer vor dem Schlagbaum, giebt es für ihn
keinen Grund mehr, den Aufenthalt in der Stadt dem auf dem
Lande vorzuziehen. Ebenso hat auch der Arbeiter, seit ihm die
Bequemlichkeit des Verkehrs und das Interesse der Unternehmer
gestatten, Wolle, Leinen, Seide wie Metall in seinem eigenen Hei-
matsdorfe zu verarbeiten und so den Lohn der Industrie mit den
kleinen Erträgnissen der eigenen Landwirtschaft zu vereinigen, mehr
Interesse daran, sein väterliches Heim zu erhalten als nach jenen
Städten abzuwandern, die wir schönrednerisch die Zentren der
Bevölkerung nennen und die doch nichts anderes sind als Abgründe,
die sie verschlingen ').
So darf man denn erwarten, dafs sich unter der Herrschaft des
Grundsatzes: „Schnell und sicher“, dessen thatkräftige Vertreter
die Eisenbahnen sind, die Bevölkerung über das ganze Land ver-
streuen, und infolgedessen die politische Bedeutung der Städte
zu Gunsten der der Landbevölkerung abflauen werde.
„Wenn nur die Preise herabgehen, wenn sich der Verkehr
regelt, die Umgestaltung der Gesellschaft sich vollzieht, wenn
Paris sich entvölkert, dann sollt ihr sehen, wie wesentlich falsch
die Rechnung jener gewesen ist, die im Jahre 1842 das grofse
Eisenbahnnetz zu legen beschlossen haben, wie gering die Bedeu-
tung der französischen Hauptstadt für die Entwicklung der vater-
ländischen Geschichte werden wird.“
Diese Voraussicht war gewiss sehr verständig, und dennoch ist
*) Proudhon, Reformcs ä operer dans l'exploitation des fhemins de fer.
Oeuvres completcs t. XII. p. 295. Paris, Librairic internationale 1868.
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76
Emil Vandcrvelde,
sie von den Thatsachen — so scheint es wenigstens auf den ersten
Blick — mit denkbarster Deutlichkeit widerlegt worden.
Gerade um die Zeit, da Proudhon sein Buch veröffentlichte,
geschah es , dafs sich die Eisenbahnen neue und zurückgebliebene
Gebiete erschlossen, dafs sich der überseeische Verkehr mächtig
entwickelte, dafs der Wettbewerb russischen, indischen und
amerikanischen Getreides die landwirtschaftliche Krise herbeiführte
und die Landbevölkerung durch das Sinken der Preise und der
Löhne sich mehr denn je gezwungen sah, nach den Städten zu
wandern und die industrielle Reservearmee zu vermehren.
So scheinen am Ende des XIX. Jahrhunderts in dieser Periode
wachsenden Städtewesens und steigenden Zentralisation, Sozialisten
und Sozialreformer wie Tolstoi, Ruskin und W i 1 1 i a m M o r r i s '),
die unaufhörlich die Rückkehr nach dem I.ande predigen, nichts als
Utopisten zu sein, die sich über die Wirklichkeitswelt keine Rechen-
schaft geben und den Flufs der gesellschaftlichen Entwicklung strom-
auf zu schwimmen suchen.
Aber andererseits wieder beschäftigt sich alle Welt mit dem un-
heilvollen Ausgang, den diese Entwicklung nehmen mufs, und seit
einigen Jahren besonders wiederholt sich die besorgte Frage, wel-
che Folgen für die Gesellschaft des XX. Jahrhunderts entstehen
würden , wenn die Vermehrung der städtischen Bevölkerung in
demselben Grade fortschritte, wie es ihm neunzehnten geschah.
„Wenn das ganze Gebiet des Königreiches“, so sagte M. Bal-
four am 8. Februar 1895 im Hause der Gemeinen, „zu Oedland
verwandelt wäre, so dafs es nur mehr zum Jagdterrain dienen
könnte — und diese Hypothese hat sich in bestimmten Gegenden
deren Beispiel die übrigen Landesteile hoffentlich nicht folgen
werden, bereits verwirklicht — wenn die Umwälzung von Acker-
bau und Industrie die landwirtschaftlichen Gegenden verschwinden
liefse, dann müsste ich mich fragen, ob eine Gesellschaft, die, ein-
gepresst in den Mauern ungeheurer Städte und nur mit Industrie-
arbeit beschäftigt dahinlebt, noch gesund und glücklich genannt
werden dürfte. Ich für meinen Teil kann mir einen solchen Zustand
nicht denken, ohne dafs mich Sorge und Angst erfafsten."
*) Tolstoi, Was thun?
Ruskin, General Statements explaining the naturc and purposes of St. Georges
Guild H. Allen 1882.
Morris, News frorn Nowherc or an epoche of rest Londrcs 1891.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
77
Ein solcher Ausblick in die Zukunft, der sich einem in Eng-
land — einem Lande, wo zwei Drittel der Gesamtbevölkerung in
Städten mit mehr als 10000 Einwohnern leben — allerdings auf-
drängt, hat wahrhaftig wenig Erfreuliches an sich. Wenn wir aber
auch bemerken, dafs sich überall, selbst in Ländern mit fast statio-
närer Bevölkerung wie Frankreich oder gar zurückgehender wie
Irland, die Städte auf Kosten des lindes vergröfsern, so läfst doch
andererseits ein aufmerksames Studium der inneren Wanderungen
Anzeichen dafür erkennen , dals sich das Wachstum der grofs-
städtischen Ansiedlungen verlangsamt. Ja, in gewissen Gegenden
_ macht sich, wie längst bemerkt worden ist, sogar eine rückläufige
Bewegung nach dem Lande bemerkbar. Es ist eine allbekannte
Thatsache, dafs sich in den meisten grofsen Städten seit langem
schon die Bevölkerung ihrer inneren Bezirke vermindert.
Das gilt besonders für die innere Stadt von Wien, für das erste,
zweite, dritte und vierte Arrondissement von Paris (Louvre, Bourse,
Temple, Hotel de Ville) für die Wards I bis 6 und 8 bis 14 von
New York, die die Handels- und Bankzentrale der Stadt sind für
die beiden Bezirke Kölln und Friedrichstadt, die das Herz von
Berlin darstellen, und schliefslich — ein geradezu klassisches Bei-
spiel! — für die elf Distrikte, die den ältesten und innersten Teil
von London bilden.1)
Man urteile nach dem folgenden Zahlenbilde, das die Be-
völkerungsbewegung der elf Bezirke im Laufe des neunzehnten
Jahrhunderts darstellt.
Absolute
Prozente d. Gesamt-
Zahlen
bevölkerung Londons
1801
588 264 . .
.... 61,3
1851
I 129599 . .
. . . . 48,0
1861
1 187687 . .
• • • • 4*,3
1871
I 1 55 462 . .
• • • ■ 35.5
1881
I 101 994 . .
.... 28,8
iSgi
1 022951 . .
.... 24.3
Eine relative Abnahme ist aber seit 1801 festzustellen; eine
absolute seit 1861. Diese absolute Abnahme hatte in vier oder
*) Meuriot, La poputation de Berlin et de Vienne, d'apres les denorabre-
ments rcccnts. — Journal de la societe de statistique de Paris 1901 p. 347 u. f.
— Weber, The growth of cities p. 461, 463 u. f. — Lcvasseur, — La popu-
lation frangaisc. Livre II p. 364. Paris, Rousseau 1871.
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7«
Emil Vandervelde,
fünf Distrikten ihren Anfang genommen, besonders am Strand und
City
Strand
1841
124717
. 52209
1851
129128
• 51765
1861
» *3387
. 48 242
1871
75983
• 4' 339
1S81
5‘ 439
. 33682
1891
38320
• 27516
1901
26908
. —
Man kann also deutlich erkennen, dafs in absehbarer Zeit in
London, wie in den anderen Hauptstädten, die inneren Bezirke von
Bureaux, grofsen Verkaufsmagazinen, Theatern und Monumentalge-
bäuden aller Art so erfüllt sein werden, dafs als ihre fast einzigen Be-
wohner die Portiers, die Schliefser und das Aufsichtspersonal öffent-
licher und privater Baulichkeiten Zurückbleiben werden.
Allerdings nimmt, ungeachtet dieser zentrifugalen Bewegung,
das Wachstum der hauptstädtischen Bevölkerungen, als Ganzes ge-
nommen, noch immer zu. Nur zeigt sich dabei — und das ist
der zweite Punkt, auf den die Aufmerksamkeit gelenkt werden
mufs — dafs die Progression dieser Zunahme eine rückläufige Be-
wegung aufweist.
Die Ergebnisse der letzten fünfjährigen Zählperioden in Berlin
und London sind nach dieser Richtung hin durchaus beweiskräftig.
Die Gesamtziffer der Bevölkerungszunahme für Berlin beträgt in
derZeit von 1872—1880 293 000 (Jahresmittel 32 555) ; von 1881 —
1890 beträgt sie 457000 (Jahresmittel 45700); von 1891 — 1900
sinkt sie auf 309 000 (Jahresmittel 30 900). Im letzten Jahrzehnt also
ist die Zunahme am geringsten; und die bezüglichen Zählungen der
beiden Nachbarkreise Teltow und Niederbarnim beweisen, dafs
diese Herabminderung auf den ungeheuren Aufschwung zurück-
zuführen ist, den inzwischen die Umgebung genommen hat.
Wir lassen die Angaben bezüglich Londons folgen. Wir ent-
nehmen sie einem Artikel der Daily News vom 4. Mai 1901, der
die Ergebnisse der letzten Zählung bespricht.
„Nach der Zählung d. J. 1896 hatte das Territorium von Lon-
don, das mit dem ven 1891 gleiche Gröfse hatte, 441 1710 Einwohner.
Im Jahre 1881 hatte es 3815544. Im laufenden Jahre hatte das-
selbe Territorium, das inzwischen durch den Borougths-Act nur
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Die Rückkehr nach dem Lande.
* 79
wenig vergröfsert worden war, eine Bevölkerung von 4536034 Ein-
wohner. Unter Vernachlässigung der geringsfiigigen Gebietsver-
schiebung erhalten wir das folgende Zahlenbild:
1881 3815544
1891 4211743
1896 4411710
1901 4536034
Dieses Bild zeigt eine fortschreitende Verringerung der Pro-
gression in der Bevölkerungszunahme, soweit sie den Boden des
eigentlichen London betrifft. Die Verhältniszahl der Zunahme be-
trug im Zeitraum von 1881 — 1891 10,4 Proz., in dem folgenden
Jahrzehnt übersteigt sie nicht 5,8 Proz. Dazu mufs noch festgestellt
werden, dafs die Vermehrungszahl für 1896 — 1901 geringer war als
die für 1891 — 1896. In der ersten dieser beiden fünfjährigen
Perioden bezifferte sich die Vermehrung auf 200000, in der zweiten
nur auf 124 000 Personen.“
Um aber die wirkliche Bedeutung dieser Zahlen genauer fest-
zustellen, darf man ihre Beziehungen zu der bedeutenden Entwick-
lung der Vororte nicht aufcer Acht lassen.
Wenn sich die Kurve der grofsstädtischen Bevölkerungszunahme
senkt , wenn in vielen Städten — Cannan exemplifiziert auf
Manchester und Liverpool ’) — diese Bevölkerungszunahmc, wie sie
die Statistik ergiebt, hinter der natürlichen Vermehrung, dem Ge-
burtenüberschufs, zurückbleibt, so geschieht das zum grofsen Teile
deshalb, weil viele Städter das städtische Verwaltungsgebiet ver-
lassen, um in der Umgebung eine gesündere oder minder hoch-
gelegene Wohnung zu mieten. Diese Wegzugsbewegung ist natür-
lich um so intensiver, je mehr Bequemlichkeit die Verkehrsmittel
bieten und je besser sie sich auch bescheidenen Einkommensver-
hältnissen anzupassen verstehen.
In I-ändern, in denen die Mittel des Schnellverkehrs noch
wenig entwickelt sind, oder wo der kapitalistische Betrieb der
Eisenbahnen und Strafsenbahnen sich der Verbilligung der Tarife
widersetzt, wo den Arbeitern eine vom Arbeitsorte entfernte Woh-
nung beträchtliche Kosten verursacht oder Strapazen auferlegt, die
um so schwerer empfunden werden, je länger ihre Arbeitszeit ist,
') Cannan, Growth of Manchester and Liverpool. Economic Journal IV
p. 111 bis 1 14
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So
Emil V ander vclde,
in solchen Ländern überschreitet die innere Wanderung kaum die
Vorstädte, die dann eine wachsende Uebervölkerung aufweisen.
In jenen lündern dagegen, wo der Betrieb der Eisenbahnen
und Strafsenbahnen durch die öffentlichen Gewalten ins Werk ge-
setzt wird, oder wo wenigstens eine den konzessionierten Gesell-
schaften auferlegte Tarifreduktion die städtische Dezentralisation
begünstigt, nimmt der Wegzug nach der entfernteren Umgebung
von Jahr zu Jahr an Ausdehnung zu.
Während viele Landbewohner, die in der Stadt Arbeit haben,
dank der Arbeiterzüge ihre Wohnung auf dem umgebenden Lande
behalten ’), nimmt eine grofse Zahl von Beamten, Angestellten,
Kaufleuten und Industriellen auf dem Lande Wohnsitz und behält
dabei seine Beschäftigung in der Stadt.
Andererseits kehren ebenfalls infolge der Verkehrserleichterung
viele Industrieen, die sich in den Städten zentralisiert hatten, jetzt
nach dem l^ande zurück, wo sie ein zahlreiches Personal teils fest-
halten, teils neu ansiedeln.
Schliefslich nehmen gewisse landwirtschaftliche Berufszweige,
die eine grofse Zahl von Händen beschäftigen und die sich früher
durch die Beschränktheit des Marktes und die unzureichende Aus-
bildung der Verkehrsmittel beengt fühlten, eine immer gröfserc
Ausdehnung an.
Kurzum: die Entwicklung der Verkehrs- und Transportmittel
hat sich vorerst als eine Hauptursache, wenn nicht schlechthin als
die Grundursache der Landverödung bewiesen. Sie hat die Industrie
von der Landwirtschaft gerissen, sie hat die Agrarkrise ins Rollen
gebracht und die Abwanderung vom Lande erleichtert. Nun aber
beginnt sic — wie P e q u e u r und Proudhon prophezeit hatten —
die umgekehrten Wirkungen hervorzubringen. Sie begünstigt die
Industrialisierung der Landwirtschaft, die Gründung industrieller
Etablissements auf ländlichem Gebiet, sie fördert den zeitweiligen
oder dauernden Wegzug der Städter nach dem flachen Lande.
l) In Belgien, wo dank des staatlichen Eisenbahnbetriebs, der Verkehr auch
für Arbeiter ganz außerordentlich ermäßigt ist, betrug die Zahl der im Jahre 1901
ausgegebenen Wochenkarten 4412723; daraus ergiebt sich, dass mehr als hundert-
tausend Arbeiter auf dem Lande wohnen und täglich die Eisenbahnen benutzen, um
nach der Stadt zu fahren.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
81
x. Die Industrialisierung der Landwirtschaft.
Die Agrarkrise hat nicht blofs die Wirkung gehabt, die land-
wirtschaftlich bebaute Fläche zu verringern, in vielen Gegenden die
Aecker durch Aufforstungen und Weideland zu ersetzen, die Ein-
führung des Maschinenwesens in den landwirtschaftlichen Betrieb
zu fordern und in weiterer Folge das Arbeitsangebot für landwirt-
schaftliche Beschäftigungen herabzudrücken.
Es giebt im Gegensatz dazu auch gewisse Gegenden, wo sich,
wie im Süden seit dem Auftreten der Reblaus oder in Westeuropa
seit dem Preissturz des Getreides, gewisse Kulturzweige entfalten
die wieder einen ebenso bedeutenden Aufwand von Arbeit, ja so-
*
gar einen noch gröfseren erfordern , und die infolgedessen eine
zahlreiche Bevölkerung festhalten.
So stellt Graham in seinem Buche über die Landflucht in
England fest, dafs sich diese nirgends bemerkbar macht, wo der
intensive Anbau von Gemüsen oder Obstbau getrieben wird oder
wo Milchwirtschaften für den städtischen Absatz errichtet wurden. ’)
Die Zunahme der Bevölkerung und der Kaufkraft in den
Städten, die die wichtigsten Konsumentinnen dieser Erzeugnisse
sind, macht eine weitere Ausdehnung der Milchproduktion, des
Gemüse- und Obstbaues zur Notwendigkeit. Vor allem gestattet
in den Ländern mit staatlichem Eisenbahnbetrieb, die der Land-
wirtschaft günstige Frachttarife gewähren, die wachsende Bequem-
lichkeit des Transportes eine viel weitere Entfernung solcher Pro-
duktionsstätten von der Zentrale des Verbrauches als je zuvor.
So zum Beispiel waren es bis vor ein paar Jahren nur die
Landleute aus der unmittelbaren Umgebung von Brüssel, die in
ihren grünen mit Hunden bespannten Wägelchen der Stadt die
Milch zufuhrten ; der Tagesverbrauch überschritt kaum hundert-
tausend Liter. s) Heutzutage schaffen die Eisenbahnen mit ihren
Vicinalstrecken die gleiche Masse aus enfernteren Gegenden herbei,
wo man Molkereien mit Zentrifugenbetrieb errichtet hat, die die
abgerahmte Milch an den Markt liefern. Wohl kommen noch die
Milchweiber in kleinen Scharen mit ihren Blechkrügen nach der
Stadt, aber die Wagen der grofsen Molkereien machen ihnen scharfe
*) Graham, The rural exodus. London. Mcthuen 1892.
*) Rolin, La vente des produits laitiers a Hnterieur et a l'extericur. CongTi*s
National d’agriculturc l«r fasciculc p. 121 u. f. Namur 1901.
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 6
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82
Emil Vandervelde,
Konkurrenz, und mehr und mehr sieht man im Transport und
im Verkauf sich jenes Verfahren entwickeln, das schon in Paris und
in anderen Grofsstädten vorherrscht. Es ist bekannt, dafs die
gröfste Menge der Milch, die Paris verbraucht, direkt von den Milch-
wirtschaften der drei aneinanderstofsenden Departements von Oise,
Seine et Marne, und Seine et Oise bezogen wird.
„In gewissen Gegenden nahe den Bahnhöfen,“ so berichtet
Vimeux, „haben die Geschäftsleute ihre Depots errichtet. Zwei-
mal des Tages im Sommer, einmal im Winter bringen die Milch-
jungen auf schweren Wagen die Milch der einzelnen landwirtschaft-
lichen Betriebe dahin, die sie in einem Umkreis von 15 — 20 Kilo-
meter aufgesammelt haben. Diese Milch wird in Kannen, 20 Liter
lassend, eingefüllt, abgekocht und am Abend nach Paris geschafft,
wo sie des Nachts ankommt, um des Morgens darauf von Krämern
und Molkereigeschäften weiter vertrieben zu werden." ')
Allerdings ist die Lage der Milchwirtschaft treibenden Land-
bevölkerung nichts weniger als zufriedenstellend. Der Verfasser der
angezogenen Monographie stellt fest, dafs sich der Milchzüchter
mit einer lächerlich geringen Bezahlung zufrieden geben mufs: IO
bis 12 Centimes für den Liter, während der Detailpreis 60 — 75
Centimes beträgt. Ueberdies müssen sie sich dem Diktate der
Milchhändler willenlos fügen, denn unter diesen besteht kaum irgend
welche Konkurrenz. Wenn zufällig zwei Händler nach demselben
Orte kommen, so halten sie zusammen und keiner nimmt einen
Lieferanten an, den der andere abgewiesen hat. Oft sogar wird
dem Züchter aufgetragen, seinen Stall mit Vieh von bestimmten
Rassen zu versehen : Er soll vor allem zwei normannische Kühe
besitzen, deren Milch sehr fetthaltig ist, und nicht nur vlämische
und holländische, deren reichere Quantität ihm doch einen etwas
höheren Gewinn bringen könnte.
Trotz derlei Unzukömmlichkeiten bleibt es darum doch nicht
weniger wahr, dafs diese Verkaufsorganisation der Molkerei-
produkte, so mangelhaft sie auch sein möge, einer Anzahl kleiner
Züchter in der Aufzucht von Milchkühen eine Existenzquelle ver-
schafft hat, die sie entbehren müfsten, wenn sie keine anderen Ab-
nehmer hätten als den lokalen Markt, und wenn nicht die „Milch-
*) Vimeux, I.a ventc du lait dans le departement de l'Oise. Journal
d’agriculture pratique, io. Mai 1900.
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Die Rückkehr nach dem Lande. 83
züge“ sie in Verbindung setzten mit Verbrauchern, die weit entfernt
von dem Produktionsorte leben.
Es ist klar, dafs in diesem Falle der Fortschritt des Transport-
wesens ein mehr oder minder wirksamer Hemmschuh der Land-
flucht wird.
Aehnliche Beobachtungen drängen sich beim Gemüsebau auf,
der auf engen Gebieten eine grofsc Zahl von Arbeitskräften er-
fordert; bei Paris zum Beispiel arbeiten fünftausend Gemüsebauer
auf nur neunhundert Hektar Landes; diese Ziffer giebt wenigstens
Kropotkin in jenen interessanten Kapiteln, mit denen er seine
Untersuchung über die Brotfrage zum Abschluß bringt.
So hat jede Ausbreitung dieser Betriebszweige eine steigende
Dichtigkeit der Landbevölkerung zur notwendigen Folge.
Bis in die letzten Jahre aber war die Zone des Gemüsebaues
durch das mangelhafte Transportwesen streng auf die nächste Um-
gebung der Stadt beschränkt.
Als eine ganz aufserordentliche Ausnahme pflegte man die
Gemüsegärten von Roscoff in der Bretagne anzuführen, die für den
Pariser Markt die Erstlinge zogen. In seinem Werke über die
landwirtschaftliche Bevölkerung Frankreichs erzählt Bau drillart
interessante Einzelheiten über diese kleinen Landleute, die lange
Zeit hindurch als die einzigen unter den brctonischen Bauern sich
der Bekanntschaft mit der Grofsstadt rühmen durften. Die Unter-
nehmungslustigsten von ihnen drangen mit ihrer zweirädrigen Karre
bis zur Hauptstadt vor und legten mit diesem Fuhrwerk die hundert-
fünfzig Meilen zwischen Roscoff und Paris in kleinen Tagereisen
zurück. Es war, wie es heifst, etwa im Jahre 1850, da zum ersten
Mal ein Bauer von Roscoff diese Gewalttour unternahm. Der
Roscovite kam auf demselben Wege wieder, nicht ohne in Paris
verlängerten Aufenthalt zu nehmen. Die kleine Kolonie setzte sich
in der Nähe der Halle fest, wo sie bald kaum weniger bekannt war
als ihr Gemüse. Der Aufenthalt in der Hauptstadt erwies sich als
nutzbringend. Der mächtige Antrieb, den das städtische Leben
auch minder entwickelten Fähigkeiten giebt, hat in dieser Bevölkerung
Unternehmungsgeist und kaufmännisches Geschick gefördert. —
Nicht immer ist der städtische Einflufs auf Sitten und Gewohnheiten
so wohlthätig gewesen!
Auch die Wirtschaften von Roscoff haben sich willig den Ver-
änderungen der Handelsvcrhältnissc angepafst, die es ermöglichen,
mit Hilfe der Bahn den Verkauf der Produkte dem Zwischenhandel
6*
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84
Emil Vanderveldet
zu überlassen. Das Land fahrt fort, an der regelmäfsigen Entwick-
lung des Güterverkehrs Anteil zu nehmen, und findet seinen Vorteil
dabei; in reichem Ueberflufs verbreitet sich der Gemüsebau indem
meerbespülten Lande, dem „goldenen Gürtel" der Bretagne. Dank
dem milden Klima, dem Geschenk des Golfstroms, sind die Ge-
müsegärtner von Leonnais um mehr als einen Monat denen des
inneren und nördlichen Frankreich voraus und versorgen mit ihren
Frühgemüsen die Märkte von Paris, London und Rotterdam. ')
Nur ist durch die Verallgemeinerung des Verkehrs und die
Verbilligung der Frachten Regel geworden, was zuvor Ausnahme
gewesen ist.
In allen Gegenden Frankreichs, und besonders in denen mit
intensivem landwirtschaftlichen Betrieb, findet man heute Gemüse-
gärten, deren Erzeugnisse fern von den Betriebsstätten ihren Ab-
satz finden.
„Der Stadtbewohner," so liest man im Journal d'agriculture
prati(]ue, „ifst weniger Brot als der Landbewohner, er ifst aber da-
für mehr Fleisch und feines frisches Gemüse. Um diesem steigen-
den Bedarf zu genügen, haben sich naturgemäfs in der Nähe der
Städte oder auch, dank der schnellen und bequemen Transport-
gelegenheit, überall wo die Verhältnisse des Bodens und des Klimas
einer solchen Entwicklung günstig sind, Grofsbetriebe für den
Gemüsebau gebildet, die ihre Erzeugnisse nach den wichtigsten
Märkten exportieren. Im Süden mit seinen milden Wintertempera-
turen ist der Gemüsebau auch zu Jahreszeiten möglich, in denen
die Produktion des Nordens nicht einmal noch den Bedarf der
nächsten Märkte decken kann. So entstand dort die Kultur der
Frühgemüse. Der verhältnisxnäfsig hohe Preis, den diese Früh-
gemüse erzielen, deckt auch die Kosten, die ihr Transport verur-
sacht. Aber die Frühgemüse Südfrankreichs haben wieder den
algerischen Wettbewerb auszuhalten, der durch das noch wärmere
Klima seines Landes die Märkte von Paris, Marseille und Lyon um
ein paar Wochen früher beschicken kann.“ *)
*) Baudrillart, Lcs populations agricoles de ia France. I«r Partie. Nor-
mandie et Bretagne p. 508.
Lentheric Cotcs et ports frangais de la Manche. Revue de deux Mondes
15. Juillct 1901 p. 412.
*) Hitter, La culture et l’exploitation des primeurs en Algerie. — Journal
d’agriculture pratique, 26. Septembre 1901 p. 324.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
85
Man bemerkt also, dafs der Einflufs des Städtewesens auf die
Dichtigkeit der Landbevölkerung in verschiedenen Gegenden ver-
schiedene, ja geradezu entgegengesetzte Wirkungen hervorbringt.
Einerseits — und das ist heutzutage die weitest verbreitete
Ansicht — verringern die Städte durch ihre Anziehungskraft und
die Krisen, die sie hervorrufen, die Masse der arbeitenden Land-
bevölkerung; andererseits befördern sie wieder im geraden Gegen-
sätze dazu die Entstehung oder die Vergröfserung von landwirt-
schaftlichen Betrieben, die einen grotsen Arbeiteraufwand erfordern.
Das letztere gilt nicht blofs für die Kultur von Küchengewächsen,
sondern auch für einzelne Zweige des Obstbaues, die im Freien,
auf Beeten oder in Treibhäusern betrieben werden.
Die wachsende Entwicklung des Eisenbahnnetzes und der Schiff-
fahrt macht es diesen Betrieben möglich, ihr Absatzgebiet in immer
gröfsere Fernen zu erweitern.
Die Erdbeerzüchter von Brest z. B. und vom Comtat, das heifst
aus der ganzen Umgebung von Carpentras, exportieren alljährlich
mehrere tausend Zentner ihrer Erzeugnisse nach England.
Die Rhonegegend um Vienne in einem Umkreis von zwei-
hundert Kilometern hat sich seit der Vernichtung der Weinberge
durch die Reblaus in einen wahren Garten verwandelt, der bei
starkem Verbrauch menschlicher Arbeitskräfte ungeheure Massen
von Obst und Gemüse hervorbringt. Alle Strafsen sind mit Apri-
kosen- und Kirschbaumalleen bepflanzt. In den Zwischenräumen
zieht man für den städtischen Markt Bohnen, Erdbeeren und Früh-
gemüse. Im Frühling füllt das Flufsthal der köstliche Duft der
Aprikosenblüte; Kirschen, Pfirsiche, Trauben lösen einander in der
Reihe ab und rollen mit Bohnen, Salat, Kohl und Lauch auf kleinen
Wagen nach den Industriestätten der Gegend. ')
Es ist allgemein bekannt, dafs sich dieselbe Vereinigung von
Gemüsebau und Obstbau auf den Inseln des Kanals findet. Ob-
wohl diese Inseln aufserordentlich dicht bevölkert sind, denkt dort
kein Mensch daran, nach der Stadt auszuwandern. Sie liefern
enorme Mengen von Frühgemüse nach London, Liverpool, South-
ampton, Newcastle und Glasgow. *)
Die kleine Insel Jersey — sie ist acht Meilen lang und sechs
- *) Kropotkine. Fields, factories and workshops. p. 109 u 88. London,
Swan Sonnenschein 1901.
*) Ibid. p. 109 u. 88.
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86
Emil Vandcrvclde,
Meilen breit — ist noch ein Land mit offenem Gartenbau. Ihre
Fläche ist nicht gröfser als 28707 Acre (1 Acre = 40 Ar) die
Felsen mit einbegriffen. Trotzdem ernährt sie auf einem Acre un-
gefähr zwei Einwohner, das sind 1300 Einwohner auf die Quadrat-
meile. Jeder Fachkundige, der von einem Besuche dieser kleinen
Insel zurückkehrt, ist voll des Lobes über den Wohlstand der Be-
völkerung und die bewundernswerten Resultate, die diese kleinen
Wirtschaften von 5 — 20 Acres, ja sogar noch kleinere, durch ihre
intensive und rationelle Betriebsweise erzielt haben.
Auch sei daran erinnert, dafs in gewissen Gegenden von Eng-
land die Treibhauskultur von Tomaten, Erdbeeren und Weintrauben
ein stattliches Arbeiterheer beschäftigt. Am bedeutendsten ist die
Kultur von Weintrauben, die für die Tafeln von Brüssel, London,
Berlin und Petersburg bestimmt sind. Auch diese Betriebe bilden
einen starken Damm, der den Abflufs der ländlichen Bevölkerung
aufhält.
In Hoeylaert ist fast die ganze arbeitende Bevölkerung in den
Treibhäusern beschäftigt. Während die Nachbardörfer, in denen
die Traubenkultur noch nicht so weit entwickelt ist, der Stadt
Brüssel ein starkes Kontingent von Bauarbeitern liefern, sind es hier
höchstens die Frauen, die nach der Stadt gehen, um Eier und
Butter zu verkaufen oder am Markte von St. Gery eine Fleischbank
zu errichten.
Resümieren wir: Die Vervollkommnung des Frachtverkehrs
fördert die Ausbreitung intensiver Betriebsweisen. Sie schafft Zen*
tralproduktionsstätten J) des Gemüsebaues, der Obstkultur, der
Molkereiproduktion, die alle auf einem engen Gebiete grofse Arbeiter-
mengen beschäftigen.
Gewifs hat die Ausdehnung dieser Kulturzweige — von be-
sonderen Ausnahmefällen, wie denen der englischen Vegetarier-
kolonieen abgesehen — keinen Rückflufs der Stadtbevölkerung nach
dem Lande bewirkt. Sie nehmen auch bis jetzt nur einen sehr
geringen Teil der landwirtschaftlich benutzten Fläche ein. Ihr
Einflufs reicht lange nicht hin, die Verminderung der Arbeitsge-
legenheit, die durch den maschinellen Betrieb und die Verwandlung
der Felder zur Weide hervorgerufen worden ist, wieder wett zu
*) Im Original des Verfassers beifst cs „fabrique“. Das Wort ist nicht gleich«
bedeutend mit unserer „Fabrik“, und läfst sich nur annähernd durch den gewählten
etwas schwerfälligen Ausdruck wiedergeben. D. Ucbcrs.
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«7
Die Rückkehr nach dem Lande.
machen. Auch beginnt sich auf diesen Spezialgebieten der Land-
wirtschaft infolge der Verbesserung der Konservierungsmethoden
die überseeische Konkurrenz fühlbar zu machen. Es wäre darum
nur ein schöner Wahn, wollte man annehmen, dafs sich ungeheure
Flächen, auf denen jetzt Brotfrucht gebaut wird, zu Gemüsegärten
und Obstkulturen verwandeln würden.
Deshalb aber bleibt es doch nicht weniger wahr, dafs die Be-
triebe solcher Art überall, wo sie eine gröfsere Ausdehnung ge-
wonnen haben, eine Verminderung der Abwanderung nach den
Städten bewirkten, und überdies: dafs die Durchschnitte des Ge-
müsebaues, der Obstzucht und des Anbaues von Industriepflanzen,
besonders der von Zuckerrüben, die Gründung industrieller Eta-
blissements mitten auf dem Lande zur notwendigen Folge haben.
„In manchen Gegenden", sagte A. Melot in einem Bericht an
die belgische Landwirtschaftsversammlung vom Jahre 1901, „sind
die schädlichen Folgen der verminderten landwirtschaftlichen Arbeits-
gelegenheit durch die Errichtung industrieller Etablissements auf-
gewogen worden, die direkt von der I Landwirtschaft abhängig sind,
also durch die Errichtung von Zuckerfabriken und landwirtschaft-
lichen Brennereien. Diese beschäftigen während des Winters eine
grofse Menge jener Arbeiter, die während des Sommers auf den
Feldern thätig sind. Bei Löwen stellt eine Fabrik Lebensmittel-
konserven her. Sie kauft die Gemüse zwei Meilen in der Runde
zusammen. Die landwirtschaftliche Bevölkerung findet hier Absatz
für die Erzeugnisse ihrer entlegenen Gegend und lohnend Be-
schäftigung während des Winters." ')
Von dem Gesichtspunkte aus, der uns interessiert, ist unter
diesen Winterindustrieen die Rübenzuckerfabrikation zweifellos die
wichtigste.
Nach der ersten belgischen Berufszählung vom 31. Oktober 1896
sind rund 25000 Arbeiter, von denen der gröfste Teil auf dem
Lande wohnt, während der Wintermonate in Zuckerfabriken be-
schäftigt gewesen. Sie konnten so den Wiederbeginn der land-
wirtschaftlichen Arbeiten abwarten, ohne, wie früher, zu fast voll-
ständigem Feiern verurteilt zu sein.
Es herrscht kein Zweifel darüber, dafs die Folgen der Agrar-
krise, wenigstens soweit sie die Landflucht betreffen, merklich ge-
mindert, schlielslich oft aufgewogen worden sind durch die Ent-
*) Congrcs national beige agricolc de Namur. 3e fasciculc p. 723.
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*
Emil Vcndervelde, .
Wicklung der Zuckerfabrikation, sowie der übrigen Industrieen, die
mit der Landwirtschaft in unmittelbarem Zusammenhänge stehen.
Allerdings bestehen solche Industrieen nur in bestimmten
Gegenden; ihre Entwicklung wird oft aufgehalten durch ein schäd-
liches Steuersystem sowohl wie noch mehr durch die geringe Kauf-
kraft der arbeitenden Klassen.
Soll die Industrialisierung der Landwirtschaft fortschreiten, soll
die intensive Produktion von Zucker, Butter, Milch, Fleisch, Obst
und Gemüse grofse Arbeitermassen auf dem Lande zurückhalten
oder gar dahin zurückführen, dann mufs auch eine tiefgreifende
soziale Umbildung die Lebenshaltung der Arbeiterschaft erhöhen,
sie mufs es ihnen möglich machen, ihren Verbrauch jener Erzeug-
nisse nicht nach dem Mafsstabe ihres Einkommens, sondern nach
dem ihrer Bedürfnisse einzurichten.
2. Die Verlegung der Industriebetriebe nach dem Lande.
Die Entfaltung der kapitalistischen Produktion hat die wich-
tigsten Industrieen in den Städten und den Kohlenbecken zusammen-
gedrängt. Sie hat eine Menge ländlicher Gewerbe verschlungen,
die für eine Armee "von Handwerkern und kleinen Bauern Haupt-
oder Nebenlauf gewesen waren.
Ueberall, wo sich nicht etwa ein Ersatz oder eine Umwandlung
dieser Kleingewerbe durch kapitalistische Industrieen vollzogen hatte,
besonders aber in jenen Gegenden, in denen vordem Spinnerei und
Handweberei im Schwünge waren, sah sich die Bevölkerung ge-
nötigt, nach auswärts auf Arbeitsuche zu gehen. Sie wanderte aus,
ging auf Saisonarbeit, oder wanderte täglich nach den Industriezentren
zur Arbeit.
Dafür sind in anderen Gegenden neue Industrieen entstanden,
und seit einigen Jahren zeigt sich bei den Unternehmern die un-
verkennbare Neigung, ihre Betriebe womöglich aufs I^md zu ver-
legen.
Das Ziel, das ihnen vor Augen steht, ist die Verbilligung der
Produktion durch Herabdrückung der Löhne, der Materialpreise
und der Kosten des Grund und Bodens, oder auch in Gebirgs-
ländern mit Wasserkraft, durch den Ersatz der schwarzen Kohle
mit der „hellen".
Die Dampfmaschine hatte mit ihrem Kohlenhungcr die Fabriken
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Die Rückkehr nach dem Lan^dc. ge)
von den Flufsläufen fortgetrieben; die Elektrizität führt sie wieder
dahin zurück.
Diese Revolution der Technik beginnt sich in Deutschland,
Oesterreich und Norditalien, in den Hochthälern der Pyrenäen und
im Osten Frankreichs deutlich bemerkbar zu machen. Ihre Wirkung
in der letztgenannten Gegend beschreibt P. Hanotaux also :
„Im ganzen Bergland der Dauphine, dem ganzen alpinen Ge-
birgsstock, sieht man jetzt ansehnliche Betriebe. Sie stecken in
Winkeln und Winkelchen einer Gegend, die bis vor wenigen Jahren
ein armseliges Dasein fristete. Jetzt vollzieht sich sichtbar eine
grofse Veränderung. Die Dörfer gewinnen an Wohlstand; aus
Hütten werden Häuser; die kleinsten Flecken sind elektrisch be-
leuchtet, Masten mit den stromleitenden Drähten schiefsen aus dem
Boden; elektrische Strafsenwagen sausen die Thäler entlang und
bezwingen jetzt gar auch die Berge.“
Nach einer offiziellen Statistik, die bis zum I. Januar 1899
reicht, sind seit 1890 zu damals 8961 Betrieben und kleinen Eta-
blissements mit durchschnittlich I21/» Pferdekräften 58 neue ge-
treten mit zusammen 250000 Pferdekräften, d. h. mit mehr als
4000 Pferdekräften für jeden Betrieb.
In den letzten drei Jahren mufs sich die *Zahl dieser Betriebe
bedeutend vergrößert haben.
Unter diesen Umständen ist es nicht erstaunlich, dafs man sich
mit de Vorbedingungen beschäftigt, unter welchen zukünftig Eta-
blissements solcher Art würden errichtet werden können.
Diese Frage wird gegenwärtig im französischen Handelsminis-
terium studiert. Schon am I. Juli 1900 brachten Loubet, Baudin
und Dupuy einen Gesetzentwurf ein, der dem Staate das aus-
schliefsliche Recht zuerkennt, für Betriebe mit mehr als 100 Pferde-
kräften die Wasserkraft zu vergeben.
Der Entwurf fand in manchen Kreisen eine sehr abträgliche
Beurteilung und manche Rechtsgelehrte warfen ihm vor, er bedeute
für die Flufsanwohner eine Enteignung ohne Entschädigung. ’)
Wie dem auch immer sei, jedenfalls erblicken wir überall wo
sich die Herrschaft der Wasserkräfte vorbereitet, eine Ortsver-
änderung der Industrie, die sich infolge der Kraftübertragung noch
verallgemeinern wird, und deren viele einschneidende Folgen wir
*) Brun, Projet de main mise de l’Ktat sur les chutcs d’eau. Revue catholique
des institutions et du droit. Fevrier 1902.
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90
Emil Vandcrveldc,
nicht absehen können. Das aber steht auf alle Fälle heute schon
fest, dafs die Ansiedlung oder Gründung grofser Industrieunter-
nehmungen im Gebirgslande, welches bis dahin wegen der dort
herrschenden Armut einen Herd der Auswanderung bildete, einen
grofsen Teil seiner Bewohner der Arbeitssuche in der Fremde ent-
hebt und überdies einen Stamm qualifizierter Arbeiter heranzieht,
der am Orte selbst nicht gewonnen werden kann.
So wichtig nun auch diese durch die Anwendung der natür-
lichen Triebkräfte hervorgerufene Dezentralisation sein mag, und
so wichtig sie noch für die Zukunft werden kann, so kommt ihr
doch vorläufig noch nicht jener Charakter der Allgemeinheit zu,
der eine andere Erscheinung der kapitalistischen Entwicklung zu
eigen ist. Wir meinen die Verlegung der Industriebetriebe nach
dem Lande, die mit Rücksicht auf die geringe aufzuwendende
Grundrente und auf die geringeren Löhne erfolgt.
In den Vereinigten Staaten wie in Europa läfst sich feststellen,
dafs das Fabrikwesen immer mehr nach dem flachen Lande
wandert und dafs infolge dessen trotz des allgemeinen Herab-
sinkens der heimischen Landwirtschaften ein Teil der Ansässigen
nicht nur seine wirtschaftliche Position erhält, sondern sich sogar
eine solche neu erwirbt.
In Belgien hat sich von 1846 — 1896 also in einem Zeitraum
eines halben Jahrhunderts die Zahl der Heimarbeiter beiderlei Ge-
schlechts von 200000 auf 120000 vermindert. Der Grund dieser
Erscheinung liegt nicht in einem allgemeinen Rückgang der Haus-
industrie, sondern in dem LJmstande, dafs mehr als hunderttausend
Spinner und Spinnerinnen Flanderns ') aus ihr verschwunden sind.
Aber während die alten Industrieen, die Leinewebereien, Nagel-
und Messerschmieden, in ihren Beständen herabsanken, oder sich
in städtische Betriebe verwandelten, haben im Gegensätze dazu
andere, wie die Spitzenklöppelei, Handschuh näherei und Zigarren -
fabrikation sich erhalten oder in den Dörfern neu angesiedelt.
Allerdings beschäftigen diese erbärmlich bezahlten Berufe fast
ausschliefslich Frauen und Kinder, aber es giebt auch andere, die
männliche und erwachsene Arbeiter beschäftigen, und reichlich
dazu beitragen, die Landflucht aufzuhalten.
*) Ministerc de l’industrie ct du travail. — Rccenscmcnt general des industries
et des metiers. (31. Oetobrc) Analyse des volumes. 1 et II p. 42. Bruxelles.
Ilayez 1900.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
9*
Dahin gehören die Erzeugung von Schildkrotkämmen im Jura,
die Diamantschleifereien von Oyonax und die Holzpfcifenerzeugung
in der Umgebung von St. Claude.
Auf einer Fufswanderung durch die letztgenannte Gegend
konnten wir uns von der Genauigkeit jener Schilderungen über-
zeugen, die Kropotkine*) in seinem schon angezogenen Buche
„Fields, factories and workshops“ gegeben hat:
„In St. Claude, einem Hauptmittelpunkt der Erzeugung von
Pfeifen aus Ginster (man verkauft diese Pfeifen mit englischer
Marke in grofsen Mengen nach London, wo sie deswegen von
Franzosen, die ein Andenken von jenseits des Kanals mitbringen
wollen, gekauft werden) blühen, von der Wasserkraft des Tacon
getrieben, grofse und kleine Werkstätten dicht nebeneinander auf.
Mehr als 4000 Männer und Frauen sind in diesem Berufe be-
schäftigt, während neben ihnen alle Arten der Hilfsproduktion (Er-
zeugung von Futteralen, Bernstein- und Hornmundstücken) auf-
schossen. Unzählige kleine Werkstätten an den Ufern beschäftigen
sich mit der Erzeugung verschiedener Gegenstände von Holz,
Streichholzschachteln, Opernglasgestellen, Rosenkränzen, oder von
Horn, ganz zu geschweigen von der Erzeugung von Meterstäben
für den gesamten Weltmarkt, die etwa 1200 Arbeiter beschäftigt.
Zu gleicher Zeit sind Tausende von Leuten aus St. Claude in
den umliegenden Flecken und Gebirgsdörfern mit der Diamant-
schleiferei beschäftigt (eine Industrie die erst seit etwa 1 5 Jahren
besteht) und andere Tausende finden in den Schleifereien geringerer
Edelsteine Arbeit. Alles das wird in kleinen Werkstätten hergestellt,
die von Wasserkräften getrieben werden. Die Eisgewinnung auf
bestimmten Seeen und die Entrindung der Eichen für Gerbereien
vervollständigen das Bild dieser Arbeitsdörfer, in denen sich Land-
wirtschaft und Industrie vereinen und Maschinenwesen und moderne
Produktionstechnik in efen Dienst der kleinen Werkstatt gestellt
sind."
Es mufs bemerkt werden, dafs sich diese beträchtliche Ent-
wicklung der ländlichen Industrieen in dieser Gebirgsgegend aus der
langen Dauer des Winters erklärt, die die Jurabauern, ebensogut
wie die Bauern Rufslands, zwingt, ihre Landarbeit durch eine
andere Beschäftigung zu ergänzen. Was diese andererseits ertrag-
*) Kropotkine Fields, factories and workshops, p. 153 u. t. London, Swan
Sonnenschein 190I.
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Emil Vandcrvelde,
reich macht, ist der Umstand, dafs dank der Wasserkraft der Sturz-
bäche den kleinen Unternehmungen die Möglichkeit gegeben ist,
sich alle Vorteile der Maschinen technisch zunutze zu machen.
Ueberall dort, wo diese Vorbedingungen fehlen, sind die länd-
lichen Hausindustrieen verschwunden oder im Verfall; oder aber
sic können sich nur mehr durch jenes schändliche Ausbeutungs-
system aufrecht erhalten, das die Arbeiter infolge ihrer Isolierung
ohne Gegenwehr dem Herrenwillen des Unternehmers über-
antwortet.
Aber neben jenen Industriezweigen, die ihre technische Rück-
ständigkeit durch die Verwendung billiger ländlicher Arbeitskräfte
wett machen wollen, giebt es auch solche, die mit den Vorzügen der
Maschinentechnik und der kapitalistischen Konzentration auch solche
Vorteile zu verbinden suchen, die das Unternehmertum aus der
Billigkeit der ländlichen Löhne zu ziehen hofft.
Vor allem aus diesem Grunde kehrt die Textilindustrie, nach-
dem sic vom Lande nach der Stadt gewandert war, wieder von
der Stadt nach dem Lande zurück.
Dieser Auszug der Industrieen beginnt mit dem Augenblicke,
in dem die Kosten der Arbeitskraft für die Preisbildung ein wich-
tigerer Faktor werden als die Kosten des Transports.
Schon vor vielen Jahren — bei der Enquete über die Baum-
wollindustrie, die im Jahre 1885 zu Brüssel abgehalten wurde —
sprach sich einer der gröfsten Industriellen von Gent, M. de Hemp-
tinne, über die Gründe der Verlegung der Webereien auf das
Land folgendcrmafscn aus:
„In Gent ist die Lage so, dafs wir nicht mehr Herren unserer
Arbeiter sind. Eine gewaltige weit ausgedehnte Organisation, die
von sozialistischen Händen geleitet wird, steht uns gegenüber . . ."
„Wir haben uns die Frage vorgelegt: ist es möglich, ist es ver-
nünftig, die Stadt mit Brand und Mord zu erfüllen, um die Löhne
um 40 — 50 Prozent herabzusetzen? Wir haben uns antworten
müssen : Nein, es ist unmöglich. Ich frage, ob einer von den An-
wesenden es wagen würde, sich in ein solches Abenteuer zu
stürzen.“
M. Verbecke: Allerdings ; das ist unmöglich. So viel ist klar !
M. de Hemptinne: Wäre es mit Eurer Hilfe möglich?
M. Verb ecke: Mit Hilfe aller gewifs. Die freie Garneinfuhr
wird Ihnen das beweisen.
M. de Hemptinne: „Wie das nun auch liegen mag, unser
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Die Rückkehr nach dem Lande.
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Verwaltungsrat ist vor einer solchen Möglichkeit zurückgeschreckt.
Hören Sie, was er gethan hat. Er hat das Beispiel befolgt, das man
ihm in Manchester gab, wo man sich in einer ganz ähnlichen Lage
befand. Die Löhne sind, ich will nicht sagen lächerlich, aber doch
excessiv hoch gestiegen. Bei uns haben sie sich seit 1853 ver-
doppelt. In Manchester giebt es heute nicht mehr viel Webereien
und Spinnereien; die Textilindustrie ist aufs I_and gewandert. Man
hat sie vorerst nach Stockfort bei Manchester verlegt, wo man be-
deutende Lohnreduktionen vorgenommen hat. Als Stockfort ein
grofses Industriezentrum geworden war, hat man sie weiter hinaus
verlegt und die Löhne sind noch niedriger geworden . . .“
„Man thut am besten, wenn man diesem Beispiele folgt. . . .
Ich verlege meine Weberei nach Waerschoot. Augenblicklich habe
dort 40 Stühle und stelle eine Maschine mit 400 Pferdekräften auf.
Ueber kurz oder lang wird alles dahin hinüber wandern. . . .“
Seit 1855 hat sich diese Dezentralisationsbewegung nur noch
verschärft, ln der Gemeinde Waerschoot allein gab es am 31. Ok-
tober 1896 fünf mechanische Webereien, die 624 Arbeiter beschäf-
tigten. Andere wurden in Gentbrugge, Sleydinge und Somergem
errichtet. Die nämliche Tendenz, aus denselben Erwägungen ent-
springend, macht sich, wie S c h m o 1 1 e r feststellt, in allen Industrie-
ländern bemerkbar.
„ Bei der steigenden Erleichterung des Güterverkehrs und den
Fortschritten der Arbeitsteilung, kann der Ort der Erzeugung von
dem des Verbrauches unendlich weit entfernt sein, wenn diese Ent-
fernung eine Verringerung der Produktionskosten oder eine Ver-
besserung der Ware zur Folge hat. Das ist das Losungswort
unserer Zeit."
Natürlich wird dieses Losungswort desto sicherer wirken, je
mehr man im Güterverkehr jener Tarifgemeinschaft nahekommt,
die heute schon für die Postverbindungen besteht.
„Wenn jemals ein solcher Einheitstarif zur Durchführung ge-
langt, sagt Weber (und es ist bekannt, dafs ein solcher heute
schon bis zu einem gewissen Grade für die Industrie des amerika-
nischen N'eu-England besteht), so wird sich seine Wirkung nach der
Richtung geltend machen, dafs die Verbilligung der Fracht Gunst
und Ungunst der örtlichen Produktionsverhältnisse ausgleichcn wird.
Die grofse Stadt wird (ur ihre V\rare keinen besseren Markt haben,
als ihn die kleinen Flecken finden. Inbezug auf alle anderen
Produktionsverhältnisse haben aber die grofsen Mittelpunkte des
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Emil Vanderveldc
Wirtschaftslebens keinen Vorsprung. Kauf und Verkauf, Kapitals-
und Kreditvennittlung, die bisher viele Unternehmungen an die
Wirtschaftszentren fesselte, können heute mit Hilfe eines kleinen,
in der Stadt gelegenen Kontors besorgt werden; die Fabrik selbst
braucht gar nicht dort zu liegen. Andererseits bieten die kleinen
Orte den grofsen Vorzug billiger Bodenpreise und geringer Steuern,
zumal wenn sie die Industriellen durch Steuerfreiheit und kostenlose
Ueberlassung von Grund und Boden ins Land zu ziehen suchen,
wie das in vielen kleinen Städten von Michigan, New Jersey und
anderen Staaten geschehen ist ,).“
Kurz und gut, eine Menge ernsthafter Gründe spricht dafür,
dafs zahlreiche industrielle Unternehmungen die städtischen Massen-
ansiedlungen verlassen, nach der Umgebung oder dem flachen Lande
auswandern und so dazu beitragen, die Abwanderung der ländlichen
Arbeitskräfte aufzuhalten. Ja man sicht sogar, wie sie zur Ab-
richtung des an Ort und Stelle gewonnenen Personals in ihrem
Gefolge eine ziemliche Menge städtischer Arbeiter auf das Land
hinausziehen.
So kommt es, dafs in manchen Gegenden die Zahl der I.and-
bewohner wächst, indes sich die Masse der landwirtschaftlich
thätigen Bevölkerung verringert.
3. Die Wanderung der städtischen Bevölkerung nach
dem Lande.
Die Arbeiter, die die grofse Wanderbewegung vom Lande zur
Stadt bewerkstelligen, und umgekehrt wieder jene, die zeitweilig
oder dauernd von den Städten nach dem Lande abwandern, bilden
zwei Kategorieen, die von einander wohl unterschieden werden
wollen. Die einen sind echte Städter, die sich aus verschiedenen
Gründen zu einer Verlegung ihrer Wohnungen oder Arbeitsplatzes
„extra muros“ entschlossen haben; die andern aber bilden jene
fluktuierenden Bevölkerungselemente, die weder ganz der Industrie
noch ganz der Landwirtschaft angehören. Sie sind zur Zeit des
Aufschwungs von den grofsen Plätzen angezogen worden und
zeigen Neigung, zu Krisenzeiten wieder aufs flache Land zurück-
zuströmen.
*) Weber, The growth of citics. p. 205.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
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I. Die Industriekrise.
Neben jenen Betrieben, welche dauernde Beschäftigung ge-
währen, giebt es auch eine grofse Anzahl solcher, deren Besetzung
der Zahl nach fortwährend schwankt, und — je nach Gunst und
Ungunst der wirtschaftlichen Konjunktur — mehr oder weniger
leicht von einem Erwerbszweig zu einem anderen übergeht.
So haben sich zur Zeit des Aufschwungs am Ende des neun-
zehnten Jahrhunderts Tausende von Landleute, durch hohe Löhne
angelockt, zu öffentlichen Arbeiten anwerben lassen. Andere sind
in der Kohlcnindustrie, im Baugewerbe und anderen Betrieben
untergebracht worden, die einen aufserordentlichen Aufwand mensch-
licher Arbeitskraft erforderten.
So kam es, dafs die Landwirte mit ihrem Arbeiterbedarf in
grofse Verlegenheit gerieten. Sie schafften sich Hilfe, indem sie
ihre Betriebsweise von Grund aus umänderten, Weideflächen schufen,
ihren Maschinenbestand entwickelten, und zu den „Gangs“ zuge-
wanderter fremder Arbeiter ihre Zuflucht nahmen.
Jetzt aber verläuft sich die Flut. Die Kohlenindustrie ver-
ringert ihr Arbeitspersonal ; die Bauthätigkeit nimmt ab ; die Ver-
kehrsunternehmungen und die öffentlichen Arbeiten vermögen nicht
mehr die Massen der disponiblen Arbeitskräfte aufzunehmen. In
allen Ländern ist die Zahl der feiernden Hände sehr beträchtlich.
Welche Folgen werden der Landwirtschaft aus dieser wirt-
schaftlichen Depression erwachsen? Wird die Landarbeiterfrage eine
Lösung finden, die den Interessen der Landwirte wie der Arbeits-
losen gleichmäfsig entspricht?
Das Problem läuft auf die Fragen hinaus: ob die Arbeiter, die
die Industrie zurückweist, zur Landwirtschaft zurückkehren werden
ob die Landwirte in der läge sind, sie wieder aufzunehmen; ob
schliefslich nicht die Industriekrise ihre verderblichen Wirkungen
auf den Markt der landwirtschaftlichen Produkte ausdehnen wird.
Vor allem ist soviel gewifs, dafs viele Arbeiter der Landarbeit
endgültig den Rücken gekehrt haben und es verschmähen,
sie wieder aufzunehmen , so traurig die Lage der Industrie auch
sein möchte.
„Es mufs bemerkt werden“, so äufsert sich ein Korrespondent
der Revue du travail im Januar 1901, „dafs ländliche Arbeiter, die
einmal industriell thätig gewesen sind, zu den landwirtschaftlichen
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Emil Vandcr velde,
Arbeitgebern nicht mehr zurückkehren. Auch dann nicht, wenn sie
ohne Arbeit sind
Dennoch wäre es falsch, diese Beobachtung zu generalisieren.
Denn aus anderen Wahrnehmungen, die wir in derselben Zeitschrift
gefunden oder aus eigenem gesammelt haben , geht hervor , dafs
seit dem Ausbruche der Krise zahlreiche Arbeiter auf den Gütern
und in Zuckerfabriken Beschäftigung suchen.
So bekommen z. B. die Landwirte von du Hesbaye oder vom
Condroz, die während der fetten Jahre für 50 Frc. Lohn kein
Gesinde bekamen, jetzt für 30 Frc. Leute im Ueberflufs.
Die nämliche Erscheinung wird in Deutschland beobachtet.
Die Rückkehr zur Landwirtschaft ist auch hier nur für gewisse
Arbeiterkategorieen durchführbar.
Kurzum, es scheint, dafs sich für gewisse Gegenden und für
die Dauer des wirtschaftlichen Niederganges eine Lösung der Land-
arbeiterfrage anbahnt, infolge des Rückstroms der Arbeiter, die
während der fetten Jahre den Pflug verlassen haben, um industrielle
Beschäftigungen zu ergreifen.
Trotzdem wäre es falsch zu glauben, dafs diese Arbeiter —
das weitere Anschwellen ihrer Masse vorausgesetzt — alle auf dem
Lande Käufer finden könnten, für die Arbeitskraft, die in der Stadt
überschüssig geworden ist.
Seit einigen Jahren hat sich in den Produktionsverhältnissen
vieler landwirtschaftlicher Betriebe eine tiefeingreifende Umwälzung
vollzogen ; der Landwirt hat durch Anlage von Weideland oder
durch Aufforstungen sein Arbeitsfeld verringert ; er hat sein ständiges
Personal herabgesetzt und sich an die Beschäftigung von Wander-
arbeitern gewöhnt; schliefslich hat er, um das wachsende Defizit
menchlicher Arbeitskraft zu decken, seinen Maschinenbestand ver-
mehrt.
So kommt cs, dafs die Fabriken zur F.rzeugung landwirtschaft-
licher Maschinen in einer Zeit, da sich die übrige Metallindustrie
mitten in der Krise befand, ihre Thätigkeit unausgesetzt steigerten.
Im Februar 1901 beschreibt der Correspondcnt der Revue
du Travail in Mons die Lage dieses Industriezweiges folgender
mafsen :
„Die Aufträge sind sehr zahlreich. So ziemlich alle Landwirte
*) Revue du travail, public par l’Olticc du Travail en Bclgique. 6' annee
1 p. 46.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
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scheinen gewillt, sich zukünftig in ihrem Betriebe landwirtschaft-
licher Maschinen zu bedienen. Sie hoffen, sie würden für die
Zukunft nichts mehr zu fürchten haben, wenn sie sich einmal zu
diesem Aufwande entschlossen hätten. Manchmal vereinigen sich
auch mehrere zum Ankauf der wichtigsten Maschinen.“
Einen Monat später schreibt er, und andere Korrespondenten
bestätigen seine Beobachtungen :
„Die Lage ist verhältnismäfsig gut. Die Aufträge werden von
Jahr zu Jahr bedeutender. Die Schwierigkeiten , mit denen die
Landwirte im Vorjahre bei der Beschaffung des nötigen Personals
zu kämpfen hatten und die schweren Bedingungen, die ihnen da-
bei gestellt wurden, haben sie zu dem Entschlufs gebracht, in der
Anwendung von Maschinen Ersatz zu suchen.“
So ist es nicht weiter verwunderlich, dafs, infolge der Ver-
minderung der notwendigen menschlichen Arbeit, in manchen
Gegenden das Arbeitsangebot, jetzt gar die Nachfrage übersteigt.
„Zahlreiche Arbeiter, die als Schnitter nach Frankreich gezogen
sind, sind im August zurückgekehrt. Die meisten hatten nur
schwer Arbeit gefunden. Eine Folge der zahlreichen landwirt-
schaftlichen Maschinen, die die französischen Landwirte neuerdings
angeschafft haben !“
Solche Erscheinungen mögen vorläufig noch vereinzelt bleiben;
dennoch geben sie einen Vorgeschmack dessen, was weiter wird,
wenn die Krise an Umfang der Schärfe zunimmt. Selbst jener
Teil der überschüssigen Industriearbeiterschaft, der sich den Be-
dingungen der landwirtschaftlichen Thätigkeit anzupassen resp.
wieder anzupassen vermag, wird auf dem Lande nicht mehr voll
beschäftigt werden körtnen. Das wird umsomehr der Fall sein, als
die Industriekrise sicher einen ungünstigen Einflufs auf den land-
wirtschaftlichen Markt ausüben wird. Der schlechte Geschäftsgang
hat nicht nur die Folge, dafs er das Angebot der Arbeit vermehrt, und
auf diese Weise auch die Löhne der landwirtschaftlichen Gegenden
verringert, er wird notwendig auch die Kaufkraft der ganzen Be-
völkerung herabsetzen. Zweifellos wird dieser Rückgang auf dem
Nahrungsmittelmarkte vor allem die gesuchtesten Produkte treffen :
Fleisch, Butter, Milch, Eier, gewisse Käsesorten, Zucker, Bier und
— Glück im Unglück! — Branntwein. Vor allem darf man sich
auf einen Preisrückgang von Fleisch und Butter, hervorgerufen
durch den geringeren Verbrauch, gefafst machen. Die Landwirt-
schaft wird an diesem Preisrückgang schwer zu tragen haben.
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 7
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Emil Vandervclde,
Denn viele Besitzer haben ihren Viehstand in den letzten Jahren
vermehrt, weil sie von der Viehhaltung und ihren Produkten sich
Erfolge versprachen, die ihnen der Körnerbau nicht mehr zu bieten
vermochte. Und schliefslich werden die Landwirte, wenn die Krise
noch lange anhält, ihr Arbeitspersonal, das durch die geänderte
Betriebsweise schon stark herabgesetzt worden ist, noch mehr redu-
zieren müssen.
Von den zeitweiligen Bewegungen des Arbeitsmarktes, dem
Rückstrom der Arbeitslosen auf das Land , den wirtschaftlichen
Zuckungen der Industriekrise wird man also für das Problem der
Landflucht eine Lösung nicht erwarten dürfen. Und das umso-
weniger, da ja die Arbeitslosen, die sich heute infolge des Ge-
schäftsrückganges nach den Dörfern wenden, zur städtischen Ar-
beit zurückkehren werden, sobald nur die Industrie sie wieder auf-
nimmt.
Andererseits aber giebt es wieder einzelne Kategorieen von
Hand- und Kopfarbeitern, die von den verschiedenen Wirkungen
der Wirtschaftskreise bceinflufst, ihren Wohnort oder ihren Arbeits-
ort auf das Land verlegen.
II. Der Wegzug aus der Stadt.
Ebenso gut wie die Landbevölkerung, die, um ihren Lebens-
unterhalt zu gewinnen, ihre Dörfer verläfst, in drei Hauptkategorieen
zerfällt — diejenigen, die sich täglich oder wöchentlich nach der
Stadt begeben, die, welche sich dauernd in der Nähe ihres Arbeits-
ortes niederlassen, schliefslich jene, welche nur lur einen Teil des
Jahres ihren Wohnsitz verändern — weist auch die Stadtbevölke-
rung, die nach dem Lande zurückkehrt, die dreifache Erscheinung
der täglichen, der endgültigen und der saisonmäfsigen Abwanderung
auf. Manche behalten ihren Hauptwohnsitz in der Stadt und leben
nur kurze Zeit auf dem Lande; andere lassen sich aus Gründen
der Gesundheit oder der Wirtschaftlichkeit draufsen dauernd nieder,
die dritten endlich behalten ihre Wohnung in der Stadt und gehen
täglich auf das I^ind zur Arbeit.
Wir wollen diese verschiedenen Formen der Wanderung der
Reihe nach Revue passieren lassen.
I. Die täglichen Wanderungen.
Von allen Möglichkeiten, die die Trennung des Wohnorts vom
Arbeitsorte in sich birgt, ist keine unvernünftiger als das Wohnen
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Die Rückkehr nach dem Lande.
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in schlechter Stadtluft , indes einen die tägliche Arbeit auf das
Land hinausruft.
Solche Verhältnisse finden sich denn auch nur ganz ausnahms-
weise, und fast immer erweisen sie sich als die Ueberreste einer
älteren Wirtschaftsform.
In den Mittelmeerländern z. B., wo sich noch aus der Zeit des
antiken Städtewesens eine Vorliebe für städtisches Leben von Ge-
schlecht zu Geschlecht fortzuerben scheint, giebt es noch zahlreiche
Völkerschaften, die, obgleich sie landwirtschaftlich thätig sind, denn-
noch nicht auf dem Lande ihren Wohnsitz haben.
So wohnen in Montpellier viele Arbeiter, die sich täglich zur
Arbeit nach den einsam gelegenen Weinbergen begeben, in den
Proletariervierteln der Stadt.
In Corsika drängen sich die Bauern zu ihrem Schutze (einst
gegen die Türken, jetzt gegen die Malaria) in Städtchen zusammen,
die sie auf steilen Höhen erbaut haben, weit entfernt von ihren
Feldern, die in tieferen Gegenden liegen.
In Sicilicn mit seiner geringen Industrie ist der Anteil der Stadt
an der Gesamtbevölkerung gröfser als in unseren industriell höchst
entwickelten Ländern. Nach Schmoller1) beträgt er 68 Proz.,
während er 1875 für Belgien 67 Proz., für Sachsen 62 Proz., für
Frankreich 42 Proz. betrug.
„Wenn man die sicilische Landschaft durchstreift,“ erzählt
Reel us, „gerät man über das vollständige Fehlen der Häuser in
Verwunderung. Eis giebt nur wenige Dörfer, dafür aber weit von
einander entfernt, einzelne volkreiche Städte. Alle Landwirte sind
Stadtbewohner, die nach der Gewohnheit der klassischen Zeit all-
abendlich in die Stadt zurückkehren. Darunter giebt es solche, die
täglich zweimal einen zehn Kilometer weiten Weg zurückzulegen
haben, um auf ihre Felder zu kommen und wieder zu ihrem Nacht-
lager zu gelangen. Manchmal aber kommt es auch vor, dafs sie
um den Rückweg zu ersparen, in einem Keller oder einem mit
I-aubwerk überdachten Graben die Nacht verbringen. Zur Zeit der
Ernte und der Weinlese bieten in Eile errichtete Schuppen den
Arbeitern Unterkunft. Den ungeheuren Getreidefeldern, die die
Thäler erfüllen und die Hänge bedecken, verleiht dieser Mangel
jeder menschlichen Behausung die Stimmung stummer feierlicher
*) Schmoller,
Leipiig.
Grundrifs der allgemeinen Volkswirtschaftslehre p. 258.
7*
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IOO
Emil V»nd ervc 1 d c ,
Trauer. Man möchte Sicilien ein verlassenes Land nennen und sich
fragen, für wen diese Aehren reifen.“ ')
Diese Schilderung spricht für sich selbst. Sie beweist, dafs ein
so völlig abnormer Zustand nur unter Verhältnissen bestehen und
sich erhalten kann, die von denen der meisten I .ander vollständig
verschieden sind.
Aber auch in durchaus modernen Gebieten kommt es — wohl-
gemerkt, immer nur als Seltenheit — vor, dafs die Vervollkomm-
nung der Verkehrsmittel und die Verlegung der Industrie nach dem
Lande Wirkungen hervorbringt, die einen Vergleich mit den täg-
lichen Wanderungen sicilischer und südfranzösischer Landbürger
wohl zulassen.
Vor einiger Zeit z. B. haben bestimmte Brüsseler Fabrikanten
auf ihrer Jagd nach billigen Arbeitskräften den Entschlufs gefafst,
ihre Betriebe in die ländlichen Teile des Brüsseler Arrondissements
zu verlegen, resp. solche dort neu zu errichten.
Einer von ihnen hat im Jahre 1901 eine grofsc Hutfabrik, die
er im Faubourg de Cureghem betrieb, nach der Landgemeinde
Ruysbroeck verlegt, die an der Eisenbahnlinie Brüssel-Hai gelegen
ist. Etwa tausendfünfhundert Arbeiter, zum grofsen Teile Frauen,
sind in diesem Betriebe beschäftigt. Die meisten von ihnen wohnen
noch immer in Brüssel und fahren täglich mit der Bahn zur Arbeit.
So kommt es, dafs man auf dem Bahnhof von Brüssel-Midi täglich
hunderte von Arbeitern aus der Umgebung, besonders aus Ruys-
broeck ankommen sieht, während zur gleichen Stunde andere (die
Hutfabrik allein zahlt für ihr Personal sechshundertfünfzig Wochen-
fahrkarten 1) von Brüssel abfahren, um nach Ruysbroeck zu gelangen.
Es ist recht wahrscheinlich, dafs dieses seltsame Chasse-croise
nur eine vorübergehende Erscheinung ist. Schon jetzt zeigt die
Betriebsleitung in Ruysbroeck das Bestreben, die Bezahlung der
Wochenfahrkarten für ihre Arbeiter abzuschaffen, und bemüht sich
andererseits, ländliche Arbeiterinnen einzustellen, die sich mit täg-
lich 1,25 bis 1,50 Frcs. zufrieden geben, während die städtischen
Hutarbeiterinnen bei tostündiger Arbeitszeit 2 ja 2,50 Frcs.
Lohn bekommen. Schliefslich auch wird ein gewisser Stamm von
Arbeitern Brüssel verlassen, um sich in der Nähe der Fabrik an-
zusiedeln.
Dieser Wohnungsverlegung nach dem Lande stehen aber bis
*) Reel us,- Geographie universelle. Itaüe meridionalc. p. 548.
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Die Rückkehr nach dem Lande. jqI
jetzt zahlreiche Hemmnisse entgegen ; sei es, dafs die Leute ihren
Kindern den fortgesetzten Besuch der städtischen Schule ermög-
lichen wollen, sei es, dafs andere Familienglieder, Frauen und Töchter,
oder, wo es sich um Arbeiterinnen handelt, Väter oder Gatten in
Brüssel arbeiten; sei es auch nur — und das trifft fast in allen
Fällen zu — , dafs sie es als Unmöglichkeit empfinden, sich länd-
lichen Lebensverhältnissen anzupassen.
Auf einer Wanderung durch die Brüsseler Arbeiterquartiere
fanden wir — in einer jener traurigen Sackgassen der inneren Stadt,
die hinter bürgerlich-behäbigen Fagaden ihre halsbrecherischen Stiegen
und ihre abscheulichen Dachkammern verbergen, Gelegenheit, die
Familie eines Hutarbeiters kennen zu lernen, der in Ruysbroeck
arbeitet. Einer von uns fragte die Frau, warum sie und die Ihren
nicht auf das Land zögen, wo sie für dasselbe Geld statt ihres
schmutzigen Zimmers eine angenehme Wohnung haben könnten.
Und diese Armut, von deren Elend jedes Stück ihrer engen Be-
hausung erzählte, antwortete mit dem ganzen Stolze einer aristo-
kratischen Kaste: „Wir danken schön! Bei den Bauern zu wohnen!“
Dazu mufs übrigens bemerkt werden, dafs nach unseren Be-
obachtungen in Ruysbroeck Not an Arbeiterwohnungen besteht,
und dafs unter diesen Umständen die Kosten der Lebenshaltung
beinahe ebenso hoch sind wie in Brüssel.
Unter anderen Umständen würde die Abneigung der Arbeiter-
familien gegen den Wegzug aus ihren Gäfschen und Sackgäfschen
viel von ihrer Schärfe verlieren.
Ueberdies macht sich — das gilt besonders von anderen Klassen,
Angestellten, Rentnern und kleinen Beamten — mit wachsender
Deutlichkeit die Neigung bemerkbar, sich auf dem Lande anzu-
siedeln, ohne deshalb die vielfachen Verbindungen mit der Stadt
aufzugeben.
2. Die dauernde Uebersiedlung.
Vor zehn Jahren etwa hat Professor H a s b a c h in einem Buche
über „Die englischen Landarbeiter" jene ursprünglich städtische
Bevölkerung, der man in immer gröfseren Massen in den Dörfern
begegnet, auf die folgende Weise beschrieben:
„Der Deutsche, welcher sich in einer Entfernung von 25 eng-
lischen Meilen von London niederläfst und glaubt, nun alle Be-
ziehungen zur Stadt abgebrochen zu haben, wird über die ver-
schiedenen Schichten der Dorfgesellschaft, welche er allmählich
kennen lernt, nicht wenig verwundert sein. Er macht die Bekannt-
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102
Emil Vanderveldc,
Schaft des Dorfgeistlichen, welcher den Titel Rektor oder Vikar
führt, vielleicht auch die eines Hilfsgeistlichen, verabschiedeter und
beurlaubter Land- und Seeoffiziere, ostindischer Beamten und Offi-
ziere, welche zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit auf längere
Zeit nach Europa zurückgekehrt sind, er lernt Kaufleute und In-
dustrielle kennen, die sich vom Geschäft zurückgezogen haben, oder
noch jeden Morgen zur Stadt ins Kontor fahren, er findet einen
oder mehrere Rentner vor u. s. w. . .
Kurz, während die wirklich landwirtschaftliche Bevölkerung
selten wird, wird das städtisch beeinflufste Land dank der Eisen-
bahn der Wohnort vieler Leute aus den mittleren Bevölkerungs-
klassen, die den Aufenthalt in der Stadt darum aufgeben, weil er
ihnen zu teuer ist.
Bis vor wenigen Jahren schienen solche Verhältnisse eine be-
sondere Eigentümlichkeit Englands. Heute findet man sie in der
Umgebung aller grolsen Städte wieder.
Erst jüngst hat I.eroy-Beaulieu anläfslich einer Kritik der
neuen Grundsteuer in Paris festgestellt, wie sehr sich für diese Steuer -
<]uelle die Bequemlichkeiten des Bahn- und Tramway Verkehrs, der
seit 1899 und besonders seit dem Sommer 1900 einen so grofeen
Aufschwung genommen hat, fühlbar gemacht haben.
„Bis dahin,“ schreibt er, „gab es seit drei Jahrzehnten eine
zentrifugale Wanderung, die die Bewohner der inneren Stadt nach
den Wohnhäusern der peripher gelegenen Arrondissements führte,
besonders nach jenen des Westens; diese Bevölkerungsbewegung
folgte im ganzen dem Laufe der Seine. Seit zehn Jahren ist sozu-
sagen dieser ersten Welle die zweite gefolgt, die nach der Um-
gebung der Stadt verläuft. *)
Selbstverständlich bedeutet diese Rückkehr nach dem Lande
durchaus keine Rückkehr zur Landwirtschaft. Die Angestellten und
Handwerksleute, die sich in der Umgebung ansiedeln, um die hohen
Wohnungsmieten zu ersparen, dabei aber an ihrer städtischen Be-
schäftigung festhalten, tragen nicht das geringste Verlangen dar-
nach, Pflug und Spaten zu führen."
Nichts destoweniger hat ihre Anwesenheit für die Landleute
wirtschaftliche Bedeutung. Denn einerseits verschafft sie ihnen eine
Kundschaft im Orte selbst ; andererseits giebt es al>er neben jenen
Städtern, die sich aus Ersparungs- oder Gesundheitsrücksichten in
*) L'Econoniistc franoiis. 16 fevrier 1901.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
103
Landgemeinden niederlassen, auch andere, allerdings weit minder
zahlreiche, die sich auf dem I.ande ansiedeln, um sich der landwirt-
schaftlichen Thätigkeit zu ergeben.
Dahin gehören beispielsweise die Mitglieder der Kolonicen
Bussum und Blaricum in Holland, die Landgenossenschaften von
Norfolk und VVarwick-shire, und die vielen von Nordhoff beschrie-
benen sozialistischen Kolonieen in Nordamerika.
Dahin gehören auch die Vegetarierkolonieen, von denen
Graham in seinem Buche „The rural exodus“ erzählt:
„Es ist wunderbar, wie viele kleine Geschäftsleute, die sich ein
bischen Geld erwirtschaftet haben, voll Ungeduld nach dem Lande
zurückzukehren trachten. Die Vegetarier, die kleine Obstwirt-
schaften (fruits farms) von 2 Acres eingerichtet haben — in ver-
schiedenen Distrikten, Kent, Norfolk, Northumberland zum Beispiel
— haben es nicht schwer, Leute zu finden, die ersparte Beträge
von etwa 400 Frcs. gerne darin anlegen, um auf diese Weise das
Landleben geniefsen zu können."
So interessant nun auch solche Experimente sind, und wie be-
deutsame Keime einer künftigen Entwicklung sie in sich tragen
mögen, sie sind doch zu dünn gesäet, und erstrecken sich auf eine
zu geringe Anzahl von Personen, als dafs sie auf die Bewegung von
der Stadt zum Lande einen merkbaren Einfiufs ausüben könnten.
Annähernd dasselbe gilt von den Versuchen, die die Regierung der
anglo-australischen Kolonieen auf ungeheueren I^andstrecken unter-
nommen hat, um Arbeitslosen Beschäftigung zu geben und dem
Ueberwuchern der städtischen Elemente zu begegnen.
Sicherlich berechtigen die Resultate, die in den Kooperativ-
gemeinden von Süd-Australien und Victoria erzielt worden sind,
nicht zu jenen übereilten pessimistischen Folgerungen, die Pierre
Leroy-Beaulieu in seinem Buche „Les nouvelles societes Anglo-
Saxonnes" aus ihnen ziehen zu müssen glaubt ; aber nicht minder
wahr ist es, dafs die bisher gemachten Erfahrungen auch durchaus
nicht in günstigem Sinne entscheidend sind. Met ins gewissenhafte
Studie über die Arbeiter- und Sozialgesetzgebung Australiens und
Ncu-Seelands kommt zu dem Schlufsergebnis: „Das Beispiel dieser
Gemeinden hat wieder einmal bewiesen, wie gewagt es ist, das Land
dadurch bevölkern zu wollen, dafs man auf einmal grofse Massen
städtischer Arbeiter dahinwirft.“
3. Die Saisonwanderungen.
Dieselben Gründe, die den an städtisches Leben gewohnten
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Emil V ander veldc,
Arbeiter daran hindern, in Krisenzeiten seine landwirtschaftliche
Thätigkeit wieder aufzunehmen, hindern ihn auch, sich während
der Saison der Landarbeit eine schwerere Arbeit aufzuerlegen, als
er gewohnt ist.
In England war es am Ende des achzehnten Jahrhunderts bei
vielen städtischen Arbeitern Brauch, bei Beginn des Herbstes in
die umliegenden Dorfschaften zu wandern und an den Erntearbeiten
teil zu nehmen l).
Noch heutzutage begiebt sich alljährlich ein Teil jener Be-
völkerung, die sich in den Londoner Slums zusammendrängt, zur
Heumahd nach den grazing counties der Umgebung, um später die
Hopfenernte in Kcnt besorgen zu helfen.
Auch in Petersburg giebt es Tausende von Wollwebern und
Arbeitern der Baumwollindustrie, die für die drei Sommermonate
in ihre Geburtsdörfer zurückkehren, um dort das- Land zu bewirt-
schaften -).
Aber das sind Ausnahmen, die immer seltener werden, je mehr
sich die Teilung und besonders die Kontinuierlichkeit der Industrie-
arbeit entwickelt.
Wenn aber die Städter immer seltener im Sommer aufs Land
gehen, um dort zu arbeiten, thun sie es desto öfter, um sich dort
zu erholen ; und diese Saisonwanderungen sind für verschiedene
Volksschichten von grofser Bedeutung.
„Zur Zeit Karl II.,“ schreibt Macaula y, „hatte das wohlhabende
Bürgertum noch nicht die Gewohnheit angenommen, im Sommer
hinauszuziehen, um freie Wald- und Feldluft zu geniefsen. Ein
Londoner Stutzer erregte auf dem Dorfe ungefähr dasselbe Auf-
sehen wie in einem Hottentottenkraal."
Heutzutage hat das Bedürfnis nach Zerstreuung, die Sehnsucht
nach Ruhe, hat ein mehr oder weniger reines Naturgefühl das Land
für einen Teil des Jahres neu bevölkert. Die Orte für Trink- und
Badekuren vermehren sich verblüffend rasch; Räder und Auto-
mobile verhelfen alten Gastwirtschaften zu neuer Blüte, alten
Schänken, denen der Bahnbau ihre Kundschaft entzogen hatte; im
Oberlande und an der Corniche gewährt der Fremdenverkehr
breiten Volksschichten ihre Exislenzmittel, sodafs die Auswanderung
für sie unnötig wird.
*) ilush ach a. a. O. 78.
*) Kropotkine, Autour d’unc vic p. 335. Paris, Stock 1902.
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Die Rückkehr nach dem Lande.
105
Wenn man den Weg der Entwicklung ermessen will, der in
dieser Richtung in weniger als zwei Jahrhunderten zurückgelegt
worden ist, mag man in der neuen Heloise die folgenden Stellen
lesen, die sich in einem Briefe Saint Preux an Julia vorfinden:
„Wenn ich des abends in ein Dörfchen (des Ober -Wallis) kam
eilten alle so geschäftig herbei, mir ihr Haus anzubieten, dafs mir
die Wahl schwer ward ; und der, der den Vorzug erhielt, schien so
erfreut, dafs ich seinen Eifer anfangs für Habsucht hielt. Zu meinem
höchlichstcn Erstaunen aber weigerte sich mein Wirt, dem gegen-
über ich ungefähr einen Ton angeschlagen hatte, als ob ich mich
im Gasthofe befände, Bezahlung anzunehmen. Ja er fühlte sich
sogar durch meine Zumutung beleidigt . . . Trotzdem ist im Ober-
Wallis das Geld sehr rar; aber deswegen gerade geht es den Be-
wohnern gut; denn Lebensmittel giebt es in Ueberflufs, während
es nach aufsen für sie an Absatzwegen fehlt und im Innern ein
Bedürfnis nach Luxusartikeln nicht besteht . . . Zuerst war ich
über den Gegensatz sehr überrascht, dem diese Gewohnheiten zu
jenen von Nieder -Wallis bilden, wo man die Reisenden nur allzu-
sehr prellt, und es wurde mir schwer, die Ursache heraus zu finden,
aus welcher sich bei einem und demselben Volke so verschiedene
Handlungsweisen herausgebildet haben konnten. Ein Walliser er-
klärte sie mir. Die Fremden, sagte er, die das Thal durchreisen,
sind Kaufleute und andere Leute von ähnlicher Lebensstellung, die
einzig und allein an ihr Geschäft denken und auf Gewinn erpicht
sind. Es ist billig, dafs sie uns einen Teil ihres Nutzens lassen,
und wir behandeln sie, wie sie andere behandeln. Aber hier,
wohin die Fremden kein Geschäft ruft, sind wir sicher, dafs ihre
Reise keinem eigennützigen Zwecke dient; dem entspricht die Auf-
nahme, die man ihnen hier bereitet. Es sind Gäste, die uns be-
suchen, weil sie uns lieben, und wir nehmen sie mit Freundschaft
auf. Uebrigens, fügte er lächelnd hinzu, ist diese Gastfreundschaft
nicht kostspielig, und nur wenige Leute kommen darauf, von ihr
Gebrauch zu machen.“
Vielleicht sind die Nachkommen derselben Walliser in dem-
selben Dörfchen, das inzwischen ein grofscr Ort geworden ist,
die Manager eines Riesenunternehmens, dessen Gastfreundschaft,
obwohl sie weniger billig geworden ist, keine geringere Anziehungs-
kraft auf die Fremden ausüben mag.
Und damit mufs man sich freuen, wie sehr man auch den Reiz
einer urwüchsigen Gastfreundschaft vermissen mag. Denn das
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Emil Vandcrvcldc,
Vergnügen am Reisen, oder, besser gesagt, das Bedürfnis nach
Reisen und Sommerfrischen bildet das einzige Korrektiv der modernen
Ueberanstrengung und des ungesunden Lebens, das die meisten
Städter den gröfseren Teil des Jahres über zu fuhren gewohnt sind.
Leider ist dieses Heilmittel bisher das Privilegium einer Klasse
geblieben, und erst seit einigen Jahren werden Versuche gemacht,
den Handarbeitern oder ihren Kindern ein paar Wochen Erholung
in freier Luft zu verschaffen, deren sie ebenso sehr wie die Kopf-
arbeiter bedürftig sind.
In dieser Richtung sind die Schülerkolonicen zu erwähnen
und für die Erwachsenen — so unvollkommen diese Einrichtung
auch noch sein mag — die Ferienkolonie von Ploubazlanec an der
bretonischen Küste, die von der Pariser Gesellschaft, I.a Cooperative
des idees eröffnet worden ist.
Die Organisatoren dieser Kolonie haben für hundert Francs
jährlich ein grofses altes Haus gemietet, das auf dem Plateau von
Arconest gegenüber der Insel Brehat gelegen ist. Die Zimmer im
Geschofs wurden einfach hergerichtet. Die bisher noch wenig
zahlreichen Kolonisten besorgen ihre bescheidene Küche selbst und
können so, trotz der Kosten der Hin- und Rückfahrt, ebenso sparsam
leben, als wenn sie in Paris geblieben wären.
Das gröfste Hindernis für die Entwicklung solcher Arbeiter-
Sommerfrischen ist freilich nicht die Geldfrage, sondern der Mangel
an freier Zeit.
Was für manche Handwerker der Pariser Feinindustrie ver-
hältnismäl'sig leicht ist, wird schon viel schwieriger, wenn es sich
um Fabrikarbeiter handelt. Nichtsdestoweniger hat die Erfahrung
auch hier gezeigt, dafs bei einem entsprechenden Stande der
Arbeiterorganisation, die Schwierigkeiten nicht unüberwindlich sind.
Seit langem schon z. B. wird in den meisten Industrieorten
von Lancashire eine Woche im Juli, August oder September ge-
feiert; man nennt diese Ferien „wakes“. Viele Arbeiter der Baum-
woll- und der Maschinenindustrie benutzen diese Woche zu Er-
holungsreisen. Die einen durchstreifen das Hügelland von Derbyshire
und die Gestade der englischen Seeen; die anderen gehen nach
London, manche gar nach dem Kontinent; aber was die meisten
allem andern vorziehen , das ist das Meer : die Insel Man und die
Bäder von Blackpool (Lancashire) sind während der wakes von
Arbeitertouristen überschwemmt.
Schulze - Gaevernitz, dem wir diese Thatsachen entnehmen,
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Die Rückkehr nach dem Lande.
107
berichtet, dafs in Oldham allein die Spezialkassen für Ausflüge oder
Erholungsreisen (going of club) jährlich 65 000 Pfund auszahlen,
wovon 45 000 auf die Arbeiter der Baumwollbranche und etwa
20000 auf die Maschinenbauer entfallen.
„Glückliches Lancashire!“ ruft unser Gewährsmann. Gewifs!
Aber wie viel Zeit, Mühe und Kampf wird es kosten, bis dieser
Stand der Dinge ein allgemeiner wird und das Recht auf Ferien
für alle besteht, statt wie jetzt das Vorrecht von wenigen zu sein !
Das Gemeinsame aller jener Erscheinungen, die wir untersucht
haben — tägliche, endgiltige und saisonmäfsige Wanderungen, die
Industriealisierung der Landwirtschaft, die Verlegung der Industrie
nach dem flachen Lande, der Zustrom der Landbevölkerung nach
der Stadt und der Rückstrom der Stadtbevölkerung nach deren
Umgebung oder dem platten Lande — ist die Thatsache, dafs die
Arbeiter, dank der Verbesserung des Güter- und Personenverkehrs,
ihren Wohnsitz weit entfernt von ihrem Arbeitsorte nehmen dürfen,
und dafe die Industrieen ihre Produktionsstätte auf noch viel gröfsere
Entfernungen von den Verbrauchszentren entfernen können.
Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts hat diese Trennung
von Arbeits- und Wohnort im allgemeinen zu einer Verödung des
flachen Landes und zu einer Vereinigung der gewerblichen Thätig-
keit in den Städten geführt; so konnten sich jene ungeheuren
Menschenansammlungen bilden, deren bewundernswerte Entwick-
lung eine Hauptursache des geistigen und politischen Fortschritts
ist. Aber die Vorzüge dieser städtischen Zentralisation, die im
ganzen nichts anderes ist, als eine der äufseren Erscheinungsformen
der kapitalistischen Zentralisation darf uns nicht blind machen für
die Unbill und das Elend, das sie mit einschliefst.
Wenn wir auch lebhaft bestreiten müssen — trotzdem der
Schein der Statistik gegen uns spricht — dafs die Stadtbewohner
den Landbewohnern in sittlicher Beziehung nachstehen, so kann
doch nicht geleugnet werden, dafs unter Gleichstellung aller andern
bezüglichen Verhältnisse die Sterblichkeit in der Stadt für dieselben
Altersklassen weit stärker ist als auf dem Lande.
Sicher ist auch nach dieser Richtung hin schon viel gebessert
worden, aber, wenn es auch nicht mehr richtig ist, die Stadt als
den gefräfsigen Rachen zu betrachten, der das menschliche Ge-
schlecht verschlingt, wenn auch die Uebertreibungen eines Nordau
zurückgewiesen werden müssen, der in ihrem Wachstum die Haupt-
ursache wachsender Entartung im letzten Halbjahrhundert sieht, so
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1 08 Emil V ander velde,
kann man sich doch dem wissenschaftlich viel beträchtlicheren
Zeugnis Dr. J. B. Longstaffs, eines der vorzüglichsten Statistiker
Englands nicht verschliefsen :
„Die Behauptung, dafs das Stadtleben der Gesundheit minder
günstig sei als das Landleben, ist unbestritten . . . Die Eng-
brüstigkeit, das blasse Aussehen, die schwächliche Erscheinung und
die schlechten Zähne der in der Stadt aufgezogenen Kinder, bieten
zu deutliche Anzeichen dafür. Gewifs, man kann alles leicht über-
treiben : hier aber ist die Sprache der Thatsachen selbst eindring-
lich genug. Langer Aufenthalt in der Stadt wird immer in höherem
oder geringerem Grade von einer Entartung der Rasse begleitet.
Die grofsen Militärmächte des Kontinents wissen das genau und
man darf annehmen, dafs ihre Bemühungen zum Schutze der Land-
wirtschaft nur Mittel sind, die Zahl der ländlichen Rekruten zu
vermehren *).“
Wir stehen so vor einem Konflikt zwischen den Interessen der
industriellen, geistigen und künstlerischen Produktion, die die Ver-
einigung grofser Menschenmengen in den Städten verlangt, und
den Forderungen der Volksgcsundheit, die gegen solche Ansamm-
lungen Einspruch erheben.
Welche Lösung, oder besser gesagt, welche Lösungen dieses
Konfliktes wird die Zukunft bringen?
Die Entwicklungstendenzen, die sich jetzt schon geltend machen,
geben uns eine Vorahnung davon.
Wir haben gezeigt, wie sich überall die Gesundheitspflege in
den Städten verbessert ; die Vororte gewinnen an Ausdehnung und
ihre Bevölkerung wächst ; die Industrie wandert aufs Land ; und
der Sommeraufenthalt wird zur ständigen Gewohnheit.
Aber die Verstärkung dieser Tendenzen zur Erreichung eines
annähernd normalen Zustandes begreift eine Reihe von Veränderungen
der Arbcits- und Eigentumsverhältnisse in sich.
Sollen z. B. die Ferien für die Arbeiter nicht mehr blol's eine
seltene Ausnahme sein, dann dürfen auch die Industriearbeiter nicht
mehr durch die Tyrannei des Produktionsprozesses an eine rastlose
Thätigkeit gefesselt werden, die höchstens durch unfreiwillige Mufsc
unterbrochen wird.
Soll den städtischen Arbeitern das Wohnen auf dem Lande
ermöglicht werden, dann mufs ihr Wegzug durch eine durchgängige
*) Journal of the Statistical Society. 1893, p, 416.
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Die Rückkehr nach dem Lande. I09
Sozialisierung der Verkehrsmittel erleichtert werden. Diese wird
die Tarife hcrabsetzen, indem sie die Dampfkraft durch die Elek-
trizität ersetzt, und sie wird raschere Verbindungen herstellcn. Aber
vor allem mufs zu diesem Zwecke die Arbeitszeit auf dem Wege
der Gesetzgebung oder des Uebercinkommens so verkürzt werden,
dafs der Arbeiter ohne Uebermüdung den längeren Weg vom Ar-
beitsorte zur Wohnung zurücklegen kann.
Sollen die Industrieen übersiedeln und sich für die Regel
auf dem Lande niederlassen, so müssen die Transportkosten auf-
hören ein beträchtlicher Faktor der allgemeinen Herstellungskosten
zu sein.
Soll schliefclich die städtische Gesundheitspflege tiefgreifender
Verbesserungen unterzogen werden, dann werden die städtischenSelbst-
verwaltungen ihre Anstrengungen nach dieser Richtung noch ver-
doppeln müssen. Sie müssen den Einwohnern Licht, frische Luft
und den Ausblick auf Wiesen und Bäume verschaffen, sie müssen
geräumige Arbeiterstädte bauen, und breite Durchbrüche durch den
Wirrwarr der Gassen und Sackgassen vornehmen lassen. Sie müssen
in gröfsercr Menge Parks und Gärten anlegen, wie sie schon heute
zum Beispiel im Häusermeere Londons grünende und blühende
Inseln bilden.
In seinen „Principles of Economy" schlägt M a r s h a 1 1 eine Reihe
von Verbesserungen vor, die in grofsem Mafsstabc den jetzigen
Unzukömmlichkeiten des Stadtlebens begegnen könnten:
„Das Erste ist“, schreibt er, „dafs man unter allen Strafsen ge-
räumige Tunnels anlegt, in denen zahlreiche Rohre (pipes) und
Drähte nebeneinander angebracht und im Fall eines Schadens ohne
Störung des Gesamtbetriebes und ohne zu grofse Kosten repariert
werden könnten. So könnten motorische Kräfte und vielleicht auch
Wärme auf grofse Entfernungen vom Lande (in besonderen Fällen
von Kohlcnwerken) übertragen und überall hingeleitet werden, wo
man sie braucht. Weiches und Quellwasscr, vielleicht gar auch
Meerwasser und sauerstoflreiche Luft könnte man durch besondere
Röhren in jedes Haus leiten, während die „steam pipes“ zur Liefe-
rung von Wärme im Winter und von komprimierter Luft zur Ab-
kühlung im Sommer benutzt werden könnten. Oder noch besser,
die Wärme könnte durch eigenes zugeleitetes Gas mit grofser
Heizkraft geliefert werden ; während das Licht von anderem eigens
zu Beleuchtungszwecken hergcstelltem Gase oder durch Elektrizität
zu liefern wäre. Jedes Haus könnte mit der ganzen übrigen Stadt
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Emil Vandervclde,
I
durch elektrische Leitungen verbunden sein. Alle schädlichen
Dünste, die durch Heizung verursachten mit eingeschlossen,
könnten durch breite in Längsrichtung geführte Luftschächte ver-
jagt, im Vorbeistreichen durch starke Flammen gereinigt und durch
hohe Kamine nach höheren Luftschichten geleitet werden.“
Wenn einmal diese Verbesserungsvorschläge verwirklicht sind,
so wird wahrscheinlich das Wohnen in der Stadt nicht mehr mit
so grofsen Gefahren für die Gesundheit verbunden sein, vor allem
dann nicht, wenn es überdies noch durch häufige Ausflüge und
zeitweiligen Landaufenthalt unterbrochen wird.
Andererseits wird das Land nicht geringeren Aendcrungen unter-
worfen. Es bedeckt sich mit Wohnhäusern und Werkstätten, Obst-
kulturen und Ziergärten, Weideflächen und industrieartig betriebenen
Landwirtschaften. Es wird von Bahnen, Telegraphen- und Telephon-
leitungen durchzogen und von Rädern und Kraftfahrzeugen durch-
eilt. So gewinnt es mehr und mehr städtisches Ansehen.
Dank den Verkehrsmitteln und der steigenden Zahl der gegen-
seitigen Berührungspunkte wird die Welt nach Kingsleys Prophe-
zeiung Zeuge werden „einer vollständigen gegenseitigen Durch-
dringung von Stadt und Land , einer Fusion ihrer verschiedenen
Lebensgewohnheiten, einer Vereinigung der Vorzüge beider Teile,
wie kein Land der Erde sie jemals noch gesehen hat“
Und wahrhaftig! In der alten Zeit lebte die städtische Be-
völkerung, mit Handel und Gewerbe beschäftigt, mit ständischen
Privilegien ausgestattet und durch wirtschaftliche Schranken ge-
schützt, eng zusammengedrängt im Kreise der Schutzmauern. Die
Landbevölkerung dagegen kannte kaum einen anderen Erwerb als
die Landwirtschaft und das Dorfhandwerk, das sich ihr angliedert.
In politischer und sozialer Beziehung befand sie sich in einem
Zustande, über den die Städte schon längst hinaus waren. Haupt-
sächlich für den eigenen Verbrauch arbeitend, durch ihre Hörigkeit
und die Unablösbarkeit ihrer Lchenspflichten an die Scholle ge-
fesselt, lebte sie isoliert, auf sich selbst zurückgezogen, ohne jede
Verbindung mit der Aufsenwelt dahin.
Aber mit dem Fortschritt des Verkehrswesens ändert sich das
Bild : Die Grenzlinie zwischen städtischen und ländlichen Wesens
verliert an Schärfe. Bürger und Bauern werden, wenn nicht that-
sächlich so doch rechtlich, in wirtschaftlicher und politischer Be-
ziehung einander gleichgestellt. Die Stadtmauern sind niederge-
rissen und die Schlagbäume des Octroi beginnen zu fallen. Die
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Die Rückkehr nach dem Lande.
1 1 1
Beziehungen zwischen beiden Bevölkerungsschichten vermehren sich
und so ist es heute wahrscheinlich geworden, dafs die Städte der
Zukunft weniger Mittelpunkte der Ansiedlung sein werden, als eine
Anhäufung von Monumentalgebäuden, Orte der Geselligkeit,
Mittelpunkte des Geschäftslebens, des Unterrichts und der Unter-
haltung.
So wird sich mehr oder minder vollständig der Traum ver-
wirklichen, den Morris in seinen „News from nowhere“ träumt: „Mit
London war reiner Tisch gemacht worden. Mit dem Winkelwerk
ward aufgeräumt. St. Paul ist eine Ruine. Das Parlamentshaus
dient als Viehstall. Trafalgar Square ist ein grofser Obstgarten.
Kein Dampf der Schlote verdunkelt mehr den Himmel. Nimmer-
mehr führt die Themse in schmutzigen Wellen die Ausscheidungen
einer ungeheuren Massenmasse mit sich. Das flache Land ist mit
Landhäusern bedeckt; man trifft sich in der Stadt, aber man wohnt
auf dem Lande."
Allerdings gleicht das Land, von dem Morris träumt, und
das zweifellos auch wirklich das I^and der Zukunft ist, durchaus
nicht dem Lande der „guten alten Zeit“. Die es bewohnen, haben
nichts gemein mit den Bauern Labruyeres; sie haben sich in
der Stadt aufgehaltcn und bleiben mit ihr in ständiger Verbindung;
sie sind aufs Land zurückgekehrt, aber sie bringen die Vorteile
einer sozialen Umwälzung dahin, für deren Werden die städtische
Zentralisation Vorbedingung und entscheidender Faktor gewesen ist.
Anders konnte es nicht sein. Ehe der Sonnenaufgang kommt,
mufe die verführerische Stadt dem bethörten Lande seine Men-
schen nehmen.
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Ein Reformprogramm für die Wohnungs- und
Ansiedlungsfrage in Deutschland. ')
Von
Dr. K. v. MANGOLDT
in Dresden.
A. Vorbemerkungen.
i. Notwendigkeit einer allgemeinen und durchgreifenden grofsen
Wohnungs- und Ansiedlungsreform.
Eine durchgreifende Verbesserung der Wohnungs- und An-
siedlungsverhältnisse ist in Deutschland für grofse Massen der Be-
völkerung, sowohl in den wohlhabenden, wie in den ärmeren
Klassen, insbesondere aber in den letzteren, ein dringendes Be-
') Der „Verein Rcichsvohnuxigsgcsctz“ beabsichtigt in absehbarer Zeit auf
Grund seiner langwierigen Vorarbeiten das längst geplante umfassende Reform-
programm für die gesamte Wohnungs- und Ansiedlungsfrage aufzustcllen und sich
zu diesem Zwecke den Rat und die Mitarbeit der besten Sachkundigen zu erbitten.
Der Unterzeichnete ist beauftragt worden, als Unterlage für dieses ganze Vorgehen
einen vorläufigen Programmentwurf auszuarbeiten und zu veröffentlichen, und er
legt demgemäß» den nachfolgenden vorläufigen Entwurf vor. Dieser Entwurf, wenn-
schon im Aufträge des Vereins Reichswohnungsgesetz ausgearbeitet, stellt zunächst
nur eine Privatarbeit des Unterzeichneten dar, zu der die Organe des Vereins noch
weiter keine Stellung genommen haben. Zum Schluls erlaubt sich der Unterzeichnete
noch besonders auf die seines Wissens in dem nachfolgenden Entwürfe zum ersten
Male systematisch durchgeführte, durchaus notwendige, grundsätzliche Unterscheidung
zwischen „gewerblicher“ und „landwirtschaftlicher“ Wohnungs- und Ansiedlungs-
reform, sowie auf die in dem Abschnitte über Bodenpolitik enthaltenen Vorschläge
über „Stadtverjüngung“ aufmerksam zu machen.
Dr. K. v. Mangoldt,
Geschäftsführer des „Vereins Rcichs-Wohnungsgesetz“. (E.V.)
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Ein Reformprogramm für die Wohnungs- und Ansicdlungsfrage in Deutschland. f j 3
dürfnLs. Dieses Bedürfnis besteht nicht nur für die städtische,
sondern auch für die auf dem Lande lebende Bevölkerung, und
nicht nur für die in Industrie, Handel und verwandten Berufen, son-
dern auch für die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und ver-
wandten Berufszweigen thätigen Klassen.
Auch handelt es sich nicht blofs um eine Verbesserung nur
der Wohnungen, sondern vielfach auch um eine Verbesserung der
ganzen Ansiedlungsweise.
Die bisherigen zahlreichen Reformen sind als Vorarbeiten und
Anfänge im kleinen dankbar zu begrüfeen, aber sie genügen dem
Umfange und dem Grade der Uebclstände gegenüber in keiner
Weise. Es bedarf vielmehr einer ganz anders einheitlichen, um-
fassenden und durchgreifenden Gesamtreform grofsen Stils. Diese
Gesamtreform hat alle wesentlichen, überhaupt auf dem Gebiete
der Wohnungs- und Ansiedlungspolitik liegenden Ursachen der Mifs-
stände zu treffen und zwar nicht nur an diesem oder jenem ein-
zelnen Orte, sondern überall. Sie hat somit, entsprechend der
grofsen Mannigfaltigkeit der Mifsstände und ihrer Ursachen, eine
grofse Fülle verschiedener Mafsregeln anzuwenden, und sie stellt
sich nach alledem dar als ein grofses, aus sehr verschiedenen
Stücken bestehendes, aber innerlich zusammenhängendes Ganzes.
II. Zusammenwirken aller Faktoren unter oberster Führung und Leitung
des Reiches.
Die Wohnungs- und Ansiedlungsreform ist zustande zu bringen
durch das Zusammenwirken des Reiches, der Einzelstaaten, der Ge-
meinden, Kreise, Provinzen u. dgl., der kirchlichen Körperschaften,
der organisierten Selbsthilfe und Gemeinnützigkeit und aller sonstigen
geeigneten gesellschaftlichen und individuellen Kräfte, die ehrlich
an diesem grofsen Werke mithelfen wollen. Dabei ist es Aufgabe
des Reiches als der obersten und umfassendsten Stelle, nicht nur
eine erhebliche direkte Reformthätigkeit zu entfalten, sondern vor
allem die oberste Führung und Leitung des ganzen Reformwerkes
zu übernehmen und in Verfolg dieser Thätigkeit namentlich dafür
zu sorgen: erstens dafs überall eingegriffen wird, wo es notwendig
ist; zweitens dafs alle notwendigen Abhilfsmafsregeln überall er-
griffen werden ; drittens dafs dementsprechend eine systematische
Verteilung der Aufgaben auf die verschiedenen Kräfte stattfindet.
Zur Durchführung dieser Aufgabe des Reiches ist zunächst eine
Reichskommission einzuberufen zur Ausgestaltung eines ein-
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. S
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1 14 K. v. Mangoldt,
heitlichen und umfassenden Reformprogramms und zur Verteilung
der Aufgaben auf die verschiedenen Stellen.
III. Gewerbliche und landwirtschaftliche Wohnungs- und Ansiedlungsreform.
Die Wohnungs- und Ansiedlungsreform wird verschiedene Ziele
zu verfolgen und verschiedene Mittel anzuwenden haben, je nach-
dem ob es sich um die im Hauptberufe in Land- und Forstwirt-
schaft, Gärtnerei und Tierzucht, oder ob es sich um die im Haupt-
berufe in Industrie und Bergbau, Hütten- und Bauwesen, Handel
und Verkehr, Beamtenstellungen und freien Berufen thätige Be-
völkerung nebst ihren Angehörigen u. s. w. handelt, wobei dann
jeder dieser beiden Gruppen noch gewisse andere, innerlich ihr zu-
gehörende Bevölkerungsteile zuzufugen sind. Und dieser inneren,
aus der Natur der Sache entpringenden Verschiedenheit wird wenig-
stens bis zu einem gewissen Grade eine äufsere Verschiedenheit in
den zu ergreifenden Mal'srcgeln und den ausfuhrenden Organen zu
entsprechen haben. Es sind daher in der Wohnungs- und Ansied-
lungsreform zwei grofse Gruppen von Mafsregeln zu unterscheiden
und praktisch voneinander zu trennen , welche man nach ihren
Hauptobjekten passend die gewerbliche und die landwirt-
schaftliche Wohnungs- und Ansiedlungsreform benennt.
Diese Unterscheidung schliefst indes eine teilweise Gemeinsamkeit
und Vereinigung beider Reformgruppen miteinander nicht aus wie
z. B. die Gemeinsamkeit verschiedener Organe, die Uebernahme der
Versorgung der Angehörigen der einen Reformgruppe durch die
andere Reformgruppe in zahlreichen Einzelfallen oder allgemein in
gewissen Beziehungen. Insbesondere wird die gewerbliche Woh-
nungs- und Ansiedlungsreform nicht selten für die landwirtschaft-
liche einzutreten haben.
IV. Wohnung«- und Ansiedlungsreform und Agrarreform.
Die Durchführung der gewerblichen Wohnungs- und Ansied-
lungsreform erfordert absolut und relativ von Staat und Gesell-
schaft einen sehr viel gröfseren Aufwand von Arbeit und Kosten
als die der landwirtschaftlichen, sofern, diese nicht mit weiter-
gehenden landwirtschaftlichen Reformmafsregeln verbunden wird.
Eine durchgreifende gewerbliche Wohnungs- und Ansiedlungsreform
würde ferner die Anziehungskraft des gewerblichen, städtischen und
ähnlichen Lebens gegenüber dem landwirtschaftlichen u. dgl. Leben
und damit die Landflucht voraussichtlich sehr viel mehr verstärken,
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F.in Rcformprogramni für die Wohnungs- und Ansicdlungsfragc in Deutschland. j j ij
als diesen Erscheinungen die landwirtschaftliche Wohnungs- und
Ansiedlungsreform für sich allein, ohne weitere agrarische Rcform-
mafsregein, Einhalt zu thun vermöchte. Endlich wird aus inneren,
in der Natur der Sache liegenden Gründen die landwirtschaftliche
Wohnungs- und Ansiedlungsreform praktisch am besten als Stück
einer gröfseren, umfassenden Agrarreform, insbesondere einer inneren
Kolonisation, vorgenommen. Diese Gründe der Gerechtigkeit, der
volkswirtschaftlichen und sozialen Wohlfahrt und der praktischen
Durchführbarkeit der Wohnungs- und Ansiedlungsreform auch in
der Landwirtschaft und ihr nahestehenden Berufen legen es den
Anhängern einer grofsen Wohnungs- und Ansiedlungreform nahe,
nicht nur für die landwirtschaftliche Wohnungs- und Ansiedlungs-
reform rein an sich, sondern darüber hinaus für eine Agrarreform
überhaupt einzutreten.
Auf der anderen Seite ist die Durchführung der gewerblichen
Wohnungs- und Ansiedlungsreform jedenfalls nicht abhängig zn
machen von der gleichzeitigen oder vorgängigen Durchführung
einer grofsen Agrarreform oder auch nur einer selbständigen land-
wirtschaftlichen Wohnungs- und Ansiedlungsreform.
V. Wohnfrage und Lohnfrage.
Die Verbesserung der Wohnungs- und Ansiedlungsverhältnisse
darf nicht von der Wohnungs- und Ansiedlungsreform allein er-
wartet werden, sondern es bedarf dazu aufserdem vielfach einer
allgemeinen Hebung der in Frage kommenden Schichten, insbe-
sondere für weite Kreise von ihnen einer Verbesserung ihres Ein-
kommens. Aber die Wohnungs- und Ansiedlungsreform hat die
grofse Aufgabe, eine Reihe wichtiger Ursachen der Mifsstände, die
von der allgemeinen Hebung der betr. Schichten nur ganz indirekt
und ungenügend getroffen werden, zu beseitigen und überhaupt die
direkte und spezielle Bekämpfung dieser Ursachen in die Wege
zu leiten. Auf diese Weise wird sie auf jeden Pall zu wesentlich
besseren Wohnungs- und Ansiedlungsverhältnissen führen, als ohne
sie erreichbar sind, und sie bildet dergestalt eine notwendige Er-
gänzung der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialpolitik.
VI. Wohnungs- und Ansiedlungsreform und Bevölkerungsvermehrung.
Die Vorschläge dieses Reformprogramms sind gemacht unter
der Voraussetzung, dafs die Bevölkerung Deutschlands auf dem
Gebiete der gewerblichen Wohnungs- und Ansiedlungsreform nach
8*
I
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Ii6
K. v. M a n g o 1 d t
wie vor schnell wächst, während auf dem Gebiete der landwirt-
schaftlichen Wohnungs- und Ansiedlungsreform kein oder nur ein
langsames Wachstum stattfindet. Sollten diese Voraussetzungen
mit der Zeit hinfällig werden, so müfste auch die Wohnungs- und
Ansiedlungsrcform sich vermutlich wesentlich ändern.
VII. Entschädigungsfonds.
Ein durchgreifende Wohnungs- und Ansiedlungsreform würde
vermutlich in einer Anzahl von Fällen, namentlich in bestimmten
Bevölkerungskreisen, bis zu einem gewissen Grade auch Schädi-
gungen gegenüber dem jetzigen Zustande herbeiführen. Wenn nun
auch derartige Opfer als unvenneidlich im öffentlichen Interesse
hingenommen werden müssen, so ist es doch wünschenswert, be-
sondere Härten dabei nach Möglichkeit zu vermeiden. Es wäre
daher zu erwägen, ob nicht ein mäfsiger Bruchteil der sich aus
gewissen Abteilungen der Wohnungs- und Ansiedlungsreform (Zu-
wachssteuer, Bodenpolitik) ergebenden Einnahmen zur Bildung eines
Fonds verwendet werden sollte, aus dem in besonders schweren
Fällen ganze oder teilweise Vergütungen erfolgen, jedoch so, dafs
die Betroffenen keinerlei Rechtsanspruch auf derartige Ver-
gütungen haben.
B. Die gewerbliche Wohnungs- und Ansiedlungsreform.
Die gewerbliche Wohnungs- und Ansiedlungsreform erstreckt
sich grundsätzlich auf die im Hauptberufe in Industrie und Bergbau,
Hütten- und Bauwesen, Handel und Verkehr, Beamtenstellungen und
freien Berufen thätige Bevölkerung nebst ihren Angehörigen u. s. w.,
sowie auf alle diesem Teile der Wohnungs- und Ansiedlungsreform
sonst noch innerlich zugehörigen oder ihm besonders zugewiesenen
Bevölkerungsteile und -Gruppen.
Die gewerbliche Wohnungsreform hat folgende Punkte zu ver-
wirklichen.
i. Der eigentliche Inhalt der gewerblichen Wohnungs- und
Ansiedlungsreform.
I. Wohnungsinspektion u. s. w.
Allgemeine Einführung der Wohnungsinspektion für die kleineren
Wohnungen und der Zonenenteignung für bebautes Gelände (letztere
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Ein Reformprogramm für die Wohnungs- und Ansiedlungsfrage in Deutschland. ny
gemeint als Mafsregel zur Beseitigung und Ersetzung ganzer unge-
sunder Häuserblocks, Strafsen und Quartiere).
Zweck: — allmähliche Beseitigung der allerschlechtesten Woh-
nungen und Viertel, Verbesserung der übrigen, Hebung des ganzen
VVohnungsstandes, Schaffung einer grofsen Zahl dauernder Träger
der Wohnungs- und Ansiedlungsreform in den Organen der Woh-
nungsinspektion und Nötigung für Publikum und Behörden, sich
dauernd mit der Wohnungs- und Ansiedlungsfragc zu beschäftigen.
II. Bauordnungen u. s. w.
Allgemeine Revision der Bauordnungen und Bebauungspläne.
Zweck: — in das bestehende System der Bauordnungen und
Bebauungspläne weit stärker als hisher einige neuere Gesichtspunkte
einzufügen , insbesondere : Bekämpfung des Mietkasernensystems,
Herbeiführung einer weiträumigen Bebauung, Begünstigung des
Baues von Kleinhäusern durch erleichterte Bauvorschriften gegen-
über den gröfseren Häusern und durch das alles indirekt auch Er-
leichterung der Erstellung kleiner Wohnungen; zweckmäßige Ab-
stufung der Anforderungen an die Strafsen (Wohnstraßen, Verkehrs-
strafsen), mäßigender Einfluß auf die Bodenpreise und überhaupt
Mitwirkung bei der Lösung der Bodenfräge, endlich namentlich
Vorbereitung dezentralisierter gartenmäfsiger Ansiedlung in den
Außenbezirken der kleinen, in der Umgebung der grofsen Orte.
III. Baupolitik.
Umfassende Förderung der Erstellung ') gesunder, guter und
billiger Wohnungen durch öffentliches Eingreifen sowie durch ge-
nossenschaftliche und gemeinnützige Bestrebungen und zu diesem
Zweck insbesondere:
1. Gründung von öffentlichen Wohnungsbanken, je
etwa für den Umfang einer Provinz, als Zentralstellen der Geld-
gewährung, Beratung und Beeinflussung für die sozialpolitische
Regelung der Wohnungserstellung.
Eventuell als Vorstufe dieser Banken: Entwicklung der Landes-
versicherungsanstalten in dieser Richtung.
2. Besondere öffentliche, insbesondere staatliche Einrichtungen
zur Gewährung des letzten notwendigen, von dritter Seite
') Unter „Erstellung“, „erstellen" wird nicht nur der einmalige Vorgang der
Produktion verstanden, sondern auch die dauernde Zuführung der neu produzierten
Wohnungen an den ursprünglich gewollten Zweck.
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1 18
K. v. Mangoldt,
zu gewährenden Teiles des Baugeldes bez. der Hypotheken
für die zur Durchführung der Reform bestimmten Bauten.
3. Errichtung öffentlicher, insbesondere kommunaler Lo-
gierhäuser zur Verbesserung des Schlafstellenwesens.
4. Umfassende Entwicklung und Förderung der Baugenossen-
schaften und gemeinnützigen Baugesellschaften durch
alle hierbei irgendwie in Betracht kommenden, insbesondere auch
die öffentlichen Stellen und mit Hilfe öffentlicher Mittel.
Zweck: — die grofsen Mängel, welche die gegenwärtige, auf
der Grundlage des jetzigen privaten Realkreditwesens, des privaten
Bauunternehmertums und des privaten Hausbesitzes ruhende Neu-
erstellung von Wohnungen zeigt, zu beseitigen, ein reichliches An-
gebot von dauernd billigen und guten Wohnungen zu erzielen und
auch auf diesem Gebiete die Grundlagen für eine dezentralisierte
Ansiedlung der Bevölkerung zu schaffen.
IV. Bodenpolitik.
Lösung der Bodenfrage durch eine planmäfsige und tief-
greifende Bodenpolitik von Reich, Einzelstaaten, Ge-
meinden u. s. w., welche ausgeht statt von den Interessen der
Bodeneigentümer von denen der anzusiedelnden Bevölkerung, und
welche verfahrt nach dem Grundsätze weitgehender Behandlung der
Stadterweitcrung als eines öffentlichen Geschäftes und weiter nach
dem Grundsätze der Stadtverjüngung. (Kleine Dezentralisation.)
Dabei wird unter „Stadt Verjüngung" (oder „kleiner De-
zentralisation“) verstanden die durch die öffentliche Bodenpolitik
teils direkt erfolgende, teils wenigstens vorbereitete, regulierte und
indirekt herbeigeführte weitgehende Heranziehung der Umgebung
oder der äufseren Bezirke der betr. Orte zur Unterbringung nicht
nur der neu zuwachsenden, sondern auch der schon vorhandenen
Bevölkerung dieser Orte und ihrer Arbeitsstätten, und zwar zu einer
Unterbringung, welche durchaus gartenmäfsig gestaltet ist, so dafs
auf jeden Haushalt durchschnittlich eine Mindestbodenfläche entfällt,
welcher aufser zur Wohnung zu einem kleinen für den eigenen Be-
darf hinreichenden Nutzgarten genügt.
Im einzelnen hat diese Bodenpolitik insbesondere durchzu-
führen :
1. Kommunale Bodenpolitik, bestehend in deinHinwirken
auf ein reichliches Angebot an Baustellen und auf billige Bodenpreise
(s. hier unter Nr. 2) ; ferner in geeigneter Gestaltung der Bauordnungen
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Ein Rcfortnprogramm fiir die Wohnungs- und Ansiedlungsfrage in Deutschland.
19
und Bebauungspläne, möglichster Festhaltung des vorhandenen kom-
munalen Grundbesitzes und möglichst umfangreichem Erwerb neuen
billigen Bodens sowie Verwendung des kommunalen Grundbesitzes
zur Förderung billiger Bodenpreise und Mieten und gartenmäfsiger
Ansiedlung; Hergabe des kommunalen Bodens nach Möglichkeit in
Erbbaurecht. U. a. m.
2. Beschaffung eines reichlicheren und billigeren An-
gebotes an Baustellen durch die private Aufschliefs-
ungsthätigkeit und zu diesem Ende Beseitigung derjenigen
Hindernisse in Gesetzgebung und Ver-waltung, die jetzt eine wirk-
same Konkurrenz der Baustellenverkäufer untereinander nicht recht
aufkommen lassen. (Deshalb gröfsere Strafsenbaufreiheit : Ein-
schränkung des kommunalen Genehmigungsrechtes für Strafsenneu-
bauten; besonderes Vorgehen gegen die „Zwangsstücke“, Erlaubnis
auch an nur provisorisch hergestellten Strafsen zu bauen u. dgl. m.)
3. Stadtverjüngung,
a) Erlafs solcher Bauordnungs- und Bebauungsvorschriften für
die Umgebung bez. die äufseren Bezirke der der Stadtverjüngung
bedürfenden Orte, welche daselbst eine gartenmäfeige Besiedlung
in dem oben dargelegten Sinne sichern.
b) Im allgemeinen Festhaltung des vorhandenen fiskalischen
Grundbesitzes (namentlich auch der Wälder) und Ueberfiihrung
weiter Gebiete in der Umgebung oder in den äufseren Bezirken
der der Stadtverjüngung bedürfenden Orte zu billigen Preisen in die
Hand des Staates.
c) Planmäfsige Hinausziehung der gewerblichen und dergleichen
Unternehmungen , sowie der eine solche Verlegung vertragenden
Staats- und ähnlichen Anstalten aus den der Stadtverjüngung be-
dürfenden Orten heraus in deren Umgebung oder äufsere Bezirke,
nachdem hier die eben unter a und b angeführten Mafsrcgeln ge-
troffen worden sind.
d) Aufschlicfsung des staatlichen Besitzes in der Umgebung
oder den äufseren Bezirken der der Stadtverjüngung bedürfenden
Orte durch den Staat selber und Darbietung dieses Besitzes zu
billigen Preisen für die Hinausverlegung der Industrie u. dgl. und
für die Herbeiführung gartenmäfsiger Besiedlung in dem hier unter
IV. eingangs dargelegten Sinne.
Hergabe des lindes, soweit möglich, in Erbbaurecht oder einer
entsprechenden Rechtsform.
e) Einsetzung von besonderen Staatskommissaren als Organen
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K. v. M a n g o 1 d t ,
zur Entwicklung der Umgebung bez. der äufseren Bezirke der der
Stadtverjüngung bedürfenden Orte in dem eben dargelegtcn Sinne und
dementsprechend zur Erledigung der vorstehend unter a — d ange-
führten Aufgaben. Dabei findet in gröfseren Orten der Amtsbezirk
der Staatskommissare bezüglich der Bebauungsbestimmungen und
der I^mderwerbungen an der städtischen Gemarkung seine Grenze.
f) Zur Unterstützung der Stadtverjüngung möglichste Aus-
dehnung der städtischen Vorteile der der Stadtverjüngung bedürfenden
Orte; bessere Armenpflege; Wohlthätigkeit; Gemeinnützigkeit; Vor-
träge; Bibliotheken; Vergnügungen u. s. w. auch auf ihre Umgebung.
(Kulturausgleichung.)
4. Staatliche Einwirkung auf die Gemeinden zwecks
Förderung der kommunalen und der staatlichen Bodenpolitik.
5. Reform des Enteignungsrechts, vor allem Einführung des
Enteignungsrechtes für die Beschaffung von Baugelände für Wohn-
stätten und gewerbliche Unternehmungen; Einführung der Um-
legung und Zonenenteignung, letztere für bebautes wie
unbebautes Gelände.
6. Ausbildung des Erbbaurechts.
7. Einführung einer starken Wert zu wachssteuer für den
im Werte steigenden Grundbesitz und der Besteuerung des
städtischen Haus- und Grundbesitzes nach dem gemeinen
Werte statt nach dem Ertrage.
8. Einige weitere Mafsregeln verschiedenen Cha-
rakters z. B. bessere Regelung des Taxationswesens beim Grund-
besitz, richtige Verwendung des freiwerdenden Geländes bei Festungs-
städten, die entfestigt werden u. dgl. m.
Zweck der ganzen Bodenpolitik : — Die tiefgreifenden Schä-
digungen nach Möglichkeit zu beseitigen und für die Zukunft zu
vermeiden , welche das gegenwärtige privatrechtliche und privat-
kapitalistische System der Stadterweiterung und seine Hand-
habung ausüben auf die Wohnungs- und Ansiedlungsverhältnisse,
die Gesundheit, die Sittlichkeit, die moralischen Verhältnisse, die
Einkommensverteilung, die Staats- und Gemeindefinanzen u. dgl. m.,
und statt dessen herbeizuführen eine durchgreifende Verbesserung
der Wohnungs- und Ansiedlungsverhältnisse, eine gerechtere Ver-
teilung der Wertsteigerung des Grund und Bodens in anwachsenden
Orten u. dgl. m.
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Ein Reformprogramm für die Wohnungs- und Ansiedlungsfrage in Deutschland. j 2 1
V. Lokal- und Vorortverkehr.
Umfassende Entwicklung und Förderung eines ausgedehnten,
häufigen, schnellen und billigen Lokal- und Vorort-
verkehrs, insbesondere durch alle hierfür in Betracht kommenden
öffentlichen Stellen und zwar da, wo nötig, auch nach dem Grund-
sätze, dafs das Verkehrsmittel dem Verkehr voranzugehen habe.
Jedoch alle Entwicklung und Förderung von Lokal- und Vorort-
verkehr erst, nachdem durch eine durchgreifende Bauordnungs- und
Bodenpolitik in den betr. Orten und Gegenden gegen die sonst im
Gefolge gesteigerten Verkehrs leicht eintretenden schweren Mife-
stände auf dem Gebiete der Bodenfrage Vorkehrung getroffen
worden ist.
Soweit die Rücksichtnahme auf Güte und Leistungsfähigkeit
des Betriebes es gestatten, möglichst weitgehende U eber-
nah me des Lokal- und Vorortverkehrs in öffentlichen Besitz,
oder wenigstens starke finanzielle und anderweitige Einflufsnahme
der öffentlichen Körperschaften auf ihn.
Zweck — die Dezentralisation möglichst zu fördern und da-
durch einerseits zur Entstehung mustergültiger Viertel in den
Aufsenorten bez. Aufsenteilen unserer städtischen Niederlassungen
. und andererseits zur Entlastung und Verbesserung der Verhältnisse
in den Innenorten bez. Innenteilen beizutragen ; endlich der in
gröfseren Orten lebenden Bevölkerung die Vorteile des Landes,
der in kleineren Orten lebenden die der Stadt möglichst zu ver-
mitteln.
Vl. Hygienische Einrichtungen; Parks und Spielplätze.
Schaffung der öffentlichen hygienischen Einrichtungen , wie
Wasserleitung und Kanalisation, wo sie notwendig sind und noch
fehlen; und reichliche Schaffung von öffentlichen Parks und nament-
lich von öffentlichen Spiel- und Tummelplätzen.
VII. Wohnungsnachweis und Auskunftserteilung.
Oeffentlicher Wohnungsnachwcis und Erteilung von Auskunft
in Miet- und Wohnungsangelegenheiten durch kommunale Wohnungs-
ämter nach Stuttgarter Muster.
VIII. Mietrecht, Mietprozefs und Zwangsvollstreckung.
Reform des Mietrechtes, des Mietprozesses und der Zwangs-
vollstreckung und zu diesem Zweck insbesondere Umwandlung
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122
K. v. M a n g o 1 d t ,
einer Anzahl dispositiver Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs
in zwingende.
Zweck — den Mieter vor Unbilligkeiten des Mietvertrags zu
schützen, der Wohnung und ihrem Inhaber unter allen Umständen
ein solches Mafs von Hausrat u. dgl. zu sichern, dafs die Wohnung
überhaupt als bewohnbar gelten kann, endlich den Mietprozefs zum
Vorteile sowohl des Hausbesitzers wie des Mieters zu vereinfachen,
zu beschleunigen und zu verbilligen.
IX. Wissenschaftliche Aufgaben.
Vertiefung und Verbreiterung der wissenschaftlichen Erkenntnis
sowohl der Wohnungs- und Ansiedlungsverhältnisse selber, wie
namentlich der sie bedingenden Ursachen und Kräfte (wie z. B.
des gegenwärtigen Systems der Stadterweiterung, der Thätigkeit
des Baugewerbes und der dabei mafsgebenden Einflüsse u. dgl. m.),
sowie der geeigneten Abhilfsmittel gegen die Mifsstände.
Andauernde systematische wissenschaftliche Verfolgung, Zu-
sammenstellung und Veröffentlichung des Standes und der Ver-
änderung der wichtigsten dieser Dinge.
X. Erziehung der Bevölkerung.
Erziehung der Bevölkerung zur richtigen Wertschätzung einer
guten Wohnung und zur richtigen Verwendung, Pflege und Be-
handlung der Wohnungen und Grundstücke.
Zu diesem Zweck insbesondere:
1. Wohnungsinspektion (s. oben unter I.) und Förderung der
Baugenossenschaften (siehe oben unter 111.); ferner entsprechende
Mafsregcln der öffentlichen Baupolitik (siehe oben III.); Anlage von
Schrebergärten und ähnliche Mafsregeln.
2. Erziehliche und belehrende Einwirkungen (mittels persön-
lichen Verkehrs, Vorträge, Presse) durch gemeinnützig gesinnte
Einzelne, Selbsthilfe — , und gemeinnützige Vereinigungen, Wohnungs-
reformvereine, die Organe der Arbeiterversicherung, der öffentlichen
Verwaltung u. dgl. m.
3. Da , wo gartenmäfsige Verhältnisse in Betracht kommen,
Anleitung zum Gartenbau u. dgl.
XI. Verschiedenes.
Endlich gehören zur gewerblichen Wohnungs- und Ansiedlungs-
reform einige Mafsregeln verschiedenen Charakters, von denen die
folgenden besonders aufgeführt seien :
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Ein Reformprogramm für die Wohnungs- und Ansicdlungsfrage in Deutschland. j 23
a) Einwirkungen zwecks Verbreitung der praktischsten und
besten Baumaterialien und zwecks technisch und künst-
lerisch richtiger Ausgestaltung der Häuser- undWoh-
n u n g e n , vielleicht am besten erfolgend durch die öffentlichen
VVohnungsbanken und die Baugenossenschaften und gemeinnützigen
Baugesellschaften (s. oben unter III.).
b) Entwicklung des Baugenossenschaftsrechts, unter
anderem Erklärung eines kleinen Betrages an Baugenossenschafts-
anteilen für unpfandbar.
c) Bekämpfung des Bauschwindels als einer Hauptursache
der technischen Unsolidität der Häuser und Wohnungen und unge-
sunder Bodenpreise.
XII. Ergänzung.
Anregung und Betreibung aller sonst noch etwa in Betracht
kommenden Reformen und dadurch Ergänzung und Vervollstän-
digung der vorstehend .unter I — XI angeführten Mafsregeln durch
alle überhaupt zur Herbeiführung der Wohnungs- und Ansiedlungs-
reform berufenen Kräfte, insbesondere jedoch durch die im nach-
stehenden Abschnitte besonders aufgeführten Organe.
2. Organe zur Durchführung der gewerblichen Wohnungs-
und Ansiedlungsreform.
Als Organe zur Durchführung der gewerblichen Wohnungs- und
Ansiedlungsreform haben alle bestehenden berufenen Kräfte und
Stellen überhaupt zu wirken, also namentlich ein grofser Teil der
Organe der inneren Staatsverwaltung und der Konimunalverwaltung,
zahlreiche Organe der Selbsthilfe und Gemeinnützigkeit, wie z. B.
die Baugenossenschaften und die gemeinnützigen Baugesellschaften,
viele Einzelpersonen u. dgl. m. Aufser diesen bestehenden Kräften
sind jedoch eine Reihe Organe teils ganz neu zu schaffen, teils
nach vorhandenen Vorbildern zu vermehren und auszudehnen. Es
sind dies namentlich die nachstehend unter I. und II. angeführten
Organe. Uebrigens werden diese Organe zum grofsen Teil aufser
der gewerblichen Wohnungs- und Ansiedlungsreform auch der
landwirtschaftlichen zu dienen haben, besonders dann, wenn diese
letztere selbständig und nicht als Stück einer grofsen Agrarreform
durchgeführt wird.
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124
K. v. M a n g o 1 d t ,
I. Organe der staatlichen und kommunalen Verwaltung.
1. Ein Reichs Wohnungsamt, eventuell durch Zusammen-
fassung der bereits jetzt in dieser Richtung vorhandenen Ansätze,
nämlich der Abteilung für YVohnungshygiene beim Reichsgesund-
heitsratc, der Untersuchungen der YVohnungsverhältnisse durch das
ncugeschaffene Kaiserliche Sozialstatistische Amt, der Abteilung für
Wohnungswesen im Reichsamte des Innern.
2. Besondere einzelstaatliche Ministcrialabteilungen als Landes-
zentralstellen für das Wohnungs- und Ansiedlungswesen,
namentlich mit der Aufgabe, die ganze Reform zu beleben und zu
betreiben, und in verschiedenen Richtungen als Oberbehörde für sie
zu dienen.
Ferner Durchsetzung der inneren Verwaltung in ihren
verschiedenen Stufen (insbes. auch der Verwaltung der Domänen und
Forsten) mit Beamten, denen die Förderung der Wohnungs- und
Ansiedlungsreform als besondere Aufgabe gestellt ist, und die
hierauf besonders eingearbeitet sind. Besondere Thätigkeit der
Kreisärzte und Gesundheitskommissionen in dieser Richtung.
3. V\' o h n u n g s i n s p e k t o r e n , Wo h n u n g s k o m m i ssi o n e n
u. dgl. zur Durchführung der Wohnungsinspektion.
4. Kommunale Wohnungsämter und zwar mit folgenden
Aufgaben :
a) W?ohnungsinspektion,
b) Wohnungsvermittlung,
c) Auskunfterteilung in Miet- und Wohnungsangelegenheiten.
d) Wissenschaftliche Bearbeitung der die Wohnungs- und An-
siedlungsverhältnisse betr. Fragen, (da, wo ein statistisches Amt
vorhanden ist, unter besonderer Beziehung zu diesem) und Thätig-
keit als Zentralstelle der kommunalen Wohnungs- und Ansiedlungs-
reform.
5. O e f f e n 1 1 i c h e W o h n u n g s b a n k e n je etwa für den Um-
fang einer Provinz, als Zentralstellen der Geldgewährung, Beratung
und Beeinflussung für die sozialpolitische Regelung der Wohnungs-
erstellung.
Eventuell als Vorstufen dieser Banken : Entwicklung der Landes-
Versicherungsanstalten in dieser Richtung.
6. Staatskommissare zur Durchführung der Stadtver-
jüngung (s. oben unter „Bodenpolitik“).
7 . Mietschiedsgerichte.
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Ein Kcformprogramni für die Wohnungs- und Ansiedlungsfragc in Deutschland. 125
II. Organe der Selbsthilfe und Gemeinnützigkeit.
Vorbemerkung: Im Nachfolgenden sind die zur Abhilfe
gegenüber den Mifsständen auf dem Arbeitsfelde der gewerblichen
Wohnungs- und Ansiedlungsreform berufenen Organe der Selbst-
hilfe und der Gemeinnützigkeit nicht entfernt erschöpft. Es soll
vielmehr nur eine Aufzählung der wichtigsten neu zu schaffenden
oder durch neue Angliederung zu vermehrenden Organe dieser Art
gegeben werden.
1. Baugenossenschaften, gemeinnützige Baugesell-
schaften u. dgl. nicht nur zur Mitwirkung bei der sozialpolitischen
Regelung der Wohnungserstellung, sondern auch als Muster, Vorbilder
und Bundesgenossen bei der Durchführung eines grofsen Teils der
sonstigen Mafsregcln der Wohnungs- und Ansiedlungsreform, insbes.
auf bautechnisehem und künstlerischem Gebiete und bei der Er-
ziehung der Bevölkerung.
2. Nach dem Muster des „Rheinischen Vereins zur Förderung
des Arbciterwohnungswesens" und unter starker Anteilnahme der
Behörden freie Vereinigungen der in derWohnungs- und An-
siedlungsreform Thätigen und sonstiger Interessenten für gröfsere
Bezirke (etwa Provinzen, in kleineren Bundesstaaten das Gebiet
eines oder mehrerer Staaten) zur Förderung des gesamten Wohnungs-
und Ansiedlungswesens durch theoretische und praktische Thätigkeit.
3. Oertliche Vereine zur Betreibung der ganzen Wohnungs-
und Ansiedlungsreform , insbes. nach der agitatorischen und nach
der lokalen Seite hin.
4. Ein Zentral verein für Wohnungs- und Ansiedlungsreform :
Uebernahme dieser Thätigkeit durch den „Verein Reichs- Wohnungs-
gesetz".
5. In Zwischenräumen von mehreren Jahren jeweils ein all-
gemeiner deutscher Wohnungskongrefs.
6. Eine vermehrte Zahl von Einzelpersonen als Träger der
Wohnungs- und Ansicdlnngsreforni, insbes. aus den Ständen, denen
ihr Beruf die Förderung der Wohnungs- und Ansiedlungsrcform
besonders nahe legt, wie Geistliche, Arbeitgeber u. dgl.
C. Die landwirtschaftliche Wohnungs- und Ansiedlungsreform.
Die landwirtschaftliche Wohnungs- und Ansiedlungsreform er-
streckt sich grundsätzlich auf die im Hauptberufe in [.and- und
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126 K. v. Mangold t, F.in Reformprogramm für die Wohnungsfrage etc.
Forstwirtschaft, Gärtnerei und Tierzucht thätige Bevölkerung nebst
ihren Angehörigen u. s. w., sowie auf alle diesem Teil der Wohnungs-
und Ansiedlungsreform etwa sonst noch innerlich zugehörigen oder
ihm besonders zugewiesenen Bevölkerungsgruppen und -teile. Sie
ist in erster Linie zu erstreben als Stück einer grofsen Agrarreform.
In Ermangelung einer solchen ist indes eine selbständige landwirt-
schaftliche Wohnungs- und Ansiedlungsreform durchzuführen mit
einer Reihe verschiedener Malsregeln, von denen nur ganz kurz die
folgenden genannt seien:
1. Wohnungsinspektion.
2. Allgemeine Revision der Bauordnungen und Bebauungspläne
namentlich unter hygienischen Gesichtspunkten.
3. Förderung der Erstellung besserer Wohnungen durch die
öffentlichen Wohnungsbanken der gewerblichen Wohnungs- und
Ansiedlungsreform oder durch entsprechende landwirtschaftliche
Einrichtungen, namentlich mittels weitgehender Kreditgewährung.
In diesem Zusammenhänge Bereitstellung besonderer öffentlicher
Mittel für die Gewährung des letzten notwendigen Teiles des Bau-
geldes bez. der Hypotheken, in geeigneten Fällen.
Event. Entwicklung der Landesvcrsicherungsanstalten in der
Richtung des vorstehenden Absatzes hier unter 3.
4. Verbesserung der öffentlichen hygienischen Einrichtungen.
5. Einwirkungen behufs Verbreitung der praktischsten und
besten Baumaterialien und behufs technisch und künstlerisch richtiger
Ausgestaltung der Häuser und Wohnungen.
6. Vermehrung und Vertiefung der wissenschaftlichen Erkennt-
nis der landwirtschaftlichen Wohnungs- und Ansiedlungsverhältnisse
selber und der sie bedingenden Ursachen und Kräfte, sowie der
geeigneten Abhilfsmittel gegen die Mifsstände. Andauernde systema-
tische wissenschaftliche Verfolgung, Zusammenstellung und Ver-
öffentlichung des Standes und der Veränderung der wichtigsten
dieser Dinge.
7. Erziehung der Bevölkerung zur richtigen Wertschätzung einer
guten Wohnung und zur richtigen sorgsamen Pflege und Behand-
lung der Wohnungen und Grundstücke.
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Der Gesetzentwurf betreffend Kaufmannsgerichte.
Von
Dr. k. flesch,
Stadtrat in Frankfurt a. M.
Vor kurzem ist der Gesetzentwurf betreffend Kaufmanns-
gerichte veröffentlicht worden . der zur Zeit dem Bundesrat
zur Beschluisfassung vorliegt, um demnächst, hoffentlich noch in
der laufenden Tagung an den Reichstag zu gelangen. Der Gesetz-
entwurf sieht in § I Abs. I vor, dafs Gemeinden von mehr als
20000 Einwohnern gehalten sein sollen, zur Entscheidung von
Streitigkeiten aus dem kaufmännischen Dienst- und Lehrverhältnis
Kaufmannsgerichte zu errichten. Für den Vorgang bei der Er-
richtung (§ i Abs. 2 — 8), sowie demnächst für die Zuständigkeit
der neuen Gerichte (§ 3), ferner für das Verfahren vor denselben
(§ 13) und endlich auch für die Tragung der Kosten der Ein-
richtung und Unterhaltung des Gerichts gelten genau die gleichen
Bestimmungen wie für die Gewerbegerichte. Ebenso sind auch
die Vorschriften über die aktive und passive Wahifähigkeit fast
analog denjenigen, die bei den G.G. gelten (§§ 4 — 11); die über
die Wahl der Beisitzer (§ 12) sind die gleichen, und es haben die
neuen Kaufmannsgerichte bezüglich der Erteilung von Gutachten
und der Stellung von Anträgen genau die analoge Stellung wie
die Gewerbegerichte (8 14). Endlich ist auch noch vorgesehen,
dafs da, wo ein zuständiges Kaufmannsgericht nicht vorhanden ist,
ein dem § 76 G.G.G. nachgebildetes Verfahren vor dem Gemeinde-
vorsteher cingefuhrt werden soll (§ 1 5). — Was der Entwurf bringt,
ist also nicht etwa eine Kompetenzcrweitcrung der Gewerbe-
gerichte, sondern die Einführung einer neuen Art Gerichte, die
allerdings bis ins einzelne den Gewerbegerichten nachgebildet sind.
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K. Fl esc h,
und die sogar in der Regel äufserlich, gewissermafsen durch Per-
sonalunion mit den Gewerbegerichten verbunden sein sollen, t; 7
Abs. 3 verordnet:
„Besteht am Sitze des Kaufmannsgerichts ein auf Grund
des § 1 oder des § 2 des G.G.G. errichtetes G.G., so sind
in der Regel dessen Vorsitzender und sein Stellvertreter
zum Vorsitzenden und zu stellvertretenden Vorsitzenden des
Kaufmannsgerichts zu bestellen, auch gemeinsame Einrich-
tungen für die Gerichtsschreiberei, den Bureaudienst, die
Sitzungs- und Bureauräumlichkeiten u. dergl. zu treffen.'-
Lediglich in einer Beziehung sollen die Kaufmannsgerichte
hinter den G.G. zurückstehen; die Thätigkeit als Einigungsamt
(§§ 62 ff. G.G.G.) ist ihnen nach dem Entwurf nicht zugeteilt,
vielleicht weil man die Möglichkeit von Kollektivstreitigkeiten
zwischen Handlungsgehilfen und Kaufleuten für weniger nahe-
liegend hält. Dagegen ist ihre Thätigkeit in so fern ausgedehnter,
als die Gewerbegerichte, als die Handlungsgehilfen bis zu einem
Gehalt von 3000 Mk. ihnen unterstellt sind (§ 2).
Versucht man eine Kritik dieses Entwurfs, so wird sich die-
selbe relativ wenig auf einzelne Bestimmungen zu richten haben
denn diese sind, wie wir gesehen haben, fast durchweg dieselben
wie bei dem G.G.G. Es wird sich vielmehr zunächst vom prinzi-
piellen Standpunkt aus wesentlich fragen, ob es richtig ist, wenn
hier in die bunte Karte unserer Gerichtsverfassung wiederum eine
neue Earbe eingetragen wird: und sodann vom Standpunkt der
Praxis und der Erfahrungen, die, sei es bei Amtsgerichten, sei es
bei Gewerbegerichten gewonnen sind, ob anzunehmen ist, dafs der
Entwurf dem praktischen Bedürfnis der Rechtsuchenden entsprechen
wird ?
Was nun zunächst die prinzipielle Frage angeht, so ist es er-
sichtlich, dafs der Entwurf einen Zustand schafft, der sich den
Wünschen der Freunde der Gewerbegerichte und den Forderungen
der Mehrzahl der Handlungsgehilfen1) jedenfalls bis zu einem
gewissen Grad annähert. Die Zentrumsabgeordneten Hitze und
Trimborn, die bereits in der Sitzung des Reichstags vom 29. Januar
In Band 7 der Schriften des deutsch-nationalen Handlungsgehilfen Verbundes :
„Kaufmännische Schiedsgerichte“ wird p. 49 berichtet, dafs nun zwar 456
kaufmännische Vereine mit 103118 Gehilfen sich für den Anschlufs an die Amts-
gerichte, dagegen 1603 Vereine mit 121 424 Gehilfen die Bildung völlig selbständiger
Gerichte oder Anschlufs an die G.G. vorgezogen hätten.
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Der Gesetzentwurf betreffend Kaufmannsgerichte. \2Q
gewissen Grad annähert. Die Zentrumsabgeordneten Hitze und
Trimborn, die bereits in der Sitzung des Reichstags vom 29. Januar
1902 sich für den Anschlufs der kaufmännischen Schiedsgerichte
an die Gewerbegerichte erklärt haben, werden durch denselben
eher befriedigt sein, als diejenigen , die höchstens die Errichtung
kaufmännischer Schiedsgerichte bei den Amtsgerichten zugeben
wollten. Andererseits schafft aber der Entwurf auch nicht die
kaufmännischen Gewerbegerichte, wie sie z. B. der Zentralverband
der Handlungsgehilfen und -gehilfinnen Deutschlands gefordert
hatten. ’) Er stellt also eine Art Kompromifs dar, aber ein Kom-
promifs, das den Kaufleuten — abgesehen von der Funktion des
G.G. als Einigungsamt — die wesentlichsten Errungenschaften
bringt, welche die Gewerbegerichte so populär gemacht haben,
und das also von allen Freunden der Gewerbegerichte unbedingt
als ein Fortschritt anerkannt werden mufs. Die Punkte, durch
welche das Gewerbegericht sozialpolitisch einen Vorzug vor dem
Amtsgericht bedeutet, sind ja nicht etwa in erster Linie die Billig-
keit und Schnelligkeit des Verfahrens, die schliefslich nur eine
Geldfrage darstellen und bei den Amtsgerichten sofort zu erreichen
w’ären, wenn der Staat auf einen Anteil der Gerichtsgebühren ver-
zichten und die Anzahl der Richterstellen entsprechend vermehren
wollte. Auch die Teilnahme der I^iien an der Rechtsprechung, die
sowohl bei den Handelsgerichten als auch bei den Schöffengerichten
und Schwurgerichten bereits in den verschiedensten Formen er-
reicht ist, bildet nicht das wesentliche Moment; ganz abgesehen
davon, dafs die „Iaien", die an diesen Gerichten teilnehmcn, in
der Heranziehung weit mehr eine Last, als ein wertvolles politisches
Recht erblicken. Ich kann in dieser Beziehung statt weiterer Aus-
führungen vielleicht an die Darlegungen erinnern, die ich seiner
Zeit hierüber an anderer Stelle -) gemacht habe :
Während aber die Forderung der „Zulassung der Laien“ — richtiger
wäre wohl der Besitzenden, da ja Schöffen, Geschworene. Handelsrichter
keinerlei Entschädigung erhalten, Unbemittelte also gar nicht teilnehmen
können — nur der Ausdruck eines ganz allgemeinen politischen Postulats,
der Selbstverwaltung, war, besteht für die durch die G.G. zuerst aufge-
rolltc Frage der Teilnahme der Nichtbesitzenden an der Recht-
sprechung ein inneres, juristisch und volkswirtschaftlich genau definierbares
*) Vgl. den Entwurf im Handlungsgchilfenblatt vom I. Dezember 1902.
*) Das Gewerbegericht, Jahrgang VU p. 170 fr. „Gewerbegerichte und Amts-
gerichte.“
Archiv für *or. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 9
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
Prinzip. Sic müssen beteiligt werden an der Rechtsprechung über die-
jenigen Verhältnisse, welche für ihre Lebenshaltung grundlegend sind, und
bei denen sich zugleich die Unterschiede der wirtschaftlichen Lage am
schroffsten und häufigsten zeigen, d. h. bei der Rechtsprechung aus dem
Arbeitsvertrag. Die Zuziehung der Arbeitgeber ist gewissermafsen nur die
Folge davon, dafs man die Arbeiter heranzicht ; jene selbst haben die
Teilnahme nie gesucht. Selbstverständlich erschöpft sich hiernach das
Prinzip der G.G. nicht mit dem engen, rein zufällig und formalistisch ab-
gegrenzten Umfang des Titels 7 der G.O. Die Dienstbotenstreitigkeiten,
die Streitigkeiten der landwirtschaftlichen Arbeiter, der kaufmännischen
Gehilfen mit den Herrschaften, Dienstherren, Prinzipalen stehen genau
auf der gleichen Linie.
Eine Gerichtsverfassung, welche die aus dem gleichen Rechtsverhältnis
entspringenden und unter denselben wirtschaftlichen Klassen sich ab-
spielcnden Rechtsstreitigkeiten trennt und verschiedenen Gerichten zuweist,
ist widersinnig, — während andererseits die Frage, wer den Gehalt der
Richter, die Gebühren der Beisitzer, die sachlichen Kosten zu bezahlen
hat, ob der Staat oder die Gemeinde, vom Standpunkt der Rcchtspolitik
aus ziemlich gleichgültig ist. Die G.G. sind also nur ein Anfang. Sie
verlangen die Ergänzung zu Arbeitsgerichten. Und wenn der Arbeits-
vertrag nach der Organisation unserer Volkswirtschaft eine besondere
Stellung neben allen anderen Verträgen einnimmt, so ist die Forderung,
dafs für ihn eigene Gerichte bestehen, gewifs keine unberechtigte.“
Die Forderung, die hiernach zu erheben wäre, dafs nämlich
nicht Kaufmannsgerichte neben Gewerbegerichte gestellt, sondern
dafs statt beider, und statt der, der Analogie nach gleichfalls noch
notwendiger, weiterer Sondergerichte für Dienstboten, landwirtschaft-
lichen Arbeiter u. s. w. Arbeitsgerichte gebildet würden, kann
sich sogar anscheinend auch auf die gewifs nicht verächtliche Au-
torität des Herrn Staatssekretär von Posadowsky stützen, der bei
der Debatte über die Ausdehnung der Gewerbegerichte, die gelegent-
lich der Beratung der Seemannsordnung (Sitzung des Reichstags
vom 14. April 1908) angeregt ward, sich wie folgt äufserte:
Wenn ich meine persönliche Meinung aussprechen darf, so wäre viel-
leicht bei dieser Sachlage ein geeigneter Weg, um das Ziel zu erreichen,
was der vorliegende Antrag erreichen will, in Zukunft ganz allgemein
für Ansprüche aus Vertragsverhältnissen zwischen Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern für alle Lohnansprüchc, und
was mit diesen zusammenhängt, bei den Amtsgerichten ein besonders be-
schleunigtes und wesentlich billigeres Verfahren für alle Lohnansprüche
aus dem Arbeitsverhältnis einführen, mit Ausnahme selbstverständlich derer,
die vor den jetzt schon bestehenden G.G. ihre Erledigung finden. Ich
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K. Fl c sch, Der Gesetzentwurf betreffend Kaufmannsgerichte. I^I
glaube, wenn es möglich wäre, die Frage auf diese brei-
tere Grundlage zu stellen, so würde man vielleicht that-
sächlich mehr erreichen können.
Der Herr Staatssekretär erklärt also, ganz wie ich es ge-
than habe, die Bildung besonderer Arbeitsgerichte für wünschens-
wert : allerdings hätte ich, um der Meinungsübereinstimmung mit
einer so mafsgebenden Persönlichkeit froh sein zu können, ge-
wünscht. dafs er sich klar darüber ausgesprochen hätte, dafs die
Amtsgerichte, die er zu Arbeitsgerichten machen will, ebenso mit
freigewählten Beisitzern aus den beiden Interessentenkreisen, den
Arbeitgebern und Arbeitern versehen sein, dieselben Befugnisse zur
Erteilung von Gutachten und zur Stellung von Anträgen haben,
und dasselbe schleunige und billige Verfahren geniefsen müssen,
wie es jetzt allein die Gewerbegerichte, und nicht die Amtsgerichte
aufweisen können; m. a. W.: ich hätte nichts dagegen einzuwenden,
wenn zu Vorsitzenden der erweiterten Gewerbegeriche staatliche,
unabsetzbare Richter ernannt, und wenn die Kosten des Gerichts
anstatt von der Gemeinde vom Staat getragen würden.
Die Folgerungen, zu denen man von diesem Standpunkt aus
in Ansehung des Entwurfs gelangt, sind klar.
Der Entwurf schafft keine Arbeitsgerichte, und er ändert nichts
an der jetzigen, meines Erachtens zu engen Kompetenz der Ge-
werbegerichte. Er stellt nur neben die Gewerbegerichte andere,
formell von ihnen unabhängige Gerichte für eine weitere Kate-
gorie von Arbeitsstreitigkeiten. Immerhin aber haben die neuen
„Kaufmannsgerichte" den wesentlichen und charakteristischen Vorzug
der Gewerbegerichte: sie beteiligen die Arbeiter und Arbeitgeber
bei der Rechtsprechung an dem für sie wichtigsten Vertrag; sie
enthalten, wie die Gewerbegerichte, den Anfang zu einer Arbeits-
kammer, zu einer gesetzlich autorisierten Stelle für die Geltend-
machung von Wünschen und Forderungen der kaufmännischen
Kreise. Nach beiden Richtungen schafft der Entwurf einen prin-
zipiellen Fortschritt; und gerade der enge Anschlufs an das Vorbild
der Gewerbegerichte stellt aufser Zweifel , dafs dieser prinzipielle
Fortschritt in der Praxis sich bewähren, die Rechtssicherheit fördern
und für unsere wirtschaftliche Entwicklung von Vorteil sein wird.
Diesem Resultat gegenüber sind einige andere Fragen von
relativ untergeordneter Bedeutung, die noch zu erörtern sind, und
die sich namentlich beziehen auf das Verhältnis der Kaufmanns-
gerichte zu dem am gleichen Ort bestehenden Gewerbegerichte.
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Gesetzgebung : Deutsches Reich :
I. Es ward bereits gesagt, dafs die Kalifmannsgerichte und
Gewerbegerichte in der Regel die Vorsitzenden, die Gerichts-
schreiberei und Sitzungsräume gemeinsam haben werden.
In grofsen Städten wird dadurch ein Zustand geschaffen, der
ganz ähnlich demjenigen ist, der schon jetzt entsteht, wenn ein
Gewerbegericht, wie dasjenige in Berlin, in nach Berufsgruppen ge-
bildete Kammern geteilt ist. Aehnlich; aber nicht gleich; denn
ausgeschlossen wäre nach dem Entwurf die Verhandlung eines
kaufmännischen Rechtsstreites vor dem Gewerbegericht oder um-
gekehrt; selbst dann wenn der vor dem einen Gericht geltend ge-
machte Anspruch im engsten Zusammenhang steht mit dem vor
dem anderen anhängigen oder anhängig zu machenden. Man
denke an den Fall, dafs A. gegen einen Kommis und einen Ar-
beiter wegen Kontraktbruchs klagt; oder dafs umgekehrt er von
beiden auf Entschädigung wegen vorzeitiger Entlassung verklagt
wird, nachdem er beide gemeinschaftlich beleidigt, oder zur so-
fortigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses gezwungen haben soll.
Die blofse Thatsachc, dafs das materielle Recht für den Kommis
und für den Arbeiter nicht dasselbe ist, rechtfertigt es doch kaum,
dafs die sonst — vgl. § 147 C.P.O. — vorhandene Möglichkeit fehlt,
die Verbindung von Prozessen derselben oder verschiedener
Parteien zum Zweck der gleichzeitigen Verhandlung und
Entscheidung anzuordnen, wenn die Ansprüche, welche
den Gegenstand dieser Prozesse bilden, in rechtlichem Zu-
sammenhang stehen.
Es wird zu erwägen sein, ob nicht diese Möglichkeit gegeben
werden soll; wenngleich sich nicht verkennen läfst, dafs, solange
Kaufmannsgericht und Gewerbegericht formell getrennte, nur in
Personalunion stehende Behörden sind, die Hilfe nicht eben leicht
zu bringen ist.- Vielleicht wäre zu sagen, dafs die Verbindung nur
ausgesprochen werden darf (nicht: mufs)
wenn in zwei oder mehreren miteinander in rechtlichem
Zusammenhang stehenden Prozessen, von denen einer vor
das Kaufmannsgericht, ein anderer vor das Gewerbegericht
gehört, die gleichzeitige Verhandlung vor dem einen oder
anderen Gericht von allen Parteien verlangt wird;
und dals die gleichzeitige Verhandlung nur zulässig ist,
wenn der Antrag auf Verbindung der Verhandlung spätestens
im ersten Verhandlungstermin jeder der zu verbindenden
Klagen gestellt ward,
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K. Liesch, Der Gesetzentwurf betreffend Kaufmansgerichte.
und dafs endlich das Gericht, das auf diese Art mit einer Sache
befafst ward, für die es an sich nicht zuständig ist,
befugt ist, die Trennung der ihm zugewiesenen Sache von
dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit jederzeit anzuordnen,
dafs aber im übrigen eine Anfechtung sowohl dieses Be-
schlusses als desjenigen, durch welchen die gleichzeitige
Verhandlung ausgesprochen wird, nicht stattfindet; der
Rechtsstreit vielmehr mit Verkündung des Beschlusses als
bei dem Gericht, an das er verwiesen wird, anhängig
gilt. ')
2. Ebenso nützlich und weniger durch zivilprozessuale Bedenken
erschwert wäre ferner eine Bestimmung, nach welcher dem Vor-
sitzenden eines Kaufmanns- und Gewerbegerichts die Möglichkeit
gegeben wurde,
bei Beratung der seitens eines dieser Gerichte zu erstattenden
Gutachten eine Vereinigung der beiden Gerichte zu gemein-
schaftlicher Beratung eintreten zu lassen, wenn dies nach
dem Inhalt der zur gutachtlichen Aeufserung vorgelegten
Frage zwcckmäfsig erscheint.
3. Etwas einfacher, als in Grofsstädten wird sich das Neben-
einander von Kaufmanns- und Gewerbegerichten in kleinen Städten
vollziehen. Namentlich werden sich die Schwierigkeiten, welche
nach dem Entwurf aus der Unmöglichkeit der Verbindung von
kaufmännischen und Gewerbestreitigkeiten erwachsen, sich glatter
erledigen, wo der Vorsitzende und der Gerichtsschreiber in den
Verhandlungen vor beiden Gerichten dieselben Personen sind, und
die Sitzungen stets am selben Tag, im selben Lokal und unmittel-
bar hintereinander stattfinden ; und wo voraussichtlich die Arbeit-
getftrrbeisitzer fast immer dieselben Personen sein, und lediglich in
den Personen der Arbeiterbeisitzer ein Wechsel eintreten wird,
wenn von den kaufmännischen zu gewerbegerichtlichen Sachen über-
gegangen wird. Die Neuschaffung der Kaufmannsgerichte wird
sogar die Thätigkeit dieser kleinen Gcwcrbegerichtc günstig beein-
flussen, die Zahl der im ganzen zu verhandelnden Sachen wird sich
mehren, und die Möglichkeit zu häufigeren Sitzungen und zu
schnellerer Erledigung der Streitsachen gegeben sein. Den Nachteil
*) Die letztere Bestimmung hätte ihre Analogie in dem, ein ähnliches Ver-
hältnis (Verweisung einer Klage vom Amtsgericht an das Landgericht) behandelnden
§ 506 C.P.O.
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
haben höchstens diejenigen Beisitzer, die nur dem einen oder dem
anderen Gerichte angehören; denen es leicht geschehen kann, dafs
sie wegen einer oder zwei Sachen ihren Vormittag verlieren müssen.
Die Frage drängt sich unwillkürlich auf, ob es denn notwendig
ist, die formale Trennung der beiden Gerichte auch unter solchen
Umständen beizubehalten. Konnte nicht, wenn man auch in grofsen
Städten besondere Kaufmannsgerichte neben den Gewerbegerichten
behalten will, doch bestimmt werden, dafs
„in Städten, welche nach der jeweiligen letzten Volks-
zählung weniger als 50000 F.inwohner hatten, anstatt ge-
trennter Kaufmannsgerichte und Gewerbegerichte ein Kauf-
manns- und Gewerbegericht errichtet werden kann?
„Und dafs für die Wahlen der Arbeitgeberbeisitzer zu diesen Ge-
richten aufser den Kaufleuten auch die selbständigen Gewerbe-
treibenden nach Mafsnahme des § 9 des Entwurfs und § 16 G.G.G.
stimmberechtigt sind , während von den Beisitzern der Arbeiter je
die Hälfte aus den nach Mafsnahme des Entwurfs wahlberech-
tigten Handlungsgehilfen und je die Hälfte aus den nach Mafsgabe
des G.G.G. zuständigen Arbeitern gewählt werden mufs.“ Würde
dann noch bestimmt, dafs die als Kläger oder Beklagten auftretenden
Arbeitnehmer berechtigt seien, zu verlangen, dafs mindestens einer
der Arbeitnehmerbeisitzer wie sie selbst Kaufmann, bezw. gewerb-
licher Arbeiter sei , so wäre ein Zustand hergestellt , der vielleicht
gleichmäfsig sowohl die Schwierigkeiten vermiede, welche von der
blofsen Ausdehnung der Kompetenz der Gewerbegerichte be-
fürchtet werden, als auch diejenigen, welche sich aus dem Neben-
einanderbestehen von Kaufmannsgerichten und Gewerbegerichten
mit Sicherheit ergeben müssen.
4. Wir haben bisher einige Konsequenzen des Grundprinzips
des Entwurfs, (Trennung der Kaufmanns- und Gewerbegerichte) be-
trachtet. Wir kommen nunmehr noch zu einigen Einzelheiten, von
denen eine allerdings gleichfalls eine Folge dieser Trennung ist.
Der Vorsitzende des Kaufmannsgerichtes darf nach § 8 des Ent-
wurfs kein selbständiger Kaufmann sein. Den selbständigen Kauf-
leuten stehen aber gleich nach § 11 die Mitglieder des Vorstands
einer Aktiengesellschaft, einer eingetragenen Genossenschaft oder
einer als Kaufmann geltenden juristischen Person, sowie die Ge-
schäftsführer einer Gesellschaft m. b. H. Für die Vorsitzenden der
Gewerbegerichte besteht die letztere Vorschrift nicht; lediglich
dürfen sie nach § 12 G.G.G. weder Arbeitnehmer noch Arbeit-
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K. Flesch, Oer Gesetzentwurf betreffend Kaufmannsgerichte. [jj
geber sein. Nun sollen die Vorsitzenden des Gewerbegerichts nach
§ 7 Abs. 3 auch Vorsitzende des Kaufmannsgerichts sein. Die-
jenigen unter ihnen, die im Vorstand einer der unter § 1 1 ge-
nannten Korporationen sind, können dies aber nicht. Sie werden also,
wenn die Einheit des Vorsitzenden gewahrt werden soll, auch den
Vorsitz im Gewerbegericht nicht mehr ausüben können. Hierdurch
werden ausgeschlossen alle diejenigen, die ohne eigenes pekuniäres
Interesse die Leitung einer Baugenossenschaft, eines Konsumvereins,
einer gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Wohnungen u. s. w. über-
nommen haben. — Ist dies notwendig oder beabsichtigt? Genügte
nicht die Vorschrift des § 8 für sich allein vollständig, soweit die
Vorsitzenden in Betracht kommen ? Oder müfste nicht der § 1 1
einen Zusatz haben, etwa des Inhalts, dafs er sich nicht bezieht
auf diejenigen zu Vorsitzenden von Gewerbegerichten oder
Kaufmannsgerichten gewählten Personen, welche lediglich
ehrenamtlich eine der vorgenannten Stellen übernommen
haben ?
Namentlich in kleineren Orten möchte es sich leicht ereignen,
dals gerade diejenigen Magistratsmitglieder oder der Rechtsanwalt
oder Richter, den man gern um die Uebernahme des Vorsitzes be-
grüfsen möchte, zugleich auch bei der Leitung einer gemeinnützigen
Korporation der gedachten Art beteiligt ist.
5. Gleichfalls zu der Frage der Besetzung des Gerichts gehört
die bereits erwähnte Bestimmung, welche Handlungsgehilfen von
mehr als Mk. 3000 Gehalt vom Kaufmannsgericht ausschliefst (§ 2
des Entwurfs), während im übrigen die Voraussetzungen der Wähl-
barkeit dieselben sind, wie beim G.G. (§ 7 Abs. 1 des Entwurfs).
Handlungsgehilfen unter 30 Jahren sind also überhaupt nicht wähl-
bar (vgl. G.G.G. § 11), und solche über 30 Jahre — nur wenn
sie weniger als Mk. 3000 Gehalt haben ! Es werden also gerade
von den tüchtigeren Handlungsgehilfen recht viele von der Teil-
nahme am Kaufmannsgericht ausgeschlossen; die einen wegen zu
grofeer Jugend, die anderen wegen zu grofsen Einkommens. Die
Analogie mit den Arbeitern und mit den G.G. stimmt gerade hier
nicht, ganz abgesehen davon, dafs auch recht tüchtige Arbeiter die
im G.G.G. für Betriebsbeamte, Werkmeister u. s. w. gesetzte Gehalts-
grenze von Mk. 2000 selten erreichen.
6. Weitere Einzelheiten, an denen eine Besprechung des Entwurfs
nicht Vorbeigehen darf, sind insbesondere der Ausschlufs der Zu-
ständigkeit der Kaufmannsgerichte bei Streitigkeiten aus der soge-
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
nannten Konkurrenzklausel (§ 3 Abs. 2 des Entwurfs; entsprechend
§ 4 Abs. 2 G.G.G.) und die Höhe der Berufungssumme, die mangels
einer anderen abweichenden Vorschrift bei den Kaufmannsgerichten,
wie bei dem Gewerbegericht (§ 13 des Entwurfs, § 55 G.G.G.) auf
Mk. 100 anzunehmen ist.
Eis wäre vielleicht richtiger gewesen, nachdem doch einmal
die Kaufmannsgerichte formell von den Gewerbegerichten getrennt
sind, auch in diesen beiden Punkten, ebenso wie bezüglich des
oben erwähnten Punktes (Gehaltsgrenze der dem Gericht unter-
worfenen Handlungsgehilfen) nicht einfach die Vorschriften, die für
das Gewerbegericht bestehen, zu übernehmen.
Vereinbarungen , welche den Arbeitnehmer noch über das
Dienstverhältnis hinaus beschränken, werden an den kaufmänni-
schen Arbeitsvertrag häufiger angehängt, als an die Arbeitsverträge,
die mit gewerblichen Arbeitern abgeschlossen werden. Die für ihre
Rechtsgültigkeit (nach § 74 H.G.B.) mafsgebend Frage :
ob die Beschränkung nicht nach Zeit, Ort und Gegenstand
die Grenzen überschreitet, durch welche eine unbillige Er-
schwerung des Fortkommens des Handlungsgehilfen aus-
geschlossen wird
ist sogar vorzugsweise geeignet, den Gegenstand von Streitfragen
zu bilden, welche die Prinzipale und Gehilfen verschieden beurteilen.
Ist es gerechtfertigt, dal’s diese Streitfragen jetzt, wenn es sich um
mehr als Mk. 300 handelt, von den Handelsgerichten, d. h. unter
Mitwirkung von kaufmännischen Arbeitgebern abgeurteilt werden
(§ 101 e, § 113 Gerichtsverfassungsgesetz); und dafs für Streitig-
keiten der gleichen Art aber geringeren Betrages die Mitwirkung
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern völlig ausgeschlossen bleiben
soll, auch nachdem man diese Mitwirkung für andere kauf-
männischeArbeitsstreitigkeitenals notwendig erkannt hat ?
Was ferner die Berufungssumme angeht, so bewegt sich bei
den Gewerbegerichten die Mehrzahl der Streitigkeiten in den Grenzen
von etwa 20 — 60 Mk., als den Betrag eines zweiwöchentlichen
Arbeitslohnes. Für Handlungsgehilfen darf die vertragsmäfsige
Kündigungsfrist nicht unter einem Monat betragen (§ 67 H.G.B.) ;
der Schlufs liegt nahe, dafs mithin die I.ohnstreitigkeitcn meistens
einen Monatslohn, wenn nicht den für die regelmäfsige Kündigungs-
frist (6 Wochen § 66 H.G.B.) erwachsenden Betrag zum Gegen-
stand haben werden. Hieraus würde aber folgen, dafs die — doch
nicht für die regelmäfsigen Fälle berechnete — Berufungssumme
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K. Fl c sch, Der Gesetzentwurf betreffend Kaufmannsgerichte.
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mindestens etwa Mk. 300 betragen sollte, wenn die Kaufmanns-
gerichte den wirtschaftlichen Verhältnissen der Handlungsgehilfen
sich ebenso anpassen sollen, wie die Gewerbegerichte denen der
Arbeiter entsprechen.
Immerhin aber, und trotz all dieser Erwägungen, bleibt das
Gesamturteil bestehen , dafs nämlich der Entwurf, selbst wenn er
unverändert angenommen würde, einen wesentlichen Fortschritt dar-
stellt. Möge er die verschiedenen Stadien, die ihn zum Gesetz
umgestalten, rasch und glücklich durchlaufen, und möge sich hierbei
Gelegenheit finden, auch einige der hier berührten Punkte zu be-
rücksichtigen.
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Gesetzgeberisiche Fortschritte auf dem Gebiete des
Wohnungswesens.
Von
Dr. HUGO LINDEMANN,
in Stuttgart-Degerloch.
Wie Hessen der erste deutsche Hundesstaat gewesen ist, der
die Wohnungsinspektion auf dem Wege der Gesetzgebung (durch
das Gesetz vom I. Juli 1893) geregelt hat, so gebührt ihm auch
das Verdienst, auf dem Gebiete der konstruktiven Wohnungs-
fürsorge als erster gesetzgeberisch vorgegangen zu sein. Die
preufsische Regierung hat sich in ihrem bekannten Erlasse vom
Jahre 1900 darauf beschränkt, ihren nachgeordneten Behörden
und den Gemeinden gute Ratschläge zu geben, zu einer wohnungs-
reformerischen Aktion hat sie es indes mit Ausnahme des Baues
von Wohnungen für ihre Unterbeamten bis jetzt noch nicht ge-
bracht. Das ist vielleicht bei dem Geiste, der in den preufsischen
Ministerien und nicht minder im preufsischen Abgeordnetenhause
herrscht, kein grofser Fehler, da den fortgeschrittenen Elementen
in den Regierungsbehörden und vor allem in der Kommunalver-
waltung ein viel gröfserer Spielraum zur Bethätigung bleibt , als
wenn ihnen durch ein reaktionäres Gesetz die engsten Grenzen
gesteckt wären. In den preufsischen Ministerialerlassen wird im
wesentlichen die I,ast der Initiative und der Ausführung auf die
Gemeinden geschoben. Der den hessischen Kammern im Vorjahre
unterbreitete und von ihnen mit geringen Aenderungen angenommene
Gesetzentwurf betreffend die Wohnungsfiirsorge für Minderbemittelte
geht von dem gleichen Standpunkte aus. Auch ihm ist der Haupt-
träger der Wohnungsfürsorge die Gemeinde, und die Begründung
zu dem Entwürfe erhärtet diese Ansicht in zutreffender Weise. „Die
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H. Lindemann, Gesetzgeb. Fortschritte auf d. Gebiete d. Wohnungswesens. j
Frage des Bedürfnisses nach Wohnungen für Minderbemittelte kann
lediglich nach den örtlichen Verhältnissen beantwortet werden, und
demgemäfs mufs die Fürsorge der öffentlichen Organe auf diesem
Gebiete unbestreitbar zunächst den Gemeinden zugewiesen werden,
die ihrerseits mit Vereinen, Genossenschaften oder einzelnen Per-
sonen in Verbindung treten können. Je mehr hier wie auf anderen
Gebieten der sozialen Fürsorge die zu ergreifenden Mafsregeln den
besonderen örtlichen Verhältnissen angepafst werden, um so ge-
wisser wird auf einen Erfolg und den Ausschlufs von Mifsgriffen zu
rechnen sein.“ (Begr. S. 5.) Dem Staate wird also nur eine sub-
sidiäre Rolle zugeschrieben : er soll die kommunale Wohnungsfür-
sorge für Minderbemittelte dadurch fördern und sichern, dafs er
unter der Voraussetzung der Zulänglichkeit seiner eigenen Mittel
den Gemeinden für die Zwecke derselben die finanziellen Mittel
zur Verfügung stellt, mit denen sie ihrer Aufgabe gerecht werden
können. Dadurch wird dann zugleich die Stetigkeit dieser Fürsorge
gewährleistet
E$ ist nur ein Teil der kommunalen Wohnungsfürsorge, der
der gesetzlichen Regelung unterworfen wurde, allerdings ein
sehr wichtiger und für die grofse Zahl der kleinen Gemeinden
vielleicht der wichtigste — aber immerhin nur ein Teil. Das Ge-
setz verzichtet darauf, einheitliche Grundsätze für eine kommunale
Bodenpolitik, die sich die Bekämpfung der ungesunden Boden-
spekulation zur Aufgabe macht, aufzustcllcn und vermeidet es auch,
sich über die Art und Weise auszusprechen, in der der Gemeinde-
grundbesitz am besten für die Besserung der Wohnungsverhältnisse
nutzbar gemacht werden könnte. Ebensowenig legt es den Ge-
meinden die Verpflichtung auf, für ihre niederen Beamten und
Arbeiter oder überhaupt für Minderbemittelte Kleinwohnungen her-
zustellen, oder Mafsregeln für die Erleichterung und Verbilligung
des Vorortverkehrs zu treffen. Kurz, das Gesetz beschränkt sich
auf die Regelung der finanziellen Seite, der Geldbeschaffung für die
kommunale Wohnungsfürsorge. Die Begründung stellt diese Be-
schränkung des Gesetzes als einen Vorzug hin, aber selbst vom
Standpunkte der praktischen Politik aus mufs dieselbe als ein Fehler
bezeichnet werden. Den Gemeinden sollen die Mittel für ihre
Wohnungspolitik verschafft werden, dazu kann ihnen der Staat
nicht nur auf dem Wege direkter Gewährung staatlicher Darlehen,
sondern ebenso gut, und soweit die gröfseren, schnell aufblühenden
Gemeinwesen in Frage kommen, sogar besser dadurch verhelfen,
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I40 Gesetzgebung: Deutsches Reich.
dafs er ihnen neue, ergiebige Steuerquellcn erschliefst. Wollte er
von diesem Mittel Gebrauch machen, so hätte er sich allerdings
auf das Gebiet dpr kommunalen Bodenpolitik begeben müssen, um
in der Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses eine solche
reichfliefsende Steuerquelle zu entdecken. Was übrigens den Grund-
satz der Motive, den Gemeinden keine Verpflichtung zur eigenen
Herstellung von Kleinwohnungen aufzulegen , angeht, so hat das
Gesetz selber nicht absolut an demselben fcsthalten können. Es
spricht allerdings keinen direkten Zwang aus, sucht aber das gleiche
Ziel auf indirektem Wege zu erreichen. Nach Art. 5 kann nämlich
die Gemeinde auf Antrag einer gemeinnützigen Vereinigung, die
die Erbauung von Wohnungen für Minderbemittelte zur Aufgabe
hat, durch Erkenntnis des Kreisausschusses für verpflichtet erklärt
werden, jener die erforderlichen Mittel als Darlehen zu gewähren,
falls nämlich auf andere Art und Weise der Mangel an kleinen
Wohnungen nicht beseitigt werden kann. Diese Bestimmung, deren
prinzipielle, von den Motiven allerdings sehr gering angeschlagene,
Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, soll als Gegengewicht
dienen gegen die andere, nach der Staatsdarlehen zur Förderung
des Kleinwohnungsbaues von seiten der Landeskreditkasse nur an
die Gemeinden gegeben werden dürfen. Mit ihr hat auf jeden Fall
der Gesetzgeber den ersten Schritt gethan, und ausgesprochen, dafs
für die Gemeinden eine Verpflichtung besteht auf dem Gebiete der
eigentlichen Wohnungsliirsorge thätig zu sein, mag sich diese Ver-
pflichtung auch zunächst in der Gewährung von Darlehen an die
gemeinnützige Bauthätigkeit erschöpfen.
Von den allgemeinen Grundsätzen des Gesetzes gehen wir
nunmehr zu einer Besprechung der einzelnen Artikel über. Den
Gemeinden soll das Recht erteilt werden, bei der Landeskredit-
kasse zur Förderung des Baues von kleinen Wohnungen Darlehen
bis zum vollen Betrage der Kosten für den Erwerb des Bau-
geländes, sowie für die Bauausführung aufzunehmen. Als kleine Woh-
nungen gelten solche, die in der Regel nicht mehr als drei Zimmer
nebst Küche und Zubehör enthalten; doch sollen Ein- und Zwei-
familienhäuser nicht ausgeschlossen sein. Als Darlehensempfänger
treten nur die Gemeinden auf. Von seiten des hessischen Zentral-
vereines für billige Wohnungen war bei den Vorberatungen des Ent-
wurfes der Wunsch ausgesprochen worden, der gemeinnützigen Bau-
thätigkeit Darlehen auch unmittelbar von der Landeskreditkasse
gegen Hypothekbestellung zu gewähren. Die Regierung hat aber
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H. Lindemann, Gesetzgeb. Fortschritte auf d. Gebiete d. Wohnungswesens. 141
dieser Ausschaltung der Gemeinde mit Recht nicht zugestimmt.
Ihr gilt die Gemeinde als die verantwortliche Trägerin der Be-
strebungen zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse, und der
Staat soll ihr mit seinem Kredite nur helfend und fördernd zur
Seite stehen. Alles, was im Stande wäre, das Verantwortlichkeits-
gefühl der Gemeinde in dieser Beziehung zu schwächen, wie z. B.
ein unmittelbarer Geldverkchr zwischen I-andeskreditkasse und den
Bauvereinen, mufs daher abgewiesen werden. Dafs das mangelhafte
sozialpolitische Verständnis einer Gemeindevertretung die Thätigkeit
der Bauvereine um so leichter zu verzögern oder ganz zu hinter-
treiben vermag, je mehr dieselben von ihr abhängig sind, kann
ohne weiteres zugegeben werden, ohne dafs jedoch daraus ein
Argument gegen die Verinittlerthätigkeit der Gemeinde abgeleitet
werden kann. Wir halten es für einen sehr richtigen Gedanken
des Gesetzes, dafs es an der zentralen Stellung der Gemeinde auf
dein Gebiete der Wohnungsfürsorge festhält und nicht, wie z. B.
Liebrecht in seinem Vorschläge in den Schriften der Zentralstelle
für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen eine Ausschaltung derselben
zwischen der geldgebcnden Instanz (Staat oder Versicherungsanstalt)
und der bauausführenden (Bauverein etc.) anstrebt. Wo eine Ge-
meindeverwaltung infolge ihrer sozialpolitischen Rückständigkeit den
Bestrebungen der gemeinnützigen Bauthätigkeit gegenüber sich ab-
lehnend verhält, wird es sich stets mehr empfehlen, dieselbe sozial-
politisch zu erziehen und mit sozialem Geiste erfüllen, als den Ver-
such zu machen, sie an die Seite zu schieben. Im Kampfe mit
der Gemeindeverwaltung mufs ein privater Verein auf die Dauer
den Kürzeren ziehen, wenn ihm nicht ganz besondere Machtmittel
zur Verfügung stehen.
Falls eine Gemeinde nicht selbst bauen will, kann sie diese
Aufgabe an gemeinnützige Vereinigungen übertragen, und dieselben
durch Darlehen unterstützen, die sie sich von der Landeskredit-
kasse verschafft hat. Hierfür ist natürlich der gute Wille der Ge-
meindeverwaltung die Vorbedingung. Um aber die gemeinnützige
Bauthätigkeit nicht ganz und gar von diesem abhängig zu machen,
giebt das Gesetz ihr das Recht, wie bereits oben erwähnt, durch
Erkenntnis des Kreisausschusses die Verpflichtung der Gemeinde
zur Gewährung eines Darlehens feststellen zu lassen. Es liegt auf
der Hand, dafs schon das Vorhandensein einer derartigen Be-
stimmung auf die widerstrebenden Gemeinden einen starken Druck
auszuüben imstande ist, und es daher bei wirklichem Bedürfnis
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
nur selten zu einem Eingreifen der Verwaltungsgerichte kommen
dürfte. Ist dies doch der Fall, so ist von den Verwaltungsgerichten
zunächst einmal das Bedürfnis festzustellen. Die Prüfung desselben
ist also dem richterlichen Ermessen überlassen, da das Gesetz
keinen Mafsstab für dasselbe festlegt. Das ist sicherlich ein Mangel.
Es mag ja schwierig sein, einen derartigen Mafsstab, der ein ab-
solut sicheres Resultat ergiebt, zu finden. In der That vermag nur
eine statistische Aufnahme der Wohnungen ein solches zu liefern,
und so gelangen wir wieder einmal zu der Forderung ständiger
Wohnungsstatistik, die in allen Gemeinden zu fuhren wäre. Nur
auf Grund des statistischen Materials können die Verwaltungsge-
richte zu einem sachgemäfsen Urteile kommen. Das Vorhanden-
sein eines Wohnungsnotstandes läfst sich allgemein ziemlich leicht
konstatieren. Sobald es sich aber um die Art und die genaue
Gröfse der Wohnungsnot handelt, lassen die auf mehr oder minder
unsicheren Merkmalen beruhenden Aussagen der Sachverständigen
im Stich. Wie wollen z. B. die Verwaltungsgerichte entscheiden,
ob die von den gemeinnützigen Bauvereinen geforderten Summen
dem Bedürfnis entsprechen und nicht, wie doch auch möglich, über
dasselbe hinausgehen, falls ihnen nicht statistische Daten zur Ver-
fügung stehen ?
Das Gesetz will das Recht, eine solche Erklärung der Zwangs-
pflicht der Gemeinde herbeizufuhren, nur den gemeinnützigen Ver-
einigungen zuschreiben. Es ist also nur erforderlich, dafs sich eine
beliebige Zahl von Einwohnern zu einer gemeinnützigen Baugenossen-
schaft zusammenschliefst, um die Gemeinde zu einem Darlehen zu
zwingen. Nun kann aber die Gemeinde dafür, dafs die Genossen-
schaft eine bona fide-Genossenschaft und nicht nur ein Werkzeug in
den Händen eines spekulierenden Grundbesitzers ist, niemals eine
Garantie haben und kein Gesetz kann ihr eine solche gewähren.
Jederzeit liegt also die Gefahr vor, dafs die Gelder der Gemeinde
bezw. der Landeskreditkasse privaten Interessen dienstbar gemacht
werden. Daran ändern auch die Bestimmungen nichts, dafs die
Gemeinde ein Baudarlehen nur gewähren darf, wenn eine zweck-
entsprechende Benutzung der herzustellenden Wohnungen gewähr-
leistet ist, und im Falle des Mifsbrauches Gebäude und Grund und
Boden auf dem Wege der Zwangsenteignung an sich ziehen darf.
Aus allen diesen Gründen erscheint es uns bedenklich, eine Zwangs-
pflicht der Gemeinden zu Gunsten gemeinnütziger Vereinigungen
festzusetzen. So freudig wir es begrüfsen, dafs in einem Gesetze
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H. Lindemann, Gesetzgeb. Fortschritte auf d. Gebiete d. Wohnungswesens.
die Verpflichtung der Gemeinden ausgesprochen wird, für die
Wohnungsbedürfnisse der nichtbesitzenden Klassen ihrer Bevölkerung
zu sorgen, so entschieden müssen wir auch dafür eintreten, dafs die
Gemeinden bei ihrer Wohnungsfürsorge die weitgehendste Freiheit
haben und nicht gezwungen werden können, mit ihren Geldern
bezw. ihrem Kredite Unternehmungen zu unterstützen, die sie viel-
leicht nicht billigen.
Nach Art. 7 darf die Gemeinde ein Baudarlehen nur dann ge-
währen, wenn die zweckentsprechende Benutzung der herzustellcn-
den Wohnungen und deren angemessene bauliche Unterhaltung ver-
traglich gesichert ist. Weitere Punkte sind im Gesetze nicht erwähnt,
und ihr Fehlen wird von der Begründung damit gerechtfertigt, dafs
die Bewegungsfreiheit und Selbständigkeit der Bauvereine möglichst
wenig eingeschränkt werden sollte. Eis fehlt also vor allem die ge-
setzliche Fixierung des Zinsgenusses einer gemeinnützigen Bau-
genossenschaft und die gesetzliche Beschränkung der Ausnützung der
steigenden Grundrente. Die Motive bemerken dazu : „Garantieen für
genügenden Raum, zweckmäfsige Ausstattung und mäfsigen Preis
der Wohnungen für Minderbemittelte sind wichtiger, als allzu ängst-
liche Beschränkung der zu verteilenden Erträgnisse, welche leicht
die Beteiligung des Privatkapitals an dem gemeinnützigen Unter-
nehmen verhindert." Und schon vorher wurde als wichtigste Auf-
gabe des Gesetzes bestimmt, den Bau von Wohnungen überhaupt
in ausreichender Zahl zu sichern. „Dafs sie einen besonders billigen
Mietpreis haben, dürfte erst in zweiter Linie in Betracht kommen.“
Ja, worin besteht denn überhaupt nach der Auffassung der Motive
die Gemeinnützigkeit der Bauvereine, wenn keine Beschränkung ihres
Zinsgenusses festgesetzt werden soll, und auf die Fixierung der
Mieten verzichtet wird? Jeder private Bauunternehmer und jede
Aktiengesellschaft, die Wohnungen für Minderbemittelte hersteilen,
können dann das Prädikat gemeinnützig für sich in Anspruch nehmen.
Es mufe also als ein ganz bedeutender Mangel des Gesetzes be-
zeichnet werden, dafs dasselbe den gemeinnützigen Charakter der
Bauvereine, denen die Gemeinden Darlehen geben müssen, nicht
schärfer und zutreffender gefafst hat.
Mit der Beschaffung der Mittel für eine konstruktive Wohnungs-
fürsorge der Gemeinden war es, wie die Motive zutreffend bemerken,
möglich geworden, das Wohnungsinspektionsgesetz von 1893 auch
auf die Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern auszudehnen
und in einigen wichtigeren Bestimmungen auszubauen. Die Aus-
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
dehnung auf das flache Land rechtfertigt sich durch die elenden
Wohnungsverhältnisse, die bis in die kleinsten Gemeinden in gleicher
Weise oder doch nur in wenig geringerem Mafsc vorhanden sind. Als
ein ganz bedeutender Fortschritt mufs die Einrichtung einer Landes-
wohnungsinspektion, wie sie der Art. 12 vorsieht, bezeichnet werden.
Diese Behörde, die nicht als Polizeiorgan, sondern als Orgart eigent-
licher Wohlfahrtspflege gedacht ist, soll im Zusammenwirken mit
den staatlichen und kommunalen Behörden die Wohnungsverhält-
nisse in gesundheitlicher und sittlicher Hinsicht feststellen und in
Gemeinschaft mit dem hessischen Centralvereine für Errichtung
billiger Wohnungen, sowie mit den gemeinnützigen Bauvereinen des
I-andes auf Beseitigung der sich ergebenden Mifsstände hinwirken.
Im einzelnen zählen die Motive als Aufgaben der Inspektion auf:
Unterstützung der Behörden, Gemeinden etc. in allen auf Verbesse-
rung der Wohnungsverhältnisse gerichteten Bestrebungen mit Rat
und Auskunft, Förderung der Begründung gemeinnütziger Bau-
genossenschaften, Begutachtung der Darlehensgesuche der Gemeinden
und Ueberwachung der Darlehensverwendung, Beschaffung statisti-
scher Nachweise, Berichterstattung über die Fragen der Wohnungs-
politik. Es wird also der neuen Behörde ein sehr umfangreiches
Thätigkeitsgebiet zugewiesen, und wir können nur wünschen, dafs
es gelingt, für diesen so wichtigen Posten die geeignete Kraft zu
finden.
Auch Württemberg hat bereits im Jahre 1900, leider nur
auf dem Wege der Verordnung und nicht der Gesetzgebung, eine
Wohnungsinspektion erhalten. Nach einer Verfügung des
Ministeriums des Inneren mufs in sämtlichen Gemeinden mit mehr
als 3000 Einwohnern eine ortspolizeiliche Wohnungsaufsicht einge-
richtet werden; in kleineren Gemeinden bleibt es der Gemeinde-
verwaltung überlassen, ob sie die Einrichtung treffen will. Die Or-
gane der Wohnungsinspektion sind von der Gemeindeverwaltung zu
bestellen, die entweder besondere Inspektoren mit der Wohnungs-
aufsicht beauftragen . oder Mitglieder der Ortsfeuerschau , Be-
dienstete, wie Schutzleute oder Polizeidiener, aber auch sonstige ge-
eignete Personen heranziehen kann. Die Verfügung machte also
den gewaltigen Fehler, dafs sie die Verwendung von Schutzleuten
nicht von vorn herein verbot, sondern sogar durch die Namhaft-
machung dieser Klasse von Beamten die Gemeinden auf die Ver-
wendung derselben, wenn auch vielleicht unabsichtlich, hinwies. Die
Erfahrung hat bewiesen, dafs die Gemeinden nur zu geneigt sind,
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H. Lindemann, GeseUgeb. Fortschritte auf d. Gebiete d. Wohnungswesens. 145
sich ihrer neuen Aufgabe auf dem einfachsten Wege durch die An-
stellung von Schutzleuten zu entledigen. Das gilt nicht nur für die
kleineren Gemeinden, sondern ebenso auch für die gröfseren Mittel-
städte ' des Landes. Nur in sehr wenigen Städten, wie z. B. in
Cannstatt, sind besondere Wohnungsinspektoren angestellt worden.
Im allgemeinen ist die Wohnungsinspektion polizeilich geregelt und
wird in erster Instanz von den Schutzleuten ausgeübt, so in Reut-
lingen etc. Nur in Stuttgart, dessen Ortsstatut kürzlich die staat-
liche Genehmigung gefunden hat, hat man sich zu einem selbstän-
digen Wohnungsamte aufgeschwungen, an dem ehrenamtliche und
beamtete Organe gemeinsam thätig sind. Die Verfügung unterwirft
der Inspektion alle aus 3 oder weniger Wohnräumen bestehenden
Wohnungen, alle Wohnungen, in die Schlafgänger gegen Entgelt
aufgenommen werden, alle zur gewerbsmäfsigen Beherbergung von
Fremden bestimmten Räume, alle Schlafgelasse der im Hause des
Arbeitgebers oder der Dienstherrschaft wohnenden Arbeiter, Lehr-
linge und Dienstboten. Damit ist der Umfang der Wohnungs-
inspektion in ganz zutreffender Weise bestimmt worden, nur scheint
uns die Zahl der Wohnräume deshalb zu niedrig gegriffen zu sein,
weil auch die Küchen als Wohnräume gelten sollen. Wohnungen,
die aus Küche und 3 kleinen Zimmern bestehen, sind, besonders in
den ländlichen Gemeinden, noch in grofser Zahl inspektionsbedürftig.
Wenig neues bieten die Grundsätze, nach denen die Inspektion vor-
genommen werden soll. In manchen Punkten bleiben dieselben
hinter den hygienischen Mindestforderungen zurück. In Schlaf-
gelassen soll z. B. auf den Erwachsenen nur ein Raum von mindestens
10 cbm, auf jedes Kind unter 14 Jahren ein solcher von mindestens
5 cbm fallen. Beide Ziffern, besonders aber die letztere, sind viel
zu niedrig gegriffen. Ueber die Gröfse der erforderlichen Boden-
fläche fehlt es an jeder Bestimmung. Jeder Wohn- oder Schlafraum,
jeder Abort, und in der Regel auch jede Küche, soll mindestens ein
ins Freie führendes Fenster besitzen, das eine genügende (!) Lüftung
und Belichtung des Raumes verbürgt. Für die Küchen ist aber
ohne Zweifel ein ins Freie führendes Fenster mindestens ebenso
notwendig, wie für die anderen genannten Räume. Das „in der
Regel" der Bestimmung ist also eine unberechtigte Abschwächung.
Genügende Lüftung und Belichtung des Raumes ist ein sehr dehn-
barer Begriff; man kann sich denken, was die ländlichen Feuer-
schauer, die mit der Inspektion betraut sind, darunter verstehen
werden. Ebenso nichtssagend ist die Bestimmung, dafe die Wohn-
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. IO
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
und Schlafräume, Treppen, Flure, Aborte sowie die Umgebung der
Wohnung reinlich gehalten sein müssen. Will man vielleicht durch
Polizeistrafen die Hausfrauen zur Reinlichkeit erziehen? Wie wird
die der Benutzung eines W'ohngebäudes entsprechende Anzahl von
Aborten bestimmt? Anerkennung verdient das gänzliche Verbot
von Kellerwohnungen, und das Verbot, Räume zum Schlafen zu
benutzen, in denen für den Handel und Verkehr bestimmte Nahrungs-
mittel verarbeitet oder aufbewahrt werden. Der Erlafs weiter-
gehender Bezirks- oder ortspolizeilicher Vorschriften soll durch die
ministerielle Verfügung nicht gehindert sein. Leider schwächt die
letztere den Eindruck ihrer Bestimmungen dadurch zum guten Teile
ab, dafs sie es den Ortspolizeibehörden zur besonderen Pflicht macht,
die Wohnungsaufsicht in möglichst schonender Weise zu handhaben
und die Nichtanwendung einiger Bestimmungen überall da gestattet,
wo die sofortige Durchführung eine unverhältnismäfsige Härte in
sich schliefsen würde. Bei der so wie so recht starken Neigung
der Gemeindeverwaltungen, die Hausbesitzer zu schonen, wäre ein
Paragraph, der ein energisches Eingreifen der Wohnungsinspektion
in allen Fällen baulicher Verwahrlosung und gewissenloser Aus-
nutzung der Gebäude vorschreibt, berechtigter und nutzbringender
gewesen.
Dieselbe weitgehende Fürsorge für die Hausbesitzer tritt uns
auch in dem Wohnungspflcgegesetze entgegen, dessen Ent-
wurf der Senat der Stadt Lübeck bereits am 17. Juni 1899
dem Bürgerausschusse vorlegte, und der nach zweimaliger Um-
arbeitung am 7. Juli 1902 die Zustimmung der Bürgerschaft fand.
Schon die Begründung, mit der das Medizinalkollegium dem Senate
seinen Vorschlag unterbreitete, hob hervor, dafs die Anforderungen
an die Benutzungsweise der Wohn- und Schlafräume unter Berück-
sichtigung einerseits der hygienischen Erfahrungen, anderseits der
Bauart der vorhandenen Wohnungen in thunlichst engen Grenzen
gehalten seien, und der Senat hat sich zur Vorlage des Entwurfes
erst dann entschlossen, nachdem Erhebungen des Polizeiamtes er-
geben hatten, dafs nach dem Erlasse der neuen gesetzlichen Be-
stimmungen nur ein sehr kleiner Teil der in Betracht kommenden
Wohnungen als vollständig unbewohnbar kassiert werden müfste.
Trotzdem gingen diese Bestimmungen dem Hausbesitzertum in der
Bürgerschaft zu weit. Die Senatsvorlage verlangte, dafs der gesamte
Luftraum einer Wohnung für jeden Bewohner mindestens 15 cbm,
für jedes Kind unter 10 Jahren 7,5 cbm betragen sollte, schlofs
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H. Lindemann, Gcsetigeb. Fortschritte auf d. Gebiete d. Wohnungswesens.
sich also den Vorschlägen des Deutschen Vereins für öffentliche
Gesundheitspflege an. In Schlafräumen wurde ein Luftraum von
io cbm für jede über io Jahre alte Person, 3 qm Bodenfläche und
0,2 qm lichtgebende Fensterfläche gefordert. Diese bescheidenen
Anforderungen wurden noch dadurch herabgemindert, dafs bei der
Berechnung des Luftraumes in Schlafräumen benachbarte, mit diesen
in unmittelbarer Verbindung stehende Xebenräume, z. B. Korridore,
mitgerechnet werden dürfen, sofern sie nur von den Inhabern der
Schlafräume ausschliefslich benutzt werden. Bei besonders günstigen
Beleuchtungs- und Lüftungsverhältnissen kann die Behörde für
Wohnungspflege noch eine weitere Ermäfsigung eintreten lassen.
Wenn diese Bestimmungen erfüllt sind, und ferner dem Vermieter
mindestens ein verschliefsbarer, heizbarer und direkt beleuchteter
Raum zur ausschliefslichcn Benutzung verbleibt, kann die Ver-
mietung einzelner Teile einer Wohnung stattfinden. In der Kom-
mission der Bürgerschaft fanden die vorstehenden Vorschläge des
Senates scharfe Anfechtung, und wurden von ihr in einer ganzen
Reihe von Punkten geändert. Leitender Gesichtspunkt war dabei,
wie der Kommissionsbericht hervorhob, „die Anforderungen an den
Raum und die Gröfse von Wohnungen und Schlafzimmern auf das
geringste noch zulässige Mafs zu beschränken, da man hierbei be-
sonders in den alten Häusern der inneren Stadt und in den Gängen
mit althergebrachten Verhältnissen und Zuständen zu rechnen hat,
deren Beseitigung nur allmählich im Laufe der Zeit möglich sein
wird. Eine schärfere Fassung der hierher gehörigen Bestimmungen,
die freilich den Anforderungen der Hygieniker nicht durchweg ent-
sprechen, w'ird daher erst bei einer späteren Revision des Gesetzes
cinzutreten haben.“ Man schob also der Zukunft zu, was man in
der Gegenwart nicht haben wollte, und schwächte zunächst einmal
die Bestimmungen der Senatsvorlage ab. Statt .Kinder unter
10 Jahren setzte die Kommission Kinder unter 12 Jahren, und
machte den Zusatz, dass in Häusern, die nur von einer Familie be-
wohnt werden, auch der Dachboden dem Lufträume der Wohnung
zugerechnet werden kann. Ebenso wurde bei der Festsetzung des
Luftraumes in Schlafzimmern das Minimalalter von IO auf 12 Jahre
hinaufgesetzt, und die Forderung von 3 qm Bodenfläche und 0,2 qm
lichtgebender Fensterfläche gestrichen. Alles Verschlechterungen
der ursprünglichen Vorlage, die ausschliefslich von zarter Rücksicht
auf die Hausbesitzer diktiert sind. Glücklicherweise hat bisher
io*
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
der Senat seine Fassung aufrecht gehalten, die sicher nicht über
das Minimum hygienischen Fortschrittes hinausging.
Während die Kommission die Pflichten des Hauseigentümers
in der angeführten Weise herabzusetzen versuchte, hatte sie gegen
die Paragraphen des Entwurfes, die die Pflichten des Mieters fest-
legen, nichts cinzuwcnden. Sie wurden, wie ihr Bericht hervorhebt,
von keiner Seite beanstandet, nur ein paar ergänzende Bestimmungen
wurden hinzugefügt. Wie das Hamburger Wohnungspflegegesetz,
so enthält nämlich auch das ihm nachgebildete Lübecker Gesetz
zahlreiche Bestimmungen über die „Kunst des richtigen Bewohnens“
und die Kritik, die an jenem von den verschiedensten Seiten geübt
wurde, trifft auch dieses. Die Grundeigentümer sind nur für die
Ucbelstände der ungenügenden Unterhaltung der Gebäude verant-
wortlich, und daher insbesondere verpflichtet, Vorkehrungen zum
Schutz gegen eindringende Feuchtigkeit und zur Instandhaltung der
Wasserversorgungs- und Entwässerungsanlagen sowie der Aborte
zu treffen. Falls der Mieter an diesen Mängeln schuldig ist, hat er
die Pflicht zur Beseitigung derselben. Dazu kommt dann noch in
§ 12 eine lange Liste von Handlungen, die alle dem Mieter ver-
boten sind. Diese Verbote sind teils lächerlich — so wenig wie
in Württemberg etc. wird man in Lübeck die Bevölkerung durch
Polizeistrafen zur reinlichen Haltung ihrer Wohnungen erziehen können
— teils geben sie dem Hausbesitzer eine Handhabe, die Schuld an
der baulichen Verwahrlosung auf die Mieter abzuwälzen.
Auch für die Organisation der Behörde für Wohnungspflege
ist das Hamburger Gesetz Vorbild gewesen, insofern man die
Wohnungsinspektion ehrenamtlichen Wohnungspflegern übertrug.
Nach dem Senatsvorschlage sollte diese Behörde aus dem Dirigenten
des Polizeiamtes, einem zweiten Mitgliede des Senates und 8 bürger-
lichen Deputierten bestehen. Jeder Wohnungspfleger sollte in seinem
Bezirke, wo notwendig, Hilfspfleger zu seiner Unterstützung er-
halten. Diese Organisation vereinfachte die Kommission durch die
Streichung der Hilfspfleger, die sie mit Recht als ein durchaus un-
taugliches Organ bezeichncte. Als Ersatz vermehrte sie die Zahl
der Wohnungspfleger von 8 auf 30 und gab der Behörde das Recht,
einem von ihr zu wählenden Ausschüsse einzelne Aufgaben zu über-
weisen. Der Senat trat diesen Abänderungen bei. Die Kritik, die an
dem ehrenamtlichen Charakter des Wohnungspflcgeramtes u. a. auch
von dem Hamburger Medizinalrat Dr. Reineke geübt worden ist, hat
offenbar auf die Lübecker Gesetzgeber keinen Eindruck gemacht.
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Gesetz, bete, die Wohnungspflege in der Stadt Lübeck und deren Vorstädten.
Sie haben es sogar abgelehnt, den ehrenamtlichen Wohnungspflegern
einen beamteten Wohnungsinspektor zur Unterstützung beizugeben,
und wollen die Erfahrungen abwarten. Dafs dieselben vom volks-
hygienischen Standpunkte aus sehr günstige sein werden, darf man
füglich bezweifeln.
Wie lassen nunmehr die Texte der besprochenen Gesetz bzw.
Verordnung folgen :
LÜBECK.
Gesetz, betreffend die Wohnungspflege in der Stadt Lübeck und deren
Vorstädten.
Der Senat, im Einvernehmen mit der Bürgerschaft, hat beschlossen und ver-
kündet als Gesetz:
§ I. Zur Handhabung der Wohnungspflege in der Stadt und den Vorstädten
wird eine Behörde (Behörde für Wohnungspflege) eingesetzt, welche aus dem Diri-
genten des Polizeiamtes, einem zweiten Mitgliede des Senates und dreifsig bürger-
lichen Deputierten (Wohnungspflegern) besteht, von denen zehn in der inneren Stadt,
zehn in der Vorstadt St. Lorenz, fünf in der Vorstadt St. Jürgen und fünf in der
Vorstadt St. Gertrud ihren Wohnsitz haben sollen.
Die Behörde für Wohnungspflege kann einzelne Obliegenheiten einem von ihr
zu wählenden Ausschufs, der aus den beiden Senatsmitgliedern und acht bürger-
lichen Deputierten besteht, zur Erledigung überweisen.
Jedem Wohnungspfleger wird ein besonderer Bezirk durch Beschlufs der Be-
hörde zugewiesen. Die Bezirkseinteilung ist alljährlich durch das Amtsblatt zu ver-
öffentlichen.
§ 2. Die Wohnungspfleger haben sich, soweit erforderlich, Kenntnis von den
gesundheitlichen Verhältnissen der Grundstücke und Wohnungen ihres Bezirks zu
verschaffen und zu erhalten. Insbesondere haben sie ihr Augenmerk zu richten:
a) auf die Beschaffenheit und Benutzung der Gebäude, Wohnungen und
Räume, im Hinblick auf die bestehenden und durch dieses Gesetz ein-
geführten sanitätspolizeilichen Vorschriften ;
b) auf die Zahl der Bewohner der einzelnen Räume im Verhältnis zu deren
Gröfse ;
c) auf die mechanischen Einrichtungen zur Versorgung des Grundstücks, der
Baulichkeiten und Wohnungen mit Wasser, sowie zur Entwässerung der-
selben ;
d) auf sonstige, die Gesundheit beeinflussende Zustände, namentlich inbetreff
der Trockenheit der Wohnung und der Reinlichkeit in- und aufserhalb
derselben ;
c) auf die Feuersicherheit der zum Wohnen, Arbeiten und Schlafen be-
stimmten Räume, sowie der Treppen und Zugänge.
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Gesetzgebung : Lübeck.
* *5°
Zu diesem Behttfe ist während der Zeit von 9 Uhr Morgens bis 8 Uhr Abends
den Wohnungspflegern innerhalb ihres Bezirks nach Vorlegung ihrer Legitimation der
Zutritt zu den öffentlichen und Privatgrundstücken, den Gebäuden und Wohnungen
zu gewähren ; auch ist ihnen auf Befragen Auskunft zu erteilen, wo und soweit es
zur Erfüllung ihrer Obliegenheiten nötig ist.
Falls es den Wohnungspflegern nicht gelingt, die Beseitigung der von ihnen
wahrgenommenen Mängel durch die Beteiligten zu bewirken, haben sie die Ange-
legenheit dem Vorsitzenden der Behörde anzuzcigen.
§ 3. Die Behörde für Wohnungspflege versammelt sich auf Berufung durch
den Vorsitzenden. Auf ‘ einen von mindestens drei Mitgliedern unter Angabe des
Grundes gestellten Antrag ist der Vorsitzende zur Berufung verpflichtet.
§ 4. Zu den Verhandlungen der Behörde sind der Physikus und der Bau-
polizei-Inspektor mit beratender Stimme hinzuzuziehen.
§ 5. Bei allen zum dauernden Aufenthalt von Menschen bestimmten Ge-
bäuden ist der Grundeigentümer, unbeschadet seiner Regrefsansprüche gegen dritte,
verpflichtet, die durch ungenügende Unterhaltung der Gebäude verursachten, für die
Bewohner gesundheitsschädlichen Zustände, sobald dieselben zu seiner Kenntnis ge-
langt sind, zu beseitigen. Insbesondere ist derselbe verpflichtet, Vorkehrungen zum
Suhutz gegen eindringende Feuchtigkeit zu treffen, die Wasservcrsorgungs- und Ent-
wässerungsanlagen, sowie die Aborte in ordnungsmäfsigem Zustande zu erhalten.
Insoweit die Schuld an den gedachten Mängeln den Mieter trifft, liegt diesem
ebenfalls die Pflicht der Beseitigung ob.
Der Grundeigentümer hat dafür Sorge zu tragen, dafs die zu seinem Grund-
stück gehörenden, nicht mit einer einzelnen Wohnung vermieteten Hofe, Lichthöfe
und LichtschSchte ordnungsmäfsig gereinigt, sowie dafs die dem Verkehr dienenden
Zugänge und Treppen bei cintretender Dunkelheit bis mindestens 10 Uhr abends
ausreichend erleuchtet werden. Wenn und soweit der Grundeigentümer durch Ver-
trag einem Mieter die ihm nach dem vorigen Satze obliegenden Verpflichtungen auf-
crlegt hat, so trifft die gesetzliche Verpflichtung den Mieter.
§ 6. Alle Wohnungen müssen in ausreichender Weise durch Tageslicht er-
hellt und mit Vorrichtungen zur Zuführung frischer Luft versehen sein.
§ 7. Der gesamte Luftraum einer Wohnung mufs so grofs sein, dafs auf
jeden Bewohner 15 cbm, auf Kinder unter 10 Jahren 7,5 cbm entfallen; Kinder
unter einem Jahre bleiben hierbei aufser Betracht In Häusern, die nur von einer
Familie bewohnt werden, kann der Dachboden dem Luftraum der Wohnung hinzu-
gerechnet werden.
§ 8. Die Schlafräumc müssen für jede über 10 Jahre alte Person 10 cbm
Luftraum gewähren. Für Kinder unter io Jahren genügt die Hälfte, Kinder unter
einem Jahre bleiben aufser Betracht.
Bei Berechnung des Luftraumes dürfen den Schlafräumen benachbarte, mit
diesen in unmittelbarer Verbindung stehende Nebenräume, auch zur Wohnung ge-
hörige Korridore, sofern dieselben den Benutzern der Schlafräumc zur ausschlicfs-
lichcn Verfügung stehen, mitgerechnet werden.
Bezüglich des Luftraumes kann die Behörde für Wohnungspflege eine Er-
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Gesetz, betr. die Wohnungspflege in der Stadt Lübeck und deren Vorstädten, j 5 1
mäl'sigung der Forderung eintreten lassen, wenn besonders günstige Umstände inbe-
zug auf Beleuchtung und Lüftung der Räumlichkeiten, insonderheit sclbstthätige
Lüftungsvorrichtungen, vorhanden sind.
Andererseits kann die Forderung an die GrÖfsc des Luftraumes angemessen —
höchstens bis zu 15 cbm — erhöht werden, wenn die Schlafräume zugleich als
Arbeitsräumc benutzt werden.
§ 9. Wenn sich aus dem Zusammenwohnen mehrerer Familien in einer nur
für eine Familie errichteten Wohnung gesundheitliche oder sittliche Mifsständc er-
geben, so ist die Behörde für Wohnungspflege befugt, eine bauliche Teilung oder
eine zweckentsprechende Veränderung in der Benutzungsweise der Wohnung an-
zuordnen.
Der Vermieter hat dafür zu sorgen, dafs den Bewohnern der Mietwohnungen
eine genügende Anzahl mit hinreichender Lüftung versehener Aborte zur Ver-
fügung steht.
§ 10. Die Vermietung einzelner Teile einer Wohnung ist nur gestattet, sofern :
a) dem Vermieter mindestens ein vcrschliefsbarer und heizbarer, am un-
mittelbaren Licht liegender Kaum zur ausschliefslichcn Benutzung ver-
bleibt, und
b) sowohl inbezug auf die dem Vermieter verbleibenden, als auch inbezug
auf die dem Mieter zugewiesenen Räume den durch § 8 bestimmten
Mindestanforderungen an Luftraum für Schlafräumc genügt ist.
§ 11. Diejenigen, welche anderen Personen in ihren Räumen eine Schlafstelle
gewähren, sind gehalten, einer jeden Person ein besonderes Bett und mindestens für
je zwei Personen ein Wasch- und Trinkgeschirr zur Verfügung zu stellen. Bett und
Geschirr sind täglich in Ordnung zu bringen und sauber zu unterhalten. Die mit
Einlogierern belegten Räume sind vom Quartiergeber thunlichst täglich 1 — 2 Stunden
zu lüften, täglich besenrein zu halten, die Fufsböden sind mindestens einmal wöchent-
lich zu scheuern und die Räume jährlich zweimal, thunlichst nach Entfernung sämt-
licher Möbel, von Grund aus zu reinigen.
Im übrigen wird das Einlogiercrwesen besonderer polizeilicher Regelung Vor-
behalten.
§ 12. Jede gesundheitswidrige Benutzung einer Wohnung ist verboten.
Dahin gehört:
a) dauernde Verunreinigung der Wohnräume, Höfe, Lichthöfe und Licht-
schächte, Treppen, Gänge, Aborte und anderer Räume;
b) Luftverderbnis durch Aufbewahrung von Knochen und Lumpen oder
sonstiger faulender Gegenstände oder durch Vornahme übelriechender ge-
werblicher Verrichtungen oder durch das Halten von Tieren ;
c) Erregung von Feuchtigkeit durch zweckwidrige und nachlässige Benutzung
der Wasscrleitungs-, Entwässerungs-, Heizungs- und Kochanlagcn ;
d) Vernachlässigung genügender Lüftung, Entleerung und Reinigung der
Aborte.
§ 13. Die zur Beseitigung gesundheitsschädlicher Zustände getroffenen An-
ordnungen haben, wenn sic bauliche Arbeiten betreffen, gleichviel ob sie sich gegen
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Gesetzgebung: Lübeck, Württemberg.
den Grundeigentümer oder gegen den Mieter richten, die Art und den Umfang der
Arbeiten genau zu bezeichnen.
Grundeigentümer, Bewohner, Untermieter, Quartiergeber, gegen die eine Be-
schwerde vorliegt, können beanspruchen, von der Behörde für Wohnungspflege per-
sönlich gehört zu werden.
Erfordern die angeordneten baulichen Arbeiten eine längere Zeit und ist Ge-
fahr im Verzüge, oder wird den getroffenen Anordnungen nicht Folge geleistet, so
kann, ebenso wie bei Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen der §§ 5 ff. dieses
Gesetzes, die Räumung einzelner Teile einer Wohnung oder der ganzen Wohnung
angeordnet werden.
Auf diesem Wege geräumte oder geschlossene Wohnungen oder Teile einer
Wohnung dürfen ihrer ursprünglichen Bestimmung erst nach erfolgter Erledigung
der Anordnung zurückgegeben werden, und zwar nicht vor schriftlich erteilter Ge-
nehmigung durch das Polizeiamt.
§ 14. Durch dieses Gesetz wird die Zuständigkeit des Polizei- und Medizinal-
amtes in der Ausübung der Wohnungs- und Gesundheitspolizei nicht berührt.
§ 15. Zuwiderhandlungen gegen die von der Behörde für die Wohnungs-
pflege erlassenen Anordnungen, sowie gegen die Bestimmungen dieses Gesetzes
werden, falls sie nicht nach den allgemeinen Strafgesetzen schwerer zu ahnden sind,
unbeschadet der Bestimmung des § 13 Absatz 3, mit Geldstrafe bis zu Mk. 60 be-
straft. Für den Erlafs der Strafverfügungen ist das Polizeiamt zuständig.
§ 16. Dieses Gesetz tritt sechs Monate nach seiner Verkündung in Kraft.
Für die ersten zwei Jahre kann die Behörde für Wohnungspflege Ausnahmen
von den Vorschriften der §§ 7, 8 und 10 gestatten.
Dem Senate bleibt es allgemein Vorbehalten, in dazu geeigneten Fällen Dispens
von den Vorschriften dieses Gesetzes zu erteilen.
§ 17. Dieses Gesetz ist vor Ablauf von 5 Jahren einer Revision zu unter
ziehen.
Uebergangsbcstimniung.
Um einen rcgelmäfsigcn Wechsel herbeizufuhren, scheiden das erste Mal von
den in St. Jürgen und in St. Gertrud wohnenden Wohnungspflegern je zwei, von
den in der inneren Stadt und in St. Lorenz wohnenden je drei schon nach vier und
eben so viele nach fünf Jahren aus.
Die Betreffenden werden von der Behörde für Wohnungspflege durch das Loos
bestimmt.
WÜRTTEMBERG.
Verfügung des Ministeriums des Innern Uber die Wohnungsaufsicbt.
Vom 21. Mai igoi.
Auf Grund der Art. 29 a, 32 Ziff. 5 und 51 des Polizeistrafgesetzes vom
27. Dezember 1871 (Rcg.-Blatt S. 391) 4. Juni 1898 (Reg.-Blatt S. 1 49) wird hier-
mit verfügt, wie folgt:
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Verfügung des Ministeriums des Innern Über die Wohnungsaufsicht. 153
§ I. In sämtlichen Oberamtsstädten sowie in denjenigen sonstigen Gemeinden,
welche mehr als 3000 Einwohner haben, unterliegen der in den nachstehenden
Vorschriften geordneten besonderen ortspolizeilichen Wohnungsaufsicht:
t. alle aus drei oder mehreren Wohnräumen bestehenden Wohnungen,
2. alle Wohnungen, in welche Schlafgänger gegen Entgelt aufgenommen
werden,
3. alle zur gewerbsmäfsigen Beherbergung von Fremden bestimmten Räume,
4. alle Schlafgelasse der im Hause des Arbeitgebers oder der Dienstherr-
schaft wohnenden Arbeiter, Lehrlinge und Dienstboten.
Als Wohnräume (Abs. i Ziff. 1) zählen auch die Küchen.
Die in Aftermiete gegebenen Wohnräume sind als selbständige Wohnungen zu
betrachten. Räume, welche mit einander in unmittelbarer offener Verbindung stehen,
wie Zimmer und Alkoven, gelten als ein Raum.
Hof- und Staatsgebäude, sowie Anstalten, welche einer besonderen staatlichen
Kontrolle unterstehen, sind von der durch die gegenwärtige Verfügung angeordneten
ortspolizeilichen Wohnungsaufsicht ausgenommen.
§ 2. Behufs der Ausübung der Wohnungsaufsicht (§ l) haben die Ortspolizei-
behörden dafür zu sorgen, dafs alle dieser Aufsicht unterliegenden Wohnungen, Ge-
lasse und Räume in regelmäfsigcr Wiederholung, so oft als dies nach den be-
sonderen Verhältnissen der einzelnen zu untersuchenden Räume erforderlich er-
scheint, mindestens aber alle zwei Jahre einmal zum Zweck der Fernhaltung und
Beseitigung erheblicher das Leben, die Gesundheit oder die Sittlichkeit gefährden-
der Mifsständc besichtigt werden.
Erlangt die Polizeibehörde auf Grund einer Besichtigung in Verbindung mit
der durch die polizeilichen An- und Abmeldungen der Bewohner ermöglichten Kon-
trolle oder auf andere Weise die Ucbcrzeugung von dem fortdauernden ordnungs-
mäfsigen Zustand und der ordnungsmäfsigen Benutzung bestimmter Wohnungen,
Räume oder Schlafgclasse, so kann sic bezüglich dieser einzelnen Wohnungen,
Räume oder Schlafgelassc von der nach Abs. 1 vorgeschriebenen periodischen Be-
sichtigung von Fall zu Fall oder auch auf unbestimmte Zeit Abstand nehmen.
Die Bestellung der mit der Vornahme der Wohnungsbesichtigungen zu beauf-
tragenden Organe ist Sache der Gemeindeverwaltung. Wo nicht besondere Wohnungs-
inspektoren bestellt werden, können insbesondere die Mitglieder der OrLsfeuerschau
und deren Stellvertreter mit den Aufgaben der Wohnungsbesichtigung betraut werden.
(Zu vergl. auch § 35 Abs. 2 der K. Verordnung, betreffend die Feuerpolizei vom
21. Dember 1876 (Reg.-Blatt S. 5 13)/ 4. Januar 1888 (Reg.-Blatt S. 15).
§ 3. Werden zu den Wohnungsbesichtigungen technisch nicht vorgebildetc
Mitglieder der Ortsfeuerschau oder andere Bedienstete , welche einer technischen
Ausbildung entbehren, wie Schutzleute oder Polizeidiener verwendet, so müssen die-
selben über die ihnen gestellten Aufgaben eingehend belehrt und mit geeigneten
Formularen für die Verzeichnung der in den beanstandeten Wohnungen gefundenen
Mängel, wofür zwei Muster in Anlage 1 und 2 angeschlosscn sind, ausgerüstet sein
und es hat sich ihre Thätigkeit auf die Besichtigung der Wohnung, die Ausfüllung
des Formulars und dessen Vorlage an die Vorgesetzte Behörde zu beschränken.
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'54
Gesetzgebung : Württemberg.
§ 4. Den mit der Ausübung der Wohnungsaufsicht beauftragten Organen ist
der Zutritt zu den sämtlichen der Besichtigung unterliegenden Räumen zu gestatten.
Die Besichtigung einer Wohnung, eines Zimmers oder Schlafraums hat sich stets
auch auf die dazu gehörigen Nebenräume zu erstrecken.
Die Aufsichtsbeamten haben sich beim Betreten fremder Wohnungen anzu-
melden, sich unaufgefordert über ihre Person und ihren Dienst auszuweisen und die
Wohnungsbesichtigung zu einer Zeit und in einer Weise vorzunehmen, dafs hier-
durch eine Belästigung der Beteiligten möglichst ausgeschlossen wird.
§ 5. Um erhebliche die Gesundheit, das Leben oder die Sittlichkeit ge-
fährdende Mifsstände möglichst zu beseitigen, ist die Einhaltung der nachstehenden
Grundsätze geboten :
1. Alle Schlafgclasse sollen eine solche Gröfsc haben, dafs auf jeden Be-
wohner, mag er auch nur vorübergehend ?.. B. behufs eines Besuchs von
nicht ganz kurzer Dauer in die Wohnung aufgenommen sein, ein Raum
von mindestens 10 cbm, auf jedes Kind unter 14 Jahren ein Raum von
mindestens 5 cbm entfallt.
2. Räume, in welchen für den Handel und Verkehr bestimmte Nahrungs-
mittel verarbeitet oder auf bewahrt werden, dürfen zum Schlafen nicht be-
nutzt werden.
3. Jeder Wohn- oder Schlafraum, jeder Abort und in der Regel auch jede
Küche soll mindestens ein ins Freie führendes, ganz zu öffnendes Fenster
von solcher Gröfse und Beschaffenheit besitzen , dafs eine genügende
Lüftung und Belichtung des betreffenden Raumes stattfindet.
4. Die Wohn- und Schlafräumc, Treppen, Flure, Aborte, sowie die Um-
gebung der Wohnung, wie Höfe und Winkel, müssen reinlich gehalten sein.
5. In jedem Wohngebäude mufs die seiner Benutzung entsprechende Anzahl
von Aborten vorhanden und es mufs jedem Bewohner des Hauses die
Möglichkeit der ungehinderten Benutzung eines Abortes gegeben sein, wo-
bei cs übrigens nicht unbedingt erforderlich ist, dafs sich der Abort auf
demselben Stockwerk befindet wie die betreffende Wohnung oder
Schlafstätte.
Jeder Abort mufs von innen vcrsehlicfsbar, der Sitz mufs mit einem
dichtverschlicfscnden Deckel oder einer sonstigen Abschlufsvorrichtung
versehen sein.
Soweit die Aborte den für sie bereits geltenden sonstigen Vor-
schriften nicht entsprechen, mufs auf sofortige Abhilfe gedrungen werden.
6. Die Wohn- und Schlafräume dürfen nicht feucht sein.
7. Kellerrräume dürfen zu Wohn- und Schlafzwecken nicht verwendet
werden.
Die Benutzung von Untergeschossen (Souterrains) zum Wohnen oder
Schlafen kann, soweit nicht schon ortsbaustatutarische Vorschriften dies
verbieten, trotz der Einhaltung der in dieser Hinsicht bestehenden all-
gemeinen baupolizeilichen Vorschriften untersagt werden, wenn im ein-
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Verfügung des Ministeriums des Innern über die Wohnungsaufsicht. j £ ij
zclncn Falle aus besonderen Gründen gewichtige gesundheitspolizeiliche
Bedenken dagegen bestehen.
8. Räume, insbesondere auch Dachräume, welche als Wohn- oder Schlaf-
räume benutzt werden, müssen, soweit nicht nach den bestehenden Vor-
schriften für sic ein feuersicherer Boden vorgeschrieben ist, einen Holz-
boden oder einen anderen dichten Bodenabschlufs und verputzte oder mit
Holz verkleidete, dicht schlicfsendc Decken und Wände besitzen.
9. Die Schlafräume für Arbeiter, Lehrlinge, Dienstboten und Schlafgängcr
dürfen ihrer Lage nach für den Fall eines Brandes nicht in besonderem
Mafsc gefährdet sein ; insbesondere dürfen die Zugänge zu denselben nicht
durch Aufbewahrungsräume von leicht brennbaren Stoffen führen.
10. Die Scblafräume der in Ziff. 9 genannten Personen müssen von innen gut
verseht iefsbar sein und es dürfen einen solchen Schlafraum nur Personen
desselben Geschlechts benutzen ; auch mufs jede dieser Personen ihre be-
sondere räumliche Lagerstätte haben. Diese Vorschrift findet auf einzelne
Ehepaare, welche einen besonderen Schlafraum für sich und ihre Familie
benutzen, keine Anwendung ; auch ist es statthaft, in den Schlafraum
weiblicher Dienstboten Knaben im Alter von weniger als 12 Jahren zu
legen.
§ 6. Die Erlassung weitergehender bezirks- oder ortspolizeilichcr Vor-
schriften insbesondere eines Verbots der Aufnahme von Personen verschiedenen Ge-
schlechts als Schlafgänger in eine und dieselbe Wohnung, sowie die Erlassung
weiterer polizeilicher Vorschriften zur Ueberwachung des Geschäftsbetriebs der Schlaf-
stellenvermietcr auf Grund des Abs. 3 des Art. 29 a des Polizeistrafgesetzes bleibt
den zuständigen Polizeibehörden überlassen, wie auch derartige bereits bestehende
Vorschriften in Kraft bleiben.
§ 7. Die Ortspolizeibehörden werden angewiesen, wenn die in § 5 Ziff. 2,
4, 5, 6, 8, 9 und io gegebenen Vorschriften nicht cingehaltcn sind, unverwcilt die
erforderlichen Einleitungen zur Beseitigung dieser Mifsstände zu treffen.
Von der Einhaltung der in § 5 Ziff. I, 3 und 7 aufgestellten Anforderungen
kann bis auf weiteres überall da abgesehen werden, wo die sofortige Durchführung
der einzelnen Bestimmung eine unverhältnismälsige Härte in sich schliefsen würde.
§ 8. Die zur Abstellung von Milssländen erforderlichen polizeilichen Auflagen
sind in allen Fällen, in welchen eine bauliche Abänderung verlangt wird, nur an
den Hauseigentümer oder dessen Stellvertreter zu richten.
Wird die Benutzung einer Wohnung oder eines Gelasses sei es überhaupt oder
wegen Ueberftillung beanstandet, so kann eine entsprechende Auflage sowohl dem
Hauseigentümer oder dessen Stellvertreter, als auch dem Mieter, Arbeitgeber, Dienst-
herrn oder Schlafstellcnvermictcr oder auch letzteren Personen allein gemacht werden.
§ 9. Den Ortspolizcibchörden wird cs zur besonderen Pflicht gemacht, die
Wohnungsaufsicht in möglichst schonender Weise zu handhaben, die Beteiligten zu-
nächst Über die zu stellenden Anforderungen aufzuklären, sie zu beraten und mit
polizeilichen Auflagen erst vorzugehen, wenn eine Herbeiführung geordneter Zu-
stände auf anderem Wege sich als aussichtslos erweist.
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156
Gesetzgebung: Württemberg.
Ist die Erteilung einer polizeilichen Auflage notwendig, so mufs die zur Er-
füllung dieser Auflage anzusetzendc Frist nach Mafsgabc der thatsächlichen Ver-
hältnisse ausreichend bemessen sein.
In den geeigneten Fällen haben die Polizeibehörden behufs Beseitigung oder
Fernhaltung einer Notlage sich bei Zeiten mit wohlthätigen Vereinen ins Benehmen
zu setzen, erforderlichen Falles auch von sich aus das rechtzeitige Eingreifen der
Armenbehörden zu veranlassen.
§ io. Die Erteilung polizeilicher Auflagen in Wohnungssachen ist Sache des
Ortsvorstehers oder eines in Gemäfsheit des Art. 20 des Gesetzes vom 21. Mai 1891,
betreffend die Verwaltung der Gemeinden , Stiftungen und Amtskörperschaften
(Reg. -Blatt S. 103), für die Wohnungsaufsicht zu bestellenden Hilfsbeamten.
Die polizeilichen Auflagen in Wohnungssachen sind mit Gründen zu versehen.
Soll auf Grund einer von technisch nicht vorgebildeten Bediensteten (§ 3) er-
hobenen Beanstandung eine polizeiliche Auflage von einschneidender Wirkung er-
lassen, beispielsweise die weitere Benutzung einer Wohnung oder eines Gelasses ganz
verboten werden, so empfiehlt es sich, zuvor das Gutachten eines zum Staatsdienst
befähigten Arztes und, soweit bautechnische Fragen in Betracht kommen, eines ge-
prüften Bauverständigen einzuholen, welchen die nochmalige Besichtigung der be-
anstandeten Räume anheimzugeben ist.
§ II. Die polizeiliche Auflage ist dem davon Betroffenen entweder mündlich
zu Protokoll zu eröffnen, wobei dem Betroffenen auf sein Verlangen eine Abschrift
der Auflage unentgeltlich zu erteilen ist, oder in Abschrift zuzustellen. Die Zu-
stellung erfolgt durch einen Gemeindebediensteten gegen einfache Empfangsbe-
scheinigung, welche im Falle der Verweigerung der Unterschrift durch die amtliche
Beurkundung der Uebergabe ersetzt wird, oder durch Postsendung mit vereinfachter
Zustellung. (Vgl. § 30 Abs. 2 lit. b der württ. Postordnung vom 21. Mai 1900,
Reg.-Blatt S. 369, sow'ie §§211 und 212 der C.P.O.)
§ 12. Gegen die polizeiliche Auflage steht dem davon Betroffenen die Be-
schwerde an die Vorgesetzten Behörden, zunächst an das Oberamt zu.
Durch Einlegung der Beschwerde wird der Vollzug der Auflage gehemmt.
Es kann jedoch bei oder nach der Erteilung der Auflage dem Betroffenen von
der Polizeibehörde eine Frist zur Erhebung der Beschwerde mit der Wirkung erteilt
werden, dafs, wenn innerhalb dieser Frist Beschwerde nicht erhoben wird, der
zwangsweise Vollzug der Auflage nach Ablauf der für ihre Erledigung gesetzten
Frist trotz nachträglich etwa erfolgter Beschwerdeerhebung eingeleitct werden kann.
Ebenso kann, wenn cs sich um Mifsständc von solcher Bedeutung handelt, dafs
deren sofortige Beseitigung aus polizeilichen Gründen dringend geboten ist, die
zwangsweise Beseitigung trotz rechtzeitig erfolgter Beschwerdeerhebung eingcleitet
werden. Es ist aber darüber, dafs das geschehen wird, dem Betroffenen ausdrück-
liche Eröffnung zu machen und es soll in der Regel mit der zwangsweisen Vollziehung
der Auflage erst vorgegangen werden, wenn seit dieser Eröffnung drei Tage ver-
strichen sind.
§ 13. Zuständig zur Erlassung von Strafverfügungen wegen Uebertrctungen
des Art. 29 a und des Art. 32 Ziff. 5 des Polizeistrafgesetzes ist das Oberamt, so-
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Verfügung des Ministeriums des Innern über die Wohnungsaufsicht. \^J
weit nicht die Ucbertretung einer auf Grund des Art. 32 Ziff. 5 des Polizeistraf-
gesetzes erlassenen ortspolizeilichcn Vorschrift in Frage steht. Im letzteren Falle
kommt die Erlassung von Strafverfügungen dem Ortsvorstehcr innerhalb der Grenzen
seiner Strafbefugnis zu. (Zu vgl. Art. 10 Ziff. 2 und Art. 14 der Polizeistrafnovelle
vom 12. August 1879.)
Ohne vorgängige polizeiliche Auflage darf, auch wenn es sich um eine Ver-
fehlung gegen eine auf Grund des Art. 32 Ziff. 5 des Polizeistrafgesetzes erlassene
wohnungspolizeiliche Vorschrift handelt, eine Strafverfügung nicht erlassen werden.
Einer wiederholten polizeilichen Auflage bedarf cs dagegen nicht mehr, wenn durch
die gemachte Auflage die dauernde Herbeiführung eines Zustands oder die perio-
dische Vornahme einer Thätigkeit z. B. des Reinigens der Wohnung aufgegeben
oder eine bestimmte Benutzungsweise der Wohnung ein für alle Mal verboten
worden ist. In diesen Fällen kann nach vorausgegangener einmaliger Auflage so-
fort strafrechtlich eingeschritten werden, so oft der vorgeschriebene Zustand be-
einträchtigt, die verlangte Thätigkeit unterlassen oder das erteilte Verbot über-
treten wird.
Unberührt bleibt die Befugnis der Polizeibehörden, gemäfs Art. 2 Abs. 2 der
Polizeistrafnovcllc vom 12. August 1879 ihre Auflagen, abgesehen von polizeilichen
Strafverfügungen, in den geeigneten Fällen auch durch Anwendung sonstiger gesetz-
licher Zwangsmittel, beispielsweise durch Vornahme der angeordneten baulichen
Aenderung auf Kosten des Hauseigentümers oder durch zwangsweise Räumung einer
ungeeigneten Wohnung zur Ausführung zu bringen.
§ 14. Den Gemeinden mit 3000 oder weniger Einwohnern bleibt es über-
lassen, die Wohnungsaufsicht nach Mafsgabc dieser Verfügung durch ortspolizeiliche
Vorschrift einzuführen.
§ 15. Die Oberämter und Oberamtsphysikate werden angewiesen, auf die
Handhabung der Wohnungsaufsicht in den Gemeinden, insbesondere bei Vornahme
von Visitationen ihr besonderes Augenmerk zu richten.
§ 16. Die Erlassung weiterer Vorschriften Über die Wohnungsaufsicht, sowie
die Veranstaltung besonderer statistischer Erhebungen über die in den Wohnungen
herrschenden Zustände bleibt Vorbehalten.
§ 17. Die Vorschriften der Gewerbeordnung über die Arbeitsräume der ge-
werblichen Arbeiter werden durch die gegenwärtige Verfügung nicht berührt.
Stuttgart, den 21. Mai 1901.
Pi sch ek.
HESSEN.
Gesetz betreffend die Wobnungsfürsorge für Minderbemittelte.
Ernst Ludwig von Gottes Gnaden Grofsherzog von Hessen und bei Rhein etc. etc.
Wir haben mit Zustimmung Unserer getreuen Stände verordnet und verordnen
hiermit, wie folgt:
Art I. Als zu Wohnungen für Minderbemittelte bestimmt gelten im Sinne
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Gesetzgebung : Hessen.
des gegenwärtigen Gesetzes solche Häuser, bei welchen nach ihrer Raumeinteilung
die Abgabe von Wohnungen mit nicht mehr wie drei Zimmern nebst Küche und
Zubehör als Regel vorgesehen ist.
Art. 2. Ein Darlehen, welches von einer Gemeinde bei der Landeskreditkasse
zur Förderung des Baues von Wohnungen der in Artikel l bezeichnetcn Art aul
Grund des Artikels I, Absatz 2, Ziffer 3 des Gesetzes, die Landeskreditkasse betreffend,
vom 6. August 1902 (Reg.-Bl. S. 351) aufgenommen werden soll, kann vorbehaltlich
der Vorschrift in Artikel 6, Absatz I, des gegenwärtigen Gesetzes bis zum vollen
Betrag der Kosten für den Erwerb des Baugeländes sowie für die Bauausführung
gewährt werden.
Solche Darlehen bedürfen in der Regel keiner dinglichen Sicherung. Wird
sie verlangt, so kann sie auch durch Einräumung eines Pfandrechts an einer auf
die Baugrundstückc eingetragenen Hypothek bestellt werden.
Art. 3. Unser Ministerium des Innern ist ermächtigt, im Einverständnis mit
unserem Ministerium der Finanzen, die Tilgung der nach Artikel 2 zu gewährenden
Darlehen in jedem fünften Jahre auf ein Jahr gegen die Verpflichtung der Darlchcns-
nehmerin auszusetzen, den dadurch erspart werdenden Betrag zur Vornahme gröfserer
Reparaturen zu verwenden oder für solche, falls sie erst künftig erforderlich werden,
anzusammeln.
Unser Ministerium des Innern ist ferner ermächtigt, im Einverständnis mit
Unserem Ministerium der Finanzen für bedürftige Gemeinden ausnahmsweise den
Zinsfufs der nach Artikel 2 zu gewährenden Darlehen, welche innerhalb der ersten
zehn Jahre nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes aufgenommen werden, für die
Dauer eines gleichen Zeitraumes von der Aufnahme des einzelnen Darlehens ab bis
auf ein Halb vom Hundert unter den sich nach Vorschrift des Artikels 5, Absatz 2,
des Gesetzes über die Landeskreditkassc berechnenden Zinssatz zu ermäfsigen.
Der hiernach sich ergebende Fehlbetrag an Zinsen ist als staatlicher Zuschufs
zur Forderung des Wohnungswesens alljährlich im Hauptvoranschlag der Staatsein-
nahmen und -Ausgaben besonders vorzuschcn.
A r t. 4. Das Darlehcnsgesuch ist unter Vermittelung des Kreisamts und mit
dessen gutachtlicher Aeufserung beim Ministerium des Innern einzurcichen. Das
Gesuch mufs über die beabsichtigte Art der Verwendung des Darlehens Auskunft
geben und auf Verlangen des Ministeriums des Innern durch die für erforderlich
erachteten näheren Nachweisungen ergänzt wferden.
Mit der Benachrichtigung der Gemeinde von der Bewilligung eines Darlehens
ist seitens des Kreisamts die Genehmigung der Darlehnsaufnahmc (Städeordnung,
Artikel 48, Ziffer 3, Landgemeindeordnung, Artikel 47, Ziffer 3) zu verbinden.
Im übrigen bemifst sich das Verfahren nach den Vorschriften der Artikel 7 ff.
des Gesetzes über die Landeskreditkassc.
Art. 5. Einer Gemeinde kann ein Darlehen auch zu dem Zwecke gewährt
werden, einer gemeinnützigen rechtsfähigen Vereinigung des öffentlichen oder pri-
vaten Rechts, welche die Erbauung von Wohnungen für Minderbemittelte zur Auf-
gabe hat, die erforderlichen Mittel ebenfalls darlehnsw’eise zu verschaffen.
Im Falle eines in anderer Weise nicht zu beseitigenden Mangels an solchen
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Gesetz, betreffend die Wohnungsfürsorge für Minderbemittelte. j
Wohnungen kann die Gemeinde zu dieser Darlehnsaufnahmc auf Antrag einer Ver-
einigung der bezeichneten Art durch Erkenntnis des Kreisausschusses für verpflichtet
erklärt werden.
In diesem Erkenntnis sind zugleich die Bedingungen der Darlchenshingabc an
die bezüglichen Vereinigungen , welche eine zweckmäfsigc Benutzung der herzu-
stellenden Wohnungen und deren angemessene bauliche Unterhaltung gewährleisten,
festzusetzen.
Auf das Verfahren vor dem Kreisausschussc und die Anfechtung seines Er-
kenntnisses finden die Artikel 48, II, 2 und 67 der Kreis- und Provinzialordnung
entsprechende Anwendung.
Art. 6. In den Fällen des Artikels 5 darf das von der Gemeinde zu ge-
währende Darlehen neun Zehntel des in Artikel 2 erwähnten Betrags nicht über-
schreiten.
Für die Vereinbarungen, welche die Gemeinde mit der Empfängerin des Dar-
lehens über dessen Sicherstellung, Verzinsung und Tilgung trifft, sind die der Ge-
meinde gegenüber der Landeskrcditkassc obliegenden Leistungen bezüglich der Ver-
zinsung und Tilgung insofern mafsgebend, als sich die Gemeinde höhere Zinsen
oder eine raschere Tilgung nicht ausbedingen darf.
Art 7. In den Fällen des Artikels 5 darf der Gemeinde ein Baudarlehcn nur
gewährt werden, wenn zwischen ihr und der Empfängerin die erforderlichen Verein-
barungen zustande gekommen sind, welche eine zweckentsprechende Benutzung der
herzustellenden Wohnungen und deren angemessene bauliche Unterhaltung gewähr-
leisten.
Die Gemeinde kann das Darlehen ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist
kündigen, w'enn die Empfängerin die getroffenen Vereinbarungen nicht einhält oder
wenn einer der in Artikel 12 des Gesetzes über die Landeskreditkassc genannten
Gründe vorlicgt
Erscheint die Zweckbestimmung des mit dem Darlehen hergcstellten Gebäudes
nebst zugehörigem Gelände gefährdet, so ist die Gemeinde zugleich berechtigt, das-
selbe zu dem durch diesen Zweck bestimmten Werte nach Mafsgabe des Gesetzes,
betreffend die Enteignung von Grundeigentum, vom 26. Juli 1884, in der Fassung
der Bekanntmachung vom 30. September 1899 (Reg.-Bl. S. 735) in Eigentum zu er-
werben.
Art. 8. Die Auszahlung des bewilligten Darlehens kann in angemessenen
Teilbeträgen erfolgy , deren Auszahlung von dem Nachweis abhängig gemacht
u’crden kann, dafs die bisher gezahlten Beträge in angemessenem Umfange zur Be-
friedigung der Forderungen der Baubandwerker verwendet worden sind.
Art 9. Ist auf Grund der Artikel 7 und 15 des Gesetzes, betreffend die
polizeiliche Beaufsichtigung von Mietwohnungen und Schlafstellen vom I. Juli 1893
(Reg.-Bl. S. 1 01) die mietweise Benutzung der Mehrzahl von gesundheitsschädlichen
Wohnräumcn in einem Hause untersagt und die Ausweisung der in dieselben auf-
genommenen Personen bewirkt worden, so ist die Gemeinde, falls der Eigentümer
des Hauses einer weiteren Auflage des Umbaues oder der Niederlegung innerhalb
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Gesetzgebung: Hessen.
bestimmter Frist nicht entspricht , zur Enteignung des Hauses nebst zugehörigem
Gelände zwecks Herstellung von Wohnungen für Minderbemittelte befugt.
Art. IO. Artikel io des im Eingang des vorigen Artikels genannten Gesetzes
ist aufgehoben.
Art. II. Die auf Gemeinden bezüglichen Vorschriften des gegenwärtigen Ge-
setzes finden auf weitere Kommunalverbändc entsprechende Anwendung.
Art. 12. Unser Ministerium des Innern ist ermächtigt, für das Gebiet des
Grofshcrzogtums eine dem genannten Ministerium unterstehende Landes- Wohnungs-
Inspektion zu bilden, welche die Aufgabe hat, im Zusammenwirken mit den staat-
lichen und kommunalen Behörden die Wohnungverhältnisse der minderbemittelten
Volksklassen in gesundheitlicher und sittlicher Hinsicht festzustellen und in Gemein-
schaft mit dem hessischen Zcntralverein für Errichtung billiger Wohnungen, sowie
mit den gemeinnützigen Bauvereinen des Landes auf Beseitigung der sich ergebenden
Mifsstände hin/.uwirken.
Die Organisation und der Geschäftskreis der Inspektion im einzelnen bleibt
der Regelung durch Uns im Wege der Verordnung Vorbehalten.
Art 13. Alle Verhandlungen, welche die Erbauungen von Wohnungen für
Minderbemittelte nach Mafsgabe dieses Gesetzes zum Gegenstand haben, insbesondere
die Aufnahme und Sicherstellung von Darlehen, sowie der Erwerb von Gelände,
sind von Stempel und Gerichtsgebühren befreit. Der Artikel 2 des Gesetzes, be-
treffend die Befreiung gemeinnütziger, auf die Errichtung von Wohnungen für Un-
bemittelte gerichteter Unternehmungen von Gerichtsgebühren und Stempel , vom
9. Juni 1894 (Reg.-Blatt S. 245) findet entsprechende Anwendung.
Art 14. Allen Behörden wird zur Pflicht gemacht, die Erledigung von An-
gelegenheiten der durch dieses Gesetz berührten Art möglichst zu beschleunigen.
Art 15. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens gegenwärtigen Gesetzes wird durch
Verordnung bestimmt.
Unser Ministerium des Innern wird mit der Ausführung desselben beauftragt.
Urkundlich Unserer eigenhändigen Unterschrift und beigedrückten Grofsherzog-
lichen Siegels.
Darmstadt, den 7. August 1902.
Ernst Ludwig.
Rothe.
♦
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FRANKREICH.
Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffentlicher
Arbeiten in Frankreich. *)
Von
RAOUL JAY,
Professor an der juristischen Fakultät der Universität Paris.
Die Frage der Arbeitsbedingungen bei der Vergebung öffent-
licher Arbeiten ist in Frankreich zur Zeit durch die drei Dekrete
vom io. August 1899 geregelt. Die nachstehenden Zeilen sollen
darlegcn, unter welchen Verhältnissen, zu welchen Zwecken diese
Dekrete erlassen wurden und welche Bedeutung sie haben.
Die Aufgabe, den mit öffentlichen Arbeiten beschäftigten Ar-
beitern gewisse Arbeitsbedingungen zu sichern , hat die Aufmerk-
samkeit der öffentlichen Gewalten schon lange in Anspruch ge-
nommen. In verhältnismäßig alten Submissionsvorschriften (cahier
des chargesj finden sich öfters bezügliche Klauseln. So verbieten
die Vorschriften betr. allgemeine Bedingungen für Brücken- und
Strafsenbauten vom 16. November 1866 in ihrem Art. 11 dem
Unternehmer, die Arbeiter an Sonn- und Feiertagen zu beschäftigen,
ordnen ferner in Art. 16 an, „dafs von den dem Unternehmer zu
zahlenden Beträgen ein hundertstel zurückzubehalten ist, um unter
’) Bei der Abfassung des folgenden Artikels habe ich die nachstehenden
Werke benutzt: Mazoycr, les conditions du travail dans les chantiers de la ville
de Paris, 2. edition 1900. Oubert, les conditions du travail dans les adjudications
de travaux publics, 1900. Rapport fait au nom de la Commission du travail sur
les conditions du travail dans les marches de travaux publics, p. M. Pierre Baudin,
depute, 1899.
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. I I
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IÖ2
Gesetzgebung : Frankreich.
behördlicher Aufsicht den durch die Arbeiten verletzten oder er-
krankten Arbeitern Unterstützungen zu sichern, desgleichen ihren
Witwen und Kindern, und ferner zur Bestreitung der Kurkosten." ’)
In ihrer vollen Bedeutung wurde die Frage jedoch erst neuer-
dings durch den Pariser Stadtrat bezüglich der öffentlichen Ar-
beiten der Stadt Paris aufgeworfen. Am 31. Juli 1886 beschlofs der
Pariser Stadtrat die Festsetzung eines Normalarbcitstages von neun
Stunden und eines wöchentlichen Ruhetages für sämtliche Arbeiten
der Stadt Paris. Am 27. April 1887 fafste er in Ergänzung seines
Beschlusses vom vorhergehenden Jahre eine Resolution des Inhalts,
dafs die Löhne dieser Arbeiter nach den offiziellen Preislisten der
Stadt festzusetzen seien. Die Preislisten der Stadt Paris waren
lange Zeit lediglich Uebersichten der auf dem Markte thatsächiich
gezahlten Preise und Löhne, welche den Behörden der Stadt dazu
dienen sollten , die Kosten der notwendigen Arbeiten im voraus
wenigstens annähernd festzusetzen. Indessen trugen diese Listen
seit 1872 anderen Gesichtspunkten Rechnung; so berücksichtigte
man namentlich bei der letzten Revision vor 1887, bei jener im
Jahre 1882, die Forderungen gewisser Arbeitervereine und trug in
die Listen höhere Löhne ein als jene, wie sie die Mehrzahl der
Unternehmer zahlten. Dadurch, dafs der Pariser Stadtrat die Sub-
missionsunternehmer der städtischen Arbeiten zwang, den in diesen
Arbeiten beschäftigten Arbeitern die in der 1 882 er Liste einge-
tragenen Löhne zu zahlen, sicherte er diesen Arbeitern einen höheren
als den üblichen Lohn. Der Stadtrat wollte dem in den städtischen
Arbeiten Angestellten hierdurch einen die Existenz sichernden
Mindestlohn gewährleisten. Der Artikel 2 des Beschlusses vom
27. April 1887 ist übrigens in dieser Hinsicht besonders kenn-
zeichnend. Hiernach ist die offizielle Liste der Stadt Paris alljährlich
„dergestalt abzuändern , dafs die Lohnsätze stets im Einklang mit
den Preisen der Lebensmittel und den allgemeinen Existenzbe-
dingungen der Arbeiter bleiben." In der Verhandlung des Stadt-
rates erläuterte Vaillant diese Fassung folgendermafsen : Schon die
Erwägung, dafs der Lohn den Preis einer mit der Person des Ar-
beiters identifizierten Arbeitskraft darstellt, genüge seines Erachtens
zur Rechtfertigung des zweiten Teils (des eben angeführten Art. 2)
sowie zum Beweise, dafs die Stadt keinen anderen Mafsstab zur
Festsetzung ihrer Löhne zulassen dürfe, als den, der den von ihr
*) Vgl. den Baudinschen Bericht, S. io, Anmerkung.
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Ra oul Jay, Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öflentl. Arbeiten. 16}
angcstellten Arbeitern zu existieren gestattet . . . Die Sätze der
Liste waren ein Versuch , den Mindestlohn oder den Wert der
Arbeitskraft festzusetzen, welche der Arbeiter seinem Unternehmer
verkauft. Hierdurch erklärt sich, warum die Arbeitskommission die
Anwendung der Listensätze forderte, welche eine reelle, greifbare
Unterlage für die Schätzung der Kosten des Lebensunterhaltes
bietet.1)
Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, dafs der Beschlufs
vom 27. April 1887 einen Artikel enthielt, welcher die Regierung
aufforderte, die gesetzlichen Bestimmungen über die Akkordarbeit
(marchandage) durchfuhren zu lassen.
Die Frage der Arbeitsbedingungen bei der Vergebung öffent-
licher Arbeiten war also vom Pariser Stadtrat in ihrem ganzen
Umfange aufgerollt und in kühnem Anlauf gelöst. Doch stiefs die
Durchführung der Beschlüsse von 1886 und 1887 notwendig auf
manche Hindernisse. Vor allem auf den Widerstand der Regierung.
Am 17. März 1888 erliefs die Regierung ein Dekret, welches den
Beschlufs vom 27. April 1887 für nichtig erklärte. Nach den
Motiven des Dekrets wurde dem Stadtrat wohl die Befugnis zuer-
kannt, im städtischen Interesse die Submissionsbedingungen zu
regeln, er überschreite jedoch diese Befugnisse und beeinträchtige
die Freiheit der Arbeit, wenn er an Stelle der Uebereinkunft
zwischen Unternehmer und Arbeiter seine Regelung aufzwingen
wolle. Ferner behaupteten die Motive, dafs dem Beschlüsse vom
27. April 1887 die Verordnung vom 14. November 1837 entgegen-
stehe, welche jede Gemeinde verpflichte, die Bewerbungen um Ar-
beiten und Lieferungen der Konkurrenz und der Oeffentlichkeit
anheimzugeben; die Klauseln des Beschlusses vom 27. April 1887
hätten die Aufhebung des freien Wettbewerbs zur Folge; sie hielten
die Bewerber ab oder machten wenigstens die Mindestforderungen
illusorisch.
Trotz des Dekretes vom 17. März 1888 beharrte der Pariser
Stadtrat bei seinem Vorhaben , die Arbeitsbedingungen der in den
städtischen Arbeiten beschäftigten Arbeiter einheitlich zu regeln.
Er fafste am 31. März 1888 seinen Beschlufs vom 27. April 1887
von neuem.
Inzwischen hatten die Ansichten der Regierung sich geändert.
Es fanden Unteftiandlungen statt. Die erzielte Einigung erhielt
') Maioyer a. a. O. S. 99.
* II*
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Gesetzgebung: Frankreich.
ihre Bestätigung durch den Beschlufs des Stadtrates vom 2. Mai
1888, worauf der Seinepräfekt diesen Beschlufs namens der Re-
gierung genehmigte. Die Liste von 1882 erfuhr einige Aenderungen.
Doch sollten die Unternehmer den Arbeitern Löhne zahlen, die
denen der geänderten Liste mindestens gleich wären. Die tägliche
Arbeitszeit sollte 9 Stunden thatsächlicher Arbeit nicht über-
schreiten. Ein Tag der Woche sollte als Ruhetag gelten. Unter
aufsergewöhnlichen Verhältnissen oder bei unvorhergesehenen Zu-
fällen konnte der die Arbeiten leitende Ingenieur oder Architekt
die Ausführung von Arbeiten aufserhalb der vorschriftsmäfsigen
Stunden anordnen. Diese Ueberstunden sollten mit dem um 25 #f0
erhöhten Stundenlohn für Tagesarbeit und mit dem doppelten Lohn
für Nachtarbeit bezahlt werden.
Ausländische Arbeiter durfte der Unternehmer in jeder Ar-
beitsgattung nur bis zu einem zehntel der Arbeiterzahl beschäftigen.
Jede Uebertretung der angeführten Festsetzungen sollte eine Geld-
bufse von IO Francs nach sich ziehen, unbeschadet der Klauseln
und allgemeinen Bedingungen, wonach der Vertrag des Unter-
nehmers hinfällig werden konnte. Unter diesen Bedingungen wurden
die Instandhaltungsarbeiten der Bauabteilung am 10., II., 12. und
13. Juli 1888 vergeben. Zu den Submissionen zugelassen wurden
nur Unternehmer, welche sich zur Beobachtung der im Beschlüsse
vom 2. Mai 1888 aufgestellten Regeln verpflichteten.
Mazoyer versichert, dafs trotz der solchergestalt den Bewerbern
auferlegten Verpflichtungen die Mindestforderungen nicht höher
waren als bei früheren Submissionen.1)
Der Erfolg des Pariser Stadtrates sollte jedoch kein anhaltender
sein. Drei Unternehmer, welche die Verpflichtung hinsichtlich der
Arbeitsbedingungen nicht unterzeichnet hatten, wurden von der
Bewerbung ausgeschlossen, obwohl ihre Forderungen niedriger
waren als die ihrer Konkurrenten. Diese Unternehmer erhoben
bei dem Staatsrat Beschwerde. Elf andere Unternehmer und die
Arbeitgebersyndikate des Baugewerbes schlossen sich ihnen an. Der
Staatsrat hob durch Beschlufs vom 21. März 1890 wegen Ueber-
schreitung der Zuständigkeit die Verfügungen des Seinepräfektes
') Mazoyer a. a. O. S. 147. Auch der Bericht der Kommission des General-
rates für Brücken- und Strafscnbau enthält den Satz : „Widef Erwarten waren die
Mindestforderungen nicht höher als bei früheren Submissionen." Vgl. den Baudin-
schen Bericht, Anhang, S. 252.
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Kauul Jay, Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffenll. Arbeiten. I (5 ;
auf, wodurch er die Zuschläge im Juli 1888 genehmigt hatte.
Fünf Jahre später, am 25. Januar 1895, entschied der Staatsrat im
gleichen Sinne. Er fufst in dem Beschlüsse vom 25. Januar 1895
auf ganz demselben Grunde, wie die Regierung in ihrem auf-
hebenden Dekrete von 1888. Der Staatsrat erklärt auch seiner-
seits, dafs der Stadtrat seine Befugnisse überschreite, wenn er das
gesetzmäfsige Ergebnis der Uebcreinkunft zwischen Unternehmern
und Arbeitern durch eine aufgezwungene Regelung ersetze, und
der Durchführung der Verordnung vom 14. November 1837 ent"
gegenwirke, welche die Gemeinden verpflichte, Bewerbungen um
Arbeiten und Lieferungen der Konkurrenz und der Oeffentlichkeit
anheimzugeben.
Das Beharren des Staatsrates auf seinem Standpunkt zwang
die Verfechter der Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffentlicher
Arbeiten, auf die Durchführung der Reform innerhalb des rein
städtischen Gebietes zu verzichten, und sich an eine Instanz zu
wenden, die den Widerstand zu brechen vermochte, welcher dem
Vorgehen dcs Pariser Stadtrats entgegenwirkte. *)
Am 30. Dezember 1893 nahm der Pariser Stadtrat folgenden
Antrag Sautons an : „Die Stadtbehörde wird aufgefordert, sich mit
den Vertretern der Stadt Paris in der Kammer sowohl als im Senat
in Beziehung zu setzen, um im Parlament die vom Stadtrat im
Hinblick auf die Ausführung der Arbeiten auf den städtischen
Werkplätzen beschlossenen Klauseln und Arbeitsbedingungen voll
und ganz zur Annahme zu bringen.“ s)
Am 30. Januar 1894 brachte Vaillant in Verbindung mit einer
grofsen Anzahl seiner Kollegen in der Deputiertenkammer einen
Gesetzentwurf ein, welcher die Stadt Paris ermächtigte, alle zur
gehörigen Ausführung der Arbeiten geeigneten Mafsnahmcn un-
mittelbar ins Werk zu setzen oder in die Bedingungen für die
Vergebung von Neu- oder Instandhaltungsarbeiten aufzunehmen.
Zu diesen Mal’snahmen gehörten nach Art. 2 des Entwurfes die
’) Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, dafs eine Anzahl Stadtverwaltungen
in den Provinzen dem Pariser Stadtrat gleich versucht hatten, den in ihren öffent-
lichen Arbeiten beschäftigten Angestellten günstige Arbeitsbedingungen zu sichern,
so die Stadtverwaltungen von Toulouse, Limoges. Albi, Koubaix. Vgl. Ouberta.a.O.
S. 33-
*) Maroyer a. a. O. S. 237.
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Gesetzgebung: Frankreich.
Arbeitsbedingungen, wie sie durch den Beschlufs des Pariser Stadt-
rates vom 2. Mai 1888 festgesetzt worden.
Einige Monate darauf, am 23. Juni 1894, brachte Castelin
einen weitergehenden Entwurf ein , der die Regelung der Arbeits-
bedingungen auf den Werkplätzen des Staates, der Departements
und der gemeinnützigen Betriebe vorsah.
Beide Entwürfe wurden der Arbeitskommission überwiesen, und
am 10. März 1898 erstattete Lavy einen Bericht, in welchem er
die Resultate darlegte, zu welchen die Arbeitskommission gelangt
war. Die von der Kommission beschlossene Fassung besagte, dafs
der Staat, das Departement und die Gemeinden bei ihren Arbeiten,
würden diese von ihnen selbst ausgeführt oder durch Submission
vergeben, gehalten seien :
1. Den Arbeitern wöchentlich einen Ruhetag zu bewilligen,
oder die Bewilligung eines solchen zu fordern ;
2. die Beschäftigung ausländischer Arbeiter nur in je nach der
Art der Arbeiten zu bestimmendem Maximum zu gestatten;
3. in Gemäfsheit des Dekretgesetzes vom 2. März 1848 und
des Erlasses der provisorischen Regierung vom 21. März
1848 jede Akkordarbeit (marchandage) zu verbieten.
Nach der von der Kommission beschlossenen Fassung sollten
nur die vorstehenden Klauseln obligatorisch in die Vergebungs-
bedingungen aufgenommen werden. Doch ermächtigte derselbe
Entwurf auch die Departements und Gemeinden, diesen Bedingungen
(cahiers des charges) ferner Klauseln bezüglich der Festsetzung der
Löhne, der Arbeitszeit, sowie alle übrigen Klauseln einzufügen,
welche geeignet seien, die gehörige Ausführung der Arbeiten so-
wohl als die richtige Zahlung der Löhne, die gehörige Organisation
der Arbeit, des Gesundheits- und Unfallschutzes zu Gunsten
der Arbeiter zu gewährleisten.
Eis bleiben also, wie man sieht, die Arbeitskommission und ihr
Berichterstatter Lavy innerhalb desselben Bereiches, welches vor-
dem der Pariser Stadtrat eingenommen hatte. Man wollte den
Arbeitern der öffentlichen Arbeiten, sowohl der vergebenen als der
direkt von den öffentlichen Behörden ausgeflihrten , Arbeits-
bedingungen sichern, welche ihnen günstig wären. Die Legis-
laturperiode ging zu Ende, ohne dafs über den Bericht Lavys ver-
handelt worden. Bald nach dem Zusammentritt der 1898 ge-
wählten neuen Deputiertenkammer brachten Vaillant und Castelin
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Raoul Jay, Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffentl. Arbeiten.
ihre Entwürfe von neuem ein , denen sich weitere Entwürfe der
Abgeordneten Dansette und Holtz anschlossen. Nach ihrer Ver-
weisung an eine neue Arbeitskommission wurden diese Entwürfe
Gegenstand eines umfassenden, von Baudin (Lavy war 1898 nicht
wiedergewählt) erstatteten Berichtes, welchen der Berichterstatter
der Deputiertenkammer am 3. März 1899 vorlegte. Auf den ersten
Blick hat es den Anschein, als ob die von Baudin namens der
Arbeitskommission von 1899 dargelegten Ergebnisse identisch oder
doch nahezu identisch seien mit denen, welche Lavy im vorher-
gehenden Jahre formulierte, und ebenso fast identisch mit jenen,
welche der Pariser Stadtrat vergeblich durchzuführen versucht hatte.
In Wahrheit aber war dem nicht so. Der Baudinsche Bericht be-
deutete vielmehr eine neue Stellungnahme, welche von der früheren
erheblich abwich.
Der Pariser Stadtrat wollte den Arbeitern der öffentlichen Ar-
beiten angemessene Arbeitsbedingungen sichern, insbesondere wollte
er ihnen einen zur Sicherung einer anständigen Existenz aus-
reichenden Mindestlohn gewährleisten. Baudin dagegen sagt nur,
dafs das bei den öffentlichen Arbeiten angewandte System der
Submission, des Zuschlags an den Mindestfordernden, dazu fuhren
’ könne, die Arbeitsbedingungen der bei diesen Arbeiten beschäftigten
Arbeiter schlechter zu gestalten, als jene der anderen Arbeiter. Um
ein derartiges Resultat zu verhindern, macht er den Vorschlag, die
den Zuschlag erhaltenden Unternehmer zu verpflichten, ihren Ar-
beitern die üblichen Löhne zu zahlen, welche die anderen Unter-
nehmer allgemein zahlen, und ferner, ihren Arbeitern keine längere
Arbeitszeit aufzuerlegen, als sie in dem fraglichen Gewerbe und in
der betreffenden Gegend üblich ist.
Der Baudinsche Bericht enthält folgende Stelle : „Die Gesetze
über die Frauen- und Kinderarbeit, über die Arbeitsunfälle u. s. w.,
gehen offenbar von dem Gedanken aus, dafs die Arbeiter in
ihrem Leben und ihrer Gesundheit geschützt werden müssen.
Die von uns heute befürwortete Reform bedeutet unseres Er-
achtens einen minder kühnen Eingriff des Gesetzgebers in das
Gebiet des freien Wettbewerbs. Es scheint uns von Wichtig-
keit, ihre Tragweite von vornherein genau festzustellen. Das System
der Vergebung an den Mindestfordernden, wie es allen öffentlichen
Verwaltungen auferlegt ist, veranlafst selbstverständlich die Be
werber, ihre Selbstkosten nach den niedrigsten Preisen zu berechnen.
Es führt zur Herabsetzung der Löhne. Hat nun auch die Gesamt-
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Gesetzgebung: Frankreich.
heit kein Recht, sich in den Arbeitsvertrag einzumischen, um eine
der Parteien zu begünstigen, so darf man doch andererseits min-
destens fordern, dafs nichts geschieht, was einen der Vertrag-
schlicfsenden benachteiligt. Die Gesamtheit aber wirkt nun, will-
kürlich oder unwillkürlich, durch die Menge der von ihr angeord-
neten Arbeiten, durch das System und die Wichtigkeit der von ihr
mit der Privatindustrie getroffenen Vergebungsbeschlüsse, auf die
Herabdrückung der Löhne hin. Es ist dies aus Erfahrung bekannt.
Sie mufs daher den Arbeiter vor den unheilvollen Konsequenzen
ihres Systems schützen. Man sagt uns zwar: „Es ist nicht ihre
Aufgabe, zu bereichern." Wir aber erwidern : „Es ist nicht ihre
Aufgabe, arm zu machen." ’)
Die Resultate, zu welchen der Baudinsche Bericht gelangt,
ähneln in auffälliger Weise der Ansicht der Mehrheit des Obersten
Arbeitsrates, welcher im Jahre 1897 nach eingehender Beschäftigung
mit der Frage zu dem Schlüsse gelangte, dafs es zulässig sei : „dem
Unternehmer die Verpflichtung aufzuerlegen, die Lohnsätze und
Arbeitszeiten einzuhalten, wie sie in der Stadt oder Umgegend, wo
die Arbeit ausgeführt wird, als angemessene und übliche betrachtet
werden.“
In dem, dem Obersten Arbeitsrat im Aufträge seiner ständigen
Kommission vorgelegten Bericht äufserte sich der Berichterstatter
Kacufcr: „Wir bestreiten, dafs die Abänderung der Verordnung von
1837 und des Dekretes von 1882 eine versteckte Intervention des
Staates bedeutet oder den ersten Schritt auf dem Wege zur Fest-
legung eines Mindestlohnes in der Industrie. Wir haben nie und
nimmer an die Möglichkeit und an das praktische Ergebnis
einer so schwerwiegenden Mafsnahme geglaubt. Wir betonen nach-
drücklich, dafs unser Vorschlag ausschliefslich den Zweck verfolgt,
die verschiedenen öffentlichen Verwaltungen zu veranlassen , die
feststehenden üblichen Löhne einzuhalten oder einhalten zu lassen,
anstatt das Fortbestehen des gegenwärtigen Vergebungssystems zu
dulden, dessen unheilvolle Wirkung durch empörende Unterbietung
die Löhne herabdrückt.“
Die Verhandlung über den Bericht Baudins in der Kammer der
Deputierten am 4. und 5. Mai 1899 worden abgebrochen, ohne dafs
die Kammer zu einem Beschlüsse gelangt wäre. Und wahrschein-
*) Vgl. Baudins Bericht S. 8.
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Kaoul Jay, Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffentl. Arbeiten. I (5q
lieh warteten wir noch immer auf eine gesetzliche Regelung der
Frage, wenn nicht Millerand, im Juni 1899 in das Ministerium für
Handel und Industrie berufen, sich entschlossen hätte, sie auf dem
Wege des Dekrets zu lösen.
Wie der neue Handelsminister in der Arbeitskommission am
1. Juli 1899 bereits angekündigt hatte, haben die Dekrete vom
10. August 1899 die in Baudins Bericht gemachten Vorschläge im
grofsen und ganzen verwirklicht. Wie wir jedoch sehen werden,
haben die Dekrete nicht weit genug gehen und so einschneidende
Vorschriften geben können, als es dem Gesetze möglich gewesen
wäre.
Von den drei Dekreten vom 10. August 1899 beschäftigt sich
das erste mit den Arbeitsbedingungen bei den staatlicherseits ver-
gebenen Arbeiten und Lieferungen, das zweite mit den seitens der
Departements gemachten Abschlüssen, und das dritte mit jenen der
Gemeinden und gemeinnützigen Anstalten. Das für den Staat nun-
mehr geschaffene Verhältnis liegt ganz anders, wie jenes der De-
partements, der Gemeinden und der gemeinnützigen Anstalten.
Das erste Dekret legt den vom Staat abhängige^ Verwaltungen
nämlich die Verpflichtung auf, gewisse Klauseln den Be-
dingungen für die Vergebung ihrer Arbeiten einzufügen. Die
beiden anderen Dekrete verleihen den Departements, Gemeinden
und gemeinnützigen Anstalten lediglich die Befugnis hierzu. Die
von Baudin vorgeschlagene Fassung dagegen legte den Departe-
ments, Gemeinden etc. bestimmte Verpflichtungen auf. Ein Dekret
darf jedoch derartige obligatorische Bestimmungen für Departe-
ments, Gemeinden etc. nicht enthalten.
Dem ersten Dekret zufolge müssen die Bestimmungen
(cahiers de charges) für die Vergebung öffentlicher Arbeiten von
seiten des Staates Klauseln enthalten, durch welche sich der
Unternehmer verpflichtet, folgende Bedingungen zu erfüllen :
1. den Arbeitern und Angestellten allwöchentlich einen Ruhe-
tag zu gewährleisten;
2. ausländische Arbeiter nur in einem von der Behörde je
nach der Art der Arbeiten und nach der Gegend, wo
diese stattfinden , festzusetzenden Verhältnis zu beschäf-
tigen ;
3. den Arbeitern einen Normallohn zu zahlen, der für jedes
Gewerbe und in jedem Gewerbe für jede Arbeiterkategorie
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Gesetzgebung: Frankreich.
170
gleich ist dem allgemein üblichen Satze in der Stadt oder
der Gegend, wo die Arbeit ausgeführt wird;
4. die tägliche Arbeitszeit auf die übliche normale Arbeitszeit
für jede Arbeiterkategorie in der betreffenden Stadt oder
Gegend zu beschränken.
In unabwendbaren Notfällen darf der Unternehmer unter aus-
drücklicher und besonderer Genehmigung der Behörde von der
Einhaltung der in Absatz I und 4 festgesetzten Klauseln Abstand
nehmen. Die sich hierbei ergebenden Ueberstunden werden durch
eine Lohnerhöhung vergütet, deren Festsetzung durch die Ver-
tragsbedingungen geschieht.
Laut Art. I der beiden anderen Dekrete können (statt
müssen) die Bestimmungen über Vergebung von Arbeiten und
Lieferungen seitens der Departements, der Gemeinden und der
Wohlthätigkeitsanstalten Klauseln enthalten, nach welchen sich der
Unternehmer zur Einhaltung der Bedingungen verpflichtet, die, wie
wir eben sahen , für die Ucbernehmer von staatlichen Arbeiten in
allen Fällen obligatorisch sind. Eine Verpflichtung wird indessen
auch den Departements, Gemeinden und öffentlichen Wohlthätigkeits-
anstalten aufertegt. Doch handelt es sich hier um herkömmliche
Klauseln oder um solche, welche die Befolgung von Erlassen be-
zwecken, die Gesetzeskraft haben. Die Departements, Gemeinden u.s.w.
müssen in ihre Vergebungsbestimmungen eine Klausel aufnehmen,
nach welcher sich der Unternehmer verpflichtet, keinen Teil seiner
Vertragsleistung an Subunternehmer ohne die ausdrückliche Ge-
nehmigung der Behörde und unter dem Vorbehalt abzutreten, dafs
er sowohl der Behörde als den Arbeitern und Dritten gegenüber
persönlich haftbar bleibt. Eine weitere Klausel soll an das, Verbot
der Akkordarbeit (marchandage) erinnern, wie es aus dem Dekret
vom 2. März 1848 und dem Regierungserlafs vom 21. März 1848
erhellt.
Wie wir bereits erwähnten, müssen die Bedingungen (cahiers
des charges) über die Vergebungen seitens des Staates, und können
jene der Departements, Gemeinden und der Wohlthätigkeitsanstalten
eine Klausel enthalten, nach welcher der Unternehmer sich zur
Zahlung eines Normal lohnes an die Arbeiter verpflichtet. Man
darf sich durch den Ausdruck Normallohn nicht täuschen lassen.
Uebrigens erklärt ihn auch der weitere Text des Art. I hinlänglich :
Als Normallohn ist zu verstehen der Lohn für jedes Gewerbe, und
in jedem Gewerbe für jede Arbeiterkategorie, nach dem in der
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Kaoul Jay, Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öfientl. Arbeiten. I " [
Stadt oder in der Gegend, wo die Arbeit ausgeführt wird, gemein-
üblichen Satze. Baudin erklärte die Anwendung des Wortes
„normal“ wie folgt: „Mit Unrecht oder mit Recht, unseres Er-
achtens mit Recht, hat man behauptet, dafs die Submissionen und
die grofsen staatlichen Arbeiten den normalen Gang der Löhne
störten. Es ist die Theorie, welche wir soeben darlegten. Das
Wort „normal" bringt den Gedanken zum Ausdruck , dafs es sich
um den fortschreitenden Gang der Löhne, abgesehen vom Einflüsse
jener störenden Elemente handelt. Eis deutet darauf hin, dafs die
im vorliegenden Entwürfe vorgesehenen Bedingungen ermöglichen
werden , den gemeinüblichen Lohn als normalen zu betrachten." ')
Ganz sicher wollen weder die Dekrete , noch der von Baudin be-
fürwortete Entwurf in die Vergebungsbedingungen Lohntarife
bringen, welche sich nach den Lebensbedürfnissen der Arbeiter
richten. „Es ist nicht beabsichtigt, wie kaum gesagt zu werden
braucht,“ schrieb ferner der Berichterstatter 1899, „gesetzlich einen
Mindestlohn zu fixieren, den notwendigen niedrigsten Satz, welcher
den nach den Lebensbedürfnissen des Arbeiters berechneten Lohn
darstellt, willkürlich oder vielmehr auf dem Verwaltungswege den
Lohn zu ändern, wie er sich aus dem Spiel des freien Wettbewerbs
und aus verschiedenen anderen Ursachen ergiebt, welche den Gang
der Löhne beeinflussen." s) Das Gleiche ist inbetrefif der nor malen
Arbeitszeit zu bemerken, womit die Verfasser des Dekrets lediglich
die Arbeitszeit meinen, wie sie sich herkömmlich in den Gewerben
und einzelnen Gegenden gestaltet hat.
Uebrigens ist hier sogleich hervorzuheben , dafs die Regel,
wonach der Uebernehmer von öffentlichen Arbeiten seinen Ar-
beitern den normalen Lohn zahlen soll, Ausnahmen zulälst. Mufs
der Unternehmer Arbeiter anstellen, welche infolge ihrer Körper-
beschaffenheit den Arbeitern derselben Kategorie an Leistungsfähig-
keit offenbar nachstehen, so kann er ihnen einen niedrigeren als
den normalen Lohn zahlen. Das Maximalverhältnis dieser Arbeiter
zur Gesamtzahl der betreffenden Arbeiterkategorie, sowie der Höchst-
betrag der zulässigen Verringerung ihres Lohnes werden durch die
Vergebungsbedingungen festgesetzt. „Es erscheint unumgänglich,"
schrieb Baudin, „eine Ausnahme für die jugendlichen Arbeiter, die
Greise, die Krüppel und alle diejenigen zuzulassen, welche man in
*) Vgl. Baudins Bericht S. 43.
*) Vgl. Baudins Bericht S. 20.
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Gesetzgebung: Frankreich.
Belgien allgemein als Halbarbeiter bezeichnet. Die allzu strenge
Forderung des normalen und üblichen Lohnes würde sonst das
Resultat zeitigen , sie dauernd von den Werkplätzen des Staates,
der Departements und der Gemeinden auszuschliefsen ; sie würde
ihre Lage hierdurch seltsamerweise erschweren.“ ') Zweifellos können
übrigens, sowohl was den Lohn als was die tägliche Arbeitszeit
betrifft, in demselben Gewerbe oder in derselben Gegend zuweilen
sehr verschiedene Sätze bzw. Zeiten üblich sein. Daher entsteht
die sehr wichtige Frage, wer darüber zu befinden hat, welchen
normalen Lohnsatz, welche normale Arbeitszeit der den Zuschlag
Erhaltende, oder sagen wir allgemeiner und zutreffender der Kon-
zessionär der öffentlichen Arbeiten einhalten soll. Wer wird diese
Festsetzung bewerkstelligen und zu welchem Zeitpunkt soll sie
geschehen ?
Die Dekrete vom io. August 1899 wollten diese Festsetzung
nicht dem Uebernehmer, dem Konzessionär überlassen. Es soll
vielmehr die beteiligte Behörde den normalen und üblichen Lohn-
satz und die normale und übliche Arbeitszeit feststellcn oder er-
mitteln. In der Regel sind diese Feststellungen und Ermittelungen
vor Erteilung der Zuschläge zu bewerkstelligen, falls dies nicht
thatsächlich unmöglich ist; die Ergebnisse dieser Feststellungen
sind als Anlagen den Bedingungen (cahiers des charges) anzufügen.
Die Verfasser der Dekrete sind hier der Arbeitskommission gefolgt
und haben aus guten Gründen von dem sogenannten Repressivsystem
Abstand genommen , welches namentlich in England befolgt wird,
und nach welchem die Behörde den üblichen Lohn nur feststellt,
wenn bei ihr Beschwerde geführt wird, dafs dieser Lohn von einem
Uebernehmer öffentlicher Arbeiten nicht gezahlt worden sei. Man
war der Ansicht, dafs dieses Repressivsystem nur in Ländern an-
wendbar sei, in denen zahlreiche Tarife von Gewerkvereinen
existieren. Das System der Dekrete hat übrigens zweifellos den
Vorzug, dafs „alle Parteien über ihre Rechte und Pflichten unter-
richtet sind.“ -) Die den Vergebungsbedingungen als Anlagen bei-
gefügten Feststellungen sind ferner durch Aushang in den Werk-
plätzen und Werkstätten bekannt zu geben, in denen die fraglichen
Arbeiten ausgeführt werden. Auf welchen Unterlagen haben die
beteiligten Behörden diese Festsetzungen zu bewirken ? Diese
*) Vgl. Baud ins Bericht S. 52.
*) Vgl. Baud ins Bericht S. 33 u. 35.
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fcaoul Ja)’, Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffcntl. Arbeiten.
Frage beantwortet Art. 3 eines jeden der Dekrete vom 10. August.
Die Behörden müssen in erster Linie soweit als möglich Abmachungen
zwischen Unternehmer- und Arbeitersyndikaten des Ortes oder der
Gegend zu Rate ziehen. In einer Anweisung des Ministers für
Handel und Industrie vom 14. November 1899 an die Präfekten
werden die Bestimmungen des Art. 3 der Dekrete vom 10. August
1899 wie erläutert: „Die behördliche Kommission hat sich zu
vergewissern, ob nicht Abmachungen zwischen Unternehmer- und
Arbeitersyndikaten für bestimmte Gewerbe am Orte oder in der
Gegend existieren. In diesem Falle hat sie festzustellen, ob es sich
um zuverlässige, eine bedeutende Anzahl von Unternehmern und
Arbeitern umfassende Abmachungen handelt, und verhält sich dies
so , dann hat sie diese Abmachungen lediglich in der die Fest-
stellungen enthaltenden Anlage zu verzeichnen. Beim Fehlen der-
artiger Abmachungen hat sie Erhebungen anzustellen, welche sich
hauptsächlich stützen auf persönliche Erfahrungen ihrer Mitglieder
und auf Auskünfte, welche ihr geben können: Preislisten, von den
verschiedenen öffentlichen Behörden gezahlte Preise, Nachfragen bei
Fachvereinen, Gewerbegerichten, Ingenieuren, Architekten u. s. w.
Aufserdem hat sie in jedem der beteiligten Gewerbe das Gutachten
gemischter Kommissionen zu erfordern, die aus Unternehmern und
Arbeitern in gleicher Anzahl bestehen. Diese Kommissionen dürfen
nicht zu grofs sein — drei oder vier Unternehmer und ebensoviel
Arbeiter werden in der Regel hinreichend sein , um durch sie die
Löhne für jedes Gewerbe festzustellen. Zu Kommissionsmitgliedern
sind zu wählen Beisitzer von Gewerbegerichten der fraglichen Ge-
werbe, Präsidenten, Sekretäre und Mitglieder von Unternehmer-
und Arbeitersyndikaten, oder, wenn solche nicht vorhanden, Arbeiter
und Unternehmer des Gewerbes, welche als anständig und sach-
kundig bekannt sind. Die Unternehmer und Arbeiter der gemischten
Kommissionen, welche den gleichen Thatbestand festzustellen haben,
müssen stets auf gleiche Feststellungen hinauskommen. Andernfalls
haben Unternehmer und Arbeiter ihr Gutachten gesondert in das
Sitzungsprotokoll aufzunehmen. Nach diesem Protokoll und unter
Zuhilfenahme der Auskünfte, welche der behördlichen Kommission
ihre eigenen Mitglieder liefern, oder jede ihr geeignet erscheinende
Erkundigung, hat sie das eingehende Verzeichnis der üblichen Löhne
und Arbeitszeiten aufzustellen."
In der allgemeinen Anweisung über die Anwendung des De-
kretes vom IO. August 1899 betr. die Arbeitsbedingungen bei Ver-
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Gesetzgebung: Frankreich.
gebung öffentlicher Arbeiten seitens des Staates, welche An-
weisung der von uns soeben angeführten an die Präfekten vorher-
gegangen war, hatte der 1 landeisminister sich mit dem Falle be-
schäftigt, dafs die Arbeit nach Stück bezahlt wird. Es heifst dort :
„Besteht für Stückarbeit ein gehörig bestimmter und in der Gegend
allgemein anerkannter Tarif, so hat die Behörde diesen Tarif unter
den in Art. 3 geforderten Garantieen in das Verzeichnis aufzunehmen.
Andernfalls steht es dem Unternehmer oder Fabrikanten frei, in
seinem Betriebe die ihn am geeignetsten erscheinende Art der
Arbeitsablohnung festzusetzen, wobei der durchschnittlich von einem
Arbeiter in einer gegebenen Zeit verdiente Lohn nicht weniger be-
tragen darf, als der in das Verzeichnis eingetragene übliche Stunden-
oder Tageslohn." Durch die Berufung an die aus gleicher Anzahl
von Unternehmern und Arbeitern bestehenden gemischten
Kommissionen folgten der von der Arbeitskommission 1899 ausge-
arbeitete Entwurf und die Dekrete vom 10. August einem 1897
vom Obersten Arbeitsrat gefafsten Beschlüsse. Baudin hegte die
Erwartung, dafs die von uns soeben angeführten Bestimmungen
aufserordentlich angethan seien, die Entwicklung der gewerblichen
Fachorganisation und namentlich der Abmachungen zwischen Ar-
beitern und Unternehmern in den verschiedenen Gewerben zu
fördern. „Die Wirksamkeit der gemischten Kommissionen,“ schrieb
er, „wird in der Zeit nach der Verkündigung des Gesetzes zweifel-
los eine ganz bedeutende sein. Doch werden sie voraussichtlich
allmählich vor der Fachvereinsbildung zurücktreten. Sie werden
die Organe eines Zwischenstadiums sein. Sie werden durch ihren
Frieden und Einvernehmen stiftenden Charakter den Weg für die
Syndikate bahnen. Sie werden die Gewöhnung an Verhandlungen,
gegenseitige Achtung und Höflichkeit herbeiführen. Sie werden
Vereingenommenheit, verkehrten Stolz und unberechtigten Argwohn
beseitigen, die oft allein einem billigen Abkommen entgegenstehen,
das, nach der Rechtssprache, das Gesetz der Parteien ist." ')
Durch Dekret vom 17. September 1900 wird angeordnet, dafs
l) Vgl. Baud ins Bericht S. 31. — Der Oberste Arbeitsrat hatte 1897 einen
von Kaeufer und de Mun formulierten Beschlufs folgenden Inhalts gefafst: „Der
( »berste Kat ist der Ansicht, dafs die öffentliche Gewalt, die Gesetzgebung mit allen
Mitteln die Entwicklung der fachgewerblichen Vercinsbildung fördern mufs, welche
die Aufgabe hat, die Arbeitsbedingungen durch die Einigung von Unternehmern und
Arbeitgebern fcstzusetzen.“
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Raoul Jay, Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung offen tl. Arbeiten,
durch Ministerialerlafs Arbeitsausschüsse geschaffen werden können,
deren Mitglieder zur Hälfte von den Unternehmersyndikaten, zur
Hälfte von den Arbeitersyndikaten zu ernennen sind. Nach diesem
Dekret haben diese Arbeitsausschüsse u. a. die Aufgabe, in jedem
Bezirk für alle im Arbeitsausschüsse vertretenen Gewerbe, und soweit
als möglich unter Herbeiführung einer Einigung zwischen Unter-
nehmer- und Arbeitersyndikaten, eine Uebersicht des normalen und
üblichen Satzes der Löhne und der täglichen Arbeitszeit aufzustellen.
Diese Uebersicht, unter den in Art. 3 des Dekrets vom 10. August
1899 bestimmten Formen zusammengestellt, dient den beteiligten
Behörden gegebenenfalles als die durch Dekret vom 10. August
vorgeschriebene Feststellung. Diese Verzeichnisse können übrigens
auf Antrag der Unternehmer oder der Arbeiter einer Revision
unterzogen werden, wenn Aenderungen im Lohnsatz und der täg-
lichen Arbeitszeit in der fraglichen Industrie allgemein eingeführt
sind. Die Revision wird in derselben Weise bewirkt , wie die
erste Aufstellung des Verzeichnisses. Eine entsprechende Revision
der Lieferungspreise kann vom Unternehmer beantragt oder von
der Behörde von Amtswegen bewirkt werden, wenn die festgcstellten
Aenderungen im Lohnsatz oder der täglichen Arbeitszeit die in den
Vergebungsbedingungen festgesetzten Grenzen überschreiten.
Es erübrigt nunmehr noch adzufuhren , auf welche Gattungen
von Arbeiten die Vorschriften der Dekrete vom IO. August 1899
Anwendung finden, und wie die Nichtbeachtung dieser Vorschriften
geahndet wird. Die Dekrete haben die submissionsweise oder die
freihändige Vergebung von Arbeiten oder Lieferungen im Auge.
Es werden sich keine Schwierigkeiten erheben, wenn man mit
einem ausschliefslich für den Staat, das Departement u. s. w. thätigen
Unternehmer zu thun hat, namentlich wenn er auf einem Werk-
platze des Staates, des Departements, der Gemeinde arbeiten läfst,
wenn man beispielsweise mit einem Unternehmer zu thun hat, der
mit dem Bau einer Strafse beauftragt ist. In diesem Falle mufs
der Unternehmer offenbar allen von ihm beschäftigten Arbeitern
die in den Vergebungsbestimmungen (cahiers des charges) festge-
setzten Arbeitsbedingungen zugute kommen lassen. Oft aber
arbeiten die Unternehmer , die Lieferanten in ihren eigenen Werk-
stätten; mitunter haben Unternehmer neben der Kundschaft des
Staates, des Departements u. s. w. eine Privatkundschaft. Es wird
auch Vorkommen, dals der Staat, das Departement u. s. w. fertige
Lieferungsgegenstände brauchen und sich dieserhalb an Händler
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176
Gesetzgebung : Frankreich.
wenden. Der den Zuschlag erhaltende Unternehmer wird selbst
häufig bereits bearbeitetes Material verwenden. Kann man verlangen,
dafs die Arbeitsbedingungen in all den Werkstätten eingehalten
werden, die auch nur teilweise an den für den Staat, das De-
partement u. s. w. bestimmten Lieferungen arbeiten ? Soll man,
noch weitergehend, verlangen , dafs die von den Lieferanten verar-
beiteten Materialien selbst von Arbeitern hergerichtet werden, die
von den normalen Arbeitsbedingungen profitieren ? Es sind dies
sehr heikle Fragen. Unseres Erachtens ist es wünschenswert, dafs
die Arbeitsbedingungen in möglichst weitem Umfange Anwendung
finden ; andererseits ist nicht zu verkennen , dafs man auf grolse
Schwierigkeiten stöfst, wenn man mit dieser Anwendung etwas weit
geht. Dies hatte die 1899 er Arbeitskommission wohl eingesehen.
„Der Entwurf,“ schrieb Baudin, „hat einzig und allein die Zurichtungs-
arbeiten, speziellen Herstellungen, Bauten im Auge, welche aus-
drücklich im Aufträge des Staates für ihn auf seine Weisungen und
nicht für den allgemeinen Markt ausgeführt werden. Man hat hier
mit Unternehmern, mit Herstellungsbetrieben und nicht mit Händ-
lern der gewöhnlichen Lieferungsgegenstände zu thun.1)"
Anscheinend haben auch hier die Verfasser der Dekrete vom
10. August 1899 sich die Resultate der Arbeitskommission der
Deputiertenkammer zu eigen gemacht Laut Art 1 der drei Dekrete
soll sich der Unternehmer verpflichten, die bezüglich der Arbeiter
festgesetzten Bedingungen allein in den zwecks Ausführung des
Auftrages eingerichteten oder hierfür thätigen Werkplätzen oder
Werkstätten einzuhalten.
Nach der allgemeinen Anweisung des Handelsministers betr. die
Anwendung des Dekretes vom 10. August 1899 über die Arbeits-
bedingungen bei den staatlichen Arbeiten hat diese Anwendung
des Dekretes vom 10. August 1899 zwei Voraussetzungen. Erstens
mufs ein Auftrag öffentlicher Arbeiten oder von Lieferungen seitens
des Staates vorliegen. Zweitens müssen ferner die Werkplätze oder
Werkstätten zwecks Ausführung des Auftrages eingerichtet oder
hierfür thätig sein. Eis ist indessen wohl zu beachten , dafs der
Ausdruck „Werkstätte“ (atelier) nicht etwa das Ganze eines Industrie-
betriebes, eines Hüttenwerks, einer Fabrik bedeutet, sondern
lediglich jede gesonderte Arbeitergruppe, welche vorwiegend für den
Auftrag thätig ist.
l) Vgl. ß a u d i n s Bericht S. 39.
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Raoul Jay, Die Arbeitsbedingungen bei Vergebung öflentl. Arbeiten.
Fassen wir nunmehr die Tragweite der Dekrete vom IO. August
1899 ins Auge. Das Ideal, welches dem Pariser Stadtrat vor-
schwebte, haben sie nicht völlig verwirklicht. Es ist zu bedauern,
dafs sie offenbar nicht immer dem Staate, den Departements, den
Gemeinden, den Wohlthätigkeitsanstalten ermöglichen, unabhängig
von den üblichen Bedingungen allen für sie thätigen Arbeitern
billige Beschäftigungsbedingungen und namentlich angemessenen
Lohn zu sichern. Man kann indessen immerhin fragen, ob ihre
Anwendung vielleicht nicht, in gewissem Umfange wenigstens, die-
selbe Wirkung zeitigen werde , -welche die Beschlüsse des Pariser
Stadtrats oder die Vorschläge Lavys gehabt haben würden. Der
normale, übliche Lohn, der normale und übliche Arbeitstag in einem
Gewerbe oder einer Gegend können oft in verschiedener Weise ge-
schätzt werden ; es steht zu hoffen, dafs in einem solchen Falle die
beteiligten Behörden nicht den den Arbeitern ungünstigsten Modus
der Schätzung wählen werden. Hätten die Dekrete vom 10. August
übrigens nur das Resultat, das Herabdrücken der Löhne, der Arbeits-
bedingungen überhaupt, — jederzeit eine mögliche logische Folge der
Vergebung an den Mindestfordernden — , zu hindern, so könnte
man auch dann ihre Bedeutung nicht leugnen, ohne ungerecht
zu sein.
Was nun die Vorschriften betr. die Sicherung der Durchführung
dieser Dekrete anlangt, so ist man leider berechtigt zu fragen,
ob sie auch stets Nachdruck genug besitzen, um wirksam zu sein.
Der Gesetzentwurf von 1899 sah gegen Zuwiderhandlungen
Strafen vor. Es konnten hiernach Geldstrafen von I bis 1 5 F'rcs.,
und im Wiederholungsfälle von 16 bis 100 Frcs. auferlegt werden.
Das Recht, Zuwiderhandlungen festzustellen, war den beteiligten
Behörden, den Fabrikinspektoren eingeräumt. Die Dekrete durften
solche Strafbestimmungen nicht erlassen. Allerdings können die
Vergebungsbedingungen Geldbufsen vorsehen. Ferner sollen diese
Bedingungen nach den Dekreten die Bestimmung enthalten , dafs
die Behörde, wenn sie eine Differenz zwischen dem den Arbeitern
gezahlten Lohn und dem in der angegebenen Form festgestellten
üblichen Lohn ermittelt , die benachteiligten Arbeiter direkt ent-
schädigt , und zwar aus den Beträgen , welche sie von den dem
Unternehmer schuldigen Summen zurückbehält und aus seiner
Kaution. Endlich kann in dem Falle, dafs wiederholte Verfehlungen
gegen die Arbeitsbedingungen seitens eines Unternehmers Vor-
kommen , die zuständige Behörde unbeschadet der üblichen Be-
Archiv für box. Gesetzgebung u. Statistik. XV11I. 12
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i78
Gesetzgebung : Frankreich.
Stimmungen in den Vergebungsbedingungen seinen Ausschlufs von
ihren Lieferungs- und Arbeitsaufträgen für gewisse Zeit oder für
immer aussprechen.
Wie zu erwarten, war die Stadt Paris eine der ersten, welche
von der den Gemeinden durch die Dekrete vom io. August 1899
verliehenen Befugnis Gebrauch machten. Der Zusatzartikel, welcher
infolgedessen den allgemeinen Bedingungen für die Vergebung von
Arbeiten seitens der Stadt Paris eingefügt ist, enthält sämtliche in
den Dekreten vom 10. August 1899 zu Gunsten der Arbeiter vor-
gesehenen Klauseln. Der Unternehmer ist insbesondere verpflichtet,
den Arbeitern in jedem Gewerbe und in jedem Gewerbe für jede
Kategorie die in der Liste von 1882 festgesetzten Löhne zu zahlen.
Mufs der Unternehmer Arbeiter beschäftigen, welche infolge ihrer
Körperbeschaffenheit den Arbeitern derselben Kategorie offenbar
an Leistungsfähigkeit nachstehen, so darf er ihnen ausnahmsweise
einen Lohn zahlen, der höchstens */# niedriger ist, als die Sätze
der genannten Liste. Die Anzahl der solchergestalt beschäftigten
Arbeiter darf ein Fünftel der Gesamtarbeiterzahl der fraglichen
Kategorie keinesfalls übersteigen. Die tägliche Arbeitszeit ist durch
die in der 1882 er Liste festgesetzte Dauer zu beschränken. In
unvermeidlichen Notfällen darf der Unternehmer unter ausdrück-
licher Genehmigung der Behörde von der Einhaltung dieser Klausel
Abstand nehmen, doch müssen die hierdurch entstehenden Ueber-
stunden mit einer den normalen Satz um ein Fünftel übersteigenden
Lohnerhöhung vergütet werden. Die Durchführung des Zusatz-
artikels wird zweifellos durch Absatz 2 des Art. 1 5 der allgemeinen
Bedingungen für die Vergebung von Bauarbeiten der Stadt er-
leichtert, welcher lautet: „.. . Der Unternehmer hat eine Liste der
Arbeiter, welche bei der Ausführung der den Gegenstand seines
Auftrages bildenden Arbeiten thätig sind, unter Angabe ihres Ge-
burtsortes und ihres Lohnes bei jedem einzelnen regelmäfsig fort-
zuführen und diese von Zeit zu Zeit an festzusetzenden Terminen
dem Stadtbaumeister einzureichen.“ ')
Eine ganze Anzahl von Angaben über die Ausführung der
Dekrete vom 10. August 1899 findet sich in einer Veröffentlichung
des Arbeitsamtes: „Bordereaux de salaires pour diverses categories
*) Ich entnehme diese Angaben über die Ausführung der Dekrete vom 10. Aug.
1899 bei den Arbeiten der Stadt Paris dem bereits citierten Werke von Mazoyer
(S. 430 fr.)
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I. Dikrct Ub. d. Arbeitsbeding, bei Vergebung von Aufträgen seitens d. Staates. I -g
d’ouvriers en 19c» et 1901.“ Diese Zusammenstellung bringt die
Löhne, die Arbeitszeiten u. s. w., wie sie aus äufserst zahlreichen
Anlagen zu den Bedingungen für Vergebung von Arbeiten seitens
des Staates, der Departements und der Gemeinden, soweit diese
Vergebung Ende 1899 und 1900 unter Anwendung der Dekrete
vom 10. August 1899 stattfand, ermittelt und dem Handelsminister
zur Kenntnisnahme mitgetheilt wurden.
Es folgt nunmehr der Wortlaut der Dekrete vom 10. Au-
gust 1899.
x. Dekret über die Arbeitsbedingungen bei Vergebung von Aufträgen
seitens des Staates.
Der Präsident der französischen Republik verordnet hiermit auf den Bericht
xles Ministers der Finanzen und des Ministers für Handel, Industrie, Posten und
Telegraphen, — in Gemafsheit des Gesetzes vom 31. Januar 1833, Art. 12, welcher
lautet: ..Eine königliche Verordnung wird die Förmlichkeiten regeln, welche in Zu-
kunft bei allen Vergebungen von Aufträgen seitens des Staates zu beobachten
sind,“ — in Gemafsheit des Dekrets vom 18. November 1882, betreffend die Sub-
missionen und die Vergebung von Aufträgen seitens des Staates, — nach Anhörung
des Staatsrates.
Art. I. Die Bedingungen (cahiers des charges) ftir die Vergebung von Öffent-
lichen Arbeiten oder Lieferungen seitens des Staates, auf dem Wege der Submission
oder freihändig müssen Klauseln enthalten, durch welche der Unternehmer sich ver-
pflichten soll , die folgenden Bestimmungen hinsichtlich der bei diesen Arbeiten
oder Lieferungen thätigen Arbeiter in den behufs Ausführung des Auftrages ein-
gerichteten oder hierzu betriebenen Werkplätzen oder Werkstätten cinzuhalten :
1. den Arbeitern und Angestellten wöchentlich einen Ruhetag zu sichern;
2. ausländische Arbeiter nur in dem Verhältnisse zu beschäftigen, wie cs die
Behörde nach der Art der Arbeiten und nach der Gegend, in der sie
ausgeführt werden, fcstsctzt ;
3. den Arbeitern einen normalen Lohn zu zahlen, der hinsichtlich jeden Ge-
werbes und in jedem Gewerbe für jede Arbeiterkategorie gleich ist dem
in der Stadt oder Gegend, wo die Arbeit ausgeführt wird, allgemein üb-
lichen Satze;
4. die tägliche Arbeitszeit auf die in der fraglichen Stadt oder Gegend für
jede Kategorie übliche normale Arbeitsdaucr zu beschränken.
In unabwendbaren Notfällen kann der Unternehmer mit ausdrücklicher und
besonderer Genehmigung der Behörde von den in Absatz 1 und 4 des gegenwärtigen
Artikels festgesetzten Bedingungen abschen. Die hierdurch entstehenden Ueber-
stunden sind den Arbeitern mit einem erhöhten Lohne zu vergüten, dessen Satz
durch die Vergebungsbedingungen festgesetzt wird.
12*
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i8o
Gesetzgebung: Frankreich.
In den in Artikel 18, Absatz 3 und 5, des Dekretes vom 18. November 1882
vorgesehenen Fällen ist die Einfügung der vorstehend angeführten Klauseln und Be-
dingungen fakultativ.
Art. 2. Der Unternehmer darf keinen Teil seiner Vcrtragslcistung an Sub-
unternehmer ohne die ausdrückliche Genehmigung der Behörde und nur unter der
Bedingung abtreten, dafs er sowohl der Behörde als den Arbeitern und Dritten
gegenüber persönlich haftbar bleibt.
Eine fernere Klausel in den Vergebungsbedingungen hat an das Verbot der
Akkordarbeit (marchandage) zu erinnern, wie es sich aus dem Dekret vom 2. März
1848 und dem F.rlafs der Regierung vom 21. März 1848 ergiebt.
Art. 3. Die Festsetzung oder Beurkundung des normalen und üblichen Lohn-
satzes und der normalen und üblichen Dauer des Arbeitstages geschieht seitens der
Behörde, wobei diese
1. soweit als möglich die Abmachungen zwischen den Unternehmer- und Ar-
beitersyndikaten des Ortes oder der Gegend zu berücksichtigen, und
2. in Ermangelung solcher Abmachungen das Gutachten gemischter Kom-
missionen cinzufordcrn hat, welche aus Unternehmern und Arbeitern in
gleicher Anzahl bestehen, und ferner alle geeigneten Erkundigungen cin-
zuzichen bei Fachvereinen, Gew'crbcgerichten, Ingenieuren und Architekten
der Departements und Gemeinden, sowie bei anderen sachkundigen Per-
sonen.
Die sich aus diesen Feststellungen ergebenden Verzeichnisse sind allen Ver-
gebungsbedingungen als Anlagen beizufügen, falls sie nicht thatsächlich unmöglich
waren. Sie sind ferner auf den Werkplätzen oder in den Werkstätten durch Aus-
hang bekanntzugeben, wo die Arbeiten ausgeführt werden. Auf Verlangen der
Unternehmer oder der Arbeiter können sie einer Revision unterzogen werden, wenn
im Lohnsätze oder in der Arbeitszeit in dem fraglichen Gewerbe Aenderungcn ein-
getreten sind und allgemein beobachtet werden.
Eine derartige Revision hat in der sub Nr. l und 2 des gegenwärtigen
Artikels angegebenen Weise zu geschehen. Eine entsprechende Revision der Ver-
dingungspreise kann vom Unternehmer beantragt oder von Amtswegen seitens der
Behörde bewirkt werden, falls die solchergestalt in dem Lohnsätze oder der Arbeits-
zeit fcstgcstellten Aenderungcn die in den Vergebungsbedingungen bestimmten Sätze
überschreiten.
Mufs der Unternehmer Arbeiter beschäftigen, welche in ihren körperlichen
Fähigkeiten den Arbeitern derselben Kategorie offenbar nachstehen, so darf er
ihnen ausnahmsweise einen niedrigeren als den normalen Lohn zahlen. Das
Maximalverhältnis der Anzahl dieser Arbeiter zur Gesamtzahl der Arbeiter der Ka-
tegorie, sowie das zulässige Maximum ihrer Lohnverringerung sind in den Ver-
gebungsbedingungen fcstzusetzen.
Art. 4. In den Vergebungsbedingungen ist zu bestimmen, dafs die Behörde,
falls sie eine Differenz zwischen dem den Arbeitern gezahlten Lohne und dem nach
dem vorhergehenden Artikel bestimmten ermittelt, die benachteiligten Arbeiter direkt
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2. Dekret üb. d. Arbeitsbeding, bei Vergebung v. Aufträgen seit d. Departements. j8l
zu entschädigen hat, und zwar aus Abzügen von den dem Untcrnnhmcr schuldigen
Beträgen und von seiner Kaution.
Art. 5. Wird ermittelt, dafs ein Unternehmer die Arbeitsbedingungen mehr-
fach nicht eingehalten hat, so kann der Minister, unbeschadet der Anwendung der
in den Vergebungsbedingungen festgesetzten üblichen Strafklauseln, als allgemeine
Mafsnahme bestimmen, dafs der Unternehmer von den Aufträgen seines Ressorts
für eine gewisse Zeit oder für immer auszuschliefsen ist.
Art. 6. Der Minister der Finanzen, der Minister für Handel, Posten und
Telegraphen, sowie alle übrigen Minister werden, soweit es jeden angeht, mit der
Ausführung des gegenwärtigen Dekretes beauftragt, das im „Journal officiel“ und
im „Bulletin des lois“ zu veröffentlichen ist.
Geschehen zu Rambouillet am 10. August 1899.
Im Namen des Präsidenten der Republik.
Emil L o u b e t.
Der Minister der Finanzen Der Minister für Handel, Industrie,
J. Caillaux. Posten und Telegraphen
A. M i 1 1 e r a n d.
2. Dekret über die Arbeitsbedingungen bei Vergebung von Aufträgen
seitens der Departements.
Der Präsident der französischen Republik verordnet hiermit auf den Bericht
des Ministers des Innern und des Kultus, sowie des Ministers für Handel, Industrie,
Posten und Telegraphen :
Art. 1. Die Bedingungen für die Vergebung von öffentlichen Arbeiten oder
Lieferungen seitens der Departements, auf dem Wege der Submission ofjer frei-
händig, können Klauseln enthalten, durch welche der Unternehmer sich verpflichten
soll, die folgenden Bestimmungen hinsichtlich der bei diesen Arbeiten oder Lieferungen
thätigen Arbeiter in den behufs Ausführung des Auftrages eingerichteten oder hierzu
betriebenen Werkplätzen oder Werkstätten einzuhaltrn :
1. den Arbeitern und Angestellten wöchentlich einen Ruhetag zu sichern;
2. ausländische Arbeiter nur in dem Verhältnisse zu beschäftigen, wie es
durch Entscheidung des Präfekten nach der Art der Arbeiten und nach
der Gegend, in der sie ausgeführt werden, festzusetzen ist;
3. den Arbeitern einen normalen Lohn zu zahlen, der hinsichtlich jeden Ge-
werbes und in jedem Gewerbe für jede Arbeiterkategorie gleich ist dem
in der Stadt oder Gegend, wo die Arbeit ausgeführt wird, allgemein üb-
lichen Satze ;
4. die tägliche Arbeitszeit auf die in der fraglichen Stadt oder Gegend für
jede Kategorie übliche normale Arbeitsdauer zu beschränken.
In unabwendbaren Notfällen kann der Unternehmer mit ausdrücklicher und
besonderer Genehmigung der Behörde von den in Absatz I und 4 des gegen-
wärtigen Artikels 'festgesetzten Bedingungen abschcn. Die hierdurch entstehenden
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182
Gesetzgebung : Frankreich.
Ueberstunden sind den Arbeitern mit einem erhöhten Lohne zu vergüten, dessen
Satz durch die Vergebungsbedingungen festgesetzt wird.
Art. 2. Die Departements müssen in die Vergebungsbedingungen eine Klausel
aufnehmen, wonach der Unternehmer sich verpflichtet, keinen Teil seiner Vcrtrags-
leistung einem Subunternchmer ohne die ausdrückliche Genehmigung der Behörde
und nur unter Bedingung abzutreten, dafs er sowohl der Behörde als den Arbeitern
und Dritten gegenüber persönlich haftbar bleibt.
Eine fernere Klausel in den Vergebungsbedingungen hat an das Verbot der
Akkordarbeit (marchandagc) zu erinnern, wie es sich aus dem Dekret vom 2. März
1848 und dem Erlafs der Regierung vom 2t. März 1848 ergiebt.
Art. 3. Die Festsetzung oder Beurkundung des normalen und üblichen Lohn-
satzes und der normalen und üblichen Dauer des Arbeitstages geschieht durch den
Präfekten, wobei dieser
1. soweit als möglich die Abmachungen zwischen den Unternehmer- und
Arbeitersyndikaten des Ortes oder der Gegend zu berücksichtigen und
2. in Ermangelung solcher Abmachungen das Gutachten gemischter Kom-
missionen einzufordern hat, welche aus Unternehmern und Arbeitern in
gleicher Anzahl bestehen , und ferner alle geeigneten Erkundigungen ein-
zuzichcn bei Fachvereinen, Gewerbegerichten, Ingenieuren und Architekten
der Departements und Gemeinden, sowie bei anderen sachkundigen
Personen.
Die sich aus diesen Feststellungen ergebenden Verzeichnisse sind allen Ver-
gebungsbedingungen, welche die Klauseln 3 und 4 des Art. 1 des gegenwärtigen
Dekretes enthalten, als Anlagen beizufügen. Sic sind ferner auf den Werkplätzen
oder in den Werkstätten durch Aushang bekanntzugeben , wo die Arbeiten aus-
geführt werden. Auf Verlangen der Unternehmer oder der Arbeiter können sic
einer Revision unterzogen werden, wenn im Lohnsätze oder in der Arbeitszeit in
dem fraglichen Gewerbe Aenderungen eingetreten sind und allgemein beobachtet
werden.
Eine derartige Revision hat in der sub Nr. 1 und 2 des gegenwärtigen Ar-
tikels angegebenen Weise zu geschehen. Eine entsprechende Revision der Ver-
dingungspreise kann vom Unternehmer beantragt oder von Amtswegen seitens der
Behörde bewirkt werden, falls die solchergestalt in dem Lohnsätze oder der Arbeits-
zeit fcstgcstellten Aenderungen die in den Vergebungsbedingungen bestimmten Sätze
überschreiten.
Mufs der Unternehmer Arbeiter beschäftigen, welche in ihren körperlichen
Fähigkeiten den Arbeitern derselben Kategorie offenbar nachstehen, so darf er
ihnen ausnahmsweise einen niedrigeren als den normalen Lohn zahlen. Das
Maximalverhältnis der Anzahl dieser Arbeiter zur Gesamtzahl der Arbeiter der
Kategorie, sowie das zulässige Maximum ihrer Lohn Verringerung sind in den Ver-
gebungsbedingungen festzusetzen.
Art. 4. Ist eine Klausel hinsichtlich des üblichen Lohnes in die Vergebungs-
bedingungen aufgenommen, so haben diese zu bestimmen, dafs die Behörde, falls sie
eine Differenz zwischen dem den Arbeitern wirklich gezahlten und diesem üblichen
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3- Dekret üb. d. Arbeitsbeding, bei Vergebung v. Aufträgen seit. d. Gemeinden. 183
Lohne ermittelt, die benachteiligten Arbeiter direkt zu entschädigen hat, und zwar
aus Abzügen von den dem Unternehmer schuldigen Beträgen und von seiner Kaution.
Art. 5. Wird ermittelt, dafs ein Unternehmer die Arbeitsbedingungen, seinen Ver-
pflichtungen entgegen, mehrfach nicht eingehalten hat, so kann die zuständige Be-
hörde, unbeschadet der Anwendung der in den Vergebungsbedingungen festgesetzten
üblichen Strafklauscln, als allgemeine Mafsnahmc bestimmen, dafs der Unternehmer
von ihren Aufträgen für eine gewisse Zeit oder für immer auszuschliefsen ist.
Art. 6. Der Minister des Innern und des Kultus und der Minister für Handel,
Industrie, Posten und Telegraphen w'erden, soweit es jeden angcht, mit der Aus-
führung des gegenwärtigen Dekretes beauftragt, das im „Journal officiel“ und im
„Bulletin des lois“ zu veröffentlichen ist
Geschehen zu Rambouillet am 10. August 1899.
Emil L o u b e t.
Im Namen des Präsidenten der Republik.
Der Minister des Innern Der Minister für Handel, Industrie,
und des Kultus Posten und Telegraphen
Waldcck-Rousseau. A. M Hieran d.
3. Dekret Uber die Arbeitsbedingungen bei Vergebung von Aufträgen seitens
der Gemeinden und der öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten.
Der Präsident der französischen Republik verordnet hiermit auf den Bericht
des Ministers des Innern und des Kultus, sowie des Ministers für Handel, Industrie,
Posten und Telegraphen in Gcmafsheit der Verordnung vom 14. November 1837,
und nach Anhörung des Staatsrates:
Art. 1. Die Bedingungen für die Vergebung von öffentlichen Arbeiten oder
Lieferungen seitens der Gemeinden und Wohlthätigkeitsanstalten, auf dem Wege der
Submission oder freihändig, können Klauseln enthalten, durch welche der Unter-
nehmer sich verpflichten soll, die folgenden Bestimmungen hinsichtlich der bei diesen
Arbeiten oder Lieferungen thätigen Arbeiter in den behufs Ausführung des Auftrages
eingerichteten oder hierzu betriebenen Werkplätzen oder Werkstätten einzuhaltcn :
(Fortsetzung des Artikels dem Dekret II gleichlautend.)
Art. 2. Die Gemeinden und Wohlthätigkeitsanstalten müssen in die Ver-
gebungsbedingungen etc. (wie bei Dekret II).
Art. 3. Die Festsetzung oder Beurkundung des normalen und üblichen Lohn-
satzes und der normalen und üblichen Dauer des Arbeitstages geschieht unter der
Aufsicht des Präfekten durch die beteiligte Behörde, welche hierbei (Fortsetzung des
Artikels dem Dekret II gleichlautend).
(Art. 4, 5 u. 6. Desgleichen).
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OESTERREICH.
Der neue österreichische Gesetzentwurf zur
Hintanhaltung der Trunksucht.
Eingcleitet von
Prof. Dr. MAX GRÖBER,
Direktor des hygienischen Instituts der Universität München.
Der im Herbste 1902 dem österreichischen Abgeordnetenhause
von der Regierung vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Hint-
anhaltung der Trunksucht ist im wesentlichen eine neue und —
setzen wir gleich hinzu — verbesserte Auflage jener Gesetzent-
würfe, welche die Regierung schon früher eingebracht hat und
deren ersten vom Jahre 1887 ich im I. Bande dieses Archives be-
sprochen habe. Die früheren Entwürfe sind über das Stadium der
Beratung nie herausgekommen. Wünschen wir diesem ein besseres
Schicksal !
Wie jener erste sucht der neue Entwurf die Trunksucht zu
bekämpfen durch Regelung und Beschränkung des Ausschankes
und des Klein verschleifses der gebrannten geistigen Getränke,
durch Erschwerung des Trinkens auf Borg und durch Be-
strafung der Trunkenheit. Den wichtigsten Teil des Ent-
wurfes bilden die gewerberechtlichen Bestimmungen, welche das
Angebot des Schnapses einzuschränken suchen.
Durch das Gesetz vom 23. Juni 1881 „betreffend den Handel
mit gebrannten geistigen Getränken, den Ausschank und den Klein-
verschleifs derselben“ wie durch das Gesetz vom 15. März 1883
„betreffend Abänderungen und Ergänzung der Gewerbeordnung“
ist bereits der Versuch dazu gemacht worden ; aber er war wenig
glücklich. Die jetzt geltenden Vorschriften unterscheiden nämlich
I. den Handel mit gebrannten geistigen Getränken in ver-
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M. Gr über, Der neue Östcrr. Gesetzentwurf zur Hintanhaltung d. Trunksucht. jgtj
schlossenen Gefäfsen, der völlig frei gegeben ist, in was
immer für Mengen die Alkoholika angeboten werden mögen;
2. den Kleinverschlcifs mit der Berechtigung zum Ver-
kaufe der bezeichneten Flüssigkeiten in unverschlossenen Ge-
faben. Er bedarf der „Konzessionierung". J) Diese wird nur mit
der Einschränkung erteilt, dafs keine kleinere Menge als ein Achtel-
liter verkauft werden darf und dafs dem Kleinverschleifser verboten
ist, die verkauften Getränke in den ihm zur Verfügung stehenden
Räumlichkeiten geniel'sen zu lassen;
3. den Ausschank, der ebenfalls an eine Konzession ge-
bunden ist, welche die Berechtigung zur Verabreichung der ge-
brannten Flüssigkeiten an Gäste und zu ihrem Verkaufe in unver-
schlossenen Gefalsen über die Gasse giebt.
Der Mangel dieser Bestimmungen liegt klar zu Tage. Alle
Vorsichtsmafsregeln, die bei der Konzessionierung des „Kleinver-
schleifses“ und des „Ausschankes“ angewendet werden mögen, um
die Verzapfstellen nicht allzu zahlreich werden zu lassen, sind frucht-
los, wenn dem Handel freigegeben ist, beliebig kleine Mengen
Branntwein in geschlossenen Gefäfsen anzubieten. Unter der Herr-
schaft dieser Bestimmungen haben Kaufleute aller Art angefangen,
Branntwein zu verkaufen in kleinen „handelsüblich" verschlossenen
Gefäfsen, welche blofs die auf einmal zu geniefsende Menge ent-
halten. Die Bestimmung, dafs der Verschleifser den Genufs in
seinen Räumlichkeiten nicht gestatten darf, wird dabei sehr häufig
umgangen , indem den Kunden ein benachbartes Magazin oder
irgend ein anderer Unterschlupf zur Verfügung gestellt wird. Wo
dies nicht geschieht, trinken die Leute einfach vor der Thüre des
Ladens. Diese Verschleifslokale sind also geradezu zu Branntwein-
schänken geworden. In manchen Gegenden bilden sie die Haupt-
brutstätten der Trunksucht. Berüchtigt sind z. B. die Zustände in
Mährisch-Ostrau, dem Mittelpunkte des mährisch-schlesischen
Kohlenbeckens, wo 37 Proz. des konsumierten Schnapses in dieser
Weise von Gemischtwarenhändlern verkauft werden.
Die früheren Regierungsvorlagen wollten diesen Mangel da-
durch verbessern, dafs vier Kategorieen von Gewerbeberechtigungen
geschaffen werden sollten : neben dem Kleinverschleifsc in unver-
schlossenen Gefäfsen und dem Auschanke sollte auch der Handel
mit Branntwein in verschlossenen Gefäfsen an eine Konzession ge-
*) d. h. behördlichen Bewilligung.
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1 86
Gesetzentwurf: Oesterreich.
hundert werden, falls kleinere Mengen als 5 Liter verkauft werden,
und nur der Handel mit gröfseren Mengen als 5 Liter frei bleiben
sollte.
Der vorliegende Entwurf vereinfacht die gesetzliche Lage in
sehr zweckmäfsigerweise, indem er neben dem freien Handel mit
gebrannten geistigen Getränken in verschlossenen Gefäfsen in Mengen
von mindestens 5 Liter, nur zwei Kategorieen von Gewerben unter-
scheidet, die der Konzessionierung fähig und ihrer bedürftig sind :
I. den Ausschank mit der Berechtigung zum Verkaufe über die
Gasse in beliebigen Mengen in unverschlossenen wie in verschlossenen
Gefäfsen und 2. den Klcinverschleifs mit der Berechtigung zum
Verkauf über die Gasse aussschliefsüch in verschlossenen Ge-
fafsen und in Mengen von wenigstens einem Achtelliter (§ 2). Es
würde somit in Zukunft der Klcinverschleifs von Branntwein in
unverschlossenen Gefäfsen als gesondert konzessioniertes Gewerbe
aufhören, ebenso wie der freie Handel mit Branntwein in ge-
schlossenen Gefäfsen in Mengen von weniger als 5 Litern. Damit
ist eine bequeme Handhabe gegeben, um die Zahl der Branntwein-
verkaufsstellen auf ein gewünschtes Mafs zu beschränken. Freilich
scheint uns die Grenze zwischen freiem Handel und konzessioniertem
Kleinverschleifse bei 5 Liter viel zu niedrig gezogen. In Norwegen
liegt sie bei 50 Litern.
Als Norm für die Zahl der Verkaufsstellen wird festgesetzt,
dafs in Gemeinden bis zu 500 Einwohnern höchstens je eine Kon-
zession zum Ausschanke und zum Kleinverschleifse von gebrannten
geistigen Getränken verliehen werden dürfe, in gröfseren Gemeinden
nur je eine auf je volle 500 Einwohner (§ 6). Durch diese Be-
stimmung würde die Zahl der Schänken wesentlich vermindert
werden ; dagegen würde sie eine gewaltige Vermehrung der Klein-
verschleifse über ihre heutige Zahl hinaus gestatten, so dafs die
Gesamtzahl der Verkaufsstellen durch das Gesetz kaum um mehr
als ein Drittel reduziert werden würde. Ueberdies werden davon
wieder Ausnahmen zugelassen — und müssen wohl bei den heutigen
Trinksitten zugelassen werden — indem verfügt werden kann, dafs
die gesetzlich festgestellten Maximalzahlen in räumlich ausgedehnten
Gemeinden für die einzelnen Ortschaften derselben Gemeinde,
in gröfseren Städten für die einzelnen Stadtbezirke zu gelten
haben; ferner, dafs für bestimmte Gemeinden oder Teile von Ge-
meinden Gast- und Schankgewerbe, in welchen der Ausschank von
gebrannten geistigen Getränken nur als Nebengeschäft betrieben
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M. Gruber, Der neue österr. Gesetzentwurf zur Hintanhaltung d. Trunksucht. 187
wird, bei Ermittlung der gesetzlich vorgezeichneten Verhältniszahl
aufser Betracht zu bleiben haben. Trotzdem ist der vorliegende
Gesetzentwurf in diesem Punkte besser als seine Vorläufer, da diese
Ausnahmen nur nach Anhörung der betreffenden Gemeinde und
nach Einvernehmen des autonomen Landesausschusses von der
politischen Behörde gemacht werden dürfen.
Auch innerhalb der festgesetzten Maximalverhältniszahl mufs
in jedem konkreten Falle das Bedürfnis der Bevölkerung geprüft
werden, bevor eine neue Konzession zum Ausschanke oder Klein-
verschleifse erteilt wird. Es wäre sehr wünschenswert, dafs auch
hierbei die Anhörung der betreffenden Gemeinde vorgeschrieben
und ihrem ablehnenden Votum entscheidende Bedeutung zuerkannt
würde.
Ebenso sollte der betroffenen Gemeinde das Veto eingeräumt
werden , gegen die Wiederverleihung einer erloschenen Personal-
konzession. Nur auf diesem Wege wäre eine allmähliche absolute
und relative Verminderung der Zahl der Detailverkaufsstellen zu
erreichen, die auch nach dem Inkrafttreten des vorliegenden Ge-
setzentwurfes noch viel zu grofs bleiben würde.
Sehr wichtig für die korrekte Durchführung des Gesetzes ist
die Bestimmung des § 3, dafs die Gewerbebehörde in jedem Falle,
wo der Ausschank der gebrannten Flüssigkeiten neben sonstigen
Gast- und Schankberechtigungen oder neben dem Zuckerbäcker-
oder Mandolettibäckergewerbe ausgeübt werden soll, auf Grund der
Erklärung des Bewerbers bei der Erteilung der Konzession auszu-
sprechen hat, ob dieser Ausschank als Haupt- oder als Neben-
geschäft ausgeübt werden darf, und dafs die Konzession zurück-
genommen werden kann, wenn sie dazu mifsbraucht wird, um
unter dem Deckmantel eines Gastgewerbes, einer Zuckerbäckerei
u. s. w. den Branntweinauschank als Hauptgeschäft zu betreiben.
§ 5 des Entwurfes verbietet, in den Lokalen, welche dem Aus-
schanke von gebrannten geistigen Getränken dienen, ein anderes
Gewerbe (ausgenommen Gast- und Schankgewerbe, Zuckerbäckerei -
und Mandolettibäckereigewerbe) zu betreiben. Leider wird für den
Kleinverschleifs kein derartiges Verbot beantragt sondern nur be-
stimmt, dafs der Kleinverschleifs und die Erzeugung von gebrannten
Alkoholizes nicht in demselben Lokale ausgeübt werden dürfen,
was allerdings notwendig ist, um besser überwachen zu können,
dafs der Kleinverschleifser nicht heimlich zum Schänker wird. Es
mufs aber unbedingt verlangt werden, dafs auch der Kleinverschleifs
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1 88
Gesetzgebung : Oesterreich.
nicht mit anderen Gewerben zusammen im selben Lokale aus-
geübt werden darf. Denn die Erfahrung lehrt, wie gefährlich ver-
führerisch gerade der Detailverkauf von Branntweinen und Likören
in Gemischtwarenhandlungen und Lebensmittelladen ist, wie er
Frauen und Kinder verlockt und den Familienvater zur gefähr-
lichsten Zeit, wenn er, den Lohn in der Tasche, Einkäufe machen
will; wie häufig der kleine Mann geradezu gezwungen ist, gebrannte
Flüssigkeiten abzunehmen, um genügend grofsen und langen Kredit
beim Einkäufe der notwendigen Lebensmittel zu erlangen u. s. w.
Diese Erfahrungen sollten auch zur Aufstellung der weiteren
gesetzlichen Anforderung führen, dals die Lokale, in denen die ge-
brannten geistigen Getränke im Ausschanke oder Kleinverschleifse
verkauft werden, in keiner unmittelbaren Verbindung mit anderen
Verkaufsräumen stehen dürfen.
Sehr zu bedauern ist der Rückschritt in betreff der Sonntags-
ruhe, den der § 7 des jetzigen Entwurfes im Vergleiche mit § 5
des alten von 1887 darstellt. Dort war der Ausschank und Klein-
verschleifs von gebrannten geistigen Getränken von 5 Uhr nach-
mittags des den Sonn- und Feiertagen vorhergehenden Tages bis
5 Uhr morgens des nächstfolgenden Werktages untersagt worden,
wobei allerdings die politische Landesbehörde ermächtigt werden
sollte, dieses Verbot für gewisse Bezirke und Orte, für bestimmte
Tage und Stunden aufser Kraft zu setzen. Jetzt aber werden
lediglich die politischen Landesbehörden „ermächtigt", nach Ein-
vernehmung der Handels- und Gerwerbekammer zu bestimmen, in
wieweit an Sonn- und Feiertagen wie an Lohnauszahlungstagen die
Branntweinschänken und Kleinverschleifse geschlossen zu halten sind.
Wir furchten, dafs von dieser Ermächtigung ein, gelinde gesagt,
sehr vorsichtiger Gebrauch gemacht werden wird ; dafür werden die
Handels- und Gewerbekammern mit ihrem Kriegsgeschrei schon
sorgen. Und doch wäre der Schlufs der Schänken und Verschleifsc
an Sonn- und Feiertagen sowie an den Lohnzahlungstagen neben
der Vorschrift, dafs diese Lokale auch an Werkstagen nicht vor Be-
ginn der Arbeitszeit und nicht in den späteren Abendstunden ge-
öffnet sein dürfen, eine der wertvollsten Mafsregeln gegen die Ver-
führung zum Trunk durch Gelegenheitsmacherei! Es mufs mindestens
verlangt werden, dafs die politische Landesbehörde verpflichtet
werde, neben der Handels- und Gewerbekammer auch die Gemeinde-
vertretungen zu befragen.
Ebenso übertrieben behutsam ist der Entwurf in seinen privat-
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M. Grubcr, Der neue österr. Gesetzentwurf zur Hintanhaltung d. Trunksucht. 189
rechtlichen Bestimmungen, insoferne er Forderungen für die Verab-
reichung von geistigen Getränken in Gast- und Schankräumlich-
keiten , sowie Forderungen aus dem Kleinverschleifse gebrannter
geistiger Getränke nur dann für nicht klagbar erklärt, wenn der
Schuldner zur Zeit der Entstehung der späteren Forderung eine
frühere Schuld der vorbezeichneten Art an denselben Gläubiger
nicht bezahlt hat (§ 12). Warum werden nicht einfach Zechschulden
und Schulden im Branntweinkleinverschleifs (mit den selbstverständ-
lichen Ausnahmen des 3. Alinea des § 12 allgemein für unklagbar
erklärt?
Erscheint uns der Entwurf in einigen Punkten als allzu zaghaft,
so müssen wir andererseits dem §11, welcher der Gewerbebehörde
das Recht giebt, Erzeugern, Händlern Kleinverschleifsern und
Schänkern von gebrannten geistigen Getränken sowie Schank- und
Gastwirten überhaupt bei Uebertretung der Vorschriften des Ge-
setzes unter gewissen Voraussetzungen die erteilten Konzessionen für
eine bestimmte Zeit oder auf immer wieder zu entziehen, unsere An-
erkennung zollen und ebenso dem §§ 22 der Schlufsbestimmungen,
welcher das Gesetz als rückwirkend erklärte , so dafs die Be-
stimmungen betreffend das Verbot des Verkaufes von Branntwein in
unverschlossenen Gefafeen durch Kleinverschleifser; diejenigen betr. die
Konzessionspflicht des Handels mit Branntwein in kleineren Mengen
als 5 Liter (§ 2), betr. die Erklärung des Ausschanks der gebrannten
Alkoholika als Haupt- oder Nebengeschäft (§ 3) betr. Ausübung
von Branntweinausschank und Kleinhandel gemeinsam mit anderen
Gewerben (§§ 4 u. 5) sowie betr. Schlufs der Schänken und
Kleinverschleifse an Sonn- und Feiertagen (§ 7) auch auf die schon
bestehenden Betriebe Anwendung finden. Diese Bestimmung ist
in der That unerläfslich, wenn das Gesetz nicht auf absehbare Zeit
toter Buchstabe bleiben soll.
Ziemlich bedeutende und im allgemeinen zweckmäfsige Ab-
änderungen sind am 3. Abschnitte des Gesetzes, an den strafrecht-
lichen Bestimmungen vorgenommen worden. Neu aufgenommen
ist die Bestrafung wegen Berauschung von Personen , welche im
Zustande einer ohne Absicht auf die strafbare Handlung herbei-
geführten vollen Berauschung eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte
Handlung begangen haben (§ 1 5). Ebenso zweckmäfsig ist § 16, welcher
denjenigen mit Strafe bedroht, der sich in den Zustand der Trunken-
heit versetzt, vor oder während der Vornahme einer Verrichtung
bei welcher die Trunkenheit eine Gefahr für das Leben, die Ge-
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190
Gesetzgebung : Oesterreich.
sundheit oder die körperliche Sicherheit eines anderen herbeizu-
führen geeignet ist oder der in diesem Zustande eine solche Ver-
richtung aufser in einem Notfälle vornimmt.
Wesentlich milder als die früheren Entwürfe geht der § 17 des
jetzigen gegen das einfache Trunkenheitsvergehen vor, indem jetzt
nur derjenige mit Arrest oder an Geld bestraft werden soll , der
innerhalb eines halben Jahres wiederholt an einem öffentlichen
Orte im Zustande offenbarer Trunkenheit betroffen wird oder der
einmal so betroffen wird, nachdem er innerhalb des vorangegangenen
halben Jahres bereits wegen einer Ucbertretung im Sinne der §§15
oder 16 verurteilt worden ist. Man war zu dieser Milderung ge-
zwungen, da an manchen Orten und zu gewissen Zeiten die Zahl
der Trunkenen so grofe ist, dafs an eine behördliche Verfolgung aller
gar nicht gedacht werden kann! Der Paragraph richtet sich somit
ausgesprochenermafsen nur mehr gegen die Gewohnheitssäufer. Diese
wird er allerdings nicht bekehren. Trotzdem dürfte er einen bescheide-
nen Nutzen bringen, indem er ein wenig mithilft, der übrigen Be-
völkerung das Unsittliche der Trunkenheit zum Bewufstsein zu bringen.
Ob es zweckmäfsig war, die Bestimmung fallen zu lassen, wo-
nach einem während eines Jahres dreimal wegen Trunkenheit Be-
straften der Besuch der Gast- und Schankräumlichkeiten seines
Wohnsitzes und dessen nächster Umgebung untersagt werden kann,
erscheint uns zweifelhaft. Wenn sie auch in gröfseren Ortschaften
nicht durchführbar ist, so ist sie’s doch in den kleinen Städten und
auf dem Lande und dort stellt sie eine sehr empfindliche und Auf-
sehen erregende Strafe dar.
Dagegen dürfte kaum zu beanstanden sein, dafs die Bestrafung
wegen absichtlicher Versetzung eines anderen in Trunkenheit, nicht
mehr beantragt wird. Es wäre allzu schwierig, jene Fälle dieser
Art, die strafgerichtlich verfolgt zu werden verdienen, scharf von
den harmloseren zu scheiden. Durchaus gerechtfertigt sind die
Strafandrohungen gegen die Verabfolgung geistiger Flüssigkeiten an
offenbar Trunkene und an offenbar Unmündige, die sich nicht in
Begleitung einer erwachsenen Person befinden (§ 18).
Wir wünschen lebhaft, dafs der vorliegende Entwurf, womöglich
mit den von uns vorgcschlagenen Verbesserungen recht bald zum
Gesetze werde. Derartige Gesetze dürfen nicht überschätzt aber
auch nicht unterschätzt werden.1) Sie üben zunächst einen gewissen
*) Ich erlaube mir in dieser Beziehung auf meine ausführlichen Darlegungen
im 1. Bande dieses Archivs zu verweisen.
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M. G ruber, Der neue österr. Gesetzentwurf zur Hinantlialtung d. Trunksucht. jqj
moralischen Einflufs aus, indem sie die Menschen doch ein wenig;
aufmerksam machen und warnen helfen , dafs hier ein Uebel vor-
liege, das bekämpft werden müsse. Sie stören das gedankenlose
Trinken in den Tag hinein.
Die Verminderung der Schankstellen ist überdies ohne Zweifel
geeignet, eine gewisse Verminderung des Konsums unmittelbar
herbeizuführen, wie dies die Erfahrung in Holland lehrt und von
vorneherein zu erwarten ist.
Aber andererseits darf man sich auch keinen übertriebenen
Hoffnungen in dieser Beziehung hingeben. Die Verminderung der
Verkaufsstellen um mehr als ein Drittel hat in Holland den Konsum
nur um ein knappes Siebentel vermindert. Niemand kann zur
Tugend gezwungen werden. Solange die Leute den Alkohol heftig
begehren, werden sie durch so winzig kleine Hindernisse wie sie
dieser Gesetzentwurf oder der deutsche von 1894 errichten wollen,
nicht abgehalten werden, sich ihn zu verschaffen. Man müfste
schon sehr zufrieden sein, wenn unter der Einwirkung solcher
Palliativmittel die Zunahme des Alkoholismus in etwas langsamerem
Tempo vor sich gehen sollte.
Für radikalere gesetzliche Mafregeln aber ist bei uns in Oester-
reich und im Deutschen Reiche die Zeit noch nicht gekommen. Solange
die heutigen Trinksitten zu Recht bestehen, solange nicht das ganze
Volk viel tiefer als heute von der Verderblichkeit des Alkohols
durchdrungen und nicht zum ernsten Entschlufs gekommen ist, sich
selbst von der Tyrannei dieses Feindes von Kultur und Leben zu
befreien, solange werden keine Gesetze erlassen und durchgeführt
■werden können, die dem Alkoholkonsum ernstlich zu Leibe gehen.
Darin liegt ja die entsetzliche Ungesundheit unserer Zustände, dals
gewaltige Teile unseres bebaubaren Landes, mächtige Industrieen,
eine ungeheure Zahl von Handelsgeschäften im Dienste des Alko-
holismus stehen; dafs Herstellung und Vertrieb der alkoholischen
Getränke Hunderttausende, ja Millionen von Menschen beschäftigen
und ernähren, dafs Erzeugung und Verbrauch der Alkoholika dem
Staate einen immer wachsenden, schier auf anderem Wege uner-
setzlichen Teil seiner Einkünfte verschaffen; so dafs das Privat-
kapital wie der Fiskus das mächtigste egoistische Interesse daran
haben, dafs der Verbrauch der Alkoholika auf seiner Höhe bleibe !
Erst wenn die klare Erkenntnis des Aberwitzes, dafs die systema-
tische Vergiftung des ganzen Volkes eine ökonomische und poli-
tische Notwendigkeit sein soll, überall im Volke Wurzel geschlagen
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192
Gesetzgebung : Oesterreich.
haben wird, wird auch der starke Wille vorhanden sein, der diesem
Zustande um jeden Preis ein Ende macht.
Viel wuchtiger als alle Gesetze ist also jetzt und für die nächste
Zukunft unermüdliche Aufklärung aller Volksschichten über die
Wirkungen des gewohnheitsmäfsigen Alkoholgenusses und Auf-
lehnung gegen unsere unsinnigen Trinkmoden durch die That.
Gesetze gegen die Trunksucht würden mehr schaden als nützen,
wenn sie uns in der Erfüllung dieser wichtigsten Aufgaben beirren
würden.
Im Folgenden geben wir den Wortlaut des besprochenen Ge-
setzentwurfes :
Gesetz vom , womit Bestimmungen zur Hintanhaltung der
Trunksucht getroffen werden.
Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrates finde Ich anzuordnen, wie folgt :
Erster Abschnitt.
Gewerberechtliche Bestimmungen.
§ I. Für den Ausschank und den Kleinverschleifs von gebrannten geistigen
Getränken, sowie für den Handel mit diesen Flüssigkeiten sind die Bestimmungen
der Gewerbeordnung und des Gesetzes vom 23. Juni 1881, R.G.B1. Nr. 62, mit den
Abänderungen, welche durch die nachstehenden Vorschriften bedingt sind, mafsgebend.
§ 2. Der Handel mit gebrannten geistigen Flüssigkeiten, welche sich mit oder
ohne Zusatz zu Getränken eignen (Spiritus, Branntwein, Rosoglio, Rum, Liköre u. dgl.l
in verschlossenen Gefäfsen in Mengen von weniger als fünf Liter darf in Hinkunft
nur von solchen Personen ausgeübt werden, welche die Konzession zum Auschanke
oder zum Kleinverschlcifse von gebrannten geistigen Getränken besitzen. Für die
Verleihung der Konzession zum Ausschanke oder zum Kleinverschleifsc von ge-
brannten geistigen Getränken sind die Bestimmungen der §§ 18 bis 20 und 23 des
Gesetzes vom 15. März 1883, R.G.B1. Nr. 39, mafsgebend.
Die Konzession zum Ausschanke gebrannter geistiger Getränke berechtigt zur
Verabreichung dieser Flüssigkeiten an Gäste oder über die Gasse in unverschlossenen
Geflifsen, sowie zum Verkaufe solcher Getränke in verschlossenen Gefäfsen in be-
liebigen Mengen.
Die Konzession zum Kleinverschleifsc von gebrannten geistigen Getränken be-
rechtigt zum Verkaufe der bezcichneten Flüssigkeiten nur in geschlossenen Gefäfsen
und in Mengen von wenigstens ein Achtel Liter mit der weiteren Beschränkung, dafs
dem Klcinverschlcifscr nicht gestattet ist, die Getränke in den Räumlichkeiten, welche
ihm zur Verfügung stehen, geniefsen zu lassen.
Welche Gefäfse im Sinne dieses Gesetzes als verschlossen anzuseben sind, ward
im Verordnungswege bestimmt.
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Gesetz, womit Bestimmungen zur Hintanhaltung d. Trunksucht getroffen werden.
193
§ 3* Wenn der Ausschank von gebrannten geistigen Getränken neben sonstigen
dem Gewerbsinhabcr zustehenden Berechtigungen des Gast- und Schankgewerbes
oder neben dem von demselben Gewerbsinhaber nusgeübten Zuckerbäcker- oder
Mandolettibäckergewcrbe betrieben werden soll, ist von der Gewerbebehördc bei
der Erteilung der Konzession auf Grund der von dem Konzessionswerber abzu-
gebenden Erklärung auszusprechen, ob der Ausschank als Hauptgeschäft oder nur
als Nebengeschäft ausgeübt werden darf.
Als Nebengeschäft kann der Ausschank von gebrannten geistigen Getränken
bei Gast- und Schankgewerben jedenfalls nur dann angesehen werden, wenn bei
denselben auch eine der im § 16 unter lit. c) und f) des Gesetzes vom 15. März
1883, K.G.ßl. Nr. 39, aufgeführten Berechtigungen ausgeübt wird.
Eine Konzession, auf Grund welcher der Ausschank von gebrannten geistigen
Getränken gemäfs den vorstehenden Bestimmungen nur als Nebengeschäft neben
sonstigen Berechtigungen des Gast- und Schankgewerbes, oder neben dem Zucker-
bäcker- oder Mandolettibäckergewcrbe betrieben werden darf, kann zurückgenommen
werden, wenn dieselbe dazu mifsbraucht wird, um den Betrieb des Auschankes von
gebrannten geistigen Getränken als Hauptgeschäft zu decken.
§ 4. In Lokalen , welche zur Ausübung des Ausschankes von gebrannten
geistigen Getränken dienen darf gleichzeitig kein anderes Gewerbe betrieben werden.
Ausgenommen hievon ist die Ausübung der sonstigen Berechtigungen des Gast- und
Schankgewerbes, sowie der Betrieb des Zuckerbäcker- oder Mandolettibäckergewcrbes,
wenn diese Gewerbe mit dem Ausschanke von gebrannten geistigen Getränken von
demselben Gewerbsinhabcr betrieben werden.
Der KIcinverschlcifs von gebrannten geistigen Getränken darf mit der Er-
zeugung dieser Flüssigkeiten nicht in demselben Lokale ausgeübt werden.
§ 5. Den Klcinverschleifscrn, sowie den gewerbemäfsigen Erzeugern von ge-
brannten geistigen Getränken und den sonst zum Handel mit diesen Flüssigkeiten
in verschlossenen Gcfäfsen berechtigten Gewerbsleuten ist cs nicht gestattet, in ihren
Vcrkaufslokalitätcn in der Zeit, in welcher dieselben den Kunden zugänglich sind,
gebrannte geistige Getränke in unverschlossenen Gefäfscn oder in solchen Gcfäfsen
zu halten, welche weniger als das, diesen Gewerbetreibenden für den Verkauf der
bczeichncten Flüssigkeiten durch die Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes vor-
gezeichncte Minimalmafs betragen.
§ 6. In Gemeinden bis zu 500 Einwohnern, darf nur eine Konzession zum
Ausschanke und eine Konzession zum KIcinvcrschlcifsc von gebrannten geistigen
Getränken, in gröfseren Gemeinden auf je volle 500 Einwohner höchstens je eine
Konzession zum Ausschanke und je eine Konzession zum KIcinvcrschlcifsc solcher
Flüssigkeiten verliehen werden.
Bei der Ermittlung der bezüglichen Verhältniszahlen sind die Realgewerbe, in
welchen der Ausschank, beziehungsweise Klrinvcrschleifs von gebrannten geistigen
Getränken auf Grund des betreffenden Realrechtes betrieben wird, mit in Anschlag
zu bringen, so dafs die Verleihung einer Konzession zum Ausschanke, beziehungs-
weise Kleinverschlcifse solcher Getränke nur dann erfolgen kann, wenn bei Ein-
rechnung der Realgewerbe zu den konzessionsmäfsig bestehenden derlei Gewerben
Archiv für 10z. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 13
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194
Gesetzgebung: Oesterreich.
das vorgeschriebene Maximalverhältnis zur Einwohnerzahl in der Gemeinde einge-
halten wird.
Die politische Landesbehörde kann für einzelne Gemeinden von gröfserer terri-
torialer Ausdehnung nach Anhörung der Gemeinde und nach Einvernehmung des
Landesausschusses verfügen, dafs die in dem ersten Absätze festgesetzten Verhältnis-
Zahlen für die einzelnen Ortschaften in der Gemeinde, in gröfseren Städten für die
einzelnen Stadtbezirke zu gelten haben.
Der politischen Landesbehörde bleibt es weiter Vorbehalten, für bestimmte
Gemeinden oder Teile einer Gemeinde nach Anhörung der Gemeinde und nach
Einvernehmung des Landesausschusscs zu verfügen, dafs Gast- und Schank ge werbe,
bei welchen der Ausschank von gebrannten geistigen Getränken nur als Neben-
geschäft betrieben wird, bei Ermittlung der im ersten Absätze für den Ausschank
vorgezeichneten Verhältniszahl aul'ser Betracht zu bleiben haben.
So lange die Anzahl der bestehenden derartigen Unternehmungen nicht unter
die nach den vorstehenden Bestimmungen ermittelten Verhatniszahlen gesunken ist.
darf eine Konzession zum Ausschanke, beziehungsweise zum Kleinverschlcifse ge-
brannter geistiger Getränke auch dann nicht verliehen werden, wenn eine solche
Konzession zurtickgelegt worden oder sonst erloschen ist
Bei der Verleihung einer Konzession zum Ausschanke oder Kleinverschlcifse
gebrannter geistiger Getränke innerhalb der festgesetzten Verhältniszahlen ist das Be-
dürfnis der Bevölkerung im konkreten Falle nach Mafsgabc der Bestimmungen des
§ 18, Alinea 3 und 5 des Gesetzes vom II. März 1883, R.G.B1. Nr. 39, strenge zu
prüfen.
§ 7. Die politische Landesbehörde ist ermächtigt, nach Einvernehmung der
Handels- und Gewerbekammer zu bestimmen, inwieweit an Sonn- und Feiertagen,
sowie an Wochentagen, an welchen nach der herrschenden Uebung die Lohnaus-
zahlungen erfolgen, die Lokale, in welchen der Ausschank oder Klcinverschleifs ge-
brannter geistiger Getränke betrieben wird, geschlossen zu halten sind.
Hierdurch können jedoch Gast- und Schankgewerbe, Zuckerbäcker- und Mando-
lcttibäckcrgewerbe dann nicht getroffen werden, wenn bei diesen Gewerben der Aus-
schank von gebrannten geistigen Getränken nur als Nebengeschäft betrieben wird.
§ 8. Die Bestimmung des § 54, Absatz 2, des Gesetzes vom 15. März 1883,
R.G.B1. Nr. 39, findet auch auf den Kleinvcrschleifs von gebrannten geistigen Ge-
tränken Anwendung.
§ 9. Die von der politischen Landesbehörde gemäfs § 7 getroffenen Anord-
nungen, sowie die im zweiten und dritten Abschnitte dieses Gesetzes enthaltenen Be-
stimmungen, sind in allen Lokalen, in welchen der Ausschank oder Kleinvcrschleifs
von gebrannten geistigen Getränken betrieben wird, an einer in die Augen fallenden,
jedermann zugänglichen Stelle in den landesüblichen Sprachen anzuschlagen und in
leserlichem Stande zu erhalten.
§ 10. Uebcrtrctungcn der in den vorstehenden Paragraphen dieses Gesetzes
enthaltenen Bestimmungen, sowie der auf Grund der §§ 7 und 8 getroffenen An-
ordnungen, werden als Ucbertretungen der Gewerbeordnung behandelt und nach den
Vorschriften des achten Hauptstückes derselben bestraft.
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Gesetz, womit Bestimmungen zur Hintanhaltung d. Trunksucht getroffen werden. iqjj
§ II. Kleinvcrschleifser von gebrannten geistigen Getränken, welche diese
Flüssigkeiten ausschänken, gewerbemäfsige Erzeuger solcher Getränke, sowie die
sonst zum Handel mit derartigen Getränken berechtigten Personen, welche diese
Flüssigkeiten ausschänken oder im Kleinverschleifse verkaufen, sind von der Ge-
werbebehörde anläfslich der ersten Bestrafung schriftlich zu warnen. Im Wieder-
holungsfälle kann sofort mit der Entziehung der Gewerbeberechtigung für eine be-
stimmte Zeit oder auf immer vorgegangen werden.
Die Berechtigung zum Auschankc oder Kleinverschleifse von gebrannten geistigen
Getränken, sowie die Berechtigung zum Betriebe des Gast- und Schankgewerbes über-
haupt ist von der Gewerbebehörde, abgesehen von den in diesem Gesetze und in der
Gewerbeordnung bereits erwähnten Fällen, auch dann für eine bestimmte Zeit oder
auf immer zu entziehen, wenn der Gewerbetreibende wegen einer der im dritten
Abschnitte dieses Gesetzes erwähnten Uebertretungen verurteilt worden und unter
den gegebenen Umständen von dem Fortbetricbe des Gewerbes Mifsbrauch zu be-
sorgen ist.
Zweiter Abschnitt
Privatrechtliche Bestimmungen.
§ 12. Forderungen für die Verabreichung von geistigen Getränken in Gast*
und Schankräumlichkeiten, sowie Forderungen aus dem Kleinverschleifse gebrannter
geistiger Getränke, sind nicht klagbar, wenn der Schuldner zur Zeit der Entstehung
der späteren Forderung eine frühere Schuld der vorbezeichneten Art an denselben
Gläubiger nicht bezahlt hat
Forderungen, welche ftir die wiederholte Verabreichung der im ersten Absätze
erwähnten Getränke an einen Gast während eines ununterbrochenen Aufenthaltes
desselben in der Gast- und Schankwirtschaft erwachsen, sind als eine einheitliche
Forderung anzusehen.
Die Bestimmungen des ersten Absatzes finden keine Anwendung auf Forde-
rungen aus der Verabreichung geistiger Getränke an Gäste, welche in dem Gasthause
zur Beherbergung aufgenommen sind, sowie auf Forderungen aus der Veräufserung
der bezeichneten Flüssigkeiten an Gewerbetreibende, welche dieselben zum Zwecke
des Wiederverkaufes bezogen haben.
§ 13. Forderungen, welche gemäfs den Bestimmungen des vorhergehenden
Paragraphen nicht klagbar sind, eignen sich auch nicht zur Kompensation mit anderen
Forderungen des Schuldners.
§ 14. Pfand- und Bürgschaftsverträge, welche zur Befestigung von Forderungen
abgeschlossen werden, denen gemäfs § 12 das Klagcrccht entzogen ist, sind ungiltig.
Dritter Abschnitt.
Strafrechtliche Bestimmungen.
§ 15. Wer eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung in dem Zustande
einer ohne Absicht auf die strafbare Handlung zugezogenen vollen Berauschung be-
geht, wird wegen Uebertrctung gestraft :
>3*
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196
Gesetzgebung : Oesterreich.
1. mit strengem Arrest von drei Tagen bis zu sechs Monaten, wenn die in
der Trunkenheit begangene strafbare Handlung sich als Verbrechen darstellt;
2. in allen anderen Fällen mit strengem oder einfachem Arrest von einem
Tage bis zu drei Monaten oder an Geld von 10 bis 1000 Kronen, jedoch in diesen
Fällen mit keiner nach ihrer Art schwereren als der für die strafbare Handlung
selbst angedrohten Strafe und nie über die Hälfte des Höcbstausmafses derselben.
Die Strafverfolgung findet nur über Privatanklagc statt, wenn die in der
Trunkenheit verübte strafbare Handlung der Privatanklage Vorbehalten ist.
§ 16. Wer sich in den Zustand der Trunkenheit vor oder während der Vor-
nahme einer Verrichtung versetzt, bei welcher dieser Zustand eine Gefahr für das
Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit eines -anderen herbeizuführen
geeignet ist, oder wer in diesem Zustande eine solche Verrichtung aufser in einem
Notfälle vomimmt, wird wegen Uebertretung mit strengem oder einfachem Arrest
von drei Tagen bis zu drei Monaten oder an Geld von 20 bis 1000 Kronen bestraft.
Die Anwendung dieser Bestimmung ist ausgeschlossen, wenn die strafbare
Handlung unter die Bestimmung des § 15 dieses Gesetzes oder unter eine strengere
Bestimmung des Strafgesetzes fällt.
§ 17. Wer innerhalb eines halben Jahres wiederholt an einem öffentlichen
Orte im Zustande offenbarer Trunkenheit betroffen wird, ist wegen Uebertretung mit
Arrest von einem Tage bis zu vier Wochen oder an Geld von 10 bis zu 500 Kronen
zu bestrafen. Dieselbe Strafe trifft auch denjenigen, welcher an einem öffentlichen
Orte im Zustande offenbarer Trunkenheit betroffen wird, wenn er bereits wegen
einer der in diesem oder in den beiden vorausgehenden Paragraphen aufgeführten
Uebertretungen verurteilt worden und nicht mehr als ein halbes Jahr seit dem Be-
gehen dieser Uebertretung verflossen ist.
§ 18. Wer beim Ausschanke oder Kleinvcrschleifsc von geistigen Getränken
oder beim Handel mit diesen Flüssigkeiten einem offenbar Trunkenen ein geistiges
Getränke verabfolgt, wird wegen Uebertretung mit strengem oder einfachem Arreste
von drei Tagen bis zu drei Monaten oder an Geld von 20 bis zu 1000 Kronen
bestraft.
Dieselbe Strafe trifft denjenigen, welcher beim Ausschanke geistiger Getränke
einem offenbar Unmündigen, der sich nicht in Begleitung einer erwachsenen Person
befindet, ein geistiges Getränke zum unmittelbaren eigenen Genüsse verabreicht, den
Fall ausgenommen, wenn das geistige Getränk als Labung bei einem Unfälle ver-
abfolgt wird.
§ 19. Wer in der Absicht, die in diesem Gesetze (§ 12) festgesetzte Unklag-
barkeit von Forderungen aus dem Verkaufe geistiger Getränke, sowie die Bestim-
mungen über die Unzulässigkeit der Kompensation (§ 15) oder über die Ungültig-
keit von Pfandbcstellungen und Bürgschaftserkläungen für solche ungklagbare Forde-
rungen (§ 14) zu umgehen, sich von dem Schuldner, Pfandbcstcller oder Bürgen
über seine Forderung eine Urkunde ausstellen läfst, die keinen oder einen unwahren
Verpflichtungsgrund entnält, wird wegen Uebertretung mit strengem oder einfachem
Arrest von drei Tagen bis zu drei Monaten oder an Geld von 20 bis 1000 Kronen
bestraft.
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Gesetz, womit Bestimmungen zur Hintanhaltung d. Trunksucht getroffen werden. \g]
§ 20. Zur Aburteilung über die in diesem Abschnitte aufgefiihrten Ueber-
tretungen sind die Bezirksgerichte zuständig.
Vierter Abschnitt.
Schlufsbestimmungcn.
§ 21. Durch die Bestimmungen des ersten Abschnittes dieses Gesetzes wird
das Propinationsrccht in jenen Ländern, in welchen dasselbe besteht, nicht berührt.
§ 22. Die Bestimmungen dieses Gesetzes finden auch Anwendung auf jene
Gewerbsleute, welche im Zeitpunkte des Beginnes der Wirksamkeit des Gesetzes die
Berechtigung zur Erzeugung, zum Handel, Kleinverschleifse oder Ausschanke von
gebrannten geistigen Getränken oder zum Betriebe des Gast- und Schankgewerbes
auf Grund der früheren Vorschriften besitzen.
Es sind daher auch für den Umfang der Gewerbeberechtigung der im Zeit-
punkte des Beginnes der Wirksamkeit dieses Gesetzes bereits bestehenden derartigen
Gewerbeunternehmungen die Bestimmungen dieses Gesetzes mafsgebend.
Diejenigen Inhaber einer Konzession zum Ausschanke von gebrannten geistigen
Getränken, welche auch zur Ausübung sonstiger Berechtigungen des Gast- und
Schankgewcrbcs oder zum Betriebe des Zuckerbäcker- und Mandolettibäckergewerbes
befugt sind, haben binnen drei Monaten nach Beginn der Wirksamkeit dieses Gesetzes
bei der Gcwcrbebchördc unter Berücksichtigung der etwa in dieser Beziehung be-
reits durch den Inhalt der Konzession bedingten Einschränkungen anzumeldcn, ob sie
die Berechtigung zum Ausschanke von gebrannten geistigen Getränken in Hinkunft
als Haupt- oder Nebengeschäft zu betreiben beabsichtigen, w'onach die Gewerbe-
behörde die im ersten Absätze des § 3 des Gesetzes vorgesehene Verfügung zu
treffen hat.
§ 23. Diejenigen Gewerbetreibenden, welche im Zeitpunkte der Kundmachung
dieses Gesetzes die Berechtigung zur Erzeugung von gebrannten geistigen Getränken
oder zum Handel mit derartigen Flüssigkeiten in verschlossenen Gefafsen auf Grund
der bisher geltenden gesetzlichen Vorschriften besitzen, sind unter der Voraussetzung,
dafs dieselben die Bedingungen dieses Gesetzes zur Erlangung einer Konzession zum
Kleinverschleifse von gebrannten geistigen Getränken erfüllen, bei der Verleihung
einer solchen Konzession vor anderen Bewerbern zu berücksichtigen.
Diejenigen Gewerbetreibenden, welche von dem vorbezcichnctcn Vorrechte
Gebrauch machen wollen , haben bei sonstigem Verluste des Vorrechtes inner-
halb dreier Monate nach Kundmachung dieses Gesetzes um die Konzession zum
Kleinverschleifse von gebrannten geistigen Getränken für den Zeitpunkt der allge-
meinen Wirksamkeit des Gesetzes bei der kompetenten Gewerbehördc anzusuchen.
Ueber solche Gesuche ist thunlichst noch vor dem Beginn der allgemeinen Wirk-
samkeit des Gesetzes unter Zugrundelegung der Bestimmungen des ersten Abschnittes
desselben zu entscheiden.
§ 24. Dieses Gesetz tritt, insoweit nicht die Bestimmungen des § 23 eine
Ausnahme begründen, sechs Monate nach dem Tage der Kundmachung in Wirk-
samkeit.
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198
Gesetzgebung : Oesterreich.
§ 25. Mit dem Tage der Wirksamkeit dieses Gesetzes treten die Bestimmungen
der §§ 236, 523 und 524 des Strafgesetzes, sowie die Bestimmungen des Gesetzes
vom 19. Juli 1877, R.G.B1. Nr. 67, aufser Kraft.
Die auf Grund des § 5 des letzten Gesetzes erfolgten Abstrafungen sind io*
bezug auf ihre Wirkungen den auf Grund der §§ 15 bis 17 dieses Gesetzes er-
folgenden Abstrafungen gleichzuhalten.
§ 26. Mit dem Vollzüge dieses Gesetzes sind Meine Minister des Innern, der
Justiz und des Handels beauftragt.
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VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA.
Die amerikanische Arbeitergesetzgebung des
Jahres 1901. *)
Von
Dr. jur. CHARLES HENRY HUBERICH,
Dozent der Rechte an der Universität von Texas (Austin).
Der Staat Utah erliefe ein Gesetz, wodurch die Arbeitszeit der
bei öffentlichen Arbeiten Beschäftigten auf 8 Stunden festgesetzt
wird, ausgenommen in Fällen wo Leben oder Eigentum in Gefahr
sind. Jeder Arbeitsunternehmer der diesem Gesetz zuwiderhandelt,
soll eines Vergehens schuldig befunden werden.
Derselbe Staat hat ferner die in den Revised Statutes von
1898 (Art. 1324 — 1335) enthaltenen Verordnungen über Vermittlung
und Schiedsrichterverfahren in Arbeiterstreitigkeiten durch ein
neues Gesetz, welches am 14. März angenommen wurde, ersetzt.
Die Haupt paragraphen sind die folgenden :
I. Nach Genehmigung dieses Gesetzes soll der Gouverneur
unter Zustimmung des Senats 3 Personen ernennen, wo-
von nicht mehr als 2 derselben politischen Partei angehören
dürfen. Diese Personen bilden das Staatsarbeitseinigungs- und
Schiedsrichteramt (State Board of Labor, Conciliation and
Arbitration). Eine der zu ernennenden Personen soll ein
Arbeitgeber sein; die zweite ein Arbeitnehmer der einer
Arbeiterverbindung angehört; die dritte Person soll weder
ein Arbeitnehmer noch ein Arbeitgeber sein und ist Vor-
sitzender des Amtes. Eine dieser Personen soll auf ein Jahr,
*) In den folgenden Mitteilungen sind die Gesetzgebungen derjenigen Staaten
besprochen, die in dem in diesem Archiv, Bd. XVII, S. 426 erschienenen Artikel
nicht berücksichtigt werden konnten.
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200
Gesetzgebung: Vereinigte Staaten von Amerika.
eine auf drei Jahre und eine auf fünf Jahre ernannt werden. . .
Nach Ablauf ihres Amtstennins sollen ihre Nachfolger in
gleicher Weise je auf vier Jahre ernannt werden.
2. Sobald das Amt in Kenntnis gesetzt ist, dafs innerhalb des
Staates eine Arbeitseinstellung oder Aussperrung ernsthaft
droht, durch die ein Arbeitgeber, der nicht weniger als
io Personen beschäftigt, und dessen Angestellten betroffen
sind, soll es die Pflicht des besagten Amtes sein, sich so-
bald als möglich mit solchen Arbeitgebern und Angestellten
in Verbindung zu setzen und zu versuchen, durch Ver-
mittlung einen friedlichen Ausgleich herbeizuführen. Be-
sagtes Amt soll ferner beide Parteien auffordern, ein Gesuch
um ein Schiedsrichterverfahren an den Schriftführer (des
Amtes) zu richten.
3. Sobald als möglich nach Empfang eines solchen Gesuchs
soll das Amt die streitenden Parteien auffordern, sich über
den Tatbestand der Kontroverse zu einigen und diesen in
schriftlicher Form dem Amte zu unterbreiten. Vorausge-
setzt ist jedoch, dafs, wenn solche Einigung und (gemein-
schaftliche) Unterbreitung (der Kontroverse) nicht erfolgt, es
jeder der streitenden Parteien frei stehen soll, ihre eigene
Darstellung der Kontroverse dem Amte schriftlich vorzu-
legcn. Gesuche an das Amt um ein Schiedsrichterverfahren
seitens der Arbeitgeber müssen einer Aussperrung und
solche seitens der Angestellten einer wirklichen Arbeitsein-
stellung ebenfalls vorangehen. Jedoch soll in Fallen , wo
eine Aussperrung oder Arbeitseinstellung bereits stattge-
funden hat, das Amt ein Schiedsrichterverfahren gewähren
unter der Bedingung, dafs die Parteien ihre Beziehung zu
einander als Arbeitgeber und Angestellte von neuem wieder
aufnehmen. Die Gesuche (um Einsetzung des Schieds-
amtes) bedingen das Versprechen, dem Urteil des Amtes
nachzukommen, und müssen von dem Arbeitgeber, bezw.
den Arbeitgebern, oder dessen autorisierten Stellvertretern
einerseits, und von einer Mehrheit seiner, bezw. ihrer Ange-
stellten andererseits, gezeichnet sein.
4. Sobald als möglich nach Empfang solcher Gesuche soll
das Amt zum Schiedsrichterverfahren schreiten . . .
5. Das Amt ist ermächtigt als Zeugen unter Strafandrohung
irgend einen Angestellten oder Sachverständigen in den be-
\
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Ch. H. Mubcrich, Die amerikanische Arbeitergesetzgebung d. Jahres 1901. 201
treffenden Geschäftszweigen sowohl als irgend eine Person,
die in diesen Geschäftszweigen die Lohnbücher fuhrt, oder
irgend eine andere Person vorzuladen, dieselbe zu beeidigen
und zu vernehmen, und die Vorlegung von Geschäftsbüchern,
Papieren und Akten zu verlangen . . .
6. Es ist die Pflicht der Bürgermeister und Sheriffs, dem
Schriftführer des Staatsamts sofort von Tatsachen, die wahr-
scheinlich zu einer Arbeitseinstellung oder Aussperrung
fuhren könnten, Mitteilung zu machen.
7. Sobald als möglich nach Untersuchung der Streitigkeiten
zwischen dem Arbeitgeber und dessen Angestellten soll
das Amt eine billige Entscheidung fällen, worin das beider-
seitige Verhalten der streitenden Parteien angegeben sein
soll. Zur Fällung eines Urteils des Amtes genügt Stimmen-
mehrheit.
8. Die Entscheidung soll sofort veröffentlicht werden . . .“
In Florida ist die Entlassung oder Drohung der Entlassung
eines Angestellten, um denselben zu bewegen, für oder gegen einen
bestimmten Wahlkandidaten bezw. Partei, oder für oder gegen ein
bestimmtes Projekt zu stimmen, oder seine Einkäufe bei bestimmten
Personen zu machen oder nicht zu machen, verboten, unter Drohung
einer Strafe von nicht mehr als 1000 Dollar gegen den Arbeitgeber
selbst , und von nicht mehr als 500 Dollar oder sechsmonatliche
Haft, oder beider Strafen, gegen dessen Angestellten, der den ge-
setzwidrigen Befehl seines Arbeitgebers ausführt.
Texas und Arkansas haben Gesetze gegen das Truck-
system erlassen. In Texas ist es gesetzwidrig, Lohnzahlungen durch
Anweisungen, die nur in Waren zahlbar sind, zu machen. Solche
Anweisungen sollen in barem Geld zahlbar sein , selbst wenn die-
selben nur auf Waren lauten. Das texanische Gesetz bezieht sich
jedoch nicht auf diejenigen Arbeitgeber, die einen bestimmten
monatlichen Zahlungstag haben und die in den Zwischenperioden
ihren Angestellten Warenanweisungen ausstellen; ebensowenig auf
Kaufleute, die den Mietern von Ackerbaugrundstücken Kuponbücher
ausstellen. Zuwiderhandlungen sind durch eine Geldstrafe von 5
bis 100 Dollar oder Haftstrafc von 5 bis 60 Tagen bedroht.
Das Gesetz von Arkansas verordnet, dafs alle Warenan-
weisungen, die als Lohnzahlung ausgegeben werden, in barem Geld
zahlbar sein sollen, vorausgesetzt, dafs dieselben an einem regel-
mäfsigen Zahlungstag zur Einlösung eingereicht werden. Solche
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202
Gesetzgebung : Vereinigte Staaten von Amerika.
Einlösung muls auf den vollen Nennwert erfolgen und alle Waren-
anweisungen sollen an Geldesstatt in den Kaufläden des Arbeits-
gebers angenommen werden. Eine L’ebertretung dieses Gesetzes
soll eine Zivilklage auf den wirklichen Betrag des Lohnes und eine
Geldstrafe von 25 bis 100 Dollar zur Folge haben. Eine gleiche Geld-
strafe ist in demselben Staat festgestellt gegen einen Zwang auf
die Angestellten seitens der Arbeitgeber, Einkäufe in bestimmten
Kaufläden zu machen. Auch ist daselbst die Uebervorteilung der
Arbeiter bei dem Verkauf von Waren seitens der Arbeitgeber ver-
boten und eine Entschädigungsklage auf den doppelten Betrag
des Unterschiedes zwischen dem Marktpreise und dem Verkaufs-
preise möglich.
Colorado hat für alle Privatkorporationen , mit Ausnahme
der Eisenbahngesellschaften, denen eine dreifsigtägige Periode ge-
stattet ist, und für sämtliche Irrigationsgesellschaften, auf die das Ge-
setz keine Anwendung finden soll, eine funfzehntägige Lohnzahlungs-
periode festgesetzt. Lohnzahlungen sollen am 5. und 20. jedes
Monats und zwar in barem Geld oder durch Checks, die auf Sicht
ohne Abzug zahlbar sind, gemacht werden. Es ist ferner verboten
mehr als den Betrag des Lohnes für die fünf vorhergehenden Tage
einzubehalten. Der Lohn eines entlassenen Arbeiters ist sofort
zahlbar; im Weigerungsfälle ist eine Zivilklage auf den vollen Be-
trag plus 5 Prozent gestattet.
ln Wisconsin wurde das Gesetz über Kinderarbeit von 1899
amendiert wie folgt :
„Kein Kind unter 14 Jahren soll zu irgend einer Zeit
in Fabriken, Werkstätten, Kegelbahnen, Schänken, Bier-
gärten oder Minen angestellt werden. Noch soll solches
Kind in Kaufläden, Wäschereien, Telegraphen-, Fernsprech-
oder Botenbureaus angestellt werden, ausgenommen während
der Ferien der öffentlichen Stadt- oder Kreisschulen des
Ortes, in welchem das Kind beschäftigt ist.“
Derselbe Staat erliefs eine Revision des Mietskasernengesetzes
vom 20. April 1899, wodurch die Anfertigung oder Reparatur von
Kleidungsstücken wie das Fabrizieren von Zigarren, Zigarretten,
Schirmen, Geldbörsen und Federn, in Mietskasernen, Wohnhäusern
oder im Hinterhof solcher Gebäulichkeiten , verboten ist , ausge-
nommen in Fällen wo nach Untersuchung seitens des Arbeit-
kommissärs, Fabrikinspektors oder Assistentfabrikinspektors ein Er-
laubnisschein dem Eigentümer oder Mieter ausgestellt ist, worin
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C h. H. Huber ich, Die amerikanische Arbeitergesetzgebung d. Jahres 1901. 203
ein solcher Gebrauch der Gebäude gestattet ist Der Erlaubnis-
schein mufs die Zahl der Personen angeben, die in jedem Zimmer
beschäftigt werden können, und die Personenzahl soll nach dem
Luftraum des Zimmers festgestellt werden und zwar in folgender
Weise: Für die Zeit von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends soll
auf jede Person mindestens 250 Kubikfufs, für die Zeit von 6 Uhr
abends bis 6 Uhr morgens mindestens 400 Kubikfufs Luftraum be-
rechnet werden. Als Bedingung für die Ausstellung des Scheines kann
verlangt werden, dafs Zimmer, die für solche Arbeit gebraucht werden,
nicht mit Schlafzimmern verbunden sind, selbst nicht als Schlaf-
zimmer gebraucht werden, und keine Betten, Bettzeug oder Küchen-
gerätschaften enthalten. Das Gesetz bezieht sich natürlich nicht auf
die Anstellung eines Schneiders oder einer Näherin seitens einer
Privatfamilie. Sachen die diesem Gesetz zuwider hergestellt sind,
dürfen nicht zum Verkauf ausgeboten werden. Zuwiderhandlungen
setzen den Eigentümer der wissentlich solchen gesetzwidrigen Ge-
brauch seines Hauses erlaubt, ebenso wie den Arbeitnehmer und
Geber, den Strafen des Gesetzes (Geldstrafe von 20 bis 60 Dollar
oder zwanzig- bis sechzigtägige Haft, oder beiden Strafen), aus.
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LITTERATUR.
Litteratur von und über Gewerkschaften.
Besprochen von
Dr. ADOLF BRAUN,
in Nürnberg.
1. Bringmann, August, Geschichte der deutschen Zimmererbewegung.
Herausgegeben im Aufträge des Zentral verbände? der Zimmerleute und
verwandter Berufsgenossen Deutschlands I. Band 400 Seiten und An-
lagen (Lehrbriefe, Kundschaften) Stuttgart 1903, J. H. W. Dietz Nachf.
Preis 6 Mark.
2. Bringmann, August, Statistisches aus der Deutschen Zimmerer-
bewegung im 19. Jahrhundert Herausgegeben von dem Vorstand des
Zentralverbandes der Zimmerer und verwandter Berufsgenossen Deutsch-
lands, Hamburg 1902. Fr. Schräder 37 Seiten Doppel-Folio.
3. Bömelburg, Th., und Paeplow, Fr., Statistische Erhebungen
über die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Maurer Deutschlands im
Jahre 1900 und vergleichbare Zahlen über Lohnhöhe und Arbeitszeit
in den Jahren 1885, 1890, 1895. Hamburg, Verlag von Th. Bömel-
burg in Hamburg (Zentralverband der Maurer Deutschlands). X und
65 Seiten. 40. Preis 2,50 Mark.
4. Paeplow, Fritz und Bömelburg, Th., Das Maurergewerbe in der
Statistik. Nach den statistischen Erhebungen des Maurerverbandes, den
Berufs- und Gewerbezählungen des Deutschen Reiches und den amt-
lichen Nachrichten des Reichsversicherungsamtes bearbeitet. VIII und
224 Seiten 8”. Hamburg 1902, Th. Bömelburg.
5. Paeplow, Fr., Lohnklausel und Minimallohn. Agitationsschrift
zur Förderung korporativer Arbeitsverträge. Herausgegeben von der
Zentralkommission für Arbeiterschutz in Hamburg. Hamburg 1902,
Verlag von Th. Bömelburg. 31 Seiten 8°. Preis 0,05 Mark.
6. Stolle, H., Stuttgart, Konferenz der Gauvorsitzenden des Zentral-
verbandes der Maurer Deutschlands. Abgehalten am 24. und 2S. Januar
1902 in Leipzig. Hamburg, Auer & Cie. n Seiten 8°.
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Littcratur von und über Gewerkschaften.
205
7. Bericht des Vorstandes der Zahlstellen Berlins und der Vororte
des Zentral verbandes der Zimmerer Deutschlands für das Jahr 1901.
Berlin 1902. H. Knüpfer 47 Seiten 8°.
8. Geschäftsbericht der Zahlstelle Hamburg des Zentralverbandes
der Zimmerleute und verwandter Berufsgenossen Deutschlands. Hamburg,
Auer & Cie. 1902. 23 Seiten 8°.
9. Link, G., Der baugewerbliche Arbeiterschutz für den Stadtkreis
Berlin und die i’rovinz Brandenburg. Geschäftsgebiet der nordöstlichen
Baugewerks-Berufsgenossenschaft. Herausgegeben von den Vertrauens-
personen der baugewerblichen Arbeiter. Berlin 1901 , G. Link. 32
Seiten 160.
10. Hirtmann, C., Statistische Erhebungen über Arbeits- und Lohn-
verhältnisse der Steinarbeiter Deutschlands mit Berücksichtigung der
Krankheitsart und -Dauer, sowie der Zahl und Ursache der Todesfälle.
Vom 1. Juli 1900 bis 30. Juni 1901, Berlin v. J. 35 Seiten 8°.
11. Allgemeine Steinsetzer-Zeitung, Festausgabe zum 10 jährigen
Bestand des Verbandes der Steinsetzer, Pflasterer und Berufsgenossen
Deutschlands 1893 und 1903. Redaktion und Expedition A. Knoll
Berlin NW. Waldenserstr. 18. 8 Seiten. Folio.
1 2. Knoll A., Die soziale I-age der Arbeiter des Steinsetzergewerbes.
Statistischer Bericht an den 5. Verbandstag der Steinsetzer, Pflasterer und
Berufsgenossen Deutschlands nebst Protokoll der Verhandlungen des
5. Verbandstages in Mainz 16. bis 19. Februar 1902. Herausgegeben
im Aufträge des Verbandes der Steinsetzer, Pflasterer und Berufsgenossen
Deutschlands. Als Agitationsschrift gedruckt. Preis für Verbandsmit-
glieder 10 Pf. Berlin 1902. 136 Seiten 8°.
13. Recht und Pflicht! Ein offenes Wort zur Agitation und zum
Nachdenken für Maler, Lackierer, Anstreicher, Tüncher und Weifsbinder
Deutschlands. 48 Seiten kl. 8 0 o. J. u. O.
14. Leipart, Th., Von der Notlage der Korbmacher. Nach
statistischen Ergebungen im Jahre 1901 herausgegeben vom Vorstand
des deutschen Holzarbeiterverbandes. 36 Seiten 8°. Stuttgart 1902,
Verlag von Theodor Leipart.
15. Leitfaden für die Lokalverwaltungen und Gauvorstände des
deutschen Holzarbeiterverbandes. Stuttgart 1900, Selbstverlag des deutschen
Holzarbeiterverbandes. 74 Seiten kl. 8°.
16. Deutscher Holzarbeiterverband , 23. Gau. Vorort Stuttgart.
Bericht des Gauvorstandes über seine Thätigkeit im Jahre 1901 an den
4. Gautag, abgehalten am 26. Dezember 1901 im Gewerkschaftshausc
zu Stuttgart. Stuttgart, Verlag von M. Kayser. 26 Seiten 8 ®.
1 7. Die Arbeitslosigkeit der organisierten Lederarbeiter Deutschlands
für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1901. Herausgeber H. Beiss-
wenger, Berlin. 5 1 Seiten 8 °.
18. Der deutsche Buchbinderverband im Jahre 1901, Bericht des
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206
Litteratur.
Vorstandes. Stuttgart 1902. Herausgegeben vom deutschen Buchbinder-
verband (A. Dietrich) 4 2 Seiten 8 °.
19. Das I .ehrlingswesen im Lithographiegewerbe. Herausgegeben
von der Vertrauenskommission der Lithographen Deutschlands in Berlin.
Gratis zu haben bei Chr. Tischendoerfer, Berlin C. Sophienstrafse 20.
1 6 Seiten 8 °.
20. Deutscher Buchdruckertarif. Gültig ab 1. Januar 1902. 40 S.
klein 8 #.
21. Deutscher Buchdruckertarif nebst Kommentar. Laut Beschlusses
des Tarifausschusses herausgegeben vom Tarifamt der deutschen Buch-
drucker 1902. XVI u. 175 Seiten kl. 8".
22. Verband der deutschen Buchdrucker, Reglement für den Gau
Bayern. Gültig vom 1. April 1902. 8 Seiten kl. 8°.
23. (Braun, Adolf) Schutz den Heimarbeitern! Eine Denkschrift
des Verbandes der Schneider, Schneiderinnen und verwandter Berufs-
genossen an Bundesrat und Reichstag. Mit einem Anhänge: Die Lage
der Arbeiter im Schneidergewerbe Deutschlands, 306 Seiten kl. 8 °.
Stuttgart 1902, Verlag von Fr. Holzhäufser.
24. Der zwölfte deutsche Mechanikertag in Dresden und die
deutschen Mechanikergehilfen und deren Organisation. Bericht über die
Verhandlungen des zwölften deutschen Mechanikertages in Dresden über
den Antrag des Prof. AbW-Jena auf Einführung des neunstündigen Arbeits-
tages am 17. August 1901 und über die aus diesem Anlafs stattgehabte
Konferenz der Gehilfen, vertreten am 16./1 7. August 1901 in Dresden,
mit einem Mahnworte an die deutschen Mechanikergehilfen herausge-
geben im Aufträge der Gehilfenvertreter zum zwölften Mechanikertag
vom Vorstand des deutschen Metallarbeiterverbandes, Stuttgart 1901.
5 5 Seiten kl. 8 °.
25. Statistik über die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Mitglieder
des deutschen Maschinisten- und Heizerverbandes am Schlüsse des Jahres
1890. 18 Seiten 40.
In der Weiterfuhrung meines Referates über die Litteratur von und
über Gewerkschaften beabsichtigte ich bei der Fülle der Schriften eine
systematische Einteilung zu versuchen, vor allem das historische vom
statistischen zu trennen. Eis war dies aber nicht möglich, da gerade
besonders beachtenswerte Erscheinungen sowohl als geschichtliches wie
als statistisches Material zu berücksichtigen sind. An des alten A. L.
v. Schlözers Wort „Geschichte ist fortlaufende Statistik, Statistik ist still-
stehende Geschichte“ wurde ich gemahnt, als ich die statistischen
Arbeiten über die Zimmererbewegung (2) und über die Lohn- und
Arbeiterverhältnisse der Maurer Deutschlands (3 u. 4) lediglich als Bei-
träge zur Sozialstatistik registrieren wollte Diese beiden Werke sind gleich-
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I-ittcratur von und über Gewerkschaften.
207
zeitig wichtige Quellen für die Geschichte der gewerkschaftlichen Be-
strebungen der Bauhandwerker.
Von den oben angeführten Schriften würde die Arbeit Bringmanns (1)
sowohl dem Umfange als auch um ihrer Bedeutung und Originalität
willen die eingehendste Besprechung verdienen. Ich bin aber dazu
aufser stände, da mich der Verfasser in seinem Vorworte für Jen Plan
des Werkes verantwortlich macht. Meine Anregungen in einer früheren
Sammelbesprechung über neue Litteratur von und über Gewerkschaften
in diesem Archive haben den Verfasser angeregt, seiner seit langer Zeit
vorbereiteten Arbeit über die Geschichte der Arbeiterorganisationen
in seinem Gewerbe eine ganz andere Basis zu geben, die Verbindung
zwischen alter Gesellenorganisation und moderner Gewerkschaftsorgani-
sation aufzudecken. Auch sonst habe ich manchen bescheidenen Anteil
an diesem Werke genommen, so dafs ich es mir versagen mufs, mehr
als diese kurze Anseige hier zu schreiben. Ich möchte hoffen, dafs eine
dieses wichtige Werk nach Verdienst würdigende Besprechung dieser
Zeitschrift von anderer Seite geliefert wird. Die schön ausgestattete
Arbeit ist durch Facsimiles von Lehrbriefen, Kundschaften etc. illustriert.
Eine verschollene Jugendarbeit von Menzels Meisterhand findet sich auch
wiedergegeben.
So fern es dem Referenten auch liegt, soziale Erscheinungen, wie
die bedeutende Verkürzung der Arbeitszeit und die erhebliche Erhöhung
der Geldlölme auf eine L'rsache zurückzufuhren, so wenig kann be-
stritten werden , dafs die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung in erster
Linie und zwar direkt wie indirekt in dieser Richtung gewirkt hat. Die
drei (2, 3, 4) genannten Schriften erweisen dies klar, weil sie ein viel lang-
sameres Steigen der Löhne in den Landesteilen mit unbedeutender Zahl
gewerkschaftlich organisierter Arbeiter nachweisen wie in den Bezirken
mit guten Organisationsverhältnissen der Arbeiter. Die drei Publika-
tionen sind wichtige Beiträge zur Entwicklung des Geldlohnes und auch
zur industriellen Topographie des Deutschen Reiches wie endlich zur Ge-
schichte und Kritik der deutschen Gewerkschaftsbewegung, die auch
derjenige nicht unberücksichtigt lassen kann, der, wie der Rezensent
bedauert, dafs über die Herkunft der Zahlenreihen nicht vollkommen
befriedigende Auskunft gegeben wird. Aber es ist zu beachten, dafs
die angegebenen Zahlen nur verzeichnet werden konnten mit Rück-
sicht auf die Kritik der Unternehmerorganisationen im Baugewerbe, die
in ihrer Presse aufs genaueste alles verfolgen und subjektiv kritisch be-
leuchten, was aus dem Lager der organisierten Bauarbeiter kommt. Man
wird auch Anstofs nehmen an den Durchschnittslöhnen meines Erachtens
nicht mit vielem Rechte, denn im deutschen Baugewerbe sind vielfach
Ortslöhne üblich, die für alle nicht eben Ausgelemte oder zur Invalidi-
tät neigenden Arbeiter mafsgebend sind. Endlich ist bei der Beurtei-
lung der Zahlen auch zu berücksichtigen, dafs tarifarische Abmachungen
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208
Littcratur.
zwischen Unternehmer- und Arbeiterorganisationen in einer sehr erheb-
lichen Zahl deutscher Städte seit langem feste Grundlagen für lohn-
statistische Feststellungen ergeben haben. Der Referent hat den Vor-
sitzenden des Zentralverbandes der Maurer Deutschlands, Herrn Th.
Bömelburg, der mit dem Redakteur des Grundstein, Herrn Paeplow
die Publikationen des Maurerverbandes verfafst hat, nach den Quellen be-
fragen können, worauf er erfuhr, dafs zahlreiche Angaben aus der Presse
und anderen Veröffentlichungen der Unternehmer stammen, dafs keine
Kosten und keine Mühe gescheut wurden, um die Angaben für die Ver-
öffentlichung zu erhalten. Mehrere statistische Erhebungen im Maurer-
verbande sind der Veröffentlichung vorangegangen. Wenn nun auch
nicht die Exaktheit der wissenschaftlichen Lohnstatistik, von der wir
freilich nicht mehr als Proben besitzen, in den beiden genannten
Schriften zu finden ist, so werden sie doch als ein Surrogat von nicht
geringer Bedeutung angesehen werden dürfen. Mag der Mafsstab des
Statistikers nicht zu rigoros an diese Publikationen gelegt werden, der
Beurteiler der deutschen Gewerkschaftsbewegung wird den strengsten
Mafsstab verwenden dürfen. Als Leistungen der deutschen Gewerk-
schaften sind sie hervorragende Beispiele des Ernstes und Fleifses, auch
der Begabung und des Eifers der leitenden Gewerkschaftsbeamten. Ich
glaube aber, dafs auch die Nationalökonomen von Fach manches diesen
Arbeiten entnehmen können.
Nur noch einige spezielle Bemerkungen über diese Arbeiten. Die
„Erhebungen“ des Maurerverbandes (3) enthalten den sich durch Ein-
fachheit und Klarheit auszeichnenden Fragebogen. Sollte vielleicht ein
der Arbeiterbewegung ferner stehender Beurteiler als der Schreiber
dieser Zeilen meinen, dafs Art und Zahl der Beschäftigten von nicht
beamteten Personen und insbesondere von Bauarbeitern nicht festzu-
stellen sei, so ist dagegen einzuwenden, dafs die Bauarbeiter durch die
von ihnen fast allerorts vorgenommenen regelmäfsigen Baukontrollen
hierzu wohl im stände sind. 1455 Orte im Deutschen Reiche sind in
die Erhebung einbezogen worden, 60 verschiedene Lohnklassen aufge-
stellt ; die Angaben über die Löhne wurden nach Landesteilen und
nach Orts-Gröfsen-Klassen gruppiert. Es finden sich dann Angaben
über die Lohnformen, Ueberstunden, Arbeitszeit, Pausen, über die Be-
schäftigung von Ausländem u. s. w. Diese Angaben finden sich für
jeden der 1455 1 >rte und dann in einer Reihe von zusammengefafsten
Tabellen, von denen wir als die sozialstatistisch bemerkenswertesten die
über die Bewegung des layhnes, der Arbeitszeit und die Steigerung des
Stundenlohnes im einzelnen hervorheben wollen.
Die statistische Arbeit des Zentral verbandes der Zimmerer etc. (2)
sollte, wie geplant war, der von August Bringmann, dem Redakteur des
Zimmerer, verfafsten Geschichte der deutschen Zimmcrerlrewegung
als Anhang beigegeben werden. Es rechtfertigt sich aber vollkommen
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Littcratur von und Uber Gewerkschaften.
209
die selbständige Veröffentlichung. Für die Entwicklung der Gewerk-
schaftsbewegung und für ihre Verbreitung in den einzelnen Orten des
Deutschen Reiches ist die Tabelle über die Verbreitung der deutschen
Zimmererbewegung im 19. Jahrhundert hochinteressant. Dabei ist frei-
lich zu bemerken, dafs natürlich blofs die Jahre 1869 — 1878 (Sozialisten-
gesetz) und 1883 — 1900 behandelt sind und dafs es sich in der Haupt-
sache um Mindestzahlen handelt, weil über einzelne neben den inafs-
gebenden Organisationen laufende Bewegungen Zahlenangaben nicht zu
erhalten waren. Aus dem vielen, was diese Tabelle lehrt, sei nur her-
vorgehoben die Wirkung der Krisen- und der Prosperitätsjahre auf die
Stärke der gewerkschaftlichen Organisationen in 723 Orten des Deutschen
Reiches, die sowohl alphabetisch fiir das Reichsgebiet, als auch nach
Provinzen geordnet aufgeführt sind. In einer ferneren, von dem Ver-
bandsvorsitzenden Fritz Schräder bearbeiteten Tabelle finden wir 622
Orte und zwar soweit Material vorlag, für die Jahre 1 885 und für jedes
der Jahre 1890 — 1893 und 1895 — 1900 die tägliche Arbeitszeit in
Stunden und die Stundenlöhne in Pfennigen angegeben. Auch hier
finden wir eine alphabetische neben einer topographischen Gruppierung
des Materials. Hieran schliefst sich eine „Zimmerei- Betriebsstatistik“,
nach den Resultaten der Gewerbezählung vom 14. Juni 1895, zusammen-
gestellt von August Bringmann. Der Schlufs bildet Tabellen über die
Finanzgebahrung des Zimmererverbandes, die z. B. von 1890 — 1900
eine ununterbrochene Steigerung der Einnahmen von 84816 Mk. 74 Pfg.
bis zu 367 104 Mk. 12 Pfg. sowie ein ununterbrochenes Wachsen
der Kassenbestände am Jahresschlüsse von 2865 Mk. 45 Pfg. im Jahre
1890 auf 283731 Mk. 87 Pfg. im Jahre 1900 zeigen. Die Verteilung
der Einnahmen auf die Zahlstellen und die Hauptkasse, die Gruppierung
der Einnahmen wie der Ausgaben, die Finanzierung der Zimmerer-
streiks etc. ist aus diesen letzten Tabellen zu ersehen. Man wird gegen
einzelne tabellarische Darstellungen einwenden können, dafs Zusammen-
fassungen und ein begleitender Text fehlt; hoffentlich erhalten wir bald
den 2. Band von Bringmanns Geschichte der Zimmererbewegung, der
wohl diese Lücken ausfüllen wird.
Neben der vorher besprochenen Schrift hat der Maurerverband noch
eine zweite umfangreiche und in hohem Mafse beachtenswerte statistische
Arbeit (4.) in gleichem Jahre veröffentlicht. Die Thatsache dieser sta-
tistischen Erhebung und Verarbeitung geben schon ein Bild von dem
F.rnste und der Gründlichkeit, welche immer mehr die Voraussetzung
der gewerkschaftlichen Aktion im Deutschen Reiche wirtl. Die Notwen-
digkeit statistischer Erhebungen Ulrer die Lohn- und Arbeitsverhältnisse
haben die Maurerorganisationen schon vor 30 Jahren erkannt; im Jahre
1873 wurde auf den in Berlin abgehaltenen Maurer- und Steinhauerkon-
grefs auf die Wichtigkeit zahlenmäfsiger Feststellungen über die Lage
der Arbeiter im Maurer- und Steinhauergewerbe hingewiesen. Die un-
Archiv für sog. Gesetzgebung u. Statistik. XVII 1. 14
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210
Litteratur.
günstige Entwicklung, welche die Gewerkschaften dank der wirtschaft-
lichen Krise , in den 70er und 80er Jahren wie nicht minder infolge der
an den Namen Tessendorf sich knüpfenden Verfolgungen auf Grund des
preufsischen Vereinsrechtes und der sich anschliefsenden auf Grund des
Sozialistengesetzes genommen haben, liefs die Durchführung statistischer
Arbeiten nicht zu. Erst der 188g zu Halle a./S. abgehaltene Maurer-
kongrefs konnte sich diesen Aufgaben wieder zuwenden. Die hier be-
sprochene Schrift giebt uns einen interessanten Ueberblick über die
mannigfachen statistischen Erhebungen der deutschen Maurerorganisation.
Nicht nur die Sozialpolitiker sondern auch den Berufsstatistiker mufs der
Eifer und das Geschick interessieren, mit dem diese Organisationen ohne
jegliche staatliche oder ähnliche Zwangsmittel, ohne geschulte wissen-
schaftliche Kräfte tief eindringende Feststellungen über die Lebenslage
der Arbeiter ihres Berufes zu stände brachten. Unter den überaus zahl-
reichen, zum Teil methodisch sehr anfechtbaren Statistiken der deutschen
Gewerkschaften nimmt die hier besprochene Publikation einen ersten
Rang ein. Eine Reihe von Formularen, die sich durch weise Beschrän-
kung auf wenige F'ragen auszeichnen, sind abgedruckt und ermöglichen
eine Kontrolle der Erhebungsmethoden. Es erscheint uns weniger be-
merkenswert, dafs der Maurerverband über Beamte, ehemalige Maurer,
verfügt, die ein wissenschaftlichen Anforderungen in hohem Mafse ent-
sprechendes Buch, wie das zur Unterlage dieser Bemerkung dienende
verfassen können, als die Thatsache, dafs der Maurerverband seine Mit-
glieder in der Weise schulen konnte, dafs sie an fast allen Orten, wo
die Organisation vertreten war, klare verarbeitbare Antworten auf die
gestellten Fragen geben konnten. Wohl ist manchmal eine Nachhilfe
von Gaubeamten und anderen Funktionären des Verbandes erforderlich
gewesen, aber dies hindert nicht das Resultat dieser tief eindringenden
lohnstatistischen Erhebung als ein glänzendes Zeugnis für das geistige
Niveau der organisierten Maurer anzuerkennen. Diese Bemerkungen er-
scheinen uns nötig zu einer Zeit, wo die Hoffnungen auf eine amtliche
Arbeiterstatistik in Deutschland sich ein klein wenig gebessert haben.
Man mufs aus diesen Arbeiten den Schlufs ziehen, dafs die amtliche
Sozialstatistik am ehesten zu befriedigenden Resultaten gelangen wird,
wenn sie, das Beispiel Oesterreichs und der Verein. Staaten berücksich-
tigend, die Gewerkschaften zur Mitarbeit an den Erhebungen heran -
zieht. Die ersten Schritte, welche ja nach einem französischen Sprich-
worte die schwierigsten sind, sind gemacht, aber es ist noch ein weiter
Weg, zu ähnlichen statistischen Erhebungen durch das reichsstatistische
Amt, wie sie die vorliegende Statistik uns bietet. Diese Statistik ist
auch eine wichtige Vorarbeit für kommende Erhebungen und auch für
die Beurteilung der Lohnsysteme im Baugewerbe. Die interessante Fest-
stellung, dafs in einer grofsen Zahl von Orten einheitliche Löhne be-
stehen, so vor allem in dem örtlich zusammenhängenden Gebiete von
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Litteratur von und über Gewerkschaften. 21 I
Schleswig-Holstein , Mecklenburg , Lübeck und Hamburg erscheint mir
besonders wichtig. Dieser Einheitslohn, auf den wir schon oben hin-
gewiesen haben, dürfte wohl ein Rest des die alte Zunft beherrschenden
Gedankens der Ausgleichung der Konkurrenz sein. Neben diesem Ein-
heitslohne giebt es Orte, in denen nur ganz unbedeutende Unterschiede
der Stundenlöhne Vorkommen ; ganz anders liegen die Verhältnisse im
Süden Deutschlands, wo fiir Stuttgart 20, für München 19 Lohnklassen
festgestellt wurden. Das Eindringen fremder Arbeiter, der „Sachsen-
gänger im Baugewerbe“ mag hier den Ausschlag gegeben haben. In
den Provinzen, als Gesamtheit betrachtet, kommt nirgends ein Einheits-
lohn vor, dies spricht dafür, dafs der Einheitslohn, wo er nicht ein von
der modernen Gewerkschaft errungener Erfolg ist, ein L’eberrest zünf-
tigen Gebrauches darstellt, der aber, wie eben die Zunft, sich auf das
einzelne Gemeinwesen, die einzelne geschlossene Stadtwirtschaft beschränkt
und sich vor allem von dem flachen Lande mit seinem als „Störer“ ver-
achteten und verfolgten Handwerkern unterscheidet. Während aber in
den wirtschaftlich zurückgebliebenen Provinzen Ost- und Westpreufsen
und Posen nur 6 Lohnsätze (der niedrigste von 21 Pfennigen, der
höchste von 45 Pfennigen) festgestellt wurden, zeigt das gleiche Jahr
1S98 39 Lohnsätze in der Provinz Brandenburg (von unter 20 bis über
60 Pfennige, bei den Berliner Putzern 77 '/, Pfennige für die Stunde).
Wir haben auf diese Resultate hingewiesen, um eine Art Kostbissen aus
diesem interessanten Werke den Lesern zu reichen. Die kurz vorher
genannte Schrift sucht ebenso wie die hier besprochene ein Bild zu
geben von den Ergebnissen der Lohnstatistik des Jahres 1900, zwischen
diesen beiden Zählungen, der von 1898 und der von 1900 über die
Löhne wurde eine Arbeitslosenstatistik in den Monaten Dezember 1899,
Januar, Februar und März 1900, sowie unabhängig von dieser Zählung
im Monate August 1900 vorgenommen. Es beweist dies den aufser-
ordentlich gTofsen Eifer, den die Maurerorganisation auf ihre Statistiken
verwendet
Was Mischler von der amtlichen Statistik sagt, dafs sie Verwal-
tungsstatistik ist, dafs sie stets zu direkten näheren oder ferneren Ver-
waltungszwecken unternommen wird, dafs sic nicht, wie Naive meinen,
Statistik an sich, Statistik im Interesse rein wissenschaftlicher Thatsachen-
feststellung ist, das gilt auch von der Statistik der Gewerkschaften. Ge-
rade der Maurerverband, diese auf dem statistischen Gebiete eifrigste
Organisation , hat auf Grund ihrer regelmäfsigen und genauen That-
sachenfeststellungen wohl die erheblichsten Erfolge von allen grofsen
Gewerkschaftsorganisationen, die Buchdrucker kaum ausgenommen, fest-
zustellen. Diese Statistiken bilden die Grundlagen für die Erfolge des
grofsen Verbandes, für das Abwägen der Aussichten von Lohnbewegungen,
sie sind aber an sich schon ein viel wirkungsvolleres Agitationsmittel
für die Gewerkschaften, als der ferner stehende ahnen mag. Die That-
14*
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212
Litteratur.
Sache, dafs sich die Organisation um den Maurer bekümmert, dafs sie
seine Lohnhöhe, seine Arbeitszeit, die Dauer seiner Arbeitslosigkeit fest-
zustellen bemüht ist, schafft auch die Grundlagen, die Unorganisierten
für den Verband zu interessieren, sodafs die Statistik nicht in letzter Linie
mit daran schuld ist, dafs der Maurerverband sich so rasch entwickelt hat.
Auch die innere Statistik des Zentralverbandes der Maurer wird
gepflegt, aus ihr ersieht man, dafs im III. Quartale 1891 der Verband
10140 im gleichen Quartale 1900 86262 Mitglieder zählte, dafs in dieser
Periode die Zahl der örtlichen Mitgliedschaften von 112 auf 887 ge-
stiegen ist, dafs der Verband jetzt über eine Jahreseinnahme von über
1 Million Mark verfügt. Die Verbreitung des Verbandes ist aber aufser-
ordentlich ungleich, seine meisten Mitglieder zählt das mittlere Nord-
deutschland ; im ganzen Gau Berlin, der die Provinz Brandenburg und
Verwaltungsbezirke aus 3 umliegenden Provinzen und den südlichen Teil
von Mecklenburg-Strelitz umfafst, zählte der Verband 20276 Verbands-
mitglieder, aber nur 19662 beschäftigte Maurer. Die Differenz erklärt
sich aus dem Umstande, dafs die auf Ueberland-Arbeit befindlichen
Maurer am Beschäftigungsorte, wo eine Organisation nicht vorlianden
ist, nicht gezälilt werden können, aber diese Zahlen beweisen, dafs die
Zahl der unorganisierten Maurer in dem grofsen Gau Berlin eine sehr
geringe sein mufs, im Gau Hamburg-Schleswig-Holstein waren 93 °/(( der
ermittelten Maurer organisiert; bedeutend ungünstiger liegen die Ver-
hältnisse im Westen und im Süden des Reichs, die westdeutschen Gaue
zählen nur 20 und 15 " „ organisierte, die süddeutschen 30, 20, 9, 7 °JO
organisierte Maurer. Die Statistik über die Lohnhöhe und die Länge
der Arbeitszeit im Jahre 1900 ist in trefflich übersichtlicher Weise geo-
graphisch nach Landestcilen und statistisch nach Gröfsenklassen der
Ortschaften verarbeitet. Die Bedeutung der Gewerkschaften wird durch
den Nachweis der Lohnsteigerung pro Tag in den Perioden 1895 — 1900
und 1885 — 1900 festgestellt. Interessant, wenn auch kaum absolut
exakt, sind die Feststellungen über das Verhältnis von Jahresverdienst
und Wohnungsmiete, die Tabelle enthält auch die Angabe der Lohn-
höhe, tägliche Arbeitszeit im Sommer, Zahl der Zimmer der Wohnung.
Für 367 Orte im Deutschen Reiche sind die Zahl der Maurer, die
Stundenlöhne und die Arbeitszeit 1S95 und rgoo, die Entwicklung der
Löhne der Arbeitszeit, und die Zahl der erhobenen Lohnforderungen
beziehentlich der Strikes für 1895 — 1900 und ohne Angabe der Lohn-
forderungen für 1885 — 1900 festgestellt und alphabetisch geordnet.
Weitere Kapitel des Buches behandelt die Arbeitslosenstatistik, die Sta-
tistik über den Familienstand, die Wohnungsverhältnisse, Nebenerwerb
und Arbeitswechsel der Verbandsmitglieder.
Neben der Statistik, die vom Verbände selbst aufgenommen und
verarbeitet ist, findet sich eine bis ins Einzelne gehende Verarbeitung
der Ergebnisse der Berufs- und Gewerbezählungen im Deutschen Reiche
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Litteratur von und Ober Gewerkschaften. 2 I 3
wie auch der Unfallstatistik und des leider spärlichen Materiales, das wir
über den Bauarbeiterschutz besitzen.
Wenn unsere amtlichen Statistiken darüber klagen, dafs ihrer mühe-
vollen Arbeit so aufserordentlich wenig Verständnis entgegengebracht
wird , dafs der statistischen Produktion der Konsum der statistischen
Litteratur in keiner Weise die Wage hält, so beweist die hier besprochene
Schrift, dafs die genauesten Kenner der Bedürfnisse der Arbeiterklasse
es wagen können , dieser umfangreiche statistische Werke , darunter
auch die Resultate der amtlichen Statistik, in grofsen Dosen vorzusetzen.
Man kann wohl behaupten, dafs abgesehen von dem kleinen Kreise der
Berufs-Nationalökonomen, niemand in Deutschland eifriger die Ergeb-
nisse amtlicher und privater Statistik studiert, als gerade die organisierte
Arbeiterschaft.
Wenn wir im Anschlüsse an die erwähnten besonders bemerkens-
werten Leistungen der deutschen Bauarbeiterbewegung die anderen Ver-
öffentlichungen aus den Kreisen dieser Organisationen, wenn auch nur
in aller Kürze betrachten wollen, so ist in erster Linie die von Fritz
Paeplow verfafste Agitationsschrift zur Förderung korporativer Arbeits-
verträge „Lohnklausel und Minimallohn" (5) zu nennen. Wir wissen,
dafs die Arbeiter des englischen Sprachgebietes auf diesem Felde er-
folgreich Bahn gebrochen haben und dafs in den westeuropäischen
Staaten und Gemeinden sehr beachtenswerte Erfolge in dieser Richtung
erzielt wurden. Bevor Zwiedenek-Südenhorst, Klient und die Publikation
des k. k. arbeitsstatistischen Amtes dieses Material zusammengestellt,
beleuchtet und kritisiert hatten, wurde dieser Gedanke auf dem im Jahre
1899 zu Berlin ahgehaltenen 1. Bauarbeiterschutzkongrefs von der deutschen
Bauarbeiterbewegung aufgenommen und hierauf weiter propagiert. Die
genannte Schrift eignet sich gut, diese Idee in die Massen zu tragen
und den Einflufs der Arbeiterschaft in Parlamenten und Gemeindever-
tretungen zu gunsten der Bau- und anderen Arbeiter wirken zu lassen.
Nach einer historischen Einleitung über die Entwicklung des Lohn-
systems kommt der Autor zu der Forderung des Minimallohnes für
Arbeiter in den staatlichen und kommunalen Verwaltungen. Ein beson-
deres Kapitel mit historischen Exkursen und Hinweisen auf die Ver-
breitung der „fair wages“ ist der Lohnklausel gewidmet, den Schlufs
bildet der Abschnitt über den Minimallohn. Die grofse Verbreitung,
welche die Schrift gefunden hat, läfst erwarten, dafs die Lohnklausel
und der Minimallohn künftig in den Kämpfen der deutschen Bauarbeiter
eine gröfsere Rolle spielen werden wie bisher.
Besoldete Gauvorstände für einzelne Landesteile sind in den meisten
deutschen Gewerkschaftsorganisationen noch nicht bestellt worden. Viel-
fach wird die dadurch hervorgerufene Steigerung der Verwaltungskosten
gefürchtet, auch manche über ansehnliche Geldmittel verfügende Gewerk-
schaftsorganisationen stellen sehr hohe Anforderungen an die Fälligkeiten
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214
Litteratur.
und Eigenschaften der Gauleiter und halten deshalb vorläufig mit der
Bestellung von besoldeten Provinzbeamten zurück, wenn sie sich auch
im Prinzipe für diese Einrichtung entschieden haben. Es ist dies auch
wohl verständlich , sind doch dem Gauleiter , der die Verbindung
zwischen dem Hauptvorstande und den örtlichen Verwaltungsstellen zu
bilden hat, mannigfache Aufgaben, viele Arbeit und noch gröfsere Verant-
wortlichkeit aufgebürdet, er soll in ausgedehnten Landesteilen die Agi-
tation betreiben, die bestehenden Organisationen fördern und ihre
Thätigkeit nicht blofs in finanzieller Hinsicht kontrollieren, er soll für
die Ausbreitung seines Verbandes wirken, ein Berater und Schlichter
von Streitigkeiten sein, die Zentralleitung über alle Vorgänge in der
Organisation und im Berufsleben auf dem Laufenden erhalten, er soll
Lohnbewegungen vorbereiten, prüfen, ob sie berechtigt, aussichtsvoll und
für die Kasse des Verbandes nicht zu kostspielig sind, er soll aussichts-
lose Bewegungen verhindern, mit Behörden und Unternehmern ver-
handeln etc. etc. Dafs zu diesen mannigfachen und schwierigen Auf-
gaben geeignete, allgemeines Vertrauen geniefsende Männer nicht leicht
zu finden sind, ist wohl begreiflich. Zu den Organisationen, welche die
Gaueinteilung nun vollkommen durchgeführt haben, zählt nun auch der
Zentralverband der Maurer Deutschlands. Er hat auch ein kurzes Pro-
tokoll über die am 24. und 25. Januar 1902 abgehaltene Konferenz
seiner Gauvorsitzenden veröffentlicht (6), das einigermafsen über die Auf-
gaben der Gauvorstände orientieren kann. Interessant ist in dem Pro-
tokolle auch der Austausch der Meinungen über die im Baugewerbe so
bedeutungsvolle Frage der Beschäftigung ausländischer Arbeiter.
War auch Berlin bisher aus bekannten vereinsgesetzlichen Gründen nur
der Sitz weniger Verbandsleitungen, so hat die gröfste Stadt des Landes
doch die am meisten entwickelte Gewerkschaftsbewegung, in ihr kon-
zentrieren sich die stärksten und in Hinblick auf Disziplin und finan-
zielle Kraft leistungsfähigsten Zahlstellen der meisten deutschen Gewerk-
schaften. Die Berichte dieser Zahlstellen verdienen deshalb als bedeu-
tungsvolles Material zur Beurteilung der deutschen Gewerkschaftsbe-
wegung eine besondere Beachtung. Der Bericht der Zimmerer über
ihre Zahlstellen in Berlin und den Vororten der Reichshauptstadt (7)
beginnt mit einer die Krise würdigenden Auseinandersetzung. Es
wird die wichtige Thatsache festgcstellt, dafs im Jahre 1901 (auf einen
Druckfehler ist wohl die Zahl 1902 zurückzuführen) die Zahl der ab-
wandernden Zimmerer im Gegensätze zu allen Vorjahren die der Zu-
wandernden überstieg. Die Arbeitslosenunterstützung, ein alter Wunsch
des Verbandes wird ferner in dem Berichte erörtert, dann die Konflikte
mit der konkurrierenden Lokalorganisatiou der Zimmerleute, die Mafs-
regelungen aus Anlafs der Maifeier. Besonders wichtig für den Sozial-
politiker sind die Aktenstücke und Mitteilungen über die Verlängerung
des Tarifvertrages zwischen den Unternehmern und Arbeitern im Berliner
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Littcratur von und über Gewerkschaften.
215
Zimmerergewerbe. Neben Bemerkungen über Lohnkämpfe, die Verwal-
tungsthätigkeit in der Zahlstelle finden sich sehr interessante Mitteilungen
über die Finanzgebahrung, die ein Beweis für die bekannte Opferfreudig-
keit der Berliner Arbeiter sind.
Nächst Berlin ist Hamburg der wichtigste Ort für die deutsche Ge-
werkschaftsbewegung. Dies beweist auch der Geschäftsbericht der Zahl-
stelle Hamburg des Zimmererverbandes für das Jahr 1901 (8). Wir
heben aus demselben hervor den Text der Lohnkarte für die an der
Ramme beschäftigten Zimmerer, einen Beitrag zu den bekannten Akkord-
maurer-Differenzen, sehr beachtenswerte Statistiken über Arbeitslosigkeit
und Krankheit. Ein besonderes Kapitel ist dem Bauarbeiterschutze und
der Baukontrolle gewidmet. Die Jahresabrechnung und ein „Gewerbe-
gerichtliches“ überschriebener Abschnitt beschliefsen das Schriftchen.
Die Sammlung von kleinen Schriften über den Bauarbeiterschutz,
die wir schon in unserer ersten den Gewerkschaften gewidmeten Litte-
raturubcrsicht besprachen, ist um eine weitere vermehrt worden, welche
für die in Berlin und der Provinz Brandenburg thätigen Bauarbeiter be-
stimmt ist (9).
Die Verordnung des Bundesrates zum Schutze der Steinarbeiter ist
in erster Linie den ständigen statistischen Feststellungen über die Arbeits-
bedingungen und Gesundheitsverhältnisse der Steinarbeiter Deutschlands
durch ihre Organisation zu verdanken, die ihre eindrucksvolle Zusammen-
fassung in Calwers Arbeit über „die Berufsgefahren der Steinarbeiter“
gefunden hatten. Weder die Bundesratsverordnung noch die Wirkung
der Denkschrift haben die Steinarbeiter veranlafst, ihre Feststellungen
über die Lage der Arbeiter in ihrer Industrie einzustellen. An der
letzten Erhebung, die in der oben (10) genannten Schrift verarbeitet
wurde, haben sich mehr Steinarbeiter beteiligt als an den vorangegangenen
Feststellungen. Der Inhalt dieser neuesten Veröffentlichung der Stein-
arbeiter-Organisation bietet so manches, was die Denkschrift nicht in
den Bereich ihrer Darstellung gezogen hatte, es wäre deshalb nicht zu
wünschen, dafs sie unbeachtet bliebe. Wir erwähnen Feststellungen
über die Frauen- und Kinderarbeit in diesem überaus gefährlichen Be-
rufe, über die Arbeitsstätten, über die Aufenthaltsräume der Arbeiter in
den Pausen, über das Vordringen des Maschinenbetriebes in dieser In-
dustrie, über die Lohnformen, die Arbeitszeit, den durchschnittlichen
Jahresverdienst und die Stundenlöhne. Weiter finden wir Bemerkungen
über gerichtliche Entscheide, die durch Lohndifferenzen hervorgerufen
wurden, dann Berechnungen des Durchschnittsalters und der durch-
schnittlichen Beschäftigungsdauer für die verschiedenen in dieser Berufs-
gruppe in Betracht kommenden Berufsgruppen, ferner finden sich in
dem zwar kurzen aber inhaltsreichen Schriftchen statistische Feststellungen
über Arbeitslosigkeit, Krankheitsdauer, Sterblichkeit, Verhältnis der Zahl
der Organisierten zu der der Beschäftigten.
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2l6
Litteratur.
Das unter 1 1 angeführte Festblatt enthält auf r 3 Spalten eine Ge-
schichte der modernen Steinsetzerorganisation auf die ich , trotz des
vorhandenen Anlasses nicht kritisch eingehen kann, weil ich selbst der
Verfasser bin. Ich darf aber anführen, dafs mir auf Grund des vor-
trefflichen Archivs dieser Organisation der Beweis vollständig gelungen
ist, dafs moderne Gewcrksehaftsorganisationen in Deutschland direkt aus
zünftigen Gesellenorganisationen entstanden sind. Was ich im Jahre 1901
als Theorie aufgestellt habe, vermochte ich Ende 1902 aktenmäfsig nach-
zuweisen. Das Material, das mir dies ermöglichte, konnte selbstverständ-
lich in dieser mehr agitatorischen Zwecken dienenden Festschrift nicht
vollständig ausgenützt werden. Bei der Wichtigkeit der Frage über die
Entstellung der Gewerkschaften beabsichtige ich in mehr wissenschaft-
licher Form diese Frage bald zu erörtern. Die Festschrift enthält nicht
blofs Rückblicke, sondern auch eine Reihe wichtiger Aktenstücke, in
denen man die gegenwärtige Wirksamkeit und die künftige Politik des
Steinsetzerverbandes veranschaulicht findet. Im Vereine mit der unter
Nummer 12 genannten Schrift erhält man ein vollständiges Bild über
die soziale I.age der Steinsetzergehilfen in den gröfseren Städten, über
die bedeutungsvollen Leistungen dieser Gewerkschaftsorganisation und
über den Geist, der sie früher und heute erfüllt. Es giebt wenige
Schriften, wie die unter 12 genannte, die so klar den Nachweis er-
bringen, wie unberechtigt die Unternehmeranschauung ist, dafs die Kosten
der Lohnbewegungen und Strikes nicht aufgewogen werden durch die
Erfolge derselben. Gerade die 10 jährige Geschichte der Steinsetzer-
organisation, die statistische Beleuchtung der Lage der Arbeiter in diesem
Gewerbe vor Gründung der Organisation wie am Ende der Berichts-
periode beweist den gewaltigen Effekt gewerkschaftlicher Wirksamkeit
für die Arbeiter. So ergiebt sich der Wert dieser aus der Feder
A. Knolls stammenden Denkschrift über die Kreise seiner Berufsgenossen
hinaus.
Zu den in unserer früheren Uebersicht erwähnten Schriftchcn zur
Gewinnung neuer Mitglieder ist eine recht originelle, auf engsten Raum
beschränkte und doch in mannigfacher Hinsicht anregende und be-
lehrende die des Malerverbandes (13) gekommen, die nicht blofs als
Beispiel für diese besondere Art von Gewerkschaftslitteratur beachtens-
wert ist, sondern auch manche verwertbare Daten über die werbende
Organisation für andere Personen als für noch nicht organisierte Maler-
und Tünchergehilfen enthält.
Im deutschen Holzarbeiterverbande, neben dem Metallarbeiterver-
bande dem einzigen gewerkschaftlichen Industrieverbande im deutschen
Reiche, sind die gewerkschaftlichen Interessen von mehr als ein Dutzend
verschiedener Berufe mit einander verbunden , neben den eigentlichen
Holzarbeitern wie Tischlern, Holzdrechslern etc. auch Meerschaum- und
Perlmutterarbeiter, Knopf-, Pinsel- und Bürstenmacher u. s. w. So vor-
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Litteratur von und über Gewerkschaften,
217
teilhaft die Zugehörigkeit kleiner Berufsgruppen zu einem grofsen und
finanziell leistungsfähigen Verbände ist, so schwierig ist die Leitung
einer Organisation , bei der die verschiedensten Verhältnisse beherrcht
und gerecht gewürdigt werden müssen. Bei dem grofsen Mifstrauen
der Arbeiter ist diese Aufgabe für schwer genug zu erachten. Die
hier besprochene Schrift (14) ist einer der vielen Beweise, dafs die
Leitung des deutschen Holzarbeiterverbandes diesen grofsen Aufgaben
gewachsen ist. Machen die Korbmacher auch blofs einen kleinen Bruch-
teil der dem Holzarbeiterverbande angehörenden Arbeiterschaft aus, so
wurden doch ihre Wünsche stets berücksichtigt, sie können auch mit
der hier besprochenen Schrift sehr zufrieden sein. Der Fragebogen ist
der Meinung des Referenten nach etwas zu ausführlich geraten, wenn
er auch jede der 25 Fragen für berechtigt halten mufs. Die Arbeiter
zeigten im allgemeinen viel Verständnis für die F.rhebung, aus 42 Städten
kamen nur der Ortsfragebogen zurück, während aus 106 Städten auch
Personalfragebogen eingeliefert wurden. Für ein so kleines Gewerbe,
in dem der Alleinbetrieb vielfach noch herrscht, ist dies ein ganz zufrieden-
stellendes Resultat. Auch bei dieser Erhebung zeigt sich die durch die
soziale Not , die Isoliertheit und überlange Beschäftigungsdauer der
Heimarl>eiter zu erklärende Gleichgiltigkeit der Arbeiter in der Haus-
industrie. Während 1457 in Werkstätten thätige Korbmacher die Frage-
bogen zurückgeliefert hatten, geschah das Gleiche, abgesehen vom Co-
burger Gebiete, blofs von 7 in der eigenen Wohnung thätigen ! Neben
der Hausindustrie herrscht das Kleinhandwerk im Korbmachergewerbe,
hatten doch 250 Betriebe 1 — 5, 67: 6 — 10 und blofs 49 mehr wie 10
Beschäftigte. Bei 9 Proz. der Korbmacher herrschte noch das selbst
im Brauer- und Bäckergewerbe immer mehr verschwindende und nur
noch bei Fleischern und Friseuren herrschende patriarchalische System,
dafs Kost und Logis als Naturalleistung vom Meister empfangen wird.
Interessant ist die Feststellung, dafs die den Haushalt des Meisters
theilenden und deshalb abhängigeren Arbeiter nach Umrechnung der Natural-
leistungen in Geld bedeutend schlechter entlohnt sind als die reinen Geld-
löhner. Nur dort, wo durch Streiks die Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt
wurde, arbeiteten die Korbmacher im Jahre 1901 kürzere Zeit als im Jahre
1897, sonst hatten sie mehr Wochenstunden zu verzeichnen. Die Arbeitszeit
in Hamburg beträgt 54,3, in Oswitz bei Breslau dagegen 74 Stunden.
52 Proz. der Arbeiter erreichten nicht einmal den bedenklich niedrigen
Durchschnittswochenlohn von 16 Mk. 51 Pf. Während bei 54 stündiger
Wochenarbeit 39 Proz. der Arbeiter den höchsten Wochenlohn von
24 Mk. verzeichneten, hatte blos 1 Proz. der Arbeiter mit 7 2 stündiger
Wochenarbeit den höchsten Lohnsatz, ca. 8 Proz. der Arbeiter mit der
kürzesten und 59 Proz. der mit der längsten Arbeitszeit hatten den
niedrigsten Lohnsatz von 1 2 Mk. Ein besonderes Kapitel ist den Korb-
machern im Coburg-Lichtenfelser Bezirke gewidmet, deren Verhältnisse
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218
Litteratur.
um die Mitte der 1880 er Jahre Emanuel Hans Sax erforscht hatte (Die
Hausindustrie in Thüringen III, Jena 1888). Hier hat der Holzarbeiter-
verband zum Unterschiede von anderen Orten ein reichhaltiges Material
aus den Kreisen der Hausindustriellcn zusammengebracht. Eine Besse-
rung gegenüber den Verhältnissen, wie sie E. H. Sax schilderte, war
leider nicht festzustellen. Es heifst in der besprochenen Schrift: »Wir
finden heute noch dieselbe durchaus ungenügende Ernährung, dieselbe
Ueberfullung und Ausnutzung schon an sich ungesunder Wohnungen und
dieselbe übermäfsig lange Arbeitszeit« Das Trucksystem ist zwar von
der Oberfläche verschwunden , es wuchert aber noch im geheimen fort.
Auch dieser Theil der Schrift ist sehr bemerkenswert und speziell den-
jenigen zu empfehlen, welche der Hausindustrie Interesse entgegen-
bringen.
Der Leitfaden (15) ist durch die Beschlüsse des im Jahre 1902 ab-
gehaltenen Verbandstages der Holzarbeiter überholt, er bietet aber dankens-
werte Gelegenheit, sich über das Wesen und die Aufgaben einer grofsen
deutschen Gewerkschaft ausreichend zu orientieren. Ein alphabetisches
Sachregister ermöglicht die bequeme Benutzung des Schriftchens.
Ueber den Thätigkeitsbereich eines Gauvorstandes verschafft Klar-
heit die unter 16 angeführte Schrift, derselben sind als Anhang die
spezialisierten Ziffern über die Verbreitung der Holzindustrie in Württemberg
nach den Ergebnissen der letzten Berufszählung beigegeben.
Das von den Arbeitern eifrig gesammelte Material über den Stand
der Beschäftigungslosigkeit in der letzten Periode der Krise ist leider
in Zeitungen und Wochenblättern zerstreut , die Lederarbeiter haben in
dankenswerter Weise das Ergebnis ihrer Erhebungen in einer besonderen
Broschüre (17) publiziert. Das inhaltsreiche Schriftchen gipfelt in der
Mahnung, die Arbeitslosenunterstützung auch im Verbände der Leder-
arbeiter durchzutuhren. Ein spezielles Eingehen auf die Resultate dieser
Arbeit scheint besser im Zusammenhänge mit den anderen Unter-
suchungen über die Arbeitslosigkeits-Erhebungen deutscher Gewerkschaften
am Platze zu sein.
Jahresberichte hcrauszugeben, bürgert sich bei den Gewerkschaften
immer mehr ein, der Lederarbeiterverband kündigt an, dafs auch er
künftig Jahresberichte herausgeben wird, dem in diesem Archive be-
sprochenen ersten Jahresberichte des Buchbinderverbandes ist nun ein
zweiter (18) gefolgt. In demselben werden alle Seiten der Thätigkeit
dieser Gewerkschaftsorganisation beleuchtet, er informiert uns über die
vielen Schwierigkeiten, die die Krisenjahre mit sich gebracht haben, um
die Erfolge der grofsen, letzten Tarif Bewegung der Buchbinder festzu-
halten. Der Bericht kann ferner feststellen, dafs diese Gewerkschafts-
organisation trotz der Krisis in einer Reihe wichtiger Orte die Lage
ihrer Mitglieder verbessern konnte. Gröfser freilich als die Zahl der
Vorstöfse dieser Gewerkschaft, waren ihre Abwehrstrikes. Naturgemäfs
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Litteratur von und über Gewerkschaften.
219
gab es auch schon der Mannigfaltigkeit der Tarifsätze wegen eine Reihe
von Differenzen. Die Buchbinder besitzen jetzt ebenso wie die Buch-
drucker ein Tarifschiedsgericht, feste Abmachungen über die Arbeitsbe-
dingungen wurden an einer Reihe von Orten abgeschlossen. Neben
diesen in erster Linie wichtigen Mitteilungen wurde über die Agitation
im Buchbinderverbande Rechenschaft gegeben. Es wird ein Blick auf
die Wirksamkeit der Gauorganisationen geworfen, über den Wechsel der
Zahl- und Verwaltungsstellen berichtet und dann die Differenzen
zwischen der Buchbinderorganisation und dem neugeschaffenen Verbände
der Portefeuiller und Ledergalanterie -Arbeiter Deutschlands beleuchtet.
Wichtige Mitteilungen werden über die finanziellen Verhältnisse des Ver-
bandes gemacht, welche die Durchführung einer Extrasteuer erforderlich
machten, um den Stand der Kasse gleich hoch zu bringen, wie sie vor
der grofsen Tarifbewegung gewesen war. In dem Berichte finden sich
ferner Mitteilungen über das Unterstützungswesen der Organisation, über
ihre Beziehung zu ausländischen Verbänden, über die statistischen Ar-
beiten des Verbandes, über sein Organ u. s. w. Erwähnt sei endlich die
Feststellung, dafs in keiner deutschen Gewerkschaftsorganisation die Zahl
der weiblichen Mitglieder so grofs ist wie im Buchbinderverbande. Wer
die Arbeiterpresse in früheren Jahrzehnten verfolgt hat, erinnert sich der
regelmäfsig wiederkehrenden Aufrufe der Buchdrucker, in denen alle
Schattenseiten des Berufes, die Arbeitslosigkeit, die Gesundheitsschädi-
gungen etc. geschildert wurden, um Eltern und Vormünder zu veran-
lassen, ihre der Schule entwachsenden Kinder anderen Berufen zuzu-
führen. Die Buchdrucker haben mit der Zeit eingesehen, dafs ihre
Motive, die Minderung des Zuzuges zu ihrem Gewerbe durchschaut
wurden, so dafs der beabsichtigte Zweck der Warnungen nicht erreicht
wurde. An Stelle dieser Warnungen traten nun die von Arbeitern
anderer Gewerbe, der Bäcker, der Friseure, der Lithographen. Während
die Buchdrucker nun in ihrem Tarife eine Waffe gegen die Lehrlings-
züchterei besitzen, versuchen es gewerkschaftlich weniger erfolgreiche Ar-
beitergruppen mit den von den Buchdruckern i. d. R. nicht mehr ange-
wandten Mitteln der Aufrufe und Warnungen. Während früher diese Aufrufe
durch die periodische Presse verbreitet wurden, haben die Lithographen
es mit einer massenhaft verbreiteten, selbständigen Schrift versucht. Sie
stellt kurz die Natur des I.ithographiegewerbes dar, erläutert die Be-
deutung der Akkordarbeit als Mittel, die Löhne zum weichen zu bringen
und die Arbeitskraft auszubeuten, dann wird die Lehrlingsfrage in diesem
Berufe wie das Verhältnis von Gehilfen- zur I .ehrlingszahl beleuchtet.
Lehr- und Probezeit, die Ausbildung der Lehrlinge wird geschildert, ihre
geringe Aussicht auf dauernde Beschäftigung der Gehilfen klargelegt,
Arbeitszeit, Arbeitslohn, Heimarbeit, die hygienischen Verhältnisse in ab-
schreckender Weise dargestellt und hieraus der Schlufs gezogen, dafs die
Zuführung der Lehrlinge zum Lithographen- und Steindruckerberufe ge-
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220
l.itteratur.
hemmt werden soll. So wichtig eine Schrift dieser Art zur Beurteilung
der Gedankenwelt und der Kampfmittel der Gewerkschaften ist, so wenig
Erfolg dürfen sich die Lithographen von dieser Agitation versprechen.
Es giebt tausende von Arbeitern in Berufen mit ungünstigeren Verhält-
nissen, aus deren Nachwuchs Lehrlingszuchtanstalten ihre unbezahlten
oder zu gering entlohnten Arbeitskräfte immer wieder rekrutieren können.
Kurz sei hier auch der Buchdruckertarif (20) in seiner Fassung vom
1. Januar 1002 erwähnt. Es ist dies der Tarif, der nicht nur die gröfste
Ausdehnung, sondern auch die weitgehendste Anerkennung gefunden hat, der
zum .Muster und zur Anregung geworden ist für tarifarische Abmachungen
in anderen Gewerben. Der Tarif ist nicht nur von grofser Bedeutung für
die ihm Unterworfenen, er ist auch durch die verschiedenen Arten der
Löhne, die u. a. durch Zuschläge zu dem tarifarischen Mindestlohn ge-
schaffen worden, von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Ein-
sicht in die Lohnbildung und in einige die Lohnhöhe bestimmende
Faktoren. Einen tieferen Einblick in das nicht einfache Wesen des
Buchdruckertarifes und in die bedeutungsvolle Thätigkcit der Schieds-
gerichte erhält man aus der kommentierten Ausgabe des Tarifes (21),
dem eine Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Tarifgemein-
schaft im deutschen Buchdruckergewerbe vorausgesandt ist. Das kleine
8 Seiten fassende Schriftchen , welches der Verband deutscher Buch-
drucker als Reglement für den Gau Bayern (22) herausgegeben hat,
ermöglicht, die Organisation innerhalb dieses Gaues kennen zu lernen,
es bietet einen kleinen Abrifs auch über die Rechte und Pflichten der
Mitglieder dem Gauvorstande gegenüber, über die Art wie die Wahl des
Gauvorstandes stattfindet, wie er die Kasse zu verwalten hat u. dgl., an-
geschlossen an dieses Reglement ist ein Regulativ über die Anstellung
von Vereinsbeamten, es geht aus derselben hervor, dafs der Anfangs-
gehalt für die verantwortlichen Beamten 2100 M. beträgt und dafs er
in langsamer Steigerung bis zu 3000 M. wachsen kann. Während der
Anfangsgehalt für die Hilfspersonen von 1560 auf 2100 M. wachsen
kann. Dieses kleine Regulativ zur Anstellung der Vereinsbeamten ist
auch ein Beitrag zur Kenntnis der Verhältnisse der in der Gewerkschafts-
bewegung thätigen Personen, über die in der Regel ganz falsche An-
sichten verbreitet sind.
In unserer ersten Uebersicht ') haben wir die Denkschrift der
Schneider und Schneiderinnen an den Bundesrat . im Interesse des
Schutzes der Heimarbeiter schon besprochen. Seitdem ist in mehr als
doppeltem Umfange diese Schrift wieder erschienen (23). Die Lage der
Arbeiter im Schneidergewerbe in Deutschland ist im Anhänge auf Grund
verschiedener statistischer Erhebungen, vor allem auf Grund einer Indi-
vidualerhebung über die Verhältnisse der Schneider und Schneiderinnen
1 Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik XVII. Bd. S. 248 ff.
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Litteratur von und über Gewerkschaften.
221
im ganzen deutschen Reiche dargestellt. Im wesentlichen handelt es
sich bei dieser Erhebung um die Verhältnisse der sog. Mafsschneider,
während die der Erhebung indolent gegenüber gestandenen Konfektions-
schneider nicht in ausreichendem Mafse in Betracht gezogen sind.
Wenn oft fälschlich angenommen wurde, dafs der Mafsschneider mit dem
Werkstattarbeiter, der Konfektionsschneider mit dem Heimarbeiter
.9
identisch ist, so lehrt gerade diese Erhebung, wie irrtümlich diese An-
schauung war, zeigt sie uns trotz aller Mängel des Erhebungsformulars, dafs
auch die Mafsschneiderei sich immer mehr zur Heimarbeit entwickelt,
ja dafs die ganze Entwicklung dahin tendiert, die Schneiderei zu einer
reinen Hausindustrie in allen Teilen dieses vielgestaltigen Gewerbes
zu machen, wenn nicht rechtzeitig durch die Gesetzgebung der not-
wendige Einhalt geschieht. Aus dieser Statistik kann man ersehen,
dafs die Lage der Heimarbeiter in jeder Hinsicht ungünstiger ist als die
des Werkstattarbeiters: Längere Arbeitszeit, ungünstige Arbeitsbedin-
gungen, niedere Löhne, selbständige Regelung von HilfsstofTen etc.,
ganz abgesehen von der Bestreitung der Kosten für Wohnung, Licht,
Heizung, Kohlen, nicht seitens des Unternehmers, sondern des Heim-
arbeiters. Die Erhebung enthält die einzelnen Resultate nach Pro-
vinzen und innerhalb der Provinzen und Länder nach Orten geschieden.
Hierauf folgt eine Reihe von Zusammenstellungen über den Arbeitsplatz,
die Arbeitszeit, die Sonntagsarbeit, die Wochen-, die Stundenlöhne, die
W'ochenausgaben für die Nähutensilien , für Kohlen , Licht etc. Den
Schlufs bildet eine Darstellung der Stücklöhne in fast allen grofsen und
gröfsten Orten im Deutschen Reiche für eine ganze Reihe von Kleidungs-
stücken, die vielfache Vergleiche ermöglichen zwischen den Stücklöhnen
in grofsen und kleinen Städten, und in verschiedenen Teilen des Reiches.
Ist auch selbstverständlich ein Vergleich dieser Art nicht absolut exakt,
weil die Qualität wie die Art der Verarbeitung der Stoffe, die Bestim-
mung der Kleidungsstücke für verschiedene Gesellschaftsschichten statis-
tisch schwer oder überhaupt nicht erfafsbare Erscheinungen zeitigt, so
gilt dieser Einwand für eine wichtige Gruppe der Schneiderei, für die
Uniformschneider nicht. Die Uniformen sind ganz genau in Bezug auf
Stoff, Schnitt und Art der Verarbeitung vorgeschrieben, es ist notwendig,
dafs in Elbing die Militäruniformen genau ebenso zugeschnitten werden
und verarbeitet werden , wie in Konstanz , in Mainz ebenso wie in
Wilhelmshafen. Trotzdem zeigt sich ein ganz erheblicher Unterschied
in den Löhnen, die für die Herstellung der gleichen Uniformstücke ge-
zahlt werden. Diese Thatsache allein, die durch das genannte Schrift-
chen belegt wird, ist von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit für die
Lohnbildung im Deutschen Reiche; geht doch hieraus hervor, dafs nicht
das Produkt und die Art der Herstellung mafsgebend ist für die Löhne,
sondern andere Umstände, zu denen in erster Linie die Stärke der ge-
werkschaftlichen Organisation, die Lebenshaltung und die Uebersetzung
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222
Litteratur.
des Berufes in den betreffenden Orten gehört. Da Rezensent und Be-
arbeiter des Materials die gleiche Person ist, mufs eine kritische Würdigung
der Arbeit unterlassen werden.
Die sozialpolitischen Anschauungen des Jenenser Professor Abbe
haben die wissenschaftliche und die politische Presse schon öfters be-
schäftigt. Ein Beitrag zu diesen Erörterungen ist auch die unter 24
angekündigte Schrift, schon um deswillen, da sie die ganz exceptionelle
Stellung des Leiters der Zeifs’schen optisch-mechanischen Werkstätten
unter den übrigen Unternehmern des gleichen Berufszweiges darlegt.
Vom Standpunkte des Sozialpolitikers ist die Arbeit aufserordentlich
wichtig, weil sie die Vorteile einer Verkürzung der Arbeitszeit für die
Unternehmungen als Folge der Intensifikation der Arbeit zahlenmäfsig
nachweist. Was Marx im 1. Bande des Kapitals, in dem Kapitel
»Senior’s letzte Stunde«, was Schüler für die Textilindustrie der Schweiz,
Rae für die chemischen u. a. Industrien Englands festgestellt haben,
findet sich in dem genannten Schriftchen trefflich und unwiderleglich
belegt für eine Industrie, in der es auf die genaueste, präziseste Arbeit
ankommt, für die Feinmechanik und speziell für ein Institut, dessen
Weltruf von keinen Konkurrenten erreicht wird. Auch für die Gewerk-
schaftsbewegung im Speziellen ist das Schriftchen bedeutungsvoll.
Die Verhältnisse der Heizer und Maschinisten sind ganz eigenartige
selbst in denjenigen Betrieben, die durch kurze Arbeitszeit sich aus-
zeichnen, in denen die Arbeiter grofse Erfolge erreicht haben, ist die
Arbeitszeit dieser Berufsgruppen meist eine aufserordentlich ausgedehnte,
was nicht nur im Interesse der Arbeiter, die sehr schwere Arbeit zu ver-
richten haben, die in grofser Hitze, in engen Räumen mit beschränkten, oft
ganz wegfallenden Pausen arbeiten müssen, sehr zu bedauern ist, die auch
unzweifelhafte Gefahren für die gesamten Betriebe und für die Sicher-
heit der Arbeiter im Gefolge haben, ist doch die Verantwortlichkeit der
Maschinisten in industriellen Betrieben von aufserordentlich grofser Be-
deutung für den ganzen Gang des Betriebes. Die Thätigkeit der Heizer
und Maschinisten hat in den meisten Betrieben mit motorischer Kraft
die Voraussetzung, dafs ihre Thätigkeit früher zu beginnen hat als die
aller anderen Arbeiter und dafs sie ihre Arbeitszeit in die Feierabends-
zeit der anderen Arbeiter ausdehnen müssen. Die Maschinen müssen
vollständig im Gange sein, bevor der Betrieb beginnt, sie müssen aus-
kühlen, sie müssen gereinigt werden, wenn der Betrieb beendet ist.
Hieraus ergiebt sich eine längere Arbeitszeit, eine Verkürzung der Pausen,
eine ungünstige Lage dieser modernen Hilfsgruppe von Arbeitern iin
Grofsbetriebe. Die Frage, ob man einen Befähigungs-Nachweis für Heizer
und Maschinisten an stehenden Dampfmaschinen einführen soll, ist häufig
diskutiert worden , während ihre sozialen Verhältnisse in Deutschland
nicht die nötige Beachtung gefunden haben, obgleich dieser Beruf es
verdienen würde, dafs spezielle Untersuchungen über diese Zustände
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Litteratur von und über Gewerkschaften.
223
veranstaltet werden. Der Verband deutscher Maschinisten und Heizer
hat im Jahre 1900 eine Erhebung vorgenommen, welche er nach 2
Richtungen hin verarbeitet (25) hat, erstens indem er die speziellen
Verhältnisse einzelner Orte besonders darstellt, wobei sich aufserordent-
lich ungünstige Zustände ergaben, so Arbeitszeiten von 95 Stunden in
der Woche, aufserordentliche ungünstige hygienische Verhältnisse, Ueber-
lastung mit Nebenarbeiten aller Art, Löhne von 16, 17 Pf. pro Stunde
etc. etc. Neben einer textlichen Darstellung findet sich eine tabellarische
Zusammenfassung über die Löhne, die Ueberstunden und zwar über die
Zahl derselben, über die Entlohnung u. dgl. (höchster, niedrigster, Durch-
schnittslohn für normale Arbeitszeit und für Ueberstunden), ferner über
die Kündigungsfristen, die aufserordentlich verschieden sind, giebt es
doch Kündigungsfristen von einem . Tag bis zu 3 Monaten. Eine
besondere schwierige Lage haben diejenigen Heizer und Maschinisten,
die in kontinuierlichen Betrieben tliätig sind, wo der Wechsel zwischen
Tag- und Nachtschicht, selbst zu 24stündiger Arbeit an den Ma-
schinen, in engen Räumen bei höchst verantwortlicher Thätigkeit ge-
führt hat. Die Forderung der Arbeiter, dafs der Achtstundentag cin-
geftihrt wird, ist kaum für einen Beruf dringlicher und notwendiger,
als gerade für den Heizer und Maschinisten , weil die einzige Art,
Ucberanstrengung zu vermeiden, den Schichtwechsel ohne übergrofse
Anstrengung der Arbeiter durchzuführen, nur bei der Achtstunden-Schicht
durchführbar ist. Die besprochene Statistik enthält Feststellungen über
die Arbeitslosigkeit im Berufe der Heizer und Maschinisten, sie erscheint
als wichtig zur Beurteilung der Verhältnisse in diesem Berufe. Es sei
nebenbei erwähnt, dafs gleichzeitig mit dem Erscheinen dieser Statistik
der Jahresbericht der Fabrikinspektion der freien Stadt Bremen für das
Jahr 1901 gleichfalls eine bedeutungsvolle Erhebung der Lage der
Heizer und Maschinisten enthält.
Schulz, M. v., Vorsitzender des Gewerbegerichts Berlin. Das Ce-
Werbegerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung
vom 29. September 1901. Berlin, Verlag von O. Häring
XIII und 297 Seiten.
Das Buch ist Teil II einer Sammlung: die Gesetze des Deutschen
Reichs in kurz gefafsten Kommentaren, die, wie auf dem Umschlag an-
gekündigt wird, „den Bedürfnissen der Praxis dienen“ will; „die Kom-
mentare sollen dem Praktiker die Möglichkeit gewähren , sich ohne
Zeitverlust über das geltende Recht, die Ansicht der Wissenschaft und
den Standpunkt der Rechtsprechung leicht und sicher zu unterrichten.“
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224
Litlrratur.
Sozialpolitische Erörterungen, wie sie den Gegenstand speziell dieser
Zeitschrift bilden, werden vom Verfasser also fast gänzlich beiseite ge-
lassen; ebenso auch Erörterungen de lege ferenda, selbst da, wo man
sie mit Sicherheit erwarten sollte (z. B. bei § 31 Ausschlufs der An-
wälte ; § 1 s Verhältniswahl u. s. w.) Auch über die bei Entwurf des
Ortsstatuts für ein Gewerbegericht auftretenden Zweifelfragen (Wahllisten
oder nicht? Einrichtung von Kammern für bestimmte Berufe? Zahl der
Beisitzer? Länge der Wahlperioden? u. s. w.) äufsert sich der Verfasser
nicht.
Dagegen findet der Gesetzestext überall eine sorgfältige, genaue Erläute-
rung, die alles enthält, was die Entstehungsgeschichte, die Rechtsprechung
und eine reiche Erfahrung zum Verständnis des Inhalts irgend beitragen
können. Und da es bekannt ist, ,dafs es wenig Männer giebt, die sich
an Erfahrung im Gebiet der gewerbegerichtlichen Rechtsprechung mit
dem Verfasser messen können, und sicher keinen, der an der Belebung
und praktischen Durchführung der Bestimmungen insbesondere über die
Thätigkeit des Gewerbegerichts als Einigungsamt auch nur annähernd
so viel mitgearbeitet hat, wie der Verfasser, so erlangt der Kommentar,
trotz der Beschränkungen, die er sich auferlegt, doch einen selbständigen,
wissenschaftlichen Wert; er ist ein Archiv, in dem alles niedergelegt,
und leicht auffindbar gemacht ist, was bis jetzt der Kampf zwischen
Arbeitgebern und Arbeitern, insoweit er sich vor dem Gewerbegerichte
abspielt, an juristischen Zweifelsfragen und an praktischen Ergebnissen
gezeitigt hat.
Von diesem Standpunkt betrachtet, hebt er sich weit heraus aus
der Masse der Gesetzausgaben mit Anmerkungen, die nichts weiter
wollen und vermögen, als dafs sie dem Benutzer die Arbeit des Auf-
suchens des juristischen Rohmaterials und der Präjudicien erleichtern.
Letzteren freilich auch nicht zu gering zu veranschlagenden Dienst
könnte das Buch allerdings noch in etwas bequemerer Weise leisten,
wenn bei der zweiten Auflage, die nicht ausbleiben wird, oben an den
Seiten der kommentierte Paragraph angegeben, und wenn wenigstens
den ausführlicher erörterten Paragraphen kurze Inhaltsübersichten — am
besten wohl mit alphabetischem Verzeichnisse der erörterten Begriffe —
wie im Haasschen Kommentar — vorangestellt würden. Im Anhang
sind aufser einigen ministeriellen Erlassen auch die einschlägigen Be-
stimmungen der Gewerbeordnung abgedruckt. Den Koalitionsparagraphen
(§ 152 u. 153) ist hierbei ein besonderer, ausführlicher Kommentar bei-
gegeben, auf den noch ganz besonders aufmerksam gemacht wird.
Frankfurt a. M.
KARL FLESCH.
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Agrarschutz und Sozialreform.
Von
Dr. I.EO VERKAUF,
in Wien.
I.
Die Diskussion über die deutsche Handelspolitik wird seit
Jahren von der Frage des Agrarschutzes beherrscht. Vom auto-
nomen Zolltarif und den Handelsverträgen ausgehend hat die Er-
örterung immer neue Probleme in ihren Kreis gezogen und ist
naturgemäfs auch dazu gelangt, die Frage der Sozialreform unter
dem Gesichtswinkel höherer Agrarzölle zu betrachten. So zahlreich
sind die volkswirtschaftlichen Fragen, die von der agrarischen
Kritik ergriffen worden sind, dafs man schier von einem wohl
nicht im Detail ausgebauten, aber in den Grundzügen fertigen
agrarischen System der Volkswirtschaftspolitik sprechen darf, das
mit der Prätension auftritt, was das Industriesystem verdorben hat.
durch „Rückkehr zu den alten , durch Jahrhunderte bewährten
Grundsätzen" neu aufzubauen. Eis rechtfertigt sich von selbst, wenn
aus dem grofsen Komplex handeis- und agrarpolitischer Probleme
eines der aktuellsten, der Zusammenhang zwischen Agrarschutz
und Sozialreform herausgegriffen und einer kritischen Besprechung
unterzogen wird.
Die Signatur der praktischen Wirtschaftskämpfe in Deutsch-
land bildet die Vereinigung industrieller und agrarischer Inter-
essenten, wie sie in den Kompromissen im Wirtschaftsausschüsse
und im Reichstag prägnanten Ausdruck gefunden hat. Im vollsten
Gegensatz dazu herrscht in der deutschen nationalökonomischen
Litteratur heftige Fehde zwischen den Anhängern des Industrie-
und des Agrarstaates. Vor kurzem noch konnten nur böswillige
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XY1II. 15
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226
Leo Verkauf,
Nörgler grundsätzliche Kritik an der herrschenden Wirtschafts-
ordnung üben, nur thörichte Utopisten einen Kladderadatsch der
bürgerlichen Gesellschaft prophezeien. Welchen Wandel der Dinge
müssen wir nun erleben ! Von konservativen , staatscrhaltenden
Männern hören wir, dafs die Entwicklung Deutschlands zuin In-
dustriestaate Volk und Land, Unternehmer und Arbeiter, Landwirt-
schaft und Gewerbe mit den schwersten Gefahren bedrohe. Wir
erfahren, dafs ohne Eindämmung der industriestaatlichen Entwick-
lung die deutsche Landwirtschaft verschwinden müsse. Die Nation
sei rettungslos den „Nahrungsstaaten“ — Rufsland, Argentinien,
Nordamerika — auf Gnade und Ungnade preisgegeben. Der Export
werde unvermeidlich zusammenbrechen, die Massen vor die Wahl
zwischen Verhungern und Auswandern stellend.
Was ist nun geschehen, um volkswirtschaftliche Optimisten
und unbedingte Anhänger der heutigen Wirtschaftsordnung zu so
düsteren Kassandrarufen zu veranlassen ? Die Thatsachen, an die
der agrarische Pessimismus anknüpft, sind zur Genüge bekannt.
Die Berufszählung des Jahres 1895 hat ergeben, dafs die Bevölkerung
des flachen Landes seit dem Jahre 18S2 um 345 OOO abgenommen
hat, während die städtische Bevölkerung um 6893000 Personen
gewachsen ist; dafs überdies die Zahl der Erwerbsthätigen in der
Landwirtschaft um 5G000 oder 0,7 Proz. , in der Industrie um
1884000 oder 29,5 Proz. gestiegen ist. Die Handelsstatistik zeigt
wieder, dafs der Wert der Ein- und Ausfuhr von 5 1 Milliarden
Mark im Jahre 1880 auf weit über 10 Milliarden Mark im Jahre
1900 emporgeschnellt ist, wobei an Nahrungsmitteln und Vieh der
Wert des Imports von 770 auf 1800 Millionen Mark, an Fabrikaten
der Wert des Exports von 2 auf 3 Milliarden Mark zugenommen hat.
Die abnehmende Agrarquote soll nun — darin scheinen Opti-
misten und Pessimisten übereinzustimmen — einen Rückgang des
landwirtschaftlichen Gewerbes anzeigen. Die wachsende Nahrungs-
zufuhr soll die steigende Abhängigkeit Deutschlands vom Auslande
beweisen. Da die Volkszahl auch in den Nahrungsstaaten stetig
wachse, rücke unausweichlich die Stunde heran, in der die aus-
ländische Brotzufuhr versiegen müsse. Es werde ein Getreide-
exportland nach dem anderen aus der Reihe der Ausfuhrstaaten
ausscheiden — Oesterreich-Ungarn sei ein typisches Beispiel —
und immer schwerer werde es sein, im internationalen Handels-
verkehre Nahrungsmittel für Industrieerzeugnisse einzutauschen.
Unterdessen verkümmere, ungenügend geschützt, die deutsche
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Agrarschutz und Sozialreform. 227
Landwirtschaft unter der ausländischen Konkurrenz, die mit Raub-
bau billig produziere. Die sinkende Rentabilität des Getreidebaues
vermindere die Zahl der Landarbeiter, bewirke das Zurückweichen
der Agrar- vor der Industriequote, eine Verschiebung zwischen
Stadt und I,and, die Bildung immer zahlreicherer Grofsstädte. Ver-
siege endlich die Zufuhr aus den Nahrungsstaaten, dann könne die
verkümmerte Landwirtschaft nicht so rasch, wenn überhaupt, wieder
zum Leben erweckt werden.
Die abnehmende Agrarquote schaffe und steigere die Not-
wendigkeit neuer Beschäftigung, also den Fabrikatenexport und
damit die zweite Form der zunehmenden Abhängigkeit vom Aus-
lande. Die Herrlichkeit des vielgepriesenen Exportindustrialismus
könne aber nicht von langer Dauer sein. In europäischen, wie in
aufsereuropäischen Agrarstaaten entwickle sich eine Industrie, für
welche die Vorbedingungen, wo sie nicht gegeben sind, künstlich
geschaffen werden. Immer zahlreichere Konkurrenten erscheinen
auf dem Weltmärkte, immer kleiner werde das Absatzgebiet, der
Zusammenbruch könne für den Export nicht ausbleiben.
Dabei weise ein grofser Teil der deutschen Exportindustrie
parasitären Charakter auf. Sie nötige die deutschen Arbeiter, mit
ausländischen Proletariern von inferiorer Lebenshaltung zu kon-
kurrieren und sich niedrigen Lohn und lange Arbeitszeit neben
unregelmälsiger Beschäftigung gefallen zu lassen. Mit der raschen
industriellen Entwicklung sei eine enorme Steigerung der städtischen
Bevölkerung auf Kosten der Landwirtschaft eingetreten , der die
nötigen Arbeitskräfte entzogen werden. Auch die Volkszahl sei zu
stark gewachsen, ein langsameres Tempo der Vermehrung biete
erhebliche Vorteile und sei durch Verlangsamung der industriellen
Entwicklung zu erzielen.
Es handle sich also um den Ersatz der Produktion für das
Ausland durch eine solche für den inländischen Markt und die
Parole müsse deshalb lauten: Gröfserc Unabhängigkeit der heimischen
Volkswirtschaft in Industrie und Landwirtschaft vom Auslände.
Vor allem habe die Unrentabilität des Getreidebaues die ge-
schilderten Gefahren für Gegenwart und Zukunft hervorgerufen.
Aus diesem Punkte seien auch alle Uebel zu kurieren — durch
entsprechende Brotzölle. Mit steigenden Getreidepreisen werde die
Nachfrage nach Landarbeitern wachsen, wie sie mit den abnehmen-
den Preisen gesunken sei. Die Landflucht werde aufhören und die
inländische Landwirtschaft bald den heimischen Nahrungsbedarf
•5*
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228
Leo Verkauf,
decken. Der Fabrikatencxport komme dann in die Lage, langsam
zu liquidieren und damit plötzlichen Erschütterungen zu entgehen.
Die gesteigerte Kaufkraft der Landwirtschaft werde auch der In-
dustrie einen besseren Markt bieten als das Ausland.
Wohl werde eine zeitweilige Hcrabdrückung der Lebenshaltung
der Massen die Folge des Agrarschutzes sein. Man müsse sie aber
im eigensten Interesse der Arbeiterschaft mit in den Kauf nehmen.
In Wirklichkeit widerstreite der Fortschritt zum Industriestaat der
wirtschaftlichen Hebung der Arbeiterklasse. Niedrige Getreidepreise
müssen den Arbeitsmarkt in Stadt und Land ungünstig beeinflussen,
weshalb Getreidezölle und Sozialreform sich gegenseitig bedingen.
Der Agrarschutz werde eben den Andrang der Landbevölkerung in
die Städte vermindern und an Stelle unregelmäfsiger, vom Auslande
abhängiger, stete Beschäftigung setzen. Auch der Zuflufs von Kapital
in die I .and Wirtschaft werde zu steigender Maschinenbenützung und
dadurch zu vermehrter Beschäftigung in Bergwerken, Hütten und
Fabriken fuhren. Mit der Abhängigkeit vom Auslandsmarkt würden
auch die scheufslichen Arbeitsverhältnisse in den Exportindustrien
verschwanden. ')
Der Einflufs dieser theoretischen Darlegungen darf keineswegs
unterschätzt werden. Die alten Ladenhüter der Agrarier, wonach
bald die Agrarzölle überhaupt nicht preissteigernd wirken, vielmehr
vom Auslände getragen werden, bald die Notwendigkeit auswärtiger
Brotzufuhr die gröfsten Gefahren bei kriegerischen Verwicklungen
bergen soll, treten jetzt bei der Diskussion in den Hintergrund. An
die Stelle der oberflächlichen agitatorischen, tritt die schwere wissen-
schaftliche Rüstung. Die düsteren Prophezeihungen über den drohen-
den Verfall von Landwirtschaft und Industrie, über die bevorstehende
Aushungerung und Entvölkerung des Deutschen Reiches, wenn den
agrarischen Forderungen nicht rasch und ausgiebig Rechnung ge-
tragen würde, wirken ganz anders auf die Phantasie und den In-
tellekt der herrschenden Kreise. Eine eingehendere Prüfung der
agrarischen Kritik unserer Handelspolitik, wie der positiven agra-
') Din Kampf gegen die industriestaatliche Entwicklung bestreiten Olden-
berg in seinem Referate auf dem VIII. evangelisch-sozialen Kongrcfs in Leipzig*:
Die Verhandlungen des VIII. evangelisch-sozialen Kongresses, Vandenhock & Rupprecht,
Güttingen 1897, S. 64 fr.; mit vielfachen Einschränkungen und Abschwächungen
Adolf Wagner in „Agrar- und Industriestaat“ II. Auf!., Gustav Fischer, Jena 1902;
Fohle in „Deutschland am Scheidewege“, Leipzig, B. G. Teubner 1902; ihnen
schlicfsen sich an Moritz Naumann, Diehl.
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Agrarschutz und Sozialreform.
229
rischen Wirtschaftspolitik erscheint demnach, soweit als sie im Rahmen
einer Abhandlung möglich ist, wünschenswert.
n.
Die Grundmelodie aller agrarischen Klagen bildet die Behaup-
tung von dem Rückgang der deutschen Landwirtschaft, die vor
allem aus der verminderten Quote der Agrarbevölkerung deduziert
wird. Wagt doch Oldenberg die Prophezeihung, dal's bei fort-
dauerndem Bevölkerungsrückgang auf dem Lande in sieben bis acht
Dezennien die deutsche I .and Wirtschaft verschwunden sein wird.
Andere erblicken zum mindesten in der geänderten Verteilung der
Bevölkerung zwischen Stadt und [.and eine Schwächung des agra-
rischen Unterbaues im Deutschen Reiche.
Kommt nun in der That der gröfseren oder geringeren Agrar-
quote für die Landwirtschaft jene entscheidende Bedeutung zu, die
ihr, wie es scheint, von Freund und Feind vindiziert wird ? Und ist
es wahr, dafs die relative Abnahme der landwirtschaftlichen Be-
völkerung einen Rückgang oder gar eine Gefährdung des deutschen
landwirtschaftlichen Gewerbes herbeigeführt hat?
In Oesterreich umfafste die agrarische Bevölkerung im Jahre
1890 noch 55,9 Proz. der gesamten Volkszahl, sie dürfte heute
schwerlich unter 50 Proz. derselben gesunken sein. Man mülste
demnach Oesterreich als Agrarstaat, als ein Land mit der „richtigen
Mischung“ betrachten und seine Unabhängigkeit von den Nahrungs-
ländern als selbstverständlich annehmen. In Wirklichkeit ist aber
das agrarische Oesterreich dauernd aufser stände, seinen Brotbedarf
durch die einheimische Produktion auch nur in dem Mal'se zu decken,
wie das industrielle Deutschland mit seiner soviel geringeren Agrar-
quote. So mufste Oesterreich im Jahre 1900 bei einer ungünstigen
Ernte 39 Proz., im Jahre 190t bei einer günstigeren immer noch
33 Proz. seines Brotbedarfes durch Import aus Ungarn decken,
während die deutsche Einfuhr im Jahre 1900 nur 11,7 Proz., im
Jahre 1901 19,9 Proz. des Bedarfes umfafste. Auf den Kopf der
Bevölkerung betrug die österreichische Einfuhr 63 und 61 kg, die
deutsche 29 und 49 kg Brotgetreide. Deutschland produzierte im
Durchschnitte der Jahre 1880 — 1898 an 205 kg Brotgetreide, nach
Dade 1894 — 1898 gar 230 kg, Oesterreich in den Jahren 1889 bis
1899 durchschnittlich 125 kg per Kopf der Bevölkerung. Auch
bezüglich des Viehstandes bleibt Oesterreich vielfach hinter Deutsch-
land zurück. Es kamen auf 100 der Bevölkerung in
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230
Leo Verkauf,
Kinder Schweine Schafe Pferde
Deutschland (1S92) 35,5 24,6 27,5 7,8
Oesterreich (1890) 36,2 14,9 13,3 6,5 ')
Der Verfall der deutschen Landwirtschaft mit abnehmender
agrarischer Bevölkerungsquote kann sich also immerhin noch neben
der Blüte der österreichischen Landwirtschaft bei überwiegender
landwirtschaftlicher Bevölkerung sehen lassen. Wir werden noch
später sehen, dafs für Rufsland, und wie wir zeigen- könnten, auch
für Rumänien, Ungarn etc. ähnliches gilt. Das beweist wenigstens
soviel, dafs es irreführend ist, aus der Gröfse der Agrarquote allein
auf die Lage des landwirtschaftlichen Gewerbes zu schlielsen. Es
läfst sich aber auch der direkte Beweis erbringen, dafs die Land-
flucht und der steigende Arbeitermangel auf dem Lande keineswegs
eine Verminderung der Agrarproduktion im Gefolge hatte. Statt
aller Zahlen lasse ich hier die Urteile kompetender, sicher nicht
agrarfeindlicher Zeugen folgen.
Das kaiserliche statistische Amt zieht aus der Statistik der Anbau-
fläche und der Ernteergebnisse den Schlufs, dafs der Getreide- und
Hackfruchtbau auf Kosten der Brache und Ackerweide an Fläche
zunehme und die Landwirtschaft dadurch, sowie infolge der ratio-
nelleren Bewirtschaftung imstande sei, ein gröfseres Quantum Nah-
rungsmittel zu beschaffen. Dem Boden werde allmählich immer
mehr Ertrag abgerungen, indem die Erntemenge auf der gleichen
Fläche sich steigere, die Versorgung der Bevölkerung mit inländischem
Schlachtvieh sei jetzt keineswegs ungünstiger, ja eher reichlicher
als vor 10 oder 20 Jahren.2)
Pohle mufs im Widerspruch mit seiner pessimistischen Auf-
fassung und vor allem im Gegensatz zu Olden berg die enorme
Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität anerkennen, aus
welcher er dann freilich die merkwürdigsten Schlüsse zieht. Be-
achteoswert scheint mir die Behauptung Ballod's, dafs die deutsche
Landwirtschaft auch heute noch in der Lage sei, die rapid gewachsene
*) Bericht der k. k. Permanenzkommission für die Handelswerte der Zwischen-
verkehrsstatistik im k. k. Handelsministerium über die Bewertung und Bewegung des
Zwischenverkehrs zwischen den im Reichsrate vertretenen Königreicher und Ländern
und den Ländern der ungarischen Krone im Jahre 1900 u. 1901, Wien 1901 u. 1902.
— „Die deutsche Volkswirtschaft am Schlüsse des XIX- Jahrhunderts“, Berlin 1900. —
Dade in den „Schriften des Vereines für Sozialj^olilik“, Bd. 91, S. 60.
2) Die deutsche Volkswirtschaft am Schlüsse des XIX. Jahrhunderts, S. 40.41,45.
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Agrarschutz und Sozialreform.
231
Bevölkerung so zu ernähren, wie vor 40 oder 50 Jahren. Nur die
erhebliche Steigerung der Lebenshaltung der Massen sei die Ursache
des wachsenden Imports von Nahrungsstoffen: Nicht ein Rückschritt
der Landwirtschaft, sondern ein Fortschritt der gesamten Volks-
wirtschaft liege vor. ' )
Trotz der relativen Abnahme der Zahl der Erwerbstätigen
hat die Intensifikation des Betriebes und der Ersatz der Hand- durch
Maschinenarbeit im landwirtschaftlichen Gewerbe ermöglicht, mit
einer gleichen, qualitativ wohl eher verschlechterten Arbeitermasse eine
stark gestiegene Produktionsmenge zu erzielen. Man überschätzt
also, wie sich zeigt, von agrarischer und nichtagrarischer Seite die
Bedeutung der der I^ndwirtschaft verfügbaren Bevölkerungsquote
für die Produktion und die Rückwirkung auf den landwirtschaft-
lichen Betrieb ganz erheblich. Die Verteilung der Bevölkerung hängt
nicht blols von den Grundbesitzverhältnissen und der industriellen
Entwicklung, sondern ebenso von dem Stande der Agrartechnik ab.
Die volkswirtschaftliche Bedeutung der deutschen Landwirtschaft
ist heute gröfser als der Agrarquote entsprechen würde. Diese Be-
deutung ist in den letzten Dezennien gewachsen und nicht zurück-
gegangen. Das wissen die agrarischen Theoretiker dann ganz wohl,
wenn sie statt der Klagelieder Hymnen auf die Bedeutung der Land-
wirtschaft anstimmen. Dann hören wir von ihnen, dafs die Exi-
stenz der deutschen Nation in erster Linie auf der heimischen Land-
wirtschaft ruhe, die noch immer der führende Wirtschaftszweig sei.
Dann wird uns gesagt, dafs neben dem grofsen Bauwerk der Land-
wirtschaft das Häuschen, in dem der exportindustrielle und export-
kapitalistische Teil der Nation hause, noch recht bescheiden aussehc.
Es hält schwer zu begreifen, wie der abnehmenden Agrarquote so
überragend nachteilige Bedeutung zugebilligt werden konnte, als dies
in der Regel bisher geschehen ist.
III.
Als die schwerste Gefahr für Deutschlands Zukunft wird die
gesteigerte Nahrungseinfuhr und im Zusammenhang damit die wach-
sende Bevölkerung der Brotländer geschildert. Jede Mifsernte in den
Ausfuhrstaaten müsse in den Importländern Hunger erzeugen. Auch
in normalen Zeiten werde die Zufuhr allmählich knapper werden,
*) „Die Bedeutung der Landwirtschaft und Industrie in Deutschland“, Schmollers
Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 1S98, S. 898.
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232
Leo Verkauf,
schliefslich vielleicht ganz ausbleiben. Für die Dauer sei cs des-
halb unhaltbar, dafs ein erheblicher Bruchteil der deutschen Be-
völkerung von fremdem Grund und Boden lebe. Das müsse auf
der einen Seite zur ökonomischen Weltherrschaft der Nahrungs-
staaten, auf der andern Seite zur Auswanderung oder zum
Verhungern der exportindustriellen Bevölkerung Deutschlands
führen. ')
Nimmt die ökonomische Entwicklung den ihr vom agrarischen
Pessimismus gewiesenen Weg, dann würden die Folgen viel weit-
reichendere sein. Vor allem wäre nicht blofs Deutschland, sondern
ein grofser Teil der europäischen Kulturwclt in seinem Nahrungs-
bedarfe — und nicht blofs in diesem — von den schwersten Ge-
fahren bedroht. Die Kosakengefahr würde eine ganz andere Gestalt
annehmen. Deutschland erzeugt immerhin noch über 200 kg Brot-
getreide auf den Kopf der Bevölkerung, womit es im Notfälle bei
einiger Beschränkung des Konsums sein Auslangen finden kann.
Ganz anders beispielsweise Oesterreich mit 125 kg Brotgetreide
per Kopf, Italien mit nicht viel über 100 kg, wozu der Maisver-
brauch tritt, die Schweiz mit nicht ganz 50 kg, Grolsbritannien
und Irland mit 40 kg, Norwegen mit gar nur 14 kg. Soll also für
Deutschland eine Gefahr bestehen, so ist sie für einen erheblichen
Teil des übrigen Europa weit gröfser. wobei die Ursache nicht
immer in der Entwicklung zum Exportindustrialismus gesucht werden
kann. Es handelt sich dann in Wirklichkeit nicht um ein deutsches,
sondern um ein europäisches Problem, um Gefahren für 1 50 bis
200 Millionen Menschen. Bestenfalls wären nur Frankreich, Ungarn
und Rumänien für absehbare Zeit vor solchen Gefahren geschützt.
Dabei stehen in einzelnen der bedrohten Gebiete Klima und Boden -
beschafienheit einer ausreichenden Steigerung der agrarischen Pro-
duktion hindernd im Wege.
Beschränken sich denn aber die Bedürfnisse der Kulturmensch-
heit blofs auf die Erzeugnisse des Ackerbaues und ist nicht auch
die Industrie in Europa vielfach von der Zufuhr aufsereuropäischer
’) So Oldenbcrg a. a. O. — Nach dessen Auffassung ist es der Waren-
Austausch nach der Formel: Bodenprodukte gegen Industrieerzeugnisse, was das ex-
portindustrielle Land in steigendem Mafse schädige. Im Gegensatz dazu sicht
Pohle a. a. O. S. 138 ff. in der Nahrungsausfuhr einen Machtzuwachs für den Im-
portstaat, einen Machtverlust für das Exportland. Er begründet seine Ansicht damit,
dafs die Bevölkerungszunahme, die im Nahrungsstaate sonst stattgefunden hätte, im
Industrielandc erfolge.
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Agrarschutz und Soziaircform.
233
Rohprodukte abhängig? Italien hat weder Kohle noch Eisen, in
Frankreich und Belgien befürchtet man in absehbarer Zeit die Er-
schöpfung der Kohlenlager. Ist einmal England aul'ser stände diesem
Mangel abzuhelfen und werden, gemäGs der agrarischen Annahme,
Nordamerika und Asien sich hüten, ihren Ueberflufs mit den ge-
nannten Ländern zu teilen, dann ist das Schicksal der ältesten Kultur-
völker auf europäischem Boden besiegelt
Textilindustrie und Bekleidungsgewerbe in Europa sind vor
allem von Gefahren bedroht. Neben der Gefahr der Abhängigkeit
von den Brotländern, steigt eine solche der Abhängigkeit von den
Bekleidungsstaaten auf. Nach Juraschek betrug der europäische
Jahresverbrauch an Wolle 757 Millionen kg, wovon 437 Millionen kg
aus Australien und Amerika importiert wurden. Der Bedarf Europas
an Baumwolle bezifferte sich mit 1 835 Millionen kg, etwa die Hälfte
der Welternte, die zur Gänze aus aufsereuropäischen Ländern stammen.
Hier giebt es keine Hilfe durch Schutzzölle! In Grofsbritannien,
Deutschland, Frankreich, Oesterreich und der Schweiz waren in der
Textilindustrie über 3 Millionen Menschen thätig, mit ihren An-
gehörigen eine Bevölkerung von 6 Millionen Personen, wovon zum
mindesten zwei Drittel auf die Woll- und Baumwollindustrie ent-
fallen. Kein europäisches I .and ist in der Lage den Spinnstoff auch
nur für den eigenen Bedarf im Inlandc zu produzieren. Besitzen
die Nahrungsländer die Macht die Brotausfuhr einzuschränken oder
nur unter drückenden Bedingungen zuzulassen, was kann die Be-
kleidungsstaaten an der Einschränkung oder Untersagung des Woll-
und Baumwollexportes hindern? Die Macht, die ihnen bei Brot
und Fleisch zur Verfügung steht, kann ihnen bei den Spinnstoffen
auch nicht fehlen. Es kann ja wirtschaftlich vorteilhafter erscheinen,
die Rohstoffe am Erzeugungsorte oder in dessen Nähe in Fertig-
produkte zu verwandeln und dann erst zur Versendung zu bringen.
Steigt die Bevölkerung der [.ander, die Wolle und Baumwolle ex-
portieren, in stärkerer Progression, dann mufs sich nach agrarischer
Auffassung der verfügbare Ueberschufs verringern, es droht den
europäischen Ländern Kleidermangel, vor allem Arbeitslosigkeit für
Millionen, die heute für den heimischen sowie für fremden Bedarf
produzieren.
Was von den Spinnstoffen, gilt auch vom Petroleum, dem Be-
leuchtungsmittel der Massen. Hier ist Europa von Rufsland und
Amerika abhängig.
Schon für die nächste Zukunft droht der deutschen Landwirt-
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Leo Verkauf,
schaft eine schwere Schädigung, die durch Uebertreibungcn des
Prohibitivsystems nicht hintangehalten, sondern beschleunigt werden
kann. Die landwirtschaftliche Produktion ist heute ohne Kunst-
dünger undenkbar. Trotz der enormen Kalilager beträgt die deutsche
Mehreinfuhr über ioo Millionen Mark, wovon ein entscheidender,
weil unentbehrlicher Teil aus der Union kommt. Sind die Ver-
einigten Staaten durch rasche Bevölkerungszunahme zu intensiver
Bodenbewirtschaftung genötigt, dann ist ein Ausfuhrverbot für
Dungstoffe wahrscheinlich. Das kann einen Teil des deutschen
Getreidebaues stillsetzen. Der Uebergang vom extensiven zum in-
tensiven Anbau in Amerika würde also in Deutschland eine Rück-
bildung zu extensiver Bodenbewirtschaftung erzwingen.
Bei konsequentem Verfolgen der agrarischen Voraussagen zeigt
sich uns ein düsteres Bild, das sich aus einer Kette von wirtschaft-
lichen und sozialen Katastrophen zusammensetzt, denen die Existenz
von Millionen Menschen, ja der Bestand der europäischen Kultur
rettungslos preisgegeben zu sein scheint. Man kann diesem öko-
nomischen Pessimismus entgegenhalten, dafs die neuere Geschichte
uns wohl ein stetes Werden und Vergehen von Produktionszweigen,
ein Auftauchen neuerer Produktionsgebiete, einen fortwährenden
Rollenwechsel der Völker in der Weltwirtschaft , aber auch un-
unterbrochen steigenden Reichtum, erhöhte Abhängigkeit der in
die Weltwirtschaft verflochtenen I .ander von einander zeigt. Ist
Kuropa heute und soll cs in noch gröfsercm Mafse künftig in
seinem Nahrungsbedarfe von Amerika und Asien abhängig sein,
so haben diese wieder ein stärkere Interesse an dem Export der
für Europa nicht unentbehrlichen Produkte Kaffee, Droguen, Hölzer,
Häute, Felle etc. Soll es zutreffend sein, dafs Amerika sich rüstet,
den Weltmarkt mit seinen Industrieprodukten zu überschwemmen,
dann gewinnt es ein steigendes Interesse an der Politik der offenen
Thüren. Es darf auch hervorgehoben werden, dafs die Entwicklung
in der Richtung einer systematischen Aushungerungspolitik zu den
brutalsten und blutigsten Kämpfen, zu wahren Raubkriegen führen
müfste. Brot und Kleidung, im friedlichen Austausch nicht erhält-
lich, würde Europa durch Waffengewalt zu annehmbaren Be-
dingungen zu erlangen suchen. Es kann überdies gesagt werden,
dafs der Kapitalismus besonders in der Gestalt nationaler und inter-
nationaler Ausplünderungspolitik sicherlich nicht das letzte Wort
der menschlichen Zivilisation ist. Die Wandlung der Anschauungen
unter den arbeitenden Massen mul's in der Richtung der Beseitigung
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Agrarschutz und Sozialreform.
235
von Vorurteilen, der Erweckung des Gefühls menschlicher Solidarität,
vor allem der Gemeinsamkeit der Interessen gegenüber den Kapital-
magnaten wirken. Damit ist wohl die Tendenz zur Aushungerungs-
politik und zu Raubkriegen schwer vereinbar.
Eine Widerlegung der agrarischen Schwarzfärberei ist aber mit
solchen Argumenten nicht zu erreichen. Man mufs zu konkreterer
Kritik greifen. Es wird uns versichert, dafs die rapide Bevölkerungs-
zunahme der Brotstaaten diese zur Einschränkung oder Verhinderung
der Brotausfuhr führen müsse. Prüfen wir diese Behauptung an
den im Deutschen Reiche gemachten Erfahrungen. Wir fragen :
Was hat das deutsche Volk gethan, um seine im Laufe des vorigen
Jahrhunderts von 24 auf 56 Millionen gestiegene Bevölkerung mit
Nahrung zu versorgen ? Hat es sich ausschliefslich oder auch nur
vorwiegend auf die fremde Einfuhr verlassen ? Die Antwort soll
auch hier von agrarischen Autoritäten gegeben werden.
Nach v. d. Goltz umfafste die Brache zu Beginn des XIX. Jahr-
hunderts 25 Proz. des landwirtschaftlichen Areals. ') Sic ist bis
zum Jahre 1893 auf 5,9 Proz. gesunken. Das ergiebt eine Steigerung
der landwirtschaftlich bebauten Fläche um etwa 5 Millionen Hektar.
Nimmt man an, dafs auch nur die Hälfte dieses Areals neu zu-
gewachsener Getreideboden ist und schätzt man den durchschnitt-
lichen Ertrag des Hektars gering mit 10 Meterzentner, so ergiebt
dies eine Mehrproduktion von 15 Millionen Meterzentner Getreide.
Auch Pohle2) giebt zu, dafs eine ungeheure Vermehrung der
landwirtschaftlichen Produktion in derselben Zeit stattgefunden hat,
in welcher die agrarische Bevölkerung nur langsam gewachsen ist.
Er zitiert Prof. Max Delbrück, nach welchem die landwirtschaftliche
Produktion Deutschlands im Pflanzenbau im verflossenen Jahrhundert
auf das Vierfache gestiegen ist, während in der Viehzucht mindestens
eine Verdoppelung erfolgte. Die Steigerung des Ertrages von der
gleichen Bodenfläche allein habe seit 1800 eine Verdoppelung der
deutschen Getreideproduktion bewirkt. Nach einer offiziellen Publi-
kation stellte sich im Durchschnitte des Reiches der Ertrag in
Doppelzentnern pro Hektar bei
1 879/88
1887 96
1899
Koggen auf
9,8
10,8
14.9
Weizen „
13.1
'43
'9.3
') Handwörterbuch der
*» a. a. O. S. 23 tt., 33
Staats Wissenschaften, 2. Aufl., i
ff. etc.
1. Bd., S. 37
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236
Leo Verkauf,
Innerhalb der Jahre 1879 — 1896 bedeutet dies eine Steigerung der
Roggenernte um 8, der VVcizenernte um 3 Millionen Meterzentner.
Ganz, enorm ist die Steigerung bis zum Jahre 1899.
Die Schlachtungen in Deutschland, auf Rinder reduziert, be-
trugen im Jahre 1873 4737452, im Jahre 1892 7520165 Stück.
Das ergiebt eine Zunahme um nahezu 59 l’roz. Bringt man noch
in Anschlag, dai’s das Schlachtgewicht in derselben Zeit um IO Proz.
gewachsen ist. so erhöhte sich die Fleischproduktion in Wirklichkeit
zwischen 1873 und 1892 um 75 Proz.
Im schroffen Gegensatz zur Entwicklung der deutschen Land-
wirtschaft stehen die Produktionsverhältnisse in den entscheidenderen
Nahrungsländern. Prof. Sering hat schon im Jahre 1887 die grofsen
Unterschiede im Weizenertrag Westeuropas und Amerikas nach-
gewiesen und dabei betont, dafs dieser Unterschied durch die ver-
schiedene Betriebsweise und nicht blofs durch Klima und natürliche
Fruchtbarkeit bedingt sei. Es betrug nach seinen Angaben der
Weizenertrag per Hektar in Hektolitern in Deutschland 17,0, in
Frankreich 14,9, in Rumänien 12,0, in Ungarn 11,0, in der Union
10,7. >)
Nach Ballod*) war die Ackerfläche in Rul'sland genau 5 mal
so grofs wie in Deutschland. Die Gesamternte an den 4 Haupt-
getreidearten ist jedoch nur etwas mehr als doppelt so hoch: 44,5
gegen 22,1 Millionen Tons, sobald man die Bruttoernte in Betracht
zieht. Bringt man die Aussaat in Abzug, die in Deutschland nur
ein Drittel der russischen beträgt, so bleiben als Nettoertrag in
Rufsland 36,6, in Deutschland 18 Millionen Tons übrig. Mit Brot-
getreide wurden in Rufsland in den Jahren 1893 — 1899 41,2, in
Deutschland 8,26 Millionen Hektar bebaut ; der erzielte Ernteertrag
betrug 28,64 und 12,43 Millionen Tons. Es entfielen darnach pro
Hektar in Deutschland 1 700 kg Weizen und 1470 kg Roggen, in
Rufsland 726 kg Weizen und 681 kg Roggen; in der Union be-
zifferte sich der Ertrag an Weizen auf 875 kg (1896 — 1900) und
auf 1000 kg Roggen (189798).
Die landwirtschaftliche Bevölkerung betrug in Deutschland
36 Proz., in Rufsland etwa 85 Proz. der Gesamtbevölkerung. Daraus
folgt, dafs in Rufsland etwa 21/, mal weniger geerntet wurde als in
,) „Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nordamerikas in Gegenwart und Zu-
kunft“, Leipzig, Duncker & llumblot 1887, S. 472. »
*) „Schriften des Vereins für Sozialpolitik“, Bd. 90, S. 315.
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Agrarschutz und Sozialreform.
237
Deutschland. Auch der Abstand gegenüber den Vereinigten Staaten
ist ein sehr grofser.
Trotzdem die Entwicklung der deutscher Landwirtschaft bisher
glänzende Erfolge aufweist, ja sogar in den Zeiten der Preis-
depression nicht innegehalten hat, *) wird doch von berufener sach-
verständiger Seite behauptet, dafs eine weitere bedeutende Steige-
rung des Rohertrages, besonders im Brotgetreide, im Bereiche des
Erreichbaren und Möglichen liege. Nach Dade können die Fort-
schritte der landwirtschaftlichen Kultur nach und nach dem ge-
samten Kulturboden zugeführt und damit die Roherträge gesteigert
werden. Vor allem komme dabei der leichtere und mittlere Boden
in Betracht , der heute erst im Beginne seiner Kultur stehe. -)
Bensing weist nach, wie grols die Verbilligung und Produktions-
steigerung durch die Maschinenbenützung noch sein kann, während
Gustav Fischer Berechnungen darüber anstellt, wie weit die Ver-
wendung von Maschinen in bäuerlichen Kleinbetrieben ökonomische
Vorteile gewähre. *)
Besonders wertvoll ist auch hier das von Pohle zusammen-
gestellte Material über die Ausdehnungsfähigkeit der deutschen Land-
wirtschaft. Max Delbrück erwartet für das XX. Jahrhundert
eine Verdoppelung der Erträge in Körnerfrüchten. Nach H a r t m a n n’s
Schätzung entfallen noch heute in Deutschland auf die Dreifelder-
wirtschaft 10200000 ha, bei denen eine Ueberführung zur VVechsel-
wirtschaft und damit eine grofse Ertragssteigerung möglich und
notwendig sei. Nach demselben Autor liefse sich durch Drainage,
Drillsaat und vermehrte Handarbeit, Düngerkonservierung und An-
wendung von Fäkalien sowie Kunstdünger eine Steigerung des
Rohertrages von der gleichen Fläche erzielen. Die Anwendung
dieser Mittel setzt freilich eine Steigerung der Produktionskosten
voraus, deren Möglichkeit wir hier unerörtert lassen wollen. An-
gesehene Sachverständige versichern jedoch, dafs auch ohne be-
') Conrad weist ausdrücklich darauf hin, dafs die deutschen Landwirte es
trotz der Preisdepression nicht für notwendig gehalten haben, den Getreidebau ein
zuschränken: Die vier Hauptgetreidearten okkupierten 1878 13515570 ha, 1896 bis
1899 13861607 ha. — „Schriften des Vereins für Sozialpolitik", Bd. 90, S. I49.
*) Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 91, S. 61.
s) Bensing, „Der Einflufs der landwirtschaftlichen Maschinen auf Volks- und
Privatw-irtschaft", Breslau, Schlcttersche Buchhandlung, 1898. — Gustav Fischer,
„Die soziale Bedeutung der Maschinen in der Landwirtschaft", Leipzig, Duncker 8c
Humblot, 1902.
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23»
l.co Verkauf,
sonderen Kapitalsaufwand eine Steigerung der Roherträge erzielt
werden könne. Es sei besonders in den bäuerlichen Wirtschaften
eine sorgfältige Bodenbestellung, die Auswahl besten Saatgutes, der
Anbau der ertragreichsten Sorten, die Vermeidung von Verlusten
an Dungstoffen in der Wirtschaft, die Ausnützung der von der
Natur mit geringen Kosten gebotenen Dungstoffe möglich und not-
wendig. Rümker bespricht zwei der angeführten Mittel : die rationelle
Sortierung des Saatgutes und die richtige Auswahl der für jede
Oertlichkeit passendsten und einträglichsten Sorten. Er zeigt Ziffer -
mäl'sig die auf diesem Wege erzielbaren Mehrerträge und erklärt :
„Üb ich diese oder jene Sorte baue, verursacht im allgemeinen die
gleichen Produktionsunkosten, mithin ist jeder Zentner, den die
eine Sorte durchschnittlich mehr liefert, als die andere, mehr oder
minder ein Nettogewinn, der gleichzeitig mithilft, die Produktions-
kosten relativ zu verbilligen, weil sich dieselben dadurch auf eine
gröfsere Zahl von Ertragseinheiten verteilen“. ')
In demselben Atemzuge nun , mit welchem uns dargelegt
wird, wie stark Deutschland durch intensive Wirtschaft seine Boden-
erträge gesteigert hat und fernerhin, selbst ohne erhöhte Produk-
tionskosten zu steigern vermag, wird versichert, dafs die Gesetze
der landwirtschaftlichen Technik wohl für Deutschland, keineswegs
aber für die technisch weit im Hintertreffen gebliebenen Nahrungs-
Staaten Geltung beanspruchen können. Bedeutet es denn etwas
anderes, wenn man ständig argumentiert, Rufsland, Amerika, Rumänien,
Ungarn würden bei steigender Bevölkerung nicht etwa zu intensiverer,
sorgfältigerer Bodenbewirtschaftung übergehen, sondern den extensiven
Anbau beibehalten, dafür aber den Getreideexport einstellen oder
stark einschränken r Warum soll denn den amerikanischen, russischen,
rumänischen, ungarischen Landwirten nicht gelingen, was den deut-
schen gelungen ist und auch in Zukunft in immer gröfscrcm Mal’se
gelingen wird: die Roherträge durch fortschreitende Technik, gröfsere
Sorgfalt, bessere Düngung zu steigern? Während in der volkswirt-
schaftlichen Litteratur darüber eifrig gestritten wird, ob neue Ge-
biete für die Getreideproduktion zu Exportzwecken noch auffindbar
sind, wird die Diskussion von der meines Erachtens wichtigeren
Frage abgelenkt, in welchem Mafse die Erträge in den Nahrungs-
staaten nach westeuropäischen Erfahrungen und dem Stande der
Agrartechnik gesteigert werden können. Ballod beleuchtet die
Ciliert bei Pohle a. a. O. S. 90 ff.
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Agrarschutz und Sozialreform.
239
Verschwendung an Saatgut in Rufsland, die etwa 30 Millionen
Doppelzentner erreicht. Diese Vergeudung soll aber auch ander-
wärts nicht selten sein. Ist hier ein Wandel zum Besseren nicht
möglich ?
Serin g hat in seiner angeführten Schrift gezeigt, dal's auch in
Amerika hier und da die Intensität der landwirtschaftlichen Kultur
steige. Durch die fortschreitende Besiedelung des Landes werde
zweifellos nicht nur eine Vergröfserung des bebauten Weizenareals
platzgreifen, sondern auch die Betriebsweise sich der west- und
mitteleuropäischen immer mehr und mehr annähern. Man werde
von der Raubwirtschaft und dem extensiven Anbau zur Intensifika-
tion, damit zur stärkeren Steigerung der Roherträge, gleichzeitig
aber auch der Produktionskosten gelangen. ')
Eis ist möglich, sogar wahrscheinlich, dal's diese Entwicklung
gesteigerte Getreidepreise mit sich bringen wird, über deren Höhe
Bestimmtes wohl niemand anzugeben vermag. Das ist aber grund-
verschieden von der agrarischen Behauptung, dafs wir in nicht
ferner Zeit auf Gnade und Ungnade den Nahrungsstaaten ausgcliefert
sein würden, dafs die Wahl dann nur zwischen Verhungern und
Auswanderung zu treffen sein wird. Selbst bei enormer Bevölkerungs-
zunahme haben die Xahrungsstaaten einen so grofsen Spielraum für
ihre Produktionserweiterung, dafs schon vor dieser Thatsachc alle
Gruselgeschichten hinfällig werden. Warum sollten auch die ge-
schäftskundigen Amerikaner anstatt technischer Vervollkommnung
ihrer Wirtschaft die europäischen Märkte aufgeben ?
Bei denselben Agrariern, die sich an der Steigerungsmöglich-
keit der deutschen Ernteerträge berauschen, verfliegt der Rausch
sofort, wenn die Frage erhöhter Erträge für die Nahrungsstaaten
auftaucht. Diese Taktik wird durch das Verhalten der freihändle-
rischen Volkswirte erleichtert, die vielfach den Standpunkt ein-
nehmen, dafs heute schon wesentliche Verbesserungen in der deutschen
Ackerwirtschaft ohne grolse Steigerung der Produktionskosten un-
denkbar seien. Natürlich kommt dann ein intensiverer und ertrag-
reicherer Anbau in den Nahrungsstaaten wenig in Betracht, man
zieht cs vor auf der bewohnten Erde nach neuen Getreideböden für
den westeuropäischen Bedarf der Zukunft zu fahnden, die heute
schwer auffindbar sind.
*) a. a. O. S. 562 ff.
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240
Leo Verkauf,
IV.
Mit dem Versiegen des Körnerexportes mufs auch der Fabri- /
katenimport der Nahrungsstaaten abreifsen; womit sollten ihn diese
auch bezahlen? Das Absatzgebiet für deutsche Industrieerzeugnisse
verengert sich auch durch das Auftauchen neuer Konkurrenten auf
dem Weltmärkte, wie durch die fortschreitende Industrialisierung
agrarischer Gebiete. Wächst nun die Fabrikatenausfuhr trotz dieser
gefahrdrohenden Entwicklung, so steigert sich die Abhängigkeit
Deutschlands vom Weltmärkte immer mehr. Es nähert sich damit
der Augenklick des vollständigen Zusammenbruches um so rascher.
So der agrarische Pessimismus, dem die Volkswirtschaft nur dann
als gesund erscheint, wenn die Entwicklung der Industrie nicht
weiter geht, als die einheimische Landwirtschaft die gewerbliche
Bevölkerung zu ernähren vermag. Von diesem Gesichtswinkel be-
trachtet, erscheint die deutsche Industrie den Agrariern heute schon
als hypertrophisch und um so notwendiger die agrarische Parole der
Handelspolitik: Gröfsere Unabhängigkeit der deutschen Volkswirt-
schaft vom Auslande 1 ')
Es ist nun unleugbar, dafs eine wachsende Zahl von euro-
päischen und aufsereuropäischen Wirtschaftsgebieten bestrebt ist,
sich aus der Abhängigkeit von den Industriegrofsmächten zu be-
freien. Rufsland, Rumänien, Ungarn, Südamerika, Japan, Indien
sind — meist mit Hilfe westeuropäischen Kapitals — bemüht,
nationale Industrien zu schaffen; China wird diesem Beispiel bald
folgen. Nordamerika ist heute schon aus einem Importland für
Fabrikate ein Exportland geworden, ein gefürchteter Konkurrent der
bisherigen Beherrscher des Weltmarktes. Dieser Prozefs der In-
dustrialisierung wird vielfach durch die Schutzzölle gefordert. Die
Industriellen verlegen bei drohendem Verlust von Auslandsmärkten
ihre Produktion in das bisherige Importland. So entstand die nord-
böhmische Industrie zu ganz erheblichem Teile mit Hilfe deutschen
*) Im Gegensatz zu den Agrariern leugnet Sombart, dafs Deutschland sich
im wachsenden Mafse zum Exportindustriestaate entwickle. Er unterscheidet zwei
Entwicklungsphasen: Bis in die 8oer Jahre sei der Export präponderant gewesen
(,, Internationalisierung des Kapitalismus“). Seither habe der Industrieexport für
Deutschland relativ an Bedeutung abgenommen („Nationalisierung des Kapitalismus).
Ohne Abhängigkeit vom Auslande sei keine Kulturcntwicklung, keine Entwicklung
zu höherem Dasein möglich, nationale Selbstgenügsamkeit bedeute Halbharbarei. —
Soziale Praxis, 1899, Nr. 24 u. 31.
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Agrarschutz und Sozialreform.
241
Kapitals. So treibt die Furcht vor der kommenden Zolltrennung
heute schon die österreichischen Unternehmer zur Züchtung einer
Konkurrenzindustrie in Ungarn. Es gehört nicht viel Scharfsinn
dazu, um aus diesem Gang der Entwicklung dem deutschen und
englischen Fabrikatenexporte für nähere oder fernere Zukunft schlimme
Katastrophen zu prognostizieren. Man zeige uns aber die Mittel
diesen Gefahren vorzubeugen. Das ist eine viel schwerere Aufgabe.
Sie sind so wenig ausfindig zu machen, dafs selbst unbedingte
Agrarier, wie Wagner und Pohle vor den Konsequenzen ihrer
wirtschaftspolitischen Ueberzeugung zurückschreckend, auf jede Be-
hinderung des heutigen Exportes verzichten wollen und nur jeder
weiteren Steigerung der Fabrikatenausfuhr Einhalt gebieten möchten.
Man kann eben nicht, um künftigen Katastrophen vorzubeugen, eine
Katastrophenpolitik der Gegenwart inaugurieren. Pan Industriestaat
ersten Ranges, wie Deutschland, kann selbst in dem abgeschwächten
Mafse, das Wagner vertritt, nicht ungestraft eine Politik der Export-
erdrosselung betreiben. In der kapitalistischen Wirtschaftsordnung
kann man von einem Markte verdrängt werden, aber man kann ihn
nicht freiwillig aufgeben. Wenn man auch nur auf die weitere
Entwicklung des Exports verzichten will, führt dies notgedrungen
zum Grundsatz: der einheimische Markt gehört der einheimischen
Produktion. Neben die Behinderung der Ausfuhr mufs dann die
Erschwerung der Einfuhr treten ; zur Erreichung beider Ziele führt
aber nur der mechanische Weg der Ein- und Ausfuhrzölle. Gerade
der in die Weltwirtschaft verflochtene Staat begegnet beim Betreten
dieses Weges dem ernsthaftesten Widerstande fremder Wirtschafts-
gebiete, der um so bedrohlicher wird, je stärker man in das Ge-
triebe des Kapitalismus verflochten ist. Je mächtiger also ein Land
auf dem Weltmarkt dasteht, um so gefährlicher ist für dasselbe eine
Politik der Behinderung von Ein- und Ausfuhr. In diesem Sinne
allein hat Pohle recht, wenn er meint, es sei eine kindlich-naive
Vorstellung, dafs es von Deutschland abhängt, ob es seine wirt-
schaftliche Zukunft immer mehr auf den Industrialismus gründen
wolle, während hierbei doch die fremden Nationen das entscheidende
Wort zu sprechen hätten. Gilt denn das aber nur von der Fort-
entwicklung und nicht auch von der Rückentwicklung des Exports?
Und wie steht es da um den schönen agrarischen Plan, Deutsch-
land solle sich ohne schwächliche Rücksichten auf andere völlig
unabhängig stellen ? Die kapitalistische Weltwirtschaft zwingt gerade
den mächtigsten Industriestaaten ein gutes Stück P'atalismus in ihrer
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVI11. l6
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Leo Verkauf,
Wirtschaftspolitik auf. Niemand hat ja so sehr die Repression der
anderen zu fürchten, die unausbleiblich auch dann ist, wenn man
sich mit einer Kontingentierung der Ein- und Ausfuhr begnügen
würde. Es kann dann begegnen, dafs man den Export auf einem
Gebiete einschränken will und dafs die unwillkommene Folge davon
auch die Einschränkung auf einem anderen ist. Das eigene Macht-
gefuhl darf eben nicht zu einer Unterschätzung der Defensivkraft
der Staaten zweiten und dritten Ranges verleiten. Rumänien hat
im Zollkrieg mit Oesterreich- Ungarn schweren Schaden gelitten,
aber auch dem Gegner tiefe Wunden geschlagen, die heute ver-
narbten, aber nicht geheilt sind. Der völlige Zusammenbruch des
Exports kann leicht die Folge einer Politik sein, die auch nur auf
die Stabilisierung des heutigen Standes der Ausfuhr gerichtet ist
So kann es denn allerdings kommen, dafs gerade die industriellen
Grofsmächte genötigt sind, unthätig drohenden Erschütterungen ent-
gegenzusehen, um nicht die Katastrophen für den nationalen Wirt-
schaftskörper zu beschleunigen.
Die steigende Bedeutung der Arbeiterbewegung macht cs er-
klärlich, wenn bei Bekämpfung des Exports auch das Arbeitcr-
interesse als Argument herangezogen wird. So wird uns denn auch
verkündet, dafs gerade das Interesse der Arbeiterklasse die Abkehr
vom Exportindustrialismus gebieterisch fordere. Die Konkurrenz
mit ausländischen Proletariern von inferiorer Lebenshaltung, wird
uns erklärt, nötige den deutschen Arbeitern niedrigen Lohn bei
längerer Arbeitszeit und häufiger Arbeitslosigkeit auf. Die Hälfte
des deutschen Exportes, gerade die sozialpolitisch verrufenen para-
sitären Industriezweige, hätte ihre dominierende Stellung auf dem
Weltmärkte wesentlich durch niedrige Löhne erlangt. Diese Ent-
wicklung habe ihren Höhepunkt noch gar nicht erreicht. Die Völker
niedrigster Lebenshaltung treten jetzt in den Wettbewerb ein und
die sozialpolitisch ungünstigeren Wirkungen des Exportes würden
damit zunehmend bedenklichere werden.
Damit wird stillschweigend den nationalen Industriezweigen
ein sozialpolitisches Wohlverhaltungszeugnis ausgestellt Bei ihnen
sollen Uebelstände in Rücksicht auf Lohn, Arbeitszeit und Unsicher-
heit der Beschäftigung gar nicht oder im geringeren Mafse vor-
handen sein, als bei den Eixportindustrien. Es stehen so die sozial-
politisch gut beleumundeten den sozialpolitisch verrufenen Industrien
gegenüber. Bei den letzteren sollen wesentlich die niedrigen Löhne
des konkurrierenden Auslandes die deutschen Fabrikanten dazu
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Aßrarschutz und Sozialrcform.
243
nötigen, die Arbeiter in ihrer niedrigen Lebenshaltung zu belassen
oder gar noch herabzudrücken. Erscheint aber der Export als
letzte Ursache der schlimmen ökonomischen läge zahlreicher Prole-
tarier, so mufs konsequenterweise mit Beseitigung der Ursache auch
die Wirkung verschwinden. Konkret gesprochen : Ist z. B. der
Export der entscheidende Grund des Weberelendes, so wäre ja mit
Beseitigung der Textilausfuhr auch dieses Elend aus der Welt zu
schaffen. In der That werden die angedeuteten Konsequenzen in
der agrarischen Litteratur bald schärfer, bald verschwommener ge-
zogen.
Bei näherer Prüfung finden wir nun, was von den Agrariern
nicht geleugnet wird, auch unter den Exportindustrien zwei nach
ihrem sozialpolitischen Typus scharf unterscheidbare Gruppen. In
Vordergründe des deutschen Fabrikatenexportes standen in den
Jahren 1897 — 1900 die Metallindustrie mit einem Durchschnitts-
ausfuhrwerte von 304 Millionen Mark, die Industrie der Maschinen,
Instrumente und Apparate mit einer Ausfuhr von 283 Millionen
Mark und die chemische Industrie mit einem Export von 346
Millionen Mark. Die Löhne in diesen Produktionszweigen gehören
in Deutschland zu den günstigeren. Nach der Unfallstatistik der
deutschen Berufsgenossenschaften für das Jahr 1889 betrug durch-
schnittlich der anrechenbare Jahresverdienst für gewerbliche Arbeiter
752 Mark. Dieser Durchschnitt wird überschritten bei der Berufs-
genossenschaft für chemische Industrie mit 409 Mark, bei der rhein-
ländisch -westfalischen Berufsgenossenschaft für Maschinenbau und
Kleineisenindustrie mit 1035 Mark, bei der Berufcgenossscnschaft
für Feinmechanik mit 1001 Mark, bei der norddeutschen Berufs-
genossenschaft für Edel- und Unedelmetallindustrie mit 869 Mark.
Auch in der Lederindustrie mit einem Ausfuhrwerte von 194
Millionen Mark wird ein überdurchschnittlicher Jahresverdienst in
der Höhe von 874 Mark gezahlt. Der Ausfuhrwert in Gegenständen
der Literatur und Kunst beziffert sich mit 240 Millionen Mark, die
Berufsgenossenschaft für Buchdrucker — für sonstige hierher gehörige
Branchen fehlen die Daten — zahlt einen Lohn von 869 Mark.
Dieser sozialpolitisch günstigeren Gruppe mit einer Gesamt-
ausfuhr von annähernd 1300 Millionen Mark steht eine fast gleich
starke mit tiefster Lebenshaltung und niedrigen Löhnen gegenüber.
Hierher gehört die Zuckerindustrie mit einer Ausfuhr von 215
Millionen Mark und einem durchschnittlichen Tagelohn von 2,35 Mark,
dem ein Jahresverdienst von 453 Mark entspricht. Als ausge-
16*
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244
Leo Verkauf,
sprochenste Exportindustric gilt mit Recht die Textilindustrie, bei
der der Ausfuhrwert 883 Millionen Mark beträgt. Die Löhne zeigen
in den verschiedenen Teilen des Reiches grofse Abweichungen, sie
sind aber fast ausnahmslos unter dem Durchschnittslohn für ge-
werbliche Arbeiter. So betrug der Jahresverdienst bei der nord-
deutschen Textilberufsgenossenschaft 664 Mark, bei der schlesischen
Textilberufsgenossenschaft 494 Mark, bei der süddeutschen Textil-
berufsgenossenschaft 612 Mark, bei der Textilberufsgenossenschaft
für Elsafs-Lothringen 663 Mark, bei der Berufsgenossenschaft für Rhein-
land-Westfalen 762 Mark, bei der sächsischen Textilberufsgenossen-
schaft 621 Mark. Die Löhne der Hausweber sind in den Durchschnitts-
zahlen nicht inbegriffen, weil sich die Unfallversicherung auf die Haus-
industrie nicht erstreckt. Nicht besser sind die Verhältnisse in der
Kleider- und Wäschekonfektion mit einem Ausfuhrwerte von 86
Millionen Mark, sowie in einigen weniger belangreichen Zweigen.
Was ermöglicht nun in beiden Industriegruppen den starken
Export? In der Metall- und Maschinenindustrie begegnet Deutsch-
land der englischen und amerikanischen Konkurrenz, die notorisch
höhere Löhne zahlt, als in Deutschland üblich sind. Die Forzierung
des deutschen Exports ist nicht auf die ungünstigeren Löhne, sondern
auf die Kartellwirtschaft und die Schutzzollpolitik zurückzuführen.
Der russische Finanzminister Witte hat erst vor kurzem darauf
hingewiesen, dafs das deutsche Schienensyndikat seine Erzeugnisse
in Deutschland zu 1 14 Mark die Tonne, im Auslande zu 85 Mark,
Stangeneisen zu Hause um 125 Mark, im Auslande um 100 Mark
verkaufe; dafs der Verband der deutschen Drahtstiftcn-Fabrikanten
seine Produkte im Inlande zu 250 Mark, auswärts zu 140 Mark für die
Tonne anbringc. Zur Zeit des gröfsten Kohlenmangels sei der Preis
der Tonne Kohle in Deutschland bis zu 18,50 Mark emporgcschnellt,
während gleichzeitig nach Oesterreich zu dem Preise von 8,80 Mark
exportiert wurde. Der Zuckerexport ist bisher durch das jetzt in
Wegfall kommende Prämiensystem in die Höhe getrieben worden;
schließlich ist als wichtige Stütze auch noch das Kartell hinzu-
gekommen. Die in der Zuckerindustrie gezahlten Löhne sind sehr
niedrig und für die Konkurrenzfähigkeit nicht von entscheidender
Bedeutung, wie wenige Zahlen beweisen mögen. Die Produktion
betrug in der Kampagne 1898/99 1722429 Tonnen Konsumzucker,
die bezahlten Löhne im Jahre 1899 insgesamt 45,5 Millionen Mark,
somit für 1 kg Zucker etwa 2,6 Pfennige. Der Wert der Ausfuhr
wird in der Handelsstatistik mit 203,5 Millionen Mark angegeben,
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Agrarschutz und Sozialrcform.
245
der inländische Konsum ergibt auf einer Preisbasis von 500 Mark
per Tonne 340 Millionen Mark. Insgesamt finden wir eine Wert-
summe von 550 Millionen Mark auf Grund der Grofshandelspreise.
Daraus resultiert der Preis für I kg Zucker mit 34 Pfennigen, so
dafs der Lohn zwischen 7 und 8 Proz. dieses Preises schwankt.
Die niedrige Lebenshaltung der Arbeiter in den Konkurrenz-
industrien hat hier sicherlich nicht zji niedrigen Löhnen in Deutsch-
land genötigt. Sie sind vielmehr durch die rechtlich ungünstige
I-age der Arbeiter, durch den Mangel jeder Organisation sowie durch
die Gleichgültigkeit des Staates, gleichsam als ein Geschenk des
Himmels, neben den Prämien und Kartellprofiten, den Zucker-
fabrikanten in den Schofs gefallen. Auch bei wesentlich höheren
Löhnen wäre die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands auf dem Welt-
märkte nicht beeinträchtigt worden.
Am wichtigsten ist die Frage, ob das Ausland zur Zahlung
niedriger Löhne nötigt, in der Domäne der verrufenen Gewerbe,
der Textilindustrie. Hier sei vorerst darauf hingewiesen, dafs die
Bedeutung für die Konkurrenzfähigkeit, die dem Lohn zuerkannt
wird, vielfach zu sehr überschätzt worden ist. Das vorhandene
Thatsachenmaterial ist freilich nicht ganz einwandfrei und nicht
völlig zuverlässig. Es gewährt aber doch einen interessanten Ein-
blick in die Verhältnisse. Nach der für das Jahr 1897 veröffent-
lichten Produktionsstatistik betrug der Wert der in Deutschland
erzeugten Textilwaren 23 4 Milliarden Mark. Die in den Berufs-
genossenschaften gegen Betriebsunfälle versicherten 729000 Arbeiter
erhielten einen anrechenbaren Jahresverdienst von zusammen 460V4
Millionen Mark, per Kopf durchschnittlich 630 Mark. Da aufser-
halb der Berufsgenossenschaften nach der Berufszählung vom Jahre
1895 225000 Arbeiter standen, deren Lohn, da es sich um Heim-
arbeiter und kleingewerbliche Gehilfen handelt, höchstens mit */g,
d. h. mit 420 Mark per Kopf angenommen werden darf, so re-
sultiert daraus eine weitere Lohnsumme von 94V4 Millionen Mark.
Für beide Gruppen von Arbeitern beziffert sich somit die Lohn-
summe auf 550'/2 Millionen oder 20 Proz. des Produktionswertes.
Ob dabei nicht Doppelzählungen unterlaufen sind, ist schwer zu
sagen. Immerhin ist sicher, dafs die Bedeutung des Lohnes nicht
jene entscheidende ist, wie man sie gegenwärtig anzunehmen pflegt.
Bedeutsamer ist die Thatsache, dafs die deutsche Textilindustrie
den Wettbewerb auf dem Weltmarkt vornehmlich mit England aus-
zufechteri hat, das im Jahre 1901 Woll- und Baumwollwaren im
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246
Leo Verkauf,
Werte von 1800 Millionen Mark, Textilprodukte überhaupt im
Werte von 2 Milliarden Mark ausführte. Es ist bekannt, dafs die
Löhne in der englischen Baumwoll-, weniger in der Wollindustrie
unvergleichlich höher sind, als in Deutschland. Die Schmutz-
konkurrenz der kontinentalen Industriestaaten hat bisher England
weder zur Herabdrückung seiner Löhne, noch zur Verlängerung
der Arbeitszeit veranlafst. D$r agrarischen Wissenschaft blieb es
Vorbehalten, den Tcxtilindustricllen des Festlandes den Milderungs-
grund niedriger Löhne im konkurrierenden Auslande zuzubilligen.
England liefert aber gerade den Beweis, dafs das Weberelend keines-
wegs die notwendige Voraussetzung einer mächtigen Textilindustrie
ist. Versucht man es, die asiatische Gefahr in den Vordergrund zu
rücken, so kann darauf verwiesen werden, dafs die Bedeutung
Japans vorläufig eine viel zu geringe ist, um als Erklärung für den
jahrzehntelangen Lohndruck gelten zu können. Wichtiger ist aller-
dings Indien, auf das von den 100 Millionen Spindeln der Baum-
wollindustrie der Erde etwa 4 Millionen entfallen. Gerade die
indische Konkurrenz fallt aber am schwersten für England ins Ge-
wicht und recht wenig für Deutschland. Trotzdem ist der englische
Spinner- und Weberlohn bisher nicht auf das deutsche Niveau ge-
sunken. Freilich ist die indische Bauniwollwarenindustrie jüngeren
Datums, der Export Indiens betrug 1874/75 erst 18,3 Millionen
Rupien, bei einem Import von 190,7 Millionen Rupien. Die Aus-
fuhr ist 1897 98 auf 95,7, die Einfuhr auf 264,0 Millionen Rupien
gestiegen. VV’as die Zukunft bringen mag, darüber lälst sich streiten.
Bisher hat die inferiore Lebenshaltung ausländischer Arbeiter die
deutsche Textilindustrie zur Zahlung von Schundlöhnen nicht genötigt.
Versagt die agrarische Argumentation selbst in der Textil-
industrie, was bleibt dann übrig? Bei der Kleider- und Wäsche-
konfektion wäre der Beweis erst zu erbringen, ob England und
Amerika die deutschen Exporteure oder die letzteren die englischen
und amerikanischen Konfektionäre zur Zahlung niedriger Löhne ge-
zwungen haben. Bestenfalls kann zugegeben werden, dafs die un-
zureichenden Löhne der österreichischen Handschuhindustrie auf
Deutschland ungünstig zurückwirken und dafs die schreckliche Aus-
beutung in der deutschen Spielwarenindustrie (Ausfuhr 44 Millionen
Mark) die Entstehung jeder Konkurrenz im Auslande im Keime
erstickt. Auch in diesem Falle ist es doch nicht das Ausland, das
durch die schlechten Arbeitsbedingungen dem deutschen Export
seinen parasitären Charakter aufnötigt.
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Agrarschutz und Sozialreform.
247
Wie kann man angesichts solcher Thatsachen die Behauptung
aufrecht erhalten, das konkurrierende Ausland sei durch die inferiore
Lebenshaltung seiner Arbeiter an den Lohndruck in den parasitären
Exportindustrien schuldtragend ? Zum Ueberflusse zeigt sich noch,
dafs sich auch unter den ausschließlich für den nationalen Markt
produzierenden Gewerben sozialpolitisch verrufene befinden. Die
verzweifelte Lage der Arbeiter in der Tabakindustrie ist genügend
bekannt. Für das Jahr 1897 wurde der Wert der inländischen
Produktion von Zigarren auf 250 Millionen Mark geschätzt. Einer
Ausfuhr im Werte von 3 '/* Millionen Mark stand eine Einfuhr von
7*/* Millionen Mark gegenüber. Der nationale Charakter der Pro-
duktion unterliegt sonach keinem Zweifel. Nach der Statistik der
Berufsgenossenschaft für Tabakindustrie betrug der durchschnitt-
liche Jahresverdienst kaum 534 Mark, worin zum Ueberflusse die
Löhne der Hausarbeiter keine Berücksichtigung gefunden haben.
Nicht günstiger ist die I-age der Arbeiter in der Ziegelfabrikation,
wo der durchschnittliche Verdienst sich auf 569 Mark beziffert.
Aber selbst angenommen, es sei wirklich der niedrige Lohn
im konkurrierenden Auslande, der die unzureichenden Löhne in
Deutschland bedingt, wie soll durch Beseitigung oder Einschränkung
des Exportes eine Hebung der Lebenshaltung im Inlande erzielt
werden ? Unter gleichbleibenden Verhältnissen bedeutet die Ab-
nahme des Exportes eine Verminderung der Nachfrage auf dem
Arbeitsmarkte. Cal wer berechnet, dafs heute jeder fünfte Textil-
arbeiter für das Ausland produziert. Man bedenke die Deroute, die
der Wegfall des Bedarfes von 20 Proz. der Arbeiter bewirken mufs.
Eine schlimmere Verschärfung der sozialpolitischen Situation ist
schwer denkbar. Die geschwächte Kaufkraft der ganzen in der
Textilindustrie erwerbsthätigen Bevölkerung wäre die unausbleib-
liche Folge. Bei weniger Beschäftigung statt mehr ist dies ja selbst-
verständlich.
Die Abhängigkeit vom Auslande hat gewifs grotse Unsicherheit
für die Produktion im Gefolge. Kann diese Unsicherheit aber durch
Zollkriege gemindert werden? Die Pendelbewegungen des Welt-
marktes sind eine der Eigentümlichkeiten des Kapitalismus, die man
heute mildern, aber nur mit Beseitigung der herrschenden Wirt-
schaftsordnung ganz aus der Welt schaffen kann. Die gesteigerten
Produktivkräfte verlangen in Deutschland, wie in der ganzen ka-
pitalistischen Welt Bethätigung. Finden sie sie im Inlande wegen
der niedrigen Lebenshaltung der Massen nicht, dann wird der Export
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248
Leo Verkauf,
zu einer Notwendigkeit, die man durch Zölle nicht aus der Welt
schafft. Die gröfsere wirtschaftliche Unabhängigkeit der Vereinigten
Staaten findet einen ihrer Erklärungsgründe auch darin, dal's die
Lebenshaltung der Arbeiter eine unvergleichlich günstigere ist und
die Notwendigkeit zu exportieren demnach später eintritt, als bei
den Staaten des europäischen Kontinents. Auf dem Wege der Ab-
schliefsung, den uns die Agrarier empfehlen, ist eine Milderung der
Unsicherheit des ausländischen Absatzgebietes sicher nicht zu er-
reichen.
V.
Adolf Wagner betont mit besonderem Nachdruck den Zu-
sammenhang der industriestaatlichen Entwicklung Deutschlands mit
dem Bevölkerungsproblem, ein Zusammenhang, der für ihn von ent-
scheidender Bedeutung ist. Er bleibt uns aber eine klare Antwort
auf die Frage schuldig, ob der Einflufs des Industriestaates auf die
Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit ein anderer ist, als der des
Agrarlandes oder des „richtig gemischten“ Staates. Es ist kein
Ersatz für diese empfindliche Lücke, wenn Wagner behauptet —
was wenige zur Gänze bestreiten dürften — dafs die starke Be-
völkerungszunahme keineswegs unter allen Umständen etwas gutes
sei, dafs vielmehr ein langsameres Tempo der Vermehrung manche
Vorzüge habe und dafs ein Volk mit einer mäfsigen Anzahl von
Angehörigen, bei grölserer Tüchtigkeit und stärkerer Autarkie in
seinem Wirtschaftsleben besser dastehe, als ein überrasch sich ver-
mehrendes, das sein Wirtschaftsleben auf Agrarimport und Fabri-
katenexport begründet. Auch der Wunsch W a g n e r s nach Sinken
der Geburtenziffer kann für den Mangel einer klaren Problemstellung
keinerlei Ersatz bieten. Das Lob mäfsiger, der Tadel übermäfsiger
Bevölkerungssteigerung mag begründet sein oder nicht, hier handelt
es sich um den Nachweis, dafs die industrielle Entwicklung eines
Landes auf Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit und Geburtenüber-
schüsse anders wirke, als der agrarische oder der „richtig gemischte"
Staat. Man mufs Antwort auf die Frage heischen, ob der propa-
gierte Agrarschutz eine Hemmung der übergrofsen Bevölkerungs-
zunahme bringen wird oder nicht.
Der Ausspruch Wagners, dafs jede erhebliche Besserung der
Lebensverhältnisse sofort wieder der Volksvermehrung starken Vor-
schub leiste, führt zu Mifsverständnissen. Scheinbar münzt Wagner
seine Behauptung auf die durch die industriestaatliche Entwicklung
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Agrarschutz und Sozialrcform.
249
gebesserte Lebenshaltung. Er selbst erhofft aber vom Agrarschutz
eine wesentliche Besserstellung der landwirtschaftlichen Bevölkerung
und zugleich eine günstige Rückwirkung auf die städtische Arbeiter-
schaft. Müfste nicht auch diese auf eine starke Volksvermehrung
hinwirken und ist es vom Standpunkt des Bevölkerungsproblems
nicht gleichgültig, ob das überrasche Anwachsen den Anstofs
von industrieller oder landwirtschaftlicher Reichtumssteigerung er-
fährt ?
Spricht es Wagner auch nicht mit dürren Worten aus, so geht
doch aus seinen Ausführungen hervor, dafs er von der Erfüllung
der deutschen I landeis- und Wirtschaftspolitik mit agrarischen Ideen
eine geminderte Natalität oder eine gesteigerte Mortalität, jedenfalls
aber eine Abnahme der Geburtenüberschüsse erwarte. Mit anderen
Worten : die industriestaatliche Entwicklung mufs nach ihm die
rasche Bevölkerungszunahme fördern, man kann sie durch Hemmung
der Industrialisierung aufhalten. Man pflegt zur Unterstützung dieser
Auffassung auf Deutschland und England und deren rapide Be-
völkerungszunahme zu verweisen. Im Deutschen Reiche ist die
Volkszahl in den 3 Quinquennien 1885 — 1900 im jährlichen Durch-
schnitte um 1,07, 1,12 und 1,15 Proz., in England und Wales in
denselben Zeitabschnitten um 0,78, 1,07 und 1,19 Proz. gewachsen.
Wir finden aller die gleiche Erscheinung in agrarischen Staaten.
So betrug die jährliche Zunahme Rufslands in den Jahren 1879 bis
1883 1,96 Proz., in den Jahren 1885 — 1900 1,20 Proz.; sie bezifferte
sich in Ungarn in den Jahren 1881 — 1890 mit 1,04 Proz., 189t bis
1900 mit 0,95 Proz., während in Oesterreich der Schwerpunkt der
Volkszunahme gleichfalls in seinen agrarischen Gebieten liegt. Die
höheren oder geringeren Geburtenüberschüsse können im allgemeinen
auf den vorwiegend agrarischen oder industriellen Charakter eines
Landes, demnach nicht ohne weiteres zurückgeführt werden. Es
erscheint vielmehr geboten, die Komponenten der Bevölkerungs-
bewegung — Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit — einer geson-
derten Betrachtung zu unterziehen.
Es ergiebt sich als erste Frage : Bewirkt erfahrungsgcmäfs die
Industrialisierung eines Landes eine merkliche Erhöhung der Ge-
burtenziffer und ist ini Gegensätze dazu den Staaten mit agrarischem
Charakter eine niedrigere Geburtenziffer eigen ? Wir versuchen die
Antwort aus dem kürzlich in Conrads Jahrbüchern für National-
ökonomie und Statistik veröffentlichten Zusammenstellungen der
internationalen Bevölkerungsbewegung herauszulesen. * Nach diesem
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250
Leo Verkauf,
gewissenhaft zusatnmengetragenen Materiale scheint die Geburten-
ziffer in Agrarländern in Wirklichkeit eine höhere zu sein, als in
den Industriestaaten. Die höchste Geburtenziffer finden wir in
Rufsland, Serbien, Ungarn (39—50 Proz.). Ihnen zunächst kommen
Oesterreich und Deutschland (35 — 39 Proz.), an dritter Stelle folgen
England, Belgien, die Schweiz und Frankreich (22 — 35 Proz.). Die
Jahre der gröfsten industriellen Prosperität — 1896 — 1900 — zeigen
fast durchgehends ein Sinken der Geburtenziffer, nicht wie man er-
warten sollte, ein Steigen derselben. Das spricht nicht dafür, dafs
die gesteigerte Industrialisierung eines Landes eine gesteigerte Ge-
burtenhäufigkeit im Gefolge haben mufs.
Die erhöhte Völkerzunahme der Industrieländer mufs sonach
auf die verminderte Sterbeziffer zurückzuführen sein. Das ergeben
in der That die den angeführten Tabellen entnommenen Daten.
So ziemlich überall machte sich in den letzten Jahrzehnten ein Rück-
gang der Mortalität geltend, der in den Industrieländern am gröfsten
war. Es läge die Annahme nahe, dafs die Besserung in der Lebens-
haltung der Massen und die rationeller gestalteten hygienischen
Einrichtungen der Städte, die durch die Arbeiterorganisationen er-
kämpfte verkürzte Arbeitszeit zur Herabdrückung der Sterbeziffer
beigetragen haben. Der Umstand, dafs die geminderte Mortalität
auch in den Agrarstaaten zutage getreten ist, mahnt zur Vorsicht.
In der That verficht G. v. Mayr die Auffassung, dafs an der
momentan günstigen Sterblichkeit wahrscheinlich eine vorübergehende
Konjunktur der natürlichen Lebensbedingungen erheblichen Anteil
habe; es könne daher auf eine unbegrenzte Fortdauer nicht ge-
rechnet werden, vielmehr dürfe man auf die Fibbe der Sterbens-
intensität eine Flut derselben erwarten. ')
Mag nun die günstigere Sterblichkeit die Folge gebesserter
Lebensverhältnisse der Industriearbeiter sein oder nicht, in keinem
Falle kann es einem Zweifel unterliegen, dafs durch verschlechterte
Arbeitsbedingungen und ungünstigere Ernährung eine höhere Mor-
talität zu erzielen ist. Dagegen ist der Nachweis bisher nicht ge-
führt worden, dafs durch handelspolitische Mafsnahmen auf die Ge-
burtenziffer mit Erfolg eingewirkt werden kann oder dafs die N’atalität
der industriellen Bevölkerung eine höhere ist, als die der agra-
rischen. In Deutschland zeigen neben hochindustriellen, auch agra-
*) Georg von Mayr, Statistik der Gescllschaftslebre. II. Bd. : Bevölkerung»-
Statistik. Kreiburg i/B., 1S97, S. 226.
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Agrarschutz und Sozialreform.
251
rische Bezirke eine überdurchschnittliche Geburtenziffer. Für Oester-
reich crgiebt sich, dafs in den Jahren 1895 — 1900 auf die agrarische
Bevölkerung — schwerlich mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung
— 56,8 Proz. aller Geburten entfallen sind. *)
Ich folgere deshalb, dafs durch die Industrialisierung die Ge-
burtenziffer nirgends eine Steigerung erfahren hat. Sie ist in Agrar-
ländern, wie überhaupt in Gebieten mit ökonomisch rückständiger
Bevölkerung, vielfach höher, als in industriellen, weit vorgeschrittenen
Staaten. Dagegen ist die Sterbeziffer in den industriellen Ländern
eine niedrigere, sie hat auch in den letzten Jahren ein fortdauernd
günstigere Gestaltung angenommen. Die hohen Geburtenüberschüsse
wurden in den agrarischen Gebieten regelmäfsig durch starke Natalität,
in den Industrieländern durch geringe Mortalität bewirkt. Nicht
einmal die ungünstigsten wirtschaftlichen Verhältnisse, auch nicht
der furchtbarste Pauperismus haben in Rufsland, Rumänien, Galizien
etc. eine starke Bevölkerungszunahme verhindert. Soweit die Er-
fahrung lehrt, kann also von der Rückbildung zum vorwiegend
agrarischen oder zum „richtig gemischten" Staat wohl eine gesteigerte
Sterblichkeit, keineswegs aber eine Senkung der Geburtenziffer erhofft
werden.
Dafs das stete Anschwellen der Städtebevölkerung in Deutsch-
land, wie anderwärts, nicht dagegen spricht, ist zur Genüge bekannt.
Der Städtewachstum ist ja nicht die Folge eigener Geburtenüber-
schüsse, sondern stärkerer Zuwanderung vom platten I^ande. Schon
Rohr1) hat gezeigt, dafs die deutschen Grofsstätte in den Jahren
1885 — 1890 bei einer Bevölkerungszunahme von 952182 Personen
nur ein schwaches Drittel — 31336t — durch eigene Geburten-
überschüsse, den Rest durch Zuzug aufbrachten. In dem gleichen
Zeiträume betrug die Steigerung in den Mittelstädten 213012 Per-
sonen, davon nur 30,9 Proz. durch eigene Geburtenüberschüsse. Im
Verlaufe von nur 6 Jahren sollen dem platten Lande 1 Million
Menschen tu gunsten der Städte entzogen wTordcn sein. YV i r m i n g -
haus3) berechnet für die Jahre 1880 — 1890 die Zuwanderung in
’) Oesterreich ischc Statistik. Bewegung der Bevölkerung der im Reichsrate
vertretenen Königreiche und Länder im Jahre 1900. Bd. 67, 1902.
*| Conrad's Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. 3. Folge. Bd. II.
1891 : „Die Bevölkerung der deutschen Grofs- und Mittelstädte".
*) Conrad's Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. 3. Folge, Bd. IX,
1895: „Stadt und Land unter dem Einflüsse der Binnenwanderungen“.
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252
Leo V* erkauf,
die deutschen Grofsstädte mit 3 5 13 032, den Wegzug mit 783 733 Per-
sonen, den Wandergewinn mit 2729299 d. h. 77,67 Proz. der Ge-
burtsbevölkerung dieser Städte. Interessant ist die folgende Tabelle,
nach welcher in den deutschen Grofsstädten auf IOOO der mittleren
Bevölkerung betragen hat in den Jahren
1861 — 64 1864 — 67 1867—71 1871 — 7s 1875—80 1881 — 85 1885 — 90
Her Geburten-
überschufs .
8,3
4,3
6,1
10,4
12,6
9.9
5.9
Wanderungs-
gewinn . .
27,4
17,7
22,1
21,7
12.7
14,3
11,9
Zuwachs
überhaupt .
35.7
22,0
28,2
32,1
25.3
24,2
17,8
Diese Entwicklung hat seit dem Jahre 1890 keinen Stillstand,
sie hat vielmehr durch die rückläufige Auswanderungsbewegung
eine Verstärkung erfahren. ’) Wie die Abwanderung hatte auch die
Auswanderung die Agrarbezirkc zum Ausgangspunkt : Westpreufeen,
Posen, Pommern werden als die Auswanderungsherde bezeichnet.
So sicher es ist, dafs die Verteilung der Bevölkerung zwischen Stadt
und Land mit der industriellen Entwicklung Deutschlands zusammen-
hängt, so wenig kann eine durch die Industrialisierung bewirkte
Geburtensteigerung angenommen werden. Nichts spricht dafür, dafs
durch Rückbildung zum Agrarstaat, also durch Agrarschutz, eine
Senkung der Geburtenziffer erreicht werden würde.
VI.
Die Entvölkerung des platten Landes durch Flucht der Massen
aus der Landwirtschaft in die Industrie ist kein blofses Wahngebilde
der Agrarier. Dieser Entwicklungsgang zeigt sich nicht allein in
der Abwanderungsbewegung aus vorwiegend agrarischen, in vor-
wiegend industriellen Provinzen. Auch innerhalb der Gebiete agra-
rischen Charakters finden wir neben abnehmender landwirtschaft-
licher Bevölkerungsquote eine Steigerung der industriellen. Einige
Daten mögen diese Verschiebungen veranschaulichen. Pis betrug
z. B. von 1882 auf 1895
') Die überseeische Auswanderung Deutschlands betrug 1881 — 1885: 885287,
1S86— 1890: 485036, 1891 — 1895: 402567, 1896—1900: 117309 Personen.
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Agrarschutz und Sozialrcform.
253
die Abnahme der
die Zunahme der
agrarischen
industriellen
Bevölkerung
Bevölkerung
für
Pc rs
0 ne n
Ostpreufsen
. 80 908
40 2:9
Westpreufsen . . . .
38893
52837
Pommern
42 10S
54 898
Posen
29 738
79271
Schlesien
■ 158756
332489
Schleswig-Holstein . . .
29857
85 210
Hannover
29 559
187 530
Mecklenburg
13276
22 12S
Oldenburg . . . . ,
6 395
24 129
zusammen .
. . 429 490
8S2 7 1 1
Dem platten Lande sind nicht nur die Geburtenüberschüsse
entzogen worden, es konnten nicht einmal die durch den Tod ge-
rissenen Lücken wieder ausgefüllt werden, so dafs einem Defizit von
429490 Personen in der Landwirtschaft ein Zuwachs von 882 71 1 Per-
sonen in der Industrie gegenübersteht. Der Landwirtschaft sind
dabei die jüngeren rüstigeren Kräfte entzogen, Greise und jugend-
liche Personen belassen worden. ')
Es ist darum nicht verwunderlich, dafs die Leutenot vielfach
die lauteste Klage der Landwirte bildet. Brase'-‘) erklärt geradezu,
der Arbeitermangel auf dem Lande erscheine heute unendlich
wichtiger als Erbrecht, Entschuldungsprinzip, Kreditwesen und Zoll-
politik. Der Arbeitsmarkt werde über die weitere Entwickelung
der Landwirtschaft, über Sein oder Nichtsein der Landwirte ent-
scheiden. Diese Auffassung steht nicht vereinzelt da, sie wird be-
sonders von praktischen I .and wirten geteilt.
Wo sind die Ursachen der grolsen Abwanderung zu suchen ?
Man bezeichnet als solche den ungenügenden Anteil der ostelbischen
Bevölkerung am Grundbesitze und die Aussichtslosigkeit, eine höhere
soziale Stufe zu erklimmen, die Eigenart der Landwirtschaft unter
*) Nach der Zählung von 1895 entfielen in Prozenten auf die Altersgruppen
unter 20 Jahren 20 — 30 Jahre 30 — 50 Jahre 50 Jahre u. darüber
in d. Landwirtschaft 22,3 21,2 31,1 25,4
in der Industrie . 21,9 28,0 35,7 14,4
„Die deutsche Volkswirtschaft am Ende des XIX. Jahrhunderts“, S. 34 — 35.
*) „Der Arbcitsmangel in der deutschen Landwirtschaft. Seine Ursachen und
die Mittel zur Abhilfe.“ Schöneberg-Berlin, F. Teige, 1901, S. 4.
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254
Leo Verkauf,
bestimmten Verhältnissen nur einer beschränkteren Menschenzahl
Beschäftigung gewähren zu können, insbesondere das rasche Er-
reichen des Sättigungspunktes zur Bevölkerungsaufnahme beim
Grofsgrundbesitz ; das Meiden der unrentablen Landwirtschaft durch
das Kapital, die Unlust zur ländlichen Arbeit, die steigende Wander-
lust, die Gesindeordnungen und die schlechte Behandlung, die den
ländlichen Arbeitern zuteil wird. Viele der angegebenen Momente
haben schon zu einer Zeit gewirkt, wo von Landflucht noch keine
Rede war, wo im Gegenteile auf dem Lande über Arbeitsmangel
und Arbeiterüberflufs Klage geführt wurde. Man mufs, ist man
auch bereit den angeführten Erklärungsversuchen mehr oder minder
erhebliche Bedeutung zuzuerkennen , dennoch die entscheidenden
Gründe suchen, die die Abwanderungsbewegung ausgelöst haben.
Es unterliegt keinem Zweifel, eine Vorbedingung für den Ab-
flufs der Massen vom Lande mufste zuerst vorhanden sein : eine
entwicklungsfähige und in rascher Entwicklung begriffene Industrie.
Hier ist der Punkt, wo die industriestaatliche Entwicklung mit ihrer
Einwirkung aul die Landwirtschaft kräftig einsetzt. Was die über-
seeische Auswanderung nur im sehr bescheidenen Mafse vermochte,
das hat der industrielle Kapitalismus zustande gebracht, er hat Raum
geschaffen für das Abwanderungsbedürfnis der ländlichen Massen.
Das vermochte er, mehr aber nicht. Es mufste noch ein un-
widerstehlicher Antrieb kommen, der die bodenständige konservative
Bevölkerung des platten Landes in Bewegung zu setzen und aus
der gewohnten Beschäftigung und Umgebung, aus den traditionellen
Verhältnissen zu treiben die Kraft besafs. Dieser Antrieb kam und
wirkt seit Jahrzehnten revolutionierend auf die Verteilung der Be-
völkerung zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Land-
wirtschaft.
Der eigenartige Charakter und die neuere Entwicklung des
landwirtschaftlichen Gewerbes geben den Schlüssel zum Verständ-
nisse des Prozesses, der zu den heutigen Zuständen geführt hat.
In der mitteleuropäischen Landwirtschaft fallen die wichtigsten
Arbeiten, die im Freien verrichtet werden müssen, in die wärmere
Jahreszeit. Der Winter ist seit jeher zur Durchführung der Arbeiten
benützt worden, die nur unter dem schützenden Dache möglich
sind. Die Kürze des Tages, wie die rauhe Witterung verhindern
im Winter umfangreiche Arbeiten im Felde. Je rauher das Klima,
je kürzer der Sommer, umso kürzer auch die Vegetationsperiode,
umso stärker das Zusammendrängen der entscheidenden Wirtschafts-
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Agrarschutz und Sozialreform.
255
arbeiten auf einen Teil des Jahres. Die Eigenwirtschaft, wie der
extensive Betrieb ermöglichten trotzdem die Herstellung des Gleich-
gewichtes zwischen dem Arbeitsbedarf in der Sommer- und Winter-
periode. Schon der Rückgang der gewerblichen Eigenproduktion
der Landwirte verschieben dieses Gleichgewicht zu Ungunsten des
Winterbedarfs. Man beginnt über Mangel an Arbeit in der Winter-
periode, über zuviel Arbeitskräfte zu klagen. Das spielt sich unter
einer vorwiegend extensiven Bodenbewirtschaftung ab.
Die epochemachenden Forschungen Liebig’s ermöglichen den
Uebergang zur intensiven Landwirtschaft und bewirken eine enorme
Steigerung der Anbaufläche, v. d. Goltz schätzt, wie schon oben
bemerkt, die Brache zu Beginn des XIX. Jahrhunderts auf 25 Proz.
des landwirtschaftlichen Areals, während sie im Jahre 1893 auf
5,9 Proz. gesunken war. Die gestiegene Anbaufläche, wie die
gröfsere Menge an Arbeit, die der intensive Betrieb erfordert, rufen
ein enormes Wachsen des Bedarfes an Arbeitskräften hervor. Ben-
sing1) unternimmt es, das Mafs dieser Steigerung rechnerisch fest-
zustellen. Seine Ziffern haben meines Wissens bisher keine An-
fechtung erfahren. Sie dürfen hier wegen der charakteristischen Be-
leuchtung der agrarischen Entwicklung wiedergegeben werden.
Nach B e n s i n g würde eine Wirtschaft von 60 Hektar Umfang,
bei der alten Dreifelderwirtschaft, 573 Männer- und 1 39 Frauentage
(Fall I), bei dem Norfolker Fruchtwechsel 567 Männer- und 1048
Frauentage (Fall II) und beim Fruchtwechsel mit starkem Rübenbau
774 Männer- und 2405 Frauentage (Fall III) erfordern. Die Steigerung
des Arbeiterbedarfes ist also eine gewaltige und es wird rätselhaft,
warum gerade zur Zeit der Uebergangs zum intensiven Betrieb die
Klagen über Arbeitsmangel im Winter laut werden. Will man die
Wirkung dieses Ueberganges auf die Arbeitsverteilung untersuchen,
dann darf man nicht bei Konstatierung des erhöhten Bedarfes an
Arbeitertagen stehen bleiben, man mufs Helmehr prüfen, wie sich
dieser gesteigerte Bedarf auf die Sommer- und Winterperiode ver-
teilt. Es betrug das Erfordernis an Arbeitertagen
im Sommer im Winter
im Falle I 262 450
im Falle 11 II 99 416
im Falle III 260S 571.
*) „Der Finflufs der landwirtschaftlichen Maschinen auf Volks- und Privat-
wirtschaft*4; Breslau, Schlcttcr’sche Buchhandlung, S. 98.
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256
Leo Verkauf,
Nimmt man nach Bensing die sommerliche Arbeitsperiode mit
180, die winterliche mit 120 Tagen an, so ergibt sich ein durch-
schnittlicher Tagesbedarf an Arbeitern
im Sommer im Winter Winter gegen Sommer
im Falle I i ,45 3*75 + 2.30
im Falle II 6,66 3,47 — 3,19
im Falle III 14,49 4,76 — 9,73
Das Bedeutsame ist jetzt nicht allein die Steigerung des Be-
darfs an Arbeitskräften, sondern auch die Thatsache, dafs diese
Steigerung sich fast zur Gänze auf die Sommerperiode beschränkt,
wodurch der Abstand zwischen Sommer- und Winterbedarf, sowie
das Ueberwiegen des ersteren immer gröfseren Umfang annimmt. Bei
der Dreifelderwirtschaft giebt der Ackerbau im Winter mehr Arbeit
als im Sommer, beim Fruchtwechsel tritt eine Umkehrung dieses
Verhältnisses ein. Kommt noch Rübenbau hinzu, so erfolgt eine
Vcrzchnfachung des Sommerbedarfes neben einer kaum nennens-
werten Zunahme des Erfordernisses im Winter. Es entspricht der
Wahrheit, wenn behauptet wird, dafs die Intensifikation des Acker-
baues eine gewaltige Steigerung des Arbeiterbedarfes bewirkt hat.
Sie hat aber diese Steigerung nur für die Sommerperiode herbei-
geführt, während sie gleichzeitig für den Winter eine Armee über-
schüssiger Hände schuf. Der intensive Betrieb hat die
Landwirtschaft zu einem Saisongewerbe gemacht und
eine agrarische Reservearmee auf dem platten Lande
für den Winter geschaffen.
Die Wirkungen dieser Umgestaltung der Arbeitsverteilung wurden
von den Landarbeitern seit Jahrzehnten bitter empfunden. Nach
v. d. Goltz1) war besonders die Situation der Einlieger eine un-
günstige, umso ungünstiger, je länger der Winter dauerte, daher
am schlimmsten im Norden und Osten. In manchen Gegenden
fanden sie auch im Winter fortdauernde Arbeit. Als Regel durfte
jedoch gelten, dafs die Einlieger während der rauhen Jahreszeit
nicht soviel verdienten, um ihre Lebensbedürfnisse in angemessener
Weise befriedigen zu können. War es unmöglich , im Sommer
etwas zurückzulegen, so mufste man im Winter darben. Kam gar
noch Mifswachs oder Krankheit dazu, dann erreichte die Not einen
hohen Grad. Sobald sich die erste Gelegenheit dazu bietet, er-
J) „Die ländliche Arbeiterfrage und ihre Lösung“. Danzig, Kafcmann, S. 44.
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Agrarschutz und Sozialrcform.
257
greifen die Landarbeiter vor dem regelmäfsigen VVintergaste, dem
Hunger, die Flucht. Dieser Prozefs wird, wie schon oben angedeutet,
durch den Uebcrgang von der geschlossenen Hauswirtschaft, der
Eigenproduktion gewerblicher Erzeugnisse, zum Ankauf derselben
verstärkt1)
Allmählich verschwinden die Klagen über mangelnde Winter-
beschäftigung, es treten an ihre Stelle die Beschwerden über den
Leutemangel in der Sommerperiode. Setzen sich die Landarbeiter
gegen die regelmäfsig wiederkehrende Wintersnot durch Entlaufen
in die Städte zur Wehr, so greifen die Landwirte gegen ihre
Sommersnot zur arbeitsparenden Maschine. Wohl begegnet man
noch der Behauptung, die Maschine steigere nur den Bedarf an
Arbeitskräften. Man versucht auch den Nachweis, die Maschinen-
arbeit mache nur für bestimmte Oertlichkeiten und für eine Ueber-
gangszeit Handarbeit überflüssig. Daneben wird auch die Ansicht
verfochten, die Maschine erspare lediglich den durch die intensive
Wirtschaft gesteigerten Arbeiterbedarf, der sonst unbefriedigt bliebe,
die agrarische Bevölkerung des Jahres 1882 hätte gerade genügt,
um den Boden nach der alten Dreifelderwirtschaft zu bebauen.*)
< legen die letztere Annahme spricht die Thatsache, dafs im Jahre
1883 die Brache nur mehr 7 Proz. betrug, die intensive Kultur also
sehr weit vorgeschritten war, während die Maschinen erst in be-
scheidenem Umfange in Verwendung standen. Es scheint mir aber
vorerst gleichgültig, ob die landwirtschaftlichen Maschinen vorhandene
Arbeitskräfte überflüssig machen oder fehlende Kräfte ersetzen. Die
arbeitsparende Wirkung der wichtigsten landwirtschaftlichen Ma-
schinen steht unanfechtbar fest. Auch hierfür sind die Berechnungen
Bensing’s, die von anderer Seite Bestätigung gefunden haben, von
überzeugender Kraft. Sie sind von so grofsem Interesse, dafs ich
das Endergebnis hier wiederhole. Bei einem Wirtschaftsareale von
310 Hektar wären bei ausschliefslichcr Verwendung von Handarbeit
5242 Männer- und 8052 Frauentage, sowie eine Lohnsumme von
17525 Mark erforderlich. Bei Einführung der gebräuchlichen Maschinen
und Legung einer Feldbahn vermindert sich, wie im einzelnen be-
rechnet wird, das Erfordernis auf 3717 Männer-, 4228 Frauentage
*) Gegenüber der Steigerung des Arbeitsbedarfes mag die Flurbereinigung ein
Gegengewicht gebildet und die Steigerung um etwas vermindert haben. Siehe
Fohle a. a. O. S. 44 u. 48.
f) Brase a. a. O. S. 62. Bensing a. a. Or. S. 12 ff.
Archiv fiir ior. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 17
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258
Leo Verkauf,
und eine Lohnsumme von 9262 Mark. An Details sei aus der»
Berechnungen hervorgehoben, dafs die Benützung des Göpelbetriebes
die für die Viehhaltung erforderlichen Männertage von 1184 auf
220 herabsetzt. Die Getreidemähmaschine drückt den Bedarf von
je 180 Männer- und Frauentagen auf 45 Männertage herab. Bei
Benützung der Grasmähmaschine, des Heuwenders und Heurechens
sinkt das Erfordernis von 624 Männer- und 1400 Frauentagen auf
197 Männertage.
Entscheidende Bedeutung kommt aber auch hier meines Er-
achtens dem Umstande zu, dafs die Maschine dem Saisoncharakter
des landwirtschaftlichen Gewerbes, den die Intensifikation des Be-
triebes geschaffen hat, weiter verschärft Dies gilt vor allem von
der Dreschmaschine, die den Flegeldrusch ersetzt und dadurch den
Winterbedarf an Arbeitern für den Ackerbau fast auf Null herab-
drückt. So erklärt es sich, wenn v. d. Goltz nicht müde wird,
immer und immer wieder darauf hinzuweisen, dafs die Dresch-
maschine bei all ihrer Nützlichkeit für den Grundbesitzer einen un-
heilvollen Einflufs auf die ländlichen Arbeiterverhältnisse ausübe.
Zur Abwanderung nach den Städten und Industriebezirken habe
dieser Umstand in zahlreichen Fällen die Hauptveranlassung geboten.
Von einer beschränkteren Anwendung der Dresch-, besonders der
Dampfdreschmaschine sei die Erhaltung zahlreicher Arbeitskräfte
auf dem Lande auch für den Sommer zu erhoffen. Der Drescher-
lohn habe früher in günstigeren Jahren wenigstens so viel Korn
geliefert, dafs eine Arbeiterfamilie genug Brot für das ganze Jahr
hatte.1)
Welch grofee Bedeutung der Beseitigung des Flegeldrusches
zukommt, ergibt folgende Berechnung. Nach Bensing drischt ein
tüchtiger Arbeiter mit dem Flegel in 10 Stunden zirka 150 kg Ge-
treide, so dafs zum Ausdreschen von 10000 kg 66,6 Mann erforder-
lich sind. Eine mittclmäfsige Dampfdreschmaschine leistet bei einer
Bedienung von 20 Leuten in 10 Stunden 10000 kg, woraus sich
eine Ersparnis von mehr als zwei Drittel der bei dem Flegeldrusch
erforderlichen Arbeitskräfte ergibt. Im Jahre 1895 hatten 259564
landwirtschaftliche Betriebe Dampfdrusch eingefiihrt. Ich berechne
die landwirtschaftlich benützte Fläche dieser Betriebe mit etwa
8400000 Hektar, demnach mit 25 Proz. der gesamten Ackerfläche.
„Die ländliche Arbeiterklasse und der preufsischc Staat“. S. 144. Hand-
wörterbuch der Staatswissenschaften. 2. Aufl., Bd. VI, S. 476.
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Agrarschutz und Sozialreform.
259
Berechnet sich der deutsche Körnerertrag mit 185 Millionen Meter-
zentner, so entfallen auf die Dampfdruschbetriebe hiervon 46 Milli-
onen Meterzentner. Das bedeutet beim Flegeldrusch ein Erfordernis
von über 30 Millionen Arbeitstagen, daher beim Dampfdrusch eine
Ersparnis von 20 Millionen Tagen. Dabei bleibt die weitere Er-
sparnis durch die sonstigen Dreschmaschinen, die im Jahre 1895
in 596869 Betrieben in Verwendung standen, völlig aufser Betracht.
Ware es möglich, den gesamten Körnerertrag mittels Dampfdrusch
zu verarbeiten, so würde die Ersparnis auf 80 Millionen Arbeitstage
wachsen.
Das scheint mir jedoch nicht die wichtigste Wirkung des
Maschinendrusches zu sein, die arbeitsparende Eigenschaft hat er
mit anderen Maschinen gemein. Die Drescharbeit war aber bisher
die wichtigste Winterarbeit. In der Berechnung Bensing's entfallen
in der Winterperiode von den 1550 Männer- und 432 Frauentagen
nicht weniger als 1440 Männer- und 52 Frauentage auf die Dresch-
arbeit. Die Wirkung der Dreschmaschine ist also eine Verschärfung
des Saisoncharakters der Landwirtschaft, eine Vergröfserung der
durch die intensive Wirtschaft geschaffenen Wintersnot.
Nach Gustav Fischer macht jeder Maschinendreschtag 47 Winter-
arbeitstagc überflüssig. Beim Handdrusch entfallen noch 30 Proz.
der Männertagc auf die Winterperiode, bei Einführung des Maschinen-
drusches nur wenig über 4 Proz. Die Männerarbeit ist damit beim
Ackerbau für den Winter förmlich ausgeschaltet. Wird die Zahl
der Dreschtagc beim Handdrusch für sämtliche landwirtschaftlichen
Betriebe mit 120 Millionen angenommen, so stellt das die Zahl der
Tage dar, um welche der Winterbedarf bei allgemeiner Einführung
des Maschinendrusches sich vermindern würde. Die Winterperiode
mit 120 Arbeitstagen gerechnet, bedeutet das einen Minderbedarf
von 1 Millon Vollarbeiter. Schon heute hat die Einführung des
Maschinendrusches die Winterarbeitstage um 30 Millionen, die Zahl
der Vollarbeiter um 250000 vermindert. Von 1882 auf 1895 hat
sich die Zahl der Dampfdruschbetriebe von 75690 auf 259364, die
der sonstigen Maschinendruschbrtriebe von 298367 auf 596869 er-
höht Schon das Wachsen des Dampfdrusches hat in der W'inter-
periode 21 Millionen Arbeitstage und 175000 Vollarbeiter über-
flüssig gemacht.
Dabei ist der Prozeis der Ersetzung des Flegeldrusches durch
Maschinendrusch noch nicht weit vorgeschritten. Im Jahre 1882
hatten erst 7,1 Proz., im Jahre 1895 15,4 Proz. der landwirtschaft-
17*
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2ÖO
Leo Verkauf,
liehen Betriebe den Uebergang vollzogen. Auch wenn alle vor-
handenen Schwierigkeiten berücksichtigt werden, unterliegt es keinen.
Zweifel, dafs der gröfsere Teil der Körnerbau treibenden Landwirte
in absehbarer Zeit zum Maschinendrusch, vielleicht mit Hilfe der
Elektrizität übergehen werden. Gustav Fischer erklärt geradezu,
es hiefse Eulen nach Athen tragen, wollte man erst den Nachweis
erbringen, dafs die Dreschmaschine für Betriebe bis auf sehr geringe ,
Gröfsen hinauf, mit Vorteil zu benützen sei.
Der Entwicklungsfähigkeit der anderen landwirtschaftlichen Ma-
schinen stehen vielfache Hindernisse im Wege: Ungunst des Terrains,
Bodenzersplitterung, kurze Benutzungsdauer, Düngerbedarf, die öko-
nomische Rückständigkeit vieler I .and wirte. Dennoch unterliegt
es keinem Zweifel, dafs die Maschinenbenützung bei der I and Wirt-
schaft erst am Beginne der Entwicklung sich befindet und grofse
Ausdehnungsfähigkeit besitzt. Die Betriebsgröfsen, bis zu welchen
Maschinen mit Nutzen zur Verwendung gelangen können, sollen
hinunter bis zu den Kleinbetrieben reichen. Dabei wird der Ma-
schine auch noch die Aufgabe zuerkannt, die Landwirte von den
Arbeitern unabhängiger zu machen und sie in die läge zu ver-
setzen „übertriebene“ Lohnforderungen abzuweisen, ein neuer An-
trieb zu ihrer rascheren Einführung.
Das Ergebnis der Untersuchung gipfelt in zwei Thatsachen :
Vor allem steht fest, dafs, wenn man von der Leutenot auf dem
lande spricht, dies nicht etwa bedeutet, die Landwirtschaft leide
das ganze Jahr hindurch unter dem Arbeitermangel. Vielmehr
herrscht in der Winterperiode schon jetzt und wird in Zukunft im
steigenden Mafse Arbeitsmangel herrschen. Der I andwirtschaft ist
mit einem stabilen, das ganze Jahr beschäftigten Arbeiterstock nicht
zu helfen, sie bedarf eines reichen Reservoirs, aus dem sie, den
stark wechselnden jeweiligen Erfordernissen entsprechend, Arbeits-
kräfte in der Sommerperiode für Wochen, Tage, ja selbst für
Stunden schöpfen könnte. Der Leutenot ist demnach nur durch
Beistellung einer zahlreichen agrarischen Reservearmee beizukommen.
Daher auch die Vorliebe für „freie“ Arbeiter, der steigende Bedarf
an Sachsengängern, die nach beendeter Arbeit einfach ihrem Schick-
sal überlassen werden können. Dazu tritt die zweite Thatsache,
dafs die fortschreitende Intensifikation des Betriebes und die Aus-
breitung des Maschinendrusches den Saisoncharakter der Landwirt-
schaft, damit aber auch das Gebiet der Wintersnot geschaffen hat,
die immer neue Flüchtling in die Städte treibt, solange dort eine
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Agrarschutz und Sozialrcform.
261
in Ausdehnung begriffene Industrie die herbeiströmenden Scharen
aufzunehmen bereit ist. Die wohlgemeinten Ratschläge v. d. Goltz
werden an diesem Zustande nichts ändern. Die Maschinenarbeit
bietet so grofee Vorteile und die Verbilligung der Produktionskosten
ist zu sehr eine Lebensfrage für die deutsche Landwirtschaft, als
da£s hier heute eine Halt möglich wäre. Brackhaus berechnet
die Produktionskosten der preufsischen Landwirtschaft mit 7470,4
Millionen Mark, wovon nahezu die Hafte auf Arbeitslöhne ent-
fallen sollen. Hier, wie an den Gespannkosten zu sparen, sei vor
allem durch Maschinenarbeit möglich. Der Triumphzug der land-
wirtschaftlichen Maschinen wird auch aus diesem Grunde so wenig
aufzuhalten sein, als die steigende Benützung von Dampf und Elek-
trizität in der Industrie. Damit scheint aber das Schicksal der
I .and Wirtschaft als Saisongewerbe besiegelt und so eine stete Quelle
der Vertreibung der Landarbeiter in die Städte geschaffen. Brack -
haus scheut sich nicht aus diesem Sachverhalt die Konsequenzen
zu ziehen. Er sieht den einzigen Ausweg, um nicht an der Durch-
führung der unvermeidlichen Arbeitsteilung durch die Notwendig-
keit gehindert zu werden, die Arbeiter durch das ganze Jahr zu
beschäftigen, in den Wanderarbeitern. Er ist bereit selbst die Ge-
fahr in den Kauf zu nehmen, dafs durch sie die „sozialistischen
Irrlehren“ auf dem Lande verbreitet werden. ') Auch die deutschen
Landwirte neigen dieser Auffassung zu. Die Zahl der Sachsen-
gänger ist demgemäfs stark gewachsen. Kärger4) schätzt sie im
Jahre 1889 mit 75000, v. d. Goltz IO Jahre später mit 2 — 300000.
Nötigt die Landflucht zur Verwendung von Sachsengängern, so ver-
stärkt diese wieder die Abwanderung, indem sie auch im Sommer
die Arbeitsgelegenheit für die einheimischen Arbeiter vermindert.
Aus der von 1882 — 1895 gestiegenen Gesindehaltung folgert
Rauchberg*), dafs die Klagen über Dienstbotenmangel nicht
*) Conrad s Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. 3. Folge, Bd. 8,
S. 365 »• 374-
*) „Die Sachsengängerci.“ Berlin, Paul Parey, 1890. S. 257.
*) Es betrug die Zahl der
1882 1895
Knechte 973258 1068096 (-(- 94 838 = 9,7 Proz.)
Mägde 615830 65078g (+34939 = 5,7 „
zusammen 1589088 1 718885 (+129 797 = 8,2 Proz.)
Rauch b erg, in diesem Archiv, Bd. XIV, S. 639.
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2Ö2
Leo V erkau f,
ganz begründet seien. Ich schliefse im Gegenteil daraus, dafs die
Landwirte vielfach zur Gesindehaltung auch dort genötigt sind, wo
ökonomisch für sie die Taglöhnerarbeit vorzuziehen wäre.
Wo und wann die Entwicklung der deutschen Landwirtschaft
zum Saisongewerbc Halt machen wird, oder ob, wenigstens in den
Gebieten des Grofsgrundbesitzes, mit der Entstehung amerikanischer
Zustände gerechnet werden mufs, läfst sich kaum Vorhersagen, da
die gegen einander wirkenden Kräfte nicht abschätzbar sind. Jede
industrielle Krise verringert die Gelegenheit zur Landflucht, ver-
gröfsert die argrarische Reservearmee, ermöglicht damit die 1 lerab-
drückung der Löhne und verzögert so in etwas den Uebcrgang zur
Maschinenarbeit. Steigt die Abwanderung durch industriellen Auf-
schwung und nötigt dadurch zur Steigerung des I .ohnes, so be-
schleunigt dies wieder die Ersetzung der Hand- durch Maschinen-
arbeit.
VH.
Cianz anders erklären die Agrartheoretiker die Massenlandflucht.
Nach Moritz Naumann hätten die Thatsachcn gezeigt, dafs mit
fallenden Getreidepreisen sich überall die Zahl der Landarbeiter ver-
mindert habe. Es folgert daraus, dafs erhöhte Getreidepreise eine
Vermehrung des Arbeiterbedarfes in der Landwirtschaft zur Folge
haben müfsten. Die Höhe der Getreidepreise sei demnach nicht
blofs für die Grundbesitzer von Bedeutung: Auch für die landwirt-
schaftlichen Arbeiter hänge von angemessenen Agrarzöllen das Ver-
bleiben bei ihrem Berufe ab, weitgehender Preisdruck nötige sie,
sich einer nichtagrarischen Beschäftigung zuzuwenden. ')
Adolf Wagner neigt der Ansicht zu, dafs durch gesteigerte
Rentabilität des Ackerbaues eine Entlastung des städtischen Arbeits-
marktes eintreten werde. Er meint offenbar, dafs die Landwirt-
schaft dann nicht gezwungen sein werde, die Agrarbevölkerung
in die Industrie abzustofsen. -) Pohle, der auf Grund der Ergeb-
nisse der Agrarstatistik der landwirtschaftlichen Technik ein glän-
zendes Zeugnis ausstellt, erwartet für die Zukunft als. Wirkung un-
günstiger Getreidepreise, dafs viele Landwirte zur Herabdrückung
der Produktionskosten die Ausgaben für Dünger und Bodenbestellung
’) „Korn/.oll und Volkswirtschaft.“ Eine Streitschrift von Moritz Naumann,
Leipzig 1901. I)uncker und llumblot, S. 26 — 27.
*) a. a. (). S. 4t, 97.
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Agrarschulz und Sozialrcfortn.
263
«inschränken würden. Manche Betriebe würden den Getreidebau
überhaupt einstellen. Mit dem Rückgang der inländischen Körner-
produktion müsse sich aber der Bedarf an Arbeitskräften verringern.1)
Nach D i e h 1 bewirken niedrige Getreidepreise häufige Brot-
losigkeit der Landarbeiter, da bei verminderten Preisen viele Leute
nicht mehr beschäftigt werden können. *)
Der Gedanke, der dieser Argumentation zugrunde liegt, läfst
sich also dahin zusammenfassen: Heute nötigt die Unrentabilität
des Körnerbaues zur Einschränkung desselben, zur Entlassung von
Arbeitern und zur Abwanderung. Getrcidezöllc von entsprechender
Höhe würden mit gesteigerter Rentabilität einen Ansporn zum ver-
mehrten Getreidebau bilden, die 1 .andwirtschaft wäre dadurch in
die Lage versetzt, einer grölseren Arbeiterzahl Beschäftigung zu
bieten und damit die Landflucht einzudämmen.
Wenn anders die Erfahrungen der Vergangenheit mehr Gewicht
beanspruchen dürfen, als Prophezeiungen für die Zukunft, dann mufs
die obige Argumentation mit der Erage stehen und fallen: Haben
die sinkenden Preise bisher eine Abnahme der Anbaufläche oder
des auf die Flächeneinheit entfallenden Rohertrages in Deutschland
herbeigeführt oder nicht? Die Antwort lautet nicht nur für das
XIX. Jahrhundert als Ganzes, sondern auch für die letzten zwei De-
zennien desselben, der Zeit der gröfsten Preisdepression, verneinend,
wie wir zum Teil schon oben gesehen haben. Prüfen wir die Tliat-
sachen noch näher.
Nach D a d e !1) stellt sich die Preisentwicklung für die Tonne
Getreide in Mark wie folgt:
Preufsen Bayern
Periode
Weizen
Koggen
Weizen
Roggen
1870—79
222
169
244
'79
1880 — 89
185
'54
210
l66
I 890 — 99
169
‘47
184
156
Wären die agrarischen Behauptungen richtig, dann müfstc mit
Ende der 70 er Jahre ein Rückgang der Anbaufläche, eine Vermin-
derung der intensiven Bodenbewirtschaftung und des Rohertrages
begonnen und sich bis heute fortdauernd verschärft haben, ln
') a. a. O. S. 174.
*) a. a. O. S. 37.
’) Schriften des Vereins für Sorialpolilik. Bd. 9!, S. 19.
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264
Leo Verkauf,
Wirklichkeit ist nichts von all dem eingetreten. Es betrug die An-
baufläche in 1000 Hektar für
Weizen
Roggen
1878
2,217
5.935
1885
2,294
5.*42
1886—90
2,306
5,824
1891—95
2,308
5,822
1896—99
2,283
5.941
Conrad zieht aus diesen Zahlen den Schlufs, dal's trotz der
ungünstigen Preise ein Rückgang der Anbaufläche nicht stattge-
funden habe. Der Getreidebau habe seine alte Bedeutung voll-
ständig bewahrt, indem auf denselben in den Jahren
1878 — 59,79 I’roz.
1883 — 60,06 „
1893 — 60,94 n
der bebauten Fläche entfielen. *) Auch der Ernteertrag hat keine
Verminderung, vielmehr eine starke Zunahme aufzuweisen, wobei
freilich die Daten der Erntestatistik mit Vorsicht zu gebrauchen
sind. Pohle, der von der sinkenden Rentabilität des Körnerbaues
einen Rückgang der intensiven Kultur befurchtet, ist doch genötigt
hervorzuheben, wie grofs die Ertragssteigerung nicht allein im letzten
Jahrhundert, sondern in der Zeit der Preisdepression gewesen ist.
Private, wie öffentliche Nachweisungen bestätigen dies. *) Man inufs
deshalb zustimmen, wenn Conrad erklärt, das wichtigste Ergebnis
der Statistik sei die Thatsache, dafs die Landwirte trotz der nie-
drigen Preise es nicht für angezeigt gehalten haben, den Getreidebau
einzuschränken. Das gilt für die Anbaufläche, wie für das Mafs der
intensiven Wirtschaft.
Dieses Ergebnis wird jedem verständlich sein, der die Dinge
nicht durch die agrarische Brille betrachtet. Bei sinkender Rentabilität
des Körnerbaues steht dem Landwirte theoretisch nicht blofs der
Weg offen, durch verminderte Intensität oder gar durch völliges
Aufgeben des Getreidebaues auf ungünstigem Boden, die Produk-
tionskosten herabzudrücken. Statt der Rückkehr zur extensiven
Wirtschaft ist unter gegebenen Voraussetzungen ein Fortschreiten
*) Schriften des Vereins für Sozialpolitik. Bd. 90, S. 148.
*) Man vergleiche die Nachweisungen für einzelne Güter bei Conrad a. a. O.
S. 152 und Pohle a. a. O. S. 26.
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Agrarschutz und Sozialrcform.
265
in der Richtung erhöhter Intensität, d. h. Mehrverwendung von
Dünger, Ersatz der Hand- durch Maschinenarbeit, Beseitigung un-
ökonomischer Methoden und dergleichen möglich. Es unterliegt
keinem Zweifel, dafs in allen diesen Richtungen auch heute noch
und für lange Zeit viel zu thun übrig bleibt. Es ist aber ebenso
sicher, dafs dasjenige, was bisher geleistet wurde, nicht gering ge-
schätzt werden darf. Vor allem ist da anzuführen, dafe gerade in
den Jahren der Preisrückgänge die Ackerweide und Brache absolut,
wie relativ an Bedeutung verloren haben. Es entfielen auf dieselbe
Hektar in den Jahren
1883 — 3 33*> 830 = 1 2,7 Proz. der Fläche des Acker- und Gartenlandes
1893 — 2760350=10,5 „ „ „ „ „ „ „
1900—2285740=# 8,7 „ „ „ „ „
Auch die grofse Steigerung der Maschinenbenützung spricht nicht
für eine Rückkehr zur extensiven Bodenbewirtschaftung. Einen
Teil der Daten für die Jahre 1882 und 1895 haben wir schon an-
geführt. Die Entwicklung ist seit dem Jahre 1895 nicht stille ge-
standen. Brasc versichert z. B. , dafs in Insterburg der grofse
Umschwung im Maschinenhandel erst im Jahre 1896 eintrat, indem
die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Maschinen rapid stieg. ’)
Die verbesserten Arbeitsmethoden wirken nicht blofs arbeitsparend,
sondern auch ertragssteigernd. Durch die Benützung der Drill-
maschine ist eine erhebliche Ersparung an Saatgut — nach Bensing
um 20 Proz. — zu erzielen. Während beim Flcgeldrusch 20 Proz.
der Körner im Stroh bleiben, verringert sich der Verlust beim
Göpeldrusch auf 10 Proz., beim Dampfdrusch auf 5 Proz.1)
In Wirklichkeit hat also trotz der gesunkenen Preise die Anbau-
fläche nicht ab-, der Ernteertrag sicher zugenommen. Daneben ist
die Agrarquote im unaufhaltsamen Sinken begriffen. Kann dies mit
der verringerten Rentabilität des Getreidebaues in der Weise Zu-
sammenhängen, wie es die Agrarier behaupten ? Da der Getreidebau
sich nicht vermindert hat, ist die agrarische Annahme haltlos. 3)
‘) Brase, „Der Arbeitermangcl in der deutschen I.andwirtscbaft.“ S. 52.
*) Bensing a. a. O. S. 93.
*) Pohle giebt zu, dafs bisher solche Wirkungen noch nicht eingetreten sind.
Die I .and wirte seien im allgemeinen in der I-agc, einige Jahre hindurch auch bei
ungenügenden Preisen zu existieren, geradeso, wie sie mehrere Mifscrnten nach-
einander aushalten müfsten. Bleibt aber der Ausgleich für die ungünstige Periode
aus, mufs der Zusammenbruch unfehlbar erfolgen. Der Ausgleich sei eingetreten.
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266
1. eo Verkauf,
ln einem anderen Sinne läfst sich aber von einem solchen Zu-
sammenhang ganz wohl sprechen. Der Zwang an den Poduktions-
kosten zu sparen hat wesentlichen Anteil an dem Fortschreiten
arbeitssparender Methoden. Auf diesem Wege ist man zu dem Ergeb-
nisse gelangt, dafs heute die gleiche Personenzahl in der Landwirt-
schaft eine gröfsere Gütermenge erzeugt als früher. Nur so war
es ohne Beeinträchtigung des Ackerbaues möglich, dafs das platte
Land einen grofsen Teil seiner Geburtenüberschüsse der Industrie
überliefs.
Für die Gegenwart, wie für die Vergangenheit erweist sich
somit das gerade Gegenteil von dem als richtig, was die Agrar-
theoretiker behaupten. Darf nun angenommen werden, dafs wenig-
stens für die Zukunft steigende Körnerpreisf auch steigende Be-
schäftigung beim Ackerbau bewirken werden? Dies kann nur sehr
bedingt zugegeben werden. Soll die fortschreitende Verwendung
arbeitsparender Maschinen eine Unterbrechung oder Rückentwicklung
erfahren, so ist die Vorbedingung hierfür, dafs die landwirtschaft-
lichen Löhne eine stark sinkende Tendenz annehmen. Das ist nur
bei erheblichem Rückgang der Industrie zu gewärtigen. In der
That können ja hohe Agrarzölle die Nahrungsstaaten zu Repressalien
gegen den deutschen I-'abrikatenexport veranlassen. Ist die Industrie
dann aufser stände, die vom Lande abströmenden Massen aufzu-
nehmen, so werden dieselben, insoweit sie nicht vom Auslande ab-
sorbiert werden können, die agrarische Reservearmee vermehren.
Auf diesem Wege kann allerdings ein Druck auf den Arbeitsmarkt
entstehen, der die sinkende Tendenz der Löhne auslöst.
Erhöhte Agrarzölle können aber die Entwicklung auch in eine
andere Richtung drängen. Mit gesteigerter Rentabilität der Land-
wirtschaft kann eine Beschleunigung des technischen Fortschritts
liand in Hand gehen. *) Gesteigerte Bodenerträge, bei stärkerer
Maschinenbeniitzung würden ein weiteres Abströmen der ländlichen
einerseits weil einige günstige Jahre waren und ferner, weil die Landwirtschaft sich
mit der Hoffnung tragen konnte, dafs nach Ablauf der Handelsverträge eine Besse-
rung in der Handelspolitik cintreten w'ürde. Unterbleibe die Zollerhöhung, dann
werde der Getreidebau abbröckcln (S. 181 — 183). Das Gezwungene dieser Argu-
mentation leuchtet auf den ersten Blick ein.
*) Bensing giebt, wenn auch mit Kinschränkungen zu, dafs der Kapitals-
mangel neben fehlendem Verständnis vielfach Ursache der unterbleibenden Kinführung
arbeitsparender Maschinen ist. Tritt hier Besserung ein, dann wird die Maschinen-
arbeit in ganz anderen Dimensionen wachsen als bisher.
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Agrarschulz und Sozialreform.
267
Arbeiter in die Stadt zur Folge haben. Gerade durch Agrarschutz
kann also die Landflucht einen kräftigen Anstofs erfahren und die
Lebenshaltung der Industriearbeiter gefährden. Was bedeutet es
demgegenüber, wenn die steigende Einführung der landwirtschaft-
lichen Maschinen in Hütten, Bergwerken und Fabriken erhöhte Be-
schäftigung schafft? Nur ein Bruchteil der in der I^andwirtschaft
überschüssigen Massen kann dadurch absorbiert werden, der Lohn-
druck würde eine erhebliche Verminderung nicht erfahren.
VIII.
War bisher im Kampfe um die Agrarzölle der unverhüllte
Egoismus, die zugreifende Rücksichtslosigkeit der Grundbesitzer-
klasse herrschende Methode, so ist die neueste Agrarpolitik be-
müht, die einseitigen Interessen der Grundrentner aus der Front zu
-entfernen und an deren Stelle die der ganzen Nation durch die
sinkende Rentabilität des Körnerbaues angeblich drohenden Ge-
fahren zu setzen. Der Kampfruf soll nicht mehr lauten : hie teueres,
hie billiges Brot, sondern : Hie Deutschlands Unabhängigkeit, hie
Deutschland ein Vasallenstaat ! Der drohende Ruin der Landwirt-
schaft, der nahende Zusammenbruch der Exportindustrie, die Herab-
drückung der deutschen Arbeiter auf das Lebensniveau asiatischer
Kulis soll im Vordergrund der öffentlichen Diskussion stehen. Daneben
mufs die Rückwirkung des Agrarschutzes auf die Lebenshaltung der
Massen an Bedeutung verschwinden. So verblasst der antisoziale
Charakter der Agrarzölle, ja sie eignen sich einen gewissen sozial-
politischen Aufputz an. Diese Art von „Sozialpolitik“ redet freilich
mit Vorliebe von den Gefahren- einer fernen Zukunft, sie bekundet
dagegen für die Not des Augenblickes geringes Verständnis. Ueber
den Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten der Zukunft darf man
aber an der aktuellen Bedeutung der Agrarzölle für die Massen
nicht geringschätzig oder gleichgültig vorübergehen, vielmehr müssen
die Gefahren des Agrarschutzes gegenüber den Versuchen, sie als
minder wichtig zurückzudrängen, immer wieder in den Vordergrund
gerückt werden. Welches wird die Rückwirkung höherer Getreide-
zölle auf den Brotpreis sein, welchen EinfluCs wird der Agrarschutz
auf den Arbeitslohn ausüben ? Das sind Probleme, die immer wieder
Erörterung und Prüfung heischen.
In der Frage der Einwirkung auf den Brotpreis ist die Haltung
der Agrarier eine schwankende. Bis vor kurzem leugnete man noch
vielfach, dafs der Getreidezoll das Brot verteuere. Es galt gleichsam
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Leo Verkauf,
als Axiom : den Zoll trägt das Ausland. Diese Behauptung wurde
unhaltbar, weil die Kornzölle dann zwecklos und als fiskalische
Malsregel zur Besteuerung der N'ahrungsstaaten erscheinen müfsten.
Man bequemte sich allmählich die preissteigernde Tendenz der Zölle
zuzugeben. D a d e wie andere erklären, der Zoll sei für die letzten
Jahre voll zur Wirkung gekommen. ]) In einem Atem wird aber
versichert, es handle sich überhaupt nicht um eine Erhöhung des
Getreidepreises, sondern lediglich um eine Verhinderung weiteren
Preisdruckes. Die agrarischen Kreise strebten nicht nach abnormalen
Hochpreisen, sondern nach normalen Mittelpreisen. Das eigentliche
Ziel sei der „Erhaltungszoll*1. Nur die Aufrechterhaltung der bis-
herigen durchschnittlichen Rentabilität des Ackerbaues, nicht aber
die künstliche Erhöhung derselben, sei Zweck der Zölle. „Nicht
um eine wirkliche Verteuerung des Brotes, sondern nur darum, den
sonst eintretenden starken Prcisfall aufzuhalten“, handle es sich.
Demgemäfs werde den städtischen Konsumenten kein eigentliches
Opfer auferlegt, es entgehe ihnen nur ein Gewinn, der ihnen sonst
zugefallen wäre. *)
Die agrarische Theorie verficht aber doch die Ansicht, dafs der
heute unrentable Getreidebau rentabler gemacht werden müsse, d. h.
also wohl : eine Steigerung der jetzt erzielten Körnerpreise ist not-
wendig. In der That ist der Ausgangspunkt der vielfach gebilligten
Dade’schen Berechnung angemessener Körnerzölle, nicht etwa der
jetzt erzielbaren Getreidepreise oder der Durchschnittspreis der
Depressionsperiode. Als gerechtester Ausgangspunkt gilt ihm viel-
mehr der Unterschied zwischen den höchsten inländischen Produk-
tionskosten, soweit zu denselben noch grofse Getreidemengen er-
zeugt werden, und dem Preise, zu dem das billigst produzierende
Konkurrenzland das Getreide an die deutsche Zollgrenze bisher
liefert oder voraussichtlich wird liefern können. Es ergiebt sich
auf dieser Basis für das ungünstigste Jahr ein Weizenzoll von 95 Mark,
ein Roggenzoll von 85 Mark per Tonne. Zur Vermeidung einer
gleitenden Skala sei es aber gerechter, den 40jährigen Durchschnitts-
preis der Jahre 1860 — 1899 als Grundlage anzunehmen, in welchem
die Hochkonjunktur der 60 er und 70 er Jahre, wie der Niedergang
der 80 er und 90 er Jahre gleichmälsig zum Ausdruck kommen.
*) a. a. O. S. 42.
*) Wagner a. a. O. S. 96. — Moritz Naumann a. a. O. S. 55. — Pohle
a. a. O. S. 2, 3, 175, 196.
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Agrarschutz und Sozialrcform.
269
Blofs weil der so gefundene enorme Zoll bei Hochkonjunkturen sich
nicht aufrecht erhalten liefse, empfehle sich ein Zollsatz mittlerer
Linie von 65 Mark für Weizen und von 54 Mark für Roggen. *)
Mit der agrarischen Bescheidenheit ist es also, auch wenn man die
Forderungen des Bundes der Landwirte unbeachtet läfst, trotz alles
Rühmens, nicht weit her und die Behauptung, es handle sich um
keine Steigerung des Brotpreises nicht aufrecht zu erhalten.
In der That plaidieren die Agrartheoretiker bei Verteidigung
der Kornzölle auf mildernde Umstände. Pohle findet, dafs den
Arbeitern schlimmstenfalls, da die Brotpreise 1850 — 1880 höher
waren, als heute unter dem System des Zollschutzes, nur zugemutet
wird, auf einen erzielten Gewinn zu verzichten. Mit einem solchen
formaljuristischen Argument wird man der Sache nicht gerecht.
Man erweckt den Anschein, als handle es sich — in der Wirtschafts-
ordnung, die auf freier Konkurrenz und Yert ragsfrei heit beruht! —
um einen unrechtmälsigen Gewinn, der den Geschädigten wieder-
gegeben werden soll. Es wird dabei übersehen, dafs der „Gewann"
in Wirklichkeit nur darin besteht, dafs durch die Preisdepression
die Nahrungszufuhr der arbeitenden Klassen vielfach ebenso eine
Erhöhung erfahren hat, wie der Konsum anderer Güter. Der Ver-
zicht auf diesen „Gewinn“ durch Rückkehr zu höheren Brotpreisen
wäre gleichbedeutend mit Konsumabnahme, mit unzulänglicher Er-
nährung und ihren Folgen. Man sanktioniert damit den Grundsatz,
der Arbeiter habe wohl keinen Anspruch auf niedrige Brotpreise,
der Grundbesitzer dagegen habe ein Recht auf hohe Getreidepreise.
Das verbriefte Recht auf eine hohe Grundrente stellt sich so dem
' Anspruch auf Sättigung feindlich gegenüber.
Origineller ist, was ’ B a 1 1 o d zur Rechtfertigung hoher Agrar-
zölle vorbringt. Er berechnet, dafs die nichtagrarische Bevölkerung
bei einem Konsum im Werte von ca. 4 Milliarden Mark an die
Landwirtschaft durch Getreide-, Fleisch- und Holzzöllc eine Ueber-
bezahlung von 41 1 Millionen Mark leiste, was auf den Kopf eines
in der I Landwirtschaft Erwerbsthätigcn 54 Mark ergebe. Dagegen
betrage der Gewinn eines bei der Metallverarbeitung und der Textil-
und Schuhwarenindustrie Erwerbsthätigcn aus den Schutzzöllen im
Durchschnitte 154 Mark, insgesamt 341 Millionen Mark.5) So wird
’) Da de, a. a. O. S. 35 IT.
*) Ballod, „Die Bedeutung der Landwirtschaft und der Industrie in Deutsch-
land.“ Schmoller’s Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 1898,
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270
l.eo Verkauf,
im Handumdrehen der Beweis erbracht, dafs die Industriearbeiter
der genannten Berufe dreimal soviel an Ueberbezahlung erhalten,
als sie auf dem Wege der Agrarzölle leisten, so dafs sie auch
bei wesentlich erhöhten Brotzöllen noch immer die Gewinnenden
wären.
Fällt denn aber der Zollgewinn den Arbeitern in Stadt und
Land zu? Wäre die Wirkung der Zölle eine lohnsteigernde, dann
müfste in Deutschland bei den geschützten Gewerben der Lohn ein
höherer sein, als bei den nichtgeschützten, in den kontinentalen
I -ändern höher, als im freihändlerischen England. Dafs dies nicht
der Fall ist, darüber herrscht wohl kein Streit. Aber auch die
Thatsache darf nicht unbeachtet bleiben, dafs die Textil-, Metall-
und Schuherzeugnisse nur zum geringeren Teile von der Agrar-,
zum gröfseren von der Nichtagrarbevölkerung konsumiert werden.
Bei Berechnung des Tributs an die I-andwirtschaft scheidet B a 1 1 o d
vorsichtig den Eigenbedarf der Landwirte aus. Diese Vorsicht ver-
iäfst ihn, wie es sich um den Zollgewinn der Industriellen handelt.
Endlich mufs man, statt des Zollgewinnes, der nur einer Minder-
zahl der agrarisch und industriell Erwerbsthätigen zufällt, korrekter-
weise die Belastung der Massen durch die Agrar- und Industrie-
zölle berechnen. Legt man diesen Berechnungen die Ballod'schen
Ziffern zu Grunde, so findet man für den Kopf der nichtagrarischen
Bevölkerung eine Besteuerung durch Argrarzölle mit 12,34 Mark,
für die Agrarbevölkerung eine Belastung durch die erwähnten In-
dustriezölle mit 6,59 Mark. Aber auch damit wird man der Wirk-
lichkeit noch durchaus nicht völlig gerecht. Dem Arbeiter ver-
teuern ja die industriellen und agrarischen Zölle den Konsum zu
Gunsten der Unternehmer. Bei Unterscheidung von Gewinnenden
und Verlierenden mufs man Unternehmer und Arbeiter, nicht aber
agrarische und nichtagrarische Bevölkerung auseinanderhalten.
Nach der Auffassung von Pohle ist der Zweck der Agrarzölle
ein ganz anderer, als bisher angenommen wurde. Sie sollen die
Nahrungsstaaten nötigen, vom Raubbau zu intensiver Wirtschaft
überzugehen. Das Mittel des Agrarschutzes kann hier jedenfalls
Anspruch auf grofsc Originalität erheben. Im Grunde müfste wohl,
wenn cs sich um die Unabhängigkeit Deutschlands von den Nah-
rungsstaaten handelt , die Entwicklung des fremden Ackerbaues
S. 903fr. Auch Pohle ist der Ansicht, dafs die Landwirtschaft in der Hauptsache
die industriellen Schutzzölle trage.
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AjjrarschuU und Sozialreform.
271
gleichgültig sein. Aber angenommen, dafs der Weltmarktpreis auch
bei den höchsten Kornzöllen einen gewissen Einfiufs auf den
deutschen Markt behält, wie sollen Amerika, Ru Island, Argentinien
durch deutsche Zollerhöhungen zur Intensifikation ihres landwirt-
schaftlichen Betriebes gebracht werden? Durch Sperrung der
deutschen Grenze mufs, insoweit die Bevölkerungszunahme der
Nahrungsstaaten keinen gleichwertigen Ersatz bietet, ein Teil des
Getreides überschüssig werden, der Anbau zurückgehen und der
Ansporn zum Aufgeben des Raubbaues verschwunden. Zu inten-
siver Kultur greift man doch bei steigendem, nicht bei sinkendem
Bedarf. Der erhöhte Zoll wäre also ein geeignetes Mittel, die be-
ginnende Intensifikation aufzuhalten, nicht sie zu fördern.
Mufs die preissteigernde Wirkung der Brotzölle auch von Agrar-
riern, wenngleich mit allerlei Einschränkungen zugegeben werden,
so konzentrieren sich die Bemühungen umsomehr darauf, das den
Arbeitern zugemutete Opfer als ein zififernmäfsig geringes hinzu-
stellen. Es mufs schon befremden, wenn Angehörige der be-
sitzenden Klassen den Proletariern Rücksichtnahme auf die Inter-
essen der grundbesitzenden Schichten predigen. Auch ruhig und
leidenschaftslos denkende Volkswirte lassen dabei unbeachtet, worin
die geforderten Opfer in Wirklichkeit bestehen. Hunderttausende
werden durch gesteigerte Kornzölle kein blofses Geldopfer zu
bringen haben, vielmehr handelt es sich bei der Verteuerung der
Lebensmittel um eine Einschränkung der Lebenshaltung, also um
Opfer an Gesundheit und Lebensfreude. Man versucht seit einiger
Zeit in Deutschland den Kampf gegen die Tuberkulose als Volks-
krankheit zu organisieren. Die Agrarzölle müssen alle bisher auf-
gewendeten Bemühungen zunichte machen. Für die medizinische
Wissenschaft unterliegt es keinem Zweifel, dafs die unzureichende
Ernährung der Arbeiter die Tuberkulose zum ungeheuren Umfang
hat anw'achsen lassen, den man heute in Deutschland, wie ander-
wärts, mit Schrecken wahrnimmt. Zwingt man durch Steigerung
des Brotpreiscs den Massen in gröfserem Umfange Kartoffelnahrung
auf, als sie schon heute üblich ist, dann fördert man das weitere
Umsichgreifen der Tuberkulose. Diese Art von Opferwilligkeit
darf man aber bei niemandem erwarten, von niemandem fordern.
Sicher würde von den besitzenden Klassen, wenn von ihnen eine
Herabsetzung ihrer Lebenshaltung in bescheidenem Mafse verlangt
würde, eine solche Zumutung mit Entrüstung zurückgewiesen werden.
Die Kämpfe gegen die Einführung der Personaleinkommensteuer
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272
l.co Verkauf
sind hierfür in den meisten Kulturländern der schlagendste Beweis.
Ein Steuersatz von 5 Proz. oder gar darunter gilt überall als Ver-
mögenskonfiskation.
Was die zifTemmäfsige Höhe der Brotverteuerung betrifft, so
ist nur bekannt, dafs das Erträgnis der beschlossenen neuen Agrar-
zölle von der Regierung mit 175 Millionen Mark geschätzt wird.
Nimmt man den Einfuhrwert der landwirtschaftlichen Produkte mit
einem Viertel des lnlandskonsum an, so wäre die neue Belastung
mit etwa 700 Millionen Mark zu beziffern. Daraus ergäbe sich auf
den Kopf der Bevölkerung ein neuer Tribut von 12,5 Mark, für
eine fünfköpfige Familie eine Mehrbelastung von 62,5 Mark, wobei
auf die Verschiedenheit der Belastung in Stadt und Land keine
Rücksicht genommen ist. Berechnet man den Jahresverdienst eines
gewerblichen Arbeiters nach der Statistik der Berufsgenossenschaften
mit durchschnittlich 752 Mark, so fordert die Zollsteigerung dort,
wo der Durchschnittslohn identisch ist mit dem Familieneinkommen,
8,3 Proz. des Lohnes. Weit drastischer ist das Verhältnis, wenn
man die ortsüblichen Taglöhne als Grundlage der Berechnung wählt.
Diese gehen bis auf I Mark, ausnahmsweise selbst bis auf 80 Pfennige
herunter. Wie darf man hier Opferwilligkeit fordern, wie auch nur
die Möglichkeit von Opfern erwarten ?
Sch äffte') berechnet bei den Regierungsvorschlägen die Ver-
teuerung der vier Getreidearten mit 450 Millionen Mark, einschliefs-
lich des bisherigen Vertragszolles mit II 50 Millionen Mark. Dazu
rechnet er für weitere Agiarzölle 200 Millionen Mark. Insgesamt
ergiebt sich eine Neubelastung von 650, eine Vollbelastung von
1350 Millionen Mark. Darnach würde die Belastung auf den Kopf
der Bevölkerung einschliefslich der alten Agrarzölle 24 Mark, für
eine fünfköpfige Familie 120 Mark betragen oder nahe an 16 Proz.
des durchschnittlichen Jahresverdienstes.
Legt man einen Taglohn von Mark 2,50, der in Deutschland
gewil's keine Seltenheit ist, der Berechnung zu Grunde, so würde der
Tribut an die grundbesitzende Klasse künftig von einem Familien-
vater 48 Arbeitstage erfordern, von einem alleinstehenden Arbeiter
9,6 Arbeitstage.
Selbst Pohle gelangt dazu, die Steigerung der Belastung bei
einer Famlie auf 36,40 und 45,70 Mark, je nach der Höhe des Brot-
*) Ein Volum gegen den neuesten Zolltarilcntwurt'. Tübingen. II. Laupp,
J9°I, S. 34.
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Agrarschutz und Sozialrciorm.
2 73
konsums zu berechnen. Er giebt zu, dafs dies für Einkommen von
Soo — 1800 Mark eine erhebliche Rolle spielt. Wie schwer fällt
diese Belastung erst bei Einkommen von unter 800 Mark — und
diese sind wahrhaftig nicht gar selten — ins Gewicht.
IX.
Die entscheidende Krage ist vom Standpunkte der Sozialpolitik :
wie beeinflussen die Agrarzölle den Reallohn? Die preissteigernde
Wirkung des Agrarschutzes wäre milder zu beurteilen, würde sie
nicht gerade den Arbeitslohn am schwersten treffen.
Die Erörterungen über den Zusammenhang zwischen Kornzoll
und Lohn haben bisher alles an Klarheit zu wünschen übrig ge-
lassen. Der Arbeiter als Konsument stand im Mittelpunkt der
Diskussion, der Arbeiter als Produzent wurde mit mehr oder weniger
allgemeinen Redewendungen abgethan. Das unbestreitbare Verdienst
Dietzels ist es , eine ernsthafte Auseinandersetzung über diese
Frage herbeigeführt zu haben, indem er der Paralleltheorie die
Konträrtheorie gegenüberstellte. Die von ihm angewendete Methode
der Isolierung bringt es freilich mit sich, dafs nur die durch die
Zölle ausgelöste Tendenz der Lohnbewegung sich nachweiscn
läfst. Die dieser Tendenz entgegenwirkenden Kräfte bleiben un-
berücksichtigt. So berechtigt die isolierte Betrachtung ökonomischer
Phänomene ist, so bedarf sie doch einer Ergänzung. Diese besteht
in der Prüfung, ob und in welchem Mafse die ausgeschalteten wirt-
schaftlichen und sozialen Kräfte die herrschende Tendenz verstärken,
abschwächen oder gar in ihr Gegenteil umkehren. Von diesem
Gesichtspunkte bedarf sowohl die Parallel- als auch die Konträr-
theorie der ergänzenden Prüfung.
Nach der erstcren soll der Lohn mit fallendem Kornpreise
fallen, mit steigendem Kornprei.se steigen. Dies erkläre sich nun
so, dafs beim Sinken des Getreidepreises unter eine gewisse Grenze,
der Ackerbau unrentabel werde, weniger ergiebige Böden unbebaut
bleiben, bei anderen die extensive Wirtschaft wieder platz greife,
wodurch mit abnehmender Nachfrage nach Arbeitskräften eine Lohn-
senkung eintrete.
Was zeigt die Wirklichkeit? In der Zeit der schlimmsten Preis-
depression ist weder die Aufbaufläche noch die Intensität der
Wirtschaft zurückgegangen, die Agrarquote ist bei steigenden Löhnen
gefallen, das Gegenteil also von allem, was die Paralleltheorie be-
hauptet. Es ist nun allerdings denkbar, dafs jene Umstände, die
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. Io
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274
I. eo Verkauf,
bisher die behaupteten Wirkungen niedriger Kornpreise kompensiert
haben, einmal ausgeschaltet sein werden, indem der technisch hoch-
stehende rationelle Betrieb bei dem für den Markt produzierenden
Ackerbau die Regel bilden wird.1) Steigt dann mit den erhöhten
Produktionskosten der Ertrag nicht in gleichem Verhältnisse, dann
kann als Folge eintreten, da Cs die unrentabelsten Böden unbebaut
bleiben und der Arbeiterbedarf sinkt. Dieselbe Wirkung kann
allerdings auch durch steigende Kornpreise herbeigeführt werden,
wenn die steigende Rentabilität die Einführung landwirtschaftlicher
Maschinen beschleunigt. Unter den retardierenden Momenten spielen
bei Ersetzung der Hand- durch Maschinenarbeit neben Unkenntnis
und mangelnder Erfahrung auch die Anschaffungskosten eine ge-
wisse Rolle. Fällt dieses Hindernis dadurch weg, dafs dem land-
wirtschaftlichen Gewerbe Kapital in steigendem Mafse zuströmt,
dann ist eine Verminderung der Nachfrage nach Arbeitskräften
wahrscheinlich.
Aber selbst angenommen, sinkende Getreidepreise bedeuteten
wirklich eine sinkende Nachfrage nach Landarbeitern, so mufs auch
dann eine Senkung der Agrarlöhne nicht die Folge sein. Eine
isolierte Entwicklung der Löhne in der Landwirtschaft ist heute
weniger denn je denkbar. Uebt ja der städtische Arbeitsmarkt auf
den agrarischen entscheidenden Einflufs. Besitzt der Industriearbeiter
selbst in dem eingeschränkten Koalitionsrechte eine Waffe, die ihm
bis zu einem gewissen Grade organisierten Widerstand gegen
lohndriiekende Tendenzen ermöglicht, so kann der Landarbeiter nur
mit Hilfe der Freizügigkeit, der Möglichkeit des Aus- und Ab-
wanderns isolierten Widerstand leisten, der allerdings bei gün-
stiger industrieller Konjunktur die sinkende Lohntendenz in der
Landwirtschaft aufhaltend und in ihr Gegenteil verkehren wird.
Ebenso kann bei gesteigerter Rentabilität des Ackerbaues und Mehr-
bedarf an Arbeitskräften trotzdem eine Lohndepression eintreten,
wenn durch industrielle Krisen das Abströmen vom I^and gehemmt
oder gar eine Rückwanderung erzwungen wird. Diese Sachlage hat
*) Auch angesehene Volkswirte verfallen in den Kehler von der Annahme aus-
zugehen, dafs die Landwirtschaft alle nach dem Stande der Agrartechnik möglichen
und die Rentabilität nicht verschlechternden Mafsnahmen organisatorischer und wirt-
schaftlicher Natur bereits durchgefiihrt hat. Von diesem Standpunkt kann man na-
türlich leicht zur Behauptung gelangen, jede weitere Steigerung der Produktions-
kosten wirke nicht in gleichem Mafse steigernd auf die Rentabilität.
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Agriirfcchutz und Sozial reform.
275
ja der industriestaatlichen Entwicklung die ungeheuchclte Abneigung
der Agrarier zugezogen, die sehr wohl wissen, dafs nur durch
Unterbindung des Fabrikatenexports die Freizügigkeit der I^and-
arbeiter ihre Aktualität verlieren kann. Eine konsequente agrarische
Politik legt deshalb, von ihrem Standpunkte mit Recht, das Haupt-
gewicht auf die Hemmung der industriellen Entwicklung.
So grofs die Schäden sind, die die Industrie für die Arbeiter-
klasse im Gefolge hat, so ist sie in Europa, mit seinem Mangel än
freien Boden, in Wahrheit für die Masse der nur rechtlich von den
Banden der Hörigkeit befreiten Landarbeiter, das wichtigste Mittel
zur faktischen Befreiung von den feudalen Fesseln. Die Landflucht
allein vermochte bisher die Grundbesitzer zu günstigeren Arbeits-
bedingungen und besserer Behandlung der Arbeiter zu veranlassen.
Das wachsende Selbstbewufstsein des Industriearbeiters teilt sich
dem Landarbeiter mit. Man kennt dies in der Sprache der Grund-
besitzer die „steigende Unbotmäfsigkeit“. Das stumme Ringen, der
wortlose Emanzipationskampf der Landarbeiter ist ohne Entwicklung
städtischer und industrieller Zentren undenkbar.
Keine einzige Annahme der Paralleltheorie trifft also in Wirk-
lichkeit zu. Sinkende Rentabilität mufs nicht zur Verminderung
der Anbaufläche fuhren, auch nicht zur Abnahme der intensiven
Wirtschaft. Verminderte Nachfrage auf dem agrarischen Arbeits-
markte kann ebenso durch gesteigerte Kornpreisc herbeigeführt
werden. Bei Verminderung des Arbeiterbedarfes kann eine Lohn-
steigerung, bei Zunahme dieses Bedarfes eine Lohndepression die
Folge sein. Der ländliche Arbeitsmarkt führt heute kein isoliertes
Dasein, er wird stärker von den Vorgängen auf dem industriellen
Arbeitsmarkte, als von den Kornpreisen beeinflufst.
Ist damit ausgesprochen, dafs die Konträrtheorie als richtig
anzuerkennen ist ? Dietzel formuliert sie so : Die Folge einer
Kornpreissteigerung mufs ceteris paribus ein Lohnbaisse, die Folge
einer Kornpreisminderung eine Lohnhausse sein. Mit jedem Hinauf
des Brotpreises sinke die Nachfrage nach irgend welchen Dingen,
die entbehrlicher sind, als Brot. Die Wirkungen sind Absatzminde-
rung, Arbeiterentlassungen und Lohnsenkung. Das Umgekehrte
trete mit jedem Herab des Brotpreises ein: steigende Nachfrage
nach anderen Produkten, höherer Absatz, stärkere Beschäftigung
und steigende Löhne.
Dietzel selbst behauptet nur die Auslösung einer solchen
Tendenz in der Lohnbewegung, die durch entgegenwirkende Kräfte
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Leo Verkauf,
276
abgeschwächt oder aufgehoben werden kann. Er will auch die
Geltung der Konträrtheorie nur für lange Zeiträume in Anspruch
nehmen, während die Wirkung in kleineren Zeitabschnitten eine
wechselnde sein könne. Da die künstliche Steigerung des Korn-
preises hier vor allem in Frage kommt und diese mit dem Wechsel
der handelspolitischen .Machtverhältnisse, wie die Erfahrung be-
sonders in Deutschland lehrt, kaum längere Zeit aufrecht zu er-
halten ist, so giebt für die aktuelle Handelspolitik Dietzel eigent-
lich selbst die Konträrtheorie preis. Es soll also hier nur gezeigt
werden, welche Momente bei künstlichen Steigerungen des Preises
einer Verminderung der Produktion entgegen wirken können. Eine
solche Rolle kann dem Export zufallen. Erfolgt die Verminderung
des nationalen Bedarfes an Konsumartikeln zur Zeit einer günstigen
Weltkonjunktur, dann kann durch gesteigerte Ausfuhr bei erhöhtem
Brotpreise der Reallohn wieder auf das bisherige Niveau gehoben
und die Verminderung des einheimischen Bedarfes ausgeglichen
werden. Ebenso ist eine kräftige gewerkschaftliche Organisation
unter Umständen geeignet dem Lohndruck entgegenzuwirken. Frei-
lich darf man nicht in den rosenroten Optimismus Diehl's ver-
fallen, dem die Macht der Arbeiter heute schon ausreichend scheint,
um bei beträchtlicher Erhöhung des Brotpreises eine Lohnerhöhung
zu erkämpfen, wenn — die Konjunktur eine günstige ist. Damit
gesteht ja Diehl zu, dafs bei ungünstiger Konjunktur die Ar-
beiter den Druck der Brotverteuerung ganz oder zum Teil auf sich
nehmen müssen. Sie werden so genötigt, die Errungenschaften
schwerer Lohnkämpfe ohne Schwertstreich den Grundbesitzern zu
überlassen. Aber selbst bei günstiger Konjunktur kann die Ueber-
wälzung der Brotpreiserhöhung auf die Unternehmer in der
Regel nur durch opfer- und entbehrungsreiche Kämpfe gelingen.
Das Koalitionsrecht und die Organisationen der Arbeiter treten
dann zu Gunsten der Nutzniefser der Grundrente in Wirksamkeit,
der leidenschaftlichsten Gegner dieses Koalitionsrechtes. Wie viel
Branchen der Arbeiter sind aber heute im Deutschen Reiche den
mächtigen und einflufsreichen Unternehmerorganisationen überhaupt
gewachsen? Entscheidend ist überdies der Umstand, dafs niemand
vorauszusagen vermag, ob bei Einführung der neuen Zölle die Kon-
junktur überhaupt eine Steigerung des Lohnes ermöglichen wird.
Die Gefahr ist zumindest grofs, dafs die Arbeiter durch die Zölle
eine Minderung der Kaufkraft des Lohnes erleiden und ihnen so
die furchtbarsten Opfer auferlegt werden. Völlig hoffnungslos steht
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Agrarschutz und Sozialrcform.
277
die Sache für die nichtorganisierten Schichten der Arbeiterschaft,
die selbst bei günstiger Konjunktur den Unternehmern Widerstand
nicht entgegensetzen können. In der Regel sind das die schlechtest
gestellten Arbeiter, die also mit Sicherheit die Wirkungen der Zölle
auf sich werden nehmen müssen.
Ob man nun der Konträrtheorie Dietzel 's zustimmt oder
nicht, die als Folge erhöhter Brotpreise eine Lohnbaisse, also eine
Senkung des Nominallohnes annimmt, jedenfalls mufs man zugeben,
dafs die Ueberwälzung der Agrarzölle auf die Unternehmer nur
unter günstiger Marktlage, für besonders gut organisierte Arbeiter-
schichten und auch für diese nur bei unbeschränktem Koalitions-
recht und nach längeren Zeiträumen möglich sein wird. Gröfser
ist die Wahrscheinlichkeit, dafs der Druck der Kornzölle den
Arbeitslohn ausschliefslich oder vorwiegend treffen wird. Dafür
sprechen die heutigen krisenhaften Verhältnisse Deutschlands, die
relativ geringe Zahl der organisierten deutschen Arbeiter, die un-
günstige Rechtslage der Arbeiterorganisationen und die mächtige
Position der syndizierten und vertrusteten Industriezweige. F.s mag
zweifelhaft sein, ob der Lohnsausfall, wie Dietzel annimmt, gröfser
sein wird, als die den Argrarzöllen entsprechende Quote; keinem
Zweifel kann es unterliegen, dafs bei einem Grofsteil der Arbeiter-
bevölkerung der Reallohn sich um diese Quote vermindern wird.
Wenn ich resümieren soll, so mufs ich zugeben, dafs Dietzel
die Unhaltbarkeit der Paralleltheorie nachgewiesen hat. Manches
spricht dafür, dafs unter den von Dietzel selbst zugegebenen
Einschränkungen erhöhte Brotpreise bei gegebener Sachlage zur
Lohndepression Anlafs geben können. Unzweifelhaft erscheint mir
aber, dafs bei den heutigen Machtverhältnissen die deutsche Ar-
beiterschaft in ihrer grofsen Mehrzahl aufser stände ist, den ihr zu
Gunsten der Grundbesitzer auferlegtcn Tribut, auch nur zu erheb-
lichem Teil in absehbarer Zeit von ihrem Lohneinkommen auf den
Unternehmerprofit oder den Kosum zu überwälzen. Damit allein
ist auch, wenn selbst die von Dietzel angenommene weiter-
reichende Wirkung nicht eintritt , der Agrarschutz sozialpolitisch
gerichtet.
X.
Die Unsicherheit der wirtschaftlichen Existenz ist ein charak-
teristisches Merkmal unserer auf Privateigentum an den Produktions-
mitteln und freier Konkurrenz basierenden Wirtschaftsordnung. Diese
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278
Leo Verkauf,
Unsicherheit trifft am härtesten den Arbeiter durch die Arbeits-
losigkeit; sie bedroht den Industriellen wie den Landwirt, bald im
Gefolge normaler Entwicklung, bald als Begleiterscheinung von
Krisen, die heute von Vorgängen auf dem nationalen, morgen von
Ereignissen auf dem Weltmarkt heraufbeschworen werden. Die
Gefahr, die Konkurrenzfähigkeit auf dem Markt zu verlieren, ist der
Preis, den die Nutzniefser der gesellschaftlichen Privilegien heute
zahlen müssen. Das Streben der Agrartheoretiker ist nun darauf
gerichtet, unter Aufrechthaltung aller Vorteile des Privateigentums
an Grund und Boden, die Landwirte von der Zahlung jenes Preises
zu befreien, indem die freie Konkurrenz und ihre unangenehmen
Wirkungen auf Kosten der Arbeitennassen ausgeschaltet werden.
Man müht sich dann mit dem Nachweise ab, dafs diese Art Agrar-
schutz eigentlich im Gesamtinteresse der Nation gelegen sei. Der
neuen Lehre begegnet aber, wie wir gesehen haben, das Malheur,
dafs die Thatsachen, auf die sie sich zu stützen sucht, sich gegen
ihre Argumentation kehren. Der unzweifelhaft groise Aufwand an
Scharfsinn vermag das agrarische Gebäude vor dem Zusammen-
bruche nicht zu bewahren.
Ein wichtiger Grundstein dieser Lehre zerbröckelt mit der
Feststellung, dafs die Nahrungsstaaten selbst bei stärkerer Bevölker-
ungszunahme keineswegs zur Einschränkung des Getreideexportes
ihre Zuflucht nehmen müssen. Wie Deutschland im XIX. Jahr-
hundert parallel mit der gestiegenen Bevölkerung eine erhöhte
Agrarproduktion zu erzielen wufste, werden auch die Agrarländer
den gleichen Weg betreten und höhere Erträge erreichen. Die
Steigerungsfähigkeit ist eine um so gröfsere, als die Nahrungsstaaten
heute gegenüber West- und Mitteleuropa weit im Hintertreffen ge-
blieben sind. Aushungerung droht also dem deutschen Volke sicher-
lich nicht, schlimmstenfalls in ferner Zukunft etwas höhere Getreide-
preise.
Als irrig stellt sich die Annahme heraus, dafs die industrielle
Entwicklung mit Geburtensteigerung, die agrarische mit Geburten-
minderung verknüpft sei. Durch Rückkehr zum Agrarstaat oder
durch Uebergang zum „richtig gemischten Staat“ kann vielleicht
eine erhöhte Sterblichkeit, aber keine Geburtenabnahme bewirkt
werden.
Die Wirtschaftsgeschichte der letzten Dezennien zeigt, dafs die
den sinkenden Getreidepreisen nachgesagten Wirkungen ausgeblieben
sind. Die Anbaufläche hat nicht abgenommen. Der Ertrag ist
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Agrarschuüt und Sozialreform.
279
stark in die Höhe gegangen. Deutschland kann heute seine ver-
doppelte Bevölkerung in der Weise, wie vor 50 Jahren durch seine
■eigene Produktion ernähren. Dieser Erfolg ist der Agrartechnik,
nicht minder aber der gestiegenen Intelligenz der landwirtschaft-
lichen Bevölkerung geschuldet. Wenn aus der gesunkenen Agrar-
quote pessimistische Folgerungen abgeleitet werden, so haben wir
deren Unhaltbarkeit gesehen. Die moderne Technik ermöglicht es
eben mit der gleichen Zahl von Arbeitskräften eine vervielfachte
Produktenmasse herzustellen.
Dem behaupteten Rückgang des Körnerbaues kann demnach
die Abwanderung in die Städte nicht zugeschrieben werden. Der
Uebergang zum Fruchtwechsel, wie die Zurückdrängung der Hand-
arbeit durch die Maschinen hat die Landwirtschaft zu einem Saison-
gewerbe gemacht, das im Winter immer geringeren Bedarf an
Arbeitskräften zeigt. Die Industrie, die sich erweiternden und er-
neuernden Stadtgemeinden, boten die Möglichkeit zur Flucht vor
dem Winterhunger. Diese Gelegenheit fehlte früher und sie
wird jetzt Jahr für Jahr von Hunderttausenden benützt Die
Sachsengängerei, berufen die auf dem Lande entstandenen Lücken
auszufüllen, macht wieder sel'shafte Landarbeiter überflüssig.
Es ist eine Utopie an eine Rückentwicklung der Agrartechnik
zu denken. Mit und ohne Agrarschutz ist vielmehr eine technische
Weiterentwicklung des landwirtschaftlichen Gewerbes zu erwarten.
Gesteigerte Einkünfte aus dem Ackerbau werden nur die neue Ein-
führung von landwirtschaftlichen Maschinen erleichtern und die P'rei-
setzung von Landarbeitern bewirken. Was soll mit der überzähligen
Bevölkerung geschehen , wenn die Industrie von Staatswegen an
ihrer Weiterentwicklung gehindert wird? Da die agrarische Wirt-
schaftspolitik keinen Raum für Steigerung des Konsums hat — ihr
Schutz beschränkt sich auf den kleinen Teil der Grundbesitzer, der
für den Markt produziert — so fehlt der nationalen Produktion in
diesem Rahmen jeder Ersatz für den entfallenden Fabrikatenexport.
Der industrielle Arbeitsmarkt würde eine Schwächung seiner Auf-
nahmefähigkeit erfahren, ohne dafs derselben irgendeine Kompen-
sation gegenüberstände.
Die Agrarpolitiker stellen nicht mehr in Abrede, dafs die er-
höhten Getreidepreise erhöhte Brotpreise zur Folge haben werden.
-Sie beruhigen sich mit der Annahme, dafs es sich lediglich um ein
geringes Geldopfer handle. Dies mag bei den Mittelschichten zu-
treffen. Den Arbeitern mutet man in Wirklichkeit mit erhöhten
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I. e o Verkauf,
Nahrungspreisen Opfer an ihrer Gesundheit zu. Man stellt auch in
Aussicht, dafs die organisierten Arbeiter in der Lage sein werden,
eine Lohnerhöhung in dem Ausmafse des Mehrbedarfes durchzu-
setzen. Das heifst doch wohl, die Arbeiter sollen harte Kämpfe
unter Not und Entbehrung durchfechten, den Kampfpreis aber auf
Grund eines gesetzlichen Privilegs den interessierten Grundbesitzern
überlassen. Dabei ist eine Steigerung des Nominallohnes nur nach
längeren Fristen möglich. Gilt das bei den organisierten, wie viel
mehr erst von den unorganisierten Arbeiterschichten. Pohle giebt
zu, dafs die Arbeiter der Spielwarenindustrie, der Korbwarenerzeu-
gung, der Konfektion — einschliefslich der Familienangehörigen an
400000 Personen — die Brotverteuerung selbst zu tragen haben
werden. Steht es mit der Mehrzahl der Textilarbeiter, besonders
in der Hausindustrie besser? Und schon das Schicksal der 400000 Men-
schen müfste Entsetzen erwecken. Pohle meint aber gelassen, dafs
man um ihretwillen nicht den viel gröfseren Teil der deutschen
Bevölkerung dem sicheren Ruin preisgeben dürfe, trotz alles Mitleids.
Auch der Untergang des exportindustriellen Aufsenhandels sei ja
schmerzhaft, man müsse auch ihn hinnehmen, um nicht die Existenz
eines gröfseren Teiles der Nation zu gefährden.
Sind so die Schäden des Agrarschutzes sehr grofs, so bleibt
schliefslich die Frage zu erörtern, was es mit der Sozialreform für
eine Bewandtnis habe, von der in der agrarischen Litteratur in der
letzten Zeit so viel die Rede war. Es besteht kein Zweifel, dafs
die Verflechtung in die Weltproduktion ein Element grolser Un-
sicherheit in die nationale Erzeugung gebracht hat Der Nachweis
ist aber bisher nicht geführt worden, dafs die deutschen Export-
industriellen, nur vom Auslande genötigt, die Lebenshaltung der
Kxportarbeiter tief herabgedrückt haben. Die Hungerlöhne der
Hausweber sind wahrhaftig nicht durch die englischen Löhne er-
zwungen worden. Der Druck, den Grofsbetrieb und Hausindustrie
aufeinander ausüben, die mangelnde Organisation der Arbeiter, sowie
das Fehlen jedes staatlichen Eingriffes zu Gunsten der Arbeiter,
können viel eher zur Erklärung herangezogen werden. Deutschland
als geschlossener Handelsstaat würde bei Fortbestand der heutigen
Machtverhältnisse keine anderen Erscheinungen zeigen, als gegen-
wärtig der Exportstaat. Die Ausschaltung aus dem Weltverkehr
ist unmöglich, die steigende Verflechtung in das Getriebe des Welt-
marktes ein kategorischer Imperativ für Deutschland, wie für alle
anderen Industriestaaten.
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Agrarschulz und Sozialrcform.
28l
Wenn schliefslich zur Fortführung der Sozialreform ein Bündnis
landwirtschaftlicher Kreise mit den Arbeitern empfohlen wird, wenn
ferner eine staatliche Lohnregulierung in der Hausindustrie, die
Geltung des von der Majorität der Unternehmer und Arbeiter eines
Gewerbes vereinbarten Tarifvertrages für die Gesamtheit des Produk-
tionszweiges und ähnliches, als notwendig hingestellt werden, so ist
nicht ersichtlich, wie alles dies bei Verwirklichung der agrarischen
Pläne möglich sein, ja wie es überhaupt mit dem Agrarschutz im
Zusammenhang gebracht werden soll. Der Verdacht ist nicht ab-
zulehnen , dafs die Sozialreform der Agrartheoretiker ein biofees
Dekorationsstück, ein Feigenblatt für die empfundenen Blöfeen bildet.
Jede Verteuerung der industriellen Produktion durch gesteigerte
Agrarzölle wird den cinflufereichcn Grofsindustriellen neue Argumente
zu den bisherigen gegen die P'ortführung sozialpolitischer Mafenahmcn
liefern.
Die Arznei, die man dem deutschen Wirtschaftskörper reichen
will, ist also schlimmer als das Leiden. Der Unterkonsum an In-
dustrieerzeugnissen bei steigender Produktivkraft treibt uns dem
Export zu. Sucht man mit Hilfe gesteigerter Zölle den Verbrauch
weiter herabzumindern, gleichzeitig aber den Export zu erschweren,
wie soll da ein Kladderadatsch ausbleiben ? Dabei gehen den schweren
Zeiten die deutschen Arbeiter ungerüstet, weil ganz ohne Koalitions-
recht oder mit einem stark eingeschränkten Koalitionsrechtc, ent-
gegen, trotzdem sie für die Aufrechterhaltung ihrer Lebenshaltung
in erhöhtem Mafee auf die eigene Kraft angewiesen sein werden.
Die Quintessenz des Agrarschutzes und seiner Sozialreform ist,
wenn man ihnen ernsthaft ins Antlitz blickt : den Schwachen nehmen
und den Starken geben.
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
Von
Dr. F. SCHÜLER,
chcm. schweizerischen Fabrikinspektor.
'Schliffs.
XI. Die gesetzliche Arbeitszeit und deren
Verlängerung.
Seit einem Vierteljahrhundert beschränkt Art. XI. die Arbeits-
zeit in Fabriken auf 1 1 Stunden. Die damals befürchtete Ver-
minderung der Arbeitsleistung hat nicht stattgefunden, wie heute
allgemein zugestanden wird. Es wurde in der kürzeren Zeit teils
ein intensiveres Arbeiten möglich, teils erhöhte sich durch zahl-
reiche technische Fortschritte die Leistungsfähigkeit der Maschinen.
Diese letztere hat aber in den meisten Fällen auch eine stetigere
Aufmerksamkeit, eine gröGsere Behendigkeit des Arbeiters zur Vor-
aussetzung. Die Kraft hierfür ist schneller erschöpft, ab bei der
alten Produktionsweise. Der Elfstundentag hat deshalb auch im
Ausland immer gröfsere Verbreitung gefunden, ja noch mehr, er
ist immer öfter durch den Zehnstundentag ersetzt worden. Er hat
z. B. in Deutschland, wo doch die Arbeitszeit der Männer nicht
gesetzlich beschränkt ist, grofse Verbreitung erlangt, für die Kinder
ist er gesetzlich vorgeschrieben und in Frankreich wird er in Bälde
allgemein eingeführt sein. Bei uns sind bereits zahlreiche Betriebe
zu seiner Einführung gelangt und selbst in der Textilindustrie hat
eine Anzahl von Versuchen damit nachgewiesen, dafs er bei weitem
nicht die befürchteten Folgen hat. Die Zahl der nur IO Stunden
und weniger arbeitenden Personen ist auf etwas mehr als 46 %
gestiegen. Nur in der Textilindustrie sind sie noch schwach
vertreten, denn nur 25,4 ihrer Arbeiterschaft haben 10 Arbeits-
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes. 2§3
stunden und unter diesen sind wieder 65,8 °/0 weibliche Personen,
wovon 1533 unter 18 Jahren. Unsere jugendlichen Arbeiter sind
somit im Durchschnitt schlechter gestellt, als die der mit uns kon-
kurrierenden Industrieländer. Dies alles läfst den dringenden Wunsch
der vorgeschritteneren Arbeiterschaft, den Zehnstundentag zu er-
langen, sehr gerechtfertigt erscheinen. Die Reduktion der Arbeits-
zeit von H auf 10 Stunden wäre auch kein so grofser Schritt, wie
es die Einführung der Elfstundenzeit war, welche die Arbeitszeit
fast der ganzen schweizerischen Arbeiterschaft um eine, zum Teil
sogar um zwei Stunden täglich heruntersetzte. Immerhin läfst er
sich wohl überlegen und darum haben auch die Fabrikinspektoreu
so eifrig alle Thatsachen gesammelt, die für oder wider die Ein-
führung der 10 Stunden von Bedeutung waren. Das Ergebnis war
im ganzen ein sehr beruhigendes, obwohl sich nicht läugnen läfst,
dafs es nicht für alle Industrien gleich günstig ausfiel. Es giebt
Industrien , deren maschinell schlecht ausgerüstete ökonomisch
schwache Betriebe eine plötzliche Reduktion nicht auszuhalten
vermöchten, sondern von der Konkurrenz erdrückt würden. Sie
werden sich zwar im jetzigen Zustand auch nicht auf die Dauer
zu halten vermögen ; sie werden sich vervollkommnen müssen oder
langsam zu Grunde gehen. Geschieht letzteres plötzlich, wird eine
grofse Schädigung der Arbeiterschaft die Folge sein , erfolgt sie
langsam, haben die Arbeiter Zeit, neue Erwerbsquellen aufzusuchen,
ln solchen Fällen ist eine allmähliche Ueberführung von der längeren
zur kürzeren Arbeitszeit wünschbar. Die Zahl der hierher gehören-
den Industrien ist nicht grofs, um so grölser aber ihr Umfang und
ihre Bedeutung. Hierher gehört z. B. die Baumwollspinnerei. Es
dürfte sich empfehlen, dem Bundesrat die V oll macht zu
erteilen, für solche Industrien die Reduktion der
Arbeitszeit succcssive in Kraft treten zu lassen, so
dafs erst in einigen Jahren das angestrebte Ziel erreicht wird.
Das bisherige Gesetz fordert Verlegung der Arbeits-
stunden in die Zeit zwischen 6 Uhr morgens und 8 Uhr abends.
In den Monaten Juni, Juli und August gestattet es den Beginn um
5 Uhr. Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch der Mai mit
seinen langen Tagen und seinen oft hohen Temperaturen hinzuge-
nommen wurde. Die Mehrzahl der Industrien würde zwar diesen
frühen Beginn nicht einführen, für einzelne aber, wie für Ziegeleien,
Brauereien wäre er von nicht geringem Wert.
Auch abends ist die Forderung des Schlusses um acht Uhr
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K. Schüler,
in den meisten Fällen ganz berechtigt. Aber diese Stunde hat
nicht an allen Orten die gleiche Bedeutung. In Städten gilt in
den kurzen Tagen die Zeit um 7 oder 1/a8 Uhr morgens noch für
eine frühe Stunde und in manchen Betrieben sind die Arbeiterinnen
nicht vor 8 Uhr in die Fabrik zu bringen, während auf dem I.and
ein früheres Aufstehen, aber auch ein früheres Schlafengehen üblich
ist. Die Städterin würde daher eine Arbeit um 9 Uhr abends
viel weniger als eine späte empfinden, als ihre Berufsgenossin auf
dem Land, die um 8 Uhr. Hätte man diesen ungleichen Lebens-
gewohnheiten Rechnung tragen und die Arbeitszeit der spät be-
ginnenden Stickereiausrüsterinnen während der strengsten Zeit des
Jahres, der Glätterinnen in den Waschanstalten der Zentren des
Fremdenverkehrs über 8 Uhr hinaus, selbstverständlich unter Fest-
haltung des Elfstundentages, ausdehnen können, hätte man auf ihre
Unterstellung unter das Fabrikgesetz nicht zu verzichten gebraucht.
Und ebenso hätten Kleinbrotbäckereien in gröfseren Städten, Metz-
gereien, die bei Sommerhitze in früheren Stunden beginnen
müssen, bei genügender Arbeiterzahl sich dem Gesetz nicht ent-
ziehen können, wenn die Möglichkeit solcher ausnahmsweisen Ge-
stattung vorhanden gewesen wäre. Es könnten also fatale L'ebel-
stände vermieden und manche Arbeiterschaften des gesetzlichen
Schutzes teilhaft gemacht werden, wenn dem Bundesrat das
Recht verliehen würde, beim Nachweis unzweifelhaft
zwingender Gründe Ausnahmen von der Regel zu ge-
statten, ein Vorschlag, den seiner Zeit auch der durch sein ener-
gisches Eintreten für Arbeiterschutz überall bekannte damalige Prä-
sident des Grütlivercins , Herr Scherrer, gemacht hat. Uebrigens
lassen auch andere, sonst weitgehende Fabrikgesetze diese Aus-
nahmen zu. England erlaubt Ueberstunden bis 9 Uhr, wenn die
Arbeit morgens um 7 beginnt und bis IO, wenn sie erst um 8 UJir
anfangt. Frankreich betrachtet als Nachtarbeit nur die zwischen
Abend 9 und Morgen 5 Uhr; wenn in zwei Schichten gearbeitet
wird, sogar nur die Stunden von IO bis 4 Uhr morgens. Weibliche
Personen über 18 Jahre gestattet es in Konfektionsgeschäften,
Stickereien, beim Zusammenlegen und Packen von Bändern etc. an
höchstens Go Tagen im Jahr bis 1 1 Uhr zu beschäftigen, ja es hebt
unter Vorbehalt einer nicht mehr als 10 ständigen Arbeitszeit für
alle „Geschützten“ die Nachtarbeitbestimmungen für eine ganze
Reihe von Industriezweigen auf.
Auch in anderer Richtung mufs für die Industrie das Zuge-
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Dii* Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
285
ständnis eines weiteren Spielraums gewünscht werden. Es kommt
nämlich bei chemischen Prozeduren oft vor, dafs nicht vorauszu-
sehende Störungen eintreten, welche die Vollendung der Ar-
beit verzögern, die aber doch nicht unterbrochen werden kann,
wenn nicht schwere Verluste eintreten sollen. Aehnliches kann bei
der Metallindustrie Vorkommen. Die Ueberschreitung der gesetz-
lichen Arbeitszeit ist in solchen Fällen unvermeidlich. Das eng-
lische Gesetz hat diese Notwendigkeit schon vor Jahrzehnten vor-
gesehen und Abweichungen „zum Fertigmachen“ gestattet. Eine
solche, allerdings sehr sorgfältig zu fassende, Bestimmung wäre
auch für uns empfehlenswerter, als das blofse Gewährenlassen, zu
dem man bisher genötigt war. wenn das Gesetz nicht zum Unsinn
werden sollte.
Die Verkürzung oder Beseitigung der Samstagnachmittags-
arbeit war lange Gegenstand eifriger Kontroverse. Kirchliche
Gründe haben dabei eine grofse Rolle gespielt, noch mehr aber
hygienische und sozialpolitische. Jedenfalls ist aber die Bedeutung
der zweitgenannten nicht so grofs, dafs die Bestrebungen zur Re-
duktion der alltäglichen Arbeitszeit darunter leiden dürfen, denn es
ist gewifs richtig, was die vortreffliche Kennerin des Fabrikwesens,
die amerikanische Inspektorin Florence Kelly sagt : „Es ist nicht so
sehr die tägliche vernunftgemäfse Arbeit, die die Gesundheit an-
greift, als die lange Dauer unausgesetzter Anstrengung, die den
Organismus schwächt und zerstört. . . . Soll der Samstagabend frei
bleiben, so sollen die anderen Wochentage nicht deswegen ver-
längert werden.“ Uebrigens besteht ja gegenwärtig alle Aussicht,
dals die Frage der Samstagarbeit eine von der Bundesversammlung
acceptierte Erledigung finde, die auch im Volk auf keinen erheb-
lichen Widerstand stofsen wird.
Unser Gesetz schreibt nur eine einzige Unterbrechung
der Arbeitszeit ausdrücklich vor und zwar mufs dieselbe, den
Gewohnheiten unserer Bevölkerung sich anpassend, ungefähr in die
Mitte der Arbeitszeit fallen. Nicht nur die Art, wie allgemein die
Mahlzeiten geregelt sind, die Einteilung der Schulstunden in den
öffentlichen Schulen etc. spricht dafür, dafs daran festgehaltcn werde,
sondern auch hygienische Gründe. Nach verschiedenen Mitteilungen
kompetenter Personen hat man in Deutschland mit der englischen
Tischzeit schlechte Erfahrungen gemacht. „Vielfach wird von
den Kassenärzten geklagt, dafs die mit englischer Tischzeit arbeiten-
den Angestellten häufiger erkranken, als andere“ und eine Frauen-
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F. S c h u I c r ,
ärztin schreibt: „Alle diejenigen Mädchen, die in Geschäften mit
englischer Tischzeit angestellt sind, d. h. die, welche in einer höch-
stens 1 „ständigen Pause nur Kaffee oder Milch und belegte Butter-
brote und erst abends die Hauptmahlzeit geniel'sen , werden im
Laufe der Jahre magenleidend.“ Es dürfte somit am geratensten
sein, die bisherigen Bestimmungen betr. Mittagspause fortbe-
stehen zu lassen, mit dem Beifugen, dafs der Aufenthalt im
Arbeitslokal in der mittäglichen Efspause oder nach Schlufs
der Tagesarbeit nach Ablauf einer zum Umkleiden nötigen Frist
und ohne spezielle amtliche Bewilligung ungesetzlichem Ar-
beiten gleich geachtet werde. Diese Strenge rechtfertigt
sich durch das häufige Vorkommen von Putzarbeiten, welche in
diesen Stunden vorgenommen werden und die durch das Bleiben
der Arbeiter veranlafste Verunmöglichung einer ausgiebigen Lüftung.
Inbezug auf die Zwischenpausen stellt das Fabrikgesetz
keine Bestimmungen auf. Ob solche nötig sind, hängt von der
Art der Arbeit und mehr noch von den Gewohnheiten einer
Gegend ab. Einzelne ausländische Gesetze schreiben sie vor, wenn
die Dauer der ununterbrochenen Arbeitszeit ein gewisses Mals über-
schreitet. England verlangte längst Zwischenpausen , nach 4 1 „-
stündiger Arbeit, gestattete aber für eine Menge Betriebe Ver-
längerung bis auf 5 Stunden. Deutschland verlangt, dafs wenigstens
die Kinder vor- und nachmittags den Arbeitsraum verlassen, so-
fern der Aufenthalt im Freien nicht unmöglich ist oder geeignete
Räume nicht unverhältnismäfsig schwierig beschafft werden können.
Dies dürfte oft genug der F'all sein, um so mehr, als diese Unter-
brechungen auch für die Arbeit der Erwachsenen sehr hinderlich
und deshalb den Arbeitgebern unwillkommen sind, so dafs sie sich
nicht viel Mühe geben, wirkliche oder angebliche Schwierigkeiten
zu beseitigen. Ob wohl diese „Erholungspausen" nicht oft das Gegen-
teil von dem bewirken, was man bezweckt, wenn die Kinder aus
dem heifsen Saal schlecht bekleidet in kalte Winterluft hinausstürzen
oder in glühender Sommerhitze sich herumjagen, um erhitzt in den
feuchtheifsen Saal zurückzukehren? Und wird Aufsicht geübt oder
treiben die Kinder sich auf der Strafse herum oder ziehen sie sich
vielleicht in versteckte Winkel zurück, beides nicht zu ihrem Vor-
teil ? Bei uns, wo verlangte Pausen nur sehr selten versagt werden
und wo hoffentlich bald die iostündige Arbeitszeit eingeführt sein
wird, darf man wohl auf eine Gesetzesbestimmung verzichten, welche
Zwischenpausen vorschreibt. Dagegen sollte gesetzlich festge-
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes. 287
stellt werden, was der Bundesrat schon in den 8oer Jahren ver-
langt hat, „dafs die Pausen nur dann nicht in die Ar-
beitszeit eingerechnet werden müssen, wenn sie täg-
lich, regelmäfsig und von allen Arbeitern gleich-
zeitig inne gehalten und amtlich angezeigt werden
und dafs während derselben das Verlassen der Ar-
beitsstelle gestattet sei." Doch müfste ein Vorbehalt ge-
macht werden, demzufolge in gewissen Fällen auf die Gleich-
zeitigkeit der Pausen für alle Arbeiter verzichtet werden könnte.
Denn es giebt Industrieen, deren Betrieb ohne Schaden nicht unter-
brochen werden kann und wo die Arbeiter in den Pausen schichten-
weise sich ablösen müssen. Auch andere Fabrikgesetze, z. B. das
englische, haben diese Ausnahmen nötig gefunden.
Die gehörige Kontrolle über die richtige Innehaltung der ge-
setzlich zulässigen Arbeitszeit, mit Einschlufs der Pausen, ist selbst-
redend nur möglich, wenn dieArbeitsstundenin den Arbeits-
lokalen angeschlagen und den Aufsichtsbehörden
mitgeteilt werden. Dafs der Stundenplan aber von diesen
auch dem Fabrikinspektor m it geteilt werde, ist notwendig,
wenn diesem ermöglicht werden soll, sich ein Urteil über ihm zu-
gehende Klagen wegen Ueberschreitung der Arbeitszeit zu bilden.
Noch notwendiger ist es, dafs er sofort von allen Bewilli-
gungen zur Ueberschreitung des gesetzlichen Arbeitstages Kennt-
nis erhalte. Ihm liegt ob, deren Gesetzlichkeit zu prüfen und im
Fall, dafs Mifsbrauch mit dem Bewilligungsrecht getrieben wird,
Einsprache zu erheben. Solcher Mifsbrauch von Seite unterge-
ordneter Beamter ist aber nicht gerade selten und wird öfter Vor-
kommen, solange es nicht möglich ist, auf Grund des Fabrikge-
setzes mit Strafen gegen solche Beamte einzuschreiten. Unser
Gesetz hat bisher den zu Bewilligungen kompetenten Amtsstellen
soviel Freiheit gelassen, wie kaum ein anderes. Alles kann freilich
nicht reglementiert werden. Die Würdigung der Gründe mufs
jeweilen der bewilligenden Amtsstelle überlassen bleiben. Selbst
geschäftliche Konvenienz kann nicht in allen Fällen ausgeschlossen
bleiben. Nichtausnutzung der Zeit vor dem Inkrafttreten fremder,
unsere Ausfuhr verunmöglichender Zölle hätte z. B. unserer Industrie
nachweislich schon Millionen Schaden gebracht. Wie zwingend
aufsergewöhnlicher Wassermangel, Ueberschwemmung, Brandun-
glück wirken können, wie infolge dessen Ueberzeitarbcit im höchsten
Interesse auch des Arbeiters liegen kann, haben wir leider nur all-
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F. Schüler
zuoft erfahren. Ebenso giebt es gewisse Saisonarbeiten, die unbe-
dingt die Möglichkeit einer Verlängerung der Arbeitszeit erheischen,
wenn die betreffende Industrie überhaupt soll bestehen können. Es
mögen nur die Konservenfabriken, deren Rohmaterial so unberechen-
bar ungleich zufliefst und so bald zu Grunde geht, die Konfiserien,
die vor Eestzeiten so enorm beansprucht werden, die Strohhut-
wäschereien, denen mit der ersten schönen Erühlingswoche soviel
drängende Arbeit zuströmt, als Beispiele erwähnt werden. Die
Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse macht es unmöglich, durch gesetz-
liche Vorschriften zu bestimmen, wofür Ueberzeit bewilligt werden
darf oder soll. Dagegen sollten unbedingt die Vorschriften auf-
genommen werden, welche der Bundesrat am 7. April 1885 in
einem Kreisschreiben aufgestellt hat und die folgendermafsen lauten :
„Nur schriftlich erteilte und den lokalen Aufsichts-
behörden mitgeteilte, auf eine bestimmte Zeitdauer
und bestimmte Tagesstunden lautende Bewilligungen
zur Verlängerung der Normalarbeitszeit sind gültig.
Dieselben sind den Arbeitern durch Anschlag in der
Fabrik zur Kenntnis zu bringen. Es ist den Lokalbe-
hörden ihrerseits nicht gestattet, in der Weise Be-
willigungen zu erteilen, dafs durch deren unmittel-
bar oder periodisch folgende Wiederholung die Kom-
petenz der Kantonsregierung umgangen wir d.“ Beizu-
fügen wäre die Pflicht sofortiger Anzeige an den Fabrikinspektor.
Das Fabrikgesetz sagt nicht, auf wen die Bewilligungen An-
wendung finden können, aufser in Art. 16, der den Personen unter
]6 Jahren jede Ueberschreitung des Normalarbeitstages, auch die
ausnahmsweise, wie ausdrücklich beigefügt werden sollte, untersagt.
Für die Frauen sind sie durch das Verbot der Nachtarbeit für alle
weiblichen Personen beschränkt. Es wäre aber kaum zu viel ver-
langt, sie für alle Hausfrauen gänzlich zu untersagen.
Das U e b e r in a f s von Bewilligungen, über das so viel
geklagt wird, kommt je nach den Kantonen, manchmal auch je
nach der Geschäftslage sehr ungleich vor, wie aus den Inspektions-
berichten ersichtlich ist. Es giebt Kantone, welche nur freiwillig
geleistete Ueberzeit gestatten und die sich selbst gewisse Be-
schränkungen auferlegen, die z. B. an den Tagen vor Sonn-
und Festtagen keine Ucberzeitarbeit gewähren oder grundsätzlich
keine Bewilligungen für länger als vier Wochen erteilen. Das
schweizerische Gesetz sollte aber das Beispiel so mancher anderen
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
289
Fabrikgesetzgebungen nachahmen und die zulässigen Maxima
der Bewilligung, für jugendliche [und weibliche Arbeiter zunr
allermindesten, feststellen. Für diese dürfte ein Maximum von einer
Stunde täglich genügen, sofern es sich nicht um eine Gestattung
für einen oder zwei Tage handelt. Nur bei Industrieen, wo die Ge-
fahr des Zugrundegehens des Materials droht, wäre dies für eine
gröfcere Zahl von Tagen wünschbar, da eine der plötzlichen Zu-
nahme dringlicher Arbeit entsprechende Vermehrung der Arbeiter-
zahl gewöhnlich nicht erreichbar ist. Für Männer könnte ein
Maximum von 2 Stunden festgesetzt werden, das nur in Not-
fällen überschritten werden dürfte.
Wichtiger noch als die Tagesmaxima sind diejenigen für die
Dauer einer Bewilligung. Ilat ein Kanton, wie Zürich oder
St. Gallen mit seiner reichen Industrie mit einem Maximum von
vier Wochen auskommen können, sollte dies allgemein möglich
sein. Eine Verlängerung braucht deshalb nicht absolut ausge-
schlossen zu sein. Sie würde aber am besten vom Bundesrat aus-
gehen, der eher im Fall wäre, für eine gleichmäfsige und grundsätz-
liche Behandlung der Gesuche zu sorgen. Eine Beschränkung der
Zahl der Bewilligungen, die innerhalb einer bestimmten
Periode zulässig wären, gesetzlich festzusetzen, wäre kaum zweck-
mäfsig. Wenn ja z. B. ein grofser Betrieb in Jahresfrist mehrere
Dutzende von kleinen wenige Arbeiter betreffenden, nur über einen
oder wenige Tage sich erstreckenden Bewilligungen hat, bean-
spruchen diese seine Arbeiterschaft unendlich viel weniger, als eine
einzige vierwöchentliche die wenigen Arbeiter eines anderen Be-
triebes belastet. Es wäre daher eine Unbill, die gleiche Zahl für
alle festzusetzen, ganz abgesehen davon, dafs Industriezweige, die
oft Reparaturen zu besorgen haben, welche anderen Betrieben das
Weiterarbeiten ermöglichen sollen, naturgcmäfs verhältnismäfsig viel
öfter in den Fall kommen, Ueberzeit beanspruchen zu müssen.
Weit besser, als durch die Beschränkung der Zahl der Be-
willigungen würde das beabsichtigte Ziel erreicht, wenn eine Maxi -
malzahl der zulässigen Tage mit Ueberstunden oder
der innerhalb eines Jahres zu leistenden Ueber-
stunden vorgeschricben würde. Dadurch würden mit einem
Schlag alle die ungebührlich ausgedehnten Bewilligungen beseitigt,
die in einzelnen Kantonen Vorkommen. Andere Länder sind uns
auch hierin mit gutem Beispiel vorangegangen. Zuerst England,
welches die früheren hohen Zahlen heruntergesetzt hat und Jugend-
Archiv für *0 i. Gesetzgebung; u. Statistik. XVIII. 1 9
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F. Schüler,
29O
liehen gar keine, Frauen höchstens 30, bei gewissen Industrie-
zweigen, wie der Herstellung von leicht verderbenden Konserven,
60 Tage zugesteht. Frankreich setzt die Grenze für Frauen über
18 Jahren mit 60 Tagen an, Deutschland mit 40 und Neuseeland,
das so oft als Vorbild in fabrikgesetzgeberischer Beziehung ge-
priesen wird, erlaubt 28 mal 3 (!!) Stunden für „Geschützte". Wir
würden kaum fehl gehen, wenn wir das deutsche Vorbild befolgen
wollten. Eine ausnahmsweise Berücksichtigung der von England
besonders bedachten Industrieen dürfte wohl dem Bundesrat zuge-
standen werden.
Ein sehr wirksames Mittel, dem Mifsbrauch von Ueberzeit vor-
zubeugen, ist ohne Zweifel die Vorschrift, dafs Ueberzeitarbeit um
einen bestimmten Prozentsatz höher bezahlt werden
müsse, als sonstige Arbeit. Doch müfste eine Ausnahme gestattet
werden für diejenigen Fälle, wo ein Unglücksfall den gewohnten
Betrieb unmöglich gemacht hat und die Ueberzeitarbeit einzelner
Arbeiter erst die Fortsetzung der Arbeit ihrer Berufsgenossen er-
möglicht.
Noch bleibt zu erwähnen, dal's die Ueberzeitarbeit zuweilen
durch die Mit gäbe von Arbeit nach Hause ersetzt wird.
Untersagung derselben ist durchaus notwendig, wenn grobe Ge-
setzesumgehungen verhütet werden sollen. Wohl wird es hier und
da Vorkommen, dafs das Ziel nicht erreicht wird, aber der Kanton
Zürich, der in seinem Arbeiterinnenschutzgesetz dieses Verbot auf-
genommen hat, weifs von weit günstigeren Erfahrungen zu melden,
als man früher allgemein erwartete.
Auch durch Einführung der Schichtenarbeit sucht man
zuweilen Ueberzeitbewilligungen entbehrlich zu machen. Am
häufigsten kommt dies beim Eintritt von Wassermangel vor.
Diese Arbeitsmethode ist meist eine enorme Belästigung der
Arbeiterschaft. Die Familie wird während derselben oft ganz aus-
einander gerissen. Während die einen einer am frühen Morgen
beginnenden Schicht angehören , die nach kurzer Morgenschicht
zum frühen Mittagessen nach Hause kommt und auch abends früh
ihre Arbeit beendet, sind die anderen genötigt, zur Zeit der sonstigen
Mittagspause an ihre Stelle zu treten und bis zur letzten erlaubten
Stunde auszuharren. Wie dadurch das ganze häusliche Leben ge-
stört, die Arbeit der Hausfrau, die verschiedenen Abteilungen ihr
bissen bereit zu halten hat, gemehrt wird, liegt auf der Hand.
Allerdings hat das Fabrikinspektorat stets die Nachsuchung einer
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes. 29 1
Bewilligung für diese Arbeitsordnung gefordert, die Regierungen
auf die daraus entstehenden Nachteile aufmerksam gemacht und
darauf gedrungen, dafs solche Schichtenarbeit nicht mehr gestattet
werde, wo sie fast jedes Jahr regelmäfsig wiederkehrt und lediglich
dadurch veranlafst wird , daCs der Fabrikbesitzer , dem die regel-
mäfsige Wiederkehr des Wassermangels bekannt ist, nicht für die
Beschaffung von Aushilfskraft sorgt. Es dürfte wohl unbedenklich
verlangt werden, dafs bei Wassermangel Schichtenarbeit nur in den
Fällen gestattet werde, wo derselbe ausnahmsweise und in
nicht vorher zu sehender Weise eintritt.
Zum Schlufs dieses Abschnitts mag noch einiger sehr ver-
einzelt vorkommender Verhältnisse erwähnt werden, wo den Be-
hörden keinerlei Befugnis zustand, Abweichungen von den allge-
meinen gesetzlichen Vorschriften zu gestatten , wo sie aber zur
Ueberzeugung gelangen mufsten, dafs ein strenges Festhalten am
Buchstaben des Gesetzes kaum zu rechtfertigen sei. So giebt es
Unternehmungen, wo nur einige wenige sachverständige Personen
den Betrieb so durchzuführen vermögen, dafs schwere Gefährdungen
der Arbeiterschaft, wie der Umgebung ausgeschlossen sind. Diese
Leute lösen sich regelmäfsig ab ; soll aber ein Wechsel in der Tag-
oder Nachtschicht im kontinuierlichen Betrieb stattfinden, könnte
dies nur durch Einschiebung einer dritten Schicht erfolgen. Da
hierfür sachverständiges Personal fehlt und seine Beschaffung bei
der Kleinheit des Betriebs unmöglich, weil die ökonomische
Leistungsfähigkeit des Geschäfts übersteigend ist, kann der Wechsel
nur durch Eiinschieben einer i8stündigen Schicht erzielt werden.
Daraus sind schon oft bedenkliche Schwierigkeiten erwachsen, die
nur allmählich durch Gewinnung oder Anlcrnung brauchbarer Ersatz-
mannschaft beseitigt werden konnten, wozu es längerer Zeit be-
durfte.
Eis giebt ferner Angestellte, denen gewisse diffizile Funktionen
obliegen, deren unrichtige Ausführung enormen Schaden bedingen
würde und für den sie verantwortlich wären. Dauert nun dieser
Prozefs länger als der normale Arbeitstag, läfst sich dessen verant-
wortlicher Leiter kaum bewegen, sich durch jemand anderes ver-
treten zu lassen , an dessen Mifsgriffen er die Mitschuld tragen
müfste. In solchen Fällen wird vermutlich das Gesetz allen Be-
mühungen der Behörden zum Trotz fast immer umgangen werden.
Die Gestattung einer Ausnahme wäre hier wohl begründet und
jedenfalls besser, als die Provokation einer Gesetzesübertretung
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F. Schüler,
durch das Festhalten am starren Gesetzesbuchstaben. Eine solche
Ausnahmegestattung müfste freilich nur von der Bundesbehörde,
nach vorheriger Einholung der Ansicht der Kantonsregierung und
der Inspektoren ausgehen.
Jede andere Gesetzgebung sieht solche Ausnahmefalle vor und
sorgt durch Erteilung der nötigen Kompetenzen, dafs in den er-
wähnten und ähnlichen Fällen ohne Schädigung des Ansehens des
Gesetzes unerfüllbare Anforderungen vermieden werden können.
Xll. Hilfsarbeit.
Es giebt eine grofse Zahl Arbeiter, deren Thätigkeit nicht auf
bestimmte Stunden beschränkt werden kann und ebensowenig auf
eine bestimmte Stundenzahl. Zu diesen Leuten gehören nicht nur
Männer, sondern auch, freilich in weit geringerer Zahl, Frauen.
Manche Reinigungsarbeiten können z. B. erst vorgenommen werden,
wenn die Arbeitsräume verlassen worden sind. Das Lüften und
Heizen mul's besorgt werden, che die Tagesarbeit beginnt, zum
Teil auch in den Pausen; der Dampfkessel mufs geheizt werden
lange bevor die Maschinen in Bewegung gesetzt werden können
und der Oeler mufs sein Werk vollenden , bevor es durch das
laufen gefährlicher Getriebe unausführbar wird. Für alle diese
Arbeiten erfand man den gemeinsamen Namen der „Hilfs-
arbeite n".
Dieser Ausdruck hat in zahllosen Fällen eine mifsbräuch-
liehe Anwendung gefunden. Man meinte auch, die Bestim-
mungen des Art. XII des Fabrikgesetzes auf alle Arbeiter beziehen
zu können, welche auch erst nach oder schon vor dem Normal-
arbeitstag eine Arbeit zu verrichten hatten, die man glaubte, mit
dem Namen der Hilfsarbeit belegen zu dürfen. So waren durch
eine Reihe von Jahren zahlreiche Arbeiter einer unverantwort-
lichen Ueberanstrengung preisgegeben. Eine zutreffende und brauch-
bare Definition des Ausdrucks Hilfsarbeiter zu geben, ist noch nie
gelungen und wird auch nicht so leicht möglich sein, wenigstens
in der erforderlichen, jedermann verständlichen Weise.
Der Bundesrat unternahm cs daher, diejenigen Arbeiter-
kategorieen zu bezeichnen, die als unter den Art. XII
fallend anzuerkennen seien. Dabei blieb natürlich die Bestimmung
aufrecht erhalten, dafs dazu nur Personen über >8 Jahren und von
den weiblichen nur die unverheirateten gehören können. Das Yer-
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
293
zeichnis der erwähnten Gruppen von Arbeitern wurde erst nach
eingehenden Untersuchungen und Anhörung der Meinungsäufse-
rungen von Arbeitern und Arbeitgebern aufgestellt. Wie es bisher
nur bruchstückweise fertig gestellt wurde, so wird es wohl auch
weiter geschehen, weil immer neue Beschäftigungsarten auftauchen
können, die früher nicht bekannt waren oder nicht dieselbe Be-
deutung im Fabrikbetriebe besafsen. Vielleicht wäre es das rich-
tigste, die Bezeichnung „Hilfsarbeiter“ ganz zu beseitigen, die zu so
viel wirklichen oder angeblichen Mifsverständnissen und ungerecht-
fertigten Ansprüchen führt und einfach zu sagen, der Bundesrat sei
ermächtigt, diejenigen Arbeiten zu bezeichnen, auf welche die Be-
stimmungen des Art. XII anzuwenden seien. Die Liste derselben
braucht bei ihrer voraussichtlich in diesem oder jenem Sinn öfter
eintretenden Revisionsbedürftigkeit nicht dem Gesetz einverleibt zu
werden. Wohl aber sollte dasselbe Zusätze erhalten, die erstlich
den Art. XII nur auf solche Arbeiter anwendbar erklären, die spe-
ziell mit den aufgezählten Verrichtungen betraut sind, nicht aber
solche, denen sie neben der anderen regulären Fabrikarbeit über-
tragen werden und zweitens den Forderungen übermäfsig
langer Arbeitszeit entgegentreten. Die Fabrikinspektoren
hatten bisher keine andere Handhabe, um gegen Ueberanstrengung
der Hilfsarbeiter einzuschreiten, als wenn sie sich auf die Gefähr-
dung dieser Arbeiter selbst oder ihrer Nebenarbeiter oder auch der
Nachbarschaft durch übermüdete und schlaftrunkene Leute oder auf
nachweisliche Gesundheitsschädigungen der Hilfsarbeiter beriefen.
Dem sollte ein revidiertes Gesetz abhelfen. Wohl könnte schwer-
lich eine bestimmte Zahl von täglichen Arbeitsstunden
festgestellt werden, da die Bedürfnisse des Betriebs bei einzelnen
Arten von Hilfsarbeiten nicht immer die gleichen sind und da oft-
mals auch nur eine gewisse Anzahl von Stunden Präsenz zeit,
nicht eigentlicher Arbeit gefordert werden mufs, die kaum zum
vollen Wert, wie die eigentliche Arbeitszeit zu rechnen ist. Da-
gegen wäre cs gewifs möglich , jedem Arbeiter eine gewisse
Maximalzahl wöchentlicher Arbeits- resp. Präsenz-
stunden zu sichern oder eine Minimalzahl der täglichen
Ruhestunden vorzuschreiben, die unmittelbar aufeinander zu
folgen hätten oder endlich durch das Verlangen von Lohn-
zuschlägen bei einer über 12 Stunden hinausgehenden Beschäf-
tigung die übermäfsige Beanspruchung des Arbeiters unprofitabel
zu machen.
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2Q4 F. Schüler,
Es ist auch beanstandet worden, dafe Frauen als Hilfsarbeite-
rinnen funktionieren können. Aus der früheren Aufzählung der
den Hilfsarbeitern zukommenden Funktionen geht aber zur Genüge
hervor, dafs manche derselben nur für Frauen geeignet sind, dal's
diese auch ganz besonders solche sind, welche nur nach der regu-
lären Arbeitszeit vorgenommen werden können. Man wird also
besser bei der bisherigen Bestimmung inbezug auf die Verwendung
der Frauen bleiben.
XIII und XIV. Nacht- und Sonntagsarbeit.
Die verschiedenen Bundesratsbeschlüsse, welche genauere Be-
stimmungen betreffend Nacht- und Sonntagsarbeit aufstellen,
fassen jeweilcn zusammen, was in diesen Artikeln behandelt ist.
Mit Recht, da beide ineinanderübergreifen. Sie würden besser ver-
schmolzen.
Was als Nachtarbeit zu betrachten sei, sagt das Gesetz
ganz genau. Wie wünschbar es wäre, dafs dieselbe etwas anders
definiert oder aber dem Bundesrat das Recht erteilt würde, in ge-
wissen Fällen Abweichungen von den bisherigen Vorschriften zu
gestatten, wurde früher schon gesagt und motiviert. Schlimmer
steht es mit der Definition der Sonntagsarbeit. Wann be-
ginnt, wann endet die gesetzlich verlangte Sonntagspause? Die
Antwort darauf lautet sehr verschieden. Die Hauptsache ist wohl,
dafs die Ruhestunden derart geregelt seien, dafs dem Arbeiter das
Zusammenleben mit der Familie, der gesellschaftliche Verkehr, der
Genufs sonntäglicher Vergnügungen, wie etwa Spaziergänge u. dgl.,
sowie selbstverständlich auch die Befriedigung kirchlicher Bedürf-
nisse hinreichend ermöglicht werde. Sofern dies der Fall ist,
kommt es nicht darauf an, ob der Sonntag von Sonntag morgens
sechs bis Montags um dieselbe Zeit oder von Samstag bis Sonntag
abend sechs oder auch von Mitternacht zu Mitternacht gerechnet
werde. Das letzte hält sich genau an den astronomisch richtigen
Sonntag, stört aber in sehr unzweckmäfsiger Weise die Nachtruhe in
der Samstag- und Sonntagnacht. Gewähre man also doch Freiheit,
vielleicht mit dem Beifügen, dafs die Sonntagmorgenarbeit nie über
6 Uhr dauern, die am Sonntag Abend nie vor 8 Uhr beginnen
dürfe. Wenn man auch so zu 26 Freistunden gelangt, dürfte dies
von der Industrie leicht zu ertragen sein.
Die Sonntagsarbeit ist auch darin beschränkt, dafs sie nicht
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
295
an mehreren Sonntagen nacheinander zulässig ist, sondern dafs
jeder zweite Sonntag frei bleiben mufs. Wo es sich um
Notarbeiten handelt , wird diese Bestimmung kaum irgendwo
beachtet. Das wird auch kaum zu vermeiden sein. Dagegen
dürfte wohl vorgeschrieben werden, dafs dem Arbeiter, der an
zwei Sonntagen nacheinander beansprucht worden ist , in der
Woche ein voller Tag von 24 Stunden frei gegeben
werde.
Ein weiterer Wunsch, den man öfter vernimmt, ist der, dafs
an den drei hohen Festtagen, Weihnacht, Ostern und Pfingsten
eine Pause von 48 statt 24 Stunden einzutreten habe. In vielen
Kantonen ist dies längst der Fall, wo aber die Sitte nicht sonst
herrscht, diese Tage auch zu feiern würde eine solche Vorschrift
wohl sehr widerwillig aufgenommen, besonders bei den Katholiken,
die sonst schon eine gröfsere Zahl von Feiertagen haben. Sehr
empfehlenswert wäre dagegen, dafs die kantonalen Regierungen
verpflichtet wären, allfällige Aenderungen in der Liste der obli-
gatorischen F eiertage jeweilen anzuzeigen. Es würden da-
durch nicht selten unangenehme Mifsverständnisse vermieden.
Das Gesetz zählt eine Reihe von Fällen auf, wo Nacht- oder
Sonntagsarbeit, selbst zum Teil ohne Einholung einer Be-
willigung zulässig ist. Letzteres gilt für die „Notarbeite n“.
Doch sind diese, wohl aus Versehen, nur bei der Sonntagsarbeit
vorgesehen, während sie bei der Nachtarbeit weit häufiger Vor-
kommen. Allerdings ist der Arbeitgeber von der Einholung einer
Bewilligung entbunden, „wenn es sich um dringende, nur einmalige
Nachtarbeit erheischende Reparaturen" handelt. Aber es giebt
auch andere Notarbeiten, über welche das Gesetz sich genauer aus-
sprechen sollte. Das deutsche Gesetz zählt als solche auf : Ar-
beiten, welche in Notfällen oder im öffentlichen Interesse unver-
züglich vorgenommen werden müssen, die Bewachung der Betriebs-
anlagen, Arbeiten zur Reinigung und Instandhaltung, durch welche
der regelmäfsige Fortgang des eigenen oder eines fremden Betriebes
bedingt ist, sowie Arbeiten, von welchen die Wiederaufnahme des
vollen werktägigen Betriebs abhängig ist, sofern diese Arbeiten
nicht an Werktagen vorgenommen werden können. Ferner erwähnt
es Arbeiten, welche zur Verhütung des Verderbens von Rohstoffen
oder des Miislingens von Arbeitserzeugnissen erforderlich sind und
an Werktagen nicht vorgenommen werden können. Derartige Er-
läuterungen in unser Gesetz aufzunehmen, ist dringend notwendig.
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F. Schüler,
denn der Ausdruck N'otarbeit erfahrt oft eine ganz sonderbare-
Interpretation. Will man Mifsbräuchen der allgemein gehaltenea
Bewilligung Vorbeugen, mufs auch verlangt werden, dafs e i n Ver-
zeichnis geführt werde, aus dem die Zahl der Arbeiter
und Dauer und Art ihrer Beschäftigung mit „Not-
ar b e i t e n“ zu ersehen sind.
Zu jeder anderen Nacht- oder Sonntagsarbeit ist die amt-
liche Bewilligung einzuholen, oder eigentlich nur für erstere,
wenn es sich nicht um wiederholte, regelmäfsige Sonntagsarbeit
handelt. Die Lokalbehörden haben die Befugnis, für zwei Wochen
Erlaubnis zur Nachtarbeit zu erteilen, eine in Anbetracht der Leich-
tigkeit, mit der solche Bewilligungen erhältlich sind, viel zu lange
Dauer. Eine Woche würde genügen, da innerhalb dieser Frist
mit aller Bequemlichkeit die regierungsrätliche Bewilligung einge-
holt werden könnte.
Wo eine dauernde Gestattung von Nacht- oder
Sonn tag sarbeit beansprucht wird, ist nur der Bundesrat
kompetent; ebenso zur Erteilung von solchen, die für einen ganzen
Industriezweig Gültigkeit haben („generelle Bewilligungen“).
Di'ese werden jeweilen nur nach sehr eingehender Prüfung erteilt.
Sie werden auch von Zeit zu Zeit einer R e v i s i o n unterworfen,
wie aus den bezüglichen Bundesratsbeschlüssen zu entnehmen ist.
Es wird nicht nur einfach Sonntagsarbeit zugestanden, sondern es
wird auch geprüft, wie viel Zeit erforderlich sein möchte, um
das durchaus Nötige zu verrichten und je nach dem Resultat dieser
Untersuchung wird die Gestattung auf eine gewisse Stunden-
zahl oder Tageszeit beschränkt.
Was die Form und die beigefugten Bedingungen aller Be-
willigungen anbetrifft, sind dieselben bisher schon nur anerkannt
worden, wenn sie schriftlich ausgestellt und den zur Aufsicht ver-
pflichteten Amtsstcllen mitgeteilt wurden. Anschlägen der Be-
willigung in den Arbeitsräumen wurde allgemein verlangt. Ueber
die Zwischenpausen etwas beizufügen, wurde sehr häufig unter-
lassen. Da aber vielfach die Meinung herrscht , es bedürfe b e i
Nachtarbeit keiner Pause, würde das Vorschreiben einer
solchen besser gefordert. Höhere Bezahlung ,für Nachtarbeit
oder Sonntagsarbeit vorzuschreiben, ist so ziemlich allgemein als
billig anerkannt und üblich. Einen bestimmten Prozentsatz vorzu-
schreiben, geht aber nicht wohl an, namentlich bei kontinuierlichen
Betrieben, welche eine solche das ganze Jahr hindurch dauernde
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
297
Erhöhung der täglichen Lohnausgabe nicht immer zu ertragen ver-
möchten. Auch giebt es Fälle, wo die Möglichkeit des völligen
Verzichts auf Lohn Zuschlag sollte gewährt werden können.
Es ist z. B. schon öfter vorgekommen, dafs nach dem Brand eines
Teils eines Etablissements viele Arbeiter brotlos geworden wären,
wenn sie nicht durch Einführung von Nachtarbeit an den erhalten
gebliebenen Maschinen Ersatz gefunden hätten. Zu dieser ohnehin
weniger und schlechteres Produkt liefernden Nachtarbeit würde sich
aber der Prinzipal nicht entschliefsen, wenn ihm die Arbeitslöhne
noch überdies verteuert würden. Aehnliche Verhältnisse kommen
hier und da vor und sollten Berücksichtigung finden.
Sehr schwer wird bei Einführung des Zehnstundentages die
Frage zu entscheiden sein, welche Bedingungen wegen der Pausen
zu stellen seien. Bei kontinuierlichen Betrieben ist es
kaum gedenkbar, dafs ein Arbeiter nur 10 Stunden bei seiner Be-
schäftigung verbleibe, zumal wenn das Recht zum Verlassen des
Arbeitslokals in den Pausen beansprucht wird. Man wird daher
unwillkürlich zum Postulat einer achtstündigen Schichten-
arbeit geführt. Diese wäre auch vom hygienischen Standpunkt
aus empfehlenswert. Wo die Arbeit eine besonders anstrengende
oder ungesunde ist, sollten diese drei Schichten unbedingt verlangt
werden. Wo dies nicht der Fall ist, müssen verschiedene Bedenken,
die dagegen sprechen, wohl erwogen werden.
Die Erstellungskosten eines Produktes würden in den Fallen,
wo die gröfsere oder geringere Thätigkeit des Arbeiters die Menge
des gelieferten Produktes nicht oder nur sehr wenig beeinflufst,
selbstverständlich um '/, des nunmehr zu bezahlenden Lohnes
steigen, es wäre denn, dafs der bisherige Lohn des einzelnen ent-
sprechend heruntergesetzt würde. Ob alle Industrieen mit konti-
nuierlichem Betrieb diese Vermehrung der Produktions-
kosten ertragen können oder nicht, müfste jedenfalls genau ge-
prüft werden.
Vielleicht würde die Einführung der Dreischichtcnarbcit auch
zu einem Verzicht auf die Nachtarbeit führen, ein aus
Arbeiterkreisen wiederholt gestelltes Postulat. Damit würde die
Nachtarbeit z. B. für etwa 200 — 250 unter dem Fabrikgesetz
stehende Müller beseitigt. Zugleich aber würde die Wasserkraft,
welche heute von den Mühlen mit drei und mehr Arbeitern benutzt
wird und 6326 Pferdestärken ausmacht, in ihren Beschaffungskosten
sich auf ein nur noch etwa zwei Drittel des bisherigen sich be-
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298
F. Schüler,
laufendes Quantum Mehl verteilen müssen. Ob und in welchem
Mafs dies den Preis des Produktes erhöhen würde, mögen Fachleute
berechnen. Es werden solche Rücksichten jedenfalls nicht ohne
Einflufs auf die Gestaltung unserer gewerblichen Gesetzgebung
bleiben.
Eine weitere mit der Nachtarbeit zusammenhängende Frage
ist die, wie der Schichten Wechsel stattfinden scjl. Hierin
gehen die Wünsche der davon betroffenen Arbeiter oft weit aus-
einander. Es giebt Arbeiter, welche diesen Wechsel gar nicht
wünschen. So sind unter den sogen. Nachtschaffern in den Mühlen
viele, die jahraus und -ein nachts beschäftigt sind und dies der
Tagesarbeit vorziehen, einerseits weil sie etwas besser bezahlt werden,
andererseits weil die Nachtarbeitcr gewisse anstrengende Funktionen
nicht über sich nehmen müssen. Andere wünschen Wechsel, bald
in kürzeren, bald in längeren Perioden, da sich der eine schneller,
der andere langsamer in den Wechsel findet. Manche bedürfen
vieler Tage, bevor sie sich an das Schlafen bei Tage gewöhnen
oder auch abends wieder rechtzeitig zu dem Schlaf gelangen
können, dessen sie sich um diese Zeit entwöhnt hatten. Am besten
würde der Termin des Schichtenwechsels durch die Beteiligten selbst
festgestellt.
Dann bleibt aber noch eine Frage zu erledigen. Wenn die
24 Betriebsstunden in zwei Schichten geteilt sind, wird ein Wechsel
kaum stattfinden können, ohne dafc längere oder kürzere, als die
normalen Schichten zwischenhinein geschoben werden. Die längeren
widersprechen dem Gesetz, kürzere sind dem Arbeiter oft zuwider,
weil ihm eine nur kurze Arbeitsperiode in seine gewohnte Zeitein-
teilung nicht pafst. Andere Fabrikgesetze gestatten abnormal lange,
z. B. iSstündige Arbeits- oder Präsenzperioden, um den Schichten-
wechsel zu ermöglichen. Den Entscheid auch hier den Arbeitern
selbst zu überlassen, wo nicht schwerwiegende Gründe entgegen-
stehen, wäre vielleicht das Empfehlenswerteste ,• wenn die Zwei-
schichtenarbeit fortbestehen bleibt.
Das 1877er Fabrikgesetz bestimmt am Schlufs von Art. XIII.,
dafs alle erteilten Bewilligungen bei veränderten Verhältnissen der
Fabrikation zurückgezogen oder abgeändert werden können.
Das darf auch für die Gestattung der Sonntagsarbeit gelten. Die
Anregung zur Einholung wie zur Aenderung solcher Bewilligungen
wird meist von den Fabrikinspektoren ausgehen, wie sie auch in
der Regel zuerst vom Bundesrat resp. seinem Industriedepartement
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
299
um ihre Ansicht befragt werden. Die Verpflichtung, die Meinung
der Arbeiter vor Erteilung einer Bewilligung ebenfalls einzuholen,
wie schon vorgeschlagen worden, erscheint überflüssig, da in den
meisten Fällen die Notwendigkeit, die vom Gesetz als erwiesen
vorausgesetzt wird, für die nachgesuchte Bewilligung vom tech-
nischen Standpunkt aus nachgewiesen ist. In den meisten
Fällen wäre diese Befragung eine unnötige Komplikation des ganzen
Verfahrens, während eine Bekanntmachung der nachgesuchten Be-
willigung durch Anschlag in der Fabrik der Arbeiterschaft auch
die Möglichkeit gewähren würde, gerechte Einwendungen beim In-
dustriedepartement zur Geltung zu bringen. Auch später noch auf
veränderte Verhältnisse aufmerksam zu machen oder Wünsche an-
zubringen, steht ja ohne weiteres den Arbeitern frei.
XV. Frauenarbeit.
Frauenspersonen sollen unter keinen Umständen zur Sonn-
tags- oder Nachtarbeit verwendet werden, bestimmt das 1877er
Fabrikgesetz. Diese Vorschrift ist um so strenger, als die Nacht-
arbeit schon um 8 Uhr beginnt. Sie ist allzu starr. Es wurde
schon früher gezeigt, zu welchen für eine grofse Zahl Frauen sehr
nachteiligen Folgen dies geführt, wie es sie dem Schutz des Fabrik-
gesetzes entzogen hat. Die dort (pag. 284) angeführten Beispiele
liefsen sich mit Leichtigkeit vermehren. Es kann daher hier nur
der Wunsch wiederholt werden, dafs der Bundesrat die Befugnis
erhalte, in besonderen Fällen Ausnahmen zu gestatten.
Es ist damit durchaus nicht beabsichtigt, der Ueberzeitarbeit der
Frauen Vorschub zu leisten — im Gegenteil, die gewünschte Ver-
schiebung der Arbeitsstunden wird oft die Uebcrzeit überflüssig
machen. Es soll also nicht das Beispiel der englischen oder deut-
schen Gesetzgebung nachgeahmt werden, welche zwar ihre Ge-
stattungen in sehr bescheidenen Grenzen halten und noch weniger
dasjenige der französischen von 1895, welche durch eine Menge
von Ausnahmsgestattungen in zahlreichen Fällen Nachtarbeit der
Frauen ermöglicht.
Für die den Frauenschutz mehr ausdehnende, als beschränkende
Tendenz dieser Vorschläge dürfte auch der Antrag sprechen, dafs
eine Bestimmung ins Gesetz aufgenommen werde, wonach zu ge-
wissen Arbeiten nicht nur schwangere Frauen, sondern weibliche
Personen überhaupt nicht zugelassen werden dürfen.
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3oo
F. Schüler,
sei es aus Gründen des Anstands oder wegen mangelnder physischer
Kignung. Allerdings hat sich unsere Bevölkerung schon bisher aus
angebornem Anstandsgefühl oder verständiger Einsicht von solcher
ungebührlichen Beanspruchung der Frauen meist fern gehalten. Es
sind sehr seltene Ausnahmen, wenn eine Frau unter den halb-
nackten Arbeitern an Brenn- und Glasöfen, beim Abtragen von
Ziegeln, oder auch, wenn sie bei der Besorgung von Zirkularsägen
und anderen gefährlichen Maschinen betroffen wird. Was soll aber
der Inspektor anfangen, wenn es vorkommt und sein Zureden den
Mifsstand nicht zu beseitigen vermag? Mit der Anrufung des letzten
Alinea von Art. XV kommt er in solchem Fall nicht zum Ziel.
Der Bundesrat sollte daher beauftragt werden, wie er eine Liste
der Arbeiten aufgcstellt hat, zu welchen Schwangere nicht zuge-
lasscn werden dürfen, so auch eine solche zu erstellen,
welche den weiblichen Personen die Beteiligung an
gewissen Arbeiten verbietet.
Unser Gesetz enthält auch noch einige andere Bestimmungen
speziell zu Gunsten der Frauenwelt oder es werden solche ange-
strebt. Dahin gehört die Verlängerung der Mittagspause,
welche den Frauen gewährt werden mufs, die eine Haushaltung zu
besorgen haben. Diese Halbstunde ist freilich nur eine kleine Ab-
schlagszahlung an das, was nicht nur im Interesse der Frau selbst,
sondern vielleicht noch mehr in demjenigen der besseren Ernährung
der ganzen Familie wünschbar wäre. Doch wäre der Gewinn
kleiner, als man denkt, so lange bei den Frauen eine so geringe
Kenntnis des Kochens zu finden ist, wie sie heute leider zu
konstatieren ist. Die Fabrikation von Konserven , welche eine
rasche Zubereitung verdaulicher und wohlschmeckender Speisen
während der kurzen Mittagspause erleichtern, hat zwar den Uebel-
stand etwas gemildert, aber nur bei denjenigen, welche in dieser
etwas kostspieligeren Weise ihren Tisch zu bestellen vermögen.
Tausende würden aber auch bei längerer Mittagspause nach wie
vor mit abscheulich zubereiteter Kost sich begnügen müssen. Die
allgemeine Einführung von Kochunterricht, mindestens in allen in-
dustriellen Gegenden, würde vermutlich weit mehr Nutzen bringen.
Zudem ist es sehr fraglich, welche Aufnahme eine solche verlängerte
Mittagspause nicht nur bei den Arbeitgebern, sondern ebensosehr
bei den Arbeiterinnen selbst fände.
Die Erfahrungen , welche man bei der Enquete betreffend
Samstagnachmittagschlufs gemacht hat, sind nicht gerade
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
301
ermutigend für solche Versuche. Hat man sich doch hier, wenig-
stens in den eidgen. Räten, mit einem Kompromifs zwischen den
verschiedenen Wünschen und Interessen begnügt, welcher den Haus-
frauen eine geringe Erleichterung bringen und mehr den Männern
Vergnügen verursachen wird.
Die Bestimmungen des Art. XV, welche sich auf die Schwan-
geren und Wöchnerinnen beziehen, sind sehr human gedacht,
aber sehr unpraktisch gefafst, wie die Amtsberichte der Inspektoren
oft nachgewiesen haben. Das Fernhalten der in den letzten
Wochen der Schwangerschaft stehenden Frauen wurde dadurch nie
erreicht. Zahllose Frauen arbeiteten bis zum Tag der Niederkunft,
teils weil sie dies wollten und das Gesetz sie nicht hinderte, teils
weil sie den Endtermin der Schwangerschaft .selbst nicht einmal
kannten. Ihn genau festzustellen, wäre in der Minderzahl der Fälle
möglich und die Schwangeren selbst wären kaum bestrebt, dazu mit-
zuhelfen. Allerdings treten eine Menge Schwangere vor der
Niederkunft aus der Arbeit, oft Monate lang zuvor, weil sie
unter allerlei Schwangerschaftsbeschwerden leiden. Vom Gesetz
werden sie nicht dazu bewogen — im Gegenteil, es wird sehr viel
über dieses „am grünen Tisch erlassene“ Gesetz gespottet.
Während sich die Zeit vor der Niederkunft so ziemlich
jeder Kontrolle entzieht, kann dieselbe über das Wegbleiben sechs
Wochen nachher viel leichter geübt werden. Sie kann bei einigem
guten Willen ganz genau sein, wenn nach den vom Bundesrat am
7. April 1885 aufgestellten Weisungen verfahren wird. Nach den-
selben, deren Aufnahme ins Gesetz sehr zu empfehlen wäre, mülste
„eine spezielle Wöchnerinnenliste geführt werden,
in welcher das Datum jedes wegen bevorstehender
Niederkunft erfolgenden Fabrikaustritts und, wenn
der Wiedereintritt stattfindet, das von der Hebamme,
• dem Arzt oder dem Zivilstandesamt bescheinigte
Datum der Niederkunft, sowie dasjenige des Wieder-
eintritts eingetragen wird.“ Aber diese Eiste hilft nichts,
wenn die Wöchnerin nicht mehr in das gleiche Geschäft zurück-
kehrt. Dies geschieht aufscrordentlich oft. Die Frau, welche sich
dem Ausschlufs entziehen will, tritt entweder für kürzere oder
längere Zeit, in eine andere Fabrik ein, wo man von ihrer Nieder-
kunft nichts weifs oder zu wissen behauptet oder sie verschafft
sich andere Arbeit, bald als Wäscherin, Putzerin etc. Für sie und
ihr Kind ist die Lage oft schlimmer geworden. So wird das ganze
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302
F. Schüler,
Gesetz illusorisch. Was ist nun zu tliun ? Was den Ausschlufs
der Schwangeren anbetrifft, ist die Antwort eine sehr einfache. Man
streiche eine Gesetzesbestimmung, deren Durchführung niemals zu
erwarten ist und ersetze sie durch eine andere, wonach
Schwangere, die wegen irgend welchen Beschwerden
aus der Fabrikarbeit auszutreten wünschen, dies ohne
vorausgegangene Kündigung tliun können. Die meisten
Arbeitgeber halten dies für selbstverständlich, den anderen gegen-
über wird den Schwangeren genügender Schutz gewährt. Die
Wöchnerinnen werden erst dann aufhören, das Gesetz zu umgehen,
wenn sie nicht mehr ihres bisherigen Einkommens für so viele
Wochen verlustig gehen. Es genügt auch nur teilweiser Ersatz,
denn die daheim bleibende Mutter erspart den Lohn für eine Be-
sorgerin ihres Kindes und manche Ausgabe für Arbeiten, die sie
nun verrichten kann, statt sie Fremden zu übergeben. Dies ein-
sehend, haben einzelne, leider nicht zahlreiche Fabrikanten den
Wöchnerinnen , welche die Ausschlufszeit richtig innehalten, eine
Subsidie zugesichert. In anderen Fällen, aber ebenfalls nicht häufig,
erhalten sie eine solche aus der Fabrikkrankenkasse. Die
Aussichten, dafs letzteres häufiger vorkomme, sind sehr gering, denn
die männlichen Mitglieder der Kassen tragen in dieser Hinsicht oft
die roheste Selbstsucht zur Schau. Es bleibt also nur das Ob-
ligatorium der Krankenversicherung und die gesetzliche
Forderung übrig, dafs diese Kassen den Wöchnerinnen
einen beträchtlichen Teil, mindestens die Hälfte,
ihres Arbeitslohnes während der Ausschlufszeit er-
setzen. Einstweilen aber dürfte auch ein anderes Mittel in Be-
tracht kommen: die Strafbarerklärung derjenigen Wöchne-
rinnen, welche durch falsche Vorgaben die Kontrolle unmöglich
machen. Wenn man sich aber auch schwer dazu entschliefsen wird,
dürfte man es doch eher denjenigen Frauen gegenüber thun,
welchen Verrichtungen obliegen, von denen schwangere
Frauen auszuschliefsen sind. Kommt doch dieser Aus-
schlufs viel zu spät, wenn die Schwangerschaft so weit vorgerückt
ist, dafs sie auffällig zu Tage tritt und mit aller Sicherheit die An-
wendbarkeit des Art. XV ABS. 3 des Fabrikgesetzes behauptet
werden kann. Dafs die von demselben geforderte Liste, die von
Zeit zu Zeit ergänzungsbedürftig werden kann, nicht in das Gesetz
aufzunehmen ist, versteht sich wohl von selbst.
Noch bleibt eine den Ausschlufs der Wöchnerinnen von der
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Die Revision des schweizerischen Fabrikcesetzes.
303
Fabrikarbeit betreffende Frage zu besprechen übrig, nämlich die,
wie es mit den Früh- und Fehlgeburten zu halten sei, ob
diese den gewöhnlichen normalen Geburten gleich zu stellen seien.
Da in solchen Fällen, wenigstens bei Abortus es sich nicht um
eine lebensfähige Frucht handelt, deren mütterliche Pflege wenigstens
für einige Wochen gesichert werden soll, sondern nur um die Sorge
für die Frau, könnte man leicht auf den Gedanken kommen, es
bedürfe — wie auch bei Frauen, deren normal geborenes Kind
bald nach der Geburt wieder gestorben ist, — der Ausschlufsfristen
des Art. XV nicht, man könnte diese Mütter einfach als Kranke
oder Genesende behandeln und es dem ärztlichen Gutachten anheim
stellen, wann die Fabrikarbeit wieder aufgenommen werden dürfe.
Man könnte auch annehmen, dal's für solche Frauen ein vierwöchent-
licher Ausschlufs genüge, wie ihn das deutsche Gesetz für jede
Wöchnerin Vorsicht und auch andere Gesetze zulassen, wenn ein
ärztliches Zeugnis die Frau zur Arbeit wieder tüchtig erklärt. In
der ungeheuren Mehrzahl der Fälle wird es überhaupt zu keinem
Ausschlufs kommen, da die Abortusfalle nur selten bekannt oder
doch sicher konstatiert werden. Nur wo ärztliche Behandlung not-
wendig wird, ist dies der Fall, nur diese wenigen Personen werden
durch Art. XV geschützt. So wird denn durch Aufrechterhaltung
seiner Bestimmungen für Fehlgeburten wenig erreicht, aber cs lohnt
sich auch kaum, um dieser wenigen Ausnahmsfällc willen allerlei
Ausnahmsbestimmungen in das Gesetz hinein zu bringen.
XVI. Jugendliche Arbeiter.
Dieser Artikel ist im Gesetz in nicht zutreffender Weise als
derjenige bezeichnet, der von der Beschäftigung der minder-
jährigen Arbeiter handelt. In Wirklichkeit spricht er aber
nur von den weniger als 18 Jahre alten. Der Deutlichkeit halber
würde man die Personen vom erfüllten 16. bis zum vollendeten
18. als „Jugendliche“, alle jüngern als „Kinder“ bezeichnen.
Ueber den Inhalt dieses Artikels äufsert sich einer der ange-
sehensten Führer der sozialdemokratischen Partei: die Mängel, die
wir zu beklagen hätten, sind in der Hauptsache nicht Mängel des
Gesetzes, sondern der Ausführung. Diesem Ausspruch kann man
wohl beistimmen. Man wird daher kaum zu wesentlichen Ab-
änderungsvorschlägen gelangen. Einige Ergänzungen und Ver-
besserungen wären aber rätlich.
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J°4
F. Schüler
So dürfte dem ersten Alinea beigefügt werden, dafs Kinder
unter 14 Jahren nicht nur nicht zur Kabrikarbeit verwendet werden
dürfen, sondern dafs ihnen auch der Aufenthalt in den
Arbeitsräumen untersagt sei. Durch diese Bestimmung
würde der Vollzug des Gesetzes sehr erleichtert, da oft Kinder an-
geblich als Boten in die Lokale eingeschmuggelt, dann aber zu
allerlei Dienstleistungen zurückbehalten werden. Auch hygienische
Gründe rechtfertigen diesen Ausschluß vollständig, sowohl für
gröfsere Kinder, als auch für solche, wo von einer allfälligen Ar-
beitsleistung keine Rede sein kann. Wer beobachtet hat, wie durch
unreinlich gehaltene Kinder die Luft der Arbeitssäle verpestet oder
die Glieder der an allen Maschinen sich herumtreibenden Jugend
gefährdet werden, wird dem Ausschlufs beipflichten.
Nur wenige Stimmen sind bisher laut geworden, die ein
weiteres Hinausschieben des Eintrittsalters verlangen. Die
Gründe dafür und dagegen sind sehr verschiedenartig. Zahlreiche
Eltern berechnen vor allem den Verlust, der ihnen z. B. aus der
Verschiebung des Eintritts bis zum erfüllten 15. Jahr erwachsen
würde. Dieser ist allerdings nicht unbedeutend, nicht nur für den
einzelnen Haushalt, sondern für die Gesamtheit der Arbeiter. In
unseren Fabriken arbeiten über 35 000 Personen unter 18 Jahren.
Die Zahl der 14 — 15jährigen ist unbekannt, mufs aber mindestens
auf 4 — 5000 geschätzt werden. Diese verdienen wenigstens I */«
bis I ’/j Millionen Franken im Jahr. Eine Lohnsteigerung für die
Erwachsenen wäre vielleicht die Folge der Verminderung der Kinder
in den Fabriken, aber den kinderreichen Familien würde dadurch
ihre Einbufse bei weitem nicht ausgeglichen. Es wäre auch mög-
lich, ja wahrscheinlich, dafs vielfach die Kinderarbeit durch Ver-
besserungen an Maschinen überflüssig zu machen versucht
würde.
Alle in Aussicht stehenden Einbufsen könnten aber dadurch
aufgewogen werden , dafs die Entwicklung der körperlichen und
geistigen Kräfte der Jugend durch eine verlängerte Schul-
pflicht und die dadurch ermöglichte gröfsere Berücksichtigung
der Leibesübungen gefördert würde. Auf diese Weise ist Zürich
vorgegangen, indem es die Zahl seiner Schuljahre erhöhte und es
hat dadurch die Handhabung des Kinderartikels im Fabrikgesetz
sehr erleichtert ; aber nur die Minderzahl der Kantone würde seinem
Vorbild folgen. Was werden dann aber die nicht mehr schul-
pflichtigen und von der Fabrik ausgeschlossenen Kinder thun? Nur
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Die Revision des schweizerischen Kabrikgesetzes.
305
eine Minderzahl wird bei der Landwirtschaft oder dem Handwerk
Beschäftigung finden. Dagegen würden sie sich der Haus-
industrie zu wenden, die ihnen noch weit ungünstigere Lebens-
bedingungen bieten würde. Ein revidiertes Fabrikgesetz, welches
die Kinder erst mit 15 Jahren zur Fabrikarbeit zuliefse, würde
Tausende veranlassen, auf diese Erwägungen gestützt, gegen das
Gesetz zu stimmen und damit auch den Zehnstundentag zu-
rückzuweisen.
Sehr einverstanden wäre dagegen wohl jeder Freund des
Kinderschutzes, wenn bei der Aufnahme der Kinder strenger
vorgegangen würde. Jede Beschäftigung von Kindern, welche
nicht in die Arbeiterliste eingetragen sind und für die nicht ein
amtlicher Altersausweis (für dessen unentgeldliche Ver-
abfolgung zu sorgen die kantonalen Behörden verpflichtet sein
sollten) vorgewiesen werden kann , sollte mit einer Bufse belegt
werden müssen, welche für jedes Kind ohne die geforderten Aus-
weise besonders zu berechnen wäre. Für Eltern und Vor-
münder, welche ihre Kinder vor dem gesetzlichen Alter in die
Fabrik schicken, sollte ebenfalls eine Bufse ausgesprochen werden
können. Für Kinder, welche dem Fabrikinspektor zu schwächlich
für die ihnen obliegende Arbeit erscheinen, sollte derselbe einen
amtsärztlichen Ausweis zu verlangen befugt sein, ob sie die
genügenden körperlichen Eigenschaften zur Er-
füllung ihrer Aufgabe besitzen, ein Recht, das ihnen das
englische wie das französische Gesetz längst zugestanden hat. Es
wäre dies eine wertvolle Ergänzung der Vorschrift, nach welcher
der Bundesrat ein Verzeichnis derjenigen Verrichtungen aufgestellt
hat, von denen Kinder bis zum erfüllten 16. Altersjahr auszu-
schliefsen sind.
Die Arbeitszeit der Kinder und Jugendlichen ist verschie-
denen Beschränkungen unterworfen, die meist weiter gehen, als die
der ausländischen Gesetzgebungen, die aber auf keinen ernstlichen
Widerstand gestofsen sind. Den Kindern ist eine 1 1 Stunden über-
steigende Arbeitszeit untersagt. Die Stunden des Schul- und Reli-
gionsunterrichts müssen in diesen Maximalarbeitstag eingerechnet
werden; dieser Unterricht darf auch nicht durch die Fabrikarbeit
beeinträchtigt werden. Sonntags- und Nachtarbeit ist gänzlich un-
zulässig. Nach der Ansicht einzelner genügt dies nicht und es
wird eine weitere Reduktion des Arbeitstages bis auf
acht Stunden, Unterrichtsstunden inbegriffen, vorge-
Archiv für *or. fje«eugebung u. Statistik. XVIII. 20
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306
F. Schüler,
schlagen. Es liegt auf der Hand, dal's dies eine ungeheure Störung
in diejenigen Betriebe bringen müfste, welche regelmäfcig Kinder
als Gehilfen verwenden, wie in Spinnereien, Schiffchcnstickereien,
Ziegeleien. Man würde vielleicht versuchen, die Halbtagsarbeit
einzuführen. Was sollten aber die Kinder mit dem anderen halben
Tag beginnen? Würden nicht unzählige Eltern die Heimarbeit
als vorteilhafter erachten ? Es würden die gleichen Bedenken auf-
tauchen, das gleiche Widerstreben sich geltend machen, wie bei
einer bereits besprochenen Heraufrückung des Eintrittsalters. Auch
in diesem Fall müfste wohl mindestens der Zehnstu ndentag der
Verminderung der Kinderarbeit zum Opfer fallen. So kommt man
wohl nicht mit Unrecht zu dem Schlufs, dafs es besser sei, mit
Sicherheit einen Fortschritt zu erzielen , der 240 000 Arbeitern
beider Geschlechter zu gute kommt, als einen nur erhofften für
etwa 15000 14 — iöjähriger anzustreben.
Ganz anders verhält es sich mit der Beibehaltung einer aus-
nahmsweisen Gestattung der Nachtarbeit für Knaben
unter 18 Jahren, wie sie in Alinea 3 des Art. XVI vorgesehen
ist. Von dieser Bestimmung ist, soweit sie sich auf die 14 — 16-
jährigen bezieht, aufserordentlich selten und in sehr geringer Aus-
dehnung Gebrauch gemacht worden. Meist werden nur die Jugend-
lichen in Anspruch genommen. Auf sie könnte daher diese Aus-
nahme ohne Schaden für die Industrie beschränkt werden. Eine
noch unabgeklärte Frage ist, ob auch Ueberstunden für Kinder
gewährt werden dürfen. Manche Kantone verneinen sie und es sind
wegen dem Entzug der Kinder für die Nachtarbeit noch selten
oder nie Klagen erhoben worden. Aber ebenso selten kommen
Anzeigen oder Bestrafungen wegen Uebertretung des Verbotes vor.
Das ist sehr verwunderlich, da doch in einzelnen Industrieen die
Ausführung der Ueberzeitarbeit sich nahezu unmöglich erweist, wenn
die Gehilfen nicht zur Hand sind. Der Verdacht liegt nahe, dal's
unter allseitigem Stillschweigen das Verbot übertreten werde. Es
giebt aber in der That Fälle, wo dies sehr begreiflich ist. ln
Konservenfabriken z. B. werden Kinder in grofser Zahl mit
sehr leichter und nicht im mindesten ungesunder Arbeit beschäftigt.
Eine zu verarbeitende Frucht reift rasch in grofser Menge, die
Arbeit schwillt plötzlich an und es ist unmöglich, genügendes Per-
sonal zu ihrer Bewältigung aufzutreiben. Sollen die Früchte ver-
faulen ? Jedes andere Land sieht für diese Ausnahmsfälle auch aus-
nahmsweise und kurze Ueberzeitbewilligungen auch für die „Ge-
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Die Revision der schweizerischen Fabrikgesetzes.
307
schützten“ vor und es läge wohl nicht einmal im Interesse der
Jugend, wenn wir durch starres Festhalten am Wortlaut des Ge.
setzes Uebertretungen geradezu provozieren wollten.
Der Art. XVI stellt auch für die Beschäftigung der
Jugendlichen einschränkende Bestimmungen auf. Er untersagt
ihnen Sonntags- und Nachtarbeit. Nur für einige wenige
Berufsarten giebt er Ausnahmen zu, sofern die Unerläfslichkei t
der Mitwirkung junger Leute bei deren ununterbrochenem Betrieb
dargethan ist und „wenn es im Interesse tüchtiger Berufserlernung
derselben förderlich erscheint" Es ist schon bemerkt worden, dafs
auf diese Ausnahme für die Knaben von 14 — 16 Jahren verzichtet
werden kann und faktisch bisher fast völlig verzichtet worden ist.
Sehr zu bezweifeln ist, ob dieser Verzicht auch für die Jünglinge
von 16 — 18 eine Wohlthat wäre. Zur gehörigen Erlernung des
Berufs gehört in den Glashütten, von denen von der Ausnahmsbe-
stimmung beinahe ausschliefslich Gebrauch gemacht wird, auch die
Gewöhnung an die dort unvermeidliche Nachtarbeit. Wer diese
noch nicht besitzt, ist kein vollwertiger Arbeiter. Er würde es
erst längere Zeit, nachdem ihm unser Gesetz die Verehelichung ge-
stattet 1
Ebenso ist es fraglich, ob man durch eine Bestimmung, welche
auch für die Jugendlichen eine mehr als zehnstündige Dauer
von Fabrikarbeit und Unterricht zusammen verbietet ,
Nutzen stiften würde. Zahlreiche Jünglinge in diesem Alter sind
schon mit Arbeiten beschäftigt, deren Beschränkung um 2 — 3
Stunden unter den (wie wir annehmen wollen) zehnstündigen Maxi-
malarbeitstag sich mit dem ganzen Betrieb nicht wohl vertrüge.
Hätten sie ein Recht, diese Verkürzung zu fordern, würde sich der
Arbeitgeber wohl zweimal besinnen, bevor er solche Leute anstellen
würde. Statt dafs, wie bisanhin, fast von allen Arbeitgebern der
Besuch der Fortbildungsschulen gefördert und nach Möglichkeit die
Arbeitsstunden den Schulstunden angepafst wurden, könnte es
leicht geschehen, dafs die Schulbesucher von manchen Stellen oder
Funktionen ausgeschlossen würden. Dem Schulwesen würde auf
diese Weise ein schlechter Dienst geleistet. Und zu alle dem darf
man wohl die Frage aufwerfen, ob denn junge Männer von
16 — 18 Jahren keine höhere, als eine zehnstündige
Arbeitsleistung vertragen könnten, während z. B. die
Zöglinge aller höheren Schulen durchschnittlich zu einer viel längeren
Arbeitsleistung genötigt sind, wenn sie es zu etwas mit ihrer zwar
20*
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3°8
F. Schüler,
nicht körperlichen , aber ebenso anstrengenden geistigen Arbeit
bringen wollen. Man darf also wohl an den bisherigen Be-
stimmungen über die Arbeitszeit der Jugendlichen sich genügen
lassen, um so mehr, als selbst aus den Reihen der zunächst be-
teiligten, der Arbeiter keine solchen weitergehenden Begehren laut
geworden sind. Wollte man es aber thun, müfste dann doch mit
aller Deutlichkeit gesagt werden, ob nur die gesetzlich vor-
geschriebenen Unterrichtsstunden oder nur die an öffent-
lichen Unterrichtsanstalten oder auch die ganz privater Natur in
die Arbeitszeit eingerechnet werden müfsten. Es wäre auch zu
sagen, ob dieser Anspruch nur den Fortbildungsschulen im engeren
Sinn des Wortes oder auch den Gewerbezeichnungs- und anderen
derartigen Schulen zukäme. Ja diese genauere Definition wäre
auch für die Kinder wünschbar, für die so mannigfache andere
Schulen, geistlicher und weltlicher Natur, aufser den obligatorischen,
offiziellen Anstalten bestehen. Es mögen nur die zahlreichen Ge-
sangschulen , Berufsschulen , Näh*- und Kochschulen etc. erwähnt
sein. Will man auch derartige Schulen mit einbegriffen wissen,
müfste die Amtsstelle bezeichnet werden, die zu entscheiden hätte,
auf welche die Bestimmungen des Art. XVI sich zu beziehen
hätten.
Die Besprechung desselben darf nicht beendigt werden, ohne
noch einen bisher gänzlich ungeregelten Punkt zu erwähnen : das
Lehrlings wesen in den Fabriken. Bei der immer häufiger be-
klagten Mifsachtung der als Lehrlinge in Fabriken eingegangenen
Verpflichtungen durch deren Eltern oder sie selbst, ist die Auf-
stellung von förmlichen Lehrverträgen mit Strafbestimmungen
beim Bruch des Vertrags immer häufiger geworden. Nicht selten
aber kommt es vor, dafs diese Bestimmungen als gegen das Fabrik-
gesetz verstofsende angefochten werden. Eine genauere Prüfung
dieser Verhältnisse wäre von hohem Wert und sollte bei einer
Revision des Fabrikgesetzes nicht unterlassen werden. Klagt man
doch allgemein, auch in Fabriken, über die Schwierigkeit, gehörig
gelernte Arbeiter zu erlangen, über die dadurch in einzelnen In-
dustrieen herbeigefuhrte Verschlechterung der Produkte und über
die zunehmende Notwendigkeit, unsere schweizerischen Arbeiter
durch gehörig gelernte Fremde zu ersetzen.
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzcs.
309
XVII und XVIII. Vollziehungs- und Strafbestimmungen.
Die Durchführung des Fabrikgesetzes liegt nach Art. XVII den
Kantonen ob, „welche hierfür geeignete Organe bezeichnen werden."
Dieser Organe bedarf es eine sehr grofecn Zahl, da der Vollzug
des Gesetzes von der gewissenhaften Ueberwachung jedes einzelnen
Fabrikbetriebes abhängt. Sie in genügender Zahl sich zu ver-
schaffen, ist dem Bund unmöglich; er ist deshalb auf die Polizei-
organc und die Lokalbehörden der Kantone angewiesen. Zudem
steht ja auch die Bestrafung der Uebertretungen den Kantonen zu.
Sind aber die bisher verwendeten Organe wirklich geeignet, den
gehörigen Vollzug des Gesetzes zu sichern? Nach den bisherigen
Lrfahrungen genügen sie dieser Aufgabe nur mangelhaft, an ein-
zelnen Orten nicht im mindesten. Es bedarf auch in den einzelnen
Kantonen besonderer Organe, deren spezielle Aufgabe die
Handhabung des Fabrikgesetzes ist und denen die Oberleitung der
ganzen Aufsicht und die Kontrolle der untergeordneten Organe zu-
steht. Verschiedene Kantone haben dies erkannt und ganz beson-
dere Organe geschaffen, die ausschliefslich für den richtigen Vollzug
des Fabrikgesetzes zu sorgen haben. Die wohlthätigen Wirkungen
dieser Institution haben sich bald bemerkbar gemacht. Aber von
jedem Kanton, auch solchen mit minimer Industrie, Spezialorgane
zu verlangen, geht nicht wohl an; es wäre eine Vergeudung von
Arbeitskräften. Solche Kantone würden sich auch gegen die
Kreierung derartiger Stellen sträuben oder sie mit anderen Auf-
gaben noch so belasten, dafs ihr Nutzen für den Fabrikgesetzvollzug
mehr als nur fraglich wäre. Man wird somit versuchen müssen,
auf andere Weise dem Gesetz einen genaueren Vollzug zu sichern.
Am gründlichsten wäre geholfen, wenn die durch das Fa-
brikgesetz zu schützenden selbst mehr für dessen Durch-
führung durch Anzeige der Zuwiderhandlungen thun würden. Aber
darauf ist nur in geringem Mafs zu hoffen. Selbst da, wo Vereine
die Aufgabe an die Hand genommen und besondere Vereins-
behörden aufgestellt haben, welche Gesetzesübertretungen zu er-
mitteln, an sic gelangende vertrauliche Mitteilungen zu prüfen und
den Aufsichtsbehörden zur Kenntnis zu bringen hätten, wird nur
unter besonders günstigen Umständen und bei ungewöhnlich ener-
gischem Personal der Arbeiterkommission etwas erreicht. Doch
ist es da und dort der Fall und diese wenigen günstigen Erfahrungen
legen den Gedanken nahe, ob es nicht möglich wäre, unabhängige,
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F. Schüler,
durch die Arbeiter zu wählende Vertrauenspersonen zu ge-
winnen, denen eine solche Aufgabe der Entgegennahme von Klagen,
vorläufiger Prüfung ihrer Begründetheit und bejahendenfalls Ueber-
mittelung an die zustehenden Aufsichtsbehörden überwiesen werden
könnte. Aehnliches ist auch schon im Ausland, und zwar teilweise
mit Erfolg versucht worden.
Den bisherigen amtlichen Organen ist manche Schwierigkeit
in den Weg gelegt worden. Selbst den jederzeitigen Eintritt in
die P'abrikräumlichkeiten hat man ihnen zu verwehren ver-
sucht, so dal's eine ausdrückliche Gesetzesbestimmung wünschbar
wäre, wonach sämtlichen mit dem Vollzug des Fabrik-
gesetzes betrauten Organen zu jederStunde der Ein-
tritt in alle Räume einer Fabrik gestatt et wäre.
Aus den Berichten der Fabrikinspektoren ist übrigens ersicht-
lich, dafs manche dieser untergeordneten Organe bis hinauf zu Be-
zirksvorständen dem Gesetz sehr gleichgültig, selbst feindlich im
Wege stehen. Sie kamen von kompetenter Stelle erteilten Weisungen
nicht nach, verletzten in grellster Weise einzelne Bestimmungen des
Gesetzes, z. B. durch Erteilung gesetzlich untersagter Bewilligungen,
Nichtvornahme — trotz amtlicher Mahnungen — von Unfallunter-
suchungen etc. Die Fabrikinspektoren meinten, dafs auch solche
Uebertretungen des Gesetzes durch Beamte nach
Art. XIX F.G. bestraft werden könnten. Gestützt auf ein
Gutachten des eidgenössischen Justizdepartements wurden sie aber
eines anderen belehrt. Kantonale Beamte, hiefs es, sind nicht nach
der Bestimmung strafbar, welche sich auf die Uebertretungen des
Gesetzes bezieht, sondern nach Spezialbestimmungen. Diese letz-
teren finden sich in den Verantwortlichkeitsgesetzen, Disziplinar-
ordnungen, Regiementen des Bundes und der Kantone oder in
speziellen Artikeln der einzelnen Gesetze. Das Fabrikgesetz ent-
hält keine solche Spezialbestimmung. So der Bescheid, gegen den
natürlich nichts einzu wenden war, der aber deutlich genug zeigt,
wie schwer es ist, die gröbsten Gesetzwidrigkeiten der kantonalen
Beamten zur Ahndung zu bringen und wie notwendig, durch Er-
lafs der erforderlichen Bestimmungen die faktisch fast vollständige
Straflosigkeit einzelner Beamten zu beseitigen. Denn wer von den-
jenigen, die zunächst mit der Durchführung des Gesetzes betraut
sind, besitzt oder kennt alle die citierten Gesetze, Regiemente etc.
und versteht es, daraus die Anklage zu formulieren und den hundert-
fältig verschiedenen kantonalen Einrichtungen und Vorschriften ent-
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Die Revision des schweizerischen Kabrikgesctzcs. j j j
sprechend richtig anzubringen, und findet die Zeit zu solchem
Studium !
Ein weiteres schweres Hemmnis der richtigen Ausführung des
Fabrikgesetzes ist in einzelnen Punkten die Straflosigkeit der
Arbeiter, die bei Beseitigung der Bufsen erst recht vollständig
sein würde. Es ist bei verschiedenen Anlässen, wie z. B. bei Be-
sprechung des Wöchnerinncnausschlusses, der Durchführung der
Sicherheitsvorschriften, der Verwendung zu junger Kinder zur Fabrik-
arbeit darauf hingewiesen worden. Wenn einige Bufsenbest im-
mun gen für Uebertretungen durch Fabrikarbeiter be-
gangen, ohne dafs es in der Macht des Arbeitgebers
gelegen wäre, sie zu verhüten, in das Gesetz aufgenommen
würden, wäre dies eine grofse Förderung des Gesetzesvollzugs.
Auch andere Gesetzgebungen haben dies erkannt und derartige
Bufsen festgesetzt, wie z. B. der von der allgemein als sehr arbeiter-
freundlich anerkannten Kommission ausgearbeitete Entwurf eines
norwegischen Fabrikgesetzes. Das englische Gesetz sagt über
diesen Gegenstand: Wenn ein Arbeitgeber beweist, dafs er alle
gebotene Sorgfalt angewandt, das Gesetz durchzuführen und dafs
Ucbertretung ohne sein Wissen, Einverständnis oder Duldung er-
folgte , ist nicht der Arbeitgeber, sondern die schuld-
bare Person zu strafen.
Was die Bestrafung der Arbeitgeber anbetrifft, ist schon
wiederholt die Frage aufgeworfen worden, an wen man sich zu
halten hätte, wenn für eine Uebertretung nicht eine Geldbufse,
sondern Gefängnisstrafe verhängt würde. Soll es der Direktor
einer Aktiengesellschaft sein oder das Komitee, das vielleicht eine
gesetzwidrige Handlung von ihm ausdrücklich gewünscht hat? Wer
soll es sein, wo mehrere Brüder mit gleichen Rechten und Befug-
nissen gemeinsam eine Fabrik leiten und besitzen? Die Frage wäre
nur dann leicht zu beantworten, wenn in allen Fabrikbetrieben
eine verantwortliche Person bezeichnet werden
müfste, welche von den allfalligen F'reiheitsstrafen betroffen würde.
Hier und da wollen Arbeitgeber die Berechtigung ge-
wisser amtlicher Weisungen nicht anerkennen. Sic
ergreifen Rekurs dagegen. Es ist aber schon oft vorgekommen,
dafs sie erst dazu griffen, nachdem sie viele Monate lang zu den
erhaltenen Weisungen geschwiegen und erst Einsprache erhoben,
nachdem eine erneute Inspektion den Fortbestand der alten Mängel
nachgewiesen oder eine mit scharfen Mafsregeln drohende erneute
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312
F. Schüler,
Aufforderung der kantonalen Regierung ihnen zugekommen. Auf
diese Weise können böse sanitärische Uebelstände zuweilen Jahr
und Tag fortbestehen , ohne dafs auch nur eine Bestrafung der
Renitenz möglich wäre. Aehnliche Erfahrungen hat man auch im
Ausland gemacht, aber sofort zu einem wirksamen Abhilfsmittel
gegriffen , indem man eine bestimmte, kurze Frist an-
setzte, innerhalb welcher Einwendungen erhoben
werden müssen, um gesetzlich zulässig zu sein. Eine
solche Bestimmung wäre auch für unser Gesetz von grofsem Wert.
Aber auch die Urteile, welche wegen Uebertretungen des
Fabrikgesetzes gefällt werden, erleiden zuweilen Anfechtung, ln
unserer Gesetzgebung bewanderte Leute wissen wohl, welchen Weg
sie in sqlchem Fall zu betreten haben und der amtliche Kommentar
zum Fabrikgesetz giebt zum Art. XIX eine darauf bezügliche Weg-
leitung „über Weiterziehung kantonaler Entscheide.“ Da aber nicht
jedermann im Besitz dieses Kommentars ist, wäre wohl eine An-
deutung im Gesetz selbst am Platz, in welcher Weise gegen ein
für unrichtig gehaltenes Urteil Einsprache erhoben werden müsse.
Als diejenigen Behörden, welche Zuwiderhandlungen gegen
das Fabrikgesetz oder schriftliche Weisungen der zuständigen Auf-
sichtsbehörden zu bestrafen befugt seien, werden in Art. XIX
nur die Gerichte genannt. Manche Kantone halten sich durch-
aus nicht daran und haben denjenigen Beamten, welchen ein Straf-
recht auch für andere polizeiliche Vergehen zukommt, das nämliche
auch für solche fabrikpolizeilicher Natur zugestanden, allerdings
unter Vorbehalt des Weiterzugs an die Gerichte. Mit ihnen war
die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats im Jahr 1892
einverstanden, die sich „ebenfalls der Ansicht zuneigte, dafs leichtere
Fälle wohl durch die Administrativjustiz dürften erledigt werden.“
Es ist in der That zuzugeben, dafs ohne diese Abweichung von
der Gesetzesvorschrift die Zahl der Strafklagen und Bestrafungen
eine noch weit geringere wäre, als sie es jetzt ist. Man würde
sich oft scheuen, den ganzen gerichtlichen Apparat in Bewegung
zu setzen, wenn es sich um kleinere Uebertretungen handelt. Zu-
dem ziehen in einzelnen Kantonen alle gerichtlichen Verurteilungen
Ehrenfolgen nach sich, die häufig in keinem Verhältnis zur Schwere
des Vergehens stehen würden. Eine andere, der bisherigen Uebung
entsprechende Formulierung des Art. XIX scheint somit geboten.
Sollte die Aufnahme näherer Bestimmungen über das Strafmafs
und dgl. in das Gesetz belieben, dürften vielleicht Fälle, die ein
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes. 3^3
bestimmtes Strafmafs voraussichtlich überschreiten würden, den Ge-
richten zugewiesen werden.
Im Wunsch der Inspektoren liegt eine auf die Untersuchung
fabrikpolizeilicher Fälle bezügliche Bestimmung, die Beweiskraft
der amtlichen Aussagen der Inspektoren betreffend.
Diese sollten doch zum mindesten den kantonalen Polizeibeamten
gleichgestellt werden. Das ist aber durchaus nicht in allen Kan-
tonen der Fall, obwohl es sonderbar genug erscheint, dafs die Aus-
sage eines gewöhnlichen Polizisten beweiskräftiger sein sollte, als
die eines eidgenössischen Beamten, der eine ziemlich hohe Stufe
unter den eidgen. Amtspersonen einnimmt. Der Wortlaut des
französischen Gesetzes dürfte zu empfehlen sein, das ganz einfach
sagt : Les contraventions constatees par les pror.es-verbaux des In-
specteurs und Inspectrices font foi jusqu'a preuve contraire.“
Ferner wäre eine Bestimmung von Wert, was als Rückfall
zu betrachten sei. Das eben angeführte Gesetz sieht es als solchen
an, „wenn die gleiche Person in den vorangehenden zwölf Monaten
wegen des gleichen Vergehens verurteilt wurde." Die Gleich-
gültigkeit, welche verschiedene untergeordnete Amtsstellen solchen
Rückfallen gegenüber an den Tag legen und sie kaum strenger
bestrafen, als die erste Zuwiderhandlung, läfst die Beifügung em-
pfehlenswert erscheinen, dafs der Rückfall wenigstens
doppelt so streng zu bestrafen sei. Nicht minder wünsch-
bar wäre, wenn für alle Kantone gleichmäfsig die Verjährungs-
frist für fabrikpolizeiliche Uebertretungen festgestellt werden
könnte.
Gestützt auf einen Bundesbeschlufs vom 24. Juni 1889 hat der
Bundesrat die Mitteilung der richterlichen und ad-
ministrativen Urteile an den zuständigen eidgen. Fabrikin-
spektor verlangt. Aus der Mitte der Arbeiterschaft wurde der
Wunsch geäufsert, dafs diese Urteile auch publiziert werden
sollen. Dieses Begehren erscheint schon deswegen bedenklich, als
doch in aller Welt die Publikation einer Strafe als Strafverschärfung
angesehen wird, über deren Anwendung der Richter im Spezialfall
zu entscheiden hat. Es wäre doch eine eklatante Rechtsungleich-
heit, wenn nur die Kontraventionen einer einzigen Klasse von
Bürgern allgemein dieser Verschärfung unterliegen sollten. Wie oft
mufs aber auch ein Arbeitgeber bestraft werden welcher die Ver-
letzung des Gesetzes gar nicht beabsichtigte, nun aber die Folgen
einer gesetzwidrigen Handlung eines Angestellten oder Arbeiters
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F. Schüler,
314
tragen mufs. Sollte nun durch eine, in den Augen vieler schimpf-
liche, Bekanntmachung dieses Mifsgeschick noch verschärft werden :
Uebrigens würde der moralische Effekt einer solchen Bekannt-
machung sich bald genug abstumpfen, wenn der Bestrafte auf der
gleichen Liste mit hunderten von Schicksalsgenossen figurierte.
Begnüge man sich doch mit dem Recht des Richters auf Bekannt-
machung des Urteils in Verbindung mit der sonstigen Bestrafung
zu erkennen.
Das schlimmste Hindernis einer wirksamen Bestrafung fabrik-
polizeilicher Uebertretungen ist sonderbarerweise noch selten oder
nie erwähnt worden, obwohl die Klagen über allzugelinde Be-
strafung nie verstummen — und gewifs nicht ohne Grund. Die
Inspektorenberichte enthalten zahlreiche Beispiele, wie die ver-
hängten Bufsen nichts weniger als zur Abschreckung, weit eher
zur Ermutigung der Fehlbaren dienen konnten. Sie waren oft
geradezu ein Hohn auf das Gesetz. Weder die Zahl der an
der Uebertretung beteiligten Personen, noch diejenige
der Tage, an welchen die Uebertretung statt fand,
kommt in den zahlreichsten Fällen in Betracht. Es genügt dem
Richter, nicht unter dem im Gesetz festgestellten Minimum zu
bleiben. Von Grundsätzlichkeit im Strafausmafs keine Spur und
noch weniger von Gleichheit bei den verschiedenen bestrafenden
Amtsstellen. An eine Besserung der Verhältnisse ist nicht zu
denken, wenn die Gerichte oder administrativ verurteilenden Be-
hörden nicht durch allgemein gültige Grundsätze, sowie
durch Aufstellung von Minima und Maxima, oder doch
wenigstens von ersteren, für jede Kategorie von Uebertretungen
gebunden werden. Fast jede andere Gesetzgebung hat dies gethan.
Vor allem dürfte die Fixierung gewisser Grundsätze für
die Bufsenberechnung und für die Anwendung all-
fällig weiter gehender Strafen erforderlich sein. Als
oberste Regel wäre hinzustellen, dafs die Strafe so hoch sich
belaufen soll, dafs dem Bestraften kein V orteil aus
seiner Uebertretung erwachsen kann. Was hat doch eine
Bufse für Sinn , wenn sie gegenüber dem erzielten Gewinn gar
nicht in Betracht kommt. Ich könnte einen F'all anführen, wo
40 Frcs. Bufse verhängt wurden, weil der Arbeitgeber ein paar
hundert Personen drei Wochen lang unerlaubte Uebcrzeit hatte
arbeiten lassen. Der Bestrafte gab mir getrost zu, dafs er eine
zehnfache Bufse mit Vergnügen bezahlt hätte, da ihm die ungesetz-
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
liehe Arbeit doch viele Tausende Vorteil gebracht hätte. Hier und
da kommt cs vor, dafs eine Ueberzeitarbeit mit 5 Personen gleich
hoch gebüfst wird, wie in einem anderen Kall eine solche mit 500.
Die Bestimmung ausländischer Fabrikgesetze, dafs die Bul'se so
viel mal verhängt werden müsse, als Personen an der
Uebertretung beteiligt gewesen seien, ist nur gerecht,
namentlich wenn hinzugefügt wird, dafs das Strafmafs auch mit
der Anzahl der Tage steigen müsse, welche die Zuwider-
handlung gedauert hat. Wie nötig eine Definierung des Rückfalls
ist, wurde bereits ausgeführt, ebenso dafs mindestens eine Ver-
doppelung der Strafe erforderlich sei. Beim zweiten Rückfall dürfte
wohl Gefängnisstrafe vorgeschrieben werden. Für Nicht-
erstellung oder Beseitigung verlangter Sicherheitsvorrichtungen oder
Nichtbeseitigung sanitarischer Schädlichkeiten nach einem gewissen,
von den Aufsichtsbehörden gestellten Termin würde mit vollem
Recht das englische Beispiel allerdings mit tnäfsigerem Strafansatz
nachgeahmt, das für jeden weiteren Tag eine Bufse bis zu 50 Frcs.
verlangt. Deutschland hat für die Nichteinreichung von Bauplänen
zur Genehmigung Bufsen bis zu 370 Frcs., für Anstellung von
Kindern ohne Altersausweise solche bis zu 25 Frcs. für jedes Kind.
So findet man auswärts bestimmte Bufsenbeträge für jede Art von
Zuwiderhandlung, wie wir sie z. B. auch in unserem Zündholzgesetz
wenigstens teilweise vorfinden und wie sie kantonale Polizeigesetze in
reicher Zahl enthalten. Wenn auf diese Weise die Uebertretungen auf-
hörten, lukrativ zu sein, würde sich ihre Zahl sicherlich rasch ver-
mindern. Beseitige man daher die unzwcckmäfsige Bufsenbestimmung
des Art. XIN und ersetze sie durch strengere, aber gerechtere.
XVIII. Die Fabrikinspektion.
Stellung und Aufgabe des Fabrikinspektorats
werden vielfach, namentlich von den Arbeitern, ganz falsch auf-
gefafst. Der Bundesrat hat nicht für den Vollzug des Fabrikgesetzes
zu sorgen, sondern nur zu kontrollieren, ob derselbe — eine den
Kantonen übertragene Aufgabe — richtig stattfindet. Den Organen
der Kantone fallt in erster Linie die Aufsicht zu, nicht, wie
irrigerweise so oft angenommen wird, den Beamten des Bundes.
Wenn deren Zahl auch verzehnfacht würde, reichte sie doch nicht
hin, alle oder auch nur einen erheblichen Teil der Gesetzesüber-
tretungen zu ermitteln. Die Aufgabe der eidgenössischen Inspektoren
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Y. Schüler,
ist und bleibt die der Oberaufsicht, der Unterstützung des Bundes-
rats als technische Experten, das Studium der industriellen und
Arbeiterverhältnisse, der Unterstützung der Arbeitgeber in Erfüllung
der Anforderungen des Gesetzes. Sie wird sich auch darauf be-
schränken müssen, solange den Kantonen ihre jetzige selbständige
Stellung im Bunde erhalten bleibt.
So häufig auch die Inspektoren mit Vorwürfen überschüttet
werden, wenn sie nicht allen Beschwerden abhelfen, in allen Dingen
Ordnung schaffen und, was nicht das letzte ist, alle geäufserten
Wünsche und Verlangen unterstützen können, werden doch von
der gleichen Seite her Wünsche nach Ausdehnung ihrer
Kompetenzen laut. Sie besitzen aber deren, wenn auch nicht
gesetzlich, doch faktisch ein grofses Mafs. Die meisten Kantons-
regierungen legen ein grofses Gewicht auf ihre Räte und Vor-
schläge und geben denselben Folge. Eine Vermehrung der In-
spektorenkompetenzen würde einem grofsen Teil des Publikums als
ein Uebermafs von Gewalt, welche einem Beamten anvertraut würde,
erscheinen. Die Wirksamkeit des Inspektorats würde dadurch eher
erschwert.
Geht man im einzelnen die verlangten Kompetenzerweiterungen
durch, so findet man an erster Stelle den Wunsch, dafs die Inspek-
toren von sich aus verbindliche Weisungen betreffend Vor-
kehrungen zum Schutz von Gesundheit und Leben der Arbeiter
erlassen können. Dies wäre nur dann empfehlenswert, wenn sie
erst nach einein gewissen Termin als verbindlich erklärt würden,
bis zu welchem der Betriebsinhaber, an welchen die Anforderungen
gestellt werden, seine Einwendungen beim Inspektor schriftlich an-
zubringen hätte. Würde dieser an der Weisung festhaltcn, hätte er
den gleichen Weg einzuschlagen, wie bisanhin, d. h. er hätte sich
an die kantonale Regierung mit dem Antrag zu wenden, einen
amtlichen Befehl zur Ausführung seiner Weisungen zu erlassen.
Seine Kompetenz würde also im Grund genommen nicht vermehrt,
sondern nur die Verschleppung einer schützenden Mafs-
regel auf viele Monate verhindert.
Bedenklicher wäre schon, wenn dem Inspektor das Recht ein-
geräumt werden sollte, Bewilligungen irgend welcher Art
zu erteilen. Meist würde es sich um Ueberzeitbewilligungen
handeln. Mit der neuen Kompetenz würde allerdings mehr Gleich-
mäfsigkeit in die Handhabung des Gesetzes kommen. Aber einer-
seits mufs man mit den speziellen Verhältnissen eines Orts oder
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Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes.
Betriebs vertraut sein, um ein Gesuch richtig beurteilen zu können,
andererseits wäre eine rasche Erledigung der Gesuche in pressanten
Fällen oft unmöglich. Uebrigens genügt es, wenn die erteilten Be-
willigungen dem Inspektor rasch und richtig angezcigt werden, so
dafs er gegen eine Ungesetzlichkeit oder ein Uebermafs sofort re-
klamieren kann.
Man möchte dem Inspektorat ein gewisses Büfsungs recht
zuweisen. Damit würde ihm aber auch in vielen Fällen die Pflicht
auferlegt, Untersuchungen anzuheben, Zeugen einzuvernehmen u. dgl.,
was sich mit seiner amtlichen Stellung gar nicht vertrüge. Es
würde ihn aber auch von seinen übrigen Funktionen viel zu sehr
ablenken. Nur in Einem Fall wäre ein solche Berechtigung viel-
leicht zu begrüfsen. Wo es sich um blofse formelle Dinge,
wie die Führung einer vollständigen Arbeiterliste, die Beschaffung
der Altersausweise, die Eintragung der Bufsen in eine Liste und
ähnliches handelt, könnten die Beträge, um welche jede einzelne
Nichterfüllung der Vorschriften gebüfst werden müfste, festgestellt
werden und der Inspektor hätte nur das Vorhandensein dieser Ver-
fehlung zu konstatieren. Es ist zu vermuten, dafs so eine gröfsere
Pünktlichkeit in dieser Richtung erzielt würde, da die Ueber-
tretungen oft so geringfügiger Natur, so wenig beabsichtigt sind,
dafs man lieber von einer Klagefuhrung absieht.
Sogar der Entscheid in streitigen Abzugs- und Ent-
schädigungsfragen ist den Inspektoren zugemutet worden.
Dazu bedarf es aber doch einer ganz anderen Art von Fachkenntnis,
als die Inspektoren sie besitzen oder bedürfen. Abgesehen von
der Unmöglichkeit, all diesen Streitfällen nachzugehen, wären die
Inspektoren für diese Aufgabe gar nicht geeignet, die unendlich
viel besser Fachgerichten überlassen wird.
Nur eine Kompetenz möchte ich den Inspektoren lebhaft
wünschen: das Recht, einzuschreiten, wenn sie — wie
dies hier und da vorkommt — auf Kinder stofsen, die allzu
schwächlich oder kränklich aussehen, um zum E’a-
brikdienst angehalten zu werden, ein amtsärztliches
Zeugnis zu verlangen, ob das betreffende Kind unbe-
schadet seiner Gesundheit beschäftigt werden dürfe.
Eis ist zu hoffen, dafs jedermann diese Fürsorge für schwächliche
Kinder begrüfsen werde.
Die Aufgabe des Fabrikinspektorats bedingt natürlich auch,
wie es zusammengesetzt sein sollte. Ursprünglich, als
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F. Schüler,
erst drei Inspektoren in Aussicht genommen wurden, gedachte
man, das Kollegium aus einem Maschinentechniker, einem Chemiker
und einem Arzt zusammenzusetzen. Die Ausführung dieses Projektes
unterblieb aus verschiedenen Gründen, die Idee aber war richtig.
Für die Zukunft wird es schwer halten, einen tüchtigen Arzt zu
bekommen, der sich mit Vorliebe mit Gewerbehygieinc beschäftigt
und auch einige Erfahrung im praktischen Leben gesammelt hat.
Ein solcher wird sich nicht leicht im Anfang nur mit einer Ad-
junktenstelle begnügen. Vielleicht ginge es an, ihn in den anderen
Inspektoren koordinierter Stellung als beratenden und mit hygie-
nischen Spezialuntersuchungen zu beauftragenden Beamten zu ge-
winnen. Eine solche Aufgabe wäre ganz verlockend für einen
v gründlich vorgebildeten jungen Hygieiniker, seine Thätigkeit wäre
geeignet, schöne Resultate auf dem Gebiet der Gewerbehygieinc,
resp. des Arbeiterschutzes zu erzielen und seinen Kollegen könnte
ein solcher Spezialist sich ebenso nützlich erweisen, als einer
hoffentlich nicht in ferner Aussicht stehenden Versicherungsanstalt
gegen Unfall und Gewerbekrankheiten.
Das Fabrikinspektorat wird aber auch in anderer Richtung ent-
lastet werden müssen, wenn es seiner Aufgabe genügen will, die
ihm immer weiter gesteckt wird. Sehr oft wird seine Zeit über
Gebühr beansprucht durch blofse Nachschau, ob Verlangtes richtig
ausgeführt. Uebelständc nach Vorschrift beseitigt seien. Sehr oft
könnten solche Missionen mit ebenso gutem Erfolg zuverlässigen,
in Mechanik und verwandten Dingen gut bewanderten Männern
aus der Mitte der Arbeiterschaft übertragen werden. Solche
„Inspektionsgehilfen“ vermöchten dem Inspektorat grofse Er-
leichterung zu verschaffen, böten aber zugleich den Vorteil, dafs sie
in engerem Kontakt mit der Arbeiterschaft ständen und teilweise
aus eigener Erfahrung auf manches aufmerksam machen könnten,
was dem Inspektor ferner liegt. Wenigstens einen Versuch in
dieser Richtung durch die neue Fassung des Gesetzes zu ermög-
lichen, dürfte zwcckmäfsig sein.
Von manchen Seiten ist statt dessen auf eine Vermehrung
der Zahl der Inspektoren selbst gedrungen worden. Es liegt
aber für jedermann, welcher unser Inspektionswesen genauer ver-
folgt hat, auf der Hand, dafs zur Erzielung einer möglichst gleich-
förmigen Ausführung des Gesetzes entweder eine Oberleitung, ein
Oberinspektorat geschaffen werden müfste, oder dafs die Zahl der
Kreise nicht vermehrt werden darf. Je gröfser die Zahl der selb-
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Die Revision des schweizerischen Fabrikfjcset^es.
319
ständig in ihrem Bezirk amtenden Inspektoren würde, desto mehr
würden auch Verschiedenheiten in der Auffassung der Aufgaben, in
der Art des Vorgehens zu Tage treten. Die Einheitlichkeit in der
Gesetzeshandhabung ginge immer mehr verloren. Wenn aber ein
Chef der ganzen Inspektion geschaffen würde, dürfte dies manche
geeignete Kraft von der Uebernahme einer Inspektorstelle ab-
schrecken, denn das Abhängigkeitsverhältnis, in welches an ein-
zelnen Orten im Ausland die Inspektoren von ihrem Oberhaupt
geraten sind, ist bekannt genug, so dafs mancher keine Lust hätte,
in eine solche Stellung einzutreten. Der Gedanke einer solchen
Ueberordnung eines einzelnen ist schon vor Jahrzehnten aufgetaucht,
aber aus ähnlichen Gründen wieder aufgegeben worden.
Mit Feuereifer ist auch von verschiedenen Seiten die Einführung
von weiblichen Inspektoren befürwortet worden. Wie man
sich die Sache denkt, ist nirgends genau gesagt worden. Soll eine
weibliche Inspektorin einen Inspektionskreis zugewiesen bekommen,
wie der männliche Kollege ? Oder soll die Frau nur eine gewisse
Klasse von Betrieben zu beaufsichtigen haben, z. B. nur solche mit
ausschliefslich weiblichen Arbeiterinnen? In der ganzen Schweiz
finden sich unter dem Fabrikgesetz 214 Betriebe der letzteren Art,
die zusammen 3487 Personen beschäftigen. Soll für diese eine be-
sondere Aufsicht geschaffen werden, während ein männlicher In-
spektor zehnmal so viele Betriebe und bis nahezu 96000 Arbeiter
zu besuchen hat? Es ist sehr fraglich, ob eine Frau die Strapazen
des beständigen Reisens zusammen mit allen anderen einem In-
spektor obliegenden Funktionen aushielte. Zwei der bisherigen
Inspektoren waren schon gezwungen, wegen Ueberanstrengung von
ihrem Amt zurückzutreten. Man hört ferner oft die Behauptung,
dafs Frauen nicht die nötigen Fähigkeiten zur Uebernahme eines
Inspektorats besitzen. Es ist auch wahrscheinlich, dafs aufser-
ordentlich wenige Frauen einen solchen Bildungsgang durchgemacht
haben, dals sie alle die Verrichtungen eines männlichen Inspektors
übernehmen könnten, aber ich zweifle nicht, dafs sic sich ebensogut
wie Männer, die erforderlichen Kenntnisse erwerben könnten. I lin-
gegen kommen zu meinen Bedenken wegen der körperlichen Eig-
nung noch andere. Die Frau mit ihrem lebhafteren Empfinden,
ihrer gröfseren Erregbarkeit hat weit mehr Schwierigkeiten zu über-
winden, wo sie mit kaltem Blut Untersuchungen vorzunchmcn hat
in Fällen, wo ihr Rechtsgefühl, ihr sittliches Gefühl durch die ver-
nommenen Anklagen aufs höchste erregt ist, wo ihr Herz von
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F. Schüler,
tiefstem Mitgefühl ergriffen ist. Vermag sie aber ihre Ruhe nicht
zu bewahren, begeht sie infolge dessen Mifsgriffe oder gar Unge-
rechtigkeiten, ist ihre gedeihliche Wirksamkeit dahin. Solche Er-
wägungen veranlassen viele, die Anstellung von Frauen im Inspek-
torat nicht als wünschbar zu betrachten. Und doch, in Einem
Punkt würden sie die Männer übertreffen. Wo es sich um Ueber-
wachung von Reinlichkeit und Ordnung, von Anstand und guter
Sitte, um gehörige Verpflegung handelt, haben die Frauen einen
schärferen Blick, eine raschere Beobachtungsgabe. Dies würde sie
in Betrieben mit weiblicher Arbeiterschaft, wie die meisten unserer
schweizerischen Arbeiterinnenschutzgesetze umfassen, zum Inspek-
torat ganz besonders geeignet machen. Dagegen mufs ein anderer
Grund, der (vir ihre Verwendung ins Feld geführt wird, vollständig
in Abrede gestellt "werden. Man behauptet, dafs die Arbeiterinnen den
Frauen in gewissen Dingen mit mehr Vertrauen und Offenheit ent-
gegenkommen. Die Erfahrungen der schweizerischen Inspektoren
sprechen nun nicht dafür, dafs ihnen aus Schamhaftigkeit manches
verhehlt wird, aber auch nicht dafür, dafs viel Unsittliches zu ver-
hehlen wäre. Dafs die weiblichen Inspektoren in Deutschland sich be-
sonderen Zutrauens und besonderer Beanspruchung durch das weib-
liche Geschlecht erfreuen, geht aus den, der Frauenanstellung sonst
freundlich gesinnten Inspektionsberichten nicht hervor, weit eher
das Gegenteil, so vorzügliche Kräfte auch verwendet zu werden
scheinen. Die bekannte amerikanische Oberinspektorin Fl. Kelley
schreibt: man meinte anfänglich, weibliche Personen teilen einem
männlichen Inspektor nicht gern Ungebührlichkeiten und Belästi-
gungen mit, aber „im Verlauf meiner Thätigkeit habe ich die Er-
fahrung gemacht, dafs die Arbeiterinnen im Punkt der Anbringung
von Beschwerden keinen Unterschied zwischen männlichen und
weiblichen Inspektoren machen.“ Und an anderer Stelle: „Be-
schwerden über moralische Vergehen von Unternehmern , Werk-
führern oder anderen im Betrieb angestellten Personen werden weder
an Inspektorinnen noch Inspektoren gerichtet.“ Die so eben citierte
Dame berichtet denn auch, dafs die Vermehrung der weiblichen
Inspektoren nicht Schritt halte mit derjenigen der männlichen.
Und in England, das so oft als Beispiel für die Vorzüge der Frauen-
verwendung angeführt wird, machten im Jahr 1899 die Frauen erst
fünf Prozent des Inspektionspersonals aus. Dies alles spricht dafür,
dafs die gröfste Vorsicht inbezug auf die Anstellung weiblicher In-
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Die Revision des schweiicrischen KahrikgcseUes. ^21
spektoren im eidgenössischen Dienst geboten ist und im Gesetz
höchstens die Zulässigkeit derselben festgesetzt werden sollte.
Mag übrigens die Frage der Gestaltung des Inspektorats ge-
regelt werden, wie sie will, wird daran weit weniger liegen, als
dafs endlich die seit Jahren ausgesprochenen Wünsche der Be-
teiligten und die Versprechungen baldiger Inangriffnahme einer
Fabrikgesetzesrevision ihre baldige Erfüllung finden. Wenn diese
Blätter etwas dazu beitragen können, ist erreicht, was der Verfasser
damit erstrebt hat.
Archiv für »oz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII.
21
Der Rechtszustand der Gewerkvereine
in Grofsbritannien.
Von
HENRY W. MACROSTY, B. A.
Die hervorragende Bedeutung, welche der Arbeiterorganisation
Großbritanniens zukommt, läfst alles, was die englischen Gewerk-
vereine betrifft, als eine Angelegenheit von internationalem Interesse
erscheinen. Es bedarf daher für die folgenden Erörterungen keiner
besonderen Entschuldigung. Ueberdies haben wir cs gegenwärtig
mit einer aufsergewöhnlich bemerkenswerten Frage zu thun. Seit
dreifsig Jahren hatte man sich daran gewöhnt, den Gewerkvereinen
einen festen Rechtsstand einzuräumen. Dann wurde dieser Rcchts-
stand durch verschiedene gerichtliche Entscheidungen der letzten
Jahre völlig erschüttert, und die damit verbundenen Privilegien und
Garantien wurden den Gewerkvereinen genommen. Schliefslich
sagte die Regierung auf das Drängen dieser Arbeiterorganisationen
eine Untersuchung zu, um dadurch das faktisch bestehende Recht
zu ermitteln. Diese Entwicklung soll im folgenden in möglichst
knapper Darstellung verfolgt werden, und es wird dabei meine Auf-
gabe sein, die rechtlichen Anschauungen, welche diesen wider-
spruchsvollen und unerträglichen Zustand herbeigeführt haben, zu
prüfen und zu klären. Zu diesem Zweck müssen wir uns der Ver-
gangenheit zuwenden und die Bestimmungen der Parlamentsakte,
welche den Rechtsstand der Gewerkvereine definieren, wörtlich
wiedergeben.
Jahrhundertelang stand das Parlament allen Versuchen der
arbeitenden Klassen, die auf eine Verbesserung ihrer Lage hinzielten,
feindlich gegenüber. Dieser Gesinnung entsprangen Repressivmafs-
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Der Rechtszustand der Gewerkvereine in Grofsbritannien.
323
regeln, die in dem Gesetz vom Jahre 1800 gipfelten, das jede Ver-
einigung zwecks Erhöhung der Löhne und Verkürzung der Arbeits-
zeit mit Gefängisstrafe bedrohte. Die wachsende Empörung der
Arbeiter führte zwar im Jahre 1824 zur Aufhebung der Koalitions-
verbote, doch unterwarf eine Novelle des folgenden Jahres die Ge-
werkvereine dem gemeinen Recht. In dieser Weise wurde der
Koalition wohl eine formelle aber keine materielle rechtliche An-
erkennung gewährt; denn die Gewerkvereine konnten jetzt wegen
Verschwörung gegen die Gewerbefreiheit (conspiracy in restraint of
trade) belangt werden. Dieses Ansnahmerecht bestand bis zum
Jahre 1871. In diesem Jahre wurde das Gewerkvercinsgesetz er-
lassen, dessen hauptsächliche Bestimmungen lauten :
2. „Die Zwecke eines Gewerkvereins sollen nicht lediglich aus
dem Grunde, dafs sic gegen die Gewerbefreiheit gerichtet sind, für
rechtswidrig erklärt werden, um die Mitglieder eines solchen Ge-
werkvereins der strafrechtlichen Verfolgung wegen Verschwörung
oder anderer Vergehungen zu unterwerfen.
3. Die Zwecke eines Gewerkvereins sollen nicht lediglich aus
dem Grunde, dafs sie gegen die Gewerbefreiheit gerichtet sind, für
rechtswidrig erklärt werden, um dementsprechend Vereinbarungen
und Verträgen die Rechtskraft zu entziehen.
4. Aus keiner Bestimmung dieses Gesetzes soll ein Gerichtshof
die Befugnis ableiten, ein Verfahren gut zu heifsen, das den Zweck
hat, Entschädigungen zu beanspruchen, wenn Verletzungen begangen
sind gegen :
1. Eine Vereinbarung zwischen den Mitgliedern eines Gewerk-
vereins als solchen, welche die Bedingungen regelt, unter
welchen die Mitglieder eines solchen Gewerkvereins ihre
Waren verkaufen oder nicht verkaufen, unter welchen sie
Geschäfte abschliefsen, Arbeit nehmen oder geben sollen.
2. Eine Vereinbarung über die Zahlung eines Beitrags oder
einer Strafe seitens irgend einer Person an einen Gewerk-
verein.
2. Eine Vereinbarung über die Verwendung des Gewerkvereins-
vermögens für folgende Zwecke:
a) um die Mitglieder zu unterstützen, oder
b) um einen Arbeitgeber oder Arbeiter, die nicht dem Ge-
werkverein als Mitglieder angehören, zu belohnen, weil
sie die Statuten und Beschlüsse des Gewerkvereins als
bindend anerkennen; oder
21*
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Henry W. M a c r o s t y ,
c) um eine Strafe zu bezahlen, die irgend einer Person
durch gerichtliches Urteil auferlegt ist.
4. Eine Vereinbarung, die ein Gewerkverein mit einem anderen
abgeschlossen hat.
5. Eine Bürgschaft, um die Durchführung der oben angeführten
Vereinbarungen zu sichern.
Aber kein Teil dieses Abschnittes soll in einer Weise ausge-
legt werden, durch welche die oben angeführten Vereinbarungen
ungesetzmäfsig erklärt werden könnten."
Die übrigen Bestimmungen des Gesetzes regelten die Registrie-
rung der Gewerkvereine und die Ernennung von Trustees zur Ver-
waltung des Vereinsvermögens.
Um ein richtiges Verständnis für dieses Gesetz zu gewinnen,
ist es nötig, auf den Minderheitsbericht der Gewerkvereinskommission
von 1867 zurückzugreifen, welcher nach der Aussage des Home
Secretary dem Gesetz zu Grunde gelegt worden war. Es war da-
mals vorgeschlagen worden, den Gewerkvereinen volle Rechtskraft
zu gewähren, damit sie klagen und verklagt werden könnten, damit
sie Beiträge von ihren Mitgliedern gerichtlich eintreiben und für die
zu zahlenden Unterstützungen seitens der Mitglieder verantwortlich
gemacht werden könnten.
Hierüber heifst es in jenem Minoritätsbericht:
„Wir sind keineswegs überzeugt, dafs ein derartiges Ge-
setz auch nur entfernt wünschenswert wäre. Die Gewerk-
vereine sind ihrem Wesen nach gesellige Vereinigungen
(clubs) und keine Handelsgesellschaften, und wir sind der
Ansicht, dals die gesetzliche Regelung, die diesen zu teil
wird, bei jenen nicht anwendbar ist. Von irgend welchen
Vergehungen abgesehen, sind die Zwecke, die sie beab-
sichtigen , die Rechte, die sie beanspruchen , und die Ver-
pflichtungen, die sie eingehen, zum gröfsten Teil solcher
Art, dafs sic unserer Ansicht nach nicht durch Gerichte er-
zwungen. verändert oder aufgehoben werden können. Sie
beruhen vollständig auf freiwilliger Uebereinstimtnung."
Dieser Bericht atmet den Geist des laissez- faire. Das Gewerbe
ist eine Privatangelegenheit, die den Staat nichts angeht. Dieser
hat nur die eine Aufgabe, dafür zu sorgen, dafs im Fall eines
Streites kein Verbrechen begangen werde. Doch selbst von diesem
Standpunkte aus mufsten weitergehende Mafsregeln getroffen werden,
um die Gewerkvereine gegen den Mifsbrauch des Verschwörungs-
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Der Kechlszustand der Gewcrkvcrcine in Grofsbritannien.
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gesetzes zu schützen und die Rechte der Ausständigen zu be-
stimmen. Das geschah durch folgende Bestimmungen des Gesetzes
über Verschwörung und Vermögensschutz (Conspiracy and Pro-
tection of Property Act) vom Jahre 1875:
6. „Eine Vereinbarung oder Vereinigung zwischen zwei oder
mehreren Personen, die den Zweck hat, eine Handlung zu begehen
oder anzustiften, welche einen Gewerbestreit zwischen Unternehmern
und Arbeitern eröffnen oder unterstützen, soll, kann nicht als eine
Verschwörung belangt werden, wenn dieselbe I landlung, von einer
Einzelperson begangen, nicht als ein strafbares Vergehen gilt.
Kein Teil dieses Abschnittes soll Personen, die sich einer Ver-
schwörung schuldig gemacht haben, von Strafe befreien, wenn eine
solche Strafe durch Parlamentsakte vorgesehen ist.
Kein Teil dieses Abschnittes berührt in irgend einer Weise
das Gesetz, das Zusammenrottung, ungesetzmäßige Versammlung,
Ruhestörung und Aufruhr oder irgend eine gegen den Staat oder
das Staatsoberhaupt gerichtete Handlung betrifft.
Als Vergehen gilt im Sinne dieses Abschnittes eine Handlung,
die infolge einer öffentlichen Anklage oder einer summarischen
Ueberführung strafbar ist, und wofür der Schuldige unter dem Ge-
setz belangt werden kann, welches das Vergehen entweder katego-
risch oder nach Ermessen des Richters mit Gefängnisstrafe an Stelle
irgend einer anderen Strafe belegt."
7. „Wenn eine Person eine andere unrechtmäßig und ohne
gesetzliche Ermächtigung zu zwingen sucht, eine Handlung, die
diese rechtmäßig zu thun beabsichtigt, nicht zu begehen, oder die
diese rechtmäßig nicht zu thun beabsichtigt, dennoch zu begehen,
und zu diesem Zweck
a) Gewalt anwendet, um diese andere Person oder seine Ehe-
frau oder Kinder cinzuschüchtern oder sein Eigentum be-
schädigt ; oder
b) dieser Person beständig von Ort zu Ort nachgeht ; oder
c) Werkzeuge, Kleider und andere Gegenstände, welche diese
andere Person gebraucht oder ihr als Eigentum gehören,
versteckt, oder sie an den Gebrauch derselben hindert
oder davon abhält; oder
d) das Haus oder den Platz oder den Zugang dazu beobachtet
oder umstellt, wo diese andere Person wohnt, arbeitet, ein
Geschäft betreibt, oder sich zufällig aufhält; oder
e) diese andere Person mit zwei oder mehreren Personen auf
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Henry W. Macrosty,
der Strafse oder einem öffentlichen Wege in ungehöriger
Weise verfolgt
so soll jene Person, nach Ueberführung durch summarisches Ver-
fahren oder auf öffentliche Anklage, entweder zu einer Geldstrafe
bis zu jß 20 oder zu Gefängnis bis zu drei Monaten mit oder
ohne Zwangsarbeit verurteilt werden.
Das Warten vor oder bei einem Hause oder Platz oder
dessen Zugang, wo diese andere Person wohnt, arbeitet, ein Ge-
schäft betreibt, oder sich zufällig aufhält, nur zu dem Zweck
um Nachrichten zu erhalten oder mitzuteilen soll
nicht als ein Beobachten oder Umstellen im Sinne
dieses Abschnittes gelte n."
Der letzte Teil dieses Abschnittes erlaubt das Picketieren (Strike-
Posten).
Die auf den Grundsätzen des laissez-faire ruhende Anschauung
von der privaten Natur der Gewerkvereinc, welche in dem Gewerk-
vereinsgesetz so uneingeschränkt zum Durchbruch kam, dafs dem
Verein keine gesetzliche Befugnis eingeräumt wurde, die Mitglieder
zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sie dem Verein schulden, zu
zwingen — liefs sich so lange ertragen, als grofse gewerbliche
Streitigkeiten nicht vorkamen. Eine Zeitlang ging alles gut — die
grofse Masse der Arbeiter machte sich die Theorie ihrer Arbeit-
geber zu eigen, dafs die Löhne vom Unternehmergewinn abhängig
seien, und die Gewerkvereine entwickelten nur ihre Wohlfahrts-
einrichtungen, während sie als Hüter der realen Arbeiterintercssen
eingenickt waren. Aber der tiefe wirtschaftliche Niedergang, der
dem Aufschwung im Anfänge der siebenziger Jahre gefolgt war,
offenbarte die Thatsache, dafs die Industrie eine Angelegenheit von
allgemeinem nationalem Interesse sei. Nachdem der Geschäftsgang
wieder eine aufwärts gerichtete Tendenz eingeschlagen hatte, wurde
den Gewerkvereinen durch das Zusammenwirken verschiedener Ur-
sachen ein neuer Geist eingehaucht. Das Erwachen des öffentlichen
Gewissens infolge der im Jahre 1 888 erfolgten Enthüllungen über
das Schwitzsystem, die lebhafte sozialistische Propaganda, die seit
1884 im Gange war, die Erhebung der ungelernten Arbeiter im
Hafenstrike von 1889, und die Unterstützung, welche das Prinzip
des Existenzlohnes (living-wage) im Volke gefunden hatte — diese
sämtlichen Ursachen trugen dazu bei, der Gewerkvereinsbewegung
eine Richtung zu geben, die agressiver und kampfbereiter war als
die, welche sie in dem abgclaufenen halben Jahrhundert verfolgt
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Der Rechtszustand der Gewerkvereine in Grofsbritannien.
32 7
hatte. Zahlreiche und oft gewaltthätige Ausstände folgten schnell
aufeinander, kein Gewerbe blieb von schweren Störungen ver-
schont. Die öffentliche Meinung hatte ihre Stellungnahme gegen-
über den Glaubenssätzen von 1870 in merkwürdiger Weise geändert.
Der Kohlenstrike des Jahres 1893 hatte gezeigt, dafs ein Konflikt,
der in einem Gewerbe längere Zeit fortdauert, alle anderen Ge-
werbe des Landes gefährdet. Man sah ein, dafs die Industrie, Aus-
stände und Aussperrungen nationale Angelegenheiten seien und
man gewöhnte sich daran, in den Gewerkvereinen etwas anderes
als lediglich „gesellige Vereinigungen" zu sehen. Jederman ging
auf die Suche nach einem Mittel zur Verhütung von Strikes. Die
königliche Arbeitskommission (Royal Commission 011 Labour) wurde
ernannt, und das armselige Ergebnis ihrer wirren Untersuchungen
war das Einigungsgesetz (Conciliation Act) von 1896. Dieses Ge-
setz ermächtigte das Handelsamt (Board of Trade) seine Vermittlung
anzubieten, aber ohne ihm das Recht zu verleihen, die Parteien zu
zwingen, ihre Sache vor ein Schiedsgericht zu bringen und seine
Entscheidungen als bindend anzunehmen. Der Ausstand der Ma-
schinenbauer von 1897 verzögerte die Ausführung des Schiffsbau-
plans der Marinevcrrvaltung und der Walliser Kohlenstrike ver-
hinderte die Abhaltung der regelmäfsigen Marinemanöver. Die
Strikes bildeten thatsächlich eine nationale Gefahr — sie bedrohten
nicht nur den Bestand der Industrie, sondern in möglichen Fällen
die nationale Existenz! Das Volk empfand eine heftige Abneigung
gegen Strikes und das unbestimmte Bedürfnis, dafs irgend etwas
geschehen müsse, uni sie unmöglich zu machen. Diese Empfindung
wurde durch den wachsenden deutschen und amerikanischen Wett-
bewerb noch verstärkt. Da die Unternehmer aus natürlichen Ur-
sachen die Arbeiterorganisationen verabscheuten, und da sie die
öffentliche Aufmerksamkeit von den Mängeln, die ihnen selbst als
industriellen Organisatoren anhafteten, ablenken wollten, unter-
nahmen sie in den Gerichtshöfen und in der Presse einen Feldzug
gegen die Gewerkvereine.
Der Feldzug, den sie in den Gerichtshöfen führten, verfolgte
zwei Ziele: I. versuchten sie die Ungesetzmäfsigkeit aller Handlungen,
auf welchen der Erfolg eines Strikes beruht, festzustellen und 2. die
rechtliche Haftpflicht der Gewerkvereine für Vermögensschädigungen,
die im Verlaufe gewerblicher Streitigkeiten vorgenommen wurden,
gerichtlich zu konstatieren. Mit diesen beiden Punkten soll sich
die folgende Erörterung einzeln beschäftigen.
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Henry W. M a c r o s t y ,
Der Hauptangriff gegenüber den Strikes war gegen d:is Wort
„einschüchtern" gerichtet. „Einschüchtern," sagte der Lord-Ober-
richter Coleridge, „ist kein terminus technicus, sondern ein Wort
der gewöhnlichen Sprache und des täglichen Gebrauchs; cs mufs
daher eine vernünftige und verständige Interpretation erfahren, die
sich nach den Umständen der Fälle, wie sie gelegentlich Vorkommen,
zu richten hat". Da die Richter auch nur menschliche Wesen sind,
so wurden sie in der Ausübung ihrer Interpretationspflicht not-
wendigerweise durch die herrschende öffentliche Meinung beeinflufet.
Wir sehen daher, wie sie nach irgend einem Prüfstein suchen, durch
welchen sie die Rechte der einzelnen Parteien ermitteln könnten.
Eine Handlung, durch welche eine Person geschädigt wird, ist selbst
dann, wenn sie absichtlich vorgenommen worden ist, nicht not-
wendigerweise klagbar. Es kann als der umfassendste und all-
gemeinste Rechtsgrundsatz derjenige betrachtet werden, der besagt,
dafs der Zweck des Rechts darin besteht, jedem einzelnen in allen
Dingen, die dem Gesetz nicht widersprechen, volle Aktionsfreiheit
zu sichern. Der mafsgebende Präcedenzfall für die Interpretation
dieses Grundsatzes ist, soweit die Arbeiter in Betracht kommen,
der Mogul Steamship Case, der im Jahre 1891 durch das Haus der
Fords entschieden wurde, obschon dieser Fall in erster I-inie die
Gewerbefreiheit betraf. Eine Rhedervereinigung , deren Schiffer
nach China gingen, hatte denjenigen Geschäftsleuten, welche aus-
schliefslich die Schiffe der Vereinigung für den Transport ihrer
Waren benutzten, Sondertarife angeboten. Dagegen bedingte jeder
Transport, auch wenn er noch so unbedeutend war, der einem
Schiffe, das nicht dem Kartell gehörte, übergeben wurde, für den
betreffenden Verlader einen empfindlichen Verlust. Eine aufserhalb
des Kartells stehende Firma hatte auf Schadenersatz auf Grund
einer Verschwörung mit der Absicht der Schädigung geklagt.
Diese Klage wurde abgewiesen. Die Abweisung wurde folgender-
mafsen begründet. Eine Handlung, die von einer einzelnen Person
begangen, nicht klagbar ist, kann, wenn sie von vielen begangen
wird, durch das blofse Gewicht der Zahl klagbar werden — wie
z. B. im Fall eines Boykotts. Die blofse Thatsache der Vereinigung
ist hierzu aber nicht ausreichend. Die Vereinigung wird nur dann
klagbar, wenn sie den Zweck hat, ungesetzmäfsige Handlungen zu
begehen oder gesetzmäfsige Handlungen durch ungesetzmäfsige
Mittel zu vollbringen. „Wenn nun jemand absichtlich eine Handlung
begeht,“ sagte Lord Justice Bowen, „die im gewöhnlichen Verlaufe
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Der Rechtszustand der Gewerkvereine in Grofsbritannicn.
329
der Dinge eine Schädigung herbeiführen soll, und die einer anderen
Person in ihrem Geschäft thatsächlich Schaden bereitet, so ist jene
Handlung klagbar, wenn sie ohne berechtigten Anlafs oder Ent-
schuldigung begangen ist. Eine solche Handlung, die ohne be-
rechtigten Anlafs oder Entschuldigung begangen wird, nennt das
Recht ein böswilliges Unrecht. Die Handlungen der Verklagten,
die hier zur Anklage stehen, sind absichtlich begangen worden
und waren sicher darauf berechnet, den Klägern Schaden in ihrem
Geschäftsverkehr zuzufügen. Um aber zu entscheiden, ob sie als
Unrecht zu betrachten sind, haben wir noch zu ermitteln, ob sie
ehne berechtigten Anlafs oder Entschuldigung begangen worden
sind. Die Verklagten behaupten nun ihrerseits, dafs ein berechtigter
Anlafs oder Entschuldigung in ihrem eigenen positiven Recht (mit
gewissen Einschränkungen) liege, ihr eigenes Gewerbe in einer Art
und Weise, die ihnen am besten erscheint, zu betreiben und die
nach ihrer Ansicht am besten geeignet ist, ihren eigenen Vorteil
zu wahren. Die erwähnten Einschränkungen sind : „Es hat eine
Person — ob sie Kaufmann sei oder nicht — niemals das Recht,
eine andere in ihrem Geschäftsverkehr durch Betrug oder Vor-
spiegelung falscher Thatsachen zu schädigen. Einschüchtern, Hindern
und Belästigen sind verboten; ebenso die absichtliche Anstiftung
zur Verletzung persönlicher Rechte ( vertragsmäfsige und andere) —
immer unter der Voraussetzung, dafs eine berechtigte Veranlassung
dazu nicht vorliegt.“ In Bezug auf den Vertragsbruch wollen wir
noch folgendes Urteil des Lord Justice Boett in Bowen contra 1 lall
(1883) erwähnen: „Die blol'se Ueberredung eines Mannes, seinen
Kontrakt zu brechen, braucht nicht vor dem Gesetz und der Praxis
ein Unrecht zu sein. Wenn aber die Ueberredung mittelbar dazu
dienen soll, den Kläger zu schädigen, oder dem Verklagten auf
Kosten des Klägers zu nützen, so ist sie eine böswillige Handlung,
die vor dem Gesetz und der Praxis als ein Unrecht gilt, und daher
eine unrechtmäfsige Handlung und daher eine klagbare Handlung,
wenn sie eine Schädigung zur Eolge hat."
Die angeführten Stellen enthalten die Rechtsgrundsätze, die
für die Gewerkvereine in Bezug auf „Einschüchtern“, „Verschwörung
zur Einschüchterung“, „Verschwörung zur Schädigung“ in Betracht
kommen. In einigen älteren Fällen waren die Richter geneigt,
die Einschüchterung auf Drohung persönlicher Vergewaltigung
zu beschränken. In Gibson contra Lawson wurde entschieden
(1891), dafs es nicht Einschüchterung sei, wenn A dem B sagt,
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Henry W. M a c r o s t y ,
dafs die Mitglieder von As Gewerkverein striken würden, wenn K
nicht aus seinem Verein austreten und dem A’s beitreten würde,
worauf der Arbeitgeber den A entliefs, um den Strike zu ver-
hüten. In Curran contra Treleaven (1891) wurde entschieden, dafs es
nicht Einschüchterung sei, wenn der Sekretär eines Gewerkvereins
einem Unternehmer mitteilt, dafs wenn er die Arbeiter, die dem
Gewerkverein nicht als Mitglieder angehören, nicht entlassen würde,
würden die übrigen, die dem Gewerkverein als Mitglieder ange-
hören, striken, und wenn dann auf die Weigerung des Unternehmers
der Sekretär die Mitglieder des Gewerkvereins in den Ausstand
abruft. In Temperton contra Russell (1893) wird ein anderer Stand-
punkt eingenommen. Temperton war ein Bauunternehmer in Hüll,
der sich weigerte, die Arbeitsbedingungen, welche zwischen den
übrigen Unternehmern und dem Gewerkverein der Bauarbeiter ver-
einbart waren, zu unterschreiben. Um ihn gefügig zu machen,
wurden seine Arbeiter abgerufen, und ferner veranlafsten die Be-
amten des Gewerkvereins solche Personen, die mit Temperton
Kontrakte zur Lieferung von Baumaterialien abgeschlossen hatten,
diese Kontrakte zu brechen und keine neuen Kontrakte mit ihm
einzugehen unter dem Vorwand, dafs sonst ihre Arbeiter in den
Ausstand treten würden. Das Gericht entschied, dafs in beiden
Handlungen ein klagbares Unrecht begangen worden wäre. Dieser
Fall mufs in Verbindung mit Allen contra Flood und mit einem
anderen, der 1897 im Hause der Lords entschieden wurde und zu
den wichtigsten Fällen des Gewerkvereinsrechts gehört, betrachtet
werden. Allen, der Delegierte der Kesselmacher, benachrichtigte
den Arbeitgeber von Flood und Taylor (Schiffbauer, die im Wider-
spruch mit den Statuten der Kesselmacher bei Eisenarbeiten be-
schäftigt worden waren), dafs die Kesselmacher striken würden,
wenn jene nicht entlassen würden, und da der Arbeitgeber grolse
Kontrakte zu erfüllen hatte, entliefs er Flood und Taylor ohne vor-
herige Kündigung, wozu er berechtigt war.
Es war erwiesen, dafs die Entscheidung der Kesselmacher frei-
willig, ohne den überredenden Einflufs Aliens, der nur als Bote
handelte, getroffen worden war. Flood und Taylor verklagten Allen
und das Urteil, das zu ihren Gunsten ausfiel, wurde in der Be-
rufungsinstanz bestätigt. In dem Hause der Lords aber wurde es
durch die Abstimmung von sechs gegen drei Richter verworfen.
Da die vier Richter der niederen Gerichtsstellen einstimmig gegen
Allen entschieden hatten, so waren im ganzen sieben Richter der
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Der Kethtszustaad der Gewerk vereine in Grofsbritannien. 33 1
Ansicht, dals ein klagbares Unrecht begangen worden wäre, während
sechs die entgegengesetzte Ansicht vertraten. Dieser Zwiespalt der
Ansichten genügt an sich schon, um den unbefriedigenden Rechts-
zustand zu offenbaren.
Die Richter, welche für die Verurteilung gestimmt hatten,
äufserten in beiden Fällen die Meinung, dafs es in der Wirkung
gleich sei, wenn A überredet würde, seinen Vertrag mit B zu
brechen, oder wenn A überredet wurde, einen Vertrag mit B nicht
abzuschliefsen. Eis ist damit eine wichtige Ausdehnung des Rechts,
wie es in Bowen contra Hall konstatiert war, gegeben. Dagegen be-
merkt Lord Davey (in Allen contra Flood) : „Wenn die Ueberredung
im ersten Falle erfolgreich ist, so geht die andere Partei des Vor-
teils, ihren Kontrakt ausgeführt zu haben, verlustig. Im zweiten
Falle verliert sie nichts, worauf sie einen rechtlichen Anspruch
hätte, und sie hat keinen gesetzlichen Grund, gegen die Person zu
klagen, die sich weigert, mit ihr einen Vertrag abzuschliefsen. Im
ersten Fall liegt eine Rechtsverletzung vor; im zweiten Fall nicht.“
Es wurde ferner behauptet, dafs wenn die Ueberredung zu dem
Zweck ausgeübt sei, die dritte Partei zu schädigen, so würde damit
eine Handlung ungesetzlich , die ohne jene Absicht gesetzlich
gewesen wäre. Hierzu äufserte sich wiederum Lord Davey fol-
gendermafsen : „Ein Arbeitgeber kann einen Arbeiter, mit dem
er keinen Kontrakt abgeschlossen hat, entlassen, oder er kann sich
aus den irrtümlichsten, böswilligsten oder sittlich verwerflichsten
Beweggründen, die man sich denken kann, weigern, einem Arbeiter
Beschäftigung zu geben — dem Arbeiter ist damit kein Recht zur
Klage gegeben. Es scheint mir sonderbar, wenn gesagt wird, dafs
die Hauptperson, welche die Handlung begeht, keine Schuld trage:
während die Nebenperson, die ihm dazu geraten hat, ohne selbst
eine Unrechte Handlung zu begehen, die Schuld trage. Wenn man
eine Person überredet, eine Handlung zu thun oder zu unterlassen,
die sie aus freiem Willen zu thun oder zu unterlassen berechtigt ist,
so begeht man kein Unrecht, sondern unter Umständen eine ver-
dienstliche That, selbst wenn das Endresultat des Rates Schädigung
für einen dritten bedeutet. Fis scheint mir jedem vernünftigen Grund-
satz zu widersprechen, wenn man behauptet, dafs die Hinzufügung
des Begriffs der Böswilligkeit eine Handlung zu einer klagbaren
mache, die ohne Böswilligkeit begangen, kein Unrecht wäre, obschon
sie die Schädigung einer dritten Person veranlafst.“ Ferner hat
Lord James of Hereford darauf hingewiesen, dafs bei Anerkennung
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Henry W. Macrosty,
jenes Grundsatzes ein Baumeister, der unter Ausschlufs seiner Kon-
kurrenten einen Auftrag zu erlangen suche, sich damit der Klagbar-
keit aussetze, „denn er hat eine Person abgehalten mit einer dritten
einen Kontrakt abzuschliefsen, und es war offenbar sein Zweck sich
auf Kosten dieser dritten Person einen Vorteil zu verschaffen.“ In
der That war, wie Lord Herschell bemerkte, die Entscheidung gegen
Allen „eine vollständige Neuerung, die nur durch weittragende und
meiner Ansicht nach gefährliche und unvernünftige Behauptungen
aufrecht erhalten werden konnte". In allen Gewerkvereinsfallen
wird die Aufmerksamkeit der Richter und des Publikums zu all-
gemein auf die Schädigung, die begangen worden ist, konzentriert,
anstatt sie auf den Zweck der Gewerkvereinsbewegung zu lenken,
der darin besteht, dafs der Gewerkverein die rechtmäfsigen Interessen
seiner Mitglieder zu fördern und für sie eine möglichst grofse Zahl
von Arbeitsgelegenheiten unter den möglichst günstigen Bedingungen
zu beschaffen sucht. Ein derartiges Bestreben entspricht genau
demjenigen der verklagten Vereinigung in dem Mogul case, die für
sich den gröfstmöglichen Anteil am chinesischen Theegeschäft zu
erlangen suchte, was als gesetzmäfsig anerkannt wurde. Lord Shaud
legte den Sachverhalt in Allen contra Flood sehr klar — und seine
Argumente lassen sich auch auf Temperton contra Russell anwenden.
Er sagte: „Wenn das Beweismaterial etwas klar erkennen läfst, so
scheint es mir dieses zu sein, dafs der Angeklagte (Allen) ausschliefslich
das eine Ziel im Auge hatte, die Interessen derjenigen, die er ver-
trat, in allem, was er that, zu fördern — dafs dies der Beweggrund
seiner Handlungen war und nicht der Wunsch, die Kläger in ihrem
rechtmäfsigen Beruf zu schädigen. Der Fall betraf den Wettbewerb
der Arbeiter, der meiner Ansicht nach in allen wesentlichen Punkten
dem Wettbewerb der Kaufleute analog ist; auf beide sind dieselben
Prinzipien anwendbar. Ich frage mich, was man von der Anwen-
dung des Wortes „böswillig" (im rechtlichen Sinne) auf das Ver-
fahren eines Kaufmanns denken würde, welcher den langjährigen
Kunden eines anderen Kaufmanns veranlafst, bei diesem nicht mehr
zu kaufen, sondern bei ihm, dem Konkurrenten .... Obschon es
zweifellos zutrifft, dafs die Kläger (Flood und Taylor) berechtigt
waren, ihr Gewerbe als Arbeiter „ohne Hinderung“ zu betreiben, so
war doch ihr Recht durch das gleiche Recht der übrigen Arbeiter
eingeschränkt. Die Hinderung braucht keineswegs ungesetzmäfsig
zu sein. Zu den Rechten aller Arbeiter gehört das Recht des freien
Wettbewerbs. In derselben Weise und demselben Umfang wie ein
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Der Rcchtszustand der Gewerkvereine in Grofsbritannien.
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Arbeiter seiner Beschäftigung ohne Hinderung naehgehen soll, hat
ein Kaufmann das Recht auf freien Geschäftsbetrieb ohne Hinderung.
Dieses Recht ist von dem gleichen Recht anderer Kaufleute be-
grenzt und unterwirft sie dem freien Wettbewerb, der an sich gesetz-
mäfsig ist, über den man sich, soweit unrechtmäfsige Mittel nicht
dabei angewendet werden, nicht beschweren darf. Diese Frage ist,
soweit der Geschäftsverkehr in Betracht kommt, durch das Urteil
dieses Hauses in dem Fall der Mogul Steamship Company von
Mc. Gregor entschieden worden. Ich sehe keinen Grund für die
Behauptung, dafs dasselbe Prinzip nicht auch auf den Wettbewerb
der Arbeiter anwendbar sein solle. Bei einem solchen Wettbewerb
ist der Arbeiter, der seinen eigenen Vorteil verfolgt, meiner Ansicht
nach völlig im Recht, wenn er es ablehnt in demselben Betriebe
mit gewissen anderen Personen zu arbeiten und wenn er seine
Arbeitgeber hiervon in Kenntnis setzt.“
Die Weigerung der Gewerkvereinler mit Nichtgewerkvereinlern
zusammen zu arbeiten ist sehr häufig der Anlal's gewerblicher
Streitigkeiten gewesen. Es hatte den Anschein, als ob jenen das
-Recht der Weigerung in Allen contra Flood zugestanden worden wäre.
Als aber der Versuch gemacht wurde, diesen Grundsatz auf Quinn
contra Leathem auszudehnen, gab der Lordkanzler Halsbury eine Ent-
scheidung, die es unmöglich macht, überhaupt allgemeine Prinzipien
aus der Masse der entschiedenen Fälle abzuleiten. In jener Ent-
scheidung heilst es: „Jedes Urteil mufs in seiner Anwendung auf
besondere, bewiesene Thatsachen verstanden werden. Es wird immer
durch die besonderen Umstände des einzelnen Falles bestimmt, in
welchem die betreffenden Ausdrücke Vorkommen. Fiin Fall gilt
nur als Autorität für das, was er wirklich entscheidet. Ich bestreite
durchaus, dafs er als Stütze für einen Satz angeführt werden kann,
der sich als logische Folge daraus zu ergeben scheint. Eine der-
artige Argumentation setzt voraus, dafs das Recht notwendigerweise
ein logisches Ganzes bilde, während jeder Rechtsanwalt zugeben
mufs, dafs das Recht sehr oft nichts weniger als logisch ist.“
Mr. Leathem , ein Schlächtermeister , verklagte Quinn und
andere Mitglieder der Beifort Journeymen Butchers Assistants
Association auf Schadenersatz und gewann den Prozefs. Der
Sachverhalt war folgender : Die Verklagten hatten einige Schlächter
durch Drohungen , dafs sie ihre Arbeiter abrufen würden , be-
wogen , jeden Geschäftsverkehr mit dem Kläger abzubrechen.
Aufserdem überredeten sie Arbeiter, die Arbeit bei ihm aufzugeben,
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Henry W. Macrosty,
weil er sich geweigert hatte, auf Befehl des Gewerkvereins einen
Gehilfen, der dem Verein nicht angehörte, zu entlassen. Er erklärte
sich bereit, die Kosten des Beitritts zum Gewerkverein für jenen
Gehilfen zu tragen, aber dieser bestand darauf, dafs der betr. Ge-
hilfe während eines Jahres nicht vom Mr. Leathem beschäftigt
werden sollte. Dieser Forderung wollte sich der Kläger nicht
fügen, da der Gehilfe verheiratet war. Der Gewerkverein veröffent-
lichte aufserdem „schwarze Listen" von Schlächtermeistern, die
Gehilfen, welche nicht seine Mitglieder waren, beschäftigten Die
Entscheidung des unteren Gerichtshofes wurde einstimmig vom
Hause des Lords (August 1901) gebilligt. Zu den Richtern gehörten
Lord Macnaghten und Lord Shaud, die in Allen contra Flood die
Entscheidung zu Gunsten Aliens unterstützt hatten.
In diesem Fall wäre Klagbarkeit nicht eingetreten, wenn ein
einzelner die beklagten Handlungen begangen hätte. Darüber äufserte
sich Lord Brampton folgendermafsen : „Der wirkliche und wesent-
liche Anlafs zur Klage war eine ungesetzliche Verschwörung zur
Belästigung des Klägers, eines Kaufmanns, in seinem Geschäfts-
betrieb. Dadurch wurde sein zweifelloses Recht, in allen Angelegen-
heiten, die nicht rechtswidrig sind, sein Geschäft nach eigenem Er-
messen und eigener Wahl zu betreiben, beeinträchtigt." Lord Lindley
fugte hinzu: „die Angeklagten sind sicherlich über die Grenzen
ihres guten Rechts hinausgegangen: sie haben dem Kläger, seinen
Kunden und Angestellten vorgeschricben, was sie thun sollten. Die
Beklagten haben die Pflicht, die sie dem Kläger, seinen Kunden und
Angestellten schuldig sind, verletzt, die darin besteht, die Freiheit
ihres gesetzmäßigen Handelns zu achten und nicht anzutasten . . .
Das Vorgehen, welches als friedliche Ueberredung anfängt, kann
leicht in zwingende Befehle, die von offenen oder versteckten
Drohungen begleitet sind, ausarten, und die für alle, die sich nicht
überreden lassen, sehr unangenehme Folgen haben kann.
Die Abrufung der Arbeiter in den Ausstand hat für alle, welche
dem Rufe nicht folgen, sehr ernste Folgen. Schwarze Listen sind
wirkliche Zwangsmittel, wie jeder, dessen Name auf einer solchen
gestanden hat, weifs. Eine Vereinigung mit dem Zweck, die Arbeit
niederzulegen, ist gesetzlich. Eine Vereinigung mit dem Zweck,
andere von der Arbeit abzuhalten, ist etwas ganz anderes und priina
facic ungesetzlich. Ich bin nicht überzeugt, dafs eine Handlung,
die bei einem einzelnen nicht klagbar ist, nicht klagbar werden
kann, wenn sie von mehreren nach Verabredung vorgenommen
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Der Rechtszustand der Gewcrkvcrcine in Grofsbritannien.
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wird. Mehrere Personen können eine belästigende und zwingende
Gewalt ausüben, wozu der einzelne nicht imstande ist. Belästigung
und Zwang durch eine gröfsere Anzahl von Personen kann an sich
ungesetzlich sein und kann eine Handlung, die auch, von der Zahl
der Personen abgesehen, ein Unrecht ist, noch verschlimmern. Der
Hauptunterschied zwischen früheren Fällen und dem vorliegenden
besteht darin, dafs bei absichtlicher Schädigung der Kläger doch
die Rechte keiner Person verletzt hatte, dafs keine ungesetzliche
Handlung begangen wurde ; während der Zwang, der in dem vor-
liegenden Falle auf die Kunden und Angestellten des Klägers, und
durch sie auf den Kläger selbst ausgeübt wurde, eine Beeinträch-
tigung ihrer und seiner Freiheit bedeutete und sowohl ihnen wie
ihm ein Unrecht zufügte." Er erklärte ferner, dafs der Paragraph 3
des Verschwörungsgesetzes von 1875, der den Vereinigungen Hand-
lungen zur Verfolgung eines Gewerbestreites gestattet, wenn diese
Handlungen, von einem einzelnen begangen, nicht als Vergehen
gelten, dennoch die Klagbarkeit auf Schadenersatz bei solchen Hand-
lungen offen läfst.
Diese Aeufserungen rauben den Arbeiterorganisationen jede
Möglichkeit eines Erfolges; denn jede Ausübung eines unmittel-
baren oder mittelbaren Druckes seitens vereinigter Kräfte auf einen
Unternehmer wird durch sie ungesetzlich. Aufser der einfachen
Arbeitsenthaltung kann alles dahin gedeutet werden, dafs es als
Eingriff in die Rechte eines anderen erscheint, indem man ihn
zwingt, etwas zu thun, was er sonst nicht zu thun brauchte. Das
Urteil läl'st sich weder mit Allen c. Flood noch mit dem Mogul
Case vereinigen. In gewissem Sinne erfuhren auch Flood und
Taylor seitens ihres Arbeitgebers einen Zwang, wodurch ihr Recht
zu arbeiten, wrie es ihnen am besten pafste, beeinträchtigt wurde —
so dafs die überklugen Unterscheidungen des Lord Justice I.indley
als nicht stichhaltig erscheinen. Lord Justice Bowen sagt noch
folgendes: „Wenn es bona fide durch den Gebrauch des eigenen
Vermögens, in der Ausübung des eigenen Gewerbes gethan wurde,
so würde meiner Meinung nach eine solche gesetzmälsige Bercch-
tigung vorhanden sein, wenn auch die Handlung anderen als egois-
tisch und unbillig erscheinen sollte. Eine solche gesetzmälsige Be-
rechtigung würde aber nicht vorhanden sein, wenn die Handlung
lediglich mit der Absicht der Schädigung begangen wurde, ohne
dafs der Handelnde dabei die Erzielung eines rechtmäfsigcn Ge-
winnes oder die Ausübung der ihm zustehenden Rechte im Auge
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Henry VV. Macroity.
hatte." Die Gewerkvereine machten von dem ihnen zustehenden
Rechte des Wettbewerbs zur Förderung ihres rechtmätsigen Vor-
teils und zur Stärkung ihrer Herrschaft über den Arbeitsmarkt Ge-
brauch. Ihr Vorgehen war eigenmächtig, ja sogar tyrannisch, aber
dieselbe Tyrannei wird täglich ungestraft im Geschäftsverkehr aus-
geübt und jeder Versuch, das Gesetz, wie es für die Arbeiter gilt,
auf analoge Fälle des Geschäftsverkehrs anzuwenden, würde eine
heillose Verwirrung zur Folge haben. Eine kapitalistische Ver-
einigung z. B. darf sich weigern, einer Firma unter gewissen Be-
dingungen Waren zu liefern. Eine solche Weigerung ist gesetzlich,
denn es wäre ungerecht, wollte man A zwingen, gegen seinen
Willen mit B Geschäfte zu machen: dasselbe Recht wird aber den
'Gewerkvereinen beim Verkauf ihrer Arbeit nicht zugestanden. In
dem „genossenschaftlichen Boykott", der im Herbst 1902 in einem
Teile Englands sich ausbreitete, vereinigten sich zahlreiche private
Geschäftsleute, um Angestellte zu entlassen, deren Verwandte Mit-
glieder von Konsumvereinen waren; aulserdem boykottierten sie
Rechtsanwälte und Aerzte, die in den Läden der Konsumvereine
kauften. Dennoch machten sie sich keines gesetzlichen Unrechts
schuldig, obschon ihre Handlungen vom sittlichen Standpunkt aus
nicht anders zu beurteilen waren als die ungesetzlichen Handlungen
der Gewerkvereine, wodurch sie Nichtmitglieder aus ihrer Arbeits-
stelle zu vertreiben suchen. Wenn es unter den obwaltenden Ver-
hältnissen des wirtschaftlichen Lebens unmöglich ist , einen ge-
werblichen Konflikt ohne Verletzung des sittlichen Bewufstseins
durchzuführen, so wird dadurch bewiesen, dals der Strike als ein
Mittel der Kollektivunterhandlung wertlos ist und dafs es durch
ein Besseres ersetzt werden sollte. Dahin streben aber weder die
Gerichte noch das Parlament, die nur der Arbeit das Recht eines
Verfahrens bestreiten, das sie dem Kapital ohne weiteres zuge-
stehen.
In einer früheren Periode war eine Entscheidung (in Trollope
v. Building Trades Federation in 1892) abgegeben worden, dals es
klagbar wäre, eine Liste „freier Arbeiter" und der sie beschäftigen-
den Firmen zu veröffentlichen, wenn auch nur in der Absicht, Ge-
werkvereinler vor der Annahme von Arbeit bei solchen Firmen zu
warnen. Der Fall kam nicht vor das Haus des Lords, aber die
Aeufserungen Lord Lindley’s in Quinn contra Leathem über schwarze
Listen lassen erkennen, dafs jene Entscheidung heute aufrecht er-
halten werden würde. Demgegenüber boykottieren Unternehmer
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L)cr Rcchtszustaod der Gcwerkvercine in Grofsbritannicn.
337
Ihre Arbeiter durch kennzeichnende Bemerkungen, blols weil sie
thätige Mitglieder von Gewerkvereinen sind — ein solcher Boykott
ist gesetzlich — wiederum ein Vorrecht für die Arbeitgeber.
In Lyons c. Wilkins (1896) wurde entschieden, dafs die Um-
zingelung (picketing) des Betriebes und der Geschäftsstätte eines
Unternehmens zu irgend einem anderen Zweck als der blofsen
Nachrichtenvermittlung also auch zu dem Zweck der friedfertigen
Uebcrredung bei einem solchen Unternehmer nicht zu arbeiten,
„ein Beobachten und Umstellen" im Sinne des Verschwörungsgesetz
von 1875 und daher ein klagkares Unrecht sei. Obschon kein
Zwang auf die überredeten Arbeiter ausgeübt worden sei, so ist
doch, sagt Lord Justice Kay, „dadurch ein Zwang auf die Arbeit-
geber ausgeübt worden und daher kommt der Fall in die Kategorie
der ungesetzlichen Handlungen“. Mit Recht konnte Lord Lindley
sagen: „Sie können keinen Strike erfolgreich durchfuhren, ohne
etwas mehr zu thun, als gesetzlich erlaubt ist!“
Diese lange Aufzählung der ungesetzlichen Handlungen war
notwendig, weil wegen der Begehung dieser Handlungen heute die
Beamten der Gewerkvereine belangt werden können, und die Ver-
wirrung und Widersprüche, welche den Entscheidungen anhaften,
tragen nur noch dazu bei, die Lage der Gewerkvereine ernster zu
gestalten. Selbst bis zum Jahre 1896, in welchem der Bericht der
I^abourkommission erschien, wurde als geltendes Recht erkannt, dafs
die Gewerkvereine wegen der Handlungen ihrer Beamten nicht auf
Schadenersatz verklagt werden können. Dieses Recht wurde jedoch
umgestofsen durch das Urteil in dem Taff Sale Railway Case in 1900,
das durch das Haus des Lords im August 1901 bestätigt wurde.
Als Justice Farwell in dem Prozefs erster Instanz sein Urteil ab-
gab, sagte er folgendes: „Indem die Gesetzgebung den Gewerk-
vereinen die Befugnis, Vermögen zu besitzen und durch Beauftragte
zu handeln, verlieh, hat sie ihnen ohne Inkorporierung zwei wesent-
liche Eigenschaften der Korporation verliehen — wesentlich inso-
fern als ihre Haftung für Kosten in Betracht kommt; denn eine
Korporation kann nur durch ihre Beauftragten handeln und kann
nur mittels ihres Vermögens zur Zahlung herangezogen werden.
Der Grundsatz, nach welchem Korporationen für unrechtmäfsige
Handlungen ihrer Angestellten zu haften haben, gilt ebenso für
Gewerkvereine wie für Korporationen. Wenn die Behauptung des
Vereins, dem der Verklagte angehört, begründet wäre, dann hätte
die Gesetzgebung die Gründung zahlreicher Organisationen zuge-
Archir für sor. desetzgebung u. Statistik. Will. 22
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33«
Henry W. Macrosty,
lassen, welche das Recht haben, ein grofees Vermögen zu besitzen
und durch Agenten zu handeln, ohne dafs sie im geringsten dir
das Unrecht verantwortlich wären, das sie anderen Personen durch
den Gebrauch ihres Vermögens und die Beschäftigung ihrer Agenten
zufügen können.
Der richtige Standpunkt für die Interpretation solcher Gesetze,
wenn nicht ausdrücklich das Gegenteil gesagt ist, ist der Gesetz-
gebung die Absicht beizulegen, dafs die von ihr geschaffenen Or-
ganisationen denselben Pflichten und dafs ihr gesamtes Vermögen
derselben Haftung unterliegen soll, welche das allgemeine Recht
einer Einzelperson bei gleicher Handlung auferlegen würde. Sehr
klar und ausdrücklich mülsten die Gesetzesworte sein, die mich zu
der Annahme veranlassen könnten, dafs die Gesetzgebung that-
sächlich die Existenz solcher Organisation legalisiert habe, die nicht
zur Verantwortung gezogen werden können und doch eine so grofse
Macht, Unrecht zu thun, besitzen.“ Infolge dieser Entscheidung
wurde im Jahre 1902 der Gewerkverein der Eisenbahner (Amalga-
mated Society of Railway Servants) zum Tragen des Schadener-
satzes und der Kosten, in Summa zu £ 23000 dafür verurteilt, dats
seine Beamten sich ungesetzlicher Handlungen durch „Beobachten
und Umstellen" schuldig gemacht hatten, wodurch sie Leute von
der Arbeit abgehalten und zum Kontraktbruch gezwungen hätten.
Während also dem Gewerkverein einige Eigenschaften der Kor-
poration beigelegt sind, so fehlt ihm doch insofern die Rechts-
fähigkeit, dafs er auf dem Wege des gerichtlichen Verfahrens seine
Mitglieder nicht zwingen kann, seine Statuten zu befolgen und ihre
Beiträge zu bezahlen. Er bildet eine rechtliche Anomalie. Es er-
übrigt noch die Frage, ob der Gewerkverein für alle Handlungen
seiner Beamten zur Verantwortung gezogen werden kann, oder nur
für solche, die nach den Statuten innerhalb seiner Befugnis liegen.
Diese P'ragc wurde in dem beschränkenden Sinne in Gibbon c.
The National Amalgamated Labourers Union im April 1902 beant-
wortet. In diesem Falle sagte Justice Walton: „Natürlich findet
sich in den Statuten keine Ermächtigung zur Begehung ungesetz-
licher Handlungen ; wenn aber der Generalsekretär in Gemäfsheit
der Vereinsstatuten handelt und sich dabei eines gesetzlichen Un-
rechts schuldig macht, so ruht die Verantwortung auf dem Ge-
werkverein. Wenn er aber eine Gesetzüberschrcitung begeht,
während er nicht im Aufträge des Vereins handelt, so können seine
Handlungen, auch wenn er vorgiebt, sie im Aufträge des Vereins
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Der Rechtszustand der Gewerkvereine in Grofsbritannien.
339
gethan zu haben, nicht als die des Vereins angesehen werden und
dieser kann nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden." Der
Fall liegt gegenwärtig vor dem Berufungsgericht, aber der Staats-
anwalt hat sich schon in Uebereinstimmung mit der Entscheidung
des Justice Walton geäufsert.
Eine weitere Abweichung von dem Gesetz von 1871 liegt vor
in dem Denaby Main Case von 1902. Ein Mitglied eines Berg-
arbeitergewerkvereins suchte mit Unterstützung der Arbeitgeber um
einen Gerichtsbefehl nach, welcher dem Gewerkverein untersagen
sollte, Strikegelder an Arbeiter zu zahlen, welche ihre Arbeit im
Widerspruch mit den Vereinsstatuten niedergelegt hatten. Trotz
der Bestimmungen des Paragraphen 4 (3) wurde der Befehl aus-
gehändigt, weil die Statuten des Gewerkvereins verletzt worden
waren. Dieser Fall harrt jetzt auch der Entscheidung der Berufungs-
instanz.
Damit haben wir den gegenwärtigen Rechtszustand gekenn-
zeichnet. Für die weitere Entwickelung handelt es sich um zwei
Fragen : um die Haftpflicht der Gewerkvereinc und um das Strike-
recht. Was die erste Frage anbetrifft, so wird man sich schwer
den Argumenten des Justicc Farwell entziehen können, welche die
Zustimmung der beiden liberalen Juristen Asquith und Haldane ge-
funden haben, die keines Vorurteils gegen die Arbeiterbewegung
verdächtig sind. Im allgemeinen wollen die Gewerkvereine nicht
die Rückkehr zu dem Rechtszustand, der vor der Taff Sale Ent-
scheidung als gültig angenommen wurde, aber sie forden, dafs sie
nicht für Handlungen, die ihre Beamten aufserdienstlich begehen,
zur Verantwortung gezogen werden. Die Berechtigung dieser For-
derung läist sich nicht bestreiten. Einige Gewerkvereine nahmen
eine Revision ihrer Statuten vor, um ihre Beamten unter schärfere
Kontrolle zu stellen. So beschlofs der Gewerkverein der Eisen-
bahner (Amalgamated Society of Railway Servants) im Jahre 1903
die Annahme einer Statutenänderung, wodurch bestimmt wird, dafs
die organisierenden Sekretäre „in keinem Falle sich an gewerblichen
Vorgängen beteiligen oder Zirkulare ohne ausdrückliche Erlaubnis
des Exekutivkomitees oder des Generalsekretärs ausschicken sollen"
und „dafs ausschliefslich in Uebereinstimmung mit den Statuten die
Zwecke des Vereins erfüllt und die Unterstützungen gewährt werden
sollen". Eine Strikcankündigung soll nicht abgegeben werden, ehe
nicht zwei Drittel der in Frage kommenden Mitglieder durch ge-
heime Stimmabgabe sich dafür erklärt haben, und dem Exekutiv-
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340
Henry W. Macrosty
komitee ist cs ausdrücklich verboten, ein Vorgehen oder seine Fort-
Setzung gutzuheilsen, das begonnen wurde, ehe seine Genehmigung
dazu eingeholt worden ist.
In Bezug auf das Strikerecht stellen die Gewerkvereine zwei
Forderungen: I. Die gesetzliche Erlaubnis friedlicher Umstellung
(picketing) zum Zweck der Nachrichtenvermittlung und der fried-
fertigen Ueberredung zur Annahme oder Enthaltung der Arbeit.
2. Die gesetzliche Erlaubnis, dafs zwei oder mehrere Personen sich
vereinen oder unter sich vereinbaren dürfen , eine Handlung zur
Förderung eines Gewerbestreites zu begehen oder ihre Begehung
zu veranlassen, ohne dafs sie damit sich der Klagbarkeit aussetzen :
vorausgesetzt, dafs dieselbe Handlung von einer Einzelperson be-
gangen keinen Anlafs zur Klage giebt. Ein dahin zielender Gesetz-
entwurf, der auf Veranlassung des Gewerkvereinskongresses dem
Parlament vorgelegt worden war, wurde mit nur 246 gegen
226 Stimmen abgelehnt, nachdem die Regierung eine Untersuchung
zugesagt hatte (8. Mai 1903). In Bezug auf das „Umstellen" ist zu
beachten, dafs „friedliche Ueberredung" durch ein Gesetz von 1859
gestattet worden war, während in dem Gesetz von 1875 nicht
davon die Rede ist. Es kann übrigens zweifelhaft erscheinen, ob
seine gesetzliche Wiederinkraftsetzung den Gewerkvereinen viel
nützen würde. In Lyons contra Wilkins wurde erkannt, dafs aus
dem Umstand, dafs die Strike-Posten — es waren nur ihrer zwei —
ein oder zwei Personen bis in die Fabrik des Arbeitgebers folgten,
hervorgehe, dafs „die Strike-Posten es etwas sehr weit getrieben
hätten". Das Wort „friedlich“ ist wie das Wort „Einschüchterung"
sehr unbestimmt. Mit Recht sagen denn auch Mr. und Mrs. Webb
in „Industrial Democracy“, S. 856 — 857: „Das Picketieren ist nicht
ein Merkmal der Gewerkvereinsorganisation , sondern ein solches
ihrer Unvollkommenheit." „In dem grofsen, fünf Monate währenden
Strike der Baumwollspinner von 1893 und in dem Riesenausstand
des Bergarbeiterbundes von 1894 wurden so gut wie keine Strike-
Posten aufgestellt oder gebraucht.“ Firne vollständige Organisation der
Arbeiterklasse ist das einzige endgültige Heilmittel gegen die Un-
gerechtigkeit, welche durch eine feingesponnene juristische Technik
verursacht wird.
Die erstrebte Aenderung des Verschwörungsgesetzes bezweckt
einer Vereinigung das Recht zu geben, Handlungen zu vollbringen,
die eine Einzelperson thun darf, ohne sich einem Zivil- oder Kriminal-
prozefs nach dem Gesetz von 1875 auszusetzen, ln dieser Weise
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Der Rcchtszustand der Gewerkvereine in Großbritannien.
341
soll die Entscheidung des Lord Lindley in Quinn contra Leatham
rückgängig gemacht werden. Es bedarf noch der weiteren Unter-
suchung, ob diese Frage in der vorgeschlagenen Weise erledigt
werden kann. Zweifellos ist die Gerechtigkeit der Forderung,
da Cs Arbeitervereinigungen dieselbe Freiheit haben sollten, Arbeiter-
fragen zu behandeln, wie sie Unternehmervereinigungen in der Be-
handlung gewerblicher Fragen zusteht. Wir haben gesehen, dafs
das nicht der Fall ist. Die „Tyrannei“ der Gewerkvereine ist ebenso
verwerflich — nicht mehr oder weniger — wie jede andere Klassen-
tyrannei, aber sie erscheint weit furchtbarer, weil eine starke Ab-
neigung gegen Gewerkvereine aus schon angegebenen Gründen sich
im Volke eingewurzelt hat. Die Gerichtshöfe stehen unter dem
Einflufe dieser öffentlichen Meinung und daraus entstehen zweifel-
hafte Fälle, wie Quinn contra Leatham, die schlechtes oder wenigstens
ungleiches Recht schaffen. Wenn, wie es wahrscheinlich ist, der
Versuch gemacht werden sollte, zwischen zulässigen und unzulässigen
Vereinigungen zu unterscheiden, werden wir wieder in dem Sumpf
seichter Unterscheidungen versinken und werden wieder die Richter
das Recht zu dehnen suchen, um es auf zweifelhafte Fälle anwenden
zu können. Nur ein aufsergewöhnlich starker Gewerkverein, der
sämtliche Arbeiter des Gewerbes umfal'st und der hauptsächlich
aus gelernten Arbeitern, die nicht ersetzt werden können, besteht,
kann möglicherweise einen Strike mit gesetzlichen Mitteln durch-
führen; denn ein solcher Gewerkverein kann schon durch einfache
Enthaltung von Arbeit seinen Zweck erreichen. „Aber die grofse
Mehrzahl der Gewerkvereine utnfafst nur einen Teil der Arbeiter
des betreffenden Gewerbes, und in vielen Fällen würde es im Not-
fälle einem Unternehmer gelingen, Arbeiter anderer Gewerbe als
Ersatz zu bekommen. Derartige Gewerkvereine können einen Strike
nur mit Mitteln durchführen, die, wenn sie auch nicht unter das
Strafgesetz fallen, doch jetzt als klagbar gelten.“ (S. und B. Webb,
Industrial Democracy, Einleitung zur Auflage von 1902, S. L.)
Ein Strike ist immer eine Schädigung und Gefährdung der
Volkswirtschaft. Daher die Angst der öffentlichen Meinung, wie
sie in der Presse und dem Parlament zum Ausdruck kommt, die
mit der Meinung der Arbeiterklasse nichts zu thun hat. Daraus
erklärt sich das Bestreben, die Gewerkvereine als Urheber der
Strikes lahmzulegen. Eis ist kaum zu erwarten, dafs die Gesetze,
die sich auf Arbeiter beziehen, mit denen, die sich auf Unternehmer
beziehen, in Uebereinstimmung gebracht werden. Wird aber die
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Henry W. Macrosty,
gegenwärtige Politik, die Gewerkvereine durch die Gerichte unter-
drücken zu lassen, fortgesetzt, so entsteht die Gefahr, dafs die
Klassengegensätze zum Klassenhafs sich verschärfen und dafs die
Gewerkvereine zu den geheimen Mitteln, die sie vor 1871 anwandten,
zurückkehren. Die öffentliche Meinung ist sicher im Recht, wenn
sie die Beseitigung der Strikes fordert, aber die Mittel, welche sie
zu dem Zweck in Bewegung gesetzt hat, sind nicht die rechten.
Statt den Arbeiter gegenüber dem Arbeitergeber zu entwaffnen,
müfste sie ihn mit besseren Schutzmitteln zur Wahrung seiner In-
teressen, als ihm bisher zur Verfügung standen, versehen. Solche
Schutzmittel sind die Einigungskammern und Schiedsgerichte, wie
sie seit acht Jahren in Neu - Seeland in Wirksamkeit sind , deren
Entscheidungen volle Rechtskraft besitzen. Unter ihrer Herrschaft
gedeihen die Gewerkv'ereine und herrscht der soziale Frieden.
Selbstverständlich läfst sich die Einrichtung Neu - Seelands nicht
ohne weiteres auf dicht besiedelte Länder mit alter wirtschaftlicher
Kultur übertragen, aber die ihr zu Grunde liegenden Prinzipien
könnte man mit einigen Aenderungen annehmen. Die Aussichten
auf baldige Annahme eines solchen Vorschlages sind allerdings
schwach. Einige Gewerkvereine, wie der der Eisenbahner, haben
sich dafür ausgesprochen, aber der letzte Gewerkvereinskongrefs
hat die Idee mit grofser Mehrheit verworfen. Der Grund dieser
Ablehnung war, dafs die jüngste gerichtliche Entscheidung das
Mifstrauen der Gewerkvereine gegen gewerbefremde Schiedsrichter
noch gesteigert haben (in Neu-Seeland ist der Vorsitzende des
Schiedsgerichts ein Richter). Nichtsdestoweniger ist die Unzu-
friedenheit mit dem bestehenden Zustande im Wachsen begriffen
— und zwar nicht nur innerhalb der Arbeiterklasse, wie aus der
schwachen Mehrheit, die bei der Abstimmung im Unterhause, die
Gewerkvereinsnotlage ablehnte, hervorgeht. Selbst die arbeiter-
feindliche Times (19. Januar 1903) giebt zu, dafs „in formeller Be-
ziehung das herrschende Recht verschiedene Einwände hcraus-
fordert . . . es veranlafst die Erörterung von Spitzfindigkeiten, die als
akademische Fragen gelten könnten; und Entscheidungen von aller-
gröfstem Interesse drehen sich oft um völlig unwesentliche Dinge“.
Alles drängt darauf hin, eine Beseitigung der Strikes durch Schieds-
gerichte herbeizuführen.
Die Grundzüge des Gewerberechts müssen schliefslich in allen
Industrieländern, die auf der gleichen Entwicklungsstufe stehen, die-
selben sein. Die englischen Fälle, welche wir erörtert haben, drehen
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Der Rcchtszustand der Gewerkvereine in Grofsbritannien.
343
sich nicht um Rechtssätze, die dem Gewerberecht Grofsbritanniens
eigentümlich wären. In jedem Rechtsfalle schöpfen Rechtsanwälte
und Richter aus den ursprünglichen Quellen des Rechts und ver-
suchen sie, hieraus die Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten
der Mitglieder einer wirtschaftlichen Gemeinschaft zu ermitteln.
Aus diesem Grund hat es der Verfasser für angezeigt erachtet,
eine Untersuchung des englischen Gewerkvereinsrechts der Auf-
merksamkeit deutscher Juristen, Nationalökonomen und Gesetzgeber
zu empfehlen.
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GESETZGEBUNG.
SCHWEIZ.
Ein Gesetz
über Arbeitstarife und Kollektivstreitigkeiten.
Von
JEAN SIGG.
(Genf.)
„Wie kann den Anmafsungen des Unternehmertums entgegen-
getreten, wie kann die Arbeiterklasse zum Zwecke des planvollen
und geregelten Widerstandes zu einem einheitlichen Wesen mit
einem Kopfe, mit einer Seele gestaltet werden ?"
Vor dieser gewaltigen Frage haben die grofsen englischen Ge-
werkvercine oft gestanden. Zu lösen versuchten sie die Aufgabe
durch das Mittel der kollektiven Abmachung (collective bargaining),
welches uns Sidney Webb in seiner „Industrial Democracy" so an-
schaulich und eindringlich schildert. Das „collective bargaining“
befal'st sich in der Regel nur mit den Löhnen und ihrer Skala,
und zwar mit Löhnen, wie sie erst nach langem Tasten und nach
äufsert genauen Erhebungen in den Fabriken festgestellt wurden.
Fis ist allerdings, wie man gestehen mufs, ein nicht leicht zu hand-
habender Mechanismus, da jedoch im allgemeinen die Arbeiter,
welche die einschlägigen Fragen behandeln, sie auch gründlich
kennen — als Vertrauensmänner der Arbeiterklasse, welche diese
Eigenschaft erst durch nachhaltige Erprobung ihrer Fähigkeit er-
werben konnten, — so funktionierte es öfters ohne allzu starke
Reibungen. Zwar werden von Zeit zu Zeit die Lohnskalen einer
Revision unterzogen, doch werden diese Revisionen immer nur da-
durch durchgesetzt, dal's die Arbeiter sich ihren Abgeordneten un-
bedingt unterwerfen. Es kommt sehr selten vor, dals sie sich
nicht hierzu verstehen und, wie in Kardiff, sich weigern, die von
den Delegierten angenommenen Tarife anzuerkennen.
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Jean Sigg, Ein Gesetz über Arbcitslarife und Kollektivstrcitigkcitcn.
Die „Kollektiwerträge" scheinen zur Zeit bei den englischen
Arbeitervereinen etwas in Mifskredit geraten zu sein und an An-
sehen eingebüfst zu haben. Das System, heilst es, sei wohl für die
Zeiten wirtschaftlichen Gedeihens geeignet, wenn der Gegensatz
von Unternehmern und Arbeitern sich nicht zuspitzt. Ganz
anders aber, wenn Wirtschaftskrisen einträten, wie wir sie gerade
jetzt durchmachen.
ln engem Zusammenhang mit dieser Frage des „collective
bargaining“ steht jene der Einigung und des Schiedsgerichtes in
Streitfällen. Ein überzeugender Beleg hierfür ist beispielsweise, dafs
die Regierung der Kolonie Viktoria zur Festsetzung eines Mindest-
lohnes indirekt auf dem Umwege des „obligatorischen“ Schieds-
gerichts gelangt ist. Ich will hier nicht auf die lange Geschichte
des Schiedsgerichtes und der Einigung in England zurückkommen.
Es kennt sie jeder, der die Wirtschaftsbewegung der letzten fünfzig
Jahre in England sowohl als in den Vereinigten Staaten verfolgt.
Von hier aus fand die Einrichtung Eingang in Australasien, wo die
Fachvereine zuerst die Schaffung privater Einigungsausschüsse ver-
langten. Seit dem Mifserfolg des grofsen 1890er Strikes erst, der
den fast völligen Ruin mehrerer Syndikate nach sich zog, neigten
die Arbeiter nach der Seite des Eingreifens der öffentlichen Ge-
walten hin, das sie jahrelang energisch abgelehnt hatten. Der
eben erwähnte Strike hatte ein Gesetz über die Einigung in Neu-
südwales zur Folge; nach diesem kam in Südaustralien ein weiteres,
das die Mitte hält zwischen der freiwilligen Einigung in Neusüd-
wales und dem obligatorischen Schiedsgericht in Neuseeland, beides
eingeführt im Jahre 1895. *)
Ein ähnliches Gesetz ist ganz neuerdings im Kanton Genf er-
lassen; es ist betitelt „Loi fixant le mode d etablissement des tarifs
d'usage entre ouvriers et patrons et reglant les conflits relatifs aux
conditions de leurs engagements.“ Es datiert vom IO. Februar 1900.
Da es bereits mehrfach Anwendung gefunden , so ganz kürzlich
erst in einem sehr bedeutsamen Konflikt, — in dem der Strafsen-
bahnangestellten Genfs — , so erscheint es angebracht, es daraufhin
zu prüfen, welchen Anforderungen es entsprochen hat und ob seine
Anwendung von Erfolg begleitet war.
Im Juni 1898 brach in Genf ein Strike der Bautischler aus,
dem bald ein Ausstand der Zimmerleute folgte. Verschiedene Vor-
*) Vgl. Metin, Ic Socialisme «ans doctrincs, S. 147 ff.
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346
Gesetzgebung : Schweiz.
kommnisse schürten das Feuer, so dafs „aus Sympathie“ ein all-
gemeiner Strike der Bauarbeiter zustande kam. Die Zahl der Aus-
ständigen stieg auf ungefähr 8000. Bei einem Umzuge entstanden
Störungen, und das Militär schritt ein. Schliefslich wurde die Ord-
nung wieder hergestellt, ohne dafs jedoch die Arbeiter Nennens-
wertes als Ergebnis ihrer Erhebung erreicht hätten. Anläßlich
verschiedener Zusammenstöfse in den Strafsen wurden eine Anzahl
Arbeiter strafrechtlich verfolgt und zu 6 Tagen bis 6 Jahren Ge-
fängnis verurteilt.
Infolge dieses Strikes trat die Idee der Errichtung von ständigen
Einigungsämtern und Schiedsgerichten mit gesetzlichem Zwange
behufs Schlichtung aller Streitigkeiten kollektiver Natur zwischen
Unternehmern und Arbeitern neuerdings in den Vordergrund. In
Genf war die Frage keineswegs neu. Schon im Juni des Jahres
1887 hatte man die staatliche Anerkennung der Syndikatskammem
der Innungen sowie die Einführung eines Gesetzes über die zwischen
Unternehmern und Arbeitern vereinbarten Arbeitstarife diskutiert.
Es waren die ersten Anfänge einer gesetzlichen Anerkennung der
kollektiven Abmachung. Doch ging diese Idee nicht weit genug.
Im Januar 1889 richteten die Syndikatskammern des Kantons
Genf an den Grofsen Rat (das kantonale Kleinparlament) eine Pe-
tition, in welcher sie beantragten, dafs ihnen auf dem Wege des
Gesetzes rechtliche Anerkennung und juristische Persönlichkeit ver-
liehen werde. Diese Petition wurde dem Regierungsrate über-
wiesen, und es war weiter keine Rede davon. Im Januar 1890
richtete man eine Interpellation an diese Körperschaft, in welcher
um Aufschlufs über den derzeitigen Stand der Angelegenheit er-
sucht wurde. Am 24. September beantwortete sie der Rcgierungs-
- rat dahin, dafs am 17. September, also einige Tage vorher, ein be-
züglicher Gesetzentwurf von einem Abgeordneten eingebracht sei.
Der Antrag wurde 1891 von neuem aufgenommen und veranlafste
nunmehr lange und interessante Debatten. Ueber die Art der
Lösung der Frage waren die Meinungen geteilt; andererseits aber
wurde allgemein zugegeben, dafs die Frage selbst zur Behandlung
reif und ihre Lösung geboten sei. Strikes und andere Konflikte
hatten gewaltige Lücken der Sozialgesetzgebung blofsgelegt. Was
alle Welt wünschte, war ein Vermittlungsorgan zwischen den
beiden Parteien, den Unternehmern und Arbeitern.
Ein erster Versuch zur Erreichung dieses Zieles wurde ge-
legentlich der Revision des Grundgesetzes über die Gewerbe-
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Jean Sigg, Ein Geseti über ArbcitsUrifc und Kollcktivstreitigkeiten. ^4-
gerichte am 12. Mai 1897 gemacht. Es wurde diesem Gesetze ein
Artikel 74 eingefügt, der die Zentralkommission der Gewerbe-
gerichte (Commission centrale des Prud’hommes) beauftragte, vor
jeder Aussperrung und jedem Ausstande den Versuch einer Einigung
zu unternehmen. Bald aber überzeugte man sich, dafs diese Mafs-
nahme durchaus unzulänglich sei. Im Laufe des Jahres 1 898 fanden
vier Strikes statt; es strikten die Marmorschneider, die Erdarbeiter,
die Zimmerleute und die Tischler. Die beiden ersten Ausstände
konnten durch Einigung beigelegt werden, die beiden anderen nicht.
Hieraus entstand der oben erwähnte Generalstrike und gleichzeitig
die Bewegung zu Gunsten des Gesetzes über die Tarife, die
Einigungs- und die Schiedsgerichte. Es wurde nachdrücklich der
Wunsch nach einem einfachen, gemeinverständlichen und schnellen
Verfahren geäufsert, das alle wünschenswerte Garantieen der Sach-
kenntnis und Unparteilichkeit böte. Der erste bezügliche Gesetz-
entwurf ging aus der Initiative des Regierungsrates hervor. Er
schuf in seinem wesentlichen Inhalte ein Schiedsgericht von 14 Bei-
sitzern, die von den beteiligten Parteien selbst zu wählen waren.
Unternehmer und Arbeiter sollten als ihre Vertreter im Gerichte
drei aus ihrer Mitte wählen. Für den Fall, dafs im Gerichte keine
Mehrheit zustande käme, oder dafs eine der Parteien Widerspruch
oder Berufung innerhalb einer fünftägigen Frist cinlegte, sollte die
Zentralkommission der Schiedsrichter, welche 1 1 Arbeiter und
11 Unternehmer umfafst (1 Vertreter jeder Arbeiterkatcgoric und
1 Vertreter jeder Unternehmerkategorie), endgültig und aus eigenem
Ermessen entscheiden. Der solchergestalt gefafste Beschlufs sollte
als Grundlage zur Pintscheidung aller Streitigkeiten dienen, welche
beim Gewerbegericht anhängig gemacht werden würden.
Bedauerlicherweise litt dieser Entwurf an dem Mangel staat-
lichen Zwanges, der Sanktion. Die einzige, im Entwürfe still-
schweigend ausgesprochene Sanktion war die der öffentlichen
Meinung, welche, wie man sagte, sicherlich das Verhalten der
Partei mifsbilligen würde, die sich weigerte, seine Streitsache einem
frei gewählten und unparteiischen Gerichte zu unterbreiten. Seien
gewerbliche Gruppen überzeugt, dafs sie einen berechtigten Stand-
punkt verträten, dafs ihre Ansprüche billig und begründet seien, so
würden sie kein Bedenken tragen, sich dem Befinden eines Ver-
mittlers zu unterwerfen, und nicht den Vorwurf auf sich laden, einer
schiedsrichterlichen Entscheidung auszuweichen, thörichte und plan-
lose Agitation zu verursachen.
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Gesetzgebung : Schweiz.
Der Entwurf des Regierungsrates war von einem sehr zahl-
reichen Arbeiterausschusse und von der Zentralkommission der Ge-
werbegerichte genehmigt worden, die nur einige geringfügige Aende-
rungen gemacht hatte. Indessen befriedigte das Fehlen eines Zwanges,
oder vielmehr „die moralische Sanktion“, welche der Entwurf allein
vorsah, viele nicht, und vor allem nicht gewisse Untemehmer-
gruppen, welche der Entwicklung der sozialen Gesetzgebung wohl-
wollend gegenüberstehen.
Dieser Grund erklärt die Abfassung eines zweiten Entwurfes,
der sich betitelte „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Be-
ziehungen von Arbeitern und Unternehmern hinsichtlich der Fest-
setzung der Lohnverhältnisse."
Die Grundzüge des neuen Entwurfes waren: Es genügt nicht
die Forderung, dafs im Streitfälle nur einzuschreiten sei, sondern
dafs man den gütlich vereinbarten Tarifen auch die gesetzliche
Sanktion verleihe. Nur auf diese Weise werden die gehörig aner-
kannten Tarife Gesetz, sobald nicht eine besondere Uebereinkunft
oder ein freier Vertrag vorliegt, welcher alle juristischen Beziehungen,
namentlich auf dem Gebiete der Dienstmiete, beherrscht. Für die
Kündigung des Tarifes war die Frist von einem Jahre für Unter-
nehmer sowohl als für Arbeiter vorgesehen. Es wurde verboten,
ein Unternehmen zu sperren oder während der Geltung des Tarifes
in Ausstand zu treten, soweit es sich um die Löhne handele. Der
Entwurf versagte insbesondere den ausländischen Arbeitern, bei der
Abstimmung über die Erklärung des Strikes mitzuwirken, wodurch
er bei den Arbeiterfach vereinen auf starken Widerstand stiefs, denen
Nichtansässige, namentlich Franzosen und Italiener in grofser Zahl
angehören. Aufserdem verlangten die Unternehmer das Verbot der
Umzüge, der Aufläufe und der Strikeposten (des „Picketing" der
Trades-Unionisten) in der Umgegend der Arbeitsstellen. Endlich
waren sehr strenge Strafen vorgesehen.
Es ist sogleich zu erwähnen, dafs dieser Entwurf in der ge-
samten Arbeiterbevölkerung allgemeine Empörung hervorrief. Ein
Entwurf der Unternehmer arbeitete mit vollen Kräften auf die Vor-
beugung aller Konflikte hin und wollte, wenn irgend möglich, jeden
Strike im Keime ersticken. Der Entwurf des Regierungsrates da-
gegen beschränkte sich darauf, die Streitigkeiten in geregelten
Formen zu lösen.
Andererseits arbeitete die Zentralkommission der Gewerbe-
gerichte, die Genfer Sektion des Grütli (des sozialistischen Arbeiter-
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Jean Sigg, Ein Gesetz über ArbeiUtarife und Kollektivstreitigkeiten. 349
bundes) und zwei Juristen Entwürfe aus, so dafs sich die Kommission
des Grofsen Rates, welcher das ganze Material unterbreitet wurde,
sich sechs verschiedenen Standpunkten gegenüber befand, welche
in den sechs Gesetzentwürfen vertreten waren. Aber damit noch
nicht genug. Da man sich auf völlig neuem Boden bewegte,
so wurde noch ein hervorragender Jurist zu Rate gezogen, der
Oberstaatsanwalt des Kantons, der sein Gutachten abgab. Es ist
hierbei zu betonen, dafs sich die den Kantonen auf diesem heikelen
Gebiete verbliebene Zuständigkeit darauf beschränken mufc, das
Herkommen, den Brauch zu regeln, was die Dienstmiete,
die Tarife anlangt. Der Kanton kann nicht neues Recht schaffen,
noch die Verträge Privater beseitigen. Wir bringen nachstehend
das Gutachten des Staatsbeamten in seinem ganzen Umfange, da
es eine Anzahl rechtlicher Gesichtspunkte aufwirft, welche gerade
jetzt, wo man mit der Ausarbeitung eines schweizerischen bürger-
lichen Bundesgesetzbuches beschäftigt ist, besonderes Interesse be-
anspruchen müssen. Es lautet:
„Eis ist von vorn herein zu betonen, dafs die kantonale Gesetz-
gebung auf diesem Gebiete I. kein Gesetz erlassen darf, welches
mit einem geltenden Bundesgesetz im Widerspruch steht, dafs sie
2. kein Gesetz erlassen darf über Gegenstände, welche durch die
Bundesverfassung der Bundesgesetzgebung Vorbehalten sind, dafs sie
3. die Yertragsfreiheit durch ein Gesetz nicht beeinträchtigen darf.
Unter diesem dreifachen Vorbehalt kann die Gesetzgebung des
Kantons aussprechen, dafs mangels besonderer Uebereinkunft und
soweit das Bundesrecht kein Hindernis bildet, das Herkommen,
der Brauch als das Gesetz der Parteien zu betrachten
sei. Eine derartige Auffassung entspricht zudem der Natur der
Sache und dem praktischen Leben. Hier eine gesetzliche Sanktion
zu erteilen, steht unstreitig in der Kompetenz der kantonalen Ge-
setzgebung, welche Unternehmern wie Arbeitern sagt: „Ihr habt
nicht geglaubt, das euch zustehende Recht, eine besondere Ueber-
einkunft zu treffen, gebrauchen zu müssen. Ich bestimme daher
aus diesem Grunde, dafs das Herkommen, der Brauch bei der
Würdigung der juristischen Beziehungen, welche sich unter Euch
gebildet haben, als Regel dienen soll. Ich, die Gesetzgebung, be-
absichtige nicht, den Brauch zu schaffen oder ihn in das Gesetz zu
bringen, sondern ich will bestimmen, in welcher Form dieser
Brauch festgestellt werden kann.“ Soll der Brauch Streitigkeiten
hindern und beilegen, so mufs jederzeit die Berufung darauf offen-
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Gesetzgebung: Schweiz.
stehen; es darf also der Bestand dieses Brauches keinerlei Auf-
lösung erfahren haben, der Brauch mufs dauernd und ununter-
brochen sein, wenngleich er der Umgestaltung unterliegt, denn der
Brauch kann ja nach den Zeitverhältnissen sich ändern, ohne in
seinem Bestehen aufzuhören. Es ist daher notwendig, dal's in ge-
wissen vorherbestimmten Zeiträumen der Brauch aufrecht oder um-
gestaltet werden kann, je nachdem die Zeit ihn mehr oder minder
beeinflufst-
Durch das Gesetz darf zweifellos die Art der Feststellung des
Herkommens bestimmt werden. Soll diese Feststellung möglichst
zutreffend und verläfslich sein, so ist es angebracht, sie soweit als
thunlich den Beteiligten zu überlassen; nur insoweit sie sich nicht
verständigen können, wird man diese Feststellung kompetente^
aber minder direkt beteiligten Personen übertragen müssen — , hier
nur soll die schiedsrichterliche Entscheidung cintrcten.
Wer sind nun die Beteiligten ? Es sind die Unternehmer und
Arbeiter der verschiedenen gewerblichen Körperschaften. Da es
indessen schwer angängig ist, sie allesamt zur Beratung zuzulassen,
erscheint es angebracht, dafs sie Delegierte ernennen, welche nur
durch die in Vereinen oder freien Syndikaten verbundenen Be-
teiligten gewählt werden können.
Es erscheint wünschenswert, diese Vereine oder Syndikate im
Gesetze vorzusehen; aus ihrer gesetzlichen Anerkennung wird sich
der offizielle Charakter ergeben, welcher ihnen das Recht verleiht,
durch ihre Delegierten an der Feststellung des Brauches mitzu-
wirken. Diese Mafsnahme wäre notwendig gegenüber den An-
mafsungen unzufriedener Minderheiten, welche sich zu ähnlichen
Vereinen verbinden und dasselbe Recht beanspruchen würden. Da
aber hierdurch den anerkannten Syndikaten ein Monopol verliehen
wird, so ist es gerecht, jedem Beteiligten den Anschlufs hieran zu
gestatten; es müssen daher ihre Statuten, wenn sie sich nicht aus
dem Gesetze ergeben, auf jeden Fall daraufhin genehmigt sein,
dafs sie keine mehr oder minder drakonischen Vorschriften ent-
halten, welche bestimmten Personen den Beitritt verweigern. Es
ist notwendig, dafs diese Syndikate thatsächlich, wenn auch nicht
die Einstimmigkeit, so doch die Mehrheit der Beteiligten repräsen-
tieren; es ist notwendig, dafs jede Fraktion, jede Gruppierung ohne
Schwierigkeit hineingelangen und danach trachten kann, die Mehr-
heit zu erlangen, wenn ihr numerischer Einflufs sie hierzu berechtigt.
Die Bildung der Syndikate kann im Bedarfsfälle in den Gewerben
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Jean Sigg, Ein Gesell Uber Arbcilstarife und Kollektiv-Streitigkeiten. ^ 5 [
angeregt und veranlafst werden, wo sie noch nicht bestehen. Ein
konkurriendes Syndikat dürfte zur Feststellung des Brauches einem
solchen gegenüber nicht zugelassen werden, welches zuerst ins
Handelsregister eingetragen wurde und seine Statuten von der zu-
ständigen Behörde genehmigen liefs. Die Delegierten müsssen
nach der Zahl für Unternehmer und für Arbeiter gleich sein. Sie
stellen die herkömmlichen Tarife für eine bestimmte Dauer fest.
Wird der Tarif zur Verfallzeit nicht innerhalb einer bestimmten
Frist gekündigt, so dauert seine Geltung bis zu einem neuen Termin.
Wird er von einem oder dem anderen Teil gekündigt, so haben
die Delegierten zusammenzutreten und sich zu bemühen, behufs
Aufstellung neuer Tarife zu einer Einigung zu gelangen ; eine Mehr-
heit von vier Fünfteln der Delegierten dürfte für die Annahme eines
Tarifs übertrieben erscheinen. Im Falle der Nichteinigung hätte
der Regierungsrat vorerst zu versuchen, die Delegierten zu einigen.
Scheitert dieser Versuch , so hat eine schiedsrichterliche Körper-
schaft einzugreifen und ihre Entscheidung aufzuzwingen. Sie hat
die Delegierten zu hören , sie vielleicht sich zuzugesellen und in
allen Fällen durch geheime Abstimmung zu entscheiden. Als sehr
geeignet für die Rolle dieser schiedsrichterlichen Körperschaft er-
scheint die Zentralkommission der Gewerbegerichte. Es handelt
sich keinesfalls darum, dieser Kommission, welche bereits gesetz-
lich fixierte behördliche Zuständigkeiten besitzt, gesetzgeberische
oder gerichtliche Befugnisse zu verleihen. Sie wird lediglich beauf-
tragt, das Herkommen aus den vielfältigen Forderungen und An-
gaben der Beteiligten herauszuschälen. Dieser Kommission aber
werden nur wenige oder gar keine Beteiligten angehören; ihre
Mitglieder werden weniger direkt parteiisch sein, als jene der un-
einigen Syndikate, und andererseits sind ihre Mitglieder alle in
Fragen des Arbeits Vertrages bewanderte Leute.
Der gegenwärtig geltende Art. 74 des Gesetzes über die Ge-
werbegerichte kommt nur für die Vermittlung inbetracht. lJ Es
J) Der Artikel 74 hat folgenden Wortlaut:
Sobald eine Streitigkeit zwischen Unternehmern und Arbeitern entsteht und
eine Aussperrung oder Ausstandserklärung droht, hat die Vereinigung, welche sie zu
erklären gedenkt, vorher den Herrn Präsidenten der Abteilung fiir Handel und In-
dustrie hiervon zu benachrichtigen. Dieser hat schleunigst die Kommission, sowie
eine gleiche Anzahl von Arbeiter- und Unternehmcrdelegicrten zusammenzuberulen.
Unter dem Vorsitz des Leiters der Abteilung für Handel und Industrie ist der Ver-
such einer Linigung zu machen. Ueber die betreffende Sitzung ist ein Protokoll
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Gesetzgebung: Schweiz.
wäre schon ein sehr wesentlicher Fortschritt, einen zivilistischen
Zwang zu erreichen. Der in der oben angegebenen Form fest-
gestellte Brauch wird die Beurkundung, nach welcher sich die Ge-
werbegerichte richten. Es wird dadurch ein Zwang geschaffen, dafs
die Gerichte diesen Brauch anwenden müssen, und dafs diejenigen,
welche keinerlei Abmachung getroffen haben, gezwungen sind,
falls erforderlich gerichtlich, sich dessen Bestimmungen zu unter-
werfen.
Die Entscheidungen, sowohl der Delegierten als der schiedsge-
richtlichen Körperschaft werden in das Protokoll aufgenommen, das in
vier Exemplaren ausgefertigt wird; eines erhält jedes beteiligte
Syndikat, eines die Abteilung für Handel und Industrie, eines die Ge-
richtsschreiberei des Amtsgerichtes.
Entstehen derartige Streitfälle und beziehen sie sich auf Materien,
die durch das Bundesrecht oder eine Sonderübereinkunft nicht ge-
regelt sind, so steht nichts im Wege, sie den Delegierten der Syn-
dikate oder mangels deren Einigung der oben erwähnten Schieds-
kommission zu unterbreiten. Diese Körperschaften werden den
Streitigkeiten stets dadurch ein Ziel setzen, dafs sie den Brauch als
Norm betrachten. Ist dieser Brauch einmal festgestellt, so wird jeder,
der ihn Übertritt, als den Arbeitsvertrag zuwiderhandelnd angesehen
und hat die Anwendung der zivilrechtlichen Zwangsvorschriften
durch das Gewerbegericht zu gewärtigen, welche das Bundesgesetz
über das Obligationenrecht in seinen Bestimmungen über die Nicht-
erfüllung der Verbindlichkeiten vorsieht.
Mit ständigen herkömmlichen Tarifen, die zu gewissen Zeiten
Abänderungen erfahren können , mit einem Verfahren , das alle
Streitigkeiten kollektiver Natur schlichtet, dürfte es keine Strikes
mehr geben. Es ist als gewils anzunehmen, dafs die Strikes sowohl
an Bedeutijjjg wie an Häufigkeit abnehmen werden; auf jeden Fall
werden sie unberechtigt sein, um nicht zu sagen, unlauter, da sie
dann die Auflehnung gegen den gesetzlich festgestellten und Gesetz
gewordenen Brauch bezweckten. Entweder oder — entweder zielt
der Strike nicht darauf hin, die Anwendung des Gesetzes zu fiindern
und läfst es bei einer einfachen platonischen Verwahrung bewenden,
oder er erhebt sich gegen das Gesetz und bedeutet den Umsturz.
Ersteren Falles ist er unschädlich, im anderen Falle rüttelt er an
aufzunehmen und von den Parteien zu unterzeichnen.; es verbleibt in den Händen
des Staatsrates.
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Jean Sigg, Ein Gesetz über Arbeitstarife und Kollektivstreitigkeiten, 333
■der staatlichen Ordnung, und es müssen alsdann die allgemeinen
Schutzgesetze dieser Ordnung Anwendung finden.
Am besten ist es, den Strike im Gesetze nicht vorauszusetzen ;
denn ihn voraussetzen, heifst ihn organisieren und regeln; ihn vor-
aussetzen, heifst ihn anerkennen, die Wege bahnen, welche zu ihm
führen, — heifst in die Sackgasse kommen, aus der man heraus-
gelangen will.
Eine Beseitigung oder Einschränkung des Rechtes zum Strike
auf dem Wege des Gesetzes ist nicht angängig. Dieses Recht ist
begründet I. in der Freiheit der Arbeit, welche die Freiheit des
Nichtarbcitens einschliefst, 2. in der Freiheit der Vereinigung, welche
das Recht, sich auch zum Zwecke des Nichtarbeitens zusammenzu-
thun, umfafst, 3. in der Freiheit der Diskussion, welche zur Kritik
des Gesetzes und der Staatsgewalt berechtigt, 4. in der Freiheit
der Bekehrung, oder der Freiheit, für die Verbreitung seiner Ideen
zu wirken, ein der Freiheit des Menschen und der Freiheit des
Denkens innewohnendes Recht.
Das Recht zum Strike hat keine anderen Schranken, als die
staatliche Ordnung und die Freiheit der Mitmenschen. Ueberschreitet
der Strike diese Grenzen nicht, so mufs er geduldet werden; es
kann ihm keine Bedingung gesetzt, es darf ihm kein Maulkorb und
keine Kette angelegt werden. Nur wenn er jene Grenzen über-
schreitet, kann Bestrafung eintreten.
Aus diesen Erwägungen ergiebt sich, dals für den Strike keine
besondere Strafvorschrift erlassen zu werden braucht, da er nur
strafbar ist, wenn er umstürzlerisch wird, oder mit anderen Worten,
wenn er sich wider die staatliche Ordnung vergeht. In diesem
Falle aber hat man keine Sonderbestimmung nötig : die Gesetze
zum Schutze der staatlichen Ordnung, welche im Bedürfnisfalle noch
fortgebildet werden können, reichen aus, und man braucht keine
besonderen Strafvorschriften für den Strike zu schaffen.
Die allgemeinen Gesetze können vervollkommnet werden ; so
könnte man vielleicht die Freiheit der Arbeit wirksamer durch Ver-
vollständigung des Art. 106 *) des Strafgesetzbuches (Code pönal)
’) Dieser Artikel I06, mit der Ergänzung durch Artikel 105, hat folgenden
Wortlaut :
Art. I05. Wer durch Gewalt oder Drohungen die Freiheit der Niederlassung
beeinträchtigt, wird mit Gefängnis von sechs Tagen bis zu sechs Monaten und einer
Geldbufse von 30 bis 500 F'rancs bestraft.
Art. 106. Der gleichen Strafe unterliegt, wer durch Gewalt oder Drohungen
Archiv für toz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 23
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Gesetzgebung : Schweiz.
schützen, und weitere Handlungen ahnden, welche diese Freiheit
beeinträchtigen, wie z. B. die Beschimpfung. Man kann durch die
Fortbildung dieses Artikels dahin gelangen, dafs der Arbeiter, welcher
sich zur Arbeit begiebt und sein Handwerkszeug mit sich führt,
ebenso geschützt wird, wie der Unternehmer, der, seinen Kollegen
entgegen, seine Betriebsstatte öffnet und unter Bedingungen arbeitet,
die ihnen nicht passen, gegen sie geschützt wird.
Es muCs allgemeinen polizeilichen Vorschriften und nicht dem
Gesetze überlassen werden, Umzüge zu verbieten oder nur unter
gewissen Bedingungen zu gestatten; diesen Vorschriften mufs auch
überlassen bleiben, ein bestimmtes Stehenbleiben auf der öffent-
lichen Strafse, und umsomehr auf oder vor fremdem Eigentum zu
verhindern.
Es verdient bemerkt zu werden, dafs gewisse, im Verlaufe eines
Strikes begangene Akte auch Anlafs zu zivilrechtlichen Strafvor-
schriften geben können, so z. B. die Gesamtaufwiegelung der Arbeiter
eines Betriebes zur Nichtarbeit unter Bedingungen, welche das Her-
kommen, der Brauch festsetzt; vielleicht auch kann sogar die Ver-
hinderung der Vervollständigung des Arbeiterpersonals in einem
Betriebe derartige Vorschriften angebracht erscheinen lassen.
Kurzum, die Streitigkeiten müssen verhindert werden, sie müssen
beigelegt werden, falls sie sich erheben, und wenn sie trotz der
Beruhigungsmittel, wie sie sich aus dem empfohlenen Verfahren
ergeben, andauern. Der Strike mufs geduldet werden, wenn er die
staatliche Ordnung nicht verletzt, es müssen dagegen seine Kund-
gebungen mittels der bestehenden Gesetze unterdrückt werden,
durch allgemein geltende Gesetze, die weder einseitige noch Aus-
nahmegesetze und noch wirksamer Fortbildung fähig sind.“
So weit das Rechtsgutachten, dessen Gesamtauffassung sich der
Gesetzgeber zu eigen machte. Es ist das erste dieser Art in Genf,
soweit mir bekannt, und wie ich glaube auch in der Schweiz.
Die bezüglichen Verhandlungen im grofsen Rat waren zuweilen
sehr lebhaft ; ihr schlie&liches Ergebnis war der Entwurf, wie er
jetzt gilt, und den wir nachstehend in seinem vollen Wortlaut
bringen.
die freie Ausübung der gewerblichen Thätigkeit oder der Arbeit der Unternehmer
oder der Arbeiter beeinträchtigt.
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Gesetz betr. die Art der Feststellung der üblichen Tarife zwischen Arbeitern etc. j
Gesetz betreffend die Art der Feststellung der üblichen Tarife zwischen Ar-
beitern und Unternehmern, und betreffend die Regelung der Streitigkeiten
anläfslich der Bedingungen ihrer Anstellung.
Allgemeine Bestimmungen.
Art. I. Mangels besonderer Uebercinkunft werden die Anstcllungsbedingungen
der Arbeiter hinsichtlich des Dienst- oder Werkvertrages durch den Brauch geregelt.
Geltung als Brauch haben die dem gegenwärtigen Gesetze entsprechend fest-
gestellten Tarife und allgemeinen Anstcllungsbedingungen.
Art. 2. In jedem Gewerke werden diese Tarife und Bedingungen festgestellt:
1. durch gemeinsame Verständigung zwischen den beteiligten Unternehmern
und Arbeitern, welche in den durch das gegenwärtige Gesetz gezogenen
Schranken gehörig zu bestätigen ist;
2. mangels einer Verständigung durch Schiedsrichter, und zwar durch die
Zentralkommission der Gewerbegerichte und die Delegierten der Unter-
nehmer und Arbeiter, nachdem ein Einigungsversuch vor dem Regierungs-
rat vorausgegangen. Die Delegierten müssen dem betreffenden Gewerbe-
fach angchören.
Ar. 3. Zur Feststellung dieser Tarife und Bedingungen in jedem Gewerk
sind befugt:
1. Die Vereine der Unternehmer und die Vereine der Arbeiter, welche vor-
schriftsmäßig in das Handelsregister eingetragen und deren Statuten vom
Regierungsrat genehmigt sind. Diese Genehmigung ist zu erteilen, voraus-
gesetzt
a) dafs die Statuten nichts Gesetzwidriges enthalten und namentlich nichts
gegen die Freiheit der Arbeit;
b) dafs sie jederzeit einer Revision unterzogen werden können, falls cs
die Mehrheit verlangt;
c) dafs sämtliche Angehörige des Gewerks das Recht des Eintrittes in
den Verein haben, und der Ausschufs durch die Mehrheit der Vcreins-
mitglieder gewählt wird.
2. Besteht kein Verein, so haben die obige Befugnis die in Genf seit drei
Monaten regelmäfsig ansässigen Unternehmer und Arbeiter.
Die Verständigung der Beteiligten.
Art. 4. Behufs gültiger Feststellung der Tarife und Bedingungen in jedem
Gewerk berufen die Unternehmervereine und Arbeitervereine durch öffentliche Be-
kanntmachung und mindestens drei Tage vorher Generalversammlungen ihrer Körper-
schaft.
Besteht im Gewerk kein Verein der Unternehmer sowohl als der Arbeiter, so
hat der Rcgierungsrat auf schriAlichcs Verlangen eines Fünftels der eingeschriebenen
Wälder des Gewerks zum Gcwcrbcgericht eine Generalversammlung der Beteiligten
zu berufen.
Diese Versammlungen ernennen beiderseits und in geheimer Zettelwahl Ver-
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Gesetzgebung : Schweiz.
treter in gleicher Anzahl, sieben Unternehmer und sieben Arbeiter, falls nicht eine
Verständigung über eine niedrigere Ziffer zu stände kommt. Als Delegierter kann nur
gewählt werden, wer vor seiner Ernennung in dem Gewerk mindestens achtzehn
Monate in einer oder mehreren Perioden innerhalb des Kantons Genf gearbeitet hat.
Die Delegierten sind aus der Zahl der Schweizerbürger zu wählen, und nur
wenn keine genügende Anzahl dieser vorhanden, aus jener der Ausländer.
Bestehen mehrere ähnliche Vereine, welche sich in Gcmäfshcit des Art. 3 des
gegenwärtigen Gesetzes gehörig konstituiert haben, so sind sie berechtigt, jeder für
sich eine Anzahl Delegierter zu wählen, welche jener ihrer Mitglieder entspricht.
Die Namenliste sowohl der Vereine, als — falls solche nicht vorhanden —
der Unternehmer und Arbeiter des Gewerks, ist vorher durch die Zentralkommission
der Gewerbegerichte zusammenzustellen, welcher auch die Aufgabe obliegt, ge-
gebenen Falles das Verhältnis der Delegierten zu bestimmen.
Art. 5. Die Beschlüsse der solchergestalt gewählten Vertreter müssen mit einer
Mehrheit von drei Vierteln der delegierten Mitglieder gefafst werden und sind in
einem in vier Exemplaren aufzunehmenden Protokoll festzustellen, das von den An-
nehmenden zu unterzeichnen ist: ein Exemplar bleibt in den Händen der delegierten
Unternehmer und eines in denen der delegierten Arbeiter, von den beiden übrigen ist
eines auf der Gerichtsschreiberci der Gewerbegerichte niederzulegen und das andere
der Abteilung für Handel und Industrie zu übermitteln; sie stehen dort jedem In-
teressenten zur beliebigen Einsicht zur Verfügung.
Art. 6. Die dergestalt festgesetzten Tarife und Bedingungen bleiben für die
darin bestimmte Zeitdauer in Kraft, welche jedoch keinesfalls fünf Jahre über-
schreiten darf und deren Ablauf auf den Schlufs eines bürgerlichen Jahres fest-
gesetzt sein mufs.
Sie erneuern sich stillschweigend von Jahr zu Jahr, wenn sie nicht von der
einen oder anderen Seite mindestens ein Jahr vor Ablauf einer Frist gekündigt
werden. Indessen kann auf dem Wege der gütlichen l'ebereinkunft zwischen den
delegierten Arbeitern und Unternehmern die Geltungsdauer des Tarifs und die
Kündigungsfrist auf eine kürzere Zeit als ein Jahr bestimmt werden.
Art. 7. Bis zur Annahme eines neuen Tarifes findet der alte fortgesetzt An-
wendung.
Einigungs versuche.
Art. S. Mangels einer Verständigung unter den Beteiligten ist auf Ansuchen
einer oder anderen der Parteien ein Einigungsversuch vor dem Rcgicrungsrat zu be-
werkstelligen, wozu der Regierungsrat eines oder mehrere seiner Mitglieder ab-
ordnen kann.
Art. 9. Das Gesuch hat in schriftlicher Form zu geschehen und muLs ent-
halten :
a) Namen. Stand und Wohnort der Vertreter beider Parteien ;
b) den Streitgegenstand.
Art. io. Der Delegierte oder die Delegierten des Regierungsrates haben die
Delegierten der Unternehmer und der Arbeiter zusammenzuberufen und zu ver-
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Gesetz betr. die Art der Feststellung der üblichen Tarife zwischen Arbeitern etc. 357
suchen, die im Art. 5 vorgesehene Mehrheit zustande zu bringen. Gelingt ihnen
dies nicht, so konstatieren sic die Nichleinigung durch ein Protokoll, das in einem
Exemplar von Amts wegen der Zentralkommission der Gewerbegerichte zu über-
mitteln ist.
Art. 11. Entsteht eine Streitigkeit in einem Gewerk, dessen Mitglieder nicht
in einem Vereine zusammengeschlosscn sind, so hat der Regierungsrat die Beteiligten
zusammenzuberufen, welche auf dem im Art. 4 vorgesehenen Wege Delegierte
ernennen.
Art. 12. Weigert sich eine Partei, Delegierte zu wählen, oder entstehen
Schwierigkeiten anläßlich ihrer Wahl oder ihrer Verteilung auf gleichartige Vereine,
so konstatieren der oder die Delegierten des Regierungsrates die Nichteinigung und
verfahren nach Art. IO.
Schiedsrichterliches Verfahren.
Art. 13. Die Zentralkonimission der Gewerbegerichte hat sich binnen sechs
Tagen nach Empfang des Protokolle« über die Nichteinigung zu versammeln und
die Delegierten ihrerseits zusammenzuberufen, welche ihr beigeordnet werden müssen.
Weigert sich noch immer eine Partei, ihre Delegierten zu wählen, oder lassen
sich Schwierigkeiten anlafslich ihrer Wahl nicht beilegen, so ernennt sie die Zentral-
kommission der Gcwcrbcgcrichtc von Amts wegen. — In der zusammenberufenen Ver-
sammlung beschliefscn die anwesenden Mitglieder durch die Mehrheit und in ge-
heimer Zettel wähl über die Ansprüche der Parteien. Gehört das eine oder andere
Mitglied der Zentralkommission der Gewerbegerichte zum im Streite sich befind-
lichen Gewerbefach, so haben sich die übrigen Mitglieder der Kommission von
Amts wegen die erforderliche Anzahl Gewerberichter beizuordnen, welche sic aus
denen derselben Gruppe wählen (aus jener der Unternehmer oder der Arbeiter, je
nachdem das zu ersetzende Mitglied der einen oder anderen angehört).
Der Vorsitzende der Zentralkommission der Gewerbegerichte und der Sekretär
haben ihre Obliegenheiten zu erfüllen.
Art. 14. Die Schiedsrichter können jedoch das Inkrafttreten eines Tarifcs in
einem Gewerbefach, in welchem ein solcher nicht besteht, erst nach einer Frist von
mindestens sechs Monaten nach ihrem Beschlüsse anordnen, es sei denn, dafs die
Parteien sich gemeinsam Über eine kürzere Frist verständigen.
Mangels besonderer Uebcrcinkunft dient der solchergestalt bestimmte Brauch
(usage) den zuständigen Gerichten als Unterlage für die Entscheidung der ihnen
unterbreiteten Spezialfälle.
Jeder Schiedsrichter hat Anspruch auf die Diäten der Gewerbegerichte, und
unterliegt im Falle nicht gerechtfertigten Ausbleibens einer Geldstrafe von fünfzig
Franken, welche von der Zentral kommission der Gewcrbcgerichtc zu verhängen ist.
Beschwerden und Streitigkeiten anderer Art.
Art. 15. Wahrend der Geltungsdauer eines Tarifcs darf keine allgemeine Ar-
beitseinstellung zum Zwecke der Aendcrung des Tarifes weder von den Unter-
nehmern noch von den Arbeitern beschlossen werden.
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Gesetzgebung : Schweiz.
Art. 16. Erscheint das Ersuchen einer Aenderung oder einer Ergänzung eines
geltenden Tarifes anlässlich eines noch nicht bestehenden Produktionszweiges ge-
rechtfertigt, so tritt dasselbe Verfahren ein wie bei der Ausarbeitung eines voll-
ständigen Tarifes.
Art. 17. Entstehen zwischen Unternehmern und Angestellten Beschwerden oder
Streitigkeiten anderer Art, welche geeignet sind, eine allgemeine oder teilweise Ar-
beitseinstellung hcrbeizuführen, wie Aussperrungen u. s. w., so findet das in den
Artikeln 3 bis einschlicfslich 14 des gegenwärtigen Gesetzes vorgesehene Verfahren
gleichfalls Anwendung.
Strafbestimmungen.
Art. 18. Jede Aufforderung zur teil weisen oder allgemeinen Arbeitseinstellung
unter Verletzung eines geltenden Tarifes oder unter Zuwiderhandlung gegen die Vor-
schriften des gegenwärtigen Gesetzes wird mit Polizeistrafen geahndet, unbeschadet
der in Art. 106 des Code pcnal vorgesehenen Strafen und aller anderen in den
bestehenden Gesetzen enthaltenen zivil- oder strafrechtlichen Bestimmungen.
Drucker und Verleger unterliegen gegebenen Falles den gleichen Strafen.
Schlufsbe Stimmungen.
Art. 19. Der Regierungsrat hat die notwendigen Vorschriften zur Ausführung
des gegenwärtigen Gesetzes zu erlassen.
Art. 20. Die beiden letzten Absätze (5 und 6) des Art. 74 des Gesetzes über
die Gewerbcgcrichtc vom 12. Mai 1897 werden aufgehoben.
So das Gesetz. — Ein grofser Teil der Arbeiterbevölkerung
war nicht darüber befriedigt, dafs das Gesetz zu stände gekommen,
und benutzte die von der Kantonsverfassung festgesetzte Frist für
das Referendum (30 Tage), um einen kräftigen Vorstofs gegen sein
Inkrafttreten ins Werk zu setzen. Es gelang dieser Agitation jedoch
nicht, die 3000 Unterschriften zusammenzubringen, welche erforder-
lich gewesen wären, um das Gesetz einer Volksabstimmung zu
unterwerfen. Und das Gesetz trat mit dem 21. März 1900 in Kraft.
Die Gegner des Gesetzes, welche namentlich unter den „reinen“
Arbeitervereinlern zu finden sind, und von extremen Konservativen
unterstützt werden, welche auf dem Gebiete der Arbeit überhaupt
kein Gesetz haben wollen, gaben ihren Widerstand nicht auf.
Sie appellierten durch die „Federation des societes ouvrieres
de Geneve" an das Bundesgericht. In dieser öffentlich-rechtlichen
Berufung machten sie folgendes geltend :
Sie verlangten vom Bundesgericht, das Gesetz für null und
nichtig zu erklären, da es die verfassungsmäßigen Rechte der
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Jean Sigg, Ein Gesetz über Arbeiutarife und Kollektivstreitigkeiten,
Arbeitervereine und der betreffenden Arbeiter verletze; eventuell
alle Artikel des Gesetzes aufzuheben, welche eine Verletzung der
durch die Verfassungen die Bundesgesetze und die Kantonsgesetze
gewährleisteten Rechte bedeuten.
Zur Begründung hierfür führten sie an :
„Das angegriffene Gesetz ist unter Verletzung des Art. 64 der
Bundesverfassung erlassen. Der Titel 1 1 des Bundesgesetzes über
das Obligationenrecht regelt alle auf die Dienstmiete bezüglichen
Verträge. Der Grofse Rat von Genf hat dadurch, dafs er die Be-
rufung Einlegenden anderen Bestimmungen unterwarf, als den in
den Bundesgesetzen niedergelegten, ihre verfassungsmäfsigen Rechte
beeinträchtigt und sie der Herrschaft von Gesetzen unterworfen,
•welche von einer unzuständigen Gewalt erlassen wurden.
Das Gesetz vom to. Februar 1900 steht in Widerspruch mit
den Vorschriften des Bundesgesetzes über das Obligationenrecht.
Das Bundesgesetz fixiert die Bedingungen der Erneuerung und der
Auflösung des Dienstvertrages , und läfst den Ortsgebrauch nur
gelten, wo keine Uebcreinkunft besteht. Nun kann aber der Orts-
gebrauch nicht, wie es durch das Genfer Gesetz geschieht, durch
allgemeine Engagementsbedingungen ersetzt werden, welche einem
Gesetze gemäfs bestimmt sind und durch Verordnung „Geltung als
Brauch“ haben. Der Brauch kann nicht durch Gesetz festgestellt
werden, und seine Anwendung steht allein den Gerichten, zu.
Artikel I des Gesetzes läfst an Stelle des Brauches gesetzliche
Tarife und Bedingungen treten, und verletzt hierdurch die Art. 338 ff.
des Bundesgesetzes über das Obligationenrecht. Das Gesetz kodifi-
ziert nicht allein den Brauch, sondern ersetzt ihn auch durch eine
Regelung, welche genau das Gegenteil des Brauches ist.
Das besagte Gesetz steht der Freiheit der Vereinigung und
der wirthschaftlichen Thätigkeit entgegen, sowie allen allgemeinen
Grundsätzen, welche für die Bildung von Gesellschaften mafsgebend
sind (Art. 683 ff. des Bundesgesetzes über das Obligationenrecht).
Der Absatz c) des Art. 3 legt sogar den Arbeitersyndikaten die
Verpflichtung auf, „alle Angehörige des Gewerbefaches in ihren
Verein aufzunehmen“, wodurch also diesen Syndikaten das Recht
der Ausschliefsung verweigert wird.
Ebenso stehen Art. 1 5 und 1 8 des Gesetzes in Widerspruch
mit der persönlichen Freiheit und der Gleichheit der Staatsbürger.
Das Recht der Arbeitseinstellung, das Recht, Aenderung eines
Tarifes zu verlangen, darf nicht durch die Drohung einer straf-
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3&o
Gesetzgebung : Schweiz.
rechtlichen Verurteilung beeinträchtigt werden. Durch Verwandlung
des zivilrechtlichen Zwanges des Bundesgesetzes über das Obliga-
tionenrecht in strafrechtlichen Zwang sanktioniert das Gesetz die
Verletzung einer ursprünglichen persönlichen Freiheit.
Der Art. 18 des Gesetzes verletzt nicht allein die durch die
Bundes- und Kantonsverfassung gewährleisteten allgemeinen Grund-
sätze der Freiheit und Gleichheit, sondern beeinträchtigt auch die
F'reiheit der Presse."
Der Regierungsrat erhielt die Berufungsschrift unterm 29. April
vom Bundesgericht und beantwortete sie wie folgt:
„Das Gesetz vom 10. Februar 19c» beeinträchtigt in keiner
Weise das Recht jedermanns, einen Verein zu bilden oder sich
einem bestehenden Vereine anzuschliefsen. Ferner hindert der
Art. 56 der Bundesverfassung nicht , dafs das Kantonsgesetz die
Bedingungen fixiert, unter denen der Regierungsrat die Statuten
der Unternehmer- und Arbeitervereine genehmigen kann, voraus-
gesetzt , dafs diese Bedingungen nichts Gesetzwidriges enthalten.
Die beanstandete Bedingung aber will die Gleichheit der Mitglieder
ein und desselben Gewerbefaches sichern und den Ostrazismus und
den Mifsstand der Ausschliefsung verhindern.
Die Beschwerde über die Verletzung der Freiheit der wirt-
schaftlichen Thätigkeit ist auf Grund der Unzuständigkeit des
Bundesgerichts hinfällig (Art. 189 des Gesetzes über die Bundes-
rechtspflege).
Die Art. 15 und 18 des Gesetzes verletzen das Recht und die
F’reiheit des Arbeiters, zu arbeiten oder nicht zu arbeiten, in keiner
Weise. Der Art. 15 verbietet lediglich den Zusammenschlufs be-
hufs Herbeiführung einer allgemeinen Arbeitseinstellung während
der Geltungsdauer eines T,arifes. Der Art. 18 straft allein
die Aufforderung zum teilweisen oder allgemeinen Ausstand unter
Verletzung eines bestehenden Tarifes.
Was sodann die Verletzung des Prinzips der Gleichheit unter
den Staatsbürgern anlangt, so sagt der Berufungsfuhrcr nicht, worin
sie besteht.
Endlich bestimmt Art. 55 der Bundesverfassung, dals die
Kantone die erforderlichen Mafsnahmen zur Unterdrückung von
Mifsbräuchen in Prefsangelegenheiten festsetzen können. Er setzt
keinerlei Frist fest, innerhalb deren diese Mafsnahmen der Ge-
nehmigung des Bundesrates zu unterwerfen seien. Und voraus-
gesetzt, das Gesetz vom IO. Februar berühre die Freiheit der Presse,
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Jean Sigg, Ein Gesell Uber Arbeitstarife und Kollektivstreitigkeiten. ^(5 1
so könnte die Berufung nur eintreten, wenn es in seinem Art. 18
Anwendung fände, bevor es die Genehmigung des Bundesrates er-
langt hätte."
Aber noch mehr:
„Es ist darzuthun, dafs das Genfer Gesetz vom io. Februar
1900 nicht in die gesetzgeberische Zuständigkeit des Bundes ein-
greift. Die Frage der Arbeitslöhne wird nicht einzig und allein
in der Form persönlicher Verträge zwischen Unternehmern und
Arbeitern gelöst. Eis hat sich dieser E'orm ein neues Mittel hinzu-
gesellt, die Lohntarife, wie sie sich aus den Streitig-
keiten zwischen Unternehmervereinen und Arbeiter-
vereinen ergeben. Von der Auffassung ausgehend, dafs diese
Tarife zu einem gewissen Zeitpunkte nur der Ausdruck einer Regel
sind, die man als Brauch bezeichnet, wollte man unter Wahrung
der Vertragsfreiheit diesem Brauch die Sanktion eines offiziellen
Protokolls verleihen, abgefafst und unterzeichnet in gemeinsamer
Verständigung durch die bevollmächtigten Vertreter der Unter-
nehmer und der Arbeiter. Kommt eine Einigung nicht zustande,
so werden die streitigen Punkte in der in Art. 13 und 14 des Ge-
setzes angegebenen Weise erledigt. Die bezügliche Entscheidung
trägt den Charakter einer amtlichen Feststellung des Brauches be-
züglich der Löhne. Den Einzelpersonen steht es dessenungeachtet
frei, diesem Brauche sich nicht zu unterwerfen und Verträge auf
anderer Unterlage zu schliefsen, aber das Gesetz verweigert ihnen
das Recht, sich zur Arbeitseinstellung zusammenzuschliefsen behufs
Aenderung der Tarife. Das Bundesgesetz über das Obligationen-
recht nimmt oft Bezug auf den Brauch, besonders in seinem elften
Titel (Dienstmiete). Andererseits enthält es keine Angaben über
die Art und Weise, wie der Brauch festgestellt werden kann ; es
folgt hieraus, dafs es den Kantonen in dieser Hinsicht freie Hand
lassen wollte. Die Gesetzgebung Genfs hat es unternommen, die
Regeln zu bestimmen, nach denen die Feststellung des Brauches
geschehen soll; sie verfolgte gleichzeitig den Zweck der Friedens-
stiftung, der Regelung auf dem Wege des Gesetzes bezüglich der
Differenzen über Arbeitsbedingungen. Das Gesetz vom 10. Februar
hat durchaus nicht, wie der Berufungsfuhrer behauptet, dem Brauche
bezüglich der Löhne gesetzliche Tarife und Bedingungen substituiert.“
Gleichzeitig mit dieser Berufung war eine weitere beim Bundes-
ratc mit dem Anträge eingelegt worden, die Aufhebung des Genfer
Gesetzes aus dem Grunde zu beschliefsen, dals es dem Bundes-
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Gesetzgebung : Schweiz.
gesetze über das Obligationenrecht widersprechende Bestimmungen
enthalte. Die Antwort des Bundesrates war klar und unzweideutig:
„Zweifellos hatte die Genfer Gesetzgebung bei dem von ihr
unternommenen Versuch weniger beabsichtigt, die rechtliche Sicher-
heit für die Fälle zu gewährleisten, in denen das Bundesgesetz über
das Obligationenrecht auf den Ortsgebrauch bezüglich der Dienst-
miete verweist, als vielmehr die Organe und das Verfahren zu be-
stimmen , wodurch die Mindestlöhne, die Arbeitszeit u. s. w. für
gewisse Arten von Arbeiten, z. B. die Maurerarbeiten, allgemein
geregelt und geändert werden sollen. Sie hat hierbei von jeder
Art privatrechtlichen Zwanges abgesehen, sie wollte nicht etwa
eine führende Norm für die Abfassung der Verträge Privater schaffen ;
es sollte, kurzum, der regelmäfsige Gang der Arbeit gesichert und
der Strike verhütet werden. Die hierdurch geschaffene Grundlage
soll offenbar keinerlei direkte und unmittelbare juristische Wirkung
auf die privatrechtlichen Beziehungen zwischen Unternehmern und
Angestellten äufsern , sondern lediglich thatsächliche Bedeutung
haben.
Allerdings ergiebt sich dieser Gesichtspunkt nicht immer in
deutlicher Weise aus dem Gesetzestext, und der Art. I kann den
folgenden Bestimmungen entgegen zu Gunsten einer engeren Aus-
legung des Gesetzes angeführt werden.
Aber stellt man sich auch auf diesen letzten Standpunkt, so
ist doch anzuerkennen, dafs die Bundesgesetzgebung bei Erlassung
der Vorschriften des Bundesgesetzes über das Obligationenrecht
bezüglich der Dienstmiete in gewissem Umfange der Autonomie
der Kantone die Bestimmungen hinsichtlich der Bildung und Fest-
stellung des Ortsgebrauches überlassen hat. Es läfst sich daher
nicht behaupten, dafs der Genfer Grofse Rat seine gesetzgebende
Zuständigkeit überschritt, insofern das Genfer Gesetz vom io. Februar
1900 Regeln festsetzte, nach welchen behufs Feststellung der Löhne,
die mangels besonderer Uebereinkunft für eine bestimmte Zeit als
Brauchstarif mafsgebend sein sollen, zu verfahren ist. Es ist in
dieser Hinsicht zu bemerken, dafs die schriftliche Feststellung eines
Ortsgebrauches diesem seinen Rechtscharakter nicht nimmt.
Die Bestimmung sub Ziffer I, Absatz c des Art. 3 des Gesetzes
(dafs sämtliche Angehörige des Gewerbefaches berechtigt seien, dem
Vereine beizutreten, und dafs der Ausschufs durch die Mehrheit der
Vereinsmitglieder zu wählen sei) läfst sich nicht dahin auslegen,
dafs jeder, der dem Gewerbefache angehöre, ein absolutes Recht
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Jean Sigg, Ein Gesetz über Arbeilstarifc und Kollektivstreitigkciten. 363
habe, an dem Vereine der Arbeiter oder Unternehmer dieses Ge-
werbes teilzunehmen. Es ist anzuerkennen, dafs die der Genehmigung
des Regicrungsrates unterliegenden Statuten gewisse Aufnahme-
bedingungen vorsehen können, die sich teilweise von selbst ver-
stehen ; es will sich jedoch der Regierungsrat die Aufsicht wahren,
um dem Ostrazismus und dem willkürlichen Ausschlüsse vorzu-
beugen. Keinesfalls kann man in der angezogenen Bestimmung
eine Verletzung der Vereinsfreiheit erkennen, da das Gesetz die
Unternehmer- und Arbeitervereine nicht zwingt, an der Feststellung
der Tarife teilzunehmen, und es steht daher den Vereinen, welche
sich den Bedingungen, von deren Erfüllung das Gesetz diese Teil-
nahme abhängig macht, nicht unterwerfen wollen, frei, ihre Mit-
glieder sich nach Belieben zu wählen.“ Aus allen diesen Gründen
verwarf das Bundesgericht die Berufung, indem es aussprach, „es
sei zur Zeit nicht erwiesen, dafs das Gesetz vom IO. Februar 1900
die verfassungsmäfsigen Rechte verletze. Es versteht sich indessen
von selbst, dafs, falls sich bei dessen Anwendung eine Beeinträchtigung
der durch die Verfassung gewährleisteten persönlichen Rechte er-
gäbe, das Recht des Bundesgerichtes, sich im Falle einer Berufung
zur Sache zu äufsern, völlig unangetastet bestehen bleibt.“
Das Gesetz war nunmehr in sicherem Hafen eingelaufen. Es
handelte sich jetzt darum, seine Wirksamkeit zu erproben.
Diese Probe liefs nicht lange auf sich warten. Das Gesetz
fand erstmals Anwendung bei einer Streitigkeit zwischen den Huf-
schmiedarbeitern und ihren Meistern. Es sollte ein üblicher Tarif
geschaffen werden. Da sich die Vertreter beider Parteien nicht
verständigen konnten, so hatte der Regierungsrat sich eingemischt.
Der von den Arbeitern verfafste Tarifentwurf lautete folgender-
mafsen :
Tarif.
Art. 1. Sämtliche früheren Tarife sind aufgehoben.
Art. 2. Es darf kein Arbeiter bei den Meistern in Kost und
Wohnung sein, auch dann nicht, wenn diese letzteren in gewissem
Grade ein Geschäft daraus machen.
Art. 3. Die tägliche Arbeitszeit beträgt IO Stunden, sie be-
ginnt 6 Uhr morgens und endigt 6 Uhr abends einschliefslich einer
halbstündigen Frühstücks- und einer ein und einhalbstündigen Mittags-
pause.
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364
Gesetzgebung: Schweiz.
Art. 4. Es bestehen im Gewerk zwei Arbeiterkategorieen : die
Beschlagschmiede und die Fufshalter.
Art. 5. Die Arbeiter werden in der Weise gelohnt, dafs der
Beschläger 60 Centimes und der Fufshalter 50 Centimes für die
Stunde erhält.
Art. 6. Alle Arbeit, die vor 6 Uhr morgens und nach 6 Uhr
abends oder während der Mahlzeitpausen verrichtet wird, ist als
Ueberstundenarbeit zu betrachten und nach dem Tarif abzulohnen,
welcher für die tägliche Arbeitszeit gilt.
Art. 7. Die Sonntagsarbeit ist gänzlich abzuschaffen.
Art. 8. Die Ablohnung der Arbeiter hat jeden Sonnabend
stattzufinden.
Art. 9. Das Reinigen der Werkstätte soll während der Arbeits-
zeit und nicht danach geschehen, 5 oder 10 Minuten vor Schlufs
der Arbeitszeit. —
Die Verhandlungen ergaben folgende Beschlüsse:
Art. 1 bedarf keiner Diskussion. Art. 2 wird mit 10 gegen
4 Stimmen abgelehnt, da die Dreiviertelmehrheit 1 1 Stimmen be-
trägt.
Da unter diesen Umständen keine Einigung zu erzielen war,
so war die Verhandlung beendigt und der Streitpunkt durch die
Zentralkommission der Gewerbegerichte zu erledigen.
Die Intervention des Regierungsrates fand statt am 29. November
1900, jene der Zentralkommission am 14. Januar 1901, nachdem
einige Verzögerungen, wie sie jedem ersten Versuch eigentümlich,
das Eingreifen der Gewerberichter hinausgeschoben hatten.
Meister, Arbeiter und Delegierte erschienen, wie es das Gesetz
vorschreibt. Die Verhandlung ging in der höflichsten Weise von
statten.
Es wurde, als erster auf Grund des Gesetzes, folgender Tarif
der Hufschmiede angenommen:
Art. 1. Die normale Dauer der täglichen Arbeitszeit der Huf-
schmiede-Arbeiter wird auf zehn Stunden festgesetzt.
Art. 2. Hinsichtlich der Oeffnung und des Schliefsens der
Werkstätte hat sich der Arbeiter nach, den Bräuchen des Geschäftes
zu richten, in welchem er arbeitet.
Art. 3. Der normale Lohn für die Arbeitsstunde des Beschlag-
schmiedes beträgt fiinfundfünfzig Centimes.
Art. 4. Der normale Lohn des Heizers (Schlägers und Fufs-
haltersl beträgt pro Arbeitsstunde fünfundvierzig Centimes.
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Jean Sigg, Km Gesetz über Arbeitstarife und Kollektivstreitigkeiten. 365
Art. 5. Die Ueberstunden werden mit dem gleichen Lohne
vergütet wie die gewöhnlichen Stunden.
Art. 6. An einem normalen Arbeitstage von zehn Stunden
müssen der Beschlagschmied und der Heizer, welche zusammen
arbeiten, 30 Füfse beschlagen oder 60 Hufeisen schmieden.
Art. 7. Die Werkstätten werden Sonntags geschlossen, es sei
denn, dafs am Abend vorher plötzlich Schneefall oder Glatteis ein-
getreten wäre.
Art. 8. Der Arbeiter ist nicht verpflichtet, bei seinem Meister
in Kost und Wohnung zu sein.
Art. 9. Die Ablohnung findet jeden Sonnabend statt.
Art. IO. Der gegenwärtige Tarif tritt am I. Juli 1901 in Kraft
und endigt am 31. Dezember 1904. —
Der erste Versuch einer Anwendung des Gesetzes war ge-
lungen, zum grofsen Mifsfallen derer, welche die Nutzlosigkeit des
Gesetzes prophezeiet und alle Mittel angewandt hatten , es zum
Scheitern zu bringen.
Nach und nach lassen jetzt die Vereine die verkehrten An-
schauungen fallen, welche sie bezüglich des Gesetzes hegten. Sieht
man von einigen Fachvereinen ab, welche sich hinter eine absolute
Unnachgiebigkeit verschanzen, so läfst sich sagen, dafs der Augen-
blick nicht mehr fern ist, wo die organisierten Arbeiter erst be-
greifen werden, welche mächtige Waffe ihnen der Gesetzgeber in
die Hand gegeben hat.
Am 7. September 1901 wiederum ersuchten die Thondreher
und die Thonwarenfabrikanten des Kantons um die vom Gesetz
vorgesehene Intervention. Ich bringe nachstehend wörtlich das
Protokoll der Sitzung der Zentralkommission der Gewerbegerichte,
um das befolgte Verfahren möglichst anschaulich darzustellen.
Erste Abstimmung.
Tarif der bedeckten Waren.
Von den Arbeitern pro Hundert (gängige Ware) verlangter
Preis: 25 Francs.
. Gültige Zettel: 23. •
Ja: 11.
Nein : 1 2.
Folglich ist der von den Arbeitern verlangte Preis nicht zu-
gestanden.
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Gesetzgebung : Schweiz.
Zweite Abstimmung.
Preis pro Hundert für nicht bedeckte Waren.
Von den Arbeitern verlangter Preis: 23 Francs.
Gültige Zettel : 24.
Ja: 11.
Nein: 13.
Folglich ist der von den Arbeitern geforderte Preis nicht an-
genommen.
Dritte Abstimmung.
Beibehaltung des zur Zeit gezahlten Preises für bedeckte Ware.
Vorschlag der Herren Unternehmer.
Gültige Zettel : 24.
Ja: IO.
Nein: 14.
Der Vorschlag ist nicht angenommen.
Vierte Abstimmung.
Vorschlag eines Mitgliedes der Zentralkommission der Gewerbe-
gerichte, den Preis pro Hundert bedeckter Ware auf 23 Francs
festzusetzen.
Gültige Zettel: 24.
Ja: 14.
Nein: 10.
Der Vorschlag ist somit angenommen.
Fünfte Abstimmung.
Vorschlag der Unternehmer, den zur Zeit geltenden Tarif für
die nicht bedeckten Waren aufrechtzuerhalten.
Gütige Zettel : 24.
Ja: 10.
Nein: 14.
Der Vorschlag ist abgelehnt.
Sechste Abstimmung.
Vorschlag eines Mitgliedes der Zentralkommission der Ge-
werbegerichte, den Preis pro Hundert nicht bedeckter Ware auf
21 Francs festzusetzen.
Gültige Zettel: 24.
Ja: 17.
Nein : 7.
Der Vorschlag ist somit angenommen.
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Jean S i g g , Ein Gesell Uber Arbeitstarife und Kollcktivstrcitigkciten. 367
Siebente Abstimmung.
Inkraftreten und Dauer des neuen Tarifes.
Eis wird mit 19 gegen 4 Stimmen beschlossen, dafs der neue
Tarif vom 1. Januar bis 31. Dezember 1902 in Kraft bleiben soll.
Hinsichtlich der Mafse erklären die Delegierten der
Unternehmer und Arbeiter, dafs sie in der seit 1894 üblichen Zu-
sammenstellung der Mafse keine Aenderung verlangen.
Vom I. Januar 1902 bis 31. Dezember 1902 lautet also der
Tarif folgendermafsen :
23 Francs für bedeckte Ware und
21 „ für nicht bedeckte Ware.
Einmachetöpfe und -Tassen, gewöhnliche Teller, Tassen und
Untertassen werden wie bisher mit 20 Francs pro Hundert bezahlt.
Hinsichtlich der Blumenvasen findet der am 26. März 1894 an-
genommene und ins Handelsregister eingetragene Tarif unverändert
Anwendung, desgleichen die allgemeine Zusammenstellung der Mafse,
welche am gleichen Tage angenommen und ebenfalls ins Handels-
register eingetragen ist.
Ausgefertigt in 4 Exemplaren.
Es ist hierbei hervorzuheben, dafs sowohl bei den Hufschmieden,
wie bei den Thondrehern, die Einigung, die erste Stufe des Ge-
setzes, gescheitert war.
Einen gleichen Erfolg hatte der Einigungsversuch der Dele-
gierten des Gewerks der Glasermeister und der Rouleaumacher
mit denen der Syndikatskammer der Glasereiarbeiter, welcher am
30. September 1902 stattfand und wobei die Arbeiter folgende
Forderungen stellten:
1. Mindestlohn eines Glasereiarbeiters, Einrahmers
oder Rouleaumachers pro Stunde .... Fr. 0,55
2. Mindestlohn pro Stunde Nachtarbeit 50 °/0 höher „ 0,82
3. „ eines zeitweilig beschäftigten Aus-
hilfearbeiters 0,55
NB. Dieser Satz findet jedoch nur Anwendung auf einen Ar-
beiter, der vom ersten Tage seiner Beschäftigung an sich als
brauchbar erweist.
4. Bei Reisen aufserhalb des Kantons für unbestimmte Zeit
fallen alle Unkosten dem Meister zur Last.
5. Reisevergütung Fr. 1,25
6. Bei Arbeiten auf einer in weiterer Entfernung gelegenen
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368
Gesetzgebung : Schweiz.
Arbeitsstätte läuft die Arbeitszeit des Arbeiters von
seinem Verlassen der Werkstätte bis zu seinem Wieder-
eintreffen daselbst.
Die Zentralkommission der Gewerbegerichte setzte den üb-
lichen Tarif folgendermal'sen fest:
Art. I . Die normale tägliche Arbeitszeit beträgt zehn Stunden.
Art. 2. Die Probezeit beträgt sechs Tage.
Art. 3. Der normale Lohn für die Arbeitsstunde beträgt fiinf-
undfiinfzig Centimes.
Art. 4. Ist der Arbeiter genötigt, anderwärts als zu Hause
Mittag zu essen, so erhält er eine Entschädigung von einem Francs
fünfundzwanzig Centimes täglich.
Art. 5. Liegt die Arbeitsstätte in weiterer Entfernung von
der Werkstätte, so wird die Zeit der Hinkunft und Rückkunft mit
in die Arbeitszeit eingerechnet.
Art. 6. Die Reisespesen des Arbeiters, welcher genötigt ist,
aufserhalb seines Wohnortes zu übernachten, fallen dem Meister zur
Last. Es können jedoch vor jeder Reise hierüber beliebige Verein-
barungen getroffen werden. Mangels vorgängiger Uebereinkunft
beträgt die dem Arbeiter pro Tag zustehende Reisevergütung
3 Francs.
Art. 7. Für Arbeitsstunden zur Nachtzeit erhöht sich der Lohn
des Arbeiters um fünfzig Prozent.
Art. 8. Vorstehende Bestimmungen treten am ersten Ok-
tober neunzehn hundertzwei in Kraft und sind gültig bis
zum e i n u n dd re i fsi gs t e n Dezember neunzehnhundert-
sechs. —
Am 19., 22. und 27. Oktober 1902 kamen die Klcmpner-
arbeiter an die Reihe, welche folgenden Entwurf eines Reglements
für die Bauklempner aufgestcllt hatten.
Art. 1. Die normale Dauer der täglichen Arbeitszeit beträgt
zehn Stunden für das ganze Jahr; sie dauert von 7 Uhr morgens
bis 61 ., Uhr abends einschliefslich einer einundeinhalbstündigen
Mittagspause.
Art. 2. Der Mindestlohn für die Stunde beträgt 58 Centimes.
Art. 3. Reisen betreffend. — Tritt der Arbeiter morgens eine
Reise an und kehrt erst abends zurück, so erhält er einen Francs
als Entschädigung für das Mittagessen; mufs er auswärts über-
nachten, so hat der Meister alle Tagesspesen zu tragen.
Art. 4. Die Spesen der Hin- und Rückreise nach und von
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Jean Sigg, Kin üeselz Uber Arbeitstarife und Kollektivstreitigkeilen. ^69
der auswärts belegenen Arbeitsstätte fallen dem Meister zur Last,
und die hierfür erforderliche Zeit wird als Arbeitszeit gerechnet.
Art. 5. Die Sonntagsarbeit wird abgeschafft.
Art. 6. Die Arbeitsstunden über die normale Arbeitszeit sind
mit dem doppelten Lohne zu bezahlen.
Art. 7. Im Falle höherer Gewalt müssen die Sonntagsarbeits-
stunden doppelt bezahlt werden.
Art. 8. Für die Arbeit des Schneefegens erhöht sich der
Stundenlohn um 50 Prozent.
Art. 9. Die Akkordarbeit wird abgeschafft.
Art. 10. Die Ablohnung findet jeden F'reitag statt.
Art. II. Die Arbeiter dürfen nicht ohne vorgehende I4tägige
Kündigung entlassen werden.
Art. 12. Die zeitweilige Entlassung ist verboten.
Art. 1 3. Der Meister hat den Arbeiter ohne Abzug vom Lohne
gegen Unfall zu versichern.
Art. 14. Der Meister hat die zur guten Ausführung und für
die Sicherheit der Arbeiten erforderlichen Werkzeuge und Geräte
zu liefern.
Art 1 5. Die als Werkstätten dienenden Räumlichkeiten sind
den Bedürfnissen der Hygiene und der Sauberkeit entsprechend ein-
zurichten, wie es das Gesetz vorschreibt.
Art. 16. Der infolge Unfalls erkrankte Arbeiter oder die aus
seiner Person Berechtigten erhalten seinen regelmäfsigen Lohn.
Art. 17. Für Krankenhaus- oder Arzneikosten darf dem er-
krankten Arbeiter vom Lohne in keinerlei Weise etwas abgezogen
werden.
Art. 18. Der zur vorübergehenden militärischen Dienstleistung
eingezogene Arbeiter darf dieserhalb nicht entlassen werden. —
Der Tarif der Zentralkommission lautet wie folgt:
Art. 1. Die Probezeit beträgt sechs Tage.
Art. 2. Die normale tägliche Arbeitszeit beträgt zehn Stunden
mit einer einundeinhalbstündigen Mittagspause, abgesehen vom
Winter, in welchem die Arbeitszeit auf neun Stunden herabgesetzt
werden kann.
Art. 3. Der normale Lohn für die Arbeitsstunde beträgt acht-
undfünfzig Centimes.
Art. 4. Befindet sich die Arbeitsstätte weit von der Werk-
stätte entfernt, so wird die zur Hinkunft erforderliche Zeit mit in
Archiv für so*. GeseUgebung u. Statistik. XVIII. 24
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Gesetzgebung: Schweiz.
die Arbeitszeit eingerechnet. Die zur Rückkehr erforderliche Zeit
wird nicht eingerechnet.
Art. 5. Für Arbeiten am Sonntag tvird der Lohn verdoppelt.
Art. 6. Der Lohn für die Beseitigung des Schnees von den
Dächern ist ein um fünfzig Prozent erhöhter.
Art. 7. Für die Zeit von 8 Uhr abends bis 6 Uhr morgens
wird ein doppelter Stundenlohn gezahlt.
Art. 8. Lst der Arbeiter genötigt, anderwärts als zu Hause
Mittag zu essen, so erhält er eine Vergütung von einem Francs
fünfundzwanzig Centimes täglich.
Art. 9. Die Reisespesen des Arbeiters, der genötigt ist, aufser-
halb seines Wohnortes zu übernachten , fallen dem Meister zur
I-ast. —
Ferner stellten auch die in der Fabrik arbeitenden Klempner
einen Tarif folgenden Inhaltes auf:
Art. 1. Die normale tägliche Arbeitszeit beträgt zehn Stunden
während des ganzen Jahres.
Art. 2. Jeder Arbeiter arbeitet in den beiden ersten Wochen
auf Tagclohn.
Art. 3. Der Mindestlohn beträgt 55 Centimes für die Stunde.
Art. 4. Der Lohn eines Arbeiters darf für 10 Stunden nicht
unter Fr. 5,50 betragen, er arbeite auf Tagelohn oder in Akkord.
Art. 5- Für die Akkordarbeit ist ein durch gemeinsame Ver-
ständigung geschaffener Tarif in der Werkstätte auszuhängen.
Art. 6. Die Ablohnung findet jeden Freitag statt. Hat der
Arbeiter am Lohnungstage eine Akkordarbeit nicht fertiggestellt,
so kann er eine der von ihm zur Arbeit gebrauchten Stundenzahl
entsprechende Abschlagszahlung verlangen, wobei die Stunde mit
dem Mindestlohn von 55 Centimes zu bezahlen ist.
Art. 7. Die Sonntagsarbeit wird abgeschafft.
Im Falle dringenden Bedürfnisses wird sie mit dem doppelten
Lohne bezahlt.
Art. 8. Es darf kein Arbeiter ohne vorhergehende 14 tägige
Kündigung entlassen werden.
Art. 9. Die zeitweilige Entlassung ist untersagt.
Art. 10. Der Meister liefert die zur guten Ausführung und
für das Gelingen der Arbeiten erforderlichen Werkzeuge und Geräte.
Art. n. Die als Werkstätten dienenden Räumlichkeiten sind
den Bedürfnissen der Hygiene und der Sauberkeit entsprechend ein-
zurichten, wie es das Gesetz vorschreibt.
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Jean Sigg, Ein Geseti über Arbeitstarife und Kollcktivstreitigkeiten. 37 1
Art. 12. Der Meister bat den Arbeiter ohne Lohnabzug gegen
Unfall zu versichern.
Art 13- Der infolge Unfalls erkrankte Arbeiter oder die aus
seiner Person Berechtigten erhalten seinen regelmäfsigen Lohn.
Art. 14. Für Krankenhaus- oder Arzneikosten darf dem er-
krankten Arbeiter vom Lohne in keinerlei Weise etwas abgezogen
werden.
Art. 1 5. Der zur vorübergehenden militärischen Dienstleistung
eingezogene Arbeiter darf dieserhalb nicht entlassen werden. —
Die Zentralkommission löste diese Streitfrage durch folgenden
Tarif:
Art. t. Die Probezeit beträgt zwei Wochen. Während dieser
Zeit wird der Arbeiter nach Stunden bezahlt.
Art. 2. Die normale tägliche Arbeitszeit beträgt mit Unter-
brechung durch eine einundeinhalbstündige Mittagspause zehn
Stunden.
Art. 3. Der normale Stundenlohn beträgt fünfundliinfzig
Centimes.
Art. 4. Am Sonntag wird die Arbeit mit dem doppelten Lohne
bezahlt.
Art. 5. Die Akkordarbeit wird nach einem vom Unter-
nehmer aufgcstellten und in der Werkstätte ausgehängten Tarife
bezahlt.
Art. 6. Abgesehen vom Falle höherer Gewalt, darf der
Arbeiter keine Einbufse durch zeitweilige Betriebseinstellung er-
leiden.
Art. 7. Die Kündigungsfrist für die Entlassung oder den Aus-
tritt des Arbeiters beträgt zwei Wochen. Die Kündigung hat
am 1. und 15. oder spätestens am darauffolgenden Tage zu ge-
schehen.
Art. 8. Die militärische Dienstleistung darf nicht als Grund
der Entlassung oder des Austrittes eines Arbeiters gelten.
Art. 9. Die Ablohnung findet alle vierzehn Tage Freitags statt;
am vorhergehenden Freitag kann der Arbeiter eine Abschlagszahlung
verlangen.
Art. 10. Die vorstehenden Bedingungen treten in Kraft am
ersten Januar neunzehnhundertdrei und haben als übliche Geltung
bis zum einunddreifsigsten Dezember neunzehnhundertsieben.
Die im Art. 6 des Gesetzes vom 10. Februar 1900 vorgesehene
Kündigungsfrist wird auf 6 Monate festgesetzt.
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Gesetzgebung : Schweiz.
Mangels förmlicher Kündigung vor dem dreifsigsten Juni des
Jahres 1907 oder eines der folgenden Jahre bleiben diese Bedin-
gungen von Jahr zu Jahr gültig, mit Beginn vom 1. Januar 1908.
(Vgl. Art. 6 des Gesetzes vom IO. Februar 1900.)
Kinen geringfügigen Streitfall zwischen zwei Hufschmiedemeistern
und ihren Arbeitern wegen der Sonntagsarbeit erwähne ich ledig-
lich, und komme nunmehr zu dem grofsen Konflikt zwischen der
„Compagnie Generale des Tramways eiectriques du Canton de
Geneve“ und dem Syndikat der Angestellten der Sekundärbahnen,
600 Mann stark und bei Beginn des Kampfes bewundernswert
organisiert.
Dieser Konflikt hatte einen Gesamtstrike aller Arbeiter Genfs
zur Folge, welche zwanzigtausend an der Zahl die Arbeit einstellten.
Drei Tage lang fast war im wirtschaftlichen Leben der Stadt Genf
völliger Stillstand eingetreten. Es erschien keine Tageszeitung.
Zwischen Soldaten und Arbeitern kam es zu Reibereien und Kämpfen;
es waren sämtliche Milizen einberufen.
Es hatte den Anschein, als ob hier das neue Gesetz versagen
sollte. Das dem nicht also war, werde ich jedoch im nachstehenden
zeigen.
Dem Gesetze gemäfs fand am 31. Juli 1902 in der Abteilung
für Handel und Industrie ein Einigungsversuch statt, bei welchem
die Angestellten ihre sämtlichen Forderungen aufrechterhielten. Diese
Forderungen waren :
1. Die Syndikatskammer beharrt bei der in ihrem Schreiben
vom 12. Juli 1902 ausgesprochenen Forderung einer Gehaltsskala
mit 5 Gehaltsklassen und einem Mindestbetrag von 40 Centimes
pro Stunde, und zwar mit
a) einem Mindestlohn für die folgenden Angestellten: Schaffner,
Wattmen, Wäscher, Bahnwärter mit 40 Centimes pro Stunde
(5. Klasse);
b) einem Lohne von 45 Centimes pro Stunde für die genannten
Angestellten nach dem zweiten Dienstjahre (4. Klasse);
c) einem Lohne von 48 Centimes pro Stunde für die genannten
Angestellten nach dem vierten Dienstjahr (3. Klasse);
d) einem Lohne von 50 Centimes pro Stunde für die
genannten Angestellten nach dem sechsten Dienstjahr
(2. Klasse);
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Jean Sigg, Ein Gesetz Uber Arbeitstarife und Kollcktivstrcitigkeiten. 373
e) einem Lohne von 55 Centimes pro Stunde für die genannten
Angestellten nach dem achten Dienstjahr (I. Klasse).
2. Uniform betreffend. Die Syndikatskammer beharrt bei ihrer
Forderung der unentgeltlichen Lieferung einer Winteruniform und
einer Sommeruniform (aus leichtem Stoff) in jedem Jahre.
Die Syndikatskammer beharrt ferner bei ihrer Forderung be-
treffs der Capotes, welche allen Bahnangestellten unentgeltlich zu
liefern sind.
3. Kntlassung betreffend. Die Syndikatskammer beharrt bei dem
Verlangen der Beseitigung der jetzt geübten Art der Entlassung.
Die Syndikatskammer erkennt an, da fs die Entlassung als ab-
solute Ausnahmemafsregel verhängt werden kann. Für diesen Fall
fordert sie, dafs der anstelle des entlassenen Angestellten eintretende
Supernumerar nach demselben Tarif bezahlt wird, wie der von ihm
ersetzte Beamte. —
Eis kam jedoch keine Einigung zu stände, und man brachte
nunmehr nach den Vorschriften des Gesetzes die Sache vor die
Zentralkommission der Gewerbegerichte, welche folgende Lösung
zu stände brachte:
Bezüglich der Disziplinarstrafen.
Erste Abstimmung. Es wird über folgenden Antrag ab-
gestimmt:
Trifft einen Angestellten eine Geldstrafe, Entlassung oder Kün-
digung, so kann er, wenn er es wünscht, vom Leiter des Unter-
nehmens oder von der Direktion gehört werden.
Abgegebene Stimmzettel: 29, gültig 29; ja: 29.
Der Antrag ist somit einstimmig angenommen.
Bezüglich der Uniformen.
Zweite Abstimmung. Es wird über folgenden Antrag
abgestimmt :
Die vollständige Winteruniform für das Fahr- und das Betriebs-
personal , sowie die Capote für das im Bahndienst beschäftigte
Personal werden zur Hälfte von der Gesellschaft, zur Hälfte
vom Angestellten bezahlt. Das Tragen der Capote ist für die
Bahnwärter nicht obligatorisch. Die Sommerkleidung für das
Fahr- und Betriebspersonal wird von der Gesellschaft unentgelt-
lich geliefert.
Diese Kleidung wird nach 4 Monaten Dienst Eigentum des
Angestellten.
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574
Gesetzgebung : Schweiz.
Abgegebene Stimmzettel: 29, gültig 29; ja: 29.
Der Antrag ist somit einstimmig angenommen.
BetreffendGchalt der Supernumerare.
Dritte Abstimmung. Antrag zur Abstimmung.
Es bestehen zwei Klassen von Supernumeraren.
1. Die nur an Sonntagen und Festtagen beschäftigten Super-
numerare;
2. Die ordentlichen Supernumerare.
Die ersteren werden mit fünf Francs pro Tag bezahlt. Die
ordentlichen Supernumerare erhalten achtunddreifsig Centimes
pro Arbeitsstunde mit einem Mindestlohn von fünfzig Franks
pro Monat, unter der Bedingung, dafs sie sich zur Verfügung der
Gesellschaft halten.
Abgegebene Zettel: 29; gültig: 29.
Der Antrag ist mit 24 Stimmen gegen ein Nein und vier
weifse Zettel angenommen.
Betreffend Gehaltsskala.
Vierte Abstimmung. Es gelangt folgender Antrag eines
Mitgliedes der Zentralkommission zur Abstimmung:
Schaffner, Wattmen, Wäscher und Bahnwärter werden nach
folgendem Tarif bezahlt :
Im ersten Jahre mit achtunddreifsig Centimes pro Stunde;
„ zweiten „ „ vierzig „ „ „
„ dritten „ „ zweiundvierzig „ „ „
in den drei nächsten Jahren mit
fünfundvierzig „ „ „
in den hierauf folgenden drei Jahren
mit achtundvierzig „ „ „ .
Nach Ablauf von neun Jahren ist das
Gehalt mit fünfzig „ „ „
zu berechnen.
Den ordentlichen Supernumeraren kommen diese Erhöhungen
gleichfalls zugute.
Schaffner, Wattmen, Wäscher und Bahnwärter werden an Ruhe-
tagen wie für einen zehnstündigen Arbeitstag bezahlt.
Abgegebene Zettel: 29; gültig:- 29.
Der Antrag ist mit 27 Stimmen gegen ein Nein und einen
weifsen Zettel angenommen.
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Jean Sigg, Ein Gesetz über Arbeitstariie und Kollektivstreitigkciten. 37 j
Betreffend Inkrafttreten der gefafsten Beschlüsse.
Fünfte Abstimmung. Als Tag des Inkrafttretens wird der
erste November neunzehnhundertzwei mit 28 Stimmen gegen einen
weifsen Zettel festgesetzt.
Betreffend Geltungsdauer der Abmachungen.
Sechste Abstimmung. Mit 28 Stimmen gegen einen weifsen
Zettel wird bestimmt, dafs die obigen Beschlüsse in Kraft bleiben
sollen bis zum einunddreifsigsten Dezember neunzehnhundertsechs
mit der gesetzlich vorgesehenen Kündigungsfrist. —
Diese Lösung fand bei der Gesellschaft wenig Beifall. Es
waren kaum vierzehn Tage vergangen, als sie 44 Arbeiter entliefs.
Das bedeutete eine förmliche Verletzung der Beschlüsse der Zentral-
kommission der Gewerbegerichte und gleichzeitig einen neuen
Konflikt.
Jetzt, wo Arbeiter und Angestellte sämtlich in Ausstand traten,
beging der Regierungsrat einen schweren Mifcgriff. Anstatt die
Anwendung des Gesetzes zu fordern, bot er seine Dienste als
Schiedsrichter an. Das schiedsrichterliche Verfahren wurde
von den Arbeitern angenommen, und der Regierungsrat gab ihnen
■nach einer Woche in fast allen Punkten recht. Hierauf stets
.wachsendes Mifsvergnügen der Gesellschaft, verschiedene Plackereien,
Schwäche des Regierungsrates, Strike der Angestellten, dann General-
strike — so entwickelte sich das Nachspiel dieser ganzen Arbeiter-
bewegung, welche durchaus nichts gegen das Gesetz beweist, wie
seine Gegner zu behaupten versuchten. —
Aus den von mir in vorstehendem kurz angedeuteten Thatsachen
lassen sich verschiedene bedeutsame Folgerungen ziehen. Vor allem
wird dem, welcher die obige Darstellung einigermafsen aufmerksam
verfolgte, nicht entgangen sein, dafs nicht ein einziges Mal
eine Einigung zustande kam. Und dies ist ganz erklärlich.
Bei der ersten Zusammenkunft von Angestellten und Unternehmern
sind die Gemüter noch etwas erhitzt, ist der Eigensinn noch über-
wiegend (denn dieser psychologische Faktor spielt häufig in ge-
wissen Konflikten eine wichtige Rolle, was man nie aufser acht
lassen darf). Jeder einzelne hält es für Ehrensache, keinen Deut
von dem eingenommenen Standpunkt aufzugeben. Dann rechnet
man auch sehr auf die zweite Instanz, die Zentralkommission der
Gewerbegerichte. Ist nun deshalb das Rad des Einigungsversuches
in dem Mechanismus als nutzlos zu beseitigen, damit das Gesetz*
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376
Gesetzgebung: Schweiz:
dem man nicht ganz mit Unrecht den Vorwurf der Schwerfälligkeit
machen kann, leichter funktioniere? Ich glaube es nicht. Dieses
erste Zusammentreffen zwischen Angestellten und Unternehmern
unter dem Vorsitz des Leiters der Abteilung für Handel und In-
dustrie gewährt, wenn es auch kein Ergebnis hat, doch wenigstens
einen klaren Einblick in verschiedene bisher unklare Dinge; es be-
seitigt gewisse Voreingenommenheiten , es besänftigt den Starrsinn,
von welchem ich oben sprach. Und dann ermöglicht es auch der
einen wie der anderen Partei, die aufgeworfenen fragen nochmals
zu prüfen, die vorgebrachten Argumente zu erwägen; kurzum, es
ist ein erstes Scharmützel, nach welchem jeder der Streitteile seine
gesamten Ansichten nochmals Revue passieren läfst. Hierdurch
erklärt sich, teilweise, wenn nicht ganz, dafs einige Tage darauf,
wenn die Parteien vor die zweite Instanz, die Zentralkommission
der Schiedsrichter, kommen, es nie lange dauert, bis durch einige
wechselseitigen Zugeständnisse eine Verständigung erreicht wird,
wenigstens dann, wenn nicht eine der Parteien geflissentlich bösen
Willen an den Tag legt.
Was das Gesetz selbst anlangt, so bedarf es erst noch einiger
Anwendungen, ehe man sich daran macht, es abzuändern oder es
gar von Grund aus neu zu gestalten. Ohne das Gesetz aber hätten
wir in Genf sicherlich vier Strikes gehabt, welche verhindert wurden.
Es bedeutet einen ersten Erfolg und einen ersten Schritt auf dem
Wege zu einer gründlichen Organisation der Arbeit, einen ersten
Versuch auch einer rechtlichen Regelung der wirtschaftlichen Kon-
flikte. Es beeinträchtigt in keiner Weise dem Arbeiter sein Recht,
zu arbeiten oder nicht zu arbeiten, d. h. die Arbeit cinzustellen.
Aber der Strike selbst ist, wie von den tüchtigsten Forschern an-
erkannt wird, nichts weiter als ein primitives Mittel der Regelung
der sozialen Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und der Unter-
nehmerklasse.
Dieses rohe und mitunter gewaltsame Mittel, welches stets
nutzlose wirtschaftliche Verluste nach sich zieht, durch einen minder
kostspieligen Prozefs ersetzen, — das war es, was die Genfer gesetz-
gebende Gewalt wollte.
Ich will nicht behaupten, dafs das von ihr geschaffene juristische
Werkzeug etwas Vollkommenes sei, aber es lohnte sich der Mühe,
darauf hinzuweisen, um hierdurch vielleicht einen Meinungsaustausch
darüber zu veranlassen.
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DEUTSCHES REICH.
Schutz der Arbeiter in den Tierhaar- und
Borstenindustrien.
Von
ADOLF BRAUN.
Schon seit vielen Jahren sind unter Arbeitern, welche sich mit
Hadern, Lumpen und gewissen tierischen Rohstoffen, namentlich
Fellen, Haaren, Wolle oder Borsten zu beschäftigen haben, zuweilen
eigentümlich verlaufende und nicht selten zum Tode führende Er-
krankungen beobachtet worden. *) Obgleich der Milzbrand (Anthrax,
pustula maligna, Carbunculus contagiosus), zu den am frühesten
bekannt gewordenen infektiösen Tiererkrankungen gehört, s) suchte
man die Ursache der eigentümlichen Erkrankungen in der Wirkung
der bei diesen Arbeiten massenhaft zu tage tretenden Staubes. Erst
1877 wurde die „Hadernkrankheit“ von Frisch auf .Milzbrandkeime
zurückgeführt, 1889 hatte der Nürnberger Arzt Heinlein das Vorkommen
von Milzbranderkrankungen bei den Arbeitern der I’inselindustrie
festgestellt. Es wurden von da ab alljährlich eine Anzahl Milzbrand-
falle in Schlachthöfen, Fellhandlungen, Gerbereien, Rofshaarreinigungs-
Anstalten und -Spinnereien, Haartuchfabriken, im Tapczicrergewerbe,
Bürstenmachereien, Pinselfabriken, Borstenzurichtereien, Hutmache-
reien, Kunstdüngerfabriken, Wollsortierereien (in England seit den
1840er Jahren als Woolsorters disease bekannt), und ähnlichen Be-
*) Kühler, Stabsarzt, Dr. K., Regierungsrat im k. Gesundheitsamte, Die
Milzbrandgefahr bei Bearbeitung tierischer Haare und Borsten und die zum Schutze
dagegen geeigneten Mafsnahmcn im XV. Bande der Arbeiten aus dem k. Gesund-
heitsamte S. 456. Berlin 1899.
*) Koranyi, Prof» Dr., Zoonosen I. Abteilung (Nothnagel, Spezielle Pathologie
und Therapie V. Band, V. Teil, i. Abteilung) S. 2.
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378
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
trieben konstatiert. Da die älteren Aerzte mit der Diagnose dieser
Erkrankungen nicht vertraut gemacht wurden, auch nur einem Teil
der jüngeren Aerzte Fälle dieser nur an den Produktionsstellen vor-
kommenden und meist rasch verlaufenden Krankheiten in der Studien-
zeit vorgefuhrt werden konnten, endlich die Unternehmer aus Furcht
vor Verschärfung der Mafsnahmen der Behörden kaum viel zur
Feststellung dieser Krankheitsursachen thaten, so darf wohl ange-
nommen werden, dafs die Zahl der Erkrankungen und der Todes-
fälle infolge von Milzbrandinfektion bedeutend gröfser sein dürfte
als die zur Kenntnis der Behörden gekommenen Zahlen, welche
nun in den Jahresberichten der Gewerbeaufsichtsbeamten registriert
werden. ') Gegenwärtig vermindert sich die Zahl der Milzbrand-
erkrankungen, welche Bedeutung sie aber früher besafs, beweist u. a.
der folgende Fall : eine schlesische Rolshaarspinnerei hatte in
8 Jahren bei einer durchschnittlichen Zahl von 35 Arbeitern 25 Er-
krankungen und 1 1 Todesfälle an Milzbrand zu beklagen.’)
In Nürnberg, dem Zentrum der Pinselindustrie nicht blofs des
Deutschen Reiches haben die betroffenen Arbeiter zuerst die Auf-
merksamkeit der Behörden auf diese schweren Berufsgefahren ge-
lenkt. Am 11. August 1894 wurde in einer öffentlichen Versamm-
lung der Arbeiter der Bürsten- und Pinselindustrie eine heute noch
wirkende „Milzbrandkommission“ gewählt, um „diejenigen Mittel und
Wege aufzusuchen, die geeignet erscheinen, Erkrankungen und Todes-
fälle durch Milzbrandvergiftung zu verhüten". 3) Bald nach ihrer
Konstituierung richtete die Kommission eine Eingabe an den Stadt-
magistrat Nürnberg, aus der wir die folgenden Sätze wörtlich an-
fuhren : „Aerztlichen Gutachten zufolge kann durch die Desinfektion
der Rohprodukte der die Krankheit erzeugende Milzbrandbacillus
getötet werden. In der Erwägung, dafs die Erkrankung nicht nur
hier am Orte, sondern auch anderwärts schon vorgekommen, kann
dieser Seuche nur durch Erlafs eines diesbezüglichen Reichsgesetzes
gesteuert werden. Bis jedoch der deutsche Reichstag ein derartiges
Gesetz zur Beratung bringt, erachtet es die Kommission als eine
unbedingte Notwendigkeit, den Stadtmagistrat als Sanitätsbehörde
*) Die Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten und Bergbehörden für das
Jahr 1901 führten z. B. unter Milzbrand ca. 20 und unter Tiererkrankungen, ca.
40 bcz. Stellen an auf den S. 34 1 u. 401 f. im IV. (Register) Band.
*) Kubier a. a. O. S. 469.
*) Fränkische Tagespost Nr. 188 vom 14. August 1894.
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Adolf Braun, Schutz der Arbeiter in den Tierhaar- und Borstenindustrien.
zu veranlassen : durch ortspolizeiliche Vorschriften die Desinfektion
der Rohmaterialien zu bewerkstelligen; bei kompetenter Stelle zu
veranlassen, dafs eine derartige Vorschrift Reichsgesetz werde “
Am 24. September 1894 richtete die ..Milzbrandkommission“ eine
Hingabe an das Kaiserliche Gesundheitsamt in Berlin. In derselben
wird auf die wiederholten, durch Milzbrandinfektion verursachten
Erkrankungen und Todesfälle in der Bürsten- und Pinselindustrie
und auf eine auf Veranlassung der „Milzbrandkommission“ erlassenen
ortspolizeilichen Verordnung für das Gebiet der Stadt Nürnberg
hingewiesen. Stabsarzt Kübler erwähnt in seiner citierten Abhand-
lung diese wichtigen Anregungen nicht, wohl aber, dafs im Dezember
1894 die bayerische Regierung — unzweifelhaft veranlafst durch
die Anregungen der Nürnberger Pinselarbeiter — die Frage der
Verhütung des Milzbrandes bei der Reichsverwaltung in Fluls
brachte.1) Nach längeren Vorarbeiten wurden am 14. und 1 5. Juni
1897 im Kaiserlichen Gesundheitsamte unter Zuziehung von hygie-
nischen Sachverständigen, sowie von Unternehmern und Arbeitern
der Rofshaarspinnercien, der Pinsel- und Bürstenindustrie Beratungen
über die zur Milzbrandverhütung geeigneten Mafsregeln gepflogen.
Unter den zugezogenen Arbeitern war auch der Pinselmacher und
spätere Nürnberger Arbeitersekretär Konrad Dom , dem das
Verdienst nicht abgesprochen werden kann, die Frage unter den
Nürnberger Arbeitern in Flufs gebracht zu haben und ihr auch nach
Verlassen des Berufes die eingehendste Aufmerksamkeit geschenkt
zu haben. -) Die Ergebnisse der Beratung *) waren Uebereinstimmung
über die Notwendigkeit der Desinfektion des Rohmaterials und über
die hierbei anzuwendenden Methoden. Die Unternehmer wollten
nur russisches und chinesisches Material der Desinfektion unter-
worfen wissen , während die Arbeiter schon damals die Des-
infektion des gesamten, auch des inländischen Materials forderten,
u. zw. nicht blofs der Schweinsborsten, sondern auch der Rots-,
Kuh- und Ziegenhaare, während die Unternehmer die Desinfektion
ausländischer Ziegenhaare als Chikane betrachteten.
Man einigte sich über die Notwendigkeit von Vorschriften über
*) K ü b I e r a. a. O. S. 457.
*) Seiner ausgezeichneten Sammlung des einschlägigen Materials verdanke ich
die Grundlagen für diese Arbeit, die durch mündliche Auskünfte des Herrn Dorn
sehr gefördert wurde.
3) K. G. A. Nr. 363097.
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380
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
die Reinhaltung und Lüftung der Betriebsräunie, über die Reinigung
der Plätze vor den Lagerräumen, über das Untersagen des Essens
und Trinkens in den Arbeitsräumen. Die Forderung besonderer
Speiseräume wurde nicht unterstützt, die von besonderen Wasch-
und Ankleideräumen zwar für berechtigt anerkannt, aber für die
Aufnahme in eine etwaige Verordnung nicht empfohlen, dem Vor-
schlag Dorns, eine Höchstarbeitszeit festzusetzen wurde nicht zuge-
stimmt, dagegen der Ausschluß jugendlicher Arbeiter von der Be-
schäftigung mit ungereinigtem Material empfohlen. Vergeblich war
der Versuch Dorns, die Aufmerksamkeit der Kommission auf die
gesundheitlichen Gefahren der Hausindustrie zu lenken.
In einer kurz vor Einberufung der Kommission an den mittel-
fränkischen Fabriken und Gewerbeinspektor gerichteten Eingabe
hatte die Milzbrandkommission der Nürnberger Arbeiter auf die
Gefahr der Milzbrandinfektion bei den Heimarbeitern für Pinsel-
fabrikation aufmerksam gemacht. Der Aufsichtsbeamte hatte in
einem Schreiben vom 20. April 18971) diese Gefahren anerkannt,
aber erklärt, zunächst keinen gangbaren Weg zu sehen, wie diese
Heimarbeit unmöglich gemacht werden konnte. Am 17. Januar
1898 referierte Dorn in einer Nürnberger Versammlung der Arbeiter
der Bürsten- und Pinselindustrie *) über den Entwurf der Verord-
nung und über den Widerstand, den die Kleinmeister und Klein-
fabrikanten dem Erlasse der Verordnung entgegensetzten *) behaup-
teten sie doch sogar, dafs Vergiftungen an Milzbrand nicht vorkämen.
Die Resolution dieser Versammlung ist von grofser Wichtigkeit,
da die Erfahrungen der Gewerbeaufsichtsbeamten ergeben haben,
dafs die Durchführung der dort aufgestellten Forderungen in vielen
Fällen eine Milzbrandinfektion verhindert hätte. Einen Teil der
dort aufgestellten F'orderungcn trägt endlich die Bekanntmachung
vom 22. Oktober 1902 Rechnung, freilich in dem wesentlichsten
Punkte in der Forderung der Desinfektion des inländischen Materiales
ist auch heute dem begründeten Wünschen der Arbeiter nicht
Rechnung getragen worden, obgleich die Notwendigkeit einer Be-
stimmung dieser Art selbst von den Unternehmern anerkannt wurde *)
*) Nr. 962 Fabriken- und Gewerbeinspektion Nürnberg.
*) Siche den Bericht der Fränkischen Tagespost Jahrgang 1898 Nr. 18 vom
22. Januar 1898.
a) z. B. Zeitschrift der Bürsten-, Pinsel- und Kammfabrikation Jahrgang 1S9S,
Nr. 14 u. 15.
4) Diese Forderung wurde für alles in- und ausländische Material mit Ansnahme
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Adolf Braun, Schutz der Arbeiter in den Tierhaar- und Borstenindustrien, ^gj
und durch die Fabrikinspektoren bestätigte Todesfälle, die verur-
sacht wurden durch Verarbeitung inländischen Materials, den un-
genügenden Schutz durch die deutsche Tierseuchengesetzgebung klar
ergeben haben. In dem ersten Entwürfe zu einer Verordnung über
die Einrichtung und dem Betrieb von Rofshaarspinnereien etc. *)
war auch die Desinfektion von ausländischen Ziegenhaaren empfohlen
worden. Als der Entwurf der Kommission, die zu seiner Beurteilung
zusammen berufen war, vorgelegt wurde, war das Wort Ziegen-
haare gestrichen, es wieder in die Liste der desinfektionspflichtigen
Rohstoffe einzureihen, gelang den Vertretern der Arbeiter nicht.
Ebensowenig Erfolg hatte ihre Anregung eines Verbotes haus-
industrieller Verarbeitung von Tierhaaren und Borsten. Auch die
neueste Verordnung verschliefst sich der Wichtigkeit dieser An-
regung, obgleich die Arbeiter alle Behörden auf diese in der Haus-
industrie doppelt schweren Gefahren aufmerksam gemacht hatten.
Der Konferenz im Reichsgesundheitsamte folgte eine weitere *)
im Reichsamte des Innern, und dann der Erlafs der Bekanntmachung
vom 28. Januar 189g, die am I. Juli 1899 in Kraft trat.
Die Desinfektion inländischer Haare und Borsten aller Art blieb
ausgeschlossen , ausländische Ziegenhaare konnten in nicht des-
infiziertem Zustande verarbeitet werden. Die Verordnung erfüllte
ihren Zweck nicht, die beteiligten Arbeiter Nürnbergs, die in dieser
Frage die Führung behielten, protestierten sofort gegen den nicht
ausreichenden Schutz, den diese Verordnung bot. Sie erklärten in
einer am 6. März 1899 abgehaltenen Versammlung8) auf Grund
eines Referates des Arbeitersekretärs Dorn, dafs der auf auslän-
disches Material beschränkte Desinfektionszwang ungenügend sei.
Die Versammlung beschlofs ferner, an den Reichskanzler eine Denk-
schrift zu richten, die am IO. März 1899 abgesandt wurde, ln der-
selben wurde die Ausschreibung eines Preises für Auffindung eines
zweckentsprechenden Desinfektionsmittels empfohlen, ferner wurde
die Forderung auf Desinfektion des inländischen Materials wieder-
der Schweineborsten in einer am 8. März 1899 an den Bundesrat gerichteten Eingabe
befürwortet, siche auch die Eingabe der Arbeiter an den Reichskanzler vom
10. März 1899.
*) S. Entwurf von Vorschriften über die Einrichtung und dem Betrieb der
Kofshaarspinnereicn, Haar- und Borstenzurichtereicn sowie der Borsten- und Pinsel-
machereien (vom Jahr 1897).
*) Januar 1898.
a) Fränkische Tagespost Nr. 6 2 vom 14. März 1899.
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
holt, endlich wurde die Ausdehnung der Verordnung auf die kleineren
Betriebe verlangt. Eine Antwort auf diese Eingabe war an die
Petenten nicht eingelaufen. Das Ungenügende der Verordnung ergab
aber die Praxis.
Fälle von Milzbrand mufsten in den Jahresberichten der Ge-
weibeaufsichtsbeamten festgcstellt werden. Der schon erwähnte
Fall einer Milzbrandinfektion bei der Verarbeitung von Ziegenhaaren
veranlafste den Stadtmagistrat von Nürnberg zur Ergänzung seiner
ortspolizeilichen Verordnung, durch die nun auch Ziegenhaare dem
Desinfektionszwange unterworfen wurden. Infektion durch Felle
und Haare von inländischen , milzbrandkranken Tieren wurden
amtlich festgestellt. Im Reichstage wurde von den Abgeordneten
Nürnbergs auf die Mängel der Verordnung hingewiesen, die Milz-
brandkommission der Nürnberger Pinselarbeiter richtete neuerdings
Eingaben an den Stadtmagistrat der Stadt Nürnberg und an den
Reichskanzler. In diesen Petitionen wurde hingewiesen, dals trotz
der Verordnung Erkrankungen und Todesfälle an Milzbrand vor-
kämen, dafs der Schutz gegen die Milzbrandgefahr unzureichend sei.
Mit Hinweis auf eine am 13. Mai 1901 stattgefundene Versamm-
lung ') wurde der gleiche Desinfektionszwang für das inländische
wie für das ausländische Material gefordert, ebenso die Einbeziehung
der Ziegenhaare unter den Desinfektionszwang. Wörtlich heilst es
in der Eingabe an den Stadtmagistrat, dafs gewünscht wird, dafs
die besonderen nur für grofse Betriebe geltenden Vorschriften auf
alle ausgedehnt werden, da gerade in den kleineren Betrieben die
hygienischen Anforderungen am meisten zu wünschen übrig lassen.
Des weiteren soll auch der Heimarbeit gröfsere Aufmerksamkeit
zugewendet und die Verarbeitung von nicht desinfizierten Materials
in den Wohnungen der Arbeiter und Arbeiterinnen verboten
werden. Auf Grund dieser in ähnlicher Weise in einer die Ein-
gabe an den Reichskanzler gemachten Vorschläge wurden Wünsche
auf Erlafs einer ortspolizeilichen Verordnung durch den Stadt-
magistrat und auf Aenderung der Verordnung vom 2t. März 1899
durch den Reichskanzler ausgesprochen. Auf weitere Wünsche,
welche mehr die Technik der Desinfektion betreffen, gehen wir
nicht weiter ein. Endlich wurde eine neue Bekanntmachung er-
lassen, welche am 1. Januar 1903 in Kraft trat.8)
') Fränkische Tagespost Nr. III vom 14. Mai 1901. Reichs-Gesetzblatt 1902
Nr. 43 S. 269 — 274 (Nr. 2900).
*i Reichs-Gesetzblatt 1902 Nr. 43 S. 269 — 274 (Nr. 2900).
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Adolf Braun, Schutz der Arbeiter in den Tierhaar- und Borstenindustrien. 385
Die infolge dieser Bemühungen erlassene Verordnung vom
22. Oktober 1902 erfüllt ihren Zweck leider noch nicht in ge-
nügendem Mafse, wenn sie auch einigen Fortschritt gegenüber ihrer
Vorgängerin aufweist. Die Verordnung wurde nun ausgedehnt auf
diejenigen Anlagen in denen Ziegenhaare zugerichtet oder ver-
arbeitet werden. Der Desinfektionszwang wurde nun auch auf
Ziegenhaare ausgedehnt, jedoch blieb das inländische Material jeder
Art wie bisher vom Desinfektionszwange ausgeschlossen, während
in Nürnberg schon seit Jahren die inländischen Rofshaare und seit
dem Jahre 1902 auch die inländischen Ziegenhaare desinfiziert werden
müssen. Hinsichtlich der Desinfektionsverfahren ist ein Fortschritt
nicht zu verzeichnen. Nach wie vor werden drei Arten von Des-
infektion zugelassen, obgleich die Sachverständigen dahin überein-
stimmen, dafs blofs eine Desinfektion mit strömendem Wasserdampfe
mit dem nötigen athmosphärischen Ueberdruck die Milzbrandkeime
sicher vernichtet. Während bisher jugendliche Arbeiter bei der
Ausführung der Desinfektion in Fabriken nicht beschäftigt werden
durften, ist dieses Verbot nun auch auf alle nicht fabrikmäfsigen
Betriebe ausgedehnt worden. Die formale Einschränkung dieser
Bestimmung in der Verordnung vom 28. Januar 1899 bis zum
1. April 1909 ist nun weggefallen. Eine Zeitbeschränkung findet
also nicht mehr statt. Die Abschliefsung des nichtdesinfizierten
Materials soll nun bedeutend strenger sein als bisher. Während
früher dieses Material in unter Verschlufs zu haltenden dichten
Behältern oder Räumen aufzubewahren war, wird jetzt be-
stimmt, dafs dies nur in besonderen unter Verschlufs zu haltenden
Räumen aufzubewahren ist. Diese Bestimmung wird dahin ver-
stärkt, dafs das Material nur auf solchen Zugängen, und Treppen
in diese Räume hinein oder aus ihnen herausgebracht werden darf,
welche von den mit der Bearbeitung desinfizierten oder inländischen
Materials beschäftigten Arbeitern nicht benutzt werden. Weitere
räumliche Scheidungen und hygienische Mafsnahmen sind in diesem
wichtigen § 9 der Verordnung aufgeführt. Diese Bestimmung mufs,
wenn sie strenge durchgeführt wird, das Aufhören einer nicht ge-
ringen Anzahl von Klein- oder Mittelbetrieben zur Folge haben,
welche sich die teueren Umbauten und Raumaufwendungen nicht
leisten können. Sonst sind eine Reihe von Umstellungen der Be-
stimmungen noch zu erwähnen. Ausnahmen von der Vorschrift
im § 9 soll nach dem I. Oktober 1903 nicht gewährt werden. Ein
Verbot der Heimarbeit wie ein Gebot allgemeiner Desinfektions-
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3»4
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
pflicht bleiben noch immer fromme Wünsche. Es ist leider zu be-
fürchten, dals auch nach Inkrafttreten der Verordnung die Arbeiter
der Haar- und Borstenindustrie gegen eine Infektion durch Milz-
brandsporen nicht geschützt sein werden, so dafs man sich endlich
doch entschliefsen wird den von Anfang an ausgesprochenen Wün-
schen der Arbeiter Rechnung zu tragen.
Ein tieferes Eindringen in die Geschichte dieser Verordnung
würde sich lohnen, weil es zeigen würde wie selbst auf diesem
Gebiete der Hygiene widerstreitende Interessen der Unternehmer
und der Arbeiter zu beobachten sind , und wie im Deutschen
Reiche die Rücksicht auf die agrarischen Wünsche bis in das Ge-
biet elementarer Sozialpolitik ausschlaggebend wirkt.
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MISZELLEN.
Die Arbeitseinstellungen und Aussperrungen in
Oesterreich während der Jahre 1894 — 1901.
Von
Dr. CLEMENS HEISS,
in Berlin.
Seit dem Jahre 1891 wird in Oesterreich eine Statistik über die im
Gewerbebetriebe vorkommenden Arbeitseinstellungen geführt. Da jedoch
die Nachweisungen für die Jahre 1891 und 1892 nicht im Buch-
handel erschienen und diejenigen für 1894 gegenüber den Vorjahren ')
wesentlich erweitert sind, ergiebt sich für uns die Beschränkung der
Untersuchung auf die Jahre 1894 — 1901 um so mehr, als die im Jahre
1899 über das Jahr 1898 erschienene Statistik die schon im Jahre 1894
in Aussicht genommenen Nachweisungen der Arbeitseinstellungen und
Aussperrungen im Bergbau *) für die Jahre 1894 — 1898 nachträgt und
so für diesen Zeitraum allein durchweg vergleichbare und vollständige
Daten vorliegen.
Ueber den Umfang der Erhebungen liestimmt der Erlafs des k. k.
Handelsministeriums vom 7. Dezember 1893 :
„Die Erhebungen werden nicht lediglich auf die Arbeits-
einstellungen in jenen Betrieben, deren Rechtsverhältnis in der
Gewerbeordnung geregelt ist, zu beschränken, sondern auf alle
übrigen Unternehmungen auszudehnen sein, insoweit dieselben
nicht der Aufsicht des k. k. Ackerbauministeriums 3) unterstehen,
’l Die Uebcrsichl ftir 1893 bildete eine Beilage der „Statistischen Monatsschrift“,
Jahrgang 1894.
Vgl. Die Arbeitseinstellungen im Gewerbebetriebe in Oesterreich während
des Jahres 1894. llerausgegeben vom Statistischen Departement im k. k. Handels-
ministerium. Wien 1896, Alfred Holder, S. 3 Anm. 2.
’) Das vom k. k. Ackerbauministerium gesammelte Material bezieht sich aus-
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 25
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386
Miszellen.
oder es sich nicht um den Seegesetzen unterliegende See-
schiffahrts- oder Seefischereibetriebe handelt, hinsichtlich welcher
die analoge statistische Erfassung etwa vorkommender Arbeits-
einstellungen (lockouts, sic!) der k, k. Seebehörde bezw. den
Unterbehörden derselben übertragen wurde.“
Ausgeschlossen von den Erhebungen sind nur die iD der Land-
wirtschaft vorkommenden Arbeitseinstellungen und Aussperrungen.
Die Erhebungen sind an der Hand von Zahlblättern von den poli-
tischen Behörden erster Instanz vorzunehmen teils durch Ein-
vernehmen der Betriebsleitungen, bezw. der Arbeiter, teils auf Grund
gewissenhafter und unparteiischer Ermittlungen der ihnen zur Verfügung
stehenden Organe. Für jede Arbeitseinstellung oder Aussperrung ist in
der Regel ein eigenes Exemplar des Zählblattes zu verwenden. Mehrere
in einem politischen Bezirke gelegene, von ein und der-
selben Strikebewegung ergriffene Unternehmungen sind nach dem
Erlafs vom 12. März 1895 'n einem Zählblatte zu behandeln, sie sind
jedoch namentlich anzuführen und es ist davon nur dann abzusehen,
wenn die namentliche Aufführung wegen ihrer zu grofsen Anzahl wirklich
unthunlich ist. Die Zahl der von dem Strike nicht ergriffenen gleich-
artigen Betriebe in dem betreffenden politischen Bezirke ist unter
allen Umständen anzugeben.
Die politischen Behörden erster Instanz haben das gesammelte
Material vierteljährlich (neuerdings monatlich) den Vorgesetzten politischen
Landesbehörden vorzulegen. Diese übermitteln die eingegangenen Zähl-
blätter dem Gewerbe- bezw. Schiffahrtsgewerbeinspektor, der darauf seine
Bemerkungen einzutragen hat, worauf die Akten an die Landesbehörden
zurückgelangen und von diesen dem Handelsministerium vorgelegt werden.
Die Bearbeitung des so erhobenen Materials wurde in dem Jahre
1894 — 1896 vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium,
von 1897 (erschienen 1899) an von dem am 1. Oktober 1898 ins Lehen
getretenen k. k. arbeitsstatistischen Amte im Handelsministerium vorge-
nommen. Die Gleichmäfsigkeit der Bearbeitung ist dadurch gewahrt,
dafs der Vorstand des Statistischen Departements (seit 1895) Dr. Victor
Mataja zum Vorstand des arbeitsstatistischen Amtes ernannt wurde.
Eine Definition der Arbeitseinstellung enthält weder der Erlafs noch
das Zählblatt, wohl aber heifst es in einer Anmerkung des letzteren zu
den Aussperrungen: „Aussperrungen (lockouts), d. h. von den Betriebs-
inhabern zum Behufe der Durchsetzung ihrer Wünsche gegenüber den
Arbeitern verfügte Schliefsungen der Werkstätten.“ Nur negativ be-
stimmen die „Bemerkungen, betreffend die Ausfüllung des Zählblattes:
schliefslich auf die Ausstände beim Bergbau. Vgl. „Die Arbeitseinstellungen und
Aussperrungen in Oesterreich während des Jahres 1898. Herausgegeben vom Ar-
beitsstatist. Amt im k. k. Handclministcriura“. Wien 1899, S. 5.
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CI. lleifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 387
„Geringfügige Arbeitsstreitigkeiten, bei welchen keine Ver-
abredung und kein bestimmtes Ziel vorlag und eine nur mo-
mentane Betriebsstörung eintrat, sind nicht nachzuweisen. In
diesbezüglich zweifelhaften Fällen ist jedoch ein Zählblatt aus-
zufüllen und vorzulegen.“
Definiert man argumento e contrario nach der zu den Aussper-
rungen im amtlichen Zählblatt gegebenen Erklärung die Arbeitseinstellung
als „die von den Arbeitern zum Behufe der Durchsetzung ihrer Wünsche
gegenüber den Unternehmern veranstaltete Niederlegung der Arbeit", so
wäre die Definition offenbar zu weit. Zu einer richtigen Definition
kommen wir, wenn wir aus der negativen Anweisung des Zählblattes noch
das über die Verabredung Gesagte, nicht aber das über eine „blofs mo-
mentane Betriebsstörung“ Ausgeführte herübernehmen. Aus den in dem
amtlichen Zählblatte gegebenen Anhaltspunkten läfst sich also folgende
Definition der Arbeitseinstellung geben : „Arbeitseinstellung ist die von
den Arbeitern zum Behufe der Durchsetzung ihrer Wünsche gegenüber
den Unternehmern verabredete Niederlegung der Arbeit.“ Setzen
wir hinter dem Worte „verabredete" in vorstehender Definition noch die
Worte oder „gemeinsam ausgeführte“ ein, um auch die spontan ohne
nachweisbare Verabredung ausbrechenden Strikes mit zu umfassen, so
dürfte diese aus der Praxis hergeleitete Definition zutreffender sein, als
die von der Theorie aufgestellten Definitionen. Stieda z. B. definiert im
Handwörterbuch der Staatswissenschaften (2. Aufl., Jena 1898 S. 730):
„Man versteht unter Arbeitseinstellung die gemeinsam erfolgte, freiwillige
Niederlegung der Arbeit seitens der in einem bestimmten Berufe be-
schäftigten unselbständigen Personen in der Absicht, ihren Arl>eitsvertrag
dadurch günstiger für sich zu gestalten." Diese Definition ist offenbar
zu eng. Denn sie schliefst den glücklicherweise noch nicht praktisch ge-
wordenen, aber namentlich in Frankreich lebhaft diskutierten General-
strike aus. Ferner lassen sich Strikes, wie diejenigen, bei denen es sich
um Freigabe des 1. Mai, Entlassung mifsliebiger Personen handelt oder
wo, wie das namentlich in England sehr häufig vorkommt, wegen „ver-
letzter Gefühle“ gestrikt wird, nur dann unter diese Definition unter-
bringen, wenn man den Worten Gewalt anthut. Und es ist doch kein
Zweifel darüber, dafs diese Arbeitseinstellungen sowohl nach dem Sprach-
gebrauch als nach Ansicht der Beteiligten als wirkliche Strikes anzu-
sehen sind.
Unter diesen Umständen ist es keineswegs als Mangel der öster-
reichischen Strikestatistik anzusehen, dafs eine amtliche Festlegung der
Begriffe „Strike“ und „Aussperrung" unterblieb. Eine für alle Vorkomm-
nisse gleichmäfsig verwendbare Definition dieser Erscheinungen des wirt-
schaftlichen Lebens dürfte auch schwer aufzustellen sein ; vielfach wird
die Entscheidung darüber, ob ein Strike oder eine Aussperrung oder
vielleicht überhaupt keines von beiden vorliegt, nur nach den besonderen
25*
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388
Miszellen.
Umständen des konkreten Falles zu treffen sein. Deshalb wurde auch
bei der in der 2. Sitzung des Arbeitsbeirats des arbeitsstatistischen Amtes
vorgenommenen Beratung des Zählblattcs, bei der Theoretiker und
Praktiker von beiden Parteien beteiligt waren, von keiner Seite ein
Wunsch nach einer amtlichen Formulierung der Begriffe Arbeitseinstellung
und Aussperrung laut.
Auch bezüglich der Dauer der nachzuweisenden Arbeitsstreitigkeiten
ist mit Recht keine ]>ositive Bestimmung getroffen. Denn es kann eine
erfolgreiche Arbeitseinstellung von kürzester Dauer sehr wohl gedacht
werden. Das oben nach dem amtlichen Zählblatt über eine „nur mo-
mentane Betriebsstörung“ Gesagte gilt ja nur von geringfügigen Arbeits-
streitigkeiten , bei denen aufserdem keine Verabredung und kein be-
stimmtes Ziel vorlag, und überdies ist in zweifelhaften Fällen ein Zähl-
blatt auszufüllen und vorzulegen.
Dafs in der soeben näher präzisierten Weise als geringfügig anzu-
sehende Arbeitsstreitigkeiten von der Statistik ausgeschlossen sind, kann
man nur von einem einseitig theoretischen Standpunkt aus bedauern.
Denn derartige Fälle kommen vielfach gar nicht zur Kenntnis der Be-
hörde. Und dann ist auch wohl zu beachten, dafs die unteren Ver-
waltungsbehörden, diese Mädchen für alles, was alle übrigen Behörden
nicht thun, doch noch eine Menge andere Dinge zu thun haben, als
Statistiken zu führen. Wenn man ihnen gar zu viel zumutet, dann hat
man eben auf dem Papier nach den ausgegebenen F.rlassen und Formularen
eine tadellos vollständige Statistik. Sie ist aber umso unzuverlässiger.1)
1 ) hatte ich anläßlich der Berufszählung vom Jahre 1895 allein neben
den übrigen Geschäften eines Amtmannes mindestens 5 Zentner Berufszählungslisten
zu revidieren und die schon sehr detaillierte Obcramtsliste zusammenzustellen. Als
ich damit nicht fertig werden konnte, stellte ich auf meine Kosten einen Hilfsarbeiter
dafür an und nach meiner inzwischen eingetretenen Erkrankung wurden mir die
Kosten hierfür von meinem 150 Mk. monatlich betragenden Gehalt, der mir auf
den Tag 13 Wochen lang weitergewährt wurde, abgezogen. Andere Beamte haben
die Sache allerdings einfacher und vernünftiger gemacht, wie ich mich später bei
Aufbereitung des gewonnenen Materials an der Zentralstelle aus der Zahl der Re-
visionsbemerkungen überzeugen konnte. Sie haben ihre Revisionsarbeit einfach auf
das zur Ausfüllung der Oberamtslisten unbedingt Erforderliche und das Verschnüren
der Packete nebst obligatem Erachtbrief, im Bürcaukratendeutsch „Begleitbericht1'
genannt, beschränkt. Dafs eine grofse Zahl von Fehlem von der mit den örtlichen
Verhältnissen nicht vertrauten Zentralbehörde nicht mehr aufgefunden werden kann,
liegt auf der Hand. Dafs trotzdem eine so grofse Zahl von Revisionsbemerkungen
notwendig wurde, wie dies wirklich der Fall war, berechtigt mich zu der Annahme,
dafs die Revision sich auf das Allernotwendigste beschränkte, weil eben die so wie
so schon mit Geschäften überhäuften Verwaltungsbeamten erster Instanz mit dem
besten Willen keine Zeit für solch zeitraubende Arbeiten linden.
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CI. Heifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 38g
In dem Zählblatt sind nun folgende Punkte aufgeftihrt:
1. Bezeichnung, Kategorie und Standort des (bezw. auch Zahl der)
von der Arbeitseinstellung betroffenen Betriebes (bezw. Betriebe).
2. Angabe, ob und wie viele dem obigen gleichartige Betriebe im
Orte (Bezirke) vorhanden sind, bei denen eine Arbeitseinstellung nicht
zu verzeichnen ist.
3. Anzahl der in dem obigen Betriebe bezw. in den obigen Be-
trieben (Punkt 1) unmittelbar vor dem Beginne der Arbeitseinstellung
beschäftigten Arbeiter (einschliefslich der Werkmeister. Werkführer,
Meister, Vorarbeiter u. s. w.), getrennt nach Alter, Geschlecht, Ausbildung
und Verwendung und zwar
Ia. der gelernten Arbeiter,
I b. der ungelernten Arbeiter,
Ic. der Lehrlinge,
II a. der unter 16 Jahre alten Arbeiter,
II b. der über 1 6 Jahre alten Arbeiter. ')
4. Haben an der Arbeitseinstellung teilgenommcn
a) alle Arbeiter des obigen Betriebes (bezw. der obigen Betriebe) oder
b) alle Arbeiter bestimmter fachlicher Arbeitszweige oder Arbeits-
stellungen und welcher, oder
c) war die Teilnahme an der Arbeitseinstellung eine noch weniger
allgemeine? Welche Fachgruppen und Kategorieen von Arbeitern, sowie
welche Anzahl Arbeiter in jeder derselben war in diesem Falle beteiligt?
Wie grofs war demnach in dem F'alle b oder c die Gesamtzahl der
an der Arbeitseinstellung teilnehmenden Arbeiter?
5. a) Höhe des von den Strikenden unmittelbar vor Beginn der
Arbeitseinstellung bezogenen Wochenlohnes, unterschieden nach den
einzelnen fachlichen Arbeitszweigen und Arbeitsstellungen (Kategorieen).
b) Tägliche Arbeitsdauer unmittelbar vor Beginn der Arbeits-
einstellung.
6. a) Unmittelbare Veranlassung der Arbeitseinstellung.
b) Forderung der Strikenden (möglichst genau spezifiziert anzugeben,
eventuell unter Anlehnung an in Arbeiterversammlungen etc. gefafste
Beschlüsse).
7. Datum des Beginns und der Beendigung der Arbeitseinstellung.
8. a) Art der Austragung der Arbeitseinstellung.
b) Ergebnis der Arbeitseinstellung.
9. Haben Arbeitervereinigungen (Fachvereine, Gehilfenversammlungcn,
ständige Arbeiterausschüsse) an der Organisation, Durchführung oder Bei-
legung der Arl>eitseinstellung teilgenommen und in welcher Weise?
’) Kilr die Rubriken Ia bis II b ist je eine getrennte Nachweisung für männ-
liche und weibliche Arbeiter verlangt.
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390
Miszellen.
10. Haben sich die Arbeiter (alle oder ein Teil derselben) durch
die Arbeitseinstellung eines Kontraktbruches schuldig gemacht?
1 1 . Sind bei der Arbeitseinstellung Störungen der öffentlichen Ruhe,
oder andere strafbare Handlungen und welcher Art vorgekommen, die
ein polizeiliches Einschreiten notwendig machten?
Wurden Arbeiter deshalb gerichtlich oder polizeilich schuldig er-
kannt und wie viele?
12. Haben aus Anlafs der Arbeitseinstellung Ausweisungen stattge-
funden und wie viele?
13. a) Anzahl der Personen, welche sich zwar nicht selbst an der
Arbeitseinstellung beteiligten, deren Arbeit aber durch dieselbe oder an-
läfslich derselben unterbrochen wurde, unterschieden nach den einzelnen
fachlichen Arbeitszweigen und Arbeitsstcllungen (Kategorieen).
b) Dauer des Arbeitsentganges.
14. Summe der infolge der Arbeitseinstellung den
a) an derselben beteiligten Arbeitern,
b) im Fragepunkte 1 3 genannten Personen entgangenen Löhne.
15. Ist ein innerer Zusammenhang der den Gegenstand der obigen
Nachweisung bildenden Arbeitseinstellung mit solchen in anderen politi-
schen Bezirken (eventuell im Auslande vorgefallenen) erwiesen und mit
welchen ?
Das den Beratungen des Arbeitsbeirats zu Grunde gelegte, durch
Erlafs des k. k. Handelsministeriums vom 22. Februar 1899, Z. 62766
ex 1898 eingeführte Zählblatt enthält im wesentlichen alle im vorstehenden
aufgeführten Punkte, nur in anderer Anordnung und Formulierung. Um
die auch in der bisherigen Statistik, wie wir gleich sehen werden, bereits
durchgeführte Unterscheidung zwischen Einzel- und Gruppenstrikes besser
durchfuhren zu können, wurde die im alten Zählblatt unter i5 auf-
geführte Frage im neuen folgendermafsen unter 4 formuliert:
4. Ist ein innerer Zusammenhang der den Gegenstand der vor-
liegenden Nachweisung bildenden Arbeitseinstellung mit solchen in anderen
Betrieben (eventuell in anderen politischen Bezirken oder im Aus-
lande vorgefallenen) erwiesen und mit welchen?
Die Frage nach der täglichen Arbeitszeit unmittelbar vor Beginn
des Strikes wurde dahin näher präzisiert, dafs die effektive tägliche
Arbeitsdauer (nach Abzug aller Arbeitspausen) zu erheben ist.
Neu sind folgende zwei Fragen hinzugekommen :
„10. Zahl der strikenden Arbeiter, welche aus Anlafs der Arbeits-
einstellung
a) freiwillig den Arbeitsplatz verlassen haben:
b) entlassen wurden :
Zahl der neuaufgenotnmenen Arbeiter:
Bemerkungen, ob und inwieweit die Arbeitsbedingungen dieser
letzteren den Forderungen der Strikenden entsprechen:
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CI. Heifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 391
i2. Hat der Ausstand eine Betriebseinstellung zur Folge gehabt:
Im ganzen Etablissement oder in welchen einzelnen Ab-
teilungen oder Dienstzweigen?
In welcher Dauer?
Falls das Zählblatt sich auf mehrere Betriebe bezieht: In
wie vielen derselben fand die Betriebseinstellung statt?“
Neu ist ferner, dafs erhoben werden soll, ob es sich um einen
fabrikmäfsigen Betrieb handelt.
Die Frage nach dem Kontraktbruch, die auch in der deutschen
Strikestatistik einen Stein des Anstofses bildet, hat im Arbeitsbeirat die
lebhaftesten Debatten hervorgerufen. Von Cemy wurde beanstandet,
<iafs nicht ersichtlich sei, ob der Kontraktbruch nach der Arbeitsordnung
oder nach dem Gewerbegesetz gemeint sei. Der Generalsekretär der
■Gewerkschaften Hueber war der Ansicht, dafs das Koalitionsrecht und
das Gewerbegesetz bezüglich dieser F'rage sich widersprechen und die
Behörden darüber noch mit sich selbst im Widerspruch seien. Der Abg.
Dr. Verkauf wies darauf hin, dafs der Kontraktbruch zwar nach § 85
der Gewerbeordnung strafbar sei, dafs aber der § 82 a Fälle aufführe,
in denen Straflosigkeit eintrete, und empfahl daher, dafs ein Kontrakt-
bruch nur dann angenommen wird, wenn eine Bestrafung nach § 85 der
Gewerbeordnung erfolgt ist. Es wurde dann beschlossen, nach den An-
trägen Inaraa-Stemeggs , Philippovichs und Verkaufs die Frage zu
stellen, ob der Arl>eitsvertrag ein Kündigungsrecht enthalten hat und die
Arbeitseinstellung oder Aussperrung unter Anwendung des Kündigungs-
rechts erfolgt ist bezw. die Niederlegung der Arbeit vor Ablauf der
Kündigungsfrist erfolgt ist, und die Zahl der Bestrafungen auf Grund
des § 85 der Gewerbeordnung festzustellen.
In Oesterreich kann man auch diese Frage ruhiger beurteilen, was
sich schon darin zeigt, dafs von keinem Mitglied des Arbeitsbeirates
die Beseitigung dieser Frage verlangt wurde. Dafs man diese Frage in
Deutschland zu einer Zeit, wo jenes mit dem Namen „Zuchthausvorlage“
gebrandmarkte Attentat auf das ohnehin so engherzige Koalitionsrecht
der Arbeiter geplant und zu diesem Zwecke die ganze Strikestatistik erst
insceniert wurde, anders beurteilen mufste, darüber kann man sich nicht
wundern.
Eine praktische Lösung hat das Problem in dem citierten Erlafs
vom 22. Februar 1899 dadurch gefunden, dafs dem Hauptzählblatt ein
Einlageblatt beigegeben wurde. Dieses Einlageblatt bezieht sich lediglich
auf Kontraktbruch und Versammlungen, bezw. Verbote von Versamm-
lungen. Es kann dem Hauptzählblatt gleich beigelegt werden, wenn
dies sofort möglich ist, oder es ist nach Abschlufs der polizeilichen und
gerichtlichen Untersuchung nachzuliefern. Auf dem Hauptzählblatt ist
ein entsprechender vorgedruckter Vermerk durch Durchstreichen zu be-
antworten.
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392
Miszellen.
Noch zwei weitere wichtige Punkte wurden hauptsächlich auf Antrag
des Abgeordneten Dr. Verkauf in das Zählblatt aufgenommen : auch nach
der Zahl der vorgenommenen Arretierungen und Verhaftungen, sowie
nach der Anführung, respektive Charakterisierung des Thatbestandes be-
züglich der verhängten Strafen zu fragen, sowie die Zahl der Abschiebungen
und Ausweisungen festzustellen. Des weiteren soll auch die Zahl der Ver-
sammlungen, sowie der etwaigen Verbote und Auflösungen ermittelt werden.
Das neue Zählblatt hat erstmals auf die Erhebungen der Arbeits-
einstellungen und Aussperrungen im Jahre 1899 Anwendung gefunden.
Die wörtliche Wiedergabe des Erhebungsformulars ohne die Er-
läuterungen glaubten wir unseren Lesern nicht ersparen zu dürfen, da
sonst die folgenden Ausführungen in der Luft stehen würden. Eine kri-
tische Würdigung fällt aufserhalb des Rahmens dieses Referates.1) Nur
das Urteil eines angesehenen Gelehrten, des Professors Stieda wollen wir
hier wiedergeben. Stieda sagt im 1. Band des Handwörterbuchs der
Staatswissenschaften (2. Aufl.) S. 738 über unsere Statistik: „Die Ver-
öffentlichungen .... sind mustergültig. In der Uebersichtlichkeit der
Tabellen, der Vielseitigkeit der Gesichtspunkte, in die sie Einblick er-
öffnen, der Klarheit der die Ergebnisse kurz besprechenden Einleitung
können sie allen Ländern zur Nachahmung empfohlen werden.“
Uelier die Ausdehnung der Ausstandsbewegung giebt folgende
Uebersicht Auskunft:
Proz. der in den be-
Arbeits-
Beteiligte
Strikendc
teiligten Betrieben
Versäumte
einstellungen
Betriebe
Arbeiter
überh. Beschäftigten
Arbeitstage
1894
172
2542
67061
69,47
795416
1895
209
874
28652
59,68
300348
1896
305
1 499
66234
65,73
899939
1897
246
851
38467
59,03
368 098
1898
255
885
39658
59,86
323619
1899
31»
1330
54763
60.23
1029937
1900
303
1003
105 128
67,29
3483963
1901
270
719
24870
38,5
157744
Ueber die Jahre 1891 bis 1896 liegen noch folgende sich auf die
Gewerbebetriebe mit Ausschlufs des Bergbaus beschränkende Daten vor:
Ausstände
Beteiligte
Betriebe
Beschäftigte
Arbeiter
Slrikende
1891
104
1917
404S6
14025
1892
IOI
*5*9
24621
14123
1893
172
1207
45 539
28 120
1894
*59
2468
60718
44 075
1895
205
869
46036
28026
1896
294
*403
57029
36114
’) Vgl. Mataja, Die Statistik der Arbeitseinstellungen i. d. Jahrb. filr Nat-
n. Stat. 3. F., Bd. 13, S. 344—401.
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CI. H ei fs, Di« Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 393
In der vorstehenden Uebersicht erscheinen aufser dem letzten Be-
richtsjahre (1901) die Jahre 1891 und 1892 besonders günstig; letzteres
Jahr sogar auch dann noch, wenn man den grofsen Sinke im steirischen
Kohlenbergbau mit ca. 2200 Strikenden nochhinzurechnet. Das Jahr
1895 we'st 'n der zweiten Uebersicht eine mittlere Strikebewegung auf,
während es in der ersten die niedrigste Zahl zeigt. Die höchste Zahl
zeigt in beiden Uebersichten das Jahr 1894 und 1900 und sie fallt also in
beiden Fällen zusammen mit dem industriellen Aufschwung. Die nächst-
höchste Zahl zeigt in beiden Uebersichten das Jahr 1896, das in der
ersten Uebersicht zufolge des grofsen Bergarbeiterstrikes im Ostrau-
Karwiner Revier dem Jahre 1894 fast gleichkommt. In den beiden
folgenden Jahren ist ein erheblicher Rückgang der Zahl der Strikenden
zu konstatieren, dem mit den Jahren 1899 und 1900 wieder ein ge-
waltiges Emporschnellen folgt. Im Jahr 1901 tritt dann wieder ein ge-
waltiger Rückgang ein. Um irgendwelche allgemeinere Schlüsse zu
ziehen, dazu ist die Beobachtungsperiode zu kurz. Es läfst sich auch in
den bunt wechselnden Zahlen keine Regelmäfsigkeit wahrnehmen. Auf-
fallend ist, dafs das Jahr 1894 mit der zweithöchsten Zahl der Strikenden
und der betroffenen Betriebe die geringste Zahl von Arbeitseinstellungen
nachweist. Durchschnittlich entfallen im Jahre 1894:390; 1895:137;
1 896 : 21 7 ; 1897 und 1898 je 156; 1899 : 1 76 ; 1900 : 347 und 1901 : 92
sinkende Arbeiter auf eine Arbeitseinstellung. Das Verhältnis der Arbeits-
einstellungen zu der Anzahl der beteiligten Betriebe stellte sich in den
gleichen Jahren wie 1:14,60, 4,18, 4,74, 3,44, 3,47, 4,28, 1:3,31
und 1 : 2,7. Im Jahre 1894 war denn auch die Beteiligung am Strike
am lebhaftesten. Es beteiligten sich nämlich 69,47 Proz. aller in den
beteiligten Betrieben beschäftigten Arbeiter am Strike, eine ähnliche In-
tensität der Strikebewegung zeigt nur noch das Jahr 1896 mit 65,72 Proz.
und 1900 mit 67,29 Proz. Die geringste Beteiligung weist das Jahr
1901 mit 38,5 Proz. auf. In allen übrigen Jahren schwankt das Pro-
zentverhältnis der am Strike Beteiligten um 60. Die Arbeiter scheinen
sich also um so lebhafter am Strike zu beteiligen, einen je gröfseren
Umfang die Bewegung erlangt. Dafs sich auch in diesem Prozentver-
hältnis kein regelmäfsiges Fortschreiten wahrnehmen läfst, hängt wohl
damit zusammen, dafs die Organisation der Arbeiter noch zu wenig aus-
gebaut ist.
Die hohen Ziffern des Jahres 1900 sind veranlafst durch die grofse
Austandsbewegung im Bergbau. Läfst man nämlich diesen aufser Be-
tracht und zieht nur die übrigen Erwerbszweige in Rechnung, so er-
geben sich strikende Arbeiter 1894 44075, 1895 28026, 1896 36114
1897 34835, 1898 32612, 1899 51286, 1900 26337, *901 17374-
Wenn man also vom Bergbau absieht, so würde 1900 sogar in der
ganzen Reihe die zweitniedrigste Ziffer aufweisen.
Von Interesse ist auch der Anteil der einzelnen Lander (Ver-
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394
Miszellen.
waltungsgebiete) an der Strikebewegung. Um eine gröfsere Uebcrsicht-
lichkeit zu erzielen, beschränken wir uns auf die Summe der strikenden
Arbeiter in den 8 Beobachtungsjahren zusammen und ordnen die Länder
nach ihrer Bevölkerungsdichtigkeit, wobei wir nur Mähren aufserhalb der
Reihenfolge einzustellen haben, da hier die Zahl der Strikenden für
mehrere Jahre mit derjenigen Schlesiens zusammen nachgewiesen ist.
Es entfielen in den Jahren 1894 bis 1901 zusammen in den Ländern
Einwohner
Einwohner
strikende Arbeiter
auf den qkm
überhaupt
zus. in 8 Jahren
1.
Niederösterreich . .
• 148,6
2 957 809
79990
2.
Schlesien ....
1 29,8
648918
54578
3-
Mähren
. 108,8
2393012
46 800
4-
Böhmen ....
. 11S.0
6 118639
164814
s-
Küstenland ....
• 91.5
731675
14422
6.
Galizien ...
• 9 t, 3
7211512
23289
7-
Bukowina ....
71,0
709855
329t
8.
Oberösterreich . . .
- 68,7
823 593
4905
9-
Steiermark ....
• 59-9
1 341 7°i
19526
10.
Krain
51,0
5°9 794
1 ‘75
1 1.
Dalmatien ....
44,1
572 907
I 002
12.
Tirol und Vorarlberg
. 3M
345 106
8845
13.
Salzburg
. 26,1
183329
886
Dafs in den dünnbevölkerten Bezirken Strikes seltener Vorkommen,
als in dichtbevölkerten, kann bei einer aufmerksamen Prüfung dieser
Zahlen nicht überraschen. In dünnbevölkerten Bezirken ist eben in der
Regel die Industrie weniger entwickelt. Eine Ausnahme machen nur
Steiermark und Tirol und Vorarlberg, die lrei dünner Bevölkerung eine ver-
hältnisroäfsig hohe Strikeziffer aufweisen. Vergleicht man die Einwohnerzahl
und diejenige der strikenden Arbeiter, so findet man, dafs auch die Kultur-
entwicklung von Einflufs auf die verhältnismäfsige Häufigkeit von Strikes
bezw. die Zahl der strikenden Arbeiter ist. Böhmen weist zwar absolut die
höchste Zahl der Strikenden auf, aber im Vergleich zur Bevölkerung nimmt
in dieser Hinsicht unbedingt Niederösterreich die erste Stelle ein und
Böhmen rangiert dann erst nach Schlesien und Mähren. Ebenso weisen
unter den Bezirken mit geringer Bevölkerungsdichtigkeit Tirol und Vorarl-
berg und Salzburg gegenüber den kulturell zurückstehenden lindern,
wie Galizien, Bukowina, Kraiu und Dalmatien eine verhältnismäfsig
höhere Strikeziffer auf.
In den durch besonders hohe Ziffern der Strikenden ausgezeichneten
Ländern haben sich die Verhältnisse während der fünf Beobachtungsjahre
folgendermafsen entwickelt. Die Zahl der strikenden Arbeiter betrug
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CI. Hcifs, Die Arbcitseinstellengen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901.
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
1901
Niederösterreich
33462
l»534
12 162
5716
4435
3 583
4172
3926
Mähren ^
21 19s
2 191 \
24 155
2517
2505
15443
7 752
1 926
Schlesien j
584 1
'33°
460
I 025
I9666
589
Böhmen . . .
10923
7227
20857
15*5°
19328
28 98l
54849
7399
Steiermark . .
212
1 615
1 956
I SC>4
4841
2 020
6576
502
ln Steiermark ist bis 1898 eine mit einer einzigen geringen Unter-
brechung (1897) stetige Zunahme der Zahl der Strikenden zu beobachten;
auf einen starken Rückgang im Jahr 1899 folgt ein noch viel stärkeres
Steigen im Jahr 1900, dann allerdings ein noch viel stärkerer Rückgang
im letzten Jahr. In Niederösterreich dagegen ist die Zahl der Strikenden — von
einem unerheblichen Steigen im vorletzten Jahr abgesehen — in stetigem, un-
unterbrochenem Rückgang begriffen. Die Jahre 1895, 1897 und rgoi cha-
rakterisieren sich durchweg als verhältnismäfsig ruhige Jahre. Dasselbe trifft
mit Ausnahme Böhmens und der Steiermark für 1898 zu. 1894 und 1896
waren, wie wir oben gesehen haben, die Jahre mit der lebhaftesten Arbeiter-
bewegung der ganzen Periode. Im Jahre 1894 beteiligten sich hieran vor
allem NiederösteiTeich, dann Mähren und Schlesien, während Böhmen die
zweitniedrigste Ziffer in der ganzen Beobachtungsperiode aufweist; im
Jahre 1896 dagegen war die Bewegung am lebhaftesten in Mähren,
Schlesien und Böhmen, während sie in Niederösterreich noch hinter dem
verhältnismäfsig ruhigen Jahre 1895 zurückstand. Die starke Strike-
bewegung des Jahres 1 899 tritt besonders hervor in Mähren und Böhmen ;
diejenige des Jahres 1900 in den Bergbauländern: Böhmen, Schlesien
und Steiermark. 1901 ist die Strikebewegung gegenüber dem Vorjahr
besonders stark in Galizien und im Küstenland.
Von den in den nachgenannten Jahren vorgekommenen Arbeits-
einstellungen zählten zu den G r u p p e n s t r i k e s , d. h. solchen, bei denen
eine Mehrzahl von Unternehmungen durch eine und dieselbe Strikebe-
wegung ergriffen wurde und namentlich ein gemeinsames Vorgehen der
in den verschiedenen Unternehmungen beschäftigten Arbeiter nachweisbar
war: 1894 32 — 18,60 Proz., 1895 36 = 16,74 Proz., 189666 = 21,64
Proz., 1897 41 = 16,67 Proz., 1898 52 = 20,39 Proz., 1899 45 =
14,47 Proz., 1900 39 - 12,87 Proz. und iqoi 29 =- 10,7 Proz. aller im
betreffenden Jahre vorgekommenen Strikes. Von den strikenden Arbeitern
entfielen im Jahre 1894 50982 = 76,02 Proz., 1895 1 5 514 = 54,1 5 Proz.,
1896 40597= 61,29 Proz., 1897 13600 = 35,36 Proz., 1898 17227
= 43,44 Proz., 1899 27467 = 50,16 Proz., 1900 73029 = 69,47 Proz.
und 1901 5431 = 21,8 Proz. aller strikenden Arbeiter auf die Gruppen-
strikes.
Unter Kinzelstrikes versteht die österreichische Statistik solche,
die nur eine Unternehmung oder, wie dies beim Bergbau des öfteren vor-
kommt, mehrere Betriebe einer Unternehmung betreffen. Einzelstrikes
fanden statt: im Jahre 1894 140 = 81,40 Proz., 1895 174=83,26 Proz.,
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390
Miszellen.
1896 239 = 78,36 Proz., 1897 205 = 83,33 Proz., *898 203 = 79,61
Proz., 1899 266 = 85,53 Pro*., 1900 264 = 87,13 Proz. und 1901
24: — 89,3 Proz. aller Strikes. An ihnen waren beteiligt: 1894 16079
= 23,98 Proz., 1895 13 i38 = 45-85 Proz., 1896 25 637 = 38,71 Proz.,
1897 24 867 = 64,64 Proz., 1898 22431 = 56,56 Proz., 1899 27296 =
49,84 Proz., 1900 32099 = 30,53 Proz. und 1901 19 439 = 78,2 Proz.
aller strikenden Arbeiter.
Während demnach hinsichtlich der Zahl der Strikefälle die Einzel-
strikes durchweg überwiegen, kommt ihnen hinsichtlich der Zahl der
strikenden Arbeiter eine solch hervorragende Bedeutung nur in den
beiden Jahren 1897, 1898 und 190 t zu. In den übrigen Jahren über-
wiegen in dieser Hinsicht die Gruppenstrikes trotz ihrer geringen Zahl, atn
stärksten in den Jahren 1894, 1896 und 1900 mit den höchsten Ziffern
der strikenden Arbeiter.
Folgende Produktionszweige waren in den vergangenen fiinf
Jahren am stärksten an Ausständen beteiligt:
Prozent aller strikenden Arbeiter
1S94
1895
1S96
1897
1898
1899
1900
1901
Bergbau
Industrie in Steinen, Er-
34,^8
2,19
45,47
9,44
17,17
6,35
74,95
30,1
den, Thon uud Glas
9,58
34,70
4,86
7,94
11,33
3,86
0,55
6,S
Metallverarbeitung
4,10
12,89
4.49
4,08
2,50
4,49
1,88
5i5
Erzeugung vonMaschinen
Industrie in Holz- und
0,29
0,88
3,n
12,19
6,23
2,47
0.49
3,6
Schnitzwaren u. Kaut-
schuk
14,60
8, iS
9,02
3,59
3,22
5,84
1,32
1 1.8
Textilindustrie ....
Industrie in Nahrungs- u.
9,42
14,26
14,78
29,31
8,00
55,24
11,42
10.7
Gcnufsmitteln s . .
o,44
1,80
18,71
0,54
3,95
6,09
2,76
0,22
7,3
Baugewerbe ....
22,33
8,20
12,98
35,20
•4,32
4,61
12.9
Alle übrigen ....
4,96
6,42
9,53
16,52
10,26
4.67
4.56
11.3
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
100.0
Prozent aller versäumten Arbeitstage
(Schicht
en) der Strikenden
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
1901
Bergbau
Industrie in Steinen, Er-
28,81
0,83
33,80
3,56
16,91
2,29
88,08
15,6
den, Thon und Glas
3,90
30,93
5.28
16,59
13.98
1,95
0,28
20,4
Metallverarbeitung . .
4,76
18,20
4,87
12,42
3,31
3.66
0,26
7,4
Erzeugung von Maschinen
Industrie in Holz- und
0,20
0,56
4,99
n,33
1 1,16
1,89
0,15
4,8
Schnitzwaren u. Kaut-
schuk
35,49
18,08
16,82
4.47
9,52
4.76
0,32
21.7
Textilindustrie . . .
Industrie in Nahrungs- u.
5,73
11,27
26,1 1
26,45
6,91
77,10
7,49
8,0
Gcnufsmitteln . . .
0,12
0,38
0,14
1,92
2,23
0,46
0,00
7,4
Baugewerbe ....
16,48
9,50
2,74
io,35
24.21
5.54
1,09
3*5
Alle übrigen ....
4,5 1 ')
10,25')
5.25')
12,91')
11,77')
2.35')
2,27')
1 1,2
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
100,0
') Dies die Ziffern der amtlichen Publikation l'Ur das Berichtsjahr 1900; die
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CI. H ei fs , Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 190! . 397
Weitaus am gröfsten war hiernach die Neigung zum Striken im
Bergbau und Baugewerbe; hieran schliefsen sich die Textilindustrie, die
Industrie der Steine, Erden, Thon und Glas und die Holzindustrie. Der
relative Anteil der Holzindustrie an der Gesamtausstandsbewegung geht
bis zum Jahr 1900 stetig zurück, um alsdann allerdings wieder plötzlich
cmporzuschnellen ; derjenige der Maschinen- und Textilindustrie steigt von
1894 bis 1897 stetig, fällt aber dann umso stärker im folgenden Jahre,
um bei der Textilindustrie im Jahr 1899 überhaupt die höchste Zahl zu
erreichen, worauf bei beiden Industriezweigen wieder ein starker Rück-
gang folgt.
Ueber die absoluten Zahlen der von Strikes in den genannten In-
dustriezweigen betroffenen Betriebe, der darin beschäftigten Arbeiter und
der Erfolge der Strikes giebt nachstehende Uebersicht Auskunft.
(Siehe die Tabelle auf S. 398 u. 399.)
Da wir die umfangreiche Tabelle, die für die einzelnen Gewerbe-
arten eine „beschreibende Darstellung der Arbeitseinstellungen gesondert
nach einzelnen Fällen“ giebt, nicht wiedergeben können, heben wir aus
derselben für die einzelnen Berufe die beutenderen Strikes, an denen
sich mehr als 200 Arbeiter beteiligt haben, hervor.
Im Bergbau entfielen alle liedeutenderen Strikes auf den Kohlen-
bergbau; auf die daneben nachgewiesenen Naphthabergbaue kam nur
im Jahre 1898 1 Strike mit 52, 1900 ein solcher mit 14 und 1901
ein solcher mit 2291 strikenden Arbeitern. Die Zinkbergbaue hatten
1899 2 Strikes mit to3 und 1900 1 Strike mit 248 strikenden Arbeitern.
In der Industrie in Steinen, Erden. Thon und Glas zeigten die
Ziegelwerke die stärkste Arbeiterbewegung mit 5474 Strikenden im
Jahre 1894, 9197 1895, 867 1896, 2157 1897, 164 1898, 1436 1899,
160 iqoi, während im Jahre 1900 kein Strike vorkam. Hieran schliefsen
sich die Glasschleifereien, bei denen in den Jahren 1894 und 1901 kein
Strike vorkam, mit 157 Strikenden im Jahre 1895, 355 1896, 98 1897,
2923 1898, 110 1899 und 88 1900; in den Porzellan- und Steingut-
fabriken kam 1894, 1898 und 1900 ebenfalls kein Strike vor, 1895
strikten 116, 1896 527, 1897 351, 1899 110 nnd 1901 43 Arbeiter.
In den Glasfabriken strikten 1894 345; 1895 214, 1896 335, 1897
104, 1898 491, 1S99 170, 1900 163 und 1901 100 Arbeiter; in den
Steinbrüchen 1894 141, 1895 I7> 1896 159, 1897 o, 1898 386, 1899
213, 1900 34 und 1901 118 Arbeiter. In den Steinmetzbetrieben
strikten 1895 42, 1S96 155, 1897 311, 1898 161, 1809 20, 1900 116
und 1901 1189 Arbeiter.
Bei der Metallverarbeitung ist im Jahre 1896 die Strikebe-
•wegung der Spengler mit 1008 Strikenden und in den Metallwaren-
für 1901 gibt folgende abweichende Ziffer: 3,4; 4,8: 2.2; 14,0; 11,3; 2.0; 1.4 und
1 1,2 ohne einen Grund für die Abweichung anzugeben.
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CI. H cifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 399
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aufscrhulb der Klammern bedeutet die Zahl der StrikefiÜlc.
400
Miszellen.
fabriken im Jahre 1900 mit 1152 und 1895 mit 992 Strikenden (1896
110, 1898 101 und 1899 208) am lebhaftesten gewesen. 1894 strikten
925 Nagel- und Drahtstifterzeuger (1901 429), 1895 971 Arbeiter in Emaille-
werken, 1894 861 Arbeiter in Lampenfabriken, 1897 562 Arbeiter der
Luster- und Broncewaren-Erzeugung, 1895 4°2 und 1896 440 Schlosser-
warenerzeuger und 1897 212 in Bau- und Kunstschlossereien beschäftigte
Arbeiter. In 4 Eisenmöbelfabriken strikten 1 896 515; in Eisenwerken
1895 504 und 1899 574 Arbeiter; 1897 171 und 1899 238 Arbeiter
in Feilenhauereien und Feilenschleifereien; 1899 349 Arbeiter in Gufs-
stahlwerken (1894 150 und 1897 1 3 1) ; 1899 225 in Metallgiefsereien
(1897 118). Aufser den aufgeführten vereinzelten Fällen kehrten Ar-
beiterbewegungen in dieser Industriegruppe regelmäfsig nur in den
Eisengiefsereien wieder, wo 1894 479, 1895 390, 1896 229, 1897
dagegen nur 6, 1898 263, 1899 89, 1900 255 und 1901 113 Arbeiter
strikten.
In der Gruppe derErzeugung von Maschinen, Apparaten,
Instrumenten und Transportmitteln entfielen die bedeutend-
sten Strikes 1897 auf die Schiffswerften mit 3262 (1901 mit 318), 1898
auf die Waffenfabriken mit 1154, 1896 auf die Eisenbahnwerkstätten mit
1149, 1898 auf die Wagen- und Waggonfabriken mit 841 (1900 120),
1897 auf die Fahrräder- und Fahrräderbestandteile-F.rzeugung mit 493,
und 1899 mit 207, 1901 auf die Lokomotivfabriken mit 482, 1896 auf
die Wagnereien mit 218 und 1898 auf die Brückenwagenfabriken mit 217
Strikenden. Eine regelmäfsige Strikebewegung zeigen in dieser Gruppe
nur die Maschinenfabriken, in denen 1894 145, 1895 152, 1896 608,
1897 796, 1898 146, 1899 900, 1900 108 und 1901 36 Arbeiter
strikten. Alle übrigen Strikes in dieser Gruppe waren von untergeord-
neter Bedeutung.
Bei der Industrie in Holz- und Schnitz waren und
Kautschuk zeigen die in Tischlereien und Möbelfabriken beschäftigten
Arbeiter eine besonders starke Strikelust: 1894 strikten 9066, 1895
596, 1896 1972, 1897 701, 1898 776, 1899 2206, 1900 708 und
I901 2000. In den Perlmutterdrehereien strikten 1895 471, 1896 3091,
1899 139, 1900 92 und 1901 409 Arbeiter. Steinnufsknopf- (Hora-
knopf-lErzeuger strikten 1894 120, 1895 143. 1896 448, 1897 83,
1899 104 und 1900 11 ; Stock- (Schirmstock-)Drechsler 1895 440 und
1899 410. In Meerschaum- und Bemstcindrechslereien strikten 1895
252, in Sägewerken 1894 o, 1895 54, 1896 94, 1897 276, 1898 137,
1899 137 und 1900 176 Arbeiter und endlich in Gummifabriken 1894
412, 1895 180, 1896 66, 1897 o, 1898 80, 1899 o, 1900 259 und
1901 126 Arbeiter.
Bei der Industrie in Leder, Häuten, Borsten, Haaren
und Federn treten hervor die Lederfabriken und Zurichtereien mit
584 strikenden Arbeitern im Jahre 1894, 202 1896, 240 1897, 88
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CI. Hei fs. Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894— 1901. 402
1898, 167 1899, 354 1900 und 96 1901, sowie die Gerbereien mit 201
strikenden Arbeitern 1895, 82 1896, 491 1897, o 1898, 64 1899, 164
1900 und 42 1901.
In der Textil-lndustrie ist die Arbeiterbewegung am andauernd-
sten und lebhaftesten in den Baumwollspinnereien und -Webereien. Hier
strikten 1894 1948, 1895 3266, 1896 3432, 1897 3350, 1898 532,
1899 5710, 1900 7848 und 1901 1253 Arbeiter. In Flachsspinnereien
und -Webereien strikten 1894 1107, 1895 223, 1896 455, 1897 5145,
1898 198, 1899 1550, 1900 1039 und 1901 39 Arbeiter; in Schafwoll-
spinnereien und -Webereien 1894 648, 1895 54, 1896 1538, 1897 und
1898 je o, 1899 600, 1900 80 und 1901 283 Arbeiter; in den Seiden-
warenfabriken und Seidenwebereien 1894 895, 1895 359, 1896 643,
1897 99, 1898 914, 1899 222, 1900 1027 und 1901 581 Arbeiter;
in Jutespinnereien und -Webereien 1894 435, 1896 1295, 1302,
1898 69, 1899 825, 1900 1500 und 1901 273 Arbeiter. Vereinzelt
sind die Strikes der Baumwollwaren-Erzeuger: 1896 1135, 1898 480
und 1899 535; der Baum- und Schafwollwebereien 1897 392 und 1899
17153; der Buntwebereien 1S99 332; der Druckfabriken 1896 527 und
1898 126; der Leinen- und Baunuvollwebereien 1897 494; der Posa-
mentierwaren-Erzeuger 1896 448; der Schafwollwaren-Erzeuger 1897 288,
1898 200 und 1899 1174; sowie der Teppichfabriken 1894 648 und
der Tuchfabriken 1894 334, 1898 357, 1899 1542 und 1900 229.
Wie sehr die Beurteilung der Wichtigkeit eines Strikes allein nach
der Zahl der Strikenden täuschen kann, zeigt ein Beispiel aus der Be-
kleidungs- und Putz Warenindustrie. Die Rubrik „Wäsche-
Erzeuger" weist in der ganzen Gruppe die höchste Zahl der Strikenden
mit X022 aus. Nach der Spezialtabelle1) handelt es sich hier um eine
Prager Wäschefabrik, in der sämtliche 1022 Arbeiter, worunter 941
weibliche wegen der Entlassung einer Arbeiterin wegen Ungehorsams
am 9. November strikten, die Entlassung des Direktors, die Wiederauf-
nahme der entlassenen Arbeiterin verlangten und am darauffolgenden
Tage alle die Arbeit wieder aufnahmen, ohne dafs ihre Forderungen
bewilligt worden wären. Die lebhafteste Strikebewegung weisen hier die
„Schuhwaren- Erzeuger“ auf, von denen 1894 386, 1895 519, 1896 873,
1897 167, 1898 62, 1899 503, 1900 834 und 1901 240 strikten. In
den Schneidereien traten 1896 und 1898 gröfsere Arbeitseinstellungen
auf mit 382 und 249, sowie 1899, 1900 und 1901 mit 173, 382 und
1402 Strikenden; in den Hutfabriken 1894 mit 208 und 1901 mit
140 Strikenden; bei den Handschuhmachern 1895, 1898 und rooo mit
381, 131 und 186 Strikenden; bei den Schuhoberteil-Erzeugern 1900
mit 206 Strikenden; und endlich bei den Fez-Erzeugern 1898 mit
833 Strikenden.
’) Die Arbeitseinstellungen und Aussperrungen im Gewerbebetrieb in Oesterreich
während des Jahres 1896. Wien 1898 S. 172 f.
Archiv für toi Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 26
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402
Miszellen.
Von gleich kurzer Dauer und Veranlassung, wie der eben erwähnte-
war der Strike in einer Papier-Strohstoff- und Cellulosefabrik im Bezirk
Graz, an dem sich ebenfalls sämtliche Arbeiter beteiligten, der aber nach
eintägiger Dauer mit Wiederaufnahme des entlassenen Vertrauensmannes
der Arbeiter und Anerkennung ihres Koalitionsrechtes endete. *) Eben-
falls nur auf einen Betrieb erstreckte sich in dieser Gruppe ein Strike in
einer Cigarrettenpapier- und Spielkartenfabrik im Jahre 1897, an dem
sich 367 von 37 S Arbeitern beteiligten. Wichtiger dagegen ist der
Buchbinderstrike im Jahre 1898 mit 1095 Strikenden, sowie die Strikes
in Papierfabriken 1895 mit 149, 1897 mit 659, 1898 mit 268, 1900
mit 701 und 1901 mit 476 Strikenden. Zu erwähnen ist noch die
Kartonnagewaren-Erzeugung mit 143 Strikenden im Jahr 1898, 400 1899
und 106 1901.
In der Industrie in Nahrungs- undGenufsmittel strikten
1897 280 Arbeiter in einer Tabakfabrik, 1898 von 2081 Arbeitern in
einer Tabakfabrik im Bezirk Feldbach 2 062 (sämtliche aufser den Werk-
führern und Aufsehern); 1899 280 Arbeiter. Nach nur dreitägiger Dauer
wurden fast sämtiche Forderungen bewilligt und alle Arbeiter nahmen
die Arbeit wieder auf. !) Vereinzelt ist auch ein gröfserer Müllerstrike
im Jahre 1895 mit 31 1 Strikenden. In Brauereien kamen in sämtlichen
5 Jahren kleinere Strikes vor; bedeutend sind nur die 3 Strikes vom
Jahre 1897 mit 763 Strikenden. Eine lebhafte Bewegung zeigen die
Bäcker: 1894 strikten 237, 1895 187, 1896 208, 1897 476, 1898 194,
1899 1219, 1900 129 und 1901 251.
Im Gast- und Schankgewerbe kam während der ganzen
Periode kein bedeutender Strike vor.
Auch die chemische Industrie zeigt eine geringe Arbeiter-
bewegung. 1894 strikten in einer Leuchtgasfabrik von 1 598 Arbeitern
1264 ohne Erfolg, 1896 in 2 chemischen Fabriken von 919 Arbeitern
788 mit teilweisem Erfolg und 1899 in einer Zündhölzchen- und Wichse-
fabrik 260 Arbeiter ohne Erfolg (1901 135). Endlich strikten 1901 in
2 Oelfabriken 176 Arbeiter mit teilweisem Erfolg.
Die hohe Strikeziffer im Baugewerbe entfallt in der Hauptsache auf
die Sammelrubrik „Bauten (Hoch-, Wasser- und Eisenbahn-)". 1894
strikten in dieser Branche von 18400 14499 Arbeiter in 319 Betrieben.
In je 4 Strikes hatten sic einen vollständigen und keinen Erfolg, 1 hatte
teilweisen Erfolg. 1895 strikten in 104 Betrieben von S818 Arbeitern
4 466 und es hatten 1 o Strikes vollständigen, 3 teilweisen und 6 keinen
Erfolg. 1896 betrug die Zahl der Betriebe 121 mit 8497 beschäftigten
Arbeitern und 5321 Strikenden. 19 Strikes waren ohne Erfolg, 11 von
teilweisem und nur 6 von vollständigem Erfolg. 1897 strikten in 67 Be-
>) a. a. O. S. SS f.
*) L>ii* Arbeitseinstellungen u. s. w. während des Jahres 1S98. Wien 1S98 S, b‘"2 1
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CI. Hcifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 403
trieben von 10 105 Arbeitern 4914. Ohne Erfolg waren 14 Strikes,
7 hatten einen vollständigen und 9 einen teilweisen Erfolg. 1898 strikten
in 106 Betrieben von 19307 Arbeitern 11 781. Es waren 13 Strikes
ohne Erfolg, während 22 einen teilweisen und nur 5 einen vollständigen
Erfolg hatten.*) 1899 strikten in 67 Betrieben 7816 Arbeiter. Er-
folglos waren 1 3 Strikes , 7 hatten vollen und 1 2 teilweisen Erfolg.
1900 strikten in 4 t Betrieben 4012 Arbeiter. Ohne Erfolg waren
10 Strikes, 3 hatten vollen und 6 teilweisen Erfolg. 1901 endlich
brachen in 21 Betrieben ebensoviel Strikes aus, von denen 5 vollen,
6 teilweisen Erfolg hatten und 10 erfolglos blieben. Beteiligt waren
hierbei 3155 Arbeiter. Von den Zimmerern strikten 1895 in 2 Betrieben
von 750 Arbeitern 650 und 1898 in 87 Betrieben von 2 746 Arbeitern
1994. Zimmemialer strikten 1895 212, Kanalräumer 1894 286 und in
demselben Jahre 190 Dachdecker (1900 756).
Eine bedeutendere Buchdruckerstrikebewegung fällt nur ins
Jahr 1896 mit 365 Strikenden, sowie 1899 mit 190, t9oo mit 195 und
190t mit 292 Strikenden.
Im Handel zeigt das Jahr 1897 eine lebhafte Strikebewegung, an
der sich 360 in der Spedition, 300 im Holzhandel, 235 im Kaffee-
handel und 200 im Agrumenhandel beschäftigte Arbeiter beteiligten.
1898 strikten dann noch 220 im Kohlenhandel beschäftigte Arbeiter,
während in den übrigen Jahren unserer Beobachtungsperiode erhebliche
Arbeitseinstellungen nicht zu verzeichnen sind.
Im Verkehrswesen sind drei Strikes der bei Pferdeeisenbahnen
beschäftigten Arbeiter aus den Jahren 2894, 1897 und 1901 mit 209,
2190 und 200 Strikenden, ein Eiscnbahnerstrike im Jahre 1900 mit 510,
sowie ein Strike der bei der Schiffsverladung thätigen Arbeiter aus dem
Jahre 2897 mit 285 Strikenden zu nennen. An 2 Strikes in der Holz-
flöfserei beteiligten sich 1901 165 Arbeiter. In 20 landwirtschaftlichen
Betrieben strikten 1900 600 Arbeiter. Endlich verdient noch der Wiener
Feuenvehrstrike vom Jahre 1896 Erwähnung, an dem sich von 298 Ar-
beitern 236 ohne Erfolg beteiligten.
Wenn wir an der Hand der vorstehenden Uebersicht auf diejenigen
Gewerbszweige zurückblicken, in denen Arbeitseinstellungen gröfseren
Umfangs mit einer gewissen Regelmässigkeit sich wiederholen (mindestens
3 innerhalb 5 Jahren), so sind es vor allem die modernen Grofsbetriebe,
1 1 In methodologischer Beziehung ist hier zu beanstanden, dafs die Tabelle
keine Rubrik für Maurer, Gypser, Tüncher, Erdarbeiter und Handlanger auffuhrt,
während in derselben zu finden sind: „Anstreicher und Lackierer, Maler und
Lackierer, Zimmermaler und Anstreicher“ je gesondert. Im einen Fall wird alles in
einen Topf geworfen, im anderen liegt eine Spezialisierung synonymer Begriffe vor,
mit der auch nichts Rechtes anzufangen ist. Vielleicht ist die österreichische Ge-
werbegesetzgebung schuld an diesem Wirrwarr r
26*
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404
Miszellen.
wie der Kohlenbergbau, die Grofsbetriebe der Textilindustrie: Baum-
woll-, Flachs-, Jute- und Schafwollspinnereien und Webereien, Seiden-
warenfabriken und Seidenwebereien, Ziegeleien, Steinbrtiche, Porzellan-
und Steingutfabriken, Glasfabriken, Maschinenfabriken, Eisengiefsereien,
Metallwarenfabriken, Lederfabriken und Zurichtereien. An einzelnen
eklatanten Beispielen haben wir gesehen, wie hier das tägliche Zusammen-
arbeiten in demselben Betriebe ein so lebhaftes Bewufstsein der Gemein-
samkeit der Interessen erzeugt, dass eine so geringfügige Veranlassung,
wie die Entlassung eines einzelnen Arbeiters, die Niederlegung der Arbeit
von Hunderten von Arbeitern zur Folge haben kann. Ein zweites Mo-
ment, das den Arbeitern die Gemeinsamkeit ihrer Interessen zum Be-
wusstsein bringt, ist das Zusammenwohnen in Städten. Dies trifft zu bei
den sich regelmäfsig wiederholenden umfangreicheren Arbeitseinstellungen
im Baugewerbe und in Bäckereien, sowie teilweise in den Tischlereien
und Möbelfabriken, wo beide Momente Zusammenwirken. Seltener kommt
der Fall vor, dafs ohne das Zutreffen dieser beiden Momente die unter
das Existenzminimum herabgesunkenen Löhne die verzweifelnden Arbeiter
zur Arbeitseinstellung drängen, wie dies bei den Glasschleifern im Be-
zirk Gablonz und Starkenbach wiederholt der Fall war. Vom letzten
grofsen Strike im Jahre 1898 wurden 26 Grofs- und 169 Kleinbetriebe
betroffen. Der ganze Verlauf dieses höchst interessanten Strikes recht-
fertigt es, wenn wir ihn etwas eingehender behandeln. ‘) Die allgemeine
Lage zur Zeit des Ausbruchs des Strikes wird in den Berichten der
k. k. Gewerbeinspektoren über ihre Amtsthätigkeit im Jahre 1898
folgendermafsen geschildert : i)
„In der Gablonzer Glasindustrie hatten die Löhne in der ersten
Hälfte des Berichtsjahres einen Tiefstand erreicht, der mit den Verhält-
nissen unvereinbar schien und zu einer Lohnbewegung führte, welche
wenigstens in der Perlen- und Krystalleriebranche eine Aufbesserung
der Löhne zur Folge hatte. Die Ursachen dieser Lohnbewegung waren
sehr verschieden. Abgesehen davon, dass die Erzeugnisse dieser um-
fangreichen und vielgestaltigen Industrie — zumeist Luxusartikel — teil-
weise nur für den augenblicklichen Bedarf hergestellt werden und gröfsten-
teils der Mode unterliegen, wodurch Ueberhäufungen mit Aufträgen mit
vollständiger Geschäftslosigkeit in den einzelnen Branchen allzuoft
wechseln und aufsergewöhnliche Preisschwankungen entstehen, hat in den
letzten Jahren die Entwicklung der arbeitsparenden Methoden, die unbe-
sonnene Konkurrenz unter den bei der Erzeugung beteiligten Exporteuren,
Lieferanten und Arbeitern, das Uebcrangebot von Arbeitskraft, der be-
dauerliche Rückgang der Qualität der Erzeugnisse u. dgl. zu einer all-
') Die amtliche Statistik: Die Arbeitseinstellungen etc. während d. J. 1898
widmet diesem Strike allein 20 Seiten des Anhangs S. 287—307.
*) a. a. O. S. 2S7.
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CI. Ilcifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 40 -
gemeinen geschäftlichen und Produktionskrise geführt. Diese bedauer-
lichen Zustände haben sich namentlich in letzter Zeit bedeutend ver-
schärft, trotz der vorhergegangenen Lohnkämpfe und Versuche, durch
Festsetzung von Minimallöhnen dem gewaltigen Preisdrucke, sowie der
Verschlechterung und Entwertung der Erzeugnisse zu begegnen, und bei
den einzelnen Zweigen der Arbeiterschaft einen drückenden Notstand
herbeigeführt, ln den zahlreichen im Monate Mai und Juni 1898 ab-
gehaltenen Glasarbeiterversammlungen wurden die kritische Lage und
die Mittel zur Abhilfe des Notstandes besprochen und im allgemeinen
die Forderung aufgestellt, durch eine seitens der Regierung einzuberufende
Enquete die Arbeiter und Unternehmer über die Verhältnisse einzuver-
nehmen und auf Grundlage dieser Enqufite Mafsnahmen zur Regelung
der Lohne und Beseitigung der herrschenden Uebelstände zu treffen.
Die Hohlglasperlcnarbeiter (Bläser und Fertigmacher, welche den
Massenartikel — die metallisierten Formperlen — erzeugen), deren Lage
äufserst kritisch war, traten am 11. Juni in Strike, um die Bewilligung
ihrer Forderung: Zahlung der Minimallöhne vom Jahre 1895, welche
vor dem Ausbruche der Bewegung bis auf 60 Proz. des früheren Be-
trages gesunken waren, zu erlangen. Bei der am 18. Juni bei der Be-
zirkshauptmannschaft Gablonz stattgehabten Beratung zwischen den Ex-
porteuren, Lieferanten und Arbeitern der Perlenbranche wurde beschlossen,
für neue Perlenaufträge, d. i. für Aufträge vom 13. Juni 1898 ab, die
Minimallöhne des Jahres 1895 zu zahlen; Birdie Glasperlenaufträge, die vor
dem 13. Juni gegeben wurden, haben die Exporteure einen 10 prozentigen
und die Lieferanten einen 5 prozentigen Aufschlag gewährt.“
Der inzwischen ausgebrochene Strike der Krystallglasschleifer in
Morchenstern, Dessendorf, Przichowitz, Polaun u. s. w. wurde in ähnlicher
Weise unter Vermittelung der Bezirkshauptmannschaft Gablonz durch
Gewährung der Minimallöhne vom Jahre 1890 und einiger weiterer
Vergünstigungen am 29. Juni beigelegt.
Die Strikes der Flaconglas- und der Serviettenringschleifer waren
ebenfalls von kurzer Dauer, aber ohne nennenswerten Erfolg.
Die am 2., 4. und 5. Juli 1898 zu Gablonz abgehaltene EnquSte über den
Notstand in der Glasindustrie, an welcher Vertreter des Ministeriums des
Innern, des Handelsministeriums, der Statthalterei und der Bezirkshauptmann-
schaft Gablonz teilnahmen, befafste sich am ersten Tage mit der Formperlen-
industrie, am zweiten mit der Krystalleriebranche und am dritten mit der Glas-
ringindustrie. Bei diesen Verhandlungen wurden die allgemeinen Verhältnisse,
sowie die Ursache der gegenwärtigen Krise durch Einvernehmung der Ex-
porteure, Lieferanten und Arbeiter erläutert und den betreffenden Inter-
essenten Gelegenheit gegeben, Vorschläge über Mittel und Wege zur
Behebung der Notlage zu machen. Als Resultat der Enqudte über die
Formperlenindustrie ist die Gründung der Produktivgenossenschaft der
Hohlperlenerzeuger des politischen Bezirks Gablonz anzusehen. Bis zum
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406
Miszellen.
20. Oktober 1898 sind der Genossenschaft ca. 800 Bläser und 40 Lie-
feranten als Mitglieder beigetreten.1) Die beteiligten Perlenbläser er-
halten von der Genossenschaft die Formen unentgeltlich. Die fertigen
Perlen werden an das in Gablonz errichtete Warenhaus abgeliefert,
welches die Erzeugnisse an die Exporteure verkauft. Eine erfolgreiche
Thätigkeit der Genossenschaft wurde dadurch gesichert, dafs der Roh-
glasfabrikant Jos. Riedel in Polaun für eine Reihe von Jahren unver-
zinslich und für die spätere Zeit unter sehr günstigen Bedingungen ein
Kapital von 1 00 000 Fl. zur Verfügung stellte, wozu die Regierung noch
weitere 1 2 000 Fl. beisteuerte. Die Erhaltung der errungenen Löhne
und einer guten Qualität der Ware sucht die Genossenschaft dadurch
zu sichern, dafs sie ihre Mitglieder verpflichtet, nur für die Genossen-
schaft zu arbeiten und damit alle ihr nicht beitretenden Exporteure
boykottiert. Zur Durchführung der hier kurz skizzierten Grundgedanken
hat das im Anhänge der amtlichen Statistik abgedruckte Statut der Ge-
nossenschaft in 79 Paragraphen, zu denen noch eine Geschäftsordnung
kommt, bis ins einzelnste Detail gehende Bestimmungen getroffen.
Als Fazit dieses bemerkenswerten Strikes ergiebt sich, dafs durch
fortgesetzten Lohndruck eine solch elende Lage der Arbeiter und eine
solch minderwertige Qualität der Ware herbeigeführt worden war, dafs
sie den Fortbestand der Industrie ernstlich gefährdete und sogar die
Unternehmer davon überzeugte, dafs nur durch eine Verbesserung der
Löhne abgeholfen werden könne. Diese Ueberzeugung ging soweit, dafs
sogar ein Fabrikant ein gröfseres Kapital zur nachhaltigen Durchführung
dieser Mafsregel zur Verfügung stellte. Fürwahr eine bei dem Gros
unserer Fabrikanten seltene Höhe der Erkenntnis!
Hinsichtlich des Alters, Geschlechts und der Qualifika-
tion der Arbeiter geben wir folgende Uebersicht, die sich auf 29 Strike-
falle im Bergbau, von denen 32 Betriebe ergriffen wurden, und auf 226
Strikefälle in der Industrie (inkl. Handel und Transportwesen), von denen
853 Betriebe im Jahre 18984) ergriffen wurden, bezieht:
Wie aus den Berichten der „Sozialen Praxis“ (Jahrg. VIII, Sp. 241 ff. und
269 ff. und IX Sp. 306) zu entnehmen ist, sind die Betriebsergebnisse der Genossen-
schaft andauernd günstig gewesen. Bei der Hauptversammlung der Produktiv-
genossenschaft am 6. Mai 1900 wurde berichtet, dafs sich der Arbeitslohn um
375 °o 0) gesteigert hat; so bei der Mullperlc von 2 auf 9*/t Kr. Die Beschaffen-
heit der Ware hat sich ganz erheblich gebessert; während früher mit Io und 15 40
Sekundaperlen gerechnet werden mufste , beträgt dieser Prozentsatz der Produktion
jetzt blofs I — 2 0 „. Der Warenumsatz hat sich sehr befriedigend gestaltet und die
Zahl der Mitglieder stieg von 700 auf 1237 (Soz. Praxis, IX. Jahrg. Xr. 36 vom
7. Juni Sp. 932).
*) Die Tabelle findet sich letztmals in dem fjuellenwerk über das Jahr 1899.
Hier ist aber blofs mehr die Zahl der strikenden Arbeiter, nicht auch diejenige der
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II. Industrie (inkl. Handel und Transport). 1. Bergbau
<T 1. H e ifs , Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 407
Anzahl der in den ergriffenen Betrieben
vor dem Aus- der sinkenden I3cr von
stände
beschäf-
Arbeiter
den Sin-
tigten
Arbeiter
Proz. der
kenden z.
Proz.
Proz.
besch. Ar-
Mitfeiern
ab-
aller
ab-
der
beiter der-
gezwunge-
solut
Ar-
solut
Stri-
selben Ka«
nen Ar-
beiter
k enden
gorie
beiter
Grubenarbeiter :
Häuer ....
3993
39.67
3225
45.77
80,77
5°
Förderer . . .
2626
26.09
2 230
31.65
84.92
—
Sauberer (Gruben-
jungen) . . .
539
5.35
327
4,64
60,67
31
zusammen .
7 1 58
71,11
5:8;
82,06
80,76
81
Tagcarbciter:
männnlich . .
2280
22,65
995
>4, >2
43.64
267
weiblich . . .
43°
• 4.27
170
2.41
39.54
2
jugendlich . . .
198
‘.97
99
>,4>
50,00
6
zusammen .
2908
28,89
1 264
>7.94
43.17
275
nach dem Alter
unter 16 Jahr m.
198
>.97
99
>,4>
50,00
6
weiblich .
—
—
—
—
—
zus. . .
19S
>.97
99
>.4>
50,00
6
über 16 Jahr m.
9438
93.76
6777
96,18
71,81
348
weiblich .
43°
4.27
>7°
2,41
39.54
2
zus. . .
9868
98,03
6947
98,59
70,40
35°
Gelernte männlich .
24245
43. >5
>5 75°
48.30
64,96
> 732
weiblich .
6 629
1 1,80
5021
15,40
75.74
450
zus.. .
”30874
54,95
20771
63.69
67.28
2 182
Ungelernte männlich .
18633
33,i6
8891
27.26
47,72
2 178
weiblich .
_ 4 494
7.64
2338
6,86
52,12
5?°
zus. . .
22927
40,81
11 129
34,13
48.54
2 728
Lehrlinge männlich .
2 234
3,98
577
>,77
25,83
>9>
weiblich .
'50
0,27
>35
0,41
90.00
1
zus. . .
2384
4,24
7>2
2, iS
29,87
192
nach dem Alter
unter 16 Jahr m.
1897
3,38
500
>,53
26.36
228
weiblich .
913
1,62
3>o
o,95
3396
104
zus.. .
2810
5,00
Sio
2,48
28.83
332
über 16 Jahr m.
43 11 5
76,92
24718
75,8o
57.20
3 873
weiblich .
10 160
18,08
7084
21.72
69,72
897
zus. . .
53375
95,oo
31 802
97.52
59.58
4 770
männlich
54 748
82,64
32094
8093
58.62
4 445
weiblich . .
n 503
>7,36
7564
19.07
66.76
1 003
zusammen
66251
100,00
39 658
100,00
59,86
5 458
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408
Miszellen.
Die Zahl der männlichen Arbeiter überwiegt in den von den Strikes
ergriffenen Betrieben (82,64 Proz.) gegenüber den weiblichen bedeutend
(17,36 Proz.). Dagegen beteiligten sich die weiblichen Arbeiter stärker
an der Strikebewegung als die männlichen. Es strikten von ihnen
65,76 Proz., während von den männlichen Arbeitern nur 58,62 Proz.
strikten, so dafs ihr Prozentanteil an der Gesamtzahl der strikenden
19,07 gegenüber nur 17,36 Proz. der Gesamtzahl der beschäftigten Ar-
beiter beträgt. Die stärkere Beteiligung der weiblichen Arbeiter an den
Arbeiterbewegungen zeigt sich bei den industriellen Arbeitern, wo
Frauenarbeit allein in grüfserem Umfang in Betracht kommt, bei sämt-
lichen hier unterschiedenen Kategorien. Von Einflufs mag dabei der
Umstand sein, dafs das Weib als Individuum viel weniger entwickelt ist,
als der Mann und dafs es, wie es sich auf anderen Gebieten nicht leicht
dem Zwange der Mode zu entziehen vermag, sich auch einer gemein-
samen Klassenbewegung viel leichter anschliefst. Diese Charaktereigen-
tümlichkeit des Weibes ist so scharf ausgeprägt, dafs sie dem Manne
gegenüber trotz mangelnder Organisation und verkümmerter Vereins-
und Versammlungsfreiheit den Vorrang abzugewinnen vermochte.
Durchweg sind ferner die gelernten Arbeiter an der Strikebewegung
stärker beteiligt, als die ungelernten: es strikten im Bergbau 80,76 Proz.
der Grubenarbeiter (1899 82,43) und nur etwas mehr als die Hälfte der
Tagarbeiter 43,17 Proz. (1899 17,57); in der Industrie 67,28 Proz. der
gelernten (1899 77,74) und nur 48,54 Proz. (1899 21,49) der unge-
lernten Arbeiter.
Erhebliche Unterschiede zeigen die Zahlen der strikenden jugend-
liehen Arbeiter im Bergbau und in der Industrie, während in ersterem
50 Proz. jugendliche (1S99 3,19) und 70,40 Proz. (1899 96,81) er-
wachsene Arbeiter sich am Strike beteiligten, waren es in der Industrie
nur 28,83 Proz. (*^99 2,71) jugendliche und 59,58 (1899 97,29) Proz.
erwachsene Arbeiter.
Die Zahl der von den strikenden zum Mitfeiern gezwungenen Ar-
beiter ist recht gering, sie beträgt nicht ganz der Strikenden und
*/lf der vor Ausbruch des Strikes beschäftigten Arbeiter.
Eine Vergleichung dieser Verhältnisse ist für die Jahre 1894 — 1897
wegen mangelnder Zahlen ftir den Bergbau nicht möglich und wir
vor dem Austande beschäftigten Arbeiter nachgewiesen. Da die Tabelle pro 1S98
instruktiver ist, haben wir diese vorgezogen. In den auf 1900 und 1901 bezüg-
lichen Nach Weisungen scheint ein redaktionelles Versehen unterlaufen zu sein. In der
Einleitung S. 8 (bezw. S. 7) ist der auf diese Tabelle bezügliche erläuternde Text
(Von den Worten „Was die Gruppierung der Arbeiterschaft anbetriflft bis Anspruch
machen“) wörtlich aus dem Vorjahr übernommen, aber die zu der Erläuterung ge-
hörige Tabelle (Tabelle 111 A der Nachweisungen über das Jahr 1899) fehlt.
Quandoquin dormitat divus llomcrus!
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CI. II r i fs , I)ic Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. ^09
müssen sie uns mit Rücksicht auf den Raum auch ftir die Industrie ver-
sagen.
Was nun Beginn und Dauer der Arbeitseinstellungen anlangt,
so entfielen die Arbeitseinstellungen auf die einzelnen Jahreszeiten, wie
folgt:
1894
1895
1896
1897
189S
Ausst.1 Str.*
Ausst. Str.
Ausst. Str.
Ausst. Str.
Ausst.
Str.
Frühjahr . 77 51 257
66 1 2 942
112 17776
96 20389
108
16631
Sommer . . 25 2902
80 1 1 138
91 10210
69 9949
74
13028
Herbst . . 25 8410
32 2864
58 >7370
45 4 377
35
6237
Winter . . 45 4492
31 1 708
44 20 878
36 3752
38
3762
1899
1900
1901
Ausst.
Str. Ausst. Str.
Ausst.
Str.
Frühjahr 98
26908
115 20415
86
7 392
Sommer 94
10652
72 6735
81
8443
Herbst 80
10528
44 3 <38
52
4239
Winter 39
6675
72 74840
5'
4796
1 A umstände. * Strikende.
Für alle acht Jahre zusammen
auf das Frühjahr 758 Ausständr
entfallen
• mit 1 73 7 1 0 strikenden Arbeitern
„ den Sommer
5*6
„ 73057
„
„
„ „ Herbst
371
.. 57 >63
„
„
„ „ Winter
356
„ 120903
„
Im Durchschnitt nimmt das Frühjahr sowohl nach der Anzahl der
Ausstände wie nach der Zahl der sinkenden Arbeiter die erste Stelle
ein, während sich im übrigen mit der Temperatur auch die Strikelust
abzukühlen scheint. N'ur das Jahr 1000 macht eine Ausnahme. Die
vergleichsweise grofse Zunahme an Ausständen in den Wintermonaten
iqoo wurzelt nicht nur in der mächtigen Strikebewegung in den
böhmischen, mährischen und schlesischen Kohlenrevieren, welche im
Januar ihren Anfang nahm und sich bis ins Frühjahr hinzog, sondern
hängt auch zusammen mit einem zahlreicheren Auftreten von Strikes in
den meisten Industriezweigen.
Die meisten Strikes waren von sehr kurzer Dauer.
Es dauerten in Prozenten
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
1901
I— 5 Tage
51,16
52,15
51,80
54,87
55,69
54,66
55,12
59,2
6 — 10 „
20,35
16.74
13,77
15,85
16,47
14,47
18,48
' 16,3
6—25 „
37.2t
31.57
29.51
32,92
32,95
26.4
30,1
3b9
1— 3° „
89,54
85,16
83 93
81,04
89,82
85,20
88,45
93,7
31 — 60 „
6,98
9,57
10.50
4,88
6.26
9,03
4-95
5,5
61 — 100 „
1,74
4,79
4,26
2.45
3,53
4,8 1
495
0.8
über 100 ,,
1.74
0,48
1.31
1,63
o,39
0,96
1,65
—
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4io
Miszellen.
Hiernach entfallen mehr als die Hälfte aller Ausstände auf jene in
der Dauer von i — 5 Tagen, was zum Teil auf die vielen, nur kurz an-
dauernden alljährlich in den Baugewerben stattfindenden Arbeitsein-
stellungen zurückzuführen ist. Aehnliches gilt auch für den Bergbau, in
welchem sich die Ausstände ebenfalls nicht hinzuziehen pflegen.
Die durchschnittliche Dauer der Ausstände betrug:
1894 12,34 Tage
1895 13,00 ,.
1896 15,00 „
1897 12,47
1898 11,18 Tage
1899 14.00 „
1900 14,56 „
1901 8,8 „
Der längste Strike währte im Jahre 1894 136, im Jahre 1895 122,
im Jahre 1896 191, im Jahre 1897 211, im Jahre 1898 153 Tage, im
Jahre 1899 135 Tage, im Jahre 1900 270 und im Jahre 1901 95 Tage.
Von diesen langdauernden Strikes sind besonders wichtig diejenigen in
den Porzellanfabriken in Dallwitz (1896) und Aich (1897), bei denen
geringfügige Veranlassungen mit grofser Hartnäckigkeit durchgefiihrtc
Kämpfe hervorriefen. Die eigentliche Ursache des Strikes war in beiden
Fällen die Neuorganisierung des Betriebes, der sich die Arbeiter wider-
setzten und die Entlassung des neuangestellten Direktors verlangten.
In beiden Fällen wurde die Hauptforderung der Arbeiter abgelehnt,
während in Dallwitz den Arbeitern untergeordnete Zugeständnisse gemacht,
in Aich aber sämtliche Forderungen verweigert wurden, ln beiden
Fällen mufsten die wohlorganisierten Arbeiter unterliegen, weil sie —
wenn wir die Aeusserungen der beiden Parteien richtig interpretieren —
die Aufrechterhaltung einer veralteten Betriebsweise forderten.
Veranlassung zur Arbeitseinstellung gaben bei den in den acht
Jahren vorgekommenen 2071 Ausständen:
Unzufriedenheit mit den Lohnen
Unzufriedenheit mit der Arbeitsdauer
Entlassungen von Arbeitern . . .
I.ohnreduktionen
Unzufriedenheit mit der Arbeits- bezw
Dienstordnung
Verlängerung der Arbeitsdauer . .
Verhältnismäfsig kamen diese 5 Hauptursachen in den 8 Jahren:
bei Prozenten aller Strikes
1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901
30,81 42,58 45,00 47,15 48,63 45,98 50,17 43,0
11,05 '4,83 21,97 19,11 21,17 23.47 22,77 17.0
Unzufriedenheit mit den
Lohnen
Unzufriedenheit mit der
Arbeitsdauer . . .
933
mal =
45,0 Proz. aller Strikes
406
„ —
*9.6 „ „ „
285
„ —
13,7 tt
212
=
10.2 „ „ „
121
•1 =
5-8 ..
50
1. =
2,4
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CI. H e ifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 41 I
Entlassungen von Arbci-
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
1901
tern
•9,77
'4.83
■3, «7
13,01
14,12
12.86
11,88
•3.3
Lohnreduktionen . . .
Unzufriedenheit mit der
•3-37
9.09
9,18
•o,57
•2,94
9,3*
8,58
10,4
Arbeit»- bezw. Dienst-
ordnung
9.30
3.83
3,93
7,3*
7,84
5.79
4.62
5,6
Verlängerung d. Arbeit»-
dauer
2,91
1.87
2,3«
2,03
3.53
1,29
2,3'
2,6
in Betracht.
Die Unzufriedenheit mit den Lohnen gewinnt als Veranlassung von
Strikes stetig an Bedeutung, noch stärker, wenn auch nicht so stetig ist
die Steigerung bei der Unzufriedenheit mit der Arbeitsdauer, während
sich bei den übrigen Hauptursachen von Strikes eine bestimmte Ten-
denz nicht nachweisen läfst.
Auf die Grofs- und Kleinbetriebe verteilten sich — wenn wir die
Strikes, die „zum Teil Grofsbetriebe“ betrafen, wegen ihrer geringen Zahl
unberücksichtigt lassen — die Hauptveranlassungen folgendermafsen :
Nur Grofsbetriebe
1894 1895 1896 1897 1S98 1899 1900 1901
Zahl Proz. Zahl Proz. Zahl Proz. Zahl Proz. Zahl Proz. abs. Proz. abs. Proz. abs. Proz.
der Strikefälle
Eteduktion der
Lohne . . .
•9
• 3,67
‘5
9,80
23
11,27
23
•2,37
26
•4,05
*7
10,80
20
9.3°
25
• '.7
U n.zuf riedenheit
m. d. Löhnen
3»
27,34
61
39.87
86
42,16
83
4
44,62
77
41.62
1 10
44,00
107
49,77
91
42.5
U n zn f riedenheit
mit der Ar-
beitsdauer
«3
9,35
12
7,84
29
14.22
28
■ 5,05
25
•3.5«
49
19,60
39
18,14
28
•3.'
HIfsliebige Vor-
gesetzte . .
10
7,19
>3
8,50
iS
S.82
18
9.68
20
10.81
10
4.00
6
2,79
•5
7,o
Entlassung von
Arbeitern . .
33
23.74
*7
•7,65
33
16,18
*7
•4,52
21
16,76
33
13.20
29
• 3.49
26
12,1
Hierbei ist zu bemerken, dafs nur in Grofsbetrieben
1894
1895
1896
1897
139
>53
204
1S6
1898
1899
1900
1901
‘»5
250
21; und
214
Strikefälle vorkamen, worauf sich die Prozentzahlen beziehen.
Nur in Kleinbetrieben ereigneten sich
1894
27
I898
52
1895
44
1899
53
1896
73
1900
77 und
1897
5°
1901
47 Strikefälle.
Digitized by Google
412
Miszellen.
Davon entfielen auf die Hauptveranlassungen
1894 1S95 1896 1897 1898 1899 1900 1901
Reduktion der
abs.
Proz.
abs.
Pros.
abs. Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs. Pros
Löhne . . .
Unzufriedenheit
3
1 1,1 1
4
9,09
4
5.48
3
4,00
7
13,46
2
3,77
5
6,49
2 4;
m. d. Löhnen
Unzufriedenheit
mit der Ar-
»4
51.58
21
47,73
40 54, 80
30
60,00
35
67,3«
29
54.72
38
49,35
19 40.
beitsdauer
Mifsliebige Vor-
3
u, 11
17
38.64
24 32,88
■ 5
30,00
*7
34.69
20
37.73
47
35, 06
16 34«
gesetzte . .
Entlassung von
1
3,70
1
2.*7
3
4,ii
t
2,00
1
1,92
1
1,92
3 6.
Arbeitern . .
1
3.70
3
6,81
6
8,22
5
10.00
5
9.62
7
9,62
6
7.79
8 17z
Die Reduktion der Löhne ist im allgemeinen häufiger in Grofsbe-
trieben, die Unzufriedenheit mit den Arbeitslöhnen häufiger in Klein-
betrieben die Veranlassung zu Strikes; mifsliebige Vorgesetzte und Ent-
lassungen von Arbeitern überwiegen bei den Grofsbetrieben, Unzufrieden-
heit mit der Arbeitsdauer bei den Kleinbetrieben, was in der Natur der
beiden Betriebsformen begründet erscheint.
Arbeitseinstellungen
kamen vor :
mit
überwiegend gelernten Arbeitern
1894
147
1898 200
1895
163
1899 255
1896
457
1900 270 und
1897
194
1901 228.
Davon entfielen auf die Hauptveranlassungen :
abs.
1894
Proz.
I
abs.
1895
Proz.
abs.
1896
Proz.
abs.
1897
Proz.
1898
abs. Proz.
1899
abs. Proz.
abs.
1900
Proz.
1901
abs. l“raz.
Reduktion der
Löhne . . .
43
15,65
17
10,43
21
8,17
22
u,34
24
12,00
21
8.24
43
8,52
25 ll.a
Unzufriedenheit
m. d. Löhnen
41
47,89
70
44,94
”3
43,97
81
41,75
95
47.50
115
45, ,o
134
48.8g
93 40.8
Unzufriedenheit
mit der Ar-
beitsdauer
15
10,20
22
'3,5°
59
22,96
36
18, ; 6
48
24,00
60
23,53
66
24.44
3* 16.7
Mifsliebige Vor-
gesetzte . .
11
7,48
9
5.54
20
7,78
14
7,42
16
8,00
io
3.92
5
1,85
iS 7,4
Entlassung von
Arbeitern . .
3*
21,77
26
15,95
33
1 2,84
31
15,80
3°
15,00
38
■4,90
3>
II, 48
34 14.9
Ueberwiegend u n g
eiernte
Arbeiter betrafen
1894
25
1898
55
'895
46
1899
56
1896
48
1900
33 und
1897
52
1901
42 Strikefallc.
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CI. Heifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 413
Davon entfielen auf die Hauptvcranlassungen
1894
1895
I896
1897
1898
1899
1900
1901
etiuktion der
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
l’roz.
abs.
Proz.
abs. Proz,
Lohne . . .
ruufriedenheit
—
2
4>35
7
«4.58
4
7.69
9
16,36
8
•4.29
3
9,09
3 7.1
m. d. Löhnen
nzufriedenheit
mit der Ar-
12
48,00
19
41.3°
26
54.17
35
67.31
29
5a»73
28
50,00
20
60,61
23 54,8
bcilsdauer
fifsliebige Vor-
4
16,00
9
•9.57
8
16,67
1 1
21,15
6
10,91
13
23.21
3
9,09
8 19,0
gesetzte . .
-Zulassung von
5
10,87
1
2,08
5
9,62
5
9.09
t
1.79
I
3.°3
1 2,4
Arbeitern . .
2
8,00
5
10,87
6
12,50
1
1.92
6
10,91
2
3.-7
5
5»!5
2 4,8
Die Unzufriedenheit mit den Löhnen trat häufig bei den über-
wiegend ungelernten Arbeitern, die Unzufriedenheit mit der Arbeitsdauer,
Entlassung von Arbeitern bei den gelernten Arbeitern als Strikeursache
hervor. Bei den Strikes mit überwiegend weiblichen Arbeitern, die wir
ihrer geringen Zahl wegen nicht besonders aufführen, spielte die Un-
zufriedenheit mit den Löhnen eine Hauptrolle.
Bei einer grofsen Zahl von Arbeitseinstellungen wird nicht blofs
ein Beweggrund als Veranlassung angeführt, sondern eine Mehrheit von
Motiven. Das Zusammenwirken dieser Motive einheitlich darzustellen
ist nicht einfach, weil die Kombinationen sehr vielseitig sind. In den
Publikationen ist sowohl das isolierte, wie das kombinierte Auftreten der
verschiedenartigsten Veranlassungen tabellarisch dargestellt. Jedoch sind
die früheren Veröffentlichungen mit denen von 1898 ab nicht ver-
gleichbar wegen des Hinzukommens des Bergbaus in letzterem Jahre,
und die Wiedergabe dieser kombinierten Tabelle auch nur fiir ein Jahr
würde zu viel Raum beanspruchen. Aus der Tabelle für 1898 ') ergiebt
sich, dafs „Reduktion der Löhne“ in 28 Fällen die alleinige Veranlassung
bildete, in 1 Falle erscheint sie mit „Behandlung der Arbeiter", „Unzu-
friedenheit mit der Arbeitsordnung“ und „anderen Veranlassungen" ver-
eint u. s. w. ; „Unzufriedenheit mit den Löhnen“ tritt in 65 Fällen als
alleinige Veranlassung auf, in 3 Fällen vereint mit „mifsliebige Vor-
gesetzte“, in 30 Fällen vereint mit „Unzufriedenheit mit der Arbeits-
dauer". Die weiter aufgeführten Veranlassungen sind unter Angabe der
Zahl ihres Vorkommens überhaupt: Lohnauszahlung (8), Verlängerung
der Arbeitsdaucr, auch durch Aufheben der Arbeitspausen (9), Unzu-
friedenheit mit der Arbeitsdauer (54), mifsliebige Vorgesetzte (21), Be-
handlung der Arbeiter (9), Entlassung von Arbeitern (36), Unzufrieden-
heit mit der Arbeits- bezw. Dienstordnung (20), Aufnahme neuer Ar-
l) Kür 1899, 1900 und 1901 fehlt in dem Qucllenwcrk leider die Kombina-
tionstabelle und es wird auf die Einzeldarstellung in der Tabelle V verwiesen.
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414
Miszellen.
beiter (i), Einführung der Akkordarbeit (6), Kürzung der Arbeitszeit (*'),
Unzufriedenheit mit der Verpflegung (r), Unzufriedenheit mit der zuge-
teilten Arbeit (i), mifsliebige Arbeiter (8), andere Strikes (5), andere
Veranlassung (14) bei insgesamt 255 Strikefällen.
Die Forderungen der Strikenden zerlegt die amtliche Statistik
in drei Hauptgruppen, je nachdem sie sich auf die Lohnhöhe, die Arbeits-
zeit oder andere Gegenstände beziehen. Lohnforderungen kamen im
Jahre zgor ebenso wie in den Vergleichsjahren 1894 bis 1900 am
häufigsten vor, nämlich bei 164 Arbeitseinstellungen mit 16535 striken-
den Arbeitern. Forderungen inbetreff der Arbeitszeit wurden bei 72
Ausständen mit 8652 strikenden Arbeitern gestellt. Unter den Lohn-
forderungen stehen die auf Erhöhung der Tagelöhne und Akkordsätze
wie in den Vorjahren obenan, indem diese Forderung im Jahre 1901
bei r 28 Ausständen von 13535 strikenden Arbeitern erhoben wurde.
Im Vergleich zur Gesamtheit der Ausstände des betreffenden Jahres er-
giebt sich das Auftreten dieser Forderung 1894 bei 54,65 Proz., 1S95
bei 51,20 Proz., Z896 bei 56,72 Proz., 1897 bei 56,10 Proz., 1898 bei
54,90 Proz., Z899 bei 57,88 Proz., Z900 bei 60,73 und >901 bei
47,4 Proz. aller Strikes. Insgesamt wurde diese Forderung in r 145 von
2071 Ausständen der 8 Jahre gestellt, das ist in 55,3 Proz. aller Fälle.
Von den übrigen Lohnforderungen tritt nur noch die Forderung der
Aufrechterhaltung der bestehenden Löhne, sowie der Bezahlung der
Feiertage, höhere Bezahlung der Ueberstunden u. s. w. hervor. Erstere
wurde im Jahre zgor 28mal von 2 4t 5 strikenden Arbeitern, die zweite
Forderung Z4mal von z 891 strikenden Arbeitern gestellt
Unter den Forderungen betreffend die Arbeitszeit ist die auf Kürzung
der täglichen Arbeitszeit abzielende die häufigste. Sie wurde im Jahre
1901 61 mal von 7117 strikenden Arbeitern gestellt, das ist bei 22,6
Proz. aller Strikes gegen 32,7 Proz. im Jahre 1900 33,76 Proz. im
Jahre 1899 25'9° Proz. im Jahre T898, 23,58 Proz. im Jahre 1897,
31,48 Proz. im Jahre 1896, 24,88 Proz. im Jahre 1895 und 26,74 Proz.
im Jahre 1894. In allen 8 Jahren wurde diese Forderung in 583 Aus-
ständen erhoben, das ist bei 28, r Proz. aller Strikes. Daneben tritt
die Forderung der Kürzung der täglichen Arbeitszeit an Samstagen
oder Montagen, sowie die Forderung der Aufrechterhaltung der be-
stehenden Arbeitszeit häufiger hervor, und zwar im Jahre Z901 erstere
6 mal mit r 185 strikenden Arbeitern, letztere 5 mal mit 2497 strikenden
Arbeitern.
Von der dritten Gruppe der Forderungen machen sich jene, welche
die Dienst- bezw. die Arbeitsordnung und die Wiederaufnahme ent-
lassener Arbeiter betreffen, am meisten bemerkbar, erstere wurde im
Jahre lgoi 51 mal von 7240 strikenden Arbeitern, d. i. bei 18,9 Proz.
aller Strikes, letztere 37 mal von r 822 strikenden Arbeitern, d. i. bei
13,7 Proz. aller Strikes erhoben.
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Cl.Heifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894—1901. 41 j
Nach Prozenten der Arbeitseinstellungen des betreffenden Gewerbe-
zweiges waren im Jahre 1901 die Forderungen der Erhöhung der Schichten-,
Tagelöhne oder Akkordsätze besonders häufig im Verkehrswesen mit
100 Proz., bei der chemischen Industrie mit 80,0, der Erzeugung von Ma-
schinen u. s. w. mit 66,7, der Textilindustrie mit 60,7, der Nahrungs- und
Genufsmittelindustrie mit 61,5, dem Baugewerbe mit 58,3, der Industrie
in Steinen, Erden, Thon und Glas mit 55,2 und der Bekleidungs- und
Putzwarenindustrie mit 53,6 Proz. Diese Forderungen waren verhältnis-
mäfsig selten in der Papierindustrie mit 37,5 Proz., in Zentralanlagen
für Kraftlieferung, Beheizung und Beleuchtung mit 33,3 Proz. und
Metallverarbeitung mit 9,1 Proz. In der Gast- und Schankwirtschaft,
im graphischen Gewerbe und im Handel wurden sie überhaupt nicht
erhoben.
Um Aufrechterhaltung der bestehenden Löhne wurde gekämpft in
der Papierindustrie in 100 Proz., in der Metallverarbeitung in 36,4 Proz.,
in den Zentralanlagen für Kraftlieferungen und Beleuchtung in 33,3 Proz.,
in der Bekleidungs- und Putzwarenindustrie in 21,4 Proz., in der In-
dustrie in Holz- und Schnitzwaren und Kautschuk in 11,1 Proz., in der
Textilindustrie in 10,7 Proz., in der Industrie in Steinen, Erden, Thon
und Glas in 6,9 Proz., während die chemische Industrie, das Bau-
gewerbe, sowie der Handel und das Verkehrswesen, die Industrie in
Leder, Häuten, Borsten, Haaren und Federn, die Erzeugung von Ma-
schinen, Apparaten u. s. w., die Industrie in Nahrungs- und Genufs-
initteln und die graphischen Gewerbe überhaupt nicht um diese Forde-
rung kämpften.
Für die Aufrechterhaltung der bestehenden Arbeitszeit war nur in
wenigen Industriezweigen zu kämpfen, nämlich bei der Industrie in
Holz- und Schnitzwaren und Kautschuk mit 7,4 Proz., beim Bergbau mit
5,0 Proz., im Baugewerbe mit 4,2 Proz., sowie in der Industrie in Steinen,
Erden, Thon und Glas mit 3,4 Proz. Am zahlreichsten waren dagegen
unter den auf die Arbeitszeit gerichteten Forderungen diejenigen, die ihre
Kürzung bezweckten. Am häufigsten wurde diese Forderung erhoben in
der Industrie in Nahrungs- und Genufsmitteln in 76,9 Proz. aller Strike-
fälle; es folgen die Papierindustrie mit 37,5, die Bekleidungs- und Putz-
warenindustrie mit 35,7, das Baugewerbe und die Zentralanlagen für
Kraftlieferung, Beheizung und Beleuchtung mit je 33,3, die Industrie in
Holz- und Schnitzwaren und Kautschuk mit 25,9, in Leder, Häuten,
Borsten, Haaren und Federn mit 25,0, die Industrie in Steinen, Erden,
Thon und Glas mit 20,7, die Metallverarbeitung mit 18,2, der Bergbau
mit 12,5, die graphischen Gewerbe mit 9,1 und die Erzeugung von
Maschinen, Apparaten, Instrumenten und Transportmitteln mit 6,7 Proz.
Gar nicht wurde die Forderung erhoben bei der chemischen Industrie
und den anderen Gewerben, im graphischen Gewerbe, im Gast- und
Schankgewerbe, sowie im Handels- und Verkehrswesen. Verhältnismäfsig
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Miszellen.
416
selten wurde auch die Abschaffung oder Beschränkung von Sonn- und
Feiertagsarbeit gefordert, nämlich in der Industrie in Nahrungs- und
Genufsmitteln in 7,7 Proz., in der Bekleidungs- und Putzwarenindustrie
in 7,1 Proz., und im Bergbau in 5,0 Proz., während diese Forderung
in allen übrigen Industriezweigen überhaupt nicht erhoben wurde. In
sehr zahlreichen Industriezweigen wurden Forderungen erhoben, die sich
auf die Dienst- oder Arbeitsordnung, auf Vorkehrungen an den Arbeits-
räumen oder Arbeiterwohnungen bezogen oder die Entfernung von Vor-
gesetzten, die Wiederaufnahme Entlassener, Nichtentlassung von Striken-
den, die Entlassung von Strikebrechem und mifsliebigen Arbeitern und
die Anerkennung oder Einsetzung von Arbeitervertretungen oder Ver-
trauensmännern verlangten. Die Freigabe des 1. Mai wurde nur in
10,7 Proz. der Strikes der Textilindustrie, in 13,3 Proz. der Erzeugung
von Maschinen, Apparaten, Instrumenten und Transportmitteln, in 1 2,5 Proz.
der Industrie in Leder, Häuten, Borsten, Haaren und Federn und in
2,5 Proz. des Bergbaues gefordert. Die Einführung der Akkordarbeit wurde,
was als Unikum erwähnt werden mag, im Jahre 1898 in 3,70 Strikefällen
der Industrie in Steinen u. s. w. und in 16,67 Proz. der graphischen Ge-
werbe verlangt, während die auf Abschaffung der Akkordarbeit gerichtete
Forderung weit häufiger hervortrat. ')
Auf Grofs- und Kleinbetriebe verteilten sich die Hauptforderungen
folgendermafsen :
I. Nur Grofsbetriebe betrafen 1894 139, 1895 153, 1896 204,
1897 186, 1898 185, 1899 250, 1900 215 und 1901 214 Strikes. Davon
entfielen :
1894
1895
«
896
1897
1898
1899
1900
1901
auf abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs. Prw
Aufrechterhaltg.
d. bestehenden
Löhne . . .16
11, 5‘
17
ll,l 1
21
10,29
17
9.14
26
14.05
28
1 1.20
17
791
26
12..
Erhöhung der
Schichtenlöhnc
od. Akkordsätze 72
51.80
76
4967
1 1 1
54,4 >
104
55,91
88
47.57
143
57,20
141
66.58
99
4*;
Aufrechterhaltg.
d. bestehenden
Arbeitszeit . . 6
4.32
4
2,61
5
2,45
3
1.61
5
2,70
7
2,80
4
1,86
3
m
Kürzung der täg-
lich. Arl>eitszeit 32
23.02
*7
1 7.65
25.49
35
18,82
3'
16,76
74
29,60
62
28,84
43
201
Die Arbeitsord-
nungbetreffend 32
23,02
40
26,14
47
23.04
44
23.66
40
21.62
64
25,60
49
22.79
46
21.«
Wiederauf-
nahme entlass.
Arbeiter . . 28
20,14
29
18,95
3i
15,20
26
1398
30
16, 22
35
■4.00
23
10,70
27
irt
*) Für 1900 fehlen die bezüglichen Yerhiiltniszahlen.
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CI. Heils, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1 894 —1901. 417
II. Nur den Kleinbetrieb betrafen 1894 27, 1895 44, 1896 73,
1897 50, 1898 52, 1899 53, 1900 77 und 1901 47 Strikes. Davon kamen
1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1001
auf abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
aks.
Proz.
abs.
Proz.
abs. Proz.
if rechte rhaltg.
L bestehenden
-ohne .
4
14,82
4
9.09
4
5,48
2
4,00
s
9,62
2
3.77
6
7,79
2
4,3
ikihung der
xhichten-,
agelöhne oder
Akkordsätze .
>7
62,96
*4
54,55
46
63,01
30
60,00
39
75,0°
33
62,26
34
44,16
22
46,8
ofrechtrrhaltg.
L bestehenden
Arbeitszeit .
I
3.70
I
l,3o
3
6,4
ürzung der täg-
ikh. .Arbeitszeit
9
33.33
19
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29
39,73
19
38,00
21
40,39
25
47,17
31
40,26
16
34,0
*ie Arbeitsord-
nung betreffend
3
I IyX I
3
6.82
4
5,48
7
14,00
5
9,62
8
15,09
IO
12,99
5
10,6
Wiederauf-
nahme entlass.
Arbeiter ...
I
3.70
3
6,82
7
9,59
5
10,00
4
7,69
$
11,32
5
6,49
8
17,0
Hieraus
ergiebt -sich,
dafs
die
Forderung
der
Kürzung der
täg-
liehen Arbeitszeit bei den Kleinbetriebe betreffenden Ausständen im Ver-
hältnis viel häufiger vorkommt, als bei den nur Grofsbetriebe berührenden,
während bei den letzteren wiederum wesentlich öfter Fragen der Lohn-
erhöhung und namentlich der Aufrechterhaltung der bestehenden Löhne
sowie der Arbeitsordnung oder der Wiederaufnahme entlassener Arbeiter
den Gegenstand der Forderungen bildeten.
Strikes mit überwiegend gelernten Arbeitern kamen vor 1894
147, 1895 163, 1896 257, 1897 194, 1898 200, 1899 255, 1900 270
und 1901 228. Davon entfielen
1894
1895
1896
1897
1898
1899
I900
1901
auf abs.
Aufrechterhaltg.
bestehenden
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs. Proz.
höhne . . .21
trhohung der
Schichten-,
Tagelöhne oder
14,29
17
10.43
19
7,39
17
8,76
23
1 1,50
21
8,24
21
7,78
25
1 1,0
Akkordsätze . 75
■Aufrechterhaltg.
d. bestehenden
51,02
85
52,15
140
54.47
99
5i,o3
107
53,50
152
59,61
l6l
59,63
105
46,1
Arbeitszeit . . 6
Kürzung der tag-
4,08
2
1,23
4
1,56
3
1.55
I
0,50
5
1,96
5
1,85
6
2,6
lich. Arbeitszeit 38
^ Tbesserung d.
25,85
37
22,70
84
32,68
46
23,71
59
29,50
91
35.69
92
34,07
53
23,2
•Arbeitsordnung 31
AVitderauf-
nähme entlass.
21,08
37
22,70
5«
19,84
37
19,07
45
22,50
66
25,88
57
21,11
40
17,5
^beiter. . . 25 17,01 26 15,95 34 13,23 29
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVIU.
14,95
28
24,00
39
15.29
27
26
9,63
34
14.9
Digitized by Google
418
Miszellen.
Strikes mit überwiegend ungelernten Arbeitern kamen vor 1894
*5. 1895 46, 1896 48, 1897 5a, 1898 55, 1899 56, 1900 33 und
1901 42. Davon entfielen
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
1901
auf
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs.
Proz.
abs. Pr
Aufrechterhaltg.
d. bestehenden
Löhne . . .
4
8,70
6
12,50
3
5»77
8
14.55
9
16,07
3
9.09
3
Erhöhung der
Schichten-,
Tagelöhne oder
Akkordsätze .
*9
76,00
22
47, *3
32
66,67
39
75.°°
33
60,00
28
50,00
23
69.70
*3
Aufrechterhaltg.
d. bestehenden
Arbeitszeit . .
1
4.00
2
4,35
1
2,08
4
7,27
2
3.57
Kürzung der täg-
lich. Arbeitszeit
8
32.00
*5
32,61
12
25,00
12
23.08
7
'2,73
14
25,00
7
21,21
8
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Verbesserung d.
Arbeitsordnung
4
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9
19.57
5
10,42
*7
32,69
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10
17.86
5
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11
26 1
Wiederauf-
nahme entlass.
Arbeiter . . .
4
16,00
7
15.22
4
8.33
2
3,85
6
10,91
2
357
4
12,12
3
7.1
Bei den Strikes mit überwiegend ungelernten Arbeitern treten die
Forderungen um Aufrechterhaltung der bestehenden Arbeitszeit und Löhne
und „Wiederaufnahme entlassener Arbeiter“, bei den Strikes mit über-
wiegend gelernten Arbeitern ebenfalls die beiden ersten Forderungen zu-
rück, während hier der letzten Forderung eine gröfsere Bedeutung zukommt.
Hinsichtlich der Erfolge der Sinkenden giebt das amtliche
Quellenwerk (S. 43) für die Jahre 1894 — 1898 folgende vergleichende
Zusammenstellung.
(Siehe die Uebersicht auf S. 4 19.)
Aus dieser Zusammenstellung ist zu entnehmen, dafs die Prozentzahl
der Strikes mit vollem Erfolg die Prozente der auf sie entfallenden
strikenden Arbeiter regelmäfsig beträchtlich übersteigt, dafs also diese
Strikes durchschnittlich nur geringen Umfang hatten. Nur im Jahre
1897 wird die Differenz relativ klein und es ist dieses Jahr in dieser
Hinsicht für die strikenden Arbeiter das günstigste. Daraus jedoch, dafs
im günstigsten Falle nur 20,1 Proz. aller strikenden Arbeiter einen
vollen Erfolg erzielten, schliefsen zu wollen, die Strikes würden in der
weitaus überwiegenden Mehrzahl zu Ungunsten der Arbeiter ausfallen, wäre
ganz verfehlt. Denn bei gröfseren Arbeitseinstellungen ist doch der
regclmäfsige Verlauf der, dafs die Arbeiter gewisse Forderungen auf-
stellen und dafs nach einer gewissen Zeit im Wege des Vergleichs eine
Einigung zustande kommt. Der Fall, dafs die eine oder andere der
streitenden Parteien vollständig unterliegt, ist doch verhältnismäfsig selten.
Recht ungünstig erscheinen die Strikeergebnisse für die Arbeiter, wenn
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CI. Hcifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1S94 1901. ^ IQ
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') mit strikendon *\rbeitcrn. 2) ütrikenden Arbeiter.
420
Miszellen.
wir die Strikes ohne Erfolg ins Auge fassen, im Jahre 1894, insofern in
diesem Jahre 53,54 Proz. aller strikenden Arbeiter keinen Erfolg hatten.
Die Verhältnisse haben sich dann aber in den folgenden Jahren wesent-
lich gebessert: 1895 fiel die Prozentzahl auf 26,50, stieg dann allerdings
im folgenden Jahre wieder auf 32,60 und im nächstfolgenden auf 36,50,
fiel aber im Jahre 1898 auf 25,18 Proz., 1899 auf 17,80 Proz. und
erreichte 1900 mit 9,81 Proz. den niedrigsten Stand, um allerdings im
letzten Berichtsjahr wieder auf einen mittleren Satz von 32,1 Proz. zu
steigen. Um auf eine gewisse Tendenz oder Gesetzmäfsigkeit schliefsen
zu können, dazu ist der Beobachtungszeitraum allerdings zu kurz, wie-
wohl es nicht unwahrscheinlich ist, dafs mit der weiteren Verbreitung
und Erstarkung der Arbeiterorganisationen die gänzlich erfolglosen Strikes
seltener werden werden. Denn solche Organisationen sind vorsichtiger
bei der Erklärung von Strikes und widerstandsfähiger bei ihrer Durch-
führung.
Schwieriger ist die Frage, welcher Partei die Strikes mit teilweisein
Erfolge zu gut zu schreiben sind. Das Einfachste wäre zu halbieren.
Dies würde jedoch nicht das Richtige treffen. Denn wenn die Arbeiter
auch nur eine ganz nebensächliche ihrer oft sehr zahlreichen Forderungen
haben fallen lassen, ist der Strike unter denjenigen mit teilweisem Erfolge
zu verrechnen, während er doch ganz überwiegend zu gunsten der Ar-
beiter ausgefallen ist. Da in der Statistik die Forderungen der Striken-
den nachgewiesen werden, so wäre eine Lösung des Problems darin zu
finden, dafs man als überwiegend zu gunsten der Arbeiter ausgefallene
Strikes alle diejenigen ausscheiden würde, bei denen die Hauptforde-
rungen der Strikenden ganz oder zum gröfseren Teile erfüllt worden sind.
Hierbei macht sich aber die Schwierigkeit geltend, im einzelnen Falle
unter den verschiedenen Forderungen die Hauptforderungen zu ermitteln.
Soweit hierbei psychologische Momente in Betracht kommen, entzieht
sich eine solche Untersuchung der Statistik. Soweit es sich jedoch um
materielle Gesichtspunkte handelt, können wir die von der amtlichen
Statistik ausgeschiedenen, von uns oben mitgeteilten auf die Lohnhöhe
und die Arbeitszeit bezüglichen Fordeningen als solche Hauptforderungen
gelten lassen. Da nun die teilweisen Erfolge der Strikenden bezüglich
dieser Forderungen ganz erheblich überwiegen , können wir von den
Strikes mit teilweisem F.rfolge zunächst annehmen, dafs sie überwiegend
zu gunsten der Arbeiter ausgefallen sind. Eine Lohnerhöhung oder eine
Arbeitszeitverkürzung kann nun aber auch wiederum ganz oder — was
wohl die Mehrzahl der Fälle bilden wird — auch nur teilweise gewährt
werden. Doch wollte man auch diese Fälle weiter unterscheiden, so
würden gar oft die Hilfsmittel der Statistik nicht mehr ausreichen. Man
denke nur an einen komplizierten Lohntarif in einer Buchdruckerei oder
Porzellanfabrik! Wir wollen deshalb der österreichischen Statistik keinen
Vorwurf daraus machen, dafs sie ihre Untersuchungen nicht auch auf
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CI. Heils, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 42I
diese Detailfragen ausgedehnt hat. An sich ist die Sache ja auch von
untergeordneter Bedeutung. Denn wie die gemäfsigtcn Komschutzzöllner
behaupten, die Komzölle hätten nicht die Aufgabe, die Kornpreise zu
erhöhen, sondern eine weitergehende, die einheimische Landwirtschaft
gefährdende Verbilligung der Getreidepreise zu verhüten, so ist u. E.
die nachhaltige Wirkung des Strikes die, dafs sie eine weitere Ver-
schlechterung der Arbeitsbedingungen verhüten, wenn sie auch den aus-
gesprochenen Zweck verfolgen, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen
herbeizuführen. Gar mancher erfolglose Strike hat wenigstens für die
gleichartigen Betriebe, die vom Strike verschont geblieben sind, diese
Wirkung gehabt.
Um zu sehen, in welchem Umfang solche Forderungen der Arbeiter,
die sich nicht auf die Lohnhöhe oder Arbeitszeit beziehen, bei denen
also mehr jene psychologischen Momente mitspielen, in Betracht kommen,
wollen wir aus den Nachweisungen für das Jahr 1901 diejenigen heraus-
heben, bei denen das Klassenbewufstsein der Arbeiter das Hauptmotiv
bildet. Im genannten Jahre wurde die Entfernung von Vorgesetzten
27 mal von 4451 Arbeitern gefordert, 7 mal vollständig bewilligt
und 20 mal abgelehnt. Die Wiederaufnahme Entlassener wurde 37 mal
von 1822 Arbeitern gefordert, 9 mal vollständig, 2 mal teilweise be-
willigt und 26 mal abgewiesen. Nichtentlassung von Strikenden wurde
23 ntal von 3667 Arbeitern gefordert, 16 mal vollständig, 1 mal teilweise
bewilligt und 6 mal abgewiesen. Die Entlassung von Strikebrechem
und mifsliebigen Arbeitern wurde 13 mal von 1417 Arbeitern gefordert,
2 mal vollständig, 1 mal teilweise bewilligt und jo mal abgewiesen. Die
Freigabe des 1. Mai wurde 7 mal von 766 Arbeitern gefordert, 1 mal
bewilligt und 6 mal abgelehnt. Die Anerkennung oder Einsetzung von
Arbeitervertretungen bezw. Vertrauensmännern wurde 7 mal von 635
Arbeitern gefordert, 5 mal vollständig, 1 mal teilweise bewilligt und 1 mal
abgelehnt.
Von besonderem Einflufs auf die Erfolge der Strikes waren die
Wiener Arbeitseinstellungen. Im Jahre 1894 hatten die Wiener Strikes
zwar eine bedeutende Ausdehnung, aber wenig Erfolg ; hingegen weist
1895, wieder durch die Wiener Strikeresultate beeinflufst, hinsichtlich der
Erfolge ein für die Strikenden günstiges Ergebnis auf. 1896 waren die
Strikes in Wien wieder zahlreicher, der Erfolg jedoch geringer. 1897
sind in Wien weniger Ausstände vorgefallen, die durchschnittlich be-
deutendsten entfallen auf die Gruppe der teilweise erfolgreichen. Im
Jahre 1898 sind in Wien um 6 Ausstände mehr als im Jahre 1897
vorgcfallcn; die Zahl der gänzlich erfolglosen ist jedoch in beiden
Jahren gleich. Im Jahr 1899 verringerte sich die Zahl der Wiener
Strikes wiederum um 6 {von 52 auf 46), erreichte aber 1900 wieder die
gleiche Zahl w'ie 1898. Die Zahl der erfolglosen Strikes war hier
1900 (21) am geringsten, die der Strikes mit vollem Erfolg am gröfsten.
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') Vgl. Auch oben die Tabelle S. 419.
422
Miszellen.
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Im Jahre 19ÖI ist die Zahl der in Wien vorgekomnienen Strikes gleich jener des Jahres 1900, der von
den Sinkenden erzielte Erfolg ist jedoch gegen das Vorjahr zurückgegangen.
Kür das ganze übrige Staatsgebiet (exklusive Wien) erhält man folgendes Verhältnis:
Es endeten
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424
Miszellen.
Die ungünstigsten Resultate für die Strikenden weisen hiernach die
Industrie in Holz- und Schnitzwaren und Kautschuk und das Baugewerbe
im Jahre 1894 und die Textilindustrie im Jahre 1897 auf. Dieser
letztere Mifserfolg ist besonders auf die grofse Arbeitseinstellung im
Aupathale zurückzuführen. Die günstigsten Resultate weist hinsichtlich
der Zahl der erfolglos Strikenden die Industrie in Steinen, Erden, Thon
und Glas auf.
Vergleicht man die Erfolge der Ausstandsbewegung des Jahres 1901
mit den Durchschnittserfolgen des ganzen Zeitraums 1894 — 1901, so
zeigt sich, dafs in dem Zeitraum von 1894 — 1901 insgesamt 2071 Strikes
gezählt wurden, von welchen 419 mit vollem, 871 ohne und 781 mit
teilweisem Erfolg der Ausständigen endeten ; von den in diesem Zeit-
raum im ganzen strikenden 424833 Arbeitern kommen 37689 auf die
Ausstände mit vollem Erfolge, 1 17 154 auf die erfolglosen und 269900
auf die Ausstände mit teilweisem Erfolg. Es entfallen also auf die
Ausstände
1894 — 1901 1901
Proz.
Proz. der
Proz.
Proz. der
der
strikenden
der
strikenden
Fälle
Arbeiter
Fälle
Arbeiter
mit vollem Erfolg . . .
20,3
8,9
20,7
20,1
ohne Erfolg
42,1
*7.5
43.o
32,1
mit teilweisem Erfolg . .
37.6
63,6
36.3
47,8
Das Jahr 1901 entspricht demnach, was die Zahl der Fälle anlangt,
fast genau dem Durchschnitt. Rücksichtlich der strikenden Arbeiterschaft
überragt es bedeutend den Durchschnitt in der ersten Kategorie, d. i.
beim vollen Erfolg, ist auch noch höher bei den Strikes ohne Erfolg
und bleibt bei den Ausständen mit teilweisem Erfolge erheblich hinter
dem Durchschnitt zurück.
Von ganz besonderem Interesse ist die Frage, ob der Grad der
Vollständigkeit der Beteiligung an einer Arbeitseinstellung für den
Erfolg der Strikenden von Einflufs ist. Dieser Frage widmet die amt-
liche Statistik eine ausführliche Tabelle (IV E. S. 1 1 2 ff ), in der I. für die
Einzelstrikes, II. für Gruppenstrikes und III. für die Einzel- und Gruppen-
strikes die unvollständigen und alle Strikes für die Jahre 1894 — 1901
nach der Anzahl der Fälle und der strikenden Arbeiter insgesamt und
dann gegliedert in solche mit vollem, teilweisem und ohne Erfolg je
wieder nach der Anzahl der Fälle und beteiligten Arbeiter unter Angabe
des l’rozentverhältnisses nachgewiesen werden. In den drei Hauptkate-
gorieen (Einzel-, Gruppen- und Einzel- und Grup]>enstrikes) werden die
unvollständigen Strikes wieder gegliedert in solche, '
a) bei denen die Zahl der gezwungen Feiernden gleich ist der
Zahl der nicht strikenden Arbeiter, und andere
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CI. Hcifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 425
b) mit einzelnen vollständig strikenden Arbeiterkategorieen und
andere
c) sich den vollständigen nähernde und andere.
Unter den sub c) angeführten werden solche Ausstände verstanden,
bei denen die Zahl der gezwungen Feiernden gleich ist der Zahl der
nicht strikenden Arbeiter, oder bei denen einzelne Arbeiterkategorieen
vollständig strikten oder (bei Gruppenstrikes) auch nur in einzelnen Be-
trieben der Ausstand ein vollständiger war.1) Das Schlufsergebnis dieser
umfangreichen Tabelle ist, dafs von den vollständigen Strikes endeten :
Mit vollem Erfolg Mit teilweisem Erfolg Ohne Erfolg d. Strikenden
Proz.
mit Proz.
Proz.
mit Proz.
Proz.
mit Proz.
der
der strikenden
der
der strikenden
der
der strikenden
Fälle
Arbeiter
Fälle
Arbeiter
Fälle
Arbeiter
1894
59.26
81,5«
25.93
16,64
14,81
1,85
1895
58,62
39.85
20,70
41,55
20,68
18,60
1896
23,73
6,38
40,68
58,61
35,59
35.0'
1897
3°.44
56,18
32,61
26,81
36.95
17,01
1 898
22,22
8,92
51,11
72.85
26,67
18,23
1899
21,82
12,51
50.91
67,91
27.27
>9.58
1900
17.78
2.73
51.11
70.50
31.1t
26,77
1901
34,1
37,7
50,0
55-4
>5.9
6,6
Von den unvollständigen Strikes dagegen endeten:
Mit
vollem Erfolg
Mit teilweisem Erfolg
( )hne
Erfolg
Proz.
mit Proz.
Proz.
mit Proz.
Proz.
mit Proz.
der
der strikenden
der
der strikenden
der
der strikenden
Fülle
Arbeiter
Fälle
Arbeiter
Fälle
Arbeiter
1894
18,62
3i95
28,28
38,79
53-1°
57,26
1895
21,66
10,64
25-56
62,23
52,78
27, «3
1896
20,33
4.33
35,36
63,43
44,3'
32.24
1897
■4,5°
9.34
38,00
51,10
47,5°
39.56
1898
18,09
8,17
39,05
64,34
42,86
27.46
1899
14,06
9.80
43.75
72,72
42,19
17,48
1900
20.54
4,82
43,80
86.86
35-66
8,32
1901
18,2
>5.4
33,6
45,8
48,2
38,8
*) Diese Erklärung der den vollständigen sich nähernden Strikes wird in Anm. 1
S. 112 ff. gegeben. Hiernach — wenn die in der Anmerkung gegebene Definition
genau wäre — mufs c = a -f- b sein, was aber durchweg mit den aufgefiihrten
Zahlen nicht stimmt. Der Widerspruch ist auch im einleitenden Text nicht gelöst.
Es ist also aus dem vorliegenden Material nicht mit Sicherheit festzustellcn. was unter
„sich den vollständigen nähernden" Strikes zu verstehen ist.
Zur Aufklärung dieser dunklen Stelle sei aus dem einleitenden Text S. 32
folgender Satz wörtlich angeführt : „Etwas Aehnliches, jedoch in geringerem Mafse
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426
Miszellen.
Wie nicht anders zu erwarten, gestalten sich die Ergebnisse bei den
vollständigen Strikes ganz wesentlich günstiger flir die Strikenden. Hinsicht-
lich der erfolglosen Strikes waren die Jahre 1894 und 1901 die günstigsten,
1896 das ungünstigste flir die vollständigen Strikes, während die übrigen 5
Jahre nur geringe Abweichungen von einander zeigen. Flir die unvoll-
ständigen Strikes dagegen waren die ungünstigsten Jahre bei weitem
1894 und dann 1897 und 1896, während 1899 und 1900 die beiden
günstigsten Jahre für die strikenden Arbeiter waren.
Hinsichtlich der an unvollständigen Einzel- und Gruppenstrikes be-
teiligten Arbeiter ergeben sich folgende Prozentzahlen für die erfolg-
losen Strikes:
a) bei denen die Zahl
der gezwungen Feiern-
den gleich ist der Zahl
der nicht strikenden
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
1901
Arbeiter
20,05
12,84
5,20
14,47
21,34
1,29
36,62
26,0
andere
b) mit einzelnen vollstän-
dig strikend. Arbeiter-
kategorieen oder voll-
ständigem Ausstande
60,47
28,80
34,15
46,19
30.74
20.52
5,66
42,7
in einzelnen Betrieben
69,09
22,06
37.68
39,87
21,73
16,12
15,18
33.3
andere
c) sich den vollständig
25.96
40,91
29,69
40,38
42JO
20,85
2,68
46,4
nähernden ....
69,09
22,99
37,66
39.22
25.43
14,97
15,12
31,1
andere
25,96
39,04
29,54
40,35
37.5°
26.31
2,56
52.5
In der Rubrik a) sind die Resultate flir die Strikenden bei Aus-
ständen, bei denen die Zahl der gezwungen Feiernden gleich ist der Zahl
der nicht strikenden Arbeiter fast durchweg günstiger als bei den anderen
Strikes. In der Rubrik b) sind die Resultate bei den Strikes mit einzelnen
vollständig strikenden Arbeiterkategorieen oder vollständigem Ausstande
in einzelnen betrieben nur in den Jahren 1894, 1896 und 1000 für die
gilt auch, wenn man die Ausstände mit vollständig stinkender Arbeiterkategorie
oder mit vollständigem Strike in einzelnen Betrieben (also b), dann die in den Ta-
bellen der Kürze halber als sich den vollständigen nähernde Strikes bezeichnten
Ausstände (das ist jene, bei welchen sich auch nur einer der früher genannten Um-
stände — Unterbrechung der Arbeit aller nicht selbst strikenden Arbeiter (wohl a)
und vollständiger Ausstand wenigstens einer Arbeiterkategorie oder in einzelnen Be-
trieben — ergab) mit den übrigen vollständigen Strikes vergleicht.“ Hiernach wären
unter a) alle Strikes aufgeführt, bei denen sich die Unterbrechung der Arbeit aller
nicht selbst strikenden Arbeiter ergab, was aus dem Text der Tabelle nicht ersicht-
lich ist. Es scheint hier ein Fehler unterlaufen zu sein. Die ganze S. 32 und die
erste Hälfte der S. 33 der Einleitung ist im Vergleich mit den Tabellen unver-
ständlich.
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<1. Heifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1S94 — 1901.
Strikenden ungünstiger als bei anderen Strikes. . Die rätselhafte Rubrik c)
verläuft in dieser Hinsicht parallell mit der Rubrik b).
Die Erfolge der Strikes hinsichtlich ihrer Dauer, des Geschlechtes
der beteiligten Arbeiter, ob es gelernte oder ungelernte Arbeiter waren,
weiter zu untersuchen bietet im vorliegenden Falle wenig Interesse.
Erwähnung dagegen verdient, dafs die Strikes mit Intervention von Ar-
beitervertretungen bei den Fällen ohne Erfolg mit stark unterdurch-
schnittlichen Ziffern vertreten sind, also für die Arbeiter weit günstiger
verliefen als solche ohne solche Interventionen. Der Ausgang der Ab-
wehrstrikes stellt sich wesentlich günstiger dar als jener der Angriffs-
strikes; die Ausstände, die nur Grofsbetriebe betrafen, endeten für die
Strikenden häufiger ungünstig, als die nur oder auch Kleinbetriebe be-
rührenden Ausstände.
Ueber das Schicksal der ausständigen Arbeiter nach Beendigung
des Strikes giebt nachstehende Uebersicht Auskunft.
(Siehe die Uebersicht auf S. 428.)
„Diese Tabelle schliefst freilich eine kleine Ungenauigkeit in sich“,
bemerkt hierzu der amtliche Bericht S. 35, „indem Gruppenstrikes vor-
kamen, bei denen die Arbeiterschaft in einigen Betrieben etwas, in anderen
gar nichts erreichte : weil aber nicht immer bekannt ist, wie viele Ar-
beiter auf den ersteren Teil und wie viele auf den letzteren kommen,
so erscheinen alle Teilnehmer an diesen Ausständen unter die Gruppe
b'i eingereiht. Wenn aber auch genaue Daten über diese Fälle vorlägen,
so könnte sich keineswegs das Endresultat der Berechnung wesentlich
ändern. Leider ist es nicht möglich, in dieser Darstellung die ver-
schiedenen Arbeiterkategorieen getrennt zu behandeln, weil über die
entlassenen und sonstwie ausgeschiedenen Arbeiter nur summarische An-
gaben vorliegen.“
Auf die Frage, wie oft die einzelnen Forderungen während des
ganzen Zeitraums von 1894 — 1901 Erfolg hatten und namentlich wie
vielen Arbeitern dieser Erfolg zu gute kam, giebt uns die vorliegende
Statistik leider keine Antwort. Sie fuhrt die einzelnen Forderungen für
die einzelnen Jahre auf, gegliedert danach, ob sie in Einzel- oder Gruppen-
strikes erhoben wurden, kombiniert sie aber nicht mit dem Erfolge. In
dieser Hinsicht sind wir auf die alte vage Unterscheidung zwischen An-
griffs- und Abwehrstrikes angewiesen und auch die Wiedergabe dieser
Zahlen verlohnt sich nicht, da sie sich nur auf die StrikefÜlle und nicht
auf die Zahl der strikenden Arbeiter beziehen. Eine Ergänzung der
Daten der früheren Jahre durch Hinzurechnung der Strikeergebnisse für
den Bergbau ist leider auch nicht möglich, da in dem vorhandenen
Material die Zahl der Arbeiter, die an dem Erfolge beteiligt waren, nicht
nachgewiesen ist und eine blofse Nachweisung der Strikefälle die Mühe
der Berechnung kaum lohnt.
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428
Miszellen.
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Von den strikenden Arbeitern
CI. Heifs, Dir Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 429
Die folgende Uebersicht über die Hauptforderungen der Strikenden
(s. oben S. 4 1 4 ff.) bezieht sich daher für die Jahre 1894 — 1897 nur auf
die Gewerbebetriebe, während sie 1898 auch den Bergbau mitumfafst.
(Siehe die Uebersicht auf S. 430 u. 431.)
Die auf Erhöhung des Lohnes und Verkürzung der Arbeitszeit ge-
richteten Forderungen überwiegen weitaus alle anderen an Bedeutung.
Während aber die Bedeutung der auf Erhöhung der Löhne gerichteten
Forderungen mit Ausnahme der Jahre 1896, 1899 und 1901 in stetiger
Zunahme begriffen ist, trifft bei der auf Verkürzung der Arbeitszeit ge-
richteten für die Zeit von 1894 — 1898 das Gegenteil zu. In den
beiden letzten Jahren gewinnt aber diese Forderung wieder überwiegende
Bedeutung und erreicht 1900 den höchsten Stand in der ganzen Beob-
achtungsperiode, um dann aber im letzten Jahre auf den tiefsten Stand
zurückzusinken. Besonders günstig war das Bestreben der Strikenden nach
Lohnerhöhung in den Jahren 1901, 1900, 1898, 1899, 1895 und 1896, be-
sonders ungünstig in den Jahren 1894 und 1897. Dagegen hatten die
Strikenden mit der Aufrechterhaltung der bestehenden Löhne 1 895, 1900
und 1898 die ungünstigsten Erfolge, 1901, 1894, 1897, 1899 und 1896
dagegen günstige. Die Bestrebungen nach Verkürzung der Arbeitszeit,
die im Jahre 1894 noch fast gänzlich erfolglos gewesen waren, zeigen
1895 aufserordentlich günstige, von 1896 an zwar weniger günstige,
aber doch überwiegend für die Strikenden vorteilhafte Resultate mit der
Tendenz, sich zu bessern bis zum Jahr 1899; im Jahre 1900 tritt ein
starker Rückschlag ein, so dafs das Ergebnis dem Jahr 1 896 gleichkommt.
Im Jahre 1901 sind sodann diese Ergebnisse am allerungünstigsten für
die Strikenden innerhalb der ganzen Beobachtungsperiode seit 1894. Die
zur Aufrechterhaltung der bestehenden Arbeitszeit unternommenen Strikes
zeigen, wenn man die erfolglosen Strikes ins Auge fafst, von Anfang an
ganz aufserordentlich günstige Resultate, die bis zutn Schlufs der Periode
unausgesetzt sich verbessern. Nur das Jahr 1899 macht hiervon eine
Ausnahme. Das Jahr 1901 erscheint mit seiner grofsen Zahl von er-
folglosen Strikes mit als das ungünstigste. Ziemlich ungünstig ist auch
das Jahr 1896 mit seiner grofsen Zahl von Strikes mit nur teilweisem
Erfolge. Dagegen fielen die zur Beseitigung von Vorgesetzten unter-
nommenen Strikes mit einziger Ausnahme des Jahres 1899 durchweg
ganz überwiegend zu Ungunsten der Strikenden aus ; am günstigsten ist
sonst noch das Jahr 1897. Ganz ähnlich verhält es sich mit der
Wiederaufnahme Entlassener, wobei das Jahr 1897 noch wesentlich
günstiger war als bei der eben erwähnten Forderung. Die F'orderung
wurde nur in den Jahren 1896, 1898 ganz besonders stark aber 1900
von einer verhältnismäfsig gröfseren Anzahl von Strikenden (17,20, 16,50,
56,47 Proz.) erhoben, jedoch in allen drei Jahren mit überwiegend un-
günstigem Erfolg.
Während die auf die Lohnhöhe und die Arbeitszeit gerichteten
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430
Miszellen,
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CI. Hcifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 431
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*) Für 1894 nicht besonders nachgewiesen.
*} sc. aller strikenden Arbeiter.
*) sc. der wegen des betreffenden Motivs strikenden Arbeiter.
432
Miszellen.
Forderungen in der Regel zu Beginn des Strikes gestellt werden und
auch unter den Veranlassungen die Hauptrolle spielen, kann die For-
derung der Wiederaufnahme Entlassener ebensowohl die Veranlassung
zu einem Strike geben, als auch erst im Verlauf des Strikes auftreten,
wenn z. B. die Leiter des Strikes entlassen worden sind. Dagegen
werden die auf Schutz der Strikenden gegen Entlassung und auf Ent-
lassung von Strikebrechem gerichteten Forderungen in der Regel erst
im Verlauf des Strikes erhoben werden. Man wird sie wohl mehr als
Nebenforderungen bezeichnen können. Verhältnismäfsig am stärksten
tritt die erste dieser Forderungen in den Jahren 1895, 1896, 1897, 1899
und ganz besonders 1900 auf, die zweite ist durchweg von untergeord-
neter Bedeutung, von der geringsten im Jahre 1900. Die Erfolge der
ersten Forderung sind sehr schwankend, aber durchweg ganz erheblich
günstiger, als die der zweiten, die durchschnittlich für mehr als 80 Proz.
der Strikenden ungünstig ausfiel.
Die auf die Freigabe des 1. Mai gerichtete Forderung haben wir
mithervorgehoben, weil sich in ihr das Klassenbewufstsein der Arbeiter
ganz besonders dokumentiert. Nur im Jahre 1894 wurde diese Forde-
rung von einer erheblichen Anzahl von Arbeitern gestellt und zwar mit
überwiegend ungünstigem F.rfolg. 1895 war die Beteiligung und der
Erfolg am ungünstigsten. 1896 stieg die Beteiligung und der Erfolg.
1897 ging die Beteiligung fast wieder um die Hälfte zurück, während
der Erfolg stieg. 1 898 mehrte sich die Beteiligung nur unmerklich,
während der Erfolg ein durchschlagender war. 1899 und 1900 stieg
wieder die Beteiligung, während der Erfolg ungünstiger wurde. 1901
gelangten Beteiligung und Erfolg auf dem Gefrierpunkt an.
Zu erwähnen ist noch, dafs jede Forderung so oft gezählt wurde,
als sie erhoben wurde ohne Rücksicht darauf, ob daneben noch andere
Forderungen gestellt worden sind. Die einzelnen Forderungen sind zwar
in den einzelnen Jahrgängen der Statistik miteinander kombiniert, jedoch
erstreckt sich diese Kombination nicht auch auf die Erfolge.
Mit Recht wird man einzelne Forderungen, wie z. B. die Nicht-
entlassung Strikender, oder die Entlassung von Strikebrechem als Ausflufs
des Solidaritätsgefiihls der Arbeiter bezeichnen können. Dagegen ist
es unzulässig, aus einer Abnahme der Zahl der Strikenden, die diese
Forderungen stellen, auf einen Rückgang des Solidaritätsgefühls zu
schliefsen. Denn die Gefahr , die durch diese Forderungen beseitigt
werden soll, kann durch das erstarkte Solidaritätsgeluhl der Arbeiter so
gering geworden sein , dafs die Erhebung solcher Forderungen nicht
mehr notwendig erscheint. Es sind dies so komplizierte Verhältnisse,
dafs hier die Mittel der Statistik notwendig versagen müssen.
Ueber die Höhe der erzielten Lohnaufbesserung fehlen die Daten
für das Jahr 1894 überhaupt und für die Jahre 1895, 1896 und 1897
für die Arbeitseinstellungen im Bergbau.
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CI. H e ifs, I>ie Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 433
Im Jahre 1895 betrug die Lohnerhöhung in 1 Fall 3 — 10 Proz., in
4 Fällen 5 — 6 Proz., in je 1 Fall 6 — 11 und 7 — 25 Proz., in 11 Fällen
S — 121, Proz., worunter je 1 Fall mit 10 — 13 und 10 — 15 Proz., in
1 Fall I21/, — 25 Proz., in je 1 Fall 13, 14 — 25, 16 und 16 — 19 Proz.,
in 2 Fällen 20 — 25 Proz., in je 1 (zusammen also in 9) Fällen 20- — 30,
20 — 40, 20 — 50, 23, 25, 25 — 30, 25 — 40, 30 und 43 Proz. und war
in 20 F'ällen prozentuell unbestimmbar.
Im Jahre 1896 betrug die Lohnaufbesserung in je 1, zusammen in
10 Fällen zwischen 2 */, und 4*/* — 15 Proz., in 6 Fällen 5 — 7 Proz., in
je 1, zusammen in 9 Fällen zwischen 5 — 10 und 7 '/. — 2 5 Proz., wiederum
in je 1 Fall 7*/s — 10 und 8 Proz., in 12 Fällen 10 Proz., in je 1,
zusammen in 4 Fällen zwischen 10 — 15, 18, 20 und 10 — 50 Proz., in
4 Fällen ii1/» — I2'/s Proz-» in 1 Fall 1 4 '/4 — i6'/9 Proz., in 3 Fällen
15 Proz., in je 1 Fall iS — 40 und 18 — 20 Proz., in 3 F'ällen 20, in
2 22, in 3 30, in 4 40 und in 1 Falle 50 — S 4 */B Proz. und war in
28 Fällen prozentual unbestimmbar.
Ira Jahre 1897 stellte sich die Lohnerhöhung auf 2 */4 — 3*4 Proz.
in 1 Fall, 5 Proz. in 5, 5 — 10 Proz. in 2 F'ällen, zwischen 5 — 12, 15,
17 und 20, 51/» — 7, 6 und 77 — 2 2 “7 Proz. in je 1, zusammen in
7 F'ällen, 10 Proz. in 5 Fällen, zwischen 10 — 17, 10 — 30 und 16 */* bis
25 Proz. in je 1, zusammen in 6 F'ällen, 20 Proz. in 2 Fällen, 20 — 25t
25, 25 — 30 und 35 Proz. in je 1, zusammen in 4 Fällen und war in
35 Fällen prozentuell unbestimmbar.
Im Jahre 1898 betrug die Lohnaufbesserung 1 7« — 2 und 3 bis
6-s Proz. in je 1 F'all, 4 Proz. in 2 F'ällen, 4’ / 4, 4 ’/s — 14, 5, 5 — 10,
5 — 20, 57.» 5 Vs“ 8 Vs» 7—14. 7 — »5. 7 ’/a — 10> 8—10, 8—30 und 87,
Proz. in je 1, zusammen in 13 F'ällen, 10 Proz. in 3 F'ällen, 10 - 13 */,, 10 — 15,
jo — 20, 10 — 30, 10 — 50, ios/„, 11 und 12 — 14 Proz. in je 1, zusammen
in 8 F'ällen, 14 Proz. in 2 Fällen, 15 und i64/„ — 25 Proz. in je 1 Fall,
20 Proz. in 5 Fällen und 20 — 28, 20 — 40, 25, 25 — 30 und 33 Proz.
in je 1 zusammen in 5 Fällen und war in 43 Fällen prozentuell unbe-
stimmbar.
1899 stellte sich die Lohnaufbesserung auf 4 Proz. in 1 Fall,
5 Proz. in 7 Fällen, 5 — 77, Proz. in 1 Falle, 5 — 10 Proz. in 5, 5 bis
15 Proz. in 2, 5 — 45 und 57, — 147, Proz. in je einem Falle, 6 Proz.
in 2 Fällen, 6 — 7, 6 — 15 und 7 Proz. in je 1 Fall, 8 Proz. in 2 Fällen,
8 — 12 Proz. in 1 F'all, 1 o Proz. in 18 F'ällen, 1 o — 1 2 Proz. in 1 Fäll,
10 — 15 Proz. in 2 F'ällen, 10 — 30, 11 — 16, 12 und 13 — 15 Proz. in
je 1 Fall, 15 Proz. in 2 F'ällen, 15 — 20 Proz. in 1 Fall, 20 Proz. in 3
und 25 Proz. in 2 Fällen.
Im Jahr 1900 betrug die Lohnaufbesserung 2 — 5 Prozent in
2 Fällen, in je 1 Fall 2 */s — 5 ,/4 , 2 '/, — 20, 3, 3— 87a und 4 7s ^roz.,
5 Proz. in 1 1, 5 — 10 Proz. und 5 — 15 Proz. in je 2 Fällen, 5 */,, 5*/s
bis 137s und 6 — 7 Proz. in je i Fäll, 6 — 10 Proz. in 2 Fällen, 6 ljt,
Archiv für io», Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 2o
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434
Miszellen.
6 6 ’/,, 7 und 7 — 15 l’roz. in je 1 Fall, 7 — 20 Proz. in 2 Fällen,
7 */B und 7 */„ Proz. in je 1 Fall, 8 Proz. in 2 Fällen, 9 — 18 und 9*/10
Proz. in je 1 Fall, 10 i’roz. in 15 Fallen, in zusammen 19 Fallen
schwankte sie zwischen 10 und 20 Proz., 20 Proz. und darüber
(Maximum 30 Proz.) betrug sie in zusammen 9 F'ällen.
Endlich im Jahr 1901 ergab die Lohnaufbesserung 2 — 3 Proz. in
1 Fall, 3 Proz. in 2 Fällen; 4 1 — 7 Proz. in 1 ; 5 Proz. in 2; 6 — 8,
7, 81., — 1 2 bezw. 14V. und 9 Proz. in je 1 ; 10 Proz. in 9; 10 — 15,
10 — 18 s/4, 10 — 20, 10 — 30, 10 — 5 3 */3 und io1/, — n1/, Proz. in je 1;
121/., Proz. in 2; 13, 1 4 — 20 Proz. in je 1; 15 Proz. in 2; 20 Proz.
in 5 und 30 — 40, 33’/, — 40 und 48 Proz. in je einem Fall. „Schon mit
Rücksicht auf die grofse Anzahl der zuletzt erwähnten Falle“, wird
in der jeweiligen Publikation bemerkt, „sowie auch in Anbetracht
sonstiger Schwierigkeiten in anderen Fällen mufs darauf verzichtet
werden, einen detaillierten Ausweis über die Anzahl der an den
einzelnen Lohnerhöhungen partizipierenden Arbeiter zusammenzustellen.“
Da es sich hier um einen der Hauptpunkte der Strikestatistik
handelt, wäre es im Interesse der Sache sehr zu wünschen, dafs sich
diese F’ormel in den künftigen Publikationen nicht mehr wiederholt,
sondern dafs zum mindesten die Zahl der Arbeiter in den Fällen ange-
geben wird, wo solche Schwierigkeiten nicht vorliegen und diese letzteren
soviel als möglich überwunden werden.
(Siche die L'cbersicht auf S. 435.)
Welch iibermäfsig lange Arbeitszeiten auch gegenwärtig noch Vor-
kommen, geht daraus hervor, dafs im Jahre 1901 die Arbeitszeit infolge
von Strikes herabgesetzt wurde in je 1 F'alle von 18 (!) auf 12 */„ von
1 4 auf 1 2 ; von 1 4, 1 3 und 1 1 auf 1 1 Stunden und von 1 2 auf 1 1 ’/»
Von 1 1 1/3 wurde sie in je einem Fall auf 11, 1 o 1 , und 10 und von
ii1/, auf io1/, ; in 5 Fällen von 11 auf 1 o */„, in 2 von 11 auf 10, in
3 von io1/., auf 10, in einem von 10 */, auf 9 1 /2 ; in je 3 Fällen von
10 auf 91/, und 9 */4, in 2 von 10 auf 9; in je 1 F'all von 10 auf 8
und von 9’ auf 9, in 2 Fällen von 91/« auf 8* und endlich in einem
F'all von 9 auf 81/,. Stunden herabgesetzt. Die günstigsten Resultate weist
in dieser Hinsicht das Jahr 1896 auf, wo von 58 Fällen in 33 die Ar-
beitszeit auf weniger als 10 Stunden verkürzt wurde.
Eine wichtige F'rage betrifft die Verluste und Opfer, welche die
Arbeitseinstellungen den Unternehmern und Arbeitern verursacht haben.
F'ür die Bemessung der den einzelnen Produktionszweigen zugefugten
Schäden kommen neben der Anzahl der Ausstände selbst die Zahl der
strikenden Arbeiter, die Zahl der gezwungen Feiernden und die An-
zahl der versäumten Arbeitstage in Betracht. Die Jahre 1894 — 1901
geben in dieser Hinsicht folgendes Bild;
(Siche die Ucbersicht auf S. 436.)
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Die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit machte aus
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UdpUdJ[l2)S
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261435512600U81390OIO536 2S 9364 73813610696 9676 56 28362 22 595 57; 12 319 8500 33 2606 1964
436
Miszellen.
Zahl der strikenden Ar-
1894
1895
1S96
1897
1898
1899
I9CX>
1001
beiter
67061
28632
66234
38467
39658
54 763
105 128
Zahl d. gezwungen feiern-
den Arbeiter ....
7562
2062
3473
2858
5458
5 374
7 737
114
Versäumte Arbeit stage der
ersteren
795 72>
300348
899939
368 O96
323619
1 029937
3413963
ij7»
Versäumte Arbeitstage der
letzteren
100312
25261
37945
33 392
29254
106248
191753
52W
zusammen .
896033
325609
937884
40 1 488
352 873
1 136 185
3675715
18973
Die Zahl der gezwungen Feiernden zeigt in den einzelnen Jahren
recht erhebliche Differenzen in ihrem Verhältnis zur Zahl der strikenden
Arbeiter. Sie beträgt in ihrem Minimum in dem sehr lebhaften Strike-
jahr 1896 wenig über */t0 der strikenden Arbeiter und steigt in ihrem
Maximum im Jahre 1898, einem Jahre mit mittlerer Strikebewegung,
auf noch nicht ganz */,. Wenn man bedenkt, dafs es sich hier um das
äufserste Mittel in dem fortwährenden Ringen zwischen Kapital und
Arbeit, um den Kriegszustand handelt, so mufs man sagen, dafs die Zahl
der nicht direkt an dem Kampfe Beteiligten, sondern gegen ihren Willen
von seinen Folgen Ergriffenen verhältnismäfsig doch sehr gering ist. Und
zudem handelt es sich nicht um ganz Unbeteiligte. Hat der Strike Er-
folg, so kommt er in der Regel auch den gezwungen Feiernden zugute.
Dies dürfte aus betriebstechnischen Gründen in der Mehrzahl der Fälle
zutreffen, bei denen der Erfolg in einer Verkürzung der Arbeitszeit be-
steht. Aber auch, wo eine Lohnerhöhung erzielt wird, dürften diese
gezwungen Feiernden, die bei den Unternehmern ja ganz besonders be-
liebt sind, in der Regel nicht leer ausgehen. Andererseits dürften die
Falle, in denen wegen Erfolglosigkeit der Schaden der gezwungen Feiern-
den keinen Ausgleich findet, durch jene Fälle mehr als aufgewogen
werden, in denen ein erfolgreicher Strike weit über den Kreis der an
ihm Beteiligten hinaus eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zur
Folge hat. *) Gar mancher einer besseren Einsicht zugängliche Unter-
nehmer, dem seine ökonomischen Mittel die Durchführung ermöglichen,
wird erst durch einen Strike von der Wahrheit des Satzes überzeugt,
dafs die niedrigste Arbeitszeit beim höchsten Lohne für den Unter-
nehmer am rentabelsten ist, und handelt dann auch danach. Wenn man
von den dauernden Schädigungen der Arbeiter auch durch einen erfolg-
reichen Strike so viel Wesens macht, so übersieht man dabei, dafs ein
Strike, der die Solidarität der Arbeiter in besonderer Stärke in die Er-
scheinung treten läfst — und mag er auch erfolglos sein — der ganzen
Arbeiterschaft zugute kommt. Die Möglichkeit eines Strikes, diese be-
*) In manchen Fällen mußten übrigens die Unternehmer die Löhne an die
gezwungen Feiernden weiter bezahlen, so dafs diese überhaupt keinen Schaden
hatten.
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CI. H c i fs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 437
ständige Drohung wird in Verbindung mit einer günstigen Konjunktur
dem Unternehmer vieles abzwingen, was er ohne eine solche Möglich-
keit nicht gewähren würde. Allerdings ist dabei die Voraussetzung die,
dafs die Arbeiter ihre Forderungen im richtigen Zeitpunkt stellen und
nicht über das Ziel hinausschiefsen. Dies wird aber von den organisierten
Arbeitern eingesehen und in dem Strikereglement der Zentralkommission
der Gewerkschaften heifsblütigen Elementen gegenüber nachdrücklich be-
betont. Diese günstigen indirekten Folgen der Strikes mufs man im Auge
behalten, wenn man daran geht, den Lohnausfall der Strikenden zu be-
rechnen. Nimmt man durchweg einen Taglohn von 3 Mk. an, wras nach
den in den Spezialtabellen angegebenen Daten über Wochenlöhne vor
dem Ausstand jedenfalls nicht zu niedrig gegriffen ist, so berechnet sich
der Lohnausfall für die Strikenden und gezwungen Feiernden folgender-
mafsen : *)
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
1901
rrsäurate Ar-
beitstage der
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
Strikenden
enäumte Ar-
beitstage der
^zwungen
2387163
901 044
2699817 I 1042SS
970857
308981 1
10451 889
473 *3*
Feiernden .
300936
75 783
■13835
100 176
87 762
3‘8 744
575*59
9604s
:üsammcn .
2 688 099
976827
2813652 1204464
1 058619
3408555
1 1 025 148
569 277
*) „Ungemein schwierig“, bemerkt die amtliche Publikation ^S. 42), fallt auch
eine, wenngleich nur annähernd befriedigende Veranschlagung des durch die Strikes
verursachten Lohnausfalles, selbst abgesehen von den Mängeln, welche dem der Be-
arbeitung zugeführten Material hinsichtlich der genauen und erschöpfenden Dar-
stellung der Lohnverhältnisse anhaften.
Diese Schwierigkeiten entspringen insbesondere dem Umstande, dafs ein Teil
der strikenden Arbeiter (wegen Entlassung etc.) die Arbeit in der Unternehmung
nicht wieder aufnimmt und hinsichtlich dieser Personen eben dieses Sachverhaltes
halber nur der Tag der Unterbrechung der Arbeit fcststcht, nicht aber der Zeit-
punkt, in welchem sie einen neuen Arbeitsplatz gefunden haben. Läfst man nun
diese die Arbeit bei ihrem früheren Arbeitgeber nicht wieder aufnehmenden Arbeiter
aufser Ansatz, so ist die berechnete Lohneinbufsc der Wirklichkeit gegenüber zu
gering. Bezieht man auch sie in die Berechnung ein, so bleibt nichts anderes
übrig, als auch für sie den Lohnausfall bis zum Ende des Strikes in Anschlag zu
bringen. Die auf diese Weise gefundene Ziffer giebt aber dann nicht so sehr die
finanziellen Opfer der Strikenden (die eben rücksichtlich des genannten Teiles der
Arbeiterschaft völlig unberechenbar sind), sondern ist nur geeignet, ungefähr den
Verdirnstentgang zu veranschaulichen, welcher die arbeitende Klasse als Ganzes wäh-
rend der Strikedauer durch die Vakanz anderenfalls verfügbarer Arbeitsplätze trifft
[womit unsere Schätzung im Text gerechtfertigt erscheint], wobei es sich dann
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438
Miszellen.
Ein Lohnausfall von i — 3 Millionen oder gar 1 1 Millionen, wie
im Jahre 1900, jährlich wird mancher sagen ist schon ein recht be-
trächtlicher Verlust für die einzig auf ihre Arbeitskraft angewiesenen
Arbeiter und eine grofse Schädigung des Volkseinkommens. Doch
halten wir, da zuverlässige Angaben über den gesamten verdienten
Lohn fehlen, diesen 1 — 3 Millionen Mk. Lohnausfall die Thatsache
gegenüber, dafs nach der deutschen Produktionsstatistik der Wert der
Ganzfabrikate der Textilindustrie allein (also abgesehen von den Garnen )
1915 Millionen Mk. beträgt, so müssen wir zugeben, dafs der durch
Strikcs verursachte Lohnausfall verschwindend klein ist. Dies ergiebt
auch eine Berechnung des Lohnausfalls auf den Kopf der an Strikes
überhaupt (direkt oder indirekt) beteiligten Arbeiter. Dieser betrug
1 894 36 Mk
1895 32 „
1896 40 „
1897 29 „
Das über Strikeunterstützungen durch die Gewerkschaften beige-
brachte Material ist leider ganz unzulänglich, die an' die Gewerkschafts-
kommission in den drei Jahren vor 1896 für Strikes abgeführten Bei-
träge betrugen 45400 tl. Für die Jahre 1897 und 1898 liegen be-
gleichbleibt, ob diese durch den Ausstand frei gewordenen Arbeitsplätze in der Folge
durch die ursprünglichen Inhaber oder durch andere Personen eingenommen werden.
Vollständig entgehen der Veranschlagung in beiden Fällen jene Modifikationen,
welche der auf die gedachte Weise berechnete Lohnverlust durch gewisse andere
Momente erfährt, wie z. B. durch die Gelegenheit zu einem etwaigen anderweitigen
Verdienst der Strikcnden während der Dauer der Arbeitseinstellung, durch späteren
erhöhten Verdienst infolge intensiveren Betriebes zur Wcttmacbung des Produktions-
ausfalles u. dgl. mehr.
Unter aller somit gebotenen Reserve sei daher bemerkt, dafs die Berechnung
des durch Ausstände verursachten Lohnausfalles — unter Rücksichtnahme auf die
Anzahl der beteiligten Arbeiter in den einzelnen Strikephasen bei Arbeitseinstellungen
mit wechselnder Beteiligung für alle strikcnden Arbeiter den Betrag von rund
397000 Kronen (für 1901] ergiebt, wovon ca. 51900 Kronen auf die gänzlich
erfolgreichen, 250200 Kronen auf die teilweise erfolgreichen und 94900 Kronen
auf die erfolglosen Ausständc entfallen. Auf jene Arbeiter, welche die Arbeit in
der Unternehmung wieder aufnahmen, kommen im ganzen vom genannten Betrag
345000 Kronen, und zwar ca. 47400 Kronen bei den vollständig erfolgreichen,
214200 Kronen bei den teilweise erfolgreichen und 83400 Kronen bei den er-
folglosen Ausständen.“ Für 1900 war der auf alle strikcnden Arbeiter entfallende
Lohnentgang mit 10414000 Kronen berechnet worden.“
ln ähnlicher Weise wird hier der Lohnverlust der gezwungen Feiernden auf
69300 Kronen berechnet.
1898 23 Mk.
1899 56 „
1900 98 „ und
1901 20 „
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<’ 1. H eifs, Oie Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — -1901. 439
sondere nach Berufen und Ländern gegliederte Nachweise vor, die die
„gesammelten“ und „erhaltenen“ Gelder besonders aufliihren, ohne dafs
dabei ersichtlich gemacht wäre, was unter diesen beiden Ausdrucken zu
verstehen ist. Insgesamt wurden hiernach im Jahre 1897 11150 fl.
41 kr. gesammelt und 9 723 fl. 3 kr. erhalten und im Jahre 1898
7431 fl. 43 kr gesammelt und 6815 fl. 79 kr. erhalten. Wie grofs
die jedenfalls viel höheren Beiträge, die die Zentrale der Gewerkschafts-
kommission nicht passierten, waren, erfahren wir leider nicht. Nur ganz
beiläufig wird bemerkt, dafs die Gewerkschaft der Porzellanarbeiter für
die beiden Strikes in Aich und Dallwitz allein die Summe von 120000 fl.
aufgebracht hat. Nach dem Rechenschaftsbericht der Gewerkschafts-
kommission für den 3. Gewerkschaftskongrefs wurden im Jahre 1899,
insoweit verläfsliche Zahlen zu eruieren waren, ausgezahlt:
Von den Industriegruppen für eigene Strikes aufgebracht . 182600 Kr.
Von der Gewerkschaftskommission in Wien aufgebracht . . 153786 „
.. .. Prag „ . . 23059 „
Die Gesamtsumme, die für Strikeunterstützungen innerhalb der Jahre
1897 — 99 aufgebracht und verteilt wurde, beträgt 590596 Kronen.
Auch diese Daten erscheinen unzulänglich. Es ist allerdings begreiflich,
dafs die Arbeiterorganisationen nicht leicht dazu bereit sind, durch An-
gabe genauen statistischen Materials den Stand ihrer Kriegskassen offeu-
zulegen.
Darüber, wie sich die Wirkungen der Strikes vom Standpunkte der
Unternehmer aus gestalten, wurden in den Jahren 1897 bis 1901 be-
sondere Erhebungen vorgenommen. Im Jahre 1901 wurden an 154
einzelne Etablissements besondere Fragebogen hinausgegeben, von denen
120 antworteten. Von diesen haben 56 Schaden, 64 keinerlei Schaden
erlitten. In 24 Fällen bestand der Schaden in einem später wieder aus-
geglichenen Produktionsausfall, in 32 Fällen in einem später nicht wieder
ausgeglichenen Produktionsausfall, bezw. in dem Verlust von Bestellungen,
in 10 Fällen bestand er in Schaden an Material u. dgl., in 15 Fällen
in Nachteilen aus dem Personalwechsel und in 8 Pallen in anderem.
In gleicher Weise wurden in den Jahren 1897 — 1901 ') an die
Handels- und Gewerbekammern über 429 (403) Betriebe Fragebogen
versendet, worauf im Jahr 1901 über 379 (189) Betriebe Antworten ein-
liefen. Von diesen haben 321 (1 10) Schaden, 58 (79) keinerlei Schaden
erlitten. In 220 (26) Fällen bestand der Schaden in einem später wieder
ausgeglichenen Produktionsausfall, in 84 (84) F'ällen in einem später
nicht wieder ausgeglichenen Produktionsausfall, bezw. in dem Verlust
von Bestellungen, in o (21) Pallen bestand er in Schaden an Material
u. dgl.; in o (36) Fällen in Nachteilen aus dem Personalwechsel, in
’) Die Zahlen für 1897 sind durchweg in Parenthese beigesetzt.
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440
Miszellen.
17 (1) Fällen in anderem. In Ziffern wurde der Schaden geschätzt
von den einzelnen Betrieben direkt in 25 bezw. 34 Fällen und er be-
trug 75602 Kronen bezw. 386710 fl., von den Handels- und Gewerbe-
kammern in 53 bezw. 20 Fällen, wo er 322500 Kronen bezw. 19985 fl.
betrug.
Das arbeitsstatistische Amt macht für die Jahre 1897 bis 1901
noch genauere Mitteilungen über die Schädigungen der Unternehmer
durch einzelne Strikes nach ihren eigenen Berichten bezw. denjenigen
der Handels- und Gewerbekammern, bemerkt aber hierzu ausdrücklich,
dafs diese Angaben nicht weiter kontrolliert werden konnten. Sie machen
jedoch fast durchweg einen wahrheitsgetreuen Eindruck, sodafs ihre kurze
Erwähnung gerechtfertigt sein dürfte. Ueber Verminderung der Kund-
schaft oder allgemeinen Rückgang des Gewerbes infolge von Ausständen
klagen namentlich handwerksmäfsige Betriebe, wie z. B. die Hufschmiede
in Graz, die namentlich auch noch darüber klagen, dafs die vom
Lande neu aufgenommenen Gehilfen zum grofsen Teile eine ge-
ringere Leistungsfähigkeit aufwiesen, die Schneider in Gablonz und
Przemysl, die Schuhmacher in Teplitz, von denen die Kundenschuh-
macher schwerer litten als die sogenannten Marktschuhmacher, die
Bäckereien von Judenburg, Leoben und Graz. Hier bestand die
Schädigung in der Einführung fremden Brotes aus Marburg und Bruck.
Der Absatz der heimischen Bäckermeister wurde dadurch geschädigt,
dafs sich diese Brotsorten seit dem Strike am Markte erhielten.
Der Bauarbeiterausstand in Kolomea und der Ziegeleiarbeiterausstand in
Jaroslau hatte ein Verderben der Waren im Gefolge, während ihm die
Weifsgerber in Niemes durch gemeinsame Aufarbeitung der dem Ver-
derben ausgesetzten Waren zu begegnen wufsten. Der Bauarbeiteraus-
stand in Marburg hatte einen allgemeinen Rückgang der Baulust zur
Folge und in Mödling und Meran konnten die verzogenen Arbeiter
nicht wieder ersetzt werden. Beim Bauarbeiterausstand in Meran wird,
was von besonderem Interesse ist, von Kosten berichtet, welche durch
Reisevergütungen etc. an von auswärts beschaffte Arbeitskräfte er-
wuchsen, sowie von Nachteilen daraus, dafs manche bewährte Arbeiter,
die weder unmittelbar gegen ihre Arbeitgeber, noch gegen den Strike
auftreten wollten, es vorzogen, den Arbeitsplatz zu verlassen und anders-
wo Verdienst zu suchen. Solche Schädigungen der Produktion durch
Personalwechsel, die in der Regel besonders empfindlich zu sein pflegen,
werden durch eine starke Organisation der Arbeiter am wirksamsten ver-
hindert, da sie dem Arbeiter allein den nötigen Rückhalt gewährt gegen
eine nach Beilegung des Strikes zu befürchtende willkürliche Ent-
lassung.
Besonderes Interesse verdient noch, was über die Ausstände der
Braungeschirrtöpfereien in Znaim und der Schwarzglasdruckereien in
Gablonz berichtet wird. In beiden Fällen handelt es sich um absterbende
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CI. Ilcifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. 44 j
Jndustrieen. Die Besatzsteine waren aufser Mode gekommen und durch
den Strike wurde die Unhaltbarkeit dieser Industrie nicht erst verursacht,
sondern aufgedeckt. Ebenso war das Braungeschirr durch das Emaille-
geschirr und den immer billiger werdenden Porzellan- und Steingutaus-
schufs schon lange bedrängt. Wenn daher durch den Verlust einzelner
Absatzgebiete ein derartiger Mangel an Arbeit eintrat, dafs die gelernten
alten Arbeiter sich einem ganz anderen Industriezweige zuwenden mufsten,
so mag das für sie sehr hart sein, aber der Strike ist nicht die Ursache
dieses wirtschaftlichen Erkrankungsprozesses, sondern er hat nur seinen
Verlauf beschleunigt und dadurch eine raschere Gesundung ermöglicht.
Der Ausstand der Musikinstrumentenmacher in Graslitz hatte eine Ver-
doppelung des Preises der Perinetmaschinen zur Folge, wodurch die
Produktionsfähigkeit gegenüber der französischen Konkurrenz in einer
Weise geschädigt wurde, dafs die gestörten Absatzverbindungen nicht
leicht wieder herzustellen sein dürften. Der Ausstand der Textilarbeiter
in Jägemdorf hatte den Verlust des Saisongeschäftes für Sommerwaren,
erheblichen Preisrückgang für die vor dem Strike angefangenen und
dann abbestellten Waren sowie Materialschaden zur Folge. Der Aus-
stand der Schuhmachergehilfen in Trient veranlafste die Einfuhr aus-
ländischer Ware, die auch nach dem Strike fortdauerte. Der Ausstand
der Brtinner Textilarbeiter, der gröfste in dieser Branche, hatte durch-
gehend eine vollständige Betriebseinstellung zur Folge. Dazu kam
mannigfacher Schaden an Maschinen und Material, sowie ein Produktions-
ausfall von 1 a bis 1 , der Jahresproduktion und Stärkung der englischen
Konkurrenz.
Von einzelnen Unternehmern wird sogar berichtet, dafs ihr Ver-
hältnis zu den Arbeitern nach dem Strike ein befriedigenderes ge-
worden sei.
Neben dem unmittelbar durch den Ausstand verursachten Schaden wird
auch in mannigfachen Fällen eine Benachteiligung über die Strikezeit hinaus
als Folge des Strikes bezeichnet, so durch die erhöhten Betriebskosten infolge
der an die Arbeiter gemachten Zugeständnisse, durch gestörte Absatzver-
bindungen, durch eine länger dauernde Betriebsreduktion, verursacht durch
die Schwierigkeiten bei der Ergänzung des Personals. Der hauptsäch-
lich in den Textilbetrieben durchgesetzte Zehnstundentag soll nach der
Mehrzahl der eine Auskunft gewährenden Arbeitgeber einen 8 — io pro-
zentigen Produktionsrückgang zur Folge gehabt haben. Zahlreiche Firmen
sprachen sich auch über die Ursachen des Ausbruches des Strikes, sowie
dessen moralische Rückwirkungen aus. In ersterer Hinsicht wird häufig
des Einflusses von nicht dem eigenen Arbeiterstande entsprungenen Agi-
tationen gedacht. In der zweiten Hinsicht ist die Zahl der Firmen,
welche auf eine Stabilisierung der Verhältnisse nach dem Strike hin-
wiesen, die z. B. inbezug auf die Sicherung der Lieferungsfähigkeit
günstig einwirke, nicht geringer als die jener, welche von einer dem
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442
Miszellen.
Strike noch nachfolgenden Erbitterung oder Gährung zu berichten wissen.
Es wird auch mehrfach erwähnt, dafs die Arbeiter eine bessere Disziplin
aufweisen oder arbeitswilliger sind etc. Zumeist handelt es sich dabei
um gänzlich oder im wesentlichen erfolglose Strikes.
Hei 92 unter den im Jahre 1901 vorgefallenen 270 Arbeitseinstel-
lungen werden Arbeiterentlassungen verzeichnet. Die Zahl der
Entlassenen betrug 1215 (1900, 2658, 1899 1704, 189S 1284, 1897
2127, 1896 2454, 1895 1633, 1894 2985), der aus anderen Gründen
Ausgeschiedenen 601 (1900 4906, 1899 1979, 1898 10S8, 1897 644,
1896 1533, 1895 725, 1894 1182), der neu Aufgenommenen 771
(1900 4346, 1899 1 1 1 5, 1898 1343, 1897 1565, 1896 1389, 1895
1073, 1894 2175). Der aus Anlafs der Ausstände entstandene Arbeiter-
wechsel, welcher, wie unser Bericht bemerkt, nicht blofs als die Inter-
essen der Strikenden schädigend gelten kann, sondern auch als eine
dem Industriebetrieb erwachsene Benachteiligung in Betracht kommt, war
demnach durchaus nicht unbedeutend.
Ueber die Vermittlungsthätigkeit der staatlichen Organe wird in
den jeweiligen Publikationen auf die Kolonne 1 2 der chronologischen
Striketabelle verwiesen. Diese Tabelle ist aber so unübersichtlich, dafs
man über die Art der staatlichen Vermittlung und überhaupt darüber,
wie oft sie in Anspruch genommen wurde, keine Anschauung bekommen
kann, wenn man diese Tabelle nicht vorher auszählt. In dieser Beziehung
wjre eine bessere Aufbereitung des gewonnenen Rohmaterials zu wünschen.
Eine Auszählung der Ergebnisse für 1901 (bezw. 1900 und 1898 ') er-
giebt, dafs bei den wiederholt erwähnten, in diesen Jahren überhaupt vor-
gekommenen 270 (303, 258) Strikefällen in 84 (107, in) Fällen irgend
eine Vermittlungsthätigkeit in Anspruch genommen wurde. Das öster-
reichische Gesetz hat also trotz seiner Unzulänglichkeit den guten Erfolg
gehabt, dafs die Thätigkeit der Vermittlungsorgane verhältnismäfsig doch
recht häufig in Anspruch genommen wird. Am häufigsten wurde die
Vermittung des Gewerbeinspektorats : 26 (26, 28)mal und der Gewerbe-
behörde 23 (21, 25) mal in Anspruch genommen und in weiteren 11
(25, 28) Fällen vermittelten beide Behörden gemeinsam, während die
Bergbehörde nur 16 (12, 17) mal und 3 (7, 7) mal gemeinsam mit der
politischen Behörde vermittelte. In 0(5, 3) Fällen vermittelte der Bürger-
meister, in 1 (4, o) Fällen der Ackerlauminister, in 1 (2, o) Fällen das
Gewerbegericht, in je o (i, o) Falle der Justizminister, der Magistrat und
das Gewerbeinspektorat ; die Gewerbebehörde, das Gewerbeinspektor.it
und die Handels- und Gewerbekammer; die Gewerbebehörde, das Ge-
werbeinspektorat und der Bund der Industriellen; das Einigungsamt:
die Polizeibehörde; der Gemeinde Vorstand und der Verein zur Wahrung
der Industrie- und Handelsinteressen; in je 1 weiteren lall der Gewerbe-
*) Je in Klammern angegeben.
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CI. Heifs, Die Arbeitseinstellungen u. Aussperrungen i. Oesterreich 1894 — 1901. '443
Inspektor und Bürgermeister; die Gewerbebehörde, die Seebehörde und
die Polizeidirektion ; die Gewerbebehörde und die Statthalterei.
Die Berichterstattung über die im Zusammenhang mit Ausständen
erfolgten Bestrafungen ist deshalb durchaus unvollständig, weil sie zu
einer Zeit erfolgt, zu der die Gerichtsverhandlungen in der Regel noch
nicht zum Abschlufs gekommen waren, weshalb wir von ihrer Wiedergabe
absehen.
Für das Jahr 1900 wird erstmals und zwar auf die frühren Jahre
zurtickgreifend über wiederholte Strikes berichtet. Berücksichtigt
inan nur die Anzahl der Betriebe, die in den Jahren 1895 bis 1901
wiederholt von Strikes betroffen wurden, von denen keiner später als
ein Jahr nach Schlufs des vorhergehenden zum Ausbruch gelangte, so
wurden im ganzen Beobachtungszeitraum von 2 Strikes 143, von 3 22,
von 4 4, von 5 2, von 6 4 Betriebe und 7, 8 und 9 sich in der an-
gegebenen Weise wiederholenden Strikes je 1 Betrieb betroffen. Die
Veranlassungen, Forderungen und Erfolge dieser Strikes darzustellen,
wurde einen zu grofsen Raum beanspruchen. Es sei nur soviel bemerkt,
dafs sich bei jenen 143 zweimaligen Strikes ein und dieselbe Veranlassung
47 mal wiederholte, was immerhin einen Schlufs auf die Hartnäckigkeit
der kämpfenden Parteien zuläfst.
Aussperrungen kamen im Jahre 1901 3, 1900 10, dagegen
1898 überhaupt nicht vor. Die Hauptursache der Aussperrungen hat
bisher die Maifaier gebildet, im Jahre 1898 fiel aber der 1. Mai auf
einen Sonntag.
Die wichtigsten Daten der Aussperrungen von 1894 — 1901 lassen
sich in folgender Uebersicht zusaramenfassen :
Von den ausgesperrlen
Arbeitern
Zahl der
BetroflF.
Be-
Aus-
Das ist
nahmen
wurden
ver-
wurden
Aus-
Be-
schäf-
ge-
1‘roz. der
d. Arbeit
ent-
liefsen
neu auf-
Sperr-
ungen
triebe
tigte
sperrte
Beschäf-
tigten
wieder
auf
lassen
den
Betrieb
genom
men
1894
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1895
8
«7
45*'
2317
5>, *5
2 183
134
—
—
1896
IO
2 1 1
6847
5445
79,5*
4589
724
132
—
1897
II
12
3 >47
I 712
54,4°
1 647
5«
7
3°
1898
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1899
5
38
5671
3457
60,96
3448
4
5
—
1900
IO
58
5 3*4
4036
75.81
3703
701
32
294
1901
3
3
429
302
70,4
302
—
—
—
Die österreichische Strikestatistik ist, wenn wir auf das Gesamtbild
unserer Betrachtungen zurückblicken, geeignet, diese so komplizierten
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444
Miszellen.
wirtschaftlichen Vorgänge, wie es die Arbeitseinstellungen und Aus-
sperrungen sind, nach den verschiedensten Seiten, nach ihren Ursachen,
Zielen, Begleiterscheinungen und Folgen klar zu beleuchten. Wenn
einmal die Statistik über eine gröfsere Reihe von Jahren vorliegt, dürften
sich aus ihr wohl auch gewisse (lesetzmäfsigkeiten ableiten lassen. Bei
der Kürze des uns vorliegenden Beobachtungszeitraumes wäre ein solcher
Versuch verfehlt.
Dlgitized by Google
Die deutschen Stadtgemeinden und ihre Arbeiter.
Von
Dr. k. flesch,
Stadlrat in Frankfurt a. M.
Das fünfzigste Stück der von Brentano und I.otz herausgegebenen
Münchener volkswirtschaftlichen Studien, bringt unter obigem Titel eine
261 Seiten starke Arbeit von Dr. Paul Mombert.
Es ist ein nützliches Buch, dessen Verfasser bei Auswahl des
Themas für seine Erstlingsschrift wohl beraten war. Ein grofses, schwer
zu beschaffendes Material ist gesammelt; viele der Fragen, zu denen es
anregt, sind gestellt und zu beantworten gesucht: und so wird durch
das Buch der Weg gewiesen zu einem Gebiet der öffentlichen Ver-
waltung, das bisher von der Verwaltungswissenschaft und der Sozialpolitik
gleichmäfsig unberührt gelassen war.
Oder, richtiger gesagt: die Schrift Momberts, ebenso wie die etwas
früher erschienene, einen ähnlichen Stoff behandelnde Schrift Kliens *)
sind Beweise dafür, wie die privatrechtliche Flut allmählich abtlacht, die,
aus dem Glauben der Juristen an die Allmacht des formalen Rechts und
die Bedeutungslosigkeit der „biofs' thatsächlichen Besitzesunterschiede ent-
springend, weite Gebiete des öffentlichen Lebens überschwemmt hat. Indem
die Flut aber zurücktritt, werden neue Arbeitsfelder frei; und Mombert, der
eines derselben — das Verhältnis der Stadtgemcinden zu ihren Arbeitern —
zu bebauen sucht, kann nunmehr sozialpolitische Gesichtspunkte geltend
machen, wo man bisher nichts wahrgenommen hatte, und wo die meisten
*) Klien: Minim;) Hohn und Arhcitcrbcamtcntum (Abhandlungen des staats-
wissenschaftlichen Seminars zu Jena, hcrausgegeben von Picrstorff, 232 S.) behandelt
einen ähnlichen Stoff ; jedoch giebl er das Material bezüglich der Arbeiter im Dienst
deutscher Kommunalvenvaltungen nicht in der gleichen Vollständigkeit wie Mombert,
enthält aber dafür sehr interessante Angaben über den Minimallohn in seinen ver-
schiedenen Erscheinungsformen, insh.-s. auch Uber die Art, wie er im Ausslandc
(England, Schweiz, Holland! Hingang in die Kommunalvcrwaltung gefunden hat.
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Miszellen.
nichts vorhanden geglaubt hatten, als das gleichförmige Nebeneinander
einer Anzahl von Arbeitsverträgen, deren juristischen Inhalt Niemand
prüfte, und deren Wirkung auf das Gedeihen der Arbeiter von Niemandem,
am wenigsten von denen, für welche die Arbeiter ihre Kraft anstrengten,
beachtet ward.
Ohne Bild zu sprechen: I)afs der Staat, mit dem ja die Gemeinden
gleichen Wesens sind, gegen seine Arbeiter besondere — nicht juristische
aber volkswirtschaftliche — Verpflichtungen hat, die weiter gehen, als die,
welche etwa einem kleinen Handwerksmeister gegen seine Gesellen zu-
gemutet »erden können, ist eine alte Erkenntnis. Zeugnis dafür ist z. B.
die formell noch in Gesetzeskraft befindliche prcufsische Verordnung
betr. die bei dem Bau von Eisenbahnen beschäftigten Handarbeiter vom
21. Dezember 1846 mit ihren noch heute vielfach mustergültigen Vor-
schriften über Lohnabrechnungen, Abschlagszahlungen, Bauaufsicht, Arbeiter-
vertretung, Beschwerderecht der Arbeiter bei willkürlicher „Ausschliefsung
von der Arbeit“ ; ferner über Krankenversicherung, Beförderung der
Sparsamkeit durch unentgeltliche Annahme und Verwaltung von Spar-
geldern, Sonntagsruhe u. s. w. Aber jene Erkenntnis war allmählich ab-
handen gekommen. Als ich 1894 in der Zeitschrift der Zentralstelle
für Arbeiterwohlfahrts-Einrichtungeu die Verordnung besprach *) und daraus
Folgerungen zog für die Aufgaben der Gemeinden als Arbeitgeber, war
ihr Inhalt auch erfahrenen Verwaltungsmännern völlig unbekannt; und
die Prinzipien, auf denen sie beruht, erschienen als etwas völlig Neues.
Und auch als ich im Mai 1897 auf der Konferenz der Zentralstelle
für A.W.E. zu Frankfurt a. M. über kommunale und Wohlfahrtsein-
richtungen zu referieren hatte *) konnte ich zwar mitteilen, dafs die Stadt
Frankfurt a. M. gerade damals „allgemeine Bestimmungen für die Arlreiter
der städtischen Verwaltung“ erlassen habe, welche wenigstens einen An-
fang des sozialpolitisch Erforderten enthielten; aber ich war nicht im-
stande, auch nur eine deutsche Stadt, einen Reichs- oder Staatsbetrieb zu
nennen, in der bisher etwas Aehnliches versucht war.
Dagegen hat sich allerdings aufs Erfreulichste die Erwartung erfüllt,
die ich damals3) aussprach, dafs jene Bestimmungen zweifelsohne frucht-
bringend und anregend auch über das Weichbild der einzelnen Stadt
hinaus wirken würden. Die Mombertsche Schrift behandelt die Arbeits-
bedingungen , welche über 50 Städten zur Zeit „ihren“ Arbeitern be-
willigen, und sie benutzt fast ausschliefslich solches Material, das ent-
’) Vgl. Zcitschr. f. A.W.E. vom 15. Juli 1894; mein Aufsatz: Die Gemeinden
als Arbeitgeber.
*) Vgl. Schriften der Zentralstelle für AAV.E. Heft 12. Kommunale Wobl-
fahrtseinrichtungen S. 5 — 75.
*) Vgl. mein Referat a. a. O. S. 4, 24, 70.
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K. Flesch, Die deutschen Stadtgemeinden und ihre Arbeiter.
447
standen ist nach den Frankfurter Bestimmungen1), und wenn irgendwo,
ist hier das post hoc ergo propter hoc am Platz. Dagegen benutzt
Mombert sonstige Litteratur nur wenig; er hat fast keine Vorarbeiter
in der Wissenschaft; und auch die Agitation der Interessentenverbände,
die auf anderen Gebieten der Sozialpolitik die eigentliche Triebkraft
war bezw. ist (man denke an die Gewerkschaften, die Mietervereine, die
Handlungsgehilfenvereine), setzt hier nur in der allerletzten Zeit ein
Der Verband der Gemeindearlreiter ward zwar, wie dem jüngst er-
schienenen Geschäftsbericht5) zu entnehmen ist, am i. Oktober
1896 begründet, hielt aber seine erste Generalversammlung erst im
April 1900.
F,s geschieht keineswegs lediglich im historischen Interesse, wenn
diese Thatsachcn hier festgestellt werden. Wer beurteilen will, was bisher
geschehen ist, um den Arbeitsvertrag mit Arbeitgebern des
öffentlichen Rechts seiner besonderen Natur entsprechend zu ent-
wickeln, der wird nie aufser acht lassen dürfen, dafs diese Entwicklung
erst vor ganz wenig Jahren begonnen hat; dafs sie den Anstofs ge-
nommen hat weder aus theoretischen Forderungen der Wissen-
schaft noch aus dem Drängen der Nächstbeteiligten , der städtischen
Arbeiter; und dafs sie bisher sich ausschliefslich auf die Städte be-
schränkt hat.
1. Es ist ja gewifs reichlich überschwänglich, wenn Klien über die
„bewundernswürdige Frankfurter I-ohntafel“ spricht :l); andererseits aber
würde doch Mombert vermutlich manches unnötig schroffe Urteil, das
er über einzelne Bestimmungen dieser oder jener städtischen Arbeits-
ordnung, über einzelne Meinungsäufserungcn in diesem oder jenem
Magistratsbericht gefällt hat, wesentlich gemildert haben, wenn er genügend
berücksichtigt hätte, seit wie kurzer Zeit erst diese ganze Sache in den
Gesichtskreis der städtischen Verwaltungen getreten ist; und wie schwer
es naturgemäfs ist, bis die vielköpfigen kommunalen Körperschaften Be-
schlüsse fassen, die für die Steuerzahler von schwerwiegender Bedeutung
sind; die weder zur Durchführung eines Staatsgesetzes notwendig sind,
') Vgl. die Anlage 111 der M.schcn Schrift, S. 250 — 261: Verzeichnis der
benutzten Drucksachen, das mit Ausnahme einiger Arbeitsordnungen für Gas- und
Wasserwerke ausschliefslich nur solche Städte (Statistiken über die I-agr der
städtischen Arbeiter, Betriebsordnungen, I.ohntafeln, Dienstvorschriften u. s. w. ent-
hält, die nach 1S97 datieren.
*) Die Bewegung der städtischen Arbeiter 1900 bis ultimo Dezember 1902,
Geschäftsbericht, erstattet vom Verbandssekretär Bruno l’ocrsch (Berlin 1903, Verlag
Bruno Pocrsch).
’j Lindemann in seiner Besprechung der Mombcrlschen und der Klicnschen
Schrift (Minimallohn und Arbciterbeamtentum) spottet hierüber (I. i n d em a n n , Fort-
schritte der kommunalen Sozialpolitik, Sozialistische Monatshefte 1903 S. 53).
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44«
Miszellen.
noch einem unmittelbar verspürten städtisciien Bedürfnis entsprechen;
die in der öffentlichen Meinung, uDter den Wählern der Magistrat und
Stadtverordnete sogar lebhaft angefochten sind, und die seitens der
lokalen Arbeiterpresse etc. vielfach in der geschmacklosesten Weise ver-
kleinert, als ganz unerheblich oder gar schädlich für die Arbeiter hin-
gestellt werden. Nimmt man noch hinzu, dafs es für eine Stadt gar
nicht leicht ist, sich genaue und zuverlässige Kunde von dem zu schaffen,
was in der anderen Gemeinde geschieht, so kann es schon an sich kein
Wunder nehmen, wenn da oder dort in den Denkschriften der Magistrate
oder Gemeinderäte Ansichten auftauchen, die wissenschaftlich überholt sind,
oder vielleicht sogar auch den Erfahrungen widerstreiten, die da oder dort
in der Praxis gemacht worden sind. Andererseits aber wird die Formulierung
einer einzelnen Bestimmung z. B. wegen Urlaubsgewährung oder wegen
Zusammensetzung des Arbeiterausschusses stets da, wo sie zuerst ver-
sucht wird, ängstlicher und enger sein, als da, wo man bereits ein Vor-
bild aus einer anderen Stadt benutzen konnte; — und es raufs bei Be-
urteilung jeder Vorschrift stets auch gefragt werden, inwieweit die dem
Wortlaut nach in ihr enthaltenen Härten etwa seit ihrem Bestehen durch
die Praxis bereits ausgeglichen sind. Indem Mombert diesem chrono-
logischen Moment viel zu wenig Beachtung schenkt , mindert er den
Wert, den seine fleifsigen und gewissenhaften Zusammenstellungen und
Vergleichungen der in den einzelnen Städten bestehenden Vorschriften
sonst hätten. Dafs vollends eine gerechte Würdigung des bisher Er-
reichten ganz unmöglich ist, wenn man als F'olie für die jetzt bestehenden
Bestimmungen einfach irgend welche idealen Forderungen, und nicht
zugleich auch die früher, d. h. bis vor sieben Jahren, bezüglich der
städtischen Arbeiter vorhandenen Zustände benutzt, versteht sich von
selbst.
2. Die Ursachen anlangend, durch welche die Städte zur besseren
Regulierung des Arbeitsvertrags mit ihren Arbeiten veranlafst werden,
so ward bereits gesagt, dafs damit nicht etwa, wie bei manchen hygie-
nischen Reformen (Kanalisation, Wasserleitungen etc.) Forderungen ge-
nügt ward, die die Wissenschaft aufgestellt hatte. Die Wissenschaft hat
bisher diese Fragen kaum behandelt ; meine oben erwähnten beiden Ab-
handlungen dürften fafst die ersten Versuche auf diesem Gebiet sein.
Andererseits ist es aber auch falsch, wenn der „Verband der in den Ge-
meindebetrieben beschäftigten Arbeiter,, dem Verband das Verdienst ru-
schreiben will, und z. B. auch andeutet, dafs „die vorzügliche Schrift
des C. Mombert“ eine indirekte Folge seiner Thätigkeit sei, ’) woven
Mombert selbst, der der „Bewegung und Organisation der deutschen Ge-
meindearbeiter" einen kurzen Abschnitt (Kap. X S. 206 — 213) widmet,
kein Wort sagt. Ebenso ist es auch ganz falsch, wie es an anderer
*) Vgl. den citierlen Bericht S. 82.
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K. Flesch, Die deutschen Stadtgemeinden und ihre Arbeiter.
449
Stelle des angeführten Berichts (S. 78) heifst: „dafs bisher allein die
Sozialdemokraten, mit ganz wenig Ausnahmen, in wirksamer Weise die
Interessen der städtischen Arbeiter vertreten hätten". Die Behauptung,
die sich überdies als Nachsatz zu der Erklärung, dafs die Organisation
„sich nicht von vornherein einer bestimmten Partei verschreibe“ sehr
eigentümlich ausnimmt, mag einem überzeugten Anhänger der sozial-
demokratischen Partei nicht Uebel genommen werden ; — wie ja über-
zeugte und gläubige Anhänger irgend einer Religion gern alles Gute,
was in ihrem Bereich geschieht, auf den Einflufs ihrer Dogmen zurück-
führen.
Aber die Behauptung steht doch in ganz direktem Widerspruch zu
der Thatsache, dafs in den städtischen Vertretungen, welche die Be-
stimmungen erliefsen, Sozialdemokraten überhaupt nicht vertreten
waren (so in Frankfurt a. M.), oder doch nur durch verschwindend
wenige Mitglieder. Viel eher Recht hat schon Lindemann, der l) die
Arbeitsordnungen, Alterspensionen etc. der städtischen Verwaltungen
erklärt als „Resultanten entgegenwirkender Kräfte", als „Konzessionen,
die unter dem Einflufs der Arbeiterbewegung gemacht wurden, wobei
auch soziale Einsicht und wirkliche Arbeiterfreundlichkeit ebenso mitwirkend
gewesen sind, wie andererseits das Bestreben, die städtische Arbeiter-
schaft fester in die Hand zu bekommen". Genauer und vorsichtiger
noch wäre es gewesen, wenn er ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht
hätte, dafs die „Arbeiterbewegung“ und die „wirkliche Arbeiterfreundlich-
keit“, die ja selbstverständlich keine „entgegenwirkenden Kräfte“ sind,
auch nicht einfach betrachtet werden dürfen als Ursache und Folge.
Beide stehen vielmehr in einer Art geschwisterlichem Verhältnisse ; sie
sind gemeinsame Wirkungen der von I .assalle angefachten Agita-
tion, der grofsten deutschen Kulturbewegung des vergangenen Jahr-
hunderts.
Die von Mombert besprochenen Arbeitsbedingungen finden jetzt
Majoritäten in fast allen Magistraten und Stadtverordnetenversammlungen,
nicht weil vielleicht die Zahl der Mitglieder etwas gewachsen ist, die der
sozialdemokratischen Partei angehören, oder nahestehen ; und auch nicht,
weil man der sozialdemokratischen Presse, oder den Beschlüssen der
„Versammlungen der städtischen Arbeiter nachgiebt, — in denen ja bei
der Schwäche des Verbands die städtischen Arbeiter fast nicht vertreten
sind ! — sondern weil immer mehr Mitglieder gewählt werden, die, welches
auch ihre politische Ansicht sei, doch davon überzeugt sind,
dafs die Arbeiter Anspruch und Recht auf bessere Lebensbedingungen
haben : und dafs den Städten, weil sie von den Risiken des Privatunter-
nehmers frei sind, nicht einmal die Entschuldigungen zur Seite stehen,
') a. a. O. S. 55.
Archiv für §oz. Gesetzgebung u. Statistik. XVI II 29
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Miszellen.
auf die sich jener berufen kann, wenn er an sich nützliche und not-
wendige Arbeitsbedingungen verweigert.
Die Agitation und Organisation scheint hier, bei den städtischen
Arbeitern, den Reformen nachzueilen und nicht, wie sonst, voranzugehen, *)
und dies entspricht der Thatsache, dafs der Marxismus, der in Deutsch-
land die Arbeiter bisher fast ausschlicfslich beherrschte, und dessen Ver-
schiedenheit vom I.assallischen .Standpunkt wohl in Zukunft wieder mehr
beachtet werden wird, zu einseitig das Verhältnis des Industriearbeiters
zum industriellen Unternehmer berücksichtigt.
3. Bisher sind es fast ausschliefslich Städte gewesen, die Arbeits-
bedingungen der von Mombert besprochenen Art geschaffen haben, '-)
und Mombert nimmt diesen rein muuicipalen Charakter der Bewegung
denn auch als etwas ganz Selbstverständliches; die ganze Angelegenheit
erscheint ihm als speziell zum Gebiet der städtischen Verwaltung
gehörig. Richtiger ist es wohl, wenn man in dieser Beschränkung nicht
ein Definitionsmerkmal, sondern einfach einen Beweis dafür erblickt, wie
sehr die ganze Entwicklung noch in ihren Anfangsstadien sich befindet.
Formal juristisch ist der Arbeitsvertrag stets derselbe, einerlei ob der
Arbeitgeber, d. h. derjenige, der sich Arbeitskräfte zu verschaffen sucht,
ein Privatmann, oder eine juristische Person, eine Gesellschaft oder Ge-
nossenschaft reich oder arm ist. Der innere Grund, weshalb die Arbeits-
bedingungen, welche speziell die Städte ihren Arbeitern gewähren, in
neuerer Zeit vielfach andere sind, als in Handel und Gewerbe sonst
üblich, liegt nicht in der Qualifikation der Arbeiter ; sondern ausschliefs-
lich in der besonderen Eigenart des anderen Kontrahenten, der Stadt.
’) Mombert bemerkt mit Recht (S. 220), dafs gerade die Städte, welche zur Zeit
noch am weitesten zurück sind, von ihm überhaupt nicht behandelt werden konnten,
weil Erhebungen über die I.agc der Arbeiter u. s. w. dort nicht veröffentlicht sind.
*) Von den, den Städten zunächst sichenden Organisationen des öffentlichen
Rechts, den Bezirken, Kreisen, Provinzen, die alle in den ihnen zugewiesenen Ver-
waltungszwcigcn (Wegebau, Armenpflege, Anstaltsverwallung) ansehnliche Arbeiter-
scharen beschäftigen, ist bisher nur eine — die kommunalständische Verwaltung des
Regierungsbezirks Wiesbaden dem Beispiel der Städte gefolgt. Ich hatte dortseibst
bereits 1898 als Berichterstatter der Finanzkommission des Komniunatlandtages die
Nachahmung der im Jahr vorher in Frankfurt a. M. getroffenen Einrichtungen an-
geregt; und es ist dann auch wenigstens ein grofser Teil derselben — namentlich
Gewährung von Anwartschaft auf Pension, Reliktenlürsorge, ein, allerdings an viel-
fache beschränkende Voraussetzungen gebundener Ersatz des Lohnausfailes bei Krank-
heit und sonstiger Behinderung — den ständigen Arbeitern gewährt worden. Der
erste hierüber vom 1-andcsausschufs dem Kommunallandtag erstattete Bericht vom
7. März 1899 (Verhandlungen des 33. Kommunallandtages S. 388 ff. enthält eine,
auch neben dem Mombertschen Buch noch interessante Zusammenstellung der da-
mals in sieben Städten getroffenen Einrichtungen.
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K. Flcsch, Die deutschen Stadtgemeinden und ihre Arbeiter. ^ c j
Diese ist frei von manchem Drang und manchem Risiko anderer Arbeit-
geber; und sie . ist weseneins mit der Quelle allen Rechts, mit dem Staat.
Sie hat daher die Möglichkeit, und, von dem Standpunkt aus, dafs
Zweck des Staates die „Wohlfahrtspflege“ ist, ') auch die Pflicht, den
Mängeln entgegenzuwirken, welche der Arbeitsvertrag jetzt für beide
Kontrahenten — den Arbeitgeber und Arbeiter — aufweist, und denen
gegenüber andere Arbeitgeber allerdings vielfach zu schwach, und viel-
fach zu gleichgültig sind.
Alles dies gilt aber natürlich nicht nur für die Städte; sondern
ganz ebenso für die Reichs- und Staatsbetriebe, die übrigen Selbstver-
waltungskörper (Provinzen, Kreise, Gemeinden), und für die, dem wirt-
schaftlichen Konkurrenzkampf entrückten Korporationen (Kirchen, Stif-
tungen etc.). Mit vollem Recht verordnet daher bereits die oben erwähnte
preufsischc Verordnung betr. die bei dem Bau von Eisenbahnen be-
schäftigten Handarbeiter vom 21. Dezember 1846 (g 26), dafs ihre Be-
stimmungen auch auf andere öffentliche Bauausführungen (Kanal- und
Chausseebauten) Anwendung finden sollen, welche von den Regierungen
dazu geeignet befunden werden. *) Ja, sie geht noch weiter, und be-
zeichnet eine wichtige weitere Etappe auf dem zu durchlautenden Weg.
indem sie ausdrücklich anordnet (§ 24), dafs als Eisenbahnarbeitcr gelten
„alle für den Bahnbau beschäftigten Arbeiter, sie mögen von den Eisen-
bahnen unmittelbar oder von den Entrepreneurs angestellt sein. Im
letzteren Fall mufs in den betreffenden Entreprisekontrakten bestimmt
werden , inwieweit die aus gegenwärtigen Vorschriften entspringenden
Verpflichtungen auf den Entrepreneur übergeht, während die
F.isenbahndirektion für deren Erfüllung verantwortlich
bleib t.“
Man sieht, die moderne Forderung der Aufnahme von Arbeiter-
schutzbestimmungen in die Submissionsbedingungen, und die Gleich-
stellung der direkt städtischen Arbeiter mit den indirekt städtischen,
ist bereits vor sechzig Jahren in ein noch heute geltendes Gesetz auf-
genommen.
Aus dem bisher Gesagten ergiebt sich aber nicht nur, wie weit
*) Vgl. den Eingang der Reichsverfassung, nach welchem das Reich ist ein
ewiger Bund zum Schutz des Bundesgebiets und des innerhalb desselben gültigen
Recht» sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volks.
l) Auch die anscheinend mit dem Prinzip nicht im Einklang stehende Vor-
schrift des g 27 (Ausschlufs der Bestimmungen für „Handarbeiter, welche bei hand-
werksmäfsig auszuführenden Arbeiten beschäftigt werden'*) ist offenbar nur eine
Folge der damals — vor 60 Jahren ! — gewifs verzeihlichen irrtümlichen An-
schauung — , als ob die Arbeitgeber dieser Arbeiter wohl stets selbst kleine, öko-
nomisch schwache Gcwcrbslcute seien; die Ausnahme bestätigt also die Regel.
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Miszellen.
zurück die Bewegung noch ist, die zur Zeit lediglich in einigen Städten
den direkt seitens der Stadtverwaltungen eingestellten Arbeiter zu gut
gekommen ist; sondern es ergiebt sich auch ihre eigentliche Bedeutung
und Ziel.
Sie hat nichts zu thun mit dein sog. Municipalsozialismus, mit den
Bestrebungen der Städte, der Allgemeinheit und insbes. den Aermeren
durch kommunale Einrichtungen und Veranstaltungen Vorteile zuzufuhren,
welche sonst dem Einzelnen unerreichbar wären. Denn sie betrifft
lediglich eine bestimmte, abgegrenzte Zahl von Personen, und diese
nicht auf Grund ihrer Eigenschaft als Einwohner der Stadt, sondern auf
Grund des Privatrechtsverhältnisses, in dem sie zufällig und möglicher-
weise vorübergehend, zur Stadt stehen.
Ebensowenig kann aber als Ziel bezeichnet werden die Verwandlung
der städtischen, staatlichen, kommunaLständischen etc. Arbeiter : „Arbeiter-
beamte“ wie dies Mombert in Anlehnung an Klien anzunehmen scheint. ')
Das Wesentliche des Beamtentums sind ja nicht die pekuniären Ver-
pflichtungen, die der Staat als Arbeitgeber den Berufsbeamten gegenüber
in der Regel übernimmt (Gehaltszahlung, Pflicht zur Gewährung von
Pension und Reliktenfürsorge) ; und auch nicht jene Bestimmungen,
welche ihm die willkürliche Lösung des Arbeitsvertrags erschweren
(Disziplinarverfahren etc.'i. Wesentlich sind vielmehr die besonderen
Verpflichtungen, welche der Beamte, also der Arbeiter, — insoweit
das Beamtenverhältnis überhaupt ein Vertragsverhältnis ist ä) — zu über-
nehmen hat.
Diese besonderen Verpflichtungen — „zur fortgesetzten Leistung
ungemessener Dienste einer bestimmten Art“, zutn „Gehorsam gegen die
Vorgesetzten Dienstbehörden“, zu dem „besonderen Verhalten auch aufser-
halb der Dienstverrichtungen" s) werden stets, von jeder Staatsregierung,
einerlei aus welcher Partei dieselbe hervorgegangen ist, in Anspruch ge-
nommen werden, und um so energischer, je lebhafter die politischen
und wirtschaftlichen Gegensätze innerhalb des .Staatslebens hervortreten.
Aber die Gefahr, dafs jene durch das Wesen des Staats gebotene Ver-
pflichtungen degenerieren zur „Unterdrückung jeder „Selbständigkeit“,
„Knechtung des Untergebenen“, Dünkel gegen das Publikum“ besteht
allerdings.
Es ist eine völlig ungerechtfertigte Verallgemeinerung, wenn Linde-
mann *) in dieser vereinzelt auftretenden Degeneration den von Klien
gerühmten „eigentümlichen Geist“ des Beamtentums erblickt; von dem
Klien, Minimallolin und Arbeiterbeamtentum, Jena 1901. Mombert S. 2 1 4.
*) Bekanntlich wollen einzelne Staatsrechtsichrer, z. B. Bornhak, den Staatsdienst
überhaupt nicht als Vertragsverhältnis anerkennen.
Vgl. Bornhak, preußisches Staatsrecht II, S. 55.
*) So I. indemann a. a. O. S. 55.
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K. F 1 e s c li , Die deutschen Stadtgemeinden und ihre Arbeiter.
453
die städtische Arbeiterschaft nichts wissen wollen. Aber es ist doch
zweifellos dafs, eben weil jene Degeneration möglich und nicht ohne
Beispiel ist, es nicht einmal wünschenswert wäre, das Beamtenverhältnis
mit seinen eigentümlichen Verpflichtungen weiter auszudehnen, als durch
die eigentümliche Natur der Staatsaufgaben absolut gesondert ist. Im
Arbeitsvertrag sind de jure die Unabhängigkeit und die Wahrung der
Persönlichkeit besser gewahrt, als im Beamtenverhältnisse, wo sie de jure
Einbufsen erleiden. ')
Es kann also nicht darauf ankommen, generell das privatrechtliche
Arbeitsverhältnis in ein öffentlich rechtliches Beamtenverhältnis itber-
zu fuhren.
Die Schaffung der „Arbeiterbeamten'' würde aber überdies im besten
Fall einem kleinen Teil der in der Stadt wohnenden Arbeiter — den
bei Aemtern oder amtsähnlichen Betrieben Beschäftigten — zugute
kommen; und sie würde nicht nur möglicherweise zu Gegensätzen
zwischen dieser neuen bevorzugten kleinen Arbeiterschicht und ihren
Klassengenossen führen, sondern ganz sicher zur schwersten Unzufrieden-
heit der privaten Arbeitgeber, die ja das Mafs ökonomischer Sicherheit,
dessen die aus den Steuererträgnissen ausgelohnten städtischen Arbeiter
geniefsen, ihren Arbeitern gar nicht leisten können, und vielfach selbst
nicht geniefsen. 2)
Wir glauben hiernach, dafs das Schlagwort vom Arbeiterbeamtentum
die Sache, um die es sich handelt, nicht trifft. Was in einigen Städten
geändert wurde, ist der Arbeitsvertrag der Arbeiter einer gewissen Art
von Arbeitgebern : und was erstrebt werden mufs, ist die Umgestaltung
des Arbeitsvertrags, wie er zur Zeit üblich ist, nicht nur bei gewissen
*) de facto steht es bckantlich vielfach umgekehrt, Uebrigens hat der Ge-
setzgeber selbst den Gemeinden die Möglichkeit gewährt, die Zahl der Beamten im
eigentlichen Sinn zu beschränken (vgl. das preufsische Gesetz betr. die Anstellung
der Kommunalbeamten vom 30. Juli 1899).
*} In den oben erwähnten Verhandlungen des Kommunallandtags des Re-
gierungsbezirks Wiesbaden war cs relativ leicht, den ständig beschäftigten Arbeitern
Anwartschaft auf Pension und Reliktenfursorge zu verschaffen. Als ich aber des
weiteren auch die Auszahlung des Tagelohns während der auf Wochentage fallenden
Feiertage verlangte, blieb der Antrag trotz der Berufung auf das Beispiel Frankfurts
und anderer Städte in der Minderheit. Die Gegner erklärten ganz direkt, dafs die
Gewährung der Feicrtagszahlung zu Berufungen führen werde, nicht nur seitens der
Arbeiter, die etwa bei kleineren Gemeinden bedienstet seien, sondern vor allem
seitens der Arbeiter bei Privatarbeitgebern auf dem flachen Lande, die nicht würden
verstehen können, weshalb sic schlechter behandelt werden sollten, als die auf der
Chaussee beschäftigten Arbeiter des Regierungsbezirks. Die ländlichen Arbeitgeber,
insbes. die kleinbäuerliche Bevölkerung würden aber zu solchen Leistungen vielfach
überhaupt nicht imstande sein.
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Miszellen.
anderen Arbeitgebern, die, ebenso wie jene, dem öffentlichen Recht an-
gehören, sondern bei sämtlichen Arbeitgebern. Mit anderen Worten:
das Problem, um das es sich handelt, ist nicht blofs die Beseitigung
des Unterschieds, der besteht zwischen dem Anstellungsverhältnis der
Personen, durch welche der Staat seine verfassungsmäfsigen, öffentlich
rechtlichen Aufgaben erfüllt, und denjenigen anderen Personen, welche
er in seinen wirtschaftlichen Unternehmungen beschäftigt, — sondern
die Fürsorge dafür, dafs der Arbeitsvertrag generell die ihm nach Maß-
gabe unserer Wirtschaftsordnung im Interesse der Arbeiter zugewiesenen
Funktionen besser erfülle, als dies zur Zeit der Fall ist. Dafs in dieser
Beziehung die rechtliche Beordnung des Arbeitsvertrags schwere Mängel
aufweist, ist jetzt wohl allgemein anerkannt Der Arbeitsvertrag ist das
einzige Mittel, welches dem Unvermögenden zur Fristung seiner F..\i stenz
zu Gebote steht — und dieses Mittel versagte, wenigstens bis zur
Schaffung der Yersicherungsgesetze, sofort, sowie der Arbeiter erkrankte
oder im Beruf verunglückte. Er ist andererseits das einzige Mittel,
welches der Unternehmer, sei er Privatperson oder Person des öffent-
lichen Rechts, hat, um sich die notwendigen Arbeitskräfte zur Ausführung
seiner Aufgaben zu verschaffen. Es ist notwendig und vom Gesetz be-
absichtigt, dafs er dem Unternehmer Macht über den Arbeiter giebt,
aber es ist nicht zu leugnen, dafs infolge der Bedürftigkeit des Arbeiters,
infolge der Furcht, die er naturgemäfs vor einer gegen seinen Willen
erfolgenden Auflösung das Arbeitsverhältnisses hat, diese Macht des
Unternehmers in einer Art gesteigert werden kann, welche leicht zu
Arbeitsbedingungen führt, an «lenen wenigstens die der Privatkon-
kurrenz entrückten Unternehmer des öffentlichen Rechts selbst
keinerlei Interesse haben. Beseitigen, oder für alle Arbeiter mindern
kann diese Mifsbräuche nur der Wille Aller, d. h. das Gesetz, und in
abgeschwächtem Grade die Sitte. Die Aenderung vorbereiten, feststellen,
in wieweit sie nach den gegebenen Verhältnissen möglich ist, können
aber und sollen nach den ihnen obliegenden Verpflichtungen speziell die
Arbeitgeber des öffentlichen Rechts, weil sie frei sind von den Be-
schränkungen, denen die Privatunternehmer durch den wechselseitigen
Konkurrenzkampf unterliegen.
Hierin liegt die innere Begründung der Forderung, dafs die Staats-
betriebe Musterbetriebe sein sollen, und hieraus ergeben sich auch die
Aufgaben, welchen die Arbeitsverträge genügen müssen, die seitens dieser
Betriebe ihren Arbeitern vorgelegt werden.
Dafs die zur Zeit für den Arbeitsvertrag bestehende rechtliche
Regelung mangelhaft ist, zeigt sich insbesondere darin, dafs der Ar-
beitgeber die Möglichkeit hat , dem Arbeitnehmer Bedingungen aufzu-
legen, kraft deren derselbe zu geringes Entgelt erhält, zu viel
Zeit aufwenden mufs, und in seiner persönlichen Freiheit
beschränkt wird auch über Zweck und Inhalt des Arbeits-
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K. Klcsch, Die deutschen Stadtgemeinden und ihre Arbeiter.
455
Vertrags hinaus.1) Welche Mittel der Gesetzgeber anzuwenden
hätte, um diesen Mängeln entgegenzuarbeiten, um das vom Recht
vorausgesetzte Gleichgewicht zwischen den beiden Kontrahenten im
Arbeitsvertrag herzustellen, braucht hier nicht untersucht zu werden.
Jedenfalls kann die öffentliche Verwaltung Eines thun, was der von der
Kot des wirtschaftlichen Kampfes bedrängte Privatunternehmer nicht ver-
mag : sie kann auf das Uebermafs von Macht verzichten, dessen sie
nicht bedarf ; sie kann sich selbst beschränken und binden bezüglich
der Art der Entlohnung (Lohntafeln) wie bezüglich der Arbeitszeit, der
Arbeitsbedingungen (Arbeitsordnungen) und bezüglich der Grenzen und
Formen, in welchem sie das stärkste Zwangsmittel des Arbeitgebers —
die Drohung mit Entlassung — zur Anwendung bringen will.
Ob diese Bindung erfolgt durch Gewährung gerichtlich erzwingbarer
Rechte oder nur durch Gewährung von Anwartschaften, oder durch
einseitige, juristisch bedeutungslose ist materiell ziemlich gleichgültig;
öffentliche Verwaltungen, die unter der Kontrolle der Presse, der poli-
tischen Körperschaften, der Stadtverordnetenversammlungen etc. stehen,
können auch blofse Anwart- schäften (auf Pension etc.) oder freiwillig
abgegebene Erklärungen nicht willkürlich unerfüllt lassen. Andererseits
aber sind manche der zu beordnenden Punkte, die prinzipiell gerade
die gröfste Wichtigkeit haben, den hergebrachten Auffassungen so fremd,
dafs es begreiflich ist, wenn die Verwaltungen sich in der Möglichkeit
von Aenderungen nicht beschränken wollen ; man denke nur an die
Vorschriften, welche den Lohn für Verheiratete und Ledige verschieden
bestimmen, oder welche die Verwaltung bei der Entlassung von Arbeitern
beschränken und binden.
Im übrigen soll hier selbstverständlich nicht auf den möglichen
Inhalt der Arbeitsordnungen der Arbeitgeber des öffentlichen Rechts,
oder auf den thatsächlichen Inhalt der von Mombert ausführlich dar-
gestellten städtischen Arbeitsordnungen eingegangen werden.
Es handelt sich um Beseitigung von Uebelständen, die allen Arbeits-
Verträgen, nicht nur denen der städtischen Arbeiter anhaften. Was bisher
geschehen ist, sind Versuche, gewissermafsen Experimente im kleinen;
sie beruhen auf dem freiwilligen Gewähren einzelner Arbeitgeber, die,
weil sie „juristische“, also zeitlich unbeschränkte, nicht physische, kurz-
lebige Personen sind, auch durch Rücksichten auf die Beendigung des
Betriebs, die Notwendigkeit einer Liquidation, Erbteilung etc. nicht ge-
hemmt sind. Die einzelnen Bestimmungen haben zur Stütze nicht den,
im Gesetz zum Ausdruck gelangenden Willen des Staats, und noch nicht
einmal die, in der Sitte sich manifestierende Volksüberzeugung. Im
Gegenteil, das Gesetz hindert nicht, und die Sitte gestattet ohne Mifs-
billigung, dafs der „Tagelohn" aufhört an Festtagen, seien es auch die
*) Vgl. meine Sclirifl: Zur Kritik des Ar bei ts Vertrags (Jena, Gustav Fischer, 1901).
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Miszellen.
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sonst heiligst geachteten kirchlichen Feiertage ; dafs die Arbeitszeit in
einem Mafse ausgedehnt wird, die dem Arbeiter die Möglichkeit des
Familienlebens fast benimmt; dafs der Arbeiter bei jeder dem Arbeit-
geber unlieben Handlung, habe sie auch mit dem Arbeitsvertrag nicht
das Mindeste zu thun, von der Arbeit ausgeschlossen wird.
Jede neue städtische Arbeitsordnung, — die ja gegen den Willen
der städtischen Vertretungen nicht zustande kommen kann — ist ein
beweis, dafs sich hier eine Aenderung der Sitten vorbereitet, und
ein Schritt auf dem Weg, der zur Reform des Rechts des Arbeits-
vertrags führt. Was auf diese Art geschehen kann, ist natürlich nicht
unbegrenzt; und mufs darauf gefafst sein, gemifsdeutet zu werden, ins-
besondere von denjenigen, für welche das Dogma ist, dafs eine Aende-
rung des Rechts des Arbeitsvertrags, unmöglich sei ; dafs Hilfe für die
Arbeiter nur dadurch erwachsen könne, dafs der Arbeitsvertrag beseitigt,
und die auf den lirbeitsvertrag begründete Volkswirtschaft durch eine
auf dem Gesellschaftsvertrage begründete ersetzt werde.
Es gab eine Zeit, in der man um Dogmen kämpfte, weil man glaubte,
dafs von den Dogmen, von den Glaubenssätzen über die letzten und
unbeweisbaren Dinge das Handeln in der Gegenwart unmittelbar abhänge.
Diese Zeit ist auf dem Gebiet der Religion vorüber und sie beginnt zu
weichen auch auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Je
mehr man sich überzeugt, dafs die F'rage, ob unsere Wirtschaftsordnung
in alle Zukunft dauernd auf den Arbeitsvertrag zu gründen sei, gleich-
gültig ist für die Aufgaben, die der Gegenwart zufallen, um so mehr
wird die Arbeit, welche die Gemeinden jetzt verrichten, und durch
welche die Möglichkeit der Beseitigung gewisser mit dem Arbeitsvertrag
verbundener Uebelstände innerhalb des Arbeits Vertrags geprüft
wird , in ihrer Bedeutung anerkannt werden, und ein Feld der gemein-
samen Thätigkeit aller Parteien werden. Die Mombertsche Schrift aber
hat das Verdienst, das thatsächliche Material, das hierüber bisher be-
schafft ist, ausführlich zusammengestellt, und leicht zugänglich gemacht
zu haben.
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„darunter“ heifsen: „darüber“.
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Zur Koalitionsfreiheit.
Von
M. v. SCHULZ,
Vorsitzendem des Gewerbegerichts zu Berlin.
Unter der Koalitionsfreiheit versteht man das Recht,
nach Belieben zusammenzutreten, um Forderungen bezüglich des
Lohnes oder sonstiger Punkte des Arbeitsvertrages aufzustcllcn und
durchzusetzen.1) Koalition ist sodann diejenige Verbindung,
welche zur Krlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen ein-
gegangen ist.2) Die Arbeitgeberverbände befinden sich in so gut
*) Stieda in Conrads Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. V, 2. Auf-
lage S. 120. Uebcr die vorhandenen Arbeitcrbcrufsvcrcine und deren Mitglicderzahl
siehe van der Bor gilt, Die Weiterbildung des Koalitionsrcchts der gewerblichen
Arbeiter in Deutschland. Berlin 1899 S. 17 u. 18, Conrads Handbuch der Staats-
wissenschaften Bd. IV, S. 6 1 2 ff. ; K u 1 c m a n n , Die Gewerkschaftsbewegung ; L c g i c n ,
Das Koalitionsrccht ; über christliche Gewerkschaften s. Albrecht, Handbuch
der Sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland Bd. I, S. 175, 181 ff. und Bd. II,
S. 215 ff.; Heft 2 der Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform: die Arbciter-
berufsvercine ; Ad. Braun, Littcratur von und über Gewerkschaften in diesem
Archiv Bd. XVIII, S. 204fr.; Sydow, Die gesetzliche Anerkennung der Bcrufs-
vercinc in Soz. Praxis XII, S. 172 fr.; endlich Bibliographie des Bulletin des inter-
nationalen Arbeitsamts zu Basel.
Lot mar in diesem Archiv Bd. XV’, S. 48; „Koalitionen sind Verbin-
dungen von Arbeitgebern oder Verbindungen von Arbeitnehmern, hingegen regel-
mäfsig nicht auch Verbindungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ (entgegen-
gesetzte Interessen!). Wir haben solche Ausnahmen in Berlin erlebt beim Strike
der Konfektionsarbeiter und beim Strike der Linoleumleger. Bei dem grofsen sogen.
Konfcktionsstrikc kämpften die Zwischcnmcistcr mit ihren Arbeitern und den Ar-
beitern der Grofsuntcrnchmcr Schulter an Schulter gegen die Unternehmer. Aehn-
lich war der Thatbcstand beim Linolcumlcgcrstrike. Neuerdings macht in England
Archiv fiir soz, Gesetzgebung u. Statistik. XV11I. 3^
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45»
M. v. Schulz,
wie ungestörtem Genufs der Koalitionsfreiheit. *) Die Berufs-
vereine der Arbeiter sind zur Zeit nicht in einer gleichen glück-
lichen Lage.
Bei Beratung der Novelle zur Gewerbeordnung von 1891
liefs die Reichsregierung in der Reichstagskommission erklären, dafs
das „Koalitionsrecht“ der Arbeiter nach I-age der Sache für dieselben
nicht entbehrt werden kann. Wir werden unten noch darauf zurück-
kommen, dafs die bestehende Koalitionsfreiheit der Arbeiter nicht
nur unentbehrlich ist, sondern dringenden Ausbaues bedarf. Nur
wenn die Vereine der Arbeitnehmer dieselben Freiheiten haben
werden, welche bereits die Arbeitgeberverbände geniefeen, nur wenn
die beiderseitigen Organisationen gleich kräftig sein werden, wird
die Tätigkeit der Einigungsämter der Gewerbegerichte den Gewerbe-
treibenden dauernden Nutzen bringen.
eine „Trade Allianc“ genannte Koalition von Arbeitgebern und Arbeitnehmern viel
von sich reden. Jene stellen nur Gewerkschaftler ein, diese boykottieren die Preis-
drücker. Siehe darüber Schm oller: Ucber Organe für Einigung und Schieds-
sprüche in Arbeitsstreitigkeiten. Verlag der künigl. Akademie der Wissenschaften.
In Kommission bei Georg Reimer S. 9; Bernstein, Neue Formen gewerblicher
Verbindung in England (Jahrg. 17 der Neuen Zeit 1899 erste Hälfte S. 229 tT. und
H. W. Macrosty, Trusts and the State, London 1901 (Grant Richards). Achn-
liche Verabredungen haben auch schon vor dem Berliner Einigungsamt stattgefunden.
Siehe „Das Berliner Gewerbegericht“, Verlag von Franz Siemcnroth, Berlin 1903
S. 369 u. Anm. 4. Bezüglich des Tarifvertrages zwischen dem Solinger Schcrcn-
fabrikantenverein und dem Scherenschleifervcrcin, vgl. Kulemann a. a. O. S. 670.
Im übrigen haben trotz bestehender Verbote oder Strafbestimmungen die
Arbeiter es von jeher verstanden, wenn sic es für erforderlich hielten, sich zu koa-
lieren. Die Arbeitgeber sind des ungeachtet den Arbeitern gegenüber im wesent-
lichen Vorteil schon dadurch, dafs die Arbeitgeber die wirtschaftlich stärkere Partei
und im Gegensatz zu den Arbeitern weniger an Anzahl sind. Infolgedessen wird
es ihnen viel leichter, Koalitionen zu schliefsen (Hcrkner, Die Arbeiterfrage.
Berlin 1894 S. 249). Es ist dabei vorauszusehen, welcher von beiden Teilen ge-
wöhnlich das Uebergewicht behält und den anderen zur Erfüllung seiner Be-
dingungen zwingt. Die Arbeitgeber können Lohnbewegungen etc. viel länger aus-
halten (Adam Smith, Wealth of nations, übersetzt von Löwenthal, Berlin 1879 bei
Elwin Staude S. 70 u. 71). Siche hierzu Franz Oppenheimer, Kapital und
Arbeiternot in „Der Grofsbetrieb“. Freier Verlag, Berlin, 15. Februar 1902 Nr. 14,
S. 228 letzter Absatz und Reichstag des Norddeutschen Bundes, Sitzung am 14. Ok-
tober 1867 S. 41 1 Sp. 2. Die Erfahrung lehrt, dals junge Koalitionen meist als
ihre Aufgabe den Kampf und nicht die Aufrechterhaltung des Friedens ansehen.
*) Löwcnfcld in diesem Archiv Bd. XIV, S. 485 ff.
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Zur Koalitionsfreiheit.
459
Wir wollen zunächst nachstehend in kurzen Umrissen eine
Geschichte des sog. Koalitionsrechtes geben.
Beginnen wir mit der Zunftzeit. •) Schon damals bestanden
Gcsellenverbände, welche ursprünglich zu ganz anderen Zwecken
wie die modernen Arbeiterorganisationen gegründet waren. *) Später
benutzten aber auch sie die Stärke ihrer Gemeinschaft, um für die-
selben Fragen einzutreten, welche heute bei den Bewegungen der
Arbeiter eine wichtige Rolle spielen (Verbesserung der Löhne,
der Arbeitszeiten, der Behandlung etc.). *) Als Kampfesmittel be-
dienten sich die Zunftgesellen des Strikes und des Aufstandes. 4)
Die Zunftmeister richteten gegen ihre Gesellen wenig aus, eben-
sowenig wie zunächst Reichs- und Landesgesetze diese niederzu-
halten vermochten. ®) Die Gesellenunruhen hörten nicht auf. Dazu
kamen Mifsbräuche der Gesellen (Schwelgereien, Verrufserklärungen
von Mitgesellen und Meistern etc.), welche sich allmählich ein-
geschlichcn hatten. Alle diese Umstände führten endlich zu dem
Reichsgesetz vom 1 6. August 1731, der Reichszunftordnung.®) Das
Gesetz, welches auf energisches Betreiben Preufsens zustande ge-
kommen war, zerstörte die Macht der Verbände der Gesellen und
*) Ucbcr den Charakter des Zunftwesens von seiner Entstehung bis zum Verfall
siehe Böhmert, Beiträge zur Geschichte des Zunftwesens. Leipzig 1862, S. 25 ff.
*) Schoenlank in Conrads Handwörterbuch Bd. IV, S. 183: „Brüderschaft
und Gesellschaft“; Will, Koalitionsrecht der Arbeiter in Elsafs-Lothringen S. 3.
*) So wird von zwei Tarifverträgen der Weber in Speicr aus den Jahren 1351
und 1361 berichtet, zu welchen lediglich unter dem Druck von Ausständen
die Meister sich hatten nötigen lassen. (Stahl, Das deutsche Handwerk S. 339
u. 340; Lot mar, Der Arbeitsvertrag Bd. I, S. 758 und Schoenlank a. a. O.
S. 186 u. 187.
*) Mäscher, Das deutsche Gewerbewesen von der frühesten Zeit an. Pot dam,
Verlag von Eduard Döring 1866 S. 344, Schoenlank a. a. O. S. 190, Brentano,
Die Arbeitcrgilden Bd. I 1871 S. 78.
Siehe über Koalitionsverbote zuerst durch Karl den Grofsen, Franz Oppen-
heimer, Grofsgrundeigentum S. 253, dann durch Sachsenkaiser (ebendort S. 318,
vgl. auch S. 457).
ft) Die Versuche durch alle möglichen Gcwaltmafsregeln, Verbote, Ausweisungen,
Strafen u. s. w. die Regungen der Gesellenvercine zu unterdrücken mifsglückten.
Gesellen, welche die Arbeit einstclltcn, bedrohte man beispielsweise mit dem Ohren-
abschneiden (Mäscher a. a. O. S. 227; Schoenlank a. a. O. S. 190).
®) Den letzten Anlafs zum Einschreiten des Reiches bot der Aufstand der
Tuchknappen in Lissa (Mäscher a. a. O. S. 34; Schoenlank a. a. O. S. 192 u.
Meyer, Geschichte der preufsischen Handwerkerpolitik Bd. II 1888 S. 34 ff.
30*
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M. v. Schulz,
460
ihre Koalitionsfreiheit. Von nun an stellte die „Kundschaft",1)
welche die Reichszunftordnung einführte, die Gesellen unter die
strenge Aufsicht der Meisterschaft und der Obrigkeit.
In Preufsen bemühte man sich, das Gesetz von 1731 sofort
durchzuführen. Auf seiner Grundlage wurden die Generalprivilegien
für die Kur- und Neumark und die Handwerksordnung vom 10. Juni
1732 für Ostpreufsen geschaffen. Eine ein besonderes Schriftstück
bildende Handwerksordnung für die Kur- und Neumark, wie eine
solche für Ostpreufsen vorliegt, gab es nicht. Die Handwerks-
ordnung für Preufsen stimmt aber inhaltlich mit den Generalprivi-
legien überein. 2) Die Vorschriften über die „Kundschaft" wurden
wiederholt. Ueber das Verbot der Koalition spricht sich
Art. XXXI 8) der Handwerksordnung für Ostpreufsen folgender-
mafsen aus:
„Wann die Gesellen unter irgends einigem Prätext hinftihro einen
Aufstand zu machen, folglich sich zusammen rotliren. und entweder die an
Orth und Stelle noch bleibende so lange bifs ihnen in diesem oder jenem
unbilligen und unzulässigen Begehren gefuget worden, den Meistern die
Arbeit und den Gehorsahm zu versagen, oder selbst hauffenweisc auszu-
treten, oder anders dergleichen rebellisches Unwesen sich unterstehen
würden, so sollen dergleichen Freveler und bofshaffte Verächter dieser
Unserer Handwerks-Ordnung nicht allein wie oben Art. XXI schon er-
wehnet, mit Gcfängnifs- Zucht-Haufs, und Vestungs -Baustrafe 4) beleget,
sondern auch nach Beschaffenheit der Umbstände, und hochgetriebener Re-
nitente, auch würklich verursachten Unheils am Leben gestraffet werden.
Falls nun die Stadt-Magistrate sie allein zu bändigen nicht vermöchten,
haben sie davon alsofort ihren ausführlichen Bericht an Unsere Preufsischc
Krieges- und Domainen-Cammer zu erstatten, damit dieselbe das nötbige
darauf veranlassen, und allenfalls die Sache an Unsere höchste Persohn
zu weiterem Verfügen bringen könne. Sölten derglciche ausgetretene
*) Siehe darüber in diesem Archiv Bd. XIV S. 1 50 ff. und „das Gcwcrbcgericbt
Berlin“ S. 8. Die Kundschaft war ein von der Gewerkschaft ausgestelltes
Führungsattest für die Wanderschaft und zugleich Legitimation für den
wandernden Gesellen. Vgl. noch L)r. Rüffer, Das gewerbliche Recht des allge-
meinen Preufsischcn Landrechts und die Preufsische gewerbliche Gesetzgebung von
1810 und 1811. Tübingen, H. Lauppsche Buchhandlung 1903, S. 192 Anm. l u.
S. 322. Dazu Goldschmidt in Annalen des Deutschen Reichs 1901 S. 333.
*) Meyer a. a. O. S. 97.
*) Meyer a. a. O. S. 343.
4) Strafen für Schimpfen und Auftreiben der Gesellen, welchen „Übeln Ver
haltens wegen“ die Kundschaft einbchaltcn worden.
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Zur Koalitionsfreiheit.
461
aufrüh rische Gesellen in des Heil. Römischen Reichs oder andere Lande
gepflüchtet und darinnen anzutrefien sein; So wird des Orths Obrigkeit
im Römischen Reich sic auf geschehene Requisition, nach Maafsgebung
obgcdachten Kayserlichen erneuerten Handwerks-Constitution '), zur Ver-
halt zu bringen und entweder zurück zu liefern, oder sic wenigstens
sclbsten bchörig zu bestraflen nicht unterlassen : Gestalt wir dann auch
wollen, und K rafft dieses ernstlich befehlen, dafs an keinem Orth Unsres
Königreichs, dahin dergleichen muthwillig aufstehende, oder ausgetretene
Handwercks Pursche ihre Zußucht nehmen möchten, denen selben einiger
Aufenthalt, so wenig in Wirths-I läusern, als sonst in andern Häusern ge-
stattet, oder sie mit Speise und Trank versehen, sondern vielmehr gegen
die frevelnde Handwercks-Purschc sowohl als gegen derselben Heelcr, als
Mithelfer der Auffrührigcn, mit obigen Strafen verfahren werden soll.“ *)
Aus den Gewerbeordnungen Friedrich Wilhelm I. hat das All-
gemeine Preufsische Landrecht a) das Koalitionsverbot und die Vor-
schriften bezüglich der Kundschaft übernommen. Hiernach be-
stimmte die preußische Allgemeine Gewerbeordnung vom 17. Januar
1845 folgendes:
§ 1 8 1 . Gewerbetreibende, welche ihre Gehilfen, Gesellen oder Ar-
beiter, oder die Obrigkeit zu gewissen Handlungen oder Zugeständnissen
dadurch zu bestimmen suchen, dafs sie sich miteinander verabreden,
die Ausübung des Gewerbes einzustellcn, oder die ihren Anforderungen
*) Reichsgcsetz vom 16. August 1731.
*) Andere Staaten folgten dem Beispiele Preufsens. Das Reichsgesetz von
1731 wurde übrigens mehrmals den Gesellen Deutschlands in Krinnerung gebracht.
Die Neigung der Gesellen zu Vereinigungen scheint somit sich
immer wieder bemerkbar gemacht zu haben. Schoenlank a. a. O.
S. 192 u. 193.
*) Th. II Tit. 8 §§ 335 ff. und §§ 396 ff. und Dr. R üffer a. a. O. S. 197. Die
Gesellen gehörten zur Zunft und waren in allen ihren Angelegenheiten der Auf-
sicht der Acltesten und des Beisitzers unterworfen. Sie bildeten unter sich keine
besondere „Kommune“ oder privilegierte Gesellschaft. F.in Vcrsammlungs-
recht hatten sie nur, soweit die Zunftartikel oder die Polizeigesetze dies gestatteten.
Jede Versammlung war vorher den Acltesten anzuzeigen. G o 1 d sc h m i d t a. a. O. S. 433.
Aus der Gesetzgebung von 1810 und 1811 ist noch zu vermerken, dafs, wenn
zwar Lehrbrief und Kundschaft für den zünftigen Gesellen fortbestanden, an
deren Stelle für den unzünftigen Gesellen das durch die Obrigkeit beglaubigte
Zeugnis des Lehr- oder Lohnherrn mit gleicher Gültigkeit trat. Dr. R üffer a. a. O.
S. 322. Siehe noch Locning in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik LXXVI
S. 257 und Rosenberg, Das Vereinsrecht des Bürgerl. Gesetzbuchs und die Ge-
werkschaftsbewegung. Berlin 1903 S. 6.
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462
M. v. Schulz
nicht nachgebenden Gehilfen, Gesellen oder Arbeiter zu entlassen oder zu-
rückzuweisen, ingleichen diejenigen, welche zu einer solchen Verab-
redung andere auffordern, sollen mit Gefängnis bis zu einem
Jahre bestraft werden.
§ 182. Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter, welche entweder die
Gewerbetreibenden selbst, oder die Obrigkeit zu gewissen Handlungen
oder Zugeständnissen dadurch zu bestimmen suchen, dafs sie die Ein-
stellung der Arbeit oder die Verhinderung derselben bei einzelnen oder
mehreren Gewerbetreibenden verabreden, oder zu einer solchen V er -
ab re d u n g andere auffordern, sollen mit Gefängnis bis zu einem
Jahre bestraft werden.
Diese Bestimmung ist auch anzuwenden auf Arbeiter, welche bei Berg-
und Hüttenwerken, Landstrafsen, Eisenbahnen, Festungsbauten und anderen
Öffentlichen Anlagen beschäftigt sind.
§ 183. Die Bildung von Verbindungen unter Fabrikarbeitern, Ge-
sellen, Gehilfen oder Lehrlingen ohne polizeiliche Erlaubnis ist, sofern
nach den Krimin algcsetzcn keine härtere Strafe eintritt,
an den Stiftern und Vorstehern mit Geldbufse bis zu fünfzig
Thalcrn oder Gefängnis bis zu vier Wochen, an den
übrigen T eilnehmern mit Geldbufse bis zu zwanzig
Thalern oder Gefängnis bis zu vierzehn Tagen zu
ahnden. *)
Die Kundschaft konnte freilich neben der durch die Ge-
werbeordnung zur Geltung gebrachten Gewerbefreiheit nicht be-
stehen bleiben. Sie wurde durch das Zeugnis ersetzt, welches
dem Gesellen auf sein Verlangen auszuhändigen ist.’)
*) Zu den §§ 181 — 183 siche Entwurf eines allgemeinen Gewerbepolizei-
gesetzes nebst Motiven, gedruckt Berlin 1837 bei A. W. Hayn S. 25, 26, und 117.
Die §§ 181 und 182 untersagen lediglich die Verabredung (Koalition) zur Aus-
sperrung und zum Strike. Sic verbieten ni c h t Koalitionen der Arbeitgeber und
Arbeiter, welche andere Zwecke wie Strike und Aussperrung verfolgen. Mit den
Verbindungen des § 183 sind augenscheinlich im Gegensatz zu den Verab-
redungen des § 182 d a u c rn d e Vereinigungen gemeint, welche von polizeilicher
Genehmigung abhängig sein sollten. Diesen Verbindungen waren natürlich durch
§ 182 Strikevcrabredungen ebenfalls verwehrt. Vgl. noch § 185 II 20 des preufs.
allgemeinen Landrccbts und §§ 98 und 99 des preufsischcn Strafgesetzbuches vom
14. April 1851 und dazu Art. II des EinfÜhrungsgesetzes. §§ 181 u. 182 bestimmen
die Bestrafung der „Nötigung", sind aber durch § 240 des Reichsstrafgesetzbuches
aufgehoben (Soziale Praxis v. 2. April 1903 Sp. 7 1 7) falls dies nicht bereits durch
die $}§ 152 u. 153 der Reichsgewerbeordnung geschehen ist Hierüber noch unten.
*) § 142 der preufs. Gewerbeordnung und hier Anm. 3 S. 461 a. E.
In der Folge wurde die preufsische Verfassung unter dem 31. Januar 1850 er-
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Zur Koalitionsfreiheit
463
Inzwischen rührten sich die Freunde der Koalitionsfreiheit fleifsig.
Bereits 1861 und 1865 wurde im preufsischen Abgeordnetenhause
lassen. Artikel 29 u. 30 derselben gewähren das freie Versa'mmlungs- und Vereins-
recht. Siehe hierzu Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit
und Ordnung gefährdenden Mifsbrauchs des Vcrsammlungs- und Vereinigungsrechtes
vom II. März 1850 (preufs. Vercinsgcsetz).
Der Ansicht, dafs die Verfassung Koalitionsverbote „und -cinscbränkungen ein
für allemal aufser Kraft gesetzt habe (Stic da a. a. O. S. 124, siehe auch Reichs-
tag vom 4. März 1903, 273. Sitzung S. 8375 (B) und S. 8385 (D)), ist in der Gesetz-
gebung nicht zur Geltung gelangt (Nordd. Allgem. Zeitung vom 6. u. 10 März 1903
(Hauptblatt), dazu Reichstag des Norddeutschen Bundes am 14. Oktober 1867 S. 401
Sp. I und Art. 107 der Verfassung). Denn sonst hätten nicht im § 3 des Gesetzes
vom 24. April 1854 betr. die Verletzungen der Dienstpflichten des Gesindes und der
ländlichen Arbeiter die Koalitionen des Gesindes, der Schiffsknechtc und Dienstleutc
verboten werden können. Das Gesetz ist noch nicht beseitigt und, soweit § 3 in
Betracht kommt, wichtig für Gärtnergehilfen, welche von einigen zu dem Ge-
sinde bezw. zu den ländlichen Arbeitern gerechnet werden (M. v. Schulz in den
Schriften der Gesellschaft für soziale Reform Heft 6 S. 6). Ueber den Kontrakt-
bruch und seine Bestrafung s. Anm. 4 S. 467 und M. v. Schulz a. a. O. Anm. II.
Auch in dem Gesetz vom 21. Mai 1860 betr. die Aufsicht der Bergbehörden
über den Bergbau und das Verhältnis der Berg- und Hüttenarbeiter hatte man
(§§ *6 — 20) für Bergwerkseigentümer, deren Stellvertreter und für Bergleute Koalitions-
verbotc in Anlehnung an die Bestimmungen der preufs. Gewerbeordnung angeordnet.
(Gesetz-Sammlung für die Königl. Preufsischen Staaten 1860 S. 205.)
In jüngster Zeit sollte bei Beratung der neuen Seemannsordnung in der Kom-
mission den Seeleuten die Koalitionsfreiheit der §§ 152 u. 153 Reichsgewerbeordnung
verliehen werden. Die Reichstagsmehrheit hat ihnen dieses Recht versagt, nachdem
die Reichsregierung erklärt hatte, dafs in Rücksicht auf Disziplin und Autorität eine
Seemannsordnung, welche den Seeleuten die Koalitionsfreiheit einräume, von ihr nicht
angenommen werden würde. Vgl. hierzu Reichstag des Norddeutschen Bundes
Sitzung am 14. Oktober 1867 S. 397 Sp. I, S. 403 Sp. 1, S. 405 Sp. 2 a. E.
Eis wird behauptet, dafs die Bestimmungen der Preufsischen Gewerbeordnung,
welche die Koalitionsfreiheit der Eisenbahnarbeiter zum Strike ausschlicfsen (§ 182
Abs. 2 u. Anm. 1 S. 462) durch die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom
Jahre 1869 nicht aufgehoben seien. Vergl. zur Widerlegung Soziale Praxis IX
Sp. 1080 ff. und XI Sp. 128 ff. u. Sp. 161 ff., „das Gewerbegericht Berlin“, Verlag
von Franz Sicmenroth 1903 S. 38 ff. und Vossische Zeitung vom 17. März 1903. Bei
dem „Gewerbebetrieb der Eisenbahnuntemehmung“ des § 6 Gewerbeordnung hat
der Gesetzgeber nur an den Unternehmer gedacht. Die Eisenbahnarbeiier sind
gewerbliche Arbeiter, denen die Koalitionsfreiheit zusteht. Wenn ein Eliscnbahn-
unternehmer Für seinen Betrieb Arbeiter annimmt, so gehört diese Thätigkeit aller-
dings zu seiner Unternehmung. Man wird aber nicht sagen wollen, dafs jene Eisen-
bahnarbeiter mit ihrem Arbeitgeber zusammen den „Gewerbebetrieb einer Elisenbahn-
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464
M. v. Schulz
über die Aufhebung der die Koalitionsfreiheit der Arbeiter be-
schränkenden §§ 181 ff. der prcufsischen Gewerbeordnung ver-
unternehmung“ austtben. Die Eisenbalmarbeitcr sind vielmehr die Mittel, deren
sich der Unternehmer bedient, um sein Gewerbe zu betreiben, ähnlich wie er zu
seinem Betriebe der Maschinen u. s. w. benötigt. Uebcrdies sprechen die Motive
zur G.O. für den Norddeutschen Bund von einer umfassenden Gewerbe-
ordnung welche die Gewerbegesetz g c b u n g c n im Sinne der ... Herstellung
gleich mäfsiger Grundsätze für das ganze Bundesgebiet“ umgestaltcn sollte.
Ferner wird dort bemerkt, dafs „für alle Teile des Bundesgebiets . . . die Aufhebung
der Koalitionsverbote ein anerkanntes Bedürfnis sei. Wenn cs dann in den Motiven
S. 7 weiter heifst:
durch diese Bestimmungen ist, soweit cs sich um gewerbliche
Arbeiter handelt, den Gesichtspunkten entsprochen, welche für den
Reichstag bei Voticrung des Entwurfes eines Gesetzes über Koalitionen
von Arbeitern und Arbeitgebern, sowie über die Aufhebung der Beschrän-
kungen der freien Verwertung der Arbeitskräfte im Jahre 1S67 leitend
waren,
so sollte damit nur darauf hingewiesen werden, dafs entgegen den Wünschen des
Reichstages von 1867 die Koalitions verböte für die landwirtschaftlichen Ar-
beiter und Tagelöhner, bestehen bleiben. § 1 des Entwurfes lautet a. A. :
„Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Arbeitgeber oder Arbeiter sämtlicher
Gcwerbszwcige mit Ausnahme der Seeschiffahrt und des Gesinde-
dienstes, einschliefslich jedoch der Landwirtschaft . . . , des Tagelohndienstes u. s. w.“
lieber eine Ausnahme der Eisenbahnunternehmungen ist nicht einmal während der
Verhandlungen debattiert. Eisenbahnuntcmchmungcn gehören also zu den „samt-
1 ichen Ge werbsz weigen“. Bez. der ländlichen Arbeiter s. noch Loening a. a. O. S. 314
und Lot mar in diesem Archiv Bd. XV S. 58.
Es würde endlich verfehlt sein, daraus, dafs in dem § 182 der preul'sischcn
Gewerbeordnung neben den Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeitern die Eiscn-
bah narbeiter besonders genannt sind, entnehmen zu wollen, dafs die preufsischc
Gewerbeordnung diese als gewerbliche Arbeiter nicht angesehen hat. Im § 182
Abs. 2 heifst cs, dafs „Arbeiter, welche bei Berg- oder Hüttenwerken, Landstrafscn,
Eisenbahnen, Festungsbauten und anderen öffentlichen Anlagen beschäftigt sind,
sich nicht zu Arbeitseinstellungen verabreden dürfen.“ Als man den Absatz 2 fest-
setzte, mufs das öffentliche Interesse allein leitend gewesen sein („öffentliche An-
lagen"). Denn zu den „Arbeitern“ des Absatz 2 gehören auch nach dem Wort-
laut der Bestimmung „Gesellen und Gehilfen“ sowohl der Unternehmer der in dem
betreffenden Absatz genannten Anlagen als auch der etwaigen Zwischenunternehmer,
die bereits durch Abs. 1 § 182 von der „Verabredung“ abgehalten werden sollen
(Vossische Zeitung vom 17. März 1903).
Wenn Eisenbahnarbeiter nicht als gewerbliche Arbeiter angesehen
werden dürfen (siche v. Land mann, Kommentar zur Gewerbeordnung 4. Auflage
Bd. I S. 67 ff.J, dann hat freilich Heine mann in der Sozialen Praxis vom 2. April
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Zur Koalitionsfreiheit.
465
nandelt. *) Alsdann legte in der außerordentlichen Session des
Landtages von 1866 die preufsische Regierung einen Gesetzentwurf2)
vor, welcher im § I die Aufhebung der erwähnten Bestimmungen
aussprach, im § 2 eine dem heutigen § 152 Abs. 2 Reichsgewcrbc-
ordnung entsprechende Vorschrift enthielt, während § 3 wörtlich
dem heutigen § 153 gleichlautend war. Der Entwurf wurde nicht
Gesetz.
Hiernach stellten im ersten Reichstage des norddeutschen Bundes
1867 die Abgeordneten Schulze-Delitzsch und Becker den Antrag
auf Beseitigung des Koalitionsverbotes. Der von den Abgeordneten
vorgelegte Entwurf gelangte mit der Einschränkung, dafs für d i e
Schiffahrt und den Gesindedicnst a) das Verbot aufrecht
erhalten wurde, zur Annahme. Es sollte die Koalitionsfreiheit den
Arbeitgebern und Arbeitern sämtlicher Gewerbszweige einschliefs-
lich der Landwirtschaft und des Berg- und Hüttenbetriebes ge-
währt sein.
Im folgenden Jahre kam die Vorlage zu einer Gewerbeordnung
für den norddeutschen Bund an den Reichstag, *) welche aber nicht
erledigt wurde. Die Vorlage mufste deshalb 1 869 erneuert werden.
Sie führte zur Gewerbeordnung vom 2i.tJuni 1869 und zur Auf-
hebung der Koalitionsverbote. Die Paragraphen der Entwürfe haben
nachstehenden Inhalt:
§ i6S. Verabredungen unter Gewerbetreibenden, welche daraut
gerichtet sind, ihre Gehilfen, Gesellen oder Arbeiter zu gewissen Hand-
lungen oder Zugeständnissen dadurch zu bestimmen, dafs sie die Arbeit
cinstellen , oder die ihren Anforderungen nicht nachgebenden Gehilfen,
Gcsclle.n oder Arbeiter entlassen oder zurückw’cisen, sind nichtig.
Verabredungen unter Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeitern,
welche darauf gerichtet sind, Gewerbetreibende dadurch zu gewissen
Handlungen oder Zugeständnissen zu bestimmen, dafs sie die Arbeit ein-
stellen, oder dieselben verhindern, sind nichtig.
1003 Sp. 716 IT. durchaus Recht mit seiner Darlegung, dafs erst § 240 R.St.G, den
Eisenbahnarbeitern die Schranke zur vollen Koalitionsfreiheit hinweggeräumt
hat. Siehe hier Anm. 1 a. E. S. 462 u. v. Land mann Bd. II S. 496.
*) Sticda a. a. O. S. 125 u. 126.
*) Stcnogr. Berichte Über die aufscrordcnllichc Session von 1866 Bd. 1. S. 1 4 1 ff.
und Goltdammcr, Archiv für Strafrecht. 46. Jahrg. S. 379 ff.
*) Siche Anm. 2 S. 462 u. Gold Schmidt a. a. O. S. 441 u. 442.
4) Reichstag des Norddeutschen Bundes Nr. 43, I. Legislaturperiode, Sitzungs
Periode 1S68, S. 36, Begründung S. 7.
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M. v. Schulz
Diejenigen Bestimmungen der Landesgezetzc, welche Verabredungen
der vorbezeichneten Art unter Strafe stellen, treten aufser Kraft.
§ 169. Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch
Drohungen, durch Ehrverletzung oder durch Verrufserklärung bestimmt
oder zu bestimmen sucht, an solchen Verabredungen (§ 168) teil
zu nehmen, oder ihnen Folge zu leisten, oder andere durch gleiche Mittel
hindert oder zu hindern sucht, von solchen Verabredungen zurück-
zutreten, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach
dem allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe cintritt.
In der Begründung von 1869 ') ist bemerkt:
„Durch die §§ 168 und 169 wurden die bestehenden Koa-
litionsbeschränkungen für den gewerblichen Unternehmer
und Arbeiter beseitigt, dagegen bleibt den Koalitions Verabre-
dungen der staatliche Schutz vorenthalten und der im Interesse
der Freiheit notwendige Schutz gegen den Mifsbrauch, die freie
Entschliefsung durch Drohungen und Anmafsung von Gewalt zu
beeinträchtigen, wird in einer Strafbestimmung gesucht.
Durch diese Bestimmungen ist, soweit es sich um ge-
werblich eArbeitcrhandclt, den Gesichtspunkten entsprochen,
welche für den Reichstag bei Votierung des Entwurfs eines Gesetzes
über Koalitionen von Arbeitern und Arbeitgebern, sowie über die
Aufhebung der Beschränkungen der freien Verwertung der Arbeits-
kräfte im Jahre 1867 leitend waren. Die Ausdehnung jener Be-
stimmungen auf die Bergbauunternehmer und Berg-
arbeiter*) ist durch § 1 70 ausgesprochen.
Das Alinea 2 des § I des vom Reichstage angenommenen
Gesetzentwurfs findet in Alinea I und 2 des § 168 vorliegenden
Entwurfs seine Erledigung. Die von § 3 jenes Entwurfs beabsichtigte
Aufhebung der im letzten Alinea der § 165 *) vorliegenden Ent-
wurfs aufrecht erhaltenen Strafbestimmung dagegen fand Bedenken,
') Nr. 13 Reichstag des NordcuUchcn Bundes, I. Legislaturperiode, Sitzungs-
periode 1869 S. 85.
*) Siche Anm 2 S. 463.
*) § 165 lautet: Mit Geldbufse bis zu 10 Thalern oder Gefängnis bis zu acht
Tagen wird bestraft:
1. u. s. w.
Dieselbe Strafe findet gegen Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter Anwendung,
welche ohne gesetzliche Gründe eigenmächtig die Arbeit verlassen, oder ihren Ver-
richtungen sich entziehen oder sich groben Ungehorsams oder beharrlicher Wider-
spenstigkeit schuldig machen. Siehe dazu dieses Archiv Rd. XI S. 787 ff.
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Zur Koalitionsfreiheit.
467
weil dieselbe den einzigen Weg zum wirksamen Schutze des Arbeits-
vertrages gegen willkürliche Verletzung von seiten des Arbeiters
darbietet, und gegenüber der Aufhebung der Koalitionsbeschränk-
ungen ein wirksamer Schutz des Arbeitsvertrages von der Gesetz-
gebung nicht vernachlässigt werden darf."
Bei der zweiten Beratung des Entwurfs wurde der § 168
(jetzt § 146) in folgender Fassung angenommen : *)
Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Arbeitgeber oder Ar-
beitnehmer wegen Verabredungen und Vereinigungen zum
Behufc der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbe-
sondere mittels Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter,
werden aufgehoben.
Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen
und Verabredungen frei und cs findet aus letzteren weder Klage
noch Einrede statt.*)
Für den Gesindedienst und den Dienst derjenigen Personen,
welche von dem Besitzer eines Landgutes oder einer anderen Ac kc r-
oder Forstwirtschaft in den ihm gehörigen oder auf dem Gute be-
findlichen Gebäuden und gegen einen im voraus bestimmten Lohn behufs
der Bewirtschaftung für den Zeitraum von mindestens einem Jahre oder
gegen mindestens dreimonatliche Kündigung vertragsmäfsig angenommen
sind, behält es sein Bewenden bei den bezüglichen Bestimmungen der
Landesgesetzc. s)
§ 169 (§ 147) blieb unverändert bis auf Abänderung des Allegats
(§ 168) in (§ 146).
Der von der Regierung gewünschte letzte Absatz des § 165
(§ 143) wurde gestrichen.*)
*) Nr. 148 Reichstag des Norddeutschen Bundes, I. Legislaturperiode, Sitzungs-
periode 1869. Zusammenstellung des Entwurfs einer G.O. ftir den Norddeutschen
Bund (Nr. 13 der Drucksachen mit den bei der zweiten Beratung gefafsten Be-
schlüssen (§ 17 der Geschäftsordnung) S. 59.
*) Abänderungsanträge Nr. 15 1 Reichstag, Laskcr, Dr. Meyer (Thom) S. 2 Nr. 9
zum Entwurf einer G.O.
*) Zusatzantrag (eventuell) zu dem Abänderungsan trage Nr. 151 der Druck-
sachen, laufende Nummer 9 in beiden Fassungen. — Dr. Friedenthal, Graf Kleist.
4) Abänderungsanträge Nr. 15 1 III, Schulze, Dr. Wigard, Dr. Hirsch. Siehe im
übrigen Reichstag 33. Sitzung am 3. Mai 1869, S. 775 ff.
Dafür ist durch § 124 b G.O. eine Bufsc cingefiihrt. Siehe v. Land mann,
Kommentar zur Gewerbeordnung 4. Autl. Bd. II, S. 201 ff. und dazu Loewcn-
f e 1 d in Bd. III S. 462 ff. dieses Archivs ; L o c n i n g in Conrads Handwörterbuch
Bd. I S. 993 ff-
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468
M. v. Schulz,
Während der dritten Beratung erhielt der § 146 (jetzt 152)
die noch heute bestehende Fassung. *)
Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende,
gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen
Verabredungen und Vereinigungen zum ßchufc der Erlangung
günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung
der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter werden aufgehoben.
Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und
Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder Klage noch Ein-
rede statt.
§ 147 (jetzt § 153) wurde unverändert angenommen.*)
Zu den beiden Koalitionsparagraphen hat sich der zweite Straf-
senat des Reichsgerichts in einem Urteil vom 25. April 1902 wie
folgt geäufsert:
„Durch den § 152 der Gewerbeordnung sollte der sog. Koalitions-
freiheit bundesgesetzliche (reichsgesetzliche ) Geltung verschafft werden.
Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber die Freiheit der Be-
teiligung und Nichtbeteiligung an Koalitionen nicht nur dadurch
anerkannt, dafs er die Freiheit des Rücktritts von Koalitionen aus-
sprach und Klagen und Einreden aus denselben versagte, sondern
es auch für geboten gehalten, ihr noch einen besonderen Schutz
durch Strafbestimmungen gegen den sog. Terrorismus der auf der-
selben Seite des Lohnkampfes Stehenden gegen ihre Genossen zu
gewähren. Dafs nach dem Willen desjenigen Faktors der Gesetz-
gebung, welcher den Gesetzentwurf ausgearbeitet und vorgelegt hat,
dieser Schutz der Beteiligungsfreiheit soweit reichen sollte, wie die
') Nr. 226 Reichstag des Norddeutschen Bundes: Abänderungsvorschläge zur
G.O. (Nr. 148 der Drucksachen, Dr. Fricdenthal u. s. w.
*) Reichstag, 46. Sitzung am 26. Mai 1869, S. 1114 fr.
Durch Annahme des Fricdenthalschen Antrages wurde die Fassung des § 146
zweiter Beratung, welche die Befreiung von den Schranken des Koalitionsrechtes
und des Kontraktbruches auf a 1 1 e Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ausgenommen
das Gesinde und eine gewisse Art ländlicher Arbeiter auszudehnen
bezweckte, beseitigt.
Siche hierzu Ilerkner a. a. O. S. 109.
Bezüglich der Debatten über die sogen. Koalitionsparagraphen vgl. Reichstag
vom 17. Marz 1S69, S. 1 1 7 Sp. 1, S. 120 Sp. I, vom 18. März 1869 S. 137 Sp. 1,
S. 139 Sp. 2, vom 1. Mai 1869 S. 735 Sp. 2, vom 3. Mai 1869 S. 775 a. E. und
S. 777.
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Zur Koalitionsfreiheit.
469
Koalitionsfreiheit, ergiebt sich deutlich bei Ansicht der — den
§§ 152 und 153 des Gesetzes entsprechenden — §§ 168 und 169
des dem Reichstage vorgelcgten Entwurfs der Gewerbeordnung,
von welchen auch der erstere nur das Wort „Verabredungen“ ent-
hält, so dafs der in dem letzteren vorkommende Ausdruck „solche
Verabredungen (§ 168)“ ein erschöpfendes strafrechtliches Korrelat
zu den Bestimmungen des ersteren bildet. Auch die Motive des
Entwurfs lassen von einer gegenteiligen Absicht nichts erkennen.
Durch einen Abänderungsantrag zweier Abgeordneten wurde in dem
§168 der Vorlage, abgesehen von anderen erheblichen Aenderungen,
das Wort „Verabredungen" durch die Worte „Verabredungen
und Vereinigungen“ (im ersten Absatzei und „Vereinigungen und
Verabredungen" (im zweiten Absätze) ersetzt. Eine Erläuterung,
aus welcher der Grund dieser Aenderung oder der Sinn, welchen
die Antragsteller mit dem von ihnen zugesetzten Ausdrucke „Ver-
einigungen" im Gegensätze zu dem Vorgefundenen Ausdrucke „Ver-
abredungen" verbunden haben, entnommen werden könnte, ist nicht
gegeben, auch fehlt es an jeder Erläuterung in den Verhandlungen
des Reichstags in der Sitzung vom 3. Mai 1869, in welcher der
§ 168 in der Fassung des Abänderungsantrags angenommen wurde.
Eine entsprechende Aenderung der Fassung des § 169 des Ent-
wurfs war von den beiden Antragstellern nicht beantragt; es ist
bei den Verhandlungen auch keine Rede davon gewesen, ob die
Aenderung des § 168 nicht eine Aenderung des § 169 nach sich
ziehen müsse. Der § 169 wurde in den Verhandlungen von seiten
einiger Parteien bekämpft, welche die Aufstellung besonderer Straf-
bestimmungen überhaupt ablehnten; dem trat der eine der beiden
Urheber des zu § 168 gestellten Abänderungsantrages mit Aus-
führungen entgegen, in welchen er den Schutz der Freiheit der
Beteiligung durch Strafbestimmungen als ein notwendiges Korrelat
der Koalitionsfreiheit, welche man in § 168 geben wollte, bezeichnete;
ohne solchen würde die Freiheit der Vereinigung in Vereinigungs-
zwang umgewandelt werden. Davon , dafs der Schutz der Be-
teiligungsfreiheit sich mit der Koalitionsfreiheit, wie sie sich auch
gerade nach dem von diesem Redner gestellten Abänderungsantrage
gestalten sollte, nicht vollständig decken sollte, findet sich weder
in seinen Aeufserungen, in denen er sich häufig des Ausdrucks
Vereinigungen bedient, noch in denjenigen anderer Redner eine
Andeutung.
Der § 169 ist demnächst ohne Veränderung angenommen,
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47°
M. v. Schulz,
sodafs der § 153 des Gesetzes den genauen Wortlaut der Vorlage
aufweist.
Die Hinzufügung des Wortes Vereinigungen im § 168 der
Vorlage mag den Antragstellern ratsam erschienen sein, um aufser
Zweifel zu setzen, dafs nicht nur Verabredungen für einzelne Fälle
von Lohnkampf, Verabredungen vorübergehender und lokaler Natur,
sondern auch Vereine, Vereinigungen, welche die gleichartigen
Zwecke auch in künftig auftauchenden Fällen des Lohnkampfes zu
fördern bezweckten und überhaupt eine auf möglichst günstige Ge-
staltung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse gerichtete Tätigkeit all-
gemeiner Art entfalten wollten, frei sein sollten. *) Ob der Zusatz
gerade notwendig war, ob nicht wegen des jeder Vereinigung inne
wohnenden Moments der Verabredung der Ausdruck Verabredung
im Sinne der Antragsteller weit genug gereicht hätte, mag unent-
schieden bleiben; Vereinigungen entstehen durch Verabredung, mit
dem Worte wird die Gesamtheit der durch eine Verabredung zu
einer loseren oder festeren Organisation zusammengeschlossenen Per-
sonen bezeichnet, während von dem Bestehen einer Verabredung
in der Sprache des gewöhnlichen Lebens mehr gesprochen zu
werden pflegt, wenn von dem Inhalte des Vereinbarten die Rede
ist. Die durch Verabredung entstandenen Vereinigungen treffen
ihrerseits fortdauernd in gegebenen Fällen Verabredungen ; der Aus-
druck trifft auch dann zu, wenn Beschlüsse von den Organen der
Vereinigung gefafst werden , insofern sich die Angehörigen der
letzteren denselben mit freiem Willen fügen. Andererseits erscheinen
diejenigen, welche in einem einzelnen Falle eine Verabredung dar-
über, wie jeder einzelne sich verhalten soll, getroffen haben, hier-
durch untereinander vereinigt. Die mit den beiden Ausdrücken zu
verbindenden Begriffe sind mithin nichts weniger als bestimmt von-
einander zu scheiden; um so mehr fehlte es auch an jedem inneren
Grunde, die Freiheit der Xichtbeteiligung nicht auch in Beziehung
auf Vereinigungen zu schützen; der Zwang zur Beteiligung an Ver-
einigungen würde wesentlich auf einen Zwang zur Beteiligung auch
an Verabredungen hinauslaufen. s)
*) Vgl. aber Locning a. a. O. S. 265 u. 318, Schalhorn in der Soz. Praxis
v. 16. Juli 1903 Sp. 1107, Goldschmidt S. 442 u. Will S. 34, 38 u. 40.
*) Siehe hierzu Löwenfeld a. a. O. S. 556.
Im Gegensatz zur Ansicht des Reichsgerichts wurde im § 1 des Entwurfes eines
Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses es für erforderlich er-
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Zur Koalitionsfreiheit.
471
Ist hiernach der übereinstimmende Wille der beiden Faktoren
der Gesetzgebung, den Schutz gegen Terrorismus der Koalitions-
freiheit homogen zu gestalten, nicht zu bezweifeln, so kann es nur
als eine nicht ganz sorgfältige Redaktion des vom Gesetzgeber Ge-
wollten angesehen werden, dafs man der Aenderung des einen Pa-
ragraphen nicht auch eine Aenderung des anderen, der auf ihn
Bezug nimmt, hat folgen lassen.“
Dem Reichsgericht ist es nicht gelungen, zweifellos nachzu-
weisen, dafs § 153 einen Redaktionsfehler enthält. Selbst wenn
man auf dem Standpunkt steht, dafs der Richter unbedingt befugt
ist, derartige Fehler zu korrigieren, so kann man dies nur
unter der Voraussetzung ihres zweifellosen Nachweises') zu-
lassen.
Bei Ausarbeitung des Entwurfes unserer jetzigen Gewerbe-
ordnung ist, wie bekannt, die preufsische Gewerbeordnung benutzt
worden. Die §§ 181, 182 und 183 der letzteren dienten augen-
scheinlich zur Grundlage, als man die Aufhebung der Koalitions-
Verbote festsetzte. Die „Verbindungen“ (= Vereinigungen) der
Gesellen, waren in Preufsen von polizeilicher Erlaubnis abhängig,
also direkt nicht verboten. Der Verbindungen der Gewerbetreibenden
— aufser Innungen — gedenkt die preufsische Gewerbeordnung
an keiner Stelle. Dagegen durften damals Arbeitgeber und Arbeiter
„Verabredungen“, welche Aussperrungen undStrikes im Auge hatten,
nicht treffen.
Die oben erwähnten beiden Abgeordneten werden nun zu
ihrem Ergänzungsantrage bewogen worden sein, um für die Zukunft
einwandslos die Verabredungen und ständigen Vereinigungen
der Arbeitgeber und der Arbeiter, von allen Straffesseln und Ver-
boten für etwaige Aussperrungen und Strikes zu befreien. Viel-
leicht haben die Antragsteller nur an die ständigen Ver-
bindungen (Berufsvereine der Arbeiter und Arbeitgeberverbände)
gedacht, vielleicht schwebten ihnen Vereinigungen der Arbeit-
geber und Arbeiter dir den einzelnen Fall 2) vor, welche — durch
achtet, neben dem Ausdrucke, „Verabredungen“ noch den Ausdruck „Vereinigungen"
zu gebrauchen. Siehe dazu van der Borght a. a. O. S. 41 a. E.
*) Sontag, Die Redaktionsversehen des Gesetzgebers S. 33. Dazu Laband
in der deutschen Juristenzeitung VIII. Jahrg. S. 301 ff.
*) Wir erinnern hier beispielsweise an den Berliner Konfcktionsstrike, an welchem
organisierte und nichtorganisiertc Arbeiter sich beteiligt hatten. Lot mar in diesem
Archiv Bd. XV, S. 56. Siehe auch S. 457 Anna. 2.
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472
M. v. Schulz,
die Verabredungen erzeugt — Niederlcgung der Arbeit oder Ent-
lassung der Arbeiter beschliel'scn. Es ist dies nicht mehr feststellbar,
ebensowenig, wie man heute noch ermitteln wird, aus welchen
Gründen eine Ergänzung der § 1 53 nicht beliebt worden ist und
ob man etwa die dauernden Verbindungen in der Werbung von
Mitgliedern nach keiner Richtung hin behindern wollte. Strikes und
Aussperrungen sind verpönt. Arbeitgeber und Arbeiter gegen eine
Nötigung zur Beteiligung an diesen vorübergehenden Unternehmungen
zu bewahren, mag nahe gelegen haben.
Nur dann sind allenfalls die mit den Ausdrücken „Verabredungen“,
„Vereinigungen“ zu verbindenden Begriffe „nichts weniger als be-
stimmt voneinander zu scheiden“, wenn derartige vorüber-
gehende Koalitionen zur Erlangung günstiger Lohn- und Arbeits-
bedingungen in Frage kommen. Anders bei Berufsvereinen. Diese
verfolgen auch Zwecke gemeinsamer Berufs- und Standesinteressen,
welche nicht auf Verbesserung der Arbeitsverträge gerichtet sind,
und an deren Eirreichung sogar ein allgemeines Interesse be-
stehen kann. Hier ist die Trennung der Begriffe ausführbar. In
der Rechtsprechung hat man bisher Unterschiede gemacht und
unter „Verabredungen“ einzelne bestimmte Lohnkämpfe, unter
Vereinigungen die allgemeinen Organisationen der Arbeiter
verstanden.
Demzufolge gelangte die Strafe des § 153 nur zur Anwendung,
wenn die Beteiligung an einem speziellen Strike, nicht aber der
Beitritt zu den Organisationen der betr. Arbeiter erzwungen werden
sollte. ')
Das Urteil des Reichsgerichts engt also die Koalitions-
freiheit ein. 2)
’) Soziale Praxis vom 29. Mai 1902 Sp. 916, vom 20. November 1902 Sp. 202.
Dazu Soziale Praxis vom 12. Juni 1902 Sp. 970.
*) Erwähnenswert ist, dafs der Arbeiter, welche in diesem Urteil der Er-
pressung und des Vergehens gegen § 153 für schuldig erachtet wurde, von seinem
Kollegen, den er zum Eintritt in die Organisation nötigen wollte, im Wege des
Civilprozesses belangt und durch das Gericht verurteilt worden ist, eine Entschä-
digung an den Kläger zu zahlen. Das Urteil des Civilgerichls führt aus:
„Die Ersatzpflicht des beklagten folgt aus § 826 des Bürgerlichen Gesetz-
buches. Der Beklagte hat dem Kläger den Schaden unzweifelhaft vorsätzlich zu-
gefügt, und zwar in einer gegen die guten Sitten verstofsenden Weise. Denn es
verstöfst gegen die guten Sitten, wenn jemand, um seine eigenen oder seiner Ge-
nossen wirtschaftliche oder politische Interessen zu fördern, seine augenblickliche
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Zur Koalitionsfreiheit.
473
Es ist Thatsache, dafs bei den organisierten Arbeitern aller
Schattierungen Erbitterung gegen die zeitigen Koalitionsbestimmungen
und gegen die auf Grund des § 153 der Gewerbeordnung statt-
findende Rechtsprechung *) vorhanden ist. Die Arbeiter sind der
Meinung, dafs bei der Handhabung der Koalitionsgesetze — viel-
leicht unbewufst2) — ihre Gleichberechtigung mit den Arbeitgebern
nicht gewahrt wird.
L'cbcrlcgcnfaeit dazu mifsbraucht, einen Vertrag, der den berechtigten wirtschaftlichen
Interessen anderer dient, entgegen dem Willen der Vertragschliefsendcn, zur Auf-
lösung zu bringen, zumal wenn, wie hier, infolgedessen der eine Vertragsteil brot-
los und in eine augenblickliche Notlage versetzt wird. Das aber hat Beklagter
gerade gewollt. Er wollte den Kläger, weil er seinem Ansinnen sich nicht fügte,
schädigen, ihn aus seiner Stellung bringen und damit brotlos machen. Das war
ein widerrechtliches, mit den guten Sitten nicht verträgliches Verhalten, zumal von
irgend welcher (moralischer) Verbindlichkeit des Klägers seinen Arbeitskollegen
gegenüber, einer „Organisation“ beizutreten, nicht die Rede sein kann, vielmehr der
freien Entschlicfsung des Klägers in nicht zu rechtfertigender Weise Gewalt ange-
than werden sollte.“ (Siehe Bl. für Rechtspflege vom ll. November 1902 S. 106
u. 107).
Demgegenüber mufs bemerkt werden, dafs die Arbeiter cs für unmoralisch
halten, wenn ein Mitarbeiter nicht ihrer Gewerkschaft beitritt und an ihren gemein-
samen Kämpfen und Sorgen nicht teilnimmt. Sie glauben moralisch zu handeln,
wenn sie sich w'cigcrn, mit einem solchen Arbeiter zusammenzuarbeiten. (§ 826
B.G.B. und Entsch. des Reichsgerichts in Civilsachen Bd. 48, S. 125). Andere
Stände denken ähnlich. Siehe z. B. bezüglich des Geraer Aerztestrikes die Medi-
zinische Reform vom 3t. Januar 1903, S. 40. (Vgl. dazu Reichstag, Aktenstück
Nr. 347 (Gesetzentwurf zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses) S. 2241
Sp. I a. A. und Locwenleld a. a. O. S. 530).
Uebrigens wird die Bedingung des Arbeitsvertrages, dafs der Arbeiter seiner
Gewerkschaft fern bleibe , als gegen die guten Sitten verstofsend angesehen.
Lot mar a. a. O. S. 115 u. 218 und Anm., ferner Soziale Praxis XI Sp. 1076 u.
XII Sp. 718 (§ 138 B.G.B.) , Sigel, Der gewerbliche Arbeitsvertrag S. 47
Anm. 3, S. 161 Anm. 45 und Köhne, Die Arbeitsordnungen S. 237. Siehe aber
„Gewerbegericht“ Jahrg. VII Sp. 201, Jahrg. VIII Sp. 21, Anm. und die Ausfüh-
rungen des Vertreters der preufs. Regierung im Hause der Abgeordneten (29. Sitzung
am 24. Februar 1903 S. 1901 ff.). Vgl. dazu Reichstag vom 4. März 1903, 273. Sitzung
S. 8375 ff. und Soziale Praxis v. 30. Juli 1903 Sp. 1*59.
*) Siehe dazu Loewcnfeld in diesem Archiv Bd. XIV, S. 602.
*) Loewcnfeld a. a. O. S. 540 weist nach dieser Richtung hin auf „eine
bedauerliche Unkenntnis der Verhältnisse der modernen Arbeiterbevölkerung in
Deutschland und der treibenden Ursachen ihrer Koalitionsbestrebungen“. „Die Ent-
deckungsreisen innerhalb des eigenen Volkes und Landes und der eigenen Zeit sind
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVI II. 3 1
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474
M. v. Schulz,
Auf der anderen Seite dann wieder die nicht unberechtigten
Klagen der Arbeitgeber über Ausschreitungen einzelner Arbeiter
bei Strikes. *) Der Ruf nach Aenderung bezw. Verbesserung der
Koalitionsparagraphen kann daher niemals verstummen. Die einen
erstreben volle Koalitionsfreiheit, die anderen Beschränkung derselben
und besonders Verschärfung der Vorschriften des § 153 der Ge-
werbeordnung. s)
van der Borght schlägt zur Weiterbildung des Koalitionsrechtes
einen Zusatz zum t; 152 vor. Dieser Zusatz würde, so fuhrt er aus,
ja viel weniger beliebt, als die Durchquerung Grönlands oder Afrikas oder die
Aufdeckung der Zustände der Eiszeit. Es ist bemerkenswert, dafs die letzteren in
vielen Kreisen bekannt sind, während Gleiches von ersteren nicht gesagt werden
kann. An ihnen sollten aber Staat und Gesellschaft ein dringenderes und näheres
Interesse haben, als an den Thaten und Werken der Polar- und Urgeschichtsforscher,
deren hohen Verdiensten dieser Vergleich durchaus keinen Abbruch thun soll.“
Siehe noch Herkncr in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik. Verhand-
lungen von 1897 (LXXVI) S. 332: „Kein Mensch ist empfindsamer für die Kränkung
seiner Rechte als wie gerade der Arbeiter. Wenn er in seinem Rechte sich ver-
letzt fühlt, dann wird er erbittert, und diese Erbitterung ist eine viel nachhaltigere
als wie etwa, wenn er über einen zu geringen Lohn klagt.“ (Verhandlungen 1S90
S. 159.)
*) wie wir sie in dem Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen
Arbeitsverhältnisses vom 26. Mai 1899 aufgezählt finden. Es ist ein Fehler, diese
Ausschreitungen den Koalitionen zur Last zu legen. „Wer mit den Koalitionen
und ihren Vertretern in beständiger Fühlung ist, wer die tägliche Arbeit kennt, die
in diesen Vereinen und Versammlungen geleistet wird, der wird zwar über Aus-
schreitungen auch nicht hinwegsehen, er wird in ihnen aber das erblicken, was sie
sind: die bedauerlichen, vielleicht zu häufigen Ausnahmen. Wer hingegen mit den
Koalitionen von Berufswegen nur zusammenstöfst, sobald sie sich Ausschreitungen
zu schulden kommen lassen, der wird von ihnen die Vorstellung haben, dals sic,
wo er ihnen auch begegnen mag, immer etwas Böses im Schilde führen.“
Jastrow in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik, dritte Folge
Bd. 18 (LXXIII) S. 86. Vgl. hierzu Locwenfcld a. a. O. S. 542, aber auch
Gierke in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik (Verhandlungen von 18971
S. 397-
*) Wiederholte Versuche einer Revision dieser Bestimmungen sind bisher stets
gescheitert. Siche Reichstag, Aktenstück Nr. 347 (Gesetzentwurf zum Schutze des ge-
werblichen Arbeitsverhältnisses) S. 2239 Begründung; v. Schicker, G.O. Bd. I S. 925
Anm. 1; Her kn er a. a. O. S. 119; dieses Archiv Bd. XIV S. 471fr.; vgl. auch
noch die Verhandlungen des Reichstages von Januar, Februar und Juni 1896 über
die von Abgeordneten eingebrachten Gesetzentwürfe, das Recht der Versammlung
und Vereinigung und das Recht der Koalition betreffend.
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Zur Koalitionsfreiheit.
475
auszusprechen haben, dals Arbeitervereine zur Wahrnehmung ge-
meinsamer Berufsinteressen und Vereine der Arbeitgeber zur Wahr-
nehmung ihrer Interessen gegenüber den Arbeitern und deren Ver-
einigungen von den landesgesetzlichen Verboten und Strafbestimm-
ungen befreit werden und dafs gegen ihre Eintragung in das Ver-
einsregister der in § 6l des Bürgerlichen Gesetzbuches *) vorgesehene
Einspruch nicht erhoben werden kann, wenn sie folgende Bedingungen
erfüllen :
I. Der Verein mufs sich durch seine Satzungen verpflichten,
vor Eröffnung einer von ihm geplanten Arbeitseinstellung
oder Arbeiteraussperrung das bestehende zuständige oder
ein für diesen Fall von der für Errichtung von Gewerbe-
gerichten zuständigen Behörde besonders zu bildendes
Einigungsamt anzurufen und sich auch im weiteren Verlauf
der Arbeitseinstellung oder Arbeiteraussperrung dem Ver-
fahren vor dem Einigungsamt nicht zu widersetzen. s)
*) Der Paragraph lautet: „Wird die Anmeldung zugelassen, so hat das Amts-
gericht sie der zuständigen Verwaltungsbehörde mitzutcilen.
Die Verwaltungsbehörde kann gegen die Eintragung Einspruch erheben, wenn
der Verein nach dem öffentlichen Vercinsrecht unerlaubt ist oder verboten werden
kann oder wenn er einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck
verfolgt.“ Lot mar in diesem Archiv Bd. XV, S. 65 u. Gold Schmidt S. 537.
Bezüglich der Einwirkung des B.G.B. auf die Koalitionen s. van der Borght
S. 25 ff. und Loewenfcld a. a. O. S. 476, endlich Soziale Praxis XII Sp. 172 u.
173. In der Sitzung des Reichstages vom 24. März 1903 wurde übrigens eine Re-
solution angenommen, die für die nächste Session Vorlegung eines Gesetzentwurfes
verlangt, welcher die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine auf Grundlage des
Bürgerlichen Gesetzbuches regelt. Ferner erfolgte die Annahme einer Re-
solution, nach welcher ein Gesetzentwurf vorzulegen ist Über Berufsvereine
und deren Berechtigung zur Verbesserung der Lage der Arbeiter auch Veränderungen
der Gesetzgebung zu erstreben. Vgl. noch Soz. Praxis vom 21. Mai 1903 Sp. 902
und 903, „das Gewerbegericht Berlin“ S. 382, R os e n berg a. a. O. S. 8 ff.,
Loening a. a. O. S. 277 ff., Sc ha 1 hör n a. a. O. Sp. 1109 und M. v. Schulz
ebendort Sp. 1050, dazu v. Schulze-Gaevernitz a. a. O. Bd. II S. 240.
*) van der Borght S. 2o, 21, 23, 25. Siche über die von dem Berliner
Gewerbegericht ins Leben gerufenen Schlichtungskommissionen v. Schulz,
Kommentar zum Gewerbegerichtsgesetz S. 167 und in diesem Archiv Bd. XIV, S. 681
u. 682, ferner Soziale Praxis vom 13. Dezember 1901 Sp. 29 1 ff., v. 22. Mai 1902
Sp. 900 und Schalhorn in der Sozialen Praxis vom 15. Jannar 1903 Sp. 434.
Ueber das Abkommen des norwegischen Arbeitgeberverbandes und der Landes-
organisation der norwegischen Gewerkvereine, welches Einigungsämter und Schieds-
3>*
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476
M. v. Schulz,
2. Die Satzungen des Vereins müssen die Zweckbestimmung
der einzuziehenden Beiträge und des anzusammelnden Ver-
mögens genau bezeichnen ; für den Fall der satzungswidrigen
Verwendung der Vereinsmittel mufs das Gesetz die Ein-
ziehung des Vermögens zu Gunsten von Einrichtungen, die
den Arbeitern zugute kommen, androhen und die erforder-
lichen Einzelheiten dieserhalb regeln.
Hierzu bemerken wir, dafs nach den Erfahrungen, welche bei
dem Berliner Gewerbegericht gemacht worden sind, schon heute
Arbeitgeber und Arbeitnehmer Arbeitseinstellungen und Aussperr-
ungen möglichst zu vermeiden suchen. ’) Wenn das Einigungsamt
zu Berlin eine Anzahl von Vergleichen vor Ausbruch der Strikes zu-
stande gebracht hat, so ist dies mit der thatkräftigen Hilfe der
Organisationen und ihrer Führer zu danken. Soweit sie vor dem
Einigungsamt zu verhandeln hatten, fanden sich die Parteien ferner
regelmäl’sig zur Bildung von sog. Schlichtungskommissionen bereit.
Diese Kommissionen sind berufen, alle Differenzen, soweit sie
nicht vor das Gewerbegericht als Prozefegericht gehören, möglichst
zu beseitigen. 2) Es wurde ferner bisher fast ausnahmslos verabredet,
dafs, falls die Schlichtungskommission die Parteien nicht ausgleicht,
dieselben gehalten sein sollen, binnen einer bestimmten Frist das
Einigungsamt als letzte Instanz anzurufen. Soweit also Berlin in
Betracht kommt, ist von einem Teil der Gewerbetreibenden schon
Fürsorge getroffen, dafs es so leicht zu einem Strike und zu einer
Aussperrung nicht kommt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer handeln
aus freien Stücken so wie sie sich nach van der Borght durch
Satzungen verpflichten sollen. Der Vorschlag des Schriftstellers
dürfte nicht nach dem Geschmack mancher Arbeitgeber sein, welche
— in Verbänden vereinigt — es für richtig halten, die Vermittlung
des Gewerbegerichts grundsätzlich abzulehnen. 8)
gerichte zur Behandlung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern vor-
sieht, vgl. Bulletin des Internationalen Arbeitsamts Bd. I, S. 7t» u. 701.
*) Grundsätzlich lehnen die Arbeiterorganisationen die L'nterstützung jeder
Lohnbewegung ab, die gegen ihre Ucberzeugung und gegen die in den Strike-
reglements niedergelegtcn Krfahrungen und Vorschriften geführt wird. Loewcn-
feld a. a. O. S. 595; siehe auch Kulemann a. a. O. S. 224. Im übrigen sind
die Gewerkschaften keineswegs aussc h 1 ie fsli ch S t ri ke v er ein e , wie be-
reits oben im Text bemerkt worden, s. Rosenberg a. a. O. S. 17 Anm. 8.
*) Vgl. Anm. 2 S. 475 u. „das Gewerbegericht Berlin“ S. 317 ff:
’) L otmar in diesem Archiv Bd. XV, S. 36 ff. u. S. 40. Acbnlich s. Z. in
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Zur Koalitionsfreiheit.
477
Bei fakultativen Vorschriften wie bislang werden die wider-
strebenden Arbeitgeber auch in Zukunft nicht daran denken, mit
den Arbeitern vor dem Einigungsamt zu verhandeln. Sie werden
schon zur Einrichtung von paritätischen Schlichtungskommissionen
sich nicht bequemen, da eine Gleichberechtigung1) der Arbeiter
ihnen von Uebel scheint. Ohne Zwang*) wird man nur Unvoll-
kommenes erreichen. Es würde aber nicht genügen, zu den bis-
herigen Bestimmungen des § 1 52 die von van der Borght geforderten
Zusätze zu machen.
I. otmar3) kennzeichnet den heutigen Stand der deutschen
Koalitionsgesetzgebung trefflich folgendermafsen :
„Die gesetzliche Koalitionsfreiheit ist nur Unverbotenheit und
England. Vgl. darüber v. Schulzc-Gacvcrnitz, Zum sozialen Frieden II. Bd.
S. 235 u. 239.
*) Programm der Reich. sregierung: Anerkennung der Gleichberech-
tigung der Arbeiter, Soziale Praxis vom 29. Januar 1903 Sp. 465 fr. Vgl. auch
Roesikc, Die Gleichberechtigung der Arbeiter, in der Sozialen Praxis vom
3. u. IO. April 1902 Sp. 689 fr. bezw. 714 IT. Siehe hierzu Soziale Praxis vom
22. Mai 1902 Sp. 901, vom 10. Juli 1902 Sp. 1085, „Gewerbegericht“ Jahrg. VII,
Sp. 204 und Jastrow, Sozialpolitik und Vcrwaltungswisseaschaft, Bd. I, S. 531.
*) Brentano hat bereits die zwangsweise Organisation der Heim-
arbeiter verlangt, um deren Lage zu verbessern. Siehe des näheren Schwied-
1 a n d , Ziele und Wege einer Heimarbeitsgesetzgebung, Wien 1903, S. 109 IT., hierzu auch
Loewcnfeld in diesem Archiv Bd. XIV, S. 475 ff. Der Autor sagt unter anderem :
„Dafs der Staat anstatt in das wirtschaftliche Getriebe direkt einzugreifen, die
Selbsthilfe zu organisieren sucht, ist eine Erscheinung, welche im modernen Deutsch-
land häufig ist. . . . Die Formen, in welchen dies geschieht, sind mannigfaltig. Es
genügt hier darauf hinzuweisen, dafs der Staat den dem „Mittelstände“ angchörigen
Warenverkäufern dadurch zu helfen sucht, dafs er denselben das Recht de*
Zwangs zur Organisation verleiht, vgl. die Handwerkcrnovelle vom 26. Juli
1897 §§ 100 ff. u. Will S. 37 u. 38.“
Es ist erforderlich, dafs der Staat die Organisation schafTt für diejenigen, welche
sich einer bestehenden Organisation nicht unterordnen wollen bezw. unfähig sind,
sich selbst eine Organisation zu geben. Siehe auch Sch mol ler a. a. O. S. 12 und
Kulemann a. a. O. Vorwort XIII, endlich Will S. 26 u. 142 a. E.
Die Organisationen eines Gewerbes werden bei Lohnbewegungen sich den
Majoritätsbeschlüssen ihrer Mitglieder zu fügen haben. (Soziale Praxis vom 21. Mai
1903, Sp. 922, vom 30. Juli 1903 Sp. 1174 a. E.). Unregelmäfsigkciten wären durch
behördliche Ordnungsstrafen zu ahnden.
*) In diesem Archiv Bd. XV, S. 58 ff. u. 63.
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M. v. Schulz,
Straflosigkeit: die Koalition ist frei, nämlich vogelfrei und ein
Koalitionsrecht ist noch zu schaffen.“
Hieran hat die Aufhebung des Verbindungsverbots *) im wesent-
lichen nichts geändert. Auf Grund recht altertümlicher Vereins-
und Versammlungsgesetze der meisten Einzelstaaten Deutschlands
dehnen die Behörden den Begriff der politischen Vereine weit aus,
so dafs die Berufsvereine des Schutzes des § 152 häufig entbehren.
Es mufs daher, wie dies von verschiedenen Rednern im Reichstage
erst jüngst wieder betont worden ist, ein allgemeines, freies, einheit-
liches Vereinsrecht im Reiche durchgeführt werden.2) Ferner ist
nicht blofs volle Koalitionsfreiheit, sondern gesetzlicher Koa*
litions zwang8) zu befürworten mit der Mafsgabe, dafs es jedem
unbenommen ist, sich einer der bestehenden Vereinigungen anzu-
schliefscn. Alle diejenigen Arbeitgeber und Arbeiter, welche einer
vorhandenen Verbindung nicht beitreten, sind, soweit angängig, zur
Bildung je einer besonderen Organisation anzuhalten. Sämtliche
Organisationen sind zu verpflichten, sich Satzungen im Sinne van
der Borghts und der vor dem Berliner Gewerbegericht geschlossenen
*) Reichsgesetz vom IX. Dezember 1899 (R.G.B1. S. 699). Vgl. dazu
van der Borght S. 12 u. 13 und Toennies, Vereins- und Vcrsamnilungsrccht
wider die Koalitionsfreiheit im Heft 5 der Schriften der Gesellschaft für soziale
Reform; endlich Soziale Praxis XII, Sp. 89 ff. u. 200 u. Rosenberg a. a. O. S. 48.
*) Loening a. a. O. S. 417; Soziale Praxis XII Sp. 1109 u. 1110.
*) Siehe Anm. 2 S. 477. Dagegen Loening a. a. O. S. 316.
Ueber den Ausbau des Koalitionsrechts äufserte sich der Abgeordnete Dr.
Hitze 1893 *m Reichstage folgendermafsen : . Ich bin oben der Ansicht, dafs
nicht darin der Weg der Reform liegt, dafs der Arbeitgeber oder der Staat mit
Reprcssivmafsregeln gegen die Arbeiter vorgeht, sondern darin, dafs wir das
Koalitionsrecht gesetzlich ausbauen. Wenn wir gesetzlich anerkannte, im
Rahmen gesetzlicher Formen geschaffene Arbeiterorganisationen haben, dann können
wir diesen, namentlich den Vorständen auch die entsprechende Verantwortung zu-
schreibcn. Nur auf solchem Wege werden wir dahin kommen, auch dem Massen-
vertragsbruch entgegenzutreten. Wir können ganz gut, wenn die Arbeiter im
Rahmen gesetzlicher Organisation z. B. Fonds ansammeln, um im Falle des Strikes
sich zu unterstützen, zur Bedingung und Pflicht machen . . . nur unter Innchaltung
des Vertrages und erst dann in den Strike einzutreten, wenn alle Mittel eines
schiedsrichterlichen Ausgleichs erschöpft sind“ (Reichstag vom 21. Januar 1893).
Es wäre tief zu beklagen, wenn es infolge der Ereignisse in den Niederlanden den
Gegnern der Koalitionsfreiheit gelänge, Reichsregierung und Reichstag zu einer Be-
schränkung der bestehenden Koalitionsfreiheit zu veranlassen. Will a. a. O. S. 92.
Vgl. dazu v. Schulze- Gacvcrnitz a. a. O. S. 251 u. 252.
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Zur Koalitionsfreiheit.
479
Vergleiche (Schlichtungskommission, Einigungsamt) zu geben. Die
Organisationen und ihre Leiter wird man für Ausführung der
Satzungen haftbar machen können. Es wären von den Vereinen
Kautionen zu hinterlegen, welche für alle Verfehlungen ihrerseits
und ihrer Mitglieder in erster Linie zivilrechtlich in Anspruch zu
nehmen sind. Auch gegen den Vorschlag zu 2. van der Borghts
wird kaum ein begründetes Bedenken erhoben werden, da das
Streben in der Hauptsache auf Erreichung des Koalitionsrechtes
zu richten ist. Das Koalitions recht würde allein schon eine
erspriefsliche Entwicklung der einigungsamtlichen Thätigkeit der
Gewerbegerichte verbürgen. Da kräftige sich gegenüberstehende
Organisationen nur äufserst schwer an Ausstände bezw. Aussperrungen
herangehen, so würde durch die wirkliche Koalitionsfreiheit, welche
die Berufsvereine erstarken läfst, eine gewisse Gewähr geboten, dafs
Strikes und Aussperrungen möglichst vermieden werden.1) Ein weiterer
*) Der Kegel nach wird man zunächst daran festhalten, dafs eine Zwangsvoll-
streckung der einigungsarotlichcn Schiedssprüche zu unterbleiben hat Ob eine Aus-
nahme zuzulassen ist bei Gewerben, welche für die Licht- und Wasserbeschaffung
und für die Unterhaltung des öffentlichen Verkehrs zu sorgen haben, dürfte ernst-
lich zu erwägen sein. Siche van der Borght a. a. O. S. 33 ff. und Herkncr
a. a. O. S. 252 fr. Hierzu Schm oller a. a. O. S. IO u. 12 und Franz Oppen-
heimer in der Sozialen Praxis XI Sp. 476 u. 477 und in dem Heft der Zeitschrift
für Sozialwissenschaft. Januar 1902 Sp. 28, über das Werk von Albert Met in „Le
Socialisme sans Doctrincs“ (Paris 1901). Ueber das Koalitionrecht in den Ver-
einigten Staaten Soz. Praxis Xll Sp. 639. Es sind hier aber die Bedenken des
Vertreters der preufsischcn Regierung und der Reichsregierung im Abgeordneten-
hause und im Reichstage (Ilaus der Abgeordneten, Sitzung am 23. Februar 1903
und am folgenden Tage und Reichstag vom 4. März 1903) bezüglich der Koalitions-
freiheit der Eisenbahnarbeiter in Rücksicht zu ziehen. Vgl. übrigens Soziale Praxis
vom 21. Mai 1903 Sp. 91 1 u. 912 über den zu Ungunsten der Strikcnden ver-
laufenen Ausstand der Eisenbahner in Australien.
Die Soziale Praxis vom 5. März 1903, Sp. 616 führt hierzu aus: „Eine grund-
sätzliche Lösung des Dilemmas scheint uns nur auf einem Wege möglich : Nicht
durch Beseitigung des Koalitionsrechts der Eisenbahner und nicht durch ein neues
Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokraten . . . der einzige Ausweg scheint uns,
mehr und mehr die Arbeiter der Staatsbetriebe mit den vollen Rechten der angc-
stellten Beamten auszustatten: Sicherung der Existenz, Aufrücken in Lohn und
Rang nach dem Dienstalter, Versorgung im Alter u. s. w. Dafür müssen sie aber
auch die Pflichten der Beamten in vollem Umfang auf sich nehmen.“ Loeni ng a. a. O.
S. 314.
Bei Durchführung dieser Vorschläge würde man allerdings der Sorge über
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M. v. Schalt,
Fortschritt wäre, dafs fernerhin einzelne Verbände der Arbeitgeber
ihre Mitglieder nicht mehr hindern können, vor dem Einigungsamt
zu verhandeln und mit ihren Arbeitern sich zu vergleichen. *) Man
hätte es ferner dann durchgesetzt, dafs zukünftig Arbeiter wie Arbeit-
geber nicht mehr veranlafst werden können, an Koalitionen nicht
teilzunehmen. Dann würden auch „die eine gesunde Entwicklung
der Arbeiterfachvereine schädigenden und den Klassenhafs in höchst
staatsgelahrlicher Weise schürenden Verabredungen vieler Arbeit-
geber, Mitglieder der Gewerkvereine nicht aufzunehmen" *) unmöglich
gemacht worden sein. Wenn durchweg Organisationen der Arbeit-
geber und Arbeiter ins Leben gerufen sein werden, so würden end-
lich die vereinbarten Tarifverträge von da ab sämtliche
Arbeitgeber und Arbeiter eines Gewerbebetriebes binden. *)
Wir kommen nunmehr zum § 153, dem Strafparagraphen.
Hier hat Löwenfeld nachgewiesen, dafs das, was dieser Paragraph
einen Ausstand der Staalsciscnbahnnrbeitcr enthoben. Was soll man aber mit den
Arbeitern der Privatbahnen anfangen - Auf welche Weise bewahrt man die Be-
völkerung, dafs nicht einst ein Ausstand der Kohlenarbciter und Gasarbeiter,
Kohlen- und Iichtnot hervorruft?
Für derartige regclmäfsig grofsen Streitigkeiten wünscht Schmollcr S. II
einen Ausbau der Gesetzgebung in dem Sinne, dafs „passende Oberhöfe entstehen»
und dafs auf das Anrufen einer legitimierten Seite auch die andere erscheinen
m u fs.“ Es dürfte hier nicht der augenblicklich bestehende Besprechungszwang vor
dem Einigungsamt genügen. Vcrhandlungszwang ist notwendig. Siche M.
v. Schulz, Kommentar zum Gewerbegerichtsgesetz S. 166 und Vossische Zeitung
vom 17. März 1903 (Leitartikel). Versuche, dem Einigungsamt das Recht zu ver-
leihen, bindende Urteile auszusprechen scheiterten in London (Soziale Praxis
vom 29. Dezember 1898, Sp. 350 u. 35 1 ) und in den Niederlanden (Soziale
Praxis vom 4. September 1902, Sp. 1267). Ueber den Wert solcher Zwangs-
schiedsgerichte in Neuseeland s. Soziale Praxis vom 25. September 1902, Sp. 1375
u. 1374. Dazu Soziale Praxis vom 16. Juli 1903, Sp. Il 18. Endlich über die
Vollstreckbarkeit der Schiedssprüche der Einigungsämtcr Jastrow a. a. (). S. 526 ff.
Mit Recht hebt übrigens Schm oller a. a. O. S. 6 hervor, dafs für die Einigungs-
ämter stets das Wichtigste sein mufs, „nicht dafs ein Schiedsspruch, und
sei er der weiseste, den Parteien oktroyiert wird, sondern dafs
dieselben sich verständigen. Brentano a. a. O. Bd. I S. 304 u. 307, Bd. II
S. 281 a. E.
*) Siehe Soziale Praxis vom 22. Mai 1902, Sp. 901 und vom 10. Juli 1902,
Sp. 1085, und Jastrow a. a. O. S. 531.
*) Herkncr, S. 249.
*) Siehe Soziale Praxis IX Sp. S81 ft*, und Rosenberg a. a. O. S. 13.
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Zur Koalitionsfreiheit.
481
— unter ausdrücklichem Vorbehalt der Verfolgung nach ge-
meinem Strafrecht — „als körperlichen Zwang, Drohung, Verrufs-
erklärung *) bezeichnet und unter seine besondere Strafe stellt . . .
vom Standpunkte des gemeinen Strafrechts aus straflos, für alle
Bevölkerungsklassen straflos ist, auch für die Arbeiter,
wenn es sich nicht um Koalitionen handelt, für alle anderen als
die im § 153 gemeinten Bevölkerungsklassen auch dann straflos,
wenn es sich um Beförderung ihrer Koalitionen durch solche
Mittel handelt."
Was andere Staatsbürger ungestraft thun dürfen, mufs auch den
gewerblichen Arbeitern und Arbeitgebern bezüglich ihrer Koalitionen
erlaubt werden. Alle, welche — an Strikes bezw. Aussperrungen
beteiligt — sich strafbar machen, treffe das allgemeine Strafgesetz.
Keine Ausnahmegesetze , welche diejenige Klasse , gegen welche
sie gerichtet sind, zur Bitterkeit aufreizen. Aus diesen Gründen
können wir den Vorschlägen van der Borghts, 2) welche auf Beibe-
haltung des § 153 und seine Ergänzung hinzielen, nicht folgen.
Nicht Ausbau des Strafparagraphen, Beseitigung desselben ist an-
zustreben.a) Nur aus dem Boden der Koalitionsfreiheit wird die Gleich-
*) Ueber Verrufserklärung s. Loewcnfeld in diesem Archiv Bd. XIV,
S. 509 ff. Dazu bezüglich der Anwendung des § 826 B.G.B. Entsch. des Reichs-
gerichts in Civilsachen Bd. 51 (Neue Folge Bd. I) S. 369 und deutsche Juristen-
zeitung vom 1. März 1903 S. 114 fr. Vgl. noch Soziale Praxis vom io. Juli 1902,
Sp. 1076; endlich Hilse im Archiv fiir Strafrecht Bd. 37 S. 277 ff.
Ueber schwarze Listen s. M. v. Schulz, G.G.G. S. 40, 264, 267 ; ,, Gewerbe-
gericht“ VIII, Sp. 17; Reichstag vom 29. Januar 1896 S. 625 (B).
Ueber Kontrollbücher und sogen, schwarze Listen der Berliner Tischlermeister
vor dem Einigungsamt s. Soziale Praxis vom 7. Februar 1901, Sp. 472 ff. Die Ver-
rufserklärung durch schwarze Listen fallt, wie ich jetzt im Gegensatz zu meinem
Kommentar zum Gewerbegerichtsgesetz S. 267 berichtigend bemerken mufs, nicht
unter die Strafbestimmung des § 153 Reichsgewerbeordnung. Ueber die Schadens-
ersatzklage eines Arbeiters wegen Verrufserkliirung durch die schwarze Liste des
Berliner Mctallindustriellcnverbandes s. Vorwärts vom 7. Juni 1903 (2. Beilage).
*) S. 52 ff. Soweit nicht Strafgesetze verletzt sind, werden auch hier Ordnungs-
strafen gegen die Koalition und ihre Mitglieder ausreichen — unbeschadet civil-
rcchtlicher Ansprüche der Verletzten.
Bei einer Organisation aller werden „Zwang, Drohung und Verrufserklärung“
allmählich abnehmen, um schliefslich ganz zu verschwinden.
s) Jüngst ist von 32 Arbeitnehmerbeisitzern des Berliner Gewerbegerichts be-
antragt worden, dafs das Gewerbegericht bei den gesetzgebenden Körperschaften des
Reichs auf Abänderung der Koalitionsbestimmungen vorstellig werden solle. Es wird
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M. v. Schulz, Zur Koalitionsfreiheit.
Berechtigung des Arbeiterstandes emporwachsen. Nur die Gleich-
berechtigung l) der Arbeiter wird die bestehenden Gegensätze
zwischen ihnen und den Arbeitgebern, wenn nicht überbrücken, so
doch wesentlich mildern.
vor allem Beseitigung der Koalitionsbeschränkungen („Aufhebung der §§ 152 u. 153
G.O.“) gewünscht. Schalhorn in der Sozialen Praxis vom 16. Juli 1903 Sp. 1105 ff.
und Keichsarbeitsblatt Nr. 4 S. 309. Die Verhandlungen des Ausschusses des Ge-
werbegerichts und das Ergebnis derselben werden im Keichsarbeitsblatt veröffentlicht
und in der Sozialen Praxis, dem Publikationsorgan des Berliner Gewcrbegeriehts,
besprochen werden. Schalhorn hält übrigens die gewünschte Beseitigung des
§153 für augenblicklich nicht recht zweckmäfsig: Um die nicht geringe Anzahl
der Gegner jeden Ausbaues der Koalitionsfreiheit nicht zu sehr aufzustacheln, wird
es sich empfehlen, hier nur schrittweise vorzugehen. Siehe dazu Brentano in den
Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Leipzig, Dunkcr & Humblot 1890 S. 129;
ferner ebendort 1897 (LXXVI) Locning S. 269, Jastrow S. 380, Quid de
S. 403, endlich Lot mar in diesem Archiv Bd. XV, S. 117. Vgl. noch Sc h a 1 h orn
in der Sozialen Praxis vom 16. Juli 1903 Sp. 1107 fr. und über die englischen Ver-
hältnisse v. Schulz e-Gaevernitz a. a. O. S. 245 und Brentano, Die Arbeitcr-
gilden, Bd. II S. 306.
Der Kongrcls christlicher Arbeitervereine hat neulich beschlossen, dem §153
sei ein Zusatz zu geben. Es solle die Verhinderung an dem legitimen
Gebrauch der Koalitionsfreiheit unter Strafe gestellt werden (Soziale
Praxis XIII Sp. 107 u. 108).
*) Anm. 1 S. 477 u. Soziale Praxis XIII Sp. 30 u. 108.
Diejenigen, welche von einer Gleichberechtigung der Arbeiter und von ihren
Berufsvereinen nichts wissen wollen, behaupten unter anderem, dal's der Niedergang
der englischen Industrie besonders durch die Schuld der Trade Unions hervorge-
rufen sei. Es erscheint dies arg übertrieben (Litteralur s. Soziale Praxis XIII
Sp. 180 Anm. 4). Vgl. auch Th. Rothstcin in der Neuen Zeit, Jahrg. 22 Bd. I.
Heft Nr. 2 u. ff.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
Von
Dr. HERMANN LEVA',
• in Berlin.
Die landarbeiterfrage beschäftigt heute die öffentliche Dis-
kussion in England in immer steigendem Mafse. Die amtlichen
Berichte und zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen über
die Lage der I andarbeiter sind jedoch kaum in erster Linie der
Absicht entsprungen, entscheidende Mafsregcln zur Verbesserung
der sozialen läge der Landarbeiter herbeizuführen. Wie wir sehen
werden, ist die soziale Lage der arbeitenden Klassen auf dem
Lande in England eine relativ erfreuliche, und in der Regel sind
es die nicht erfreulichen Zustände, welche die Sozialpolitiker oder
die Regierung zum Gegenstände eingehender Untersuchungen machen.
So stehen bei der Diskussion über die Landarbeiterfrage nicht so
sehr die jene Frage selbst berührenden Probleme im Vordergrund,
als vielmehr Probleme, welche ein viel allgemeineres Interesse er-
heischen, als man es für jenen so im Abnehmen begriffenen Bruch-
teil der englischen Bevölkerung erwarten könnte. Vor allem ist es
ein Bevölkerungsproblem, das man durch ein genaues Ein-
dringen in die ländlichen Arbeiterverhältnisse zu klären sucht; und
zwar ein Bevölkerungsproblem, das heute fast alle civilisiertcn
Staaten aufs lebhafteste beschäftigt, nämlich das Problem der Ab-
wanderung vom Lande in die Städte. Der Landarbeiter spielt bei
dieser Abwanderung die Hauptrolle. Um die Gründe zu verstehen,
die ihn zur Landflucht veranlassen, ist es nötig seine I age und sein
Leben auf dem Lande zu kennen. Freilich ist die Betrachtung
der Landarbeiterfrage durchaus nicht allein genügend, um die Ur-
sachen der Abwanderung zu verstehen. Die Lage der Landwirt-
schaft, die Lage der städtischen und industriellen Gewerbe und
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Hermann L e v y ,
andere Momente sind nicht minder bedeutsam für die Abnahme
der I Landbevölkerung. Aber die englische Landarbeiterfrage weist
so viele Beziehungen zu der Frage der Landflucht auf, dafs wir sie
zum Ausgangspunkt für die Erörterung jenes Problems nehmen
können. Dabei glauben wir ruhig behaupten zu können, dafs wir
von unserer Betrachtung manches lernen können, was auch für die
Beurteilung der deutschen Verhältnisse von Interesse ist.
Die neueste Veröffentlichung über die ländlichen Arbeiterver-
hältnisse in England ist ein Vortrag von A. Wilson Fox, der nun-
mehr zum Druck gelangt ist *) Fox ist ein führendes Mitglied
des Labour Department des englischen Board of Trade und er hat
sich bereits in seinem amtlichen Berichte über die ländlichen Ar-
beitslöhne vom Jahre 1900 als eine Autorität auf diesem Gebiete
erwiesen. Auch seine jüngste Veröffentlichung beweist von neuem,
wie glänzend er das grofse Gebiet nationalökonomisch und statis-
tisch beherrscht. Bevor wir jedoch die wichtigen Darlegungen des
englischen Beamten hier wiedergeben, wollen wir für einige Augen-
blicke einen Rückblick in die Geschichte des englischen Land-
arbeiters thun. Wir werden dann erkennen, dafs viele aus der
Gegenwart der ländlichen Arbeiterverhältnisse schwer zu er-
klärenden Thatsachen in der Vergangenheit der englischen
Agrargeschichte ihre Analyse finden.
Wir wollen bis zu jenem Zeitpunkt der Geschichte zurück-
gehen, in welcher die grofse Masse jener ländlichen Arbeiter ent-
steht, die uns heute als die Regel in England begegnen. Wir
wollen zurückgehen auf jene Epoche, in welcher sich der grofse
Umschwung in der sozialen Stellung der Landarbeiter vollzieht, in
welcher er von einem Land besitzenden Arbeiter zu einem aus-
schlieLslichen I Lohnarbeiter wird. Es fuhrt uns dann unsere Be-
trachtung in die Mitte des 18. Jahrhunderts.
Die Lage des englischen Landarbeiters in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts bis etwa zum Jahre 1765 war eine äufserst
glückliche. Die Agrarschriftstcller jener Zeit preisen die I-age des
lLandarbeiters, und spätere Autoren verweisen oft auf jene „goldene
*) Vgl. The Journal of the Royal Statistical Society. London 1903. Bd. 66,
Teil II, S. 273fr. A. Wilson Fox, „Agricultural Wages in England in Wales
during the last fifty years.“
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Landarbeiterfrage und Landducht in England. 485
Zeit" der ländlichen Arbeiterklasse. ') In einem späteren amtlichen
Berichte lesen wir : *)
„Vor 1775 war der Landarbeiter in äulserst glücklicher Lage.
Seine Löhne gaben ihm die Möglichkeit über die zur Befriedigung
seiner Lebensbedürfnisse nötigen Güter in zufriedenstellender Weise
zu verfügen. Seine Grundrente war niedriger, seine Kleidung, seine
Schuhe, sein ganzes Leben billiger als früher. Auch hatte er das
Recht, sich von dem Gemeinde- und Oedlande Holz zu holen, und
dazu die Möglichkeit Grund und Boden zu ererben, ja mit der Zeit
ein kleines Pachtgut zu übernehmen.“
Diese Möglichkeit ist der Hauptvorteil in der Lage des Land-
arbeiters jener Zeit. Entweder pachtet er direkt einige Parzellen,
vielleicht 2 — 4 Acres (d. i. 0,9 — 1 ,8 ha) von dem Grundbesitzer
oder Pächter oder er ist selbst der Eigentümer des von ihm be-
wirtschafteten Bodens. In beiden Fällen hat er in der Regel ein
Nutzungsrecht auf der Gemeindeweide zur Fütterung seiner Kuh,
seiner Schweine und seines Geflügels. Auf seinem Ackerland baut
er zuweilen ein Teil seines benötigten Brotgetreides, in dem Ge-
müsegarten meist Kohl oder Kartoffeln.4) Andererseits ist er Ar-
beiter auf den angrenzenden Pachthöfen und Bauerngütern. Seine
Löhne aber setzen ihn instand, sich all das reichlich anzuschaffen,
was er nicht selbst zur Befriedigung seiner Bedürfnisse produziert.
Dieser glückliche Zustand des englischen I.andarbeiters erfahrt
in der Mitte der 60 er Jahre des 18. Jahrhunderts eine einschnei-
dende Aenderung.
Schlechte Getreideernten führen bei einer schnell wachsenden
Bevölkerung vom Jahre 1765 zu einem bis dahin und vor allem
im Vergleich zu den ersten 60 Jahren des 18. Jahrhunderts unge-
wohnten Steigen der Getreidepreise. Der Getreidebau gewinnt mehr
und mehr an Rentabilität. Als mit dem Jahre 1792 die franzö-
sischen Kriege beginnen, sieht sich England bei jedem schlechten
Ernteausfall einer Hungersnot gegenüber, da die Kriegswirren jeden
regelrechten Getreidehandel mit dem Kontinent verhindern. Dieser
*) Vgl. u. a. George Glower, Observations on the present State of Pau-
perism in England. London 1817. The Pamphletcer Vol. X, S. 388/89 u. S. 392.
*) Report on the Women and Children Employment Commission 186S. §251.
*) Vgl. W. Hasbach, Die englischen Landarbeiter. Leipzig 1894. S. 47
und 91 ff.
Vgl. ferner R. E. Prothero, Th« Pionecrs and Progress of english Farming.
London 1888, passim.
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486
Hermann Levy,
Zustand erreicht seinen Höhepunkt mit dem Eintritt der Napoleo-
nischen Kontinentalsperre, die, gleich einem Prohibitivzoll, die be-
nötigte Getreidezufuhr den Engländern abschneidet. Man sicht sich
gezwungen, die fehlende kontinentale Zufuhr durch den heimischen
Getreidebau zu ergänzen. So erreicht der Getreidepreis, bei äufserst
ungünstigen Ernten, in der Zeit von 1806 — 1813 den doppelten, oft
dreifachen Stand des Preises der ersten drei Viertel des 18. Jahr-
hunderts. *)
In dieser Zeit nun versucht man alles zur Verfügung stehende
fand, oft Sümpfe, Moräste und Heiden, dem Ackerbau dienstbar
zu machen. Der Getreidebau und der Getreideverkauf im grofsen
wird das Hauptziel aller I .andwirte. Das grofse Ackerbaugut ist
das Ideal des 1 .andlords und des Pächters. Die kleinen Güter, die
nur für den eigenen Bedarf Getreide produzieren, werden, wie
Prothero es ausgedrückt hat, zum Anachronismus.*)
Die Sucht aber, möglichst viel Land dem Getreidebau i m
grofsen zu widmen, fuhrt zu zwei für die Lage des I.and-
arbeiters sehr verhängnisvollen Thatsachen: erstens zur Expropria-
tion des Landarbeiters von der bisher gepachteten Scholle. Der
Grundbesitzer nimmt seine Parzellen von ihm, reifst die Hütte des
Arbeiters nieder und schlägt das so frei werdende Land zu dem
Pachtgut des Grofspächters. *) Dieser zahlt ihm mit jeder neuen
Getreidepreissteigerung höhere Renten; der Kötter, der fast aus-
schlicfslich für den eigenen Bedarf produzierte und von den
hohen Getreidepreisen als Brotkonsument sogar geschädigt wurde,
war aufserstande , irgend eine Rentensteigerung zu ertragen. Er
wird zum landbcsitzlosen Tagelöhner.
Zweitens führt die steigende Rentabilität des Getreidebaues im
grofsen zur Expropriation des landeignenden Arbeiters. Mit den
steigenden Getreidepreisen beginnt die Zeit der rapide zunehmenden
Einhegung und Aufteilung von Gemeindeland. 4) Die spärlichen
Reste, welche der Landarbeiter erhielt, wenn er überhaupt seine
Nutzungsrechte an der Gemeinweide nachweisen konnte, ermög-
lichten ihm nicht mehr, sein Vieh in zureichender Weise zu er-
*) Vgl. Hermann Levy, Die Not der englischen Landwirte zur Zeit der
hohen Getreidezöllc. Stuttgart 1903, S. 3 — IO.
*) Vgl. Prothero a. a. O. S. 65.
*) Vgl. Hasbach a. a. O. S. 106 u. I07.
*) Vgl. Levy a. a. O. S. 3 u. 8.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England. 487
nähren. Er verkaufte und wurde ebenfalls zum Tagelöhner ohne
Land.
So entsteht das besitzlose ländliche Arbeiterproletariat in
England.
Die Agrarschriftsteller jener Zeit erblickten zunächst in jener
Wandlung der Lage des Landarbeiters einen Vorteil. Sie vertraten
den Standpunkt des grofsen Getreide bauenden Pächters, dessen tech-
nische Ueberlegenheit über den kleinen Landwirt sie nicht genug loben
konnten. Der Landarbeiter, so meinten sie, werde von dem Wechsel
der Dinge keinen Schaden haben. Denn die Blüte und der Auf-
schwung des Getreidebaues im grofsen werde eine so starke Nach-
frage nach Arbeitskräften erzeugen, dafs der Landarbeiter weit
höhere Löhne als ehedem beziehen und demgemäfs für den Verlust
seines Landes Ersatz finden werde. Im übrigen sprachen sie auch
stets die Hoffnung aus, dafs auch nach den Einhegungen und der
Bildung grofser Pachtgüter der I^ndarbeiter einige Acres Land zu
pachten imstande sein werde, dafs es ja im Interesse der Grund-
besitzer und Pächter liege, das Wohlbefinden ihrer Arbeiter zu
fördern. So argumentierten Arthur Young, Sinclair und viele
andere. *)
Wie falsch ihre Argumente waren, zeigt uns zunächst die eine
Thatsache, dafs erst in den letzten 30 Jahren, zur Zeit sinkender
Getreidepreise das Allotmentsystem d. h. das System der von Land-
arbeitern bewirtschafteten Parzellenbetriebe eine nennenswerte Aus-
dehnung gefunden hat.
Die unmittelbare Folge der von uns geschilderten Vorgänge
im 18. Jahrhundert war nicht eine Besserung, sondern die denkbar
traurigste Verschlechterung der I-age der I .andarbeiter. Freilich er-
zeugte die Bildung grofser Pachtgüter eine gröfsere Nachfrage nach
Tagelöhnern. Aber das Arbeitsangebot der expropriierten Land-
arbeiter und der zu Lohnempfängern gewordenen Kleinpächter war
noch grofser. Es beginnt eine Zeit, in der wir nichts von der in der
Geschichte der Landwirtschaft niemals enden wollenden Klage der
Landwirte über Arbeitermangel hören. Die ländlichen Arbeitsmärkte
sind überfüllt, der Landwirt bekommt Arbeiter, so viel er will.
*) Vgl. Arthur Young, The Farmers Leiters to the People of England.
London 1771, Vol. I, S. 108 — HO. Vgl. First Report from the sclect Committee
appointed to takc into considcration the cultivation and improvement of the waste,
unineloscd and unproductivc Lands of the Kingdom. London 1796, S. 12.
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488
Hermann Lc vy,
Die natürlichen Folgen dieses erdrückenden Arbeitsangebots
ist das Sinken der Löhne. Absolut zwar zeigen die Geldlöhne
eine Steigerung. Aber verglichen mit dem Preis der Lebensmittel
sind sie gefallen. So steigen z. B. die Weizenpreise in der Zeit
von 1760 — 1813 um 130 Proz., die ländlichen Löhne nur um
60 Proz. ') Auch tritt das Mifsverhältnis zwischen Brotpreis und
Arbeitslohn in jener Zeit deutlich zu Tage. Man versucht alles
Mögliche , um die Parallelbewcgung zwischen Arbeitseinkommen
und Brotpreis künstlich herzustellen. Fs entsteht das sog. Lohn-
zuschufssystem. Die Gemeinden stellen Lohnskalen auf, welche
das Lohnminimum angeben, wie es dem jeweiligen Brotpreis zu
entsprechen habe. Verdient der Arbeiter nicht den so fixierten
Ideallohn, so schiefst die Gemeinde aus der Armenkasse das zur
Fristung seiner F.xistenz Nötige zu. Wie grofs diese Zuschüsse ge-
wesen sind und wie wenig also die Löhne mit den Brotpreisen
Schritt hielten, zeigt uns das enorme Anwachsen der Armensteuer
in jener Zeit. s) Ueberall hören wir Klagen über das ungenügende
Steigen der Löhne bei exorbitanten Brotpreisen. Der Landwirt
kürze doch seinem Pferd nicht das Quantum Hafer, wenn dieser
teurer werde, meint Nathaniel Keilt;*) warum solle der Land-
arbeiter weniger Brot essen, wenn dieses im Preise steige? Die
Schriften von Davies 4) und Sir F. Eden 5) enthüllen uns die
traurige Lage der Landarbeiter zu Ende des 18. Jahrhunderts.
Auch Arthur Young erkennt im Jahre 1 77 1 an, dafs der Land-
arbeiter sich weit weniger für seinen Lohn kaufen könne als früher.
„Vor einigen Jahren,“ meint er,*) „konnten sie Brot, Käse, Bier etc
weit billiger kaufen als jetzt, während ihr Geldlohn derselbe war.“
Er sieht aber hierin keinen Nachteil. Er war bekanntlich der An-
sicht, dafs niedriger Ixihn hohe Arbeitsleistung bedeute und so sah
*) Vgl. I. evy a. a. O. S. 28.
*) Vgl. ebenda S. 27 u. 29.
*) Vgl. N. Kcnt, General View of Üie Agriculturc of Norfolk. Norwich 1796,
S. 173.
4) Vgl. Davies, The Casc of Labourers in Husbandry. London 1795.
S. 24 u. 25.
ft) V’gl. Sir F. Eden, The State of the Poor. 3 Bde. 1797. Bd. I passim
u. S. 404.
•) Vgl. Arthur Young a. a. O. S. 204. Die Zeit billiger Lebensmittel von
1715 — 1765 war eine Periode relativ hoher Löhne gewesen. Vgl. J. E. Th. Rogers.
Work and Wages. London 1885, S. 121.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England. 4&9
er in der Verschlechterung der Lage des Landarbeiters eher einen
Vorteil als einen N'achteil.
Die Möglichkeit aber, selbst einige Acres Land zu bewirt-
schaften, wurde immer mehr zu einem Postulat. Mit Schmerzen
sahen die kühnen Vorkämpfer der Einhegungen ein, wie sehr sie
sich geirrt hatten. So schreibt Arthur Young, der in den 70er
Jahren des 18. Jahrhunderts die Einhegungen als einen Segen für
die Landarbeiter erklärt hatte, bereits im Jahre 1801 :’)
„Man möge ja nicht denken, dafs ich damit irgend etwas All-
gemeines gegen die Einhegungen sagen will. Das einzige, was ich
sagen wollte, ist, dafs diejenigen Arbeiter, die in diesen Ge-
meinden Kühe hielten, sie nach den Einhegungen nicht
länger halten konnten: dafs anstatt den Armen Eigentum
zu geben, oder es zu erhalten oder ihnen dazu zu
verhelfen, gerade das Gegenteil stattgefunden hat
Da dieses Uebel aber nicht notwendigerweise mit den Einhegungen
verbunden war, so ist es ein Uebel gewesen, das man leicht hätte
verhindern können und das in Zukunft sehr sorgsam verhindert
werden sollte."
Aber diese Worte waren in den Wind gesprochen, ebenso wie
die guten Ratschläge des Ackerbauministeriums, wenn es alle mög-
lichen Anleitungen zur Errichtung guter Arbeiterhäuser mit Feld-
gärten u. dergl. anfertigen liefs. Die Grundbesitzer und Pächter
Helsen oft nur zu deutlich durchblicken, warum sie nichts von den
Allotments (d. h. Parzellen für Landarbeiter) wissen wollten, wenn
sie darauf verwiesen, dafs diese den Arbeiter von der Arbeit auf
dem fremden Gute abhalten würden. Sie waren froh eine Ar-
beiterklasse zu besitzen, die auf nichts weiter zu rechnen hatte, als
den täglichen Lohn. So war es dem Pächter möglich, die für den
Landarbeiter ungünstigen Verhältnisse des Arbeitsmarktes voll aus-
zunutzen und seine durch die hohen Getreidepreise schon enorm
gesteigerten Ueberschüsse noch durch billige Arbeitslöhne zu er-
höhen.
Kein Wunder, dafc in jener Zeit die Landarbeiter massenhaft
der erblühenden Industrie zuströmten. W'as die Lage der Land-
arbeiter gewesen wäre, wenn ihnen sich diese Zufluchtsstätte nicht
geböten hätte, läfct sich kaum ausdenken, indem ja trotz dieses
Abflufskanalsder ländliche Arbeitsmarkt immer noch
*) Annals of Agriculture. Bd. 36, S. 5 15.
Archiv für »oz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 3 2
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490
Hermann Levy,
überfüllt war. Man lese nur die Beschreibung bei Marshall
von dem Landarbeiter, der in Ermanglung von Brot sich oft mit
rohen Saubohnen als Tagesmahlzeit begnügen mufste. ') Aehnliche
Schreckensbilder aber lassen sich aus den Schriften der damaligen
Zeit beliebig vermehren.
Die Abwanderungen vom I^ande waren sichtbar genug, um
das öffentliche Interesse bald aufs heftigste zu erregen. Es ent-
stand eine laute Klage über die „Entvölkerung“ des platten lindes,
eine Klage, die nicht minder lebhaft als heute von allen Seiten dis-
kutiert wurde. Die Dichter, wie z. B. Goldsmith in seinem Epos
„Das verlassene Dorf“, und die Maler, wie Whcatley und andere,
machten die „Landflucht“ zum Gegenstand ihrer künstlerischen
Schöpfungen. Vor allem aber war die Frage der Entvölkerung des
platten Landes das Hauptthema der Sozialpolitiker jener Zeit. Eis
gab Schriftsteller, die ganz ähnlich wie die heutigen englischen
Bodenreformer „die monopolisierenden“ Grundbesitzer angriffen und
den Staat aufforderten, eine bestimmte Gröfse für den landwirt-
schaftlichen Betrieb festzusetzen, um so die ökonomische Entwick-
lung zum Grofsbetriebe in der Landwirtschaft und damit die Ge-
fahr der Abwanderung zu hemmen.
Vor allem war es Dr. Price, der unter vielen Anderen dem
Großbetrieb und den Einhegungen den Vorwurf machte, dafs sie
das Land entvölkerten. Er schreibt bereits im Jahre 1773, *) dafs
„die Bewohner der niedergerissenen Hütten vom Land nach London
und andern Städten ziehen, um dort verdorben zu werden oder
unterzugehen".
Auch Arthur Young, der Hauptverteidiger des landwirtschaft-
lichen Grofsbetriebs, sah mit Schrecken, wie die Bevölkerung vom
Lande in die Städte strömte. Ebenso wie heute der Landwirt über
das „unglückselige" Fahrrad klagt, das den jungen Burschen in
wenigen Stunden der Fabrikstadt zufuhrt, meint Young im Jahre
1772: 3)
„Die jungen Männer und Mädchen in den Landdörfern richten
ihre Augen auf London, als letztes Ziel ihrer Hoffnungen. Sie treten
*) Vgl. Mars hall, The Rural Economy of the Midland Counties. Vol. II.
London 1790. S. 217 u. 218. •
*) Vgl. R. Price, Obscrvations on reversionary payments. 3 ed. London
1773, S. 36.
*) Vgl. Arthur Young a. a. O. S. 353 — 354.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
49«
in Dienst auf dem Lande zu fast keinem anderen Zwecke, als Geld
zu verdienen, um nach London zu gehen. Das war nicht so leicht,
als die Landkutsche noch 4 bis 5 Tage brauchte, um hundert Meilen
zu fahren. Damals waren die Kosten der Fahrt hoch. Aber jetzt!
Ein junger Bursche, hundert Meilen von London entfernt, springt
morgens auf den Kutschkasten und ist dir 8 bis 9 Schillinge am
Abend in der Stadt. Das ist ein grofser Unterschied. Durch den
verbilligten Verkehr ist die Zahl derer, die London gesehen haben,
um das Zehnfache gestiegen, und natürlich klingen so die Ge-
schichten von zehnmal mehr Prahlhänsen in den Ohren des Land-
volks, um sie zu verführen, ihre sauberen, gesunden Felder zu
Gunsten eines schmutzigen, stinkenden und lärmenden Ortes zu
verlassen."
Und wunderbar sind die Vorschläge, die nun der Verfasser
macht, um den Zug nach der Stadt aufzuhalten. Es sei thöricht,
meint er,1) schlechte Stralsen herbeizuwünschen , um die Ab-
wandernden ans Land zu fesseln. Auch könne man keinem ver-
bieten, in London zu leben, ohne mit einem solchen Verbote „die
Natur der Freiheit" zu verletzen. „Aber,“ fährt er fort, „wenn man
sie für ihr Leben in London tüchtig bezahlen läfst, so entspräche
das ganz meinen Ideen. Anstatt alles Mögliche auszudenken, um
London mit billigen Nahrungsmitteln zu versorgen, soll man sie ver-
teuern.“ Ein merkwürdiges Rezept 1 Aber es ist im Grunde ge-
nommen nichts anderes, als wenn man heute in einzelnen Ländern
durch hohe Getreidezölle das Fortschreiten des überwiegenden In-
dustriestaats zu hindern sucht.
Wir wollen hier nicht alle Schriftsteller erwähnen, die in Flug-
blättern und Büchern die ländliche Entvölkerung jener Zeit dar-
gestellt haben. Nur noch Chalmers sei genannt. Er spricht in
seinem bekannten Werke in der im Jahre 1802 erschienenen Auf-
lage von dem „forcing cottagers into towns“ und meint:2)
„Wir .verdanken1 dem unvorteilhaften Wechsel unserer modernen
Landwirtschaft sehr viel. Durch das Zusammenschlagen von Pacht-
gütern in dem enormen Mafse, wie es geschieht, durch die Ver-
treibung der Kötter aus ihren Besitzungen, durch das
Verlangen, viel Nutzen mit wenig Arbeitskosten zu machen, hat
’) Young a. a. O. S. 355 — 356.
*) Chalmers, An Estimate on the comparative Strength of Great Britain.
London 1802, S. 318.
3**
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492 Hermann Levy,
dieses System in der Landwirtschaft die Gegenden, in denen
es vorherrscht, entvölker t.“
Wir könnten diesen Beispielen noch zahlreiche andere hinzu-
fugen. Vor allem zeigen uns die langen Ausführungen der Graf-
schaftsberichte des damaligen Ackerbauministeriums über die Frage
der Entvölkerung des platten Landes resp. der Abnahme der I Land-
bevölkerung, dafs die ganze Frage von eminent aktuellem Interesse
war. Die Statistik, welche man beibrachte, um zu beweisen, dafs
der Grofsbetrieb das Land nicht entvölkert habe, ist nach heutigen
Begriffen völlig unbrauchbar. Was aber war das Resultat, welches
die unangefochtene Bevölkerungs- und Berufsstatistik im Jahre 1811
brachte? Das Resultat war, dafs im Jahre 1 8 1 1 nur mehr 35,2 °/o
grofsbritannischer Familien an der Landwirtschaft, dagegen 44,4 °/#
an der Industrie — und dem Handel interessiert waren. Ein sehr
interessantes Resultat 1 Denn welche Bedeutung man auch bei der
Analyse dieser Zahlen der Landwirtschaft als abstoßendem, oder
der Industrie als anziehendem Faktor zuerteilt, eins stellen sie klar:
dafs zu einer Zeit, als die Landwirtschaft und insbesondere der
Getreidebau in England seine höchste Blüte genofs und der nationale
Ackerbau fast ausschliefslich das Land versorgte, der Uebergang
zum überwiegenden Industriestaat nicht ausblieb. Die Grundbe-
sitzer schwelgten in den hohen Renten, die sich von 1792 bis 1813
verdoppelten und verdreifachten, die Pächter wurden reich, die
ganze kontinentale Landwirtschaft sah mit Staunen auf die
glänzende Entwicklung des getreidebauenden Grofsbetriebs in Eng-
land — und doch war all das Kapital, was der Landwirtschaft zu-
strömte, nicht imstande, den Arbeiter auf dem Lande zu halten,
und die Klagen, dafs die Landbevölkerung abnehme, ertönten in
gleicher Weise wie heute.
Die 30 Jahre, welche auf den Friedensschlufs von 1815 folgten,
verbesserten die Lage des Landarbeiters nur in einzelnen kurzen
Perioden. Um die hohen Preise, die zur Zeit des Krieges und der
schlechten Ernten geherrscht hatten, weiterhin sich zu sichern,
hatte die Agrarpartei im Jahre 1815 hohe Kornzölle eingefuhrt
Diese erreichten zwar nicht das gewünschte Ziel. Sie vermochten
den Getreidepreis nicht auf der Höhe zu erhalten, die man erwartet
hatte. Sie erweckten nur falsche Hoffnungen, verleiteten die Pächter
zu extravaganten Pachtverträgen und führten mit Ausnahme weniger
Jahre zu einer Not der Landwirte, wie sie die englische Landwirt-
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
493
schaft bisher nicht wiedergesehen hat. l) Die Lage des Landarbei-
ters war zunächst noch relativ erträglich, weil er ja Lohnzuschüsse
aus der Armenkasse bezog und so der unzureichende Lohn die
nötige Ergänzung fand. Aber selbst bei diesem Lohnzuschufs-
systeme war die Lage der Landarbeiter in Jahren hoher Getreide-
preise noch immer sehr schlecht. Die hohen Getreidepreise
brachten regelmäfsig industrielle Krisen stärkster Art mit sich, so
z. B. in den Jahren 1817 und 1818 und in den 4 Jahren nach
1828. ln solchen Zeiten stockte der Zug der unbeschäftigten
Landarbeiter in die Städte. *) Auch war es nur zu klar, dafs die
allgemeinen Schrecken erregenden ländlichen Brandstiftungen zu
Anfang der 30er Jahre auf die Verzweiflung der hungernden
Landarbeiter zurückzuführen waren. Die Landwirte selbst betrach-
teten in jener Zeit ein Abströmen von Landarbeitern in industrielle
Berufe als einen Segen; denn ohne dafs dieses Abströmen die
Löhne in nennenswerter Weise beeinflufste, befreite es doch das
Land von Bettlern und arbeitslosen Vagranten und entlastete so
die ländliche Armensteuer. So meinte der Inspektor der Güter des
Herzogs von Bedford, Mr. Th. Bennctt, im Jahre 1 836 : „Ich glaube,
wir haben augenblicklich durch das Fortschreiten der Birmingham-
Eisenbahn Vorteile gehabt. Viele haben dort Anstellung gefunden,
manche sind in die Manufakturdistrikte gezogen und oft sehr be-
friedigt gewesen, dafs sie dies gethan haben.“ Die ländlichen
Löhne seien, so führt er weiter aus, dadurch nicht verändert worden.
Die Abwanderung hätte den Arbeitsmarkt nur von der „Ueber-
sättigung" befreit. •) In den 30er Jahren wurden in Büchern und
Flugschriften lebhaft über die immer stärker werdende Auswan-
derung debattiert, welche das letzte Rettungsmittel der hungernden
Landarbeiter bildete. Die Freihändler bejammerten die Auswan-
derung als die Folge der Getreidczölle. Demgegenüber erwiderte
man mit dem Argumente, dafs die Auswanderung ja eigentlich
nichts anderes sei, als „Freihandel in Arbeitern,“ indem das eine
Land seinen Ueberflufs an Arbeitern in dasjenige sende, welches
■ *) Levy a. a. O. passim.
*) In der Schrift „The Proccedings of the Labourers Friend Society“ vom
Jahre 1832. S. 7 heifst cs über die Landarbeiter: „Die gegenwärtige Lage unserer
Industrie schliefst alle Hoffnung aus, dafs ihnen dort Arbeit zu teil wird. Der in-
dustrielle Arbeitsmarkt ist bereits überlastet.“
*) Vgl. Report on the State of Agriculture 1836 qu. 8197 — 8198; ebenda qu.
9590 IT.
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494
Hermann Lcvy,
sie benötige. *) Eine schwache Entschuldigung dafür, dafs England
mit jedem Jahr der künstlich gesteigerten Nahrungsmittelpreise
weniger imstande war. seine wachsende Bevölkerung zu ernähren.
Geradezu furchtbar aber wurde die Lage der Landarbeiter, als
die Lohnzuschüsse im Jahre 1834 mit dem neuen Armensteuergesetz
beseitigt wurden.*) ln den Jahren 1837 — 1845 vermochte der
ländliche Arbeitslohn nicht nur nicht entsprechend den hohen Ge-
treidepreisen zu steigen, nein er sank noch unter das Niveau, das
er zur Zeit niedriger Weizenpreise in den Jahren 1833 — 36 inne-
gehabt hatte. Die Ursache war klar. Die Industrie geriet in den
Jahren hoher Brotpreise in die schrecklichsten Krisen. Die Arbeiter-
entlassungen mehrten sich in der Zeit von 1837 — 1842 von Tag
zu Tag, die Armenhäuser in den Städten waren überfüllt, das
schrecklichste Elend herrschte in den Strafsen, in den Arbeiter-
häusern und Spitälern. Angesichts des überfüllten städtischen
Arbeitsmarkts stockte die Abwanderung der Arbeiter vom Lande.
Die Folge mufste die sein, dafs auch auf dem Lande der Arbeiter-
überflufs den Lohn auf ein jämmerliches Minimum herabdrückte.
Kartoffeln waren die Mahlzeit des Landarbeiters, oft aber auch
wilde Pflanzen, Steckrüben und angefaulte Aepfel. „Man mufs
sich erinnern," so schreibt Richard Heath,3) „dafs von den jämmer-
lichen Löhnen, die sie empfingen, nicht eine, sondern sehr häufig
vier oder fünf Leute zu leben hatten. Das war nur möglich, indem
man den Brot-, Speck- und Bierverbrauch einschränkte und an ihre
Stelle Haferschleim, Kartoffeln und Reisspeisen setzte mit einem
Absud von ausgekochten Theeblättern. Aber selbst dies war
schwierig unter den wechselnden Preisen, welche unter dem Schutz-
zollsystem herrschten. Ein alter Mann erzählte mir, dafs er sich
an die Zeit erinnere, in welcher das Brot, das sie zu essen hatten,
fast schwarz war und so hart, dafs sie es mit dem Beil zerhauen
mufsten. Zu solchen Zeiten und an dunklen Wintertagen waren
die Eltern froh, wenn sie die Mägen ihrer Kinder mit einer Flüssig-
keit angefüllt hatten, die aus heifsem Wasser, grobem braunen
Zucker und ein wenig Milch bestand, und wenn sie sie dann ins
Bett stecken konnten, um bis zum anderen Morgen ihr Schreien
*) R. W. Horton, M. P., An Inquiry into the Causcs and Remedics of
Pauperism. London 1830, S. 33.
*) Die Belege für die folgenden Angaben linden sich bei Le vy a. a. O.
S. 98 — 101.
*) Vgl. Heath, The English Pacsant. London 1893, S. 45»
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
495
nach Nahrung nicht mehr zu hören. ,Kein Wunder,' sagte Cobbett
zu einem Arbeiter, ,kein Wunder, dafs ihr alle dünn seid wie Eulen,
und dafs ihr Sohn, der 19 Jahre alt ist, und 5 Fufs 9 Zoll lang,
zu schwach ist, um wie ein Mann zu arbeiten, wie Sie mir letzten
Sommer sagten. Kein Wunder, dafs seine Kniec unter ihm schlottern,
und dafs er eine Stimme wie ein Mädchen hat, anstatt imstande
zu sein, einen Sack Weizen zu schleppen und über einen hohen
Zaun zu springen.' “
Die ungesunde Ernährungsweise des Landarbeiters führte zum
Ausbruch furchtbarer Krankheiten, die Beschäftigungslosigkeit zur
Landstreicherei und zu Verbrechen. Viele, die in ihrer Verzweiflung
vom Lande in die Städte strömten, um dort Arbeit zu suchen,
blieben krank am Wege liegen oder mufsten unmittelbar nach
ihrer Ankunft in die Spitäler gebracht werden. Dies war die
Weise, in der die Kornzölle und die künstlich gesteigerte Renta-
bilität des Getreidebaues die Bevölkerung auf dem Lande fest-
hielten.
All dies änderte sich, als im Jahre 1846 die Kornzöllc
beseitigt wurden. Der Freihandel führte zu einem ungeahnten Er-
blühen der englischen Industrie und des Handels. Die Arbeiter-
löhne erfuhren eine unmittelbare Steigerung. Damit erfuhr aber
auch der ländliche Arbeitermarkt eine Entlastung; massenhaft
strömten die Arbeiter den Städten zu, und ihre Brüder auf dem
Lande sahen nunmehr nach so langer Zeit entsetzlichsten Elends
eine bessere Zeit aufdämmern.
Aber auch in der Landwirtschaft lagen die Ursachen der bis
auf den heutigen Tag immer stärker zunehmenden Abwanderung.
Der Freihandel hatte zu einem Aufblühen der bisher völlig ver-
nachlässigten Viehzucht geführt. Die ewige Weide erfuhr in der
Zeit von 1867 bis 1900 eine Ausdehnung von mehr als 5 Millionen
Acres. Die Getreideanbaufläche erfuhr zwar in den ersten 30
Jahren nach Aufhebung der Kornzölle keine wesentliche Minderung,
sie ist aber dann von 1874 bis 1900 um ca. 2 Millionen Acres
zurückgegangen. *)
Es ist klar, dafs der Uebergang zu einer ausgedehnteren Vieh-
zucht Landarbeiter massenhaft eliminierte. Aber wie verschieden
in ihrer Wirkung war diese Elimination im Vergleich zu der,
*) Vgl. Statistical Abstracts of the United Kingdom. No. 28, S. 1 19 und
No. 48, S. 184.
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Hermann L e v y ,
welche die Ausdehnung des Getreidebaues bis 1 846 verursacht hatte.
Die übermäfsige Ausdehnung des Getreidebaues hatte, wie wir sahen,
einmal zur Kntstehung des überwiegenden Grofsbetriebs geführt.
Dieser hatte die Expropriation des Landarbeiters aus einem eigenen
oder gepachteten Landwirtschaftsbetriebe verursacht und so ein
Ueberangebot von Arbeitskräften hervorgerufen. Ferner war die
Ausdehnung des Getreidebaues auf Grund steigender Getreidepreise
erfolgt. Diesen aber war nicht eine entsprechende Lohnsteigerung
gefolgt- Vor allem war zur Zeit der künstlich herbeigeführten Ge-
treidepreissteigerung, wie wir zeigten, eine genügende Abwanderung
von Landarbeitern in industrielle Berufe nicht möglich, während
andererseits der Getreide bauende Grofsbetrieb aufserstande war,
die Landarbeitermasse in zureichender Weise zu beschäftigen. Er
konnte in keiner Weise dem Arbeiter einen Ersatz bieten für den
Verlust des Einkommens aus der eigenen oder gepachteten Scholle,
die er bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fast allgemein
innegehabt hatte.
Ganz anders aber lagen die Dinge, als die zunehmende Weide-
wirtschaft Arbeiter eliminierte. Das Erblühen der Viehzucht
nach 1846 J) bedeutete nicht für die Bevölkerung ein „notwendiges
Uebel“, wie die einst durch die Kontinentalsperre und die Schutz-
zollpolitik hervorgerufene Ausdehnung des Getreidebaues. Die
steigenden Fleischpreise waren vielmehr das Zeichen industriellen
Wohlstandes. Sie waren die Folge der hohen industriellen Löhne,
welche den Arbeiter bei niedrigen Brotpreisen instand setzten,
mehr und mehr animalische Nahrung zu geniefsen. Die Elimination
von Landarbeitern durch die Weidewirtschaft war für diese kein
Schade, indem ihnen der Uebergang in industrielle Berufe reich-
lichen Ersatz bot. Andererseits aber sahen sich die weiterhin auf
dem Lande bleibenden Arbeiter nicht durch das Freiwerden von
Arbeitsstellen geschädigt, indem der verminderten Nachfrage nach
Landarbeitern durch die Möglichkeit der Abwanderung ein vermin-
dertes Angebot gegenüberstand.
Mit dem Jahre 1846 beginnt ein Umschwung in dem Ver-
hältnis von Landarbeitcrangebot und [.andarbeiternachfrage. War
bisher stets das Angebot stärker gewesen als die Nachfrage und
hatten die Landwirte auf den vier landwirtschaftlichen Parlaments-
ausschüssen in der Zeit von 1815 — 1846 fast kaum über Arbeiter-
*) Vgl. Lcvy a. a. O. S. 113.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
497
mangel geklagt, so bekam jetzt die Nachfrage nach Landarbeitern
das Uebergewicht und es wurde zur Ausnahme, einen Landwirt
nicht über Arbeitermangel klagen zu hören. Man schlage das
jüngst erschienene Werk von Rider Haggard über Rural England
auf1) und man wird wenigen Seiten begegnen, in denen nicht die
Landwirte über starken Arbeitermangel klagen.
Dieser Wandlung der Dinge nun ist das Steigen der länd-
lichen Löhne nach 1846 zuzuschreiben. Nach der von Wilson Fox
zusammengestellten Tabelle betrug:5)
der VVochcnlohn in Geld auf 67 von
Im Jahre
Wilson Fox untersuch
sh d
1850
9
31/«
tS6o
10
II
1868
12
o'/*
1870
it
IO1/,
1880
13
*7«
1892
■3
5
1898
■3
87,
Diesen Zahlen entsprechen mit unwesentlichen Abweichungen
die Lohnangaben , welche frühere Autoritäten auf landwirtschaft-
lichem Gebiete über die Lohnsätze gemacht haben , vor allem
Caird, Purdy, Little, Druce u. a. Diese Thatsache spricht in hohem
Mafse für die Richtigkeit der von Wilson Fox angegebenen Zahlen,
welche freilich nur das Resultat von 67 als typisch angenommenen
Pachtgütern darstellen.
Folgen wir nun weiter der sehr interessanten Darstellung der
englischen Beamten. Bei der Beurteilung der Steigerung der länd-
lichen Geldlöhne ist vor allem zu bedenken, wie sehr sich die
Preise der notwendigsten Konsumartikel in England seit 1850 ver-
billigt haben und wieviel mehr sich daher der Landarbeiter für die-
selbe von ihm verdiente Geldeinheit anzuschafifen vermag. Mehl
ist 25 — 30 Proz., Zucker 60 — 70 Proz., Thee 65 — 70 Proc., Käse
25 Proz. und Kartoffeln 8 Proz. billiger geworden. Animalische
Nahrungsmittel, welche bis 1846 der Landarbeiter nur als Delika-
tesse kannte, werden jetzt tagtäglich von der Landarbeiterfamilie
*) H. Rider Haggard, Rural England. London 1902. 2 Bde.
*) Die folgenden Angaben über die Lohn- und Lebcnsverhältnissc der Land-
arbeiter bis S. 5c» sind der Darstellung von Wilson Fox entnommen, mit Aus-
nahme derjenigen Angaben, für welche eine andere Quelle ausdrücklich citiert ist.
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Hermann Levy
reichlich genossen. Das Menu eines Landarbeiters in Essex war
in der Regel vor 50 Jahren :
Frühstück: Brot — oft trocken — gelegentlich Butter oder
Käse.
Mittagessen : Brot und Käse. Sonntags manchmal Schweine-
fleisch oder Speck. Dazu Thce.
Abends : Gemüsepudding (manchmal Rüben , Karotten und
Pastinake); bei besonderen Gelegenheiten etwas Schweine-
fleisch.
Etwas besser scheint die Nahrung in Norfolk und Suffolk ge-
wesen zu sein, wo der Genufs von Milch und Speck häufiger war.
Heute geniefst dagegen der englische Landarbeiter in reichlichem
Mafse Fleisch, Fisch, Jam, Thce, Butter, Obst, Eier, Kaffee, Kakao,
Rosinen und Kuchen und zwar frisches Fleisch in den nördlichen
Grafschaften fast täglich.
Die wichtigste Konsequenz dieser Veränderungen für den
Landarbeiter ist die Thatsache, dafs die Frauen- und Kinder-
arbeit in der Landwirtschaft heute rapide abnimmt. Dies be-
zeugen verschiedene amtliche Berichte, welche über jene Frage
Aufklärung geben. Mit den steigenden Löhnen des Mannes
und der steigenden Kaufkraft derselben ist die Landarbeiter
frau ihrem Haushalte wieder gewonnen worden. Früher mufste
sie in grauer Morgenstunde aus dem Schlafe, den Kindern und
sich, bevor sie an die Arbeit ging, das Frühstück zubercitcn, dann
eine beträchtliche Strecke gehen oder laufen, bis sie an den Ort
ihrer Arbeitsthätigkeit kam. Kehrte sie abends zurück, so war sie
mit Haushaltspflichtcn überhäuft, die bis in die tiefe Nacht dauerten.
Heute ist die Landarbeiterfrau im stände, ein wenigstens nicht so
menschenunwürdiges Dasein zu fuhren. Auch kann sie sich ihren
Kindern widmen, während früher die weitverbreitete Kinderarbeit
jede rcgelmäfsige Erziehung derselben unmöglich machte.
Die Veränderung der Lage des ländlichen Arbeiters aber be-
steht nicht nur in einem Steigen der Löhne und deren Kaufkraft.
Sie besteht auch in der Verbesserung gewisser Lebensbedingungen,
die mit dem Arbeitsvertrage in engem Zusammenhänge stehen:
nämlich in der Verbesserung der Wohnungsverhältnisse. Man hat
in Deutschland bei der Diskussion über Kornzölle und Landarbeiter-
frage oft an die Insten erinnert und gemeint, da diese einen An-
teil am Erdrusch des Getreides hätten, so seien sie auch an hohen
Kornzöllen interessiert. Dieses Argument, ganz abgesehen, dafs es
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
499
nur für gewisse Teile Deutschlands zutreffen würde, ist völlig ver-
fehlt. Denn es handelt sich bei der Sozial re form nicht allein
um die Lohnfrage, sondern um alle Lebensverhältnisse
des Arbeiters, also z. B. um die Wohnungsfrage. Nun ist klar, dafs
solange das Arbeitsangebot auf dem Lande so grofs ist, dafs jeder
jeder Landwirt leicht neue Arbeiter bekommt, wenn die alten un-
zufrieden sind, kein Landwirt daran denken wird, den Arbeitern
gute Wohnungen zu bauen, wenn man sie dazu haben kann, die
alten weiter zu bewohnen. Dies geschieht erst, wenn man den ab-
wandernden Arbeiter festzuhalten und ihm daher sein Heim zu
verschönern sucht. So hat sich auch in England mit dem steigen-
den Einflufs des Arbeiters beim Abschlüsse des Arbeitsvertrages ein
Wandel in der Ausgestaltung der Wohnungsverhältnisse vollzogen.
Oft findet man noch in demselben Dorfe zwei Typen von
Arbeiterhäusern vertreten : den alten Typus und den neuen. Win-
zige Räume, die überfüllt sind, kleine Fenster, hühnerleiterartige
Treppen, Rufs und Schmutz, mangelnde Wasserleitung, mangelnde
Reparaturen aller Art — das sind die Kennzeichen der alten Ar-
beiterhütte. In dem neuen Arbeiterhaus sind dagegen oft 3 Schlaf-
zimmer, eine Küche, ein Waschhaus, eine Speisekammer u. s. w.
vorhanden. Gesundheit, Schamgefühl, Sauberkeit und Bequemlich-
keit kann in ihm erhalten bleiben. Erstaunlich ist das Resultat der
folgenden Tabelle, welche zeigt, wieviel Prozent der Bevölkerung
in den hauptsächlich landwirtschaftlichen Grafschaften Englands zu
dritt oder mehr in einem Raume schlafen. Der Prozentsatz
betrug
in der Grafschaft
im Jahre 1891
im Jahre 1901
Differenz
Westmoreland . . .
4,88
2. So
2,08
Lincoln
4.30
2,52
1,78
Norfolk
5.98
3.64
2,34
Suffolk
5.93
3,46
2,47
Berkshire . . . .
4.83
2,42
2,4'
Sussex
2.94
1,84
2,10
Hampshire ....
. 2.65
i.63
1,02
Glouccstersbire . . .
. 8,21
4.91
3,3«
Somerset
4.67
2,82
',85
Devon
. 10,31
7.8i
2,50
Cornwall
. 6,60
3,95
2,65
Diese Tabelle ist der deutlichste Beweis für die Verbesserung,
welche in den Wohnungsverhältnissen der Landarbeiter stattge-
funden hat.
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500
Hermann Lcvy,
Dem immer wachsenden Wohlbefinden des Landarbeiters aber
entsprach eine Steigerung in seiner Arbeitsleistung. Zum Beweise
möchte ich nur an die Geschichte der Landarbeiter erinnern, welche
aus den südlichen Grafschaften Englands in die nördlichen wan-
delten. *) Der ländliche Lohn ist im Süden Englands weit niedriger
als im Norden, wo die grofse Masse der Fabrikstädte und Bergwerke
die grüfste Anziehungskraft auf die ländliche Arbeiterklasse ausübt.
Aber die Landarbeiter, die aus detn Süden kamen, um ebenfalls die
hohen Löhne zu verdienen, waren aufscrstande die Arbeit zu leisten,
die die nördlichen Arbeiter verrichteten. Sie mul'sten wieder nach
dem Süden zurückkehren.
Dies Beispiel zeigt erstens, wie die Höhe des Lohnes und die
bessere Lebenshaltung die Arbeitsleistung des Landarbeiters ge-
steigert hat. Andererseits zeigt sich hier die gute Seite jener Ab-
wanderungsmöglichkeit in die grofsen Städte. Denn auf diese ist
der hohe Lohn und die hohe Leistungsfähigkeit des nordenglischen
Landarbeiters zurückzufuhren.
Und damit kommen wir wieder auf die Schlufsausführungen
von Wilson Fox zurück. Was ist die Ursache gewesen, dafs in
den letzten 50 Jahren jene enorme Verbesserung in der I-age des
englischen Landarbeiters stattgefunden hat? „Er ist jetzt imstande,“
so schreibt Fox, „seine Arbeit auf anderen als nur landwirtschaft-
lichen Märkten zu verkaufen, und er hätte dies wahrschein-
lich grade so Vorjahren gethan, wenn er dazu die
Möglichkeit gehabt hätte. Er geht dahin, wo er die höch-
sten Löhne verdienen kann, und er unterscheidet sich hierin nicht
von irgend einer anderen Klasse der Gesellschaft." „Vor 50 oder
60 Jahren begann der Landarbeiter seinen Beruf mit 6 oder
7 Jahren. Er wuchs auf: unerzogen, beschränkt, ohne Unter-
nehmungsgeist." „Ebenso das junge Mädchen.“ „Damals hatte der
Pächter ein vollkommenes Monopol auf dem Arbeitsmarkte. Er
konnte so viele arbeiten lassen, wie er wollte und diese so lange
wie er wollte. — Aber jedes Ding hat seine Zeit. Jetzt befindet
er sich im Wettbewerb mit anderen Arbeitgebern, und der Land-
arbeiter kann seine Arbeit und seinen Arbeitgeber sich selbst
auswählen."
Wenn wir zurückblicken auf unsere historische Darstellung und
1) Vgl. Brodrick, English Land and English Landlords. London : SS I ,
S. 229.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England. JOI
wenn wir nunmehr imstande sind, den ganzen Fortschritt zu wür-
digen, der sich in der Lage der ländlichen Arbeiterklasse seit 1850
vollzogen hat, so drängt sich uns unwillkürlich die Frage auf: Wie
hat jener Fortschritt auf die F.ntwicklung der ländlichen Abwande-
rung gewirkt, hat er sie zu hemmen vermocht oder nicht?
Wir haben bereits angedeutet, dafs die Verbesserung der länd-
lichen Arbeiterverhältnisse in keiner Weise den Zug nach der Stadt
aufgehalten hat. Im Gegenteil, England ist heute das Land Europas,
in welchem jener Abwanderungsprozefs wahrscheinlich am stärksten
vor sich geht.
Die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter betrug nach dem
Census von (einschließlich der Vorarbeiter und Aufseher u. s. w.):1)
1871
938 53°
1881
849 829
1891
774 762
1901
631 728
Wir sehen : in dem Dezennium, welches mit der letzten Zäh-
lung abschliefst, hat eine Abnahme der Landarbeiter um ca. 18%
stattgefunden.
Was ist die Ursache dieser Abwanderung gewesen ? Die Be-
antwortung dieser Frage weist grofse Schwierigkeiten auf. Sicher-
lich ist der Uebergang zur Weidewirtschaft, das Umwandeln von
Acker- in Weideland ein Umstand gewesen, der in vielen Gegenden
Landarbeiter überflüssig gemacht hat. Ebenso hat die Einführung
der Maschinen gewirkt. Aber wie Vandervelde in seinem lesens-
werten Werke sehr treffend erklärt:1) „Oft hat die Auswanderung,
durch andere Umstände verursacht, die technischen Umformungen
in der Landwirtschaft herbeigeführt und ist denselben voraus-
gangen. Oft sind andererseits die technischen Veränderungen
vorausgegangen und haben die Abwanderung verursacht.“
In der Erkenntnis der jeweiligen Ursache und Wirkung .liegt die
Schwierigkeit Dabei erscheint es ziemlich unzweifelhaft, dafs, was
die Frage der Einführung von Maschinen anbelangt, die Steigerung
der Löhne oder was gleichbedeutend ist die Abwanderung vom
Land das Primäre gewesen ist. Anders steht es mit der Frage
der Umwandlung von Acker- in Grasland.
*) Vgl. die entsprechenden Bände des Census of England and Wales (Occu-
pations of the People).
9) Emil Vandervelde, L’cxodc rural et le retour ä la Campagne. Paris
1903, S. 105.
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502
Hermann L e v y ,
Hier müssen wir zunächst bedenken, dafs es für viele Land-
wirte in jedem Falle, gleichviel ob die Löhne niedrig oder hoch
waren, bei den sinkenden Getreidepreisen rentabel war, ihr Acker-
land zu ewiger Weide niederzulegen. Es thaten dies vor allem die-
jenigen Landwirte, welche unfruchtbare Ackerböden zur Zeit der
guten Getreidekonjunktur gepachtet hatten. Der sinkende Getreide-
preis machte die rentable Bewirtschaftung dieser unergiebigen Acker-
böden selbst bei Mehrverwendung von Kapital und Arbeit in den
Boden unmöglich. Andererseits gingen die Gewinnste aus der Vieh-
zucht nach 1879 weit weniger zurück als die aus dem Ackerbau,
und damit war schon die Zweckmäfsigkeit der Umwandlung ge-
geben. Hier also ging die Umwandlung entschieden der Abwande-
rung voraus, indem sie Landarbeiter eliminierte.
Andererseits ist zu bedenken, dafs es nicht immer der Ueber-
gang zu einer ewigen Weidewirtschaft war, durch welchen die
Landwirte das Kostenelement: Arbeitslohn zu vermindern suchten.
Die Landwirte führten vielmehr vielfach ein Anbausystem ein, bei
welchem sie 3, 4 oder 5 Jahre lang das I,and als Wiese be-
nutzten, um es dann erst wieder mit Getreide zu bestellen.
Dieses System der „vorübergehenden“ Weidewirtschaft bedeutete
natürlich ebenfalls eine grofse Ersparnis an Arbeitslöhnen. Weniger
Arbeiter wurden benötigt und mehr wurden in andere, vor allem
in industrielle Berufe getrieben.
Aber nichts wäre einseitiger, als der Thatsache, dafs die Weide-
wirtschaft Landarbeiter eliminiert hat, ein allzu grofses Gewicht für
die Frage der Landflucht einzuräumen. Denn die Abwanderung
vom Lande ist in England keineswegs lokaler Natur. Sie hat nicht
nur da stattgefunden, wo man zur Weidewirtschaft überging. Sie
ist nicht in jenen Grafschaften stärker gewesen, wo die Ausbildung
der Viehzucht die besten Vorbedingungen fand, als in jenen, wo die
Landwirte selbst bei sinkenden Preisen noch weiter mit Nutzen Ge-
treide bauen konnten. Die Landflucht ist, wie Graham in seinen
Studien hervorhebt, eine Thatsache, die man in jedem landwirt-
schaftlichen Distrikt Englands beobachten kann.1) Und weiter! Die
jüngsten Untersuchungen Rider Haggards über die Lage der eng-
lischen Landwirtschaft beschäftigen sich fast überwiegend mit der
Landarbeiterfrage und dem Abwanderungsproblem. Obschon ich
seine Darstellungen oft nicht frei von einem mehr oder weniger be-
') Vgl. P. Anderson Graham, The Rural Exodus. London 1892, S. 9.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
503
absichtigten Pessimismus finden kann, so können wir ihm doch im
grofsen Ganzen zugeben, dafs der Arbeitermangel heute eine schwere
Sorge des englischen Landwirts bildet. Seine Beobachtungen zeigen
uns, dafs es durchaus nicht immer derLandwirt ist, welcher Ar-
beiter fortschickt, weil er zur Weidewirtschaft übergegangen ist.
Im Gegenteil 1 In Haggards Buch begegnen uns Hunderte von Land-
wirten, die dringend Arbeiter benötigen und laut darüber klagen,
dafs alle jungen Leute abwandern, obschon sie bei den Pächtern
der Umgegend reichlich Arbeit finden könnten. *) Ja, Haggard be-
zeichnet sogar den Arbeitermangel als eine Hauptursache, weshalb
der englische Getreidebau ein „unrentables Gewerbe“ sei.*) Warum
wandert der Landarbeiter, der in einzelnen Weidedistrikten keine
genügende Arbeit findet, nicht in jene landwirtschaftlichen Distrikte,
wo der grofsc Arbeitermangel herrscht, von dem Haggard auf fast
jeder Seite seines Buches spricht? Warum wandert er lieber nach
London, Birmingham oder Manchester?
Wir sehen : so stark der Einflufs ist, welchen ökonomische
Strömungen in der englischen Landwirtschaft, vor allem der Ueber-
gang zur Weidewirtschaft, auf die Landflucht gehabt haben, sie er-
klären die Stärke derselben nur teilweise. Es sind Momente thätig,
welche mit dem Angebot und der Nachfrage nach Arbeitern auf
dem Lande nichts zu thun haben. Es ist die Anziehungskraft der
Städte, nicht die mangelnde Nachfrage in der Landwirtschaft,
welche einen grofeen Teil der Landarbeiter von den Feldern
treibt.
Worin besteht die Anziehungskraft der Stadt?
Es ist da zunächst auf den Unterschied der industriellen und
ländlichen Löhne zu verweisen. Obschon der Arbeiter heute auf dem
Lande regelmäfsig seine 13 — 14 sh in der Woche verdient, und ob-
schon sich seine Geldeinkünfte oft durch Nebenverdienst, Ernte-
arbeit etc. auf 17 — 18 sh steigern, so ist er doch imstande, in
industriellen Berufen 24 — 28 sh zu verdienen. Das bildet schon
einen grofsen Anreiz, in die Städte zu ziehen. Aber ich möchte
nicht behaupten den gröfsten. Denn der englische Landarbeiter
weife heutzutage recht wohl, dafs er in der Stadt für allerlei Be-
dürfnisse z. B. vor allem für die Wohnung mehr bezahlen mufs, als
') Vgl. Haggard a. a. O. z. B. Uber Sussex Bd. I, S. 105 u. 106; vgl. Uber
Lincolnshire Bd. II, S. 222, ebenso Uber Oxfordshire S. 112; vgl. auch S. 539.
*1 Vgl. ebenda S. 541.
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504
Hermann L e v y ,
auf dem Lande. Es sind in der Regel noch andere Erwägungen
als die des absolut höheren Geldlohnes, welche den Landarbeiter
vom Land in die Stadt treibt.
Die ganzen Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen er-
scheinen ihm in der Industrie oder in den städtischen Berufen er-
freulicher als auf dem Lande. Ein AgrarschriftstcIIer, Robert Scott
Burn, der selbst als Pächter Erfahrungen in grofser Zahl gesammelt
hat, schreibt über die ländliche Arbeiterfrage:1)
„Während in städtischen Distrikten oder in den Vororten
gröfserer Städte die Verkürzung der Arbeitszeit grofse Ausdehnung
gefunden hat und augenscheinlich weiter finden wird, so hat sich
dieses System bis jetzt noch nicht auf die ländlichen Gegenden
erstreckt. So müssen Arbeiter, die auf Gütern oder mit landwirt-
schaftlicher Arbeit beschäftigt sind, so lange am Tage arbeiten, wie
ihre Väter und Vorväter. Aber der Arbeitstag des Landarbeiters
ist nicht nur lang, sondern auch unbestimmt in seiner IJLnge, vor
allem auf Gütern, wo viel Vieh gehalten wird. Es bleibt immer
irgendeine Arbeit übrig, die gethan werden mufs, zu welcher Tages-
stunde es auch sei, wenn es auch noch so spät ist. Und die Extra-
arbeit, die man dem Arbeiter giebt, bringt diesem nicht einmal den
Trost eines Extralohnes, den er für die „Ueberstunden“ in den
Städten im allgemeinen beanspruchen kann. Der städtische Arbeiter
pflegt über lange Arbeitszeit zu klagen und er würde sofort einen
„Strike" angefangen, wenn man ihm seinen geliebten halben Feiertag
am Samstag Nachmittag nehmen wollte. Wenn er sich doch einmal
bewufst würde, welch langen, arbeitsschweren Tag sein Kamerad
auf dem Lande durchzumachen hat. Wenn er nur „den Stunden-
plan“ auf einigen Gütern lesen könnte, welcher den Arbeiter um
halbfünf an die Arbeit ruft, um ihn erst um sieben Uhr abends wieder
zu entlassen, und dann erst, wenn die Pferde ihre Streu bekommen
haben. Wenn der städtische Arbeiter von alledem nur eine
schwache Ahnung haben würde, so würde er sich, anstatt über sein
Los zu klagen, gratulieren, wenn er es mit dem seines Kameraden
auf dem I .andc vergliche."
Aber noch andere Momente, als die bisher genannten, veran-
lassen den englischen Landarbeiter zur Landflucht.
Vor allem ist die Verschiedenartigkeit des landwirtschaftlichen
Berufes von den meisten anderen Berufen eine Thatsche, die die
') R. Scott Bum, Systematic Small Farming. London 1886, S. 43.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
SOS
Erwägung des Landarbeiters, vor allem des jungen Arbeiters, stark
beeinflufst. Die Arbeit im Stalle und im Hofe, das Düngerfahren
oder Kuhmelken, das sind Arbeiten, die, wenn auch vielleicht ge-
sünder als die Arbeit in Fabriken, dem I^andarbeiter unvergleichlich
viel niedriger erscheinen als diese. Der vom Kohlenrufs beschtvärzte
Gruben- oder Fabrikarbeiter ist ihm immer noch eine angenehmere
Erscheinung als der Landarbeiter in seinen schweren, schmutzigen
Zugstiefeln, seinen Lederhosen und seinen schwieligen, harten
Händen.
Dazu kommt der Unterschied in dem ganzen Leben des städ-
tischen oder industriellen Arbeiters gegenüber dem des ländlichen.
Der Landarbeiter bleibt „Arbeiter“ auch, wenn er seine Arbeit be-
endet hat. Ein jeder im Dorfe weifs, dal's er Arbeiter ist, der Wirt,
bei dem er trinkt, der kleine Kaufmann, bei dem er einkauft und
alle anderen Dorfbewohner. Der städtische oder industrielle Arbeiter
ist Arbeiter nur solange er „arbeitet“. Ist die Arbeit beendet, so
wechselt er seine alte Arbeiterklcidung gegen eine bessere, elegantere
um, die ihm die Billigkeit der grofsen Stadt ohne grofsen Aufwand
verschafft. Mit dieser Umwandlung fühlt er sich bereits als ein
halber „gentleman". Dann geht er in irgend eines der vielen
Musiklokale oder in eine Kneipe, trifft Bekannte oder macht Be-
kanntschaften, die ihn alle nicht wie den Arbeiter „Tom“ oder
„Jack“, sondern wie einen „Herrn“ behandeln. Der ländliche Arbeiter
hat in der Regel keine andere Zerstreuung für seine Abende als
die Kneipe des Dorfes. Er hat keinen Hydepark, in dem er an
den Sonntagen des Sommers umsonst ein Konzert hören und er
hat keine Gelegenheit Ausflüge zu machen und sein Vaterland
kennen zu lernen. Der Industriearbeiter, der in Büreaus, Magazinen
oder Läden beschäftigte Arbeiter, kann die freie Zeit vom Samstag
Mittag bis Montag früh zu einem jener „Wochenendausflüge“ be-
nutzen, für die die englischen Flisenbahngesellschaften stets enorm
billige Fahrgelegenheit bieten. Der Landarbeiter darf nie so lange
von dem Gute entfernt bleiben. Auch haben die städtischen Arbeiter
ihre Kriketpartien, die ihnen, wie ja allen Engländern, besonders
am Herzen liegen. In den kleinen Dörfern ist von solchen Be-
lustigungen selten die Rede, die Landarbeiter sind fast nie an ihnen
beteiligt.
Eine weitere Zerstreuung, die zugleich in hohem Grade bildend
auf den Stadtarbeiter wirkt, sind die zahlreichen Versammlungen
und Vorträge, die er besuchen kann. Und es giebt wenige, die
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 33
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506
Hermann I.cvy,
nicht an solchen Versammlungen mehrere Male im Jahre teilnehmen,
es sei an Versammlungen , in denen allgemeine ethische Fragen
diskutiert werden oder an solchen, die speziell sozialpolitische oder
wichtige Tagesfragen zum Gegenstand haben, ln solchen Ver-
sammlungen gewinnt das Selbstbewufstsein des Arbeiters als Bürger,
er wird zum Denken veranlafst und entwickelt vielleicht Fähig-
keiten, deren er sich auf dem Lande nie bewufst geworden wäre,
weil ihm dort jede Gelegenheit fehlte, sie auszubilden oder zu be-
thätigen.
So sehen wir: die Lage des Landarbeiters ist schlechter als
die des Industrie- oder Stadtarbeiters und zwar schlechter bezüglich
seiner Stellung als Lohnempfänger, als Arbeiter, als Mitglied der
Gesellschaft und schliefslich als Mensch, insofern er nicht imstande
ist, seinen Bildungskreis in der gleichen Weise wie der städtische
Arbeiter zu erweitern. Sollen wir es dem Landarbeiter verdenken,
wenn er, um seine Stellung in all diesen Beziehungen zu verbessern,
die „sauberen, gesunden Felder“ und die gute Landluft aufgiebt und
abwandert? Im Gegenteil, es ist diese Flucht des Landarbeiters als
das Resultat eines Strebens nach Verbesserung seiner materiellen
und geistigen Existenzbedingungen als etwas kulturell durchaus Ge-
sundes anzusehen.
Auch diejenigen, welche in der Landflucht ein grofses Uebel
sehen, weil sie die Stellung der Pächter erschwert, können nicht
leugnen, dafs die Abwanderung zum grofsen Teil der wachsenden
Einsicht des Arbeiters zuzuschreiben ist, dafs er materiell und kulturell
sich als Arbeiter in anderen als landwirtschaftlichen Berufen besser
steht. „Die bessere Erziehung war die Hauptursache der Ab-
wanderung" meinte Cläre Sewell Read, ein sehr starker Vertreter
des Pächterinteresses, *) „je mehr zivilisiert der Mann wurde, um
so mehr wurde er zum Klub- und Gesellschaftsmensch“. Danach
kann man entweder die Abwanderung als etwas Erfreuliches oder
die „bessere Erziehung" als etwas Unerfreuliches betrachten. Und
mit der letzteren Auffassung dürften diejenigen Landinteressenten,
welche sich auf Kosten des kulturellen Fortschritts dumme und
billige Landarbeiter sichern wollen, sicherlich nicht auf den Beifall
des englischen Volkes und seiner Staatsmänner rechnen. Nur ein
egoistischer denkender Interessent kann die Vorteile leugnen, welche
*) Vgl. The Journal of the Royal Statistical Society of England. Bd . 56
1893. S. 437-
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
507
die Möglichkeit der Abwanderung der englischen Landbevölkerung
gebracht hat. Demgegenüber ist nicht zu verkennen, dafs sie die
Lage der ländlichen Arbeitgeber vor allem seit dem Auftreten der
überseeischen Konkurrenz bedeutend erschwert hat.
Aber wir dürfen hier nicht zu schwarz sehen. Denn erstens
hat das Gesetz, dafs hoher Arbeitslohn höhere Arbeitsleistung be-
deutet, sich auch in der englischen Landwirtschaft erfüllt. Denken
wir nur an die verschiedene physische Beschaffenheit der Arbeiter
in Südengland und Nordengland und die verschiedene Leistungs-
fähigkeit derselben, die allein auf die Verschiedenheit der Lohnhöhe
und der damit zusammenhängenden verschiedenen Ernährungsweise
zurückzuführen ist. Wo der Landwirt aber für den höheren Lohn,
den er zu zahlen hatte, nicht in einer entsprechend höheren Arbeits-
leistung Ersatz fand, da hat die Anwendung von arbeitserparenden
Maschinen eingesetzt und die Wirkung der steigenden Löhne für
den Landwirt abgeschwächt. Schließlich müssen wir bedenken, daß
die landwirtschaftliche Krisis im allgemeinen wohl durch das Steigen
der Löhne verschärft wurde, dafs sie aber keineswegs durch ein
Stagnieren derselben hätte verhindert werden können. Die Agrar-
krisis der 80er und 90 er Jahre war die Folge der infolge der aus-
ländischen Konkurrenz immer mehr sinkenden Getreidepreise. Der
tiefe Weizenpreis machte es unmöglich, die unfruchtbaren Böden
weiter mit Getreide zu bebauen, wie man es ein Jahrhundert lang
mit fast unterbrochenem Gewinn gethan hatte. Die Grundrente
fiel, aber die Pachtrente vermochte sich den verminderten Ueber-
schüssen nicht sogleich anzupassen. Sie wurde erst allmählich
herabgesetzt , nachdem unzählige Pächter an übertnäfsigen Pacht-
rentcnverpflichtungen zu Grunde gegangen waren. ‘) Dieser Prozels
wurde vielleicht durch das Steigen der Löhne beschleunigt, aber ein
gleichbleibender Lohn hätte ihn nicht verhindern können.
Demgegenüber sind die Vorteile, welche die Landarbeiterbevöl-
kerung Englands durch die Abwanderung und das dementsprechende
Steigen der Löhne gehabt hat, so sichtbar, dafs sie die Schwierig-
keiten, in welche die Landwirte durch die Landflucht versetzt sind,
weit aufwiegen. „Wünscht irgend jemand," so fragt Fox, „zu der
Periode der 20 er oder 50 er Jahre zurückzukehren, wo der Arbeits-
*) Vgl. Final Report of her Majeslys Commissioners appointed to inquire
inlo the Subject of agricultural Depression. London 1897. Abschnitt VII: Kents
as a Cause of Depression. Der Verfasser des Berichtes ist F. A. Channing, M. P.
33*
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Hermann Lcvy,
508
markt aufserhalb der nördlichen Grafschaften so überfüllt war, dafs
die Arbeiter keine genügende Beschäftigung finden konnten f“
Aber so viel Erfreuliches wir über die Lage der Landarbeiter
in England, vor allem im Vergleich zu früheren Zeiten, berichten
konnten und so sehr wir der Abwanderung den Hauptanteil an dem
heutigen Wohlstand der ländlichen Arbeiterklasse zuschreiben müssen,
wir können doch nicht umhin, die Landflucht als solche zu be-
dauern. Es ist unzweifelhaft, dafs es für die physische und mora-
lische Gesundheit der Menschen und der Arbeiter besser wäre, auf
dem Lande zu leben als in den Städten. Ein jeder Sozial politiker
würde wohl zugeben, dafs die Arbeiterbevölkerung eines Landes
ein ungleich gedeihlicheres Leben auf dem Lande als in der Stadt
fuhren würde. Ein jeder würde sich über eine wachsende Quote
der Landbevölkerung im Staate von Herzen freuen, vorausgesetzt,
dafs dieselbe auf dem Lande denselben Lohn und dieselben An-
nehmlichkeiten des materiellen und kulturellen Lebens genösse wie
in der Stadt, vorausgesetzt, dafs sie nicht gezwungen
auf dem Lande bliebe, sondern in dem Bewufstsein,
dafs dieBeschäftigung auf dem Lande die wünschens-
werte und befriedigendste sei. Fragen wir uns daher am
Schlufs unserer Ausführungen : ist eine Möglichkeit vorhanden, die
Bevölkerung dem Lande zurückzugewinnen und welches ist diese
Möglichkeit ?
Es giebt nicht nur in Deutschland, sondern auch in England
Viele, welche der landwirtschaftlichen Krise in erster Linie die Land-
flucht zuschreiben. Der Pächter, so meinen sie, verdiene nicht
genug, um die Löhne bezahlen zu können, bei denen der Land-
arbeiter auf dem Lande bliebe. Wenn man aber den Getreidebau
wieder rentabel machte, wie er es früher war, wenn man wieder
zum Anbau derjenigen Ackerböden überginge, die man in den
letzten 25 Jahren habe aufgeben müssen, dann werde der Landwirt
mehr Arbeiter benötigen, ihnen gute I.öhne zahlen können und sie
dem Lande erhalten. „Das Einzige, was die Abwanderung aufhalten
kann, ist ein Aufleben der Landwirtschaft," erklärte Mr. Read, ein
Vertreter des Grofpächterinteresses, und es ist unzweifelhaft, dafs
er mit „Landwirtschaft“ den Getreidebau meinte.1) So hat denn
auch die Frage der ländlichen Abwanderung in der jüngsten Dis-
kussion über die eventuelle Einführung von Getrcidezöllen in Eng-
*) Vgl. Anmerkung S. 506.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
509
land eine Rolle gespielt. So grofs aber ist im allgemeinen bei allen
Politikern die Sorge über die immer stärker werdende Landflucht,
dafs selbst der freihändlerische Sir E. Grey meinte, „wenn die ge-
schätzten Herren von der Opposition einen Zoll dieser Art bean-
spruchen mit der Begründung, dafs er den landwirtschaftlichen
Distrikten heilsam sein und bewirken werde, das Volk wieder auf
das Land zurückzubringen, so würden sie damit ein viel stärkeres
Argument haben als irgend eines, das sie vorgebracht haben".
Dieses Argument ist denn auch in den letzten Wochen oft zur
Begründung von Getreidezöllen ausgesprochen worden.1)
Noch immer spukt der Geist des alten Youngschen Rezeptes
vom Jahre 1772: wenn ihr die Leute auf dem Lande festhalten
wollt, dann müfst ihr dem Volk in den Städten die Nahrungsmittel
verteuern. Arthur Young war aufrichtig genug, sich einfach und
deutlich für das Pächterintcresse auszusprechen, dem alles daran lag,
einen überfüllten ländlichen Arbeitsmarkt zu haben. Die heutigen
Landinteressenten wünschen genau dasselbe, aber um es zu erreichen,
werden sic als ein Hauptmotiv für die Einführung von Kornzöllen
die „Einschränkung der Landflucht“ in den Vordergrund stellen,
um so das Interessentenmäfsige in ihrer Forderung zu verdecken.
Die Liberalen und die Gegner des Schutzzollsystems werden aber
wohl weise genug sein, um auf eine solche Argumentation nicht
,,hereinzufallcn“. Denn was zeigt die geschichtliche Entwicklung
der Landarbeiterfrage und Landflucht in England?
Wir sahen einerseits, dafs die Landflucht besonders stark zu
werden begann gerade in derjenigen Zeit, als der englische Getreide-
bau die höchsten Ueberschüsse abwarf und die gröfste Ausdehnung
fand. Der Grofsbetrieb, die rentable Betriebsform für den Getreide-
bau, verdrängte den Kleinbetrieb und machte den landbesitzenden
Arbeiter zum besitzlosen Tagelöhner, ohne ihm dafür eine hin-
reichende Beschäftigung auf dem Gute des Grofspächters zu ge-
währen.
Andererseits sahen wir, dafs unter dem Regime der Kornzölle
die Bevölkerung freilich auf dem I-ande blieb; nicht aber weil die
Bedingungen für sie auf dem Lande gute waren, sondern indem sie
die Unmöglichkeit, einen besseren Arbeitsmarkt aufzusuchen, m i t
Gewalt auf dem Lande festhielt und den schlechtesten
Bedingungen unterwarf. Jedenfalls zeigte es sich in derZeit
') Vgl. z. B. H. Trcmayne, Protection and the Farmer. London 1903. S. 96.
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5io
Hermann I.cvy,
von 1760 bis 1846 deutlich, dafs der Anbau der schlechten und
schlechtesten Böden zur Deckung des heimischen Getreidebedarfs
nicht imstande war, den Landarbeitern Beschäftigung und Löhne zu
verschaffen, wie sie ihren bescheidensten Ansprüchen entsprochen
hätten. Andererseits sahen wir, dafs von der Zeit ab, wo England
nur mehr da Getreide baute, wo es unter fast denselben Kosten
wie auf den jungfräulichen Böden Amerikas produziert werden
konnte, der Landarbeiter bei sinkenden Kosten seiner Ernährung
steigende Geldlöhne bezog und seine I-age von Jahr zu Jahr ver-
besserte. Die Ursache dieser verbesserten Lage aber war die Ab-
wanderung. Anstatt den unfruchtbaren Boden zu bebauen, der bei
Mehraufwand von Kapital und Arbeit nur relativ abnehmende Er-
träge lieferte, strömen nunmehr die Arbeiter in die Städte, um dort
dasjenige zu produzieren, was immer zu denselben oder gar ab-
nehmenden Kosten produziert werden kann. Indem sie diese
Produkte gegen das billige Getreide des Auslandes eintauschen,
sind sie imstande sich zu ernähren und ihre Lebenslage zu bessern.
Wir wollen nicht erörtern , ob Kornzölle den englischen
Landwirten helfen würden. Kein Land hat die Schädlichkeit von
Getrcidezöllcn und besonders ihre schädigende Wirkung auf die
Lage der Landwirte so gründlich erprobt wie England. Aber setzen
wir voraus, es gelänge durch Kornzölle wieder die unfruchtbaren
Ackerböden, die man in den letzten Jahrzehnten aufgegeben hat,
anzubauen. Sicherlich würden dann absolut mehr Arbeiter in der
Landwirtschaft Beschäftigung finden als jetzt, sicherlich würden mehr
auf dem Lande bleiben — aber sicherlich nur, weil mit der Ein-
führung des Zollschutzes der Abflufs in industrielle Berufe nicht
mehr so stark sein würde als jetzt. Sic würden gezwungen
bleiben. Und mit Recht fragt Wilson Fox: „Unter welchen
Bedingungen sollen die Arbeiter auf dem Lande bleiben? In
gröfseren Massen, überfüllten Häusern, niedrigen Löhnen und un-
regelmäfsiger Beschäftigung oder in geringerer Zahl und unter den
entgegengesetzten Lebensbedingungen? Ist letzteres der Fall, wenn
der Pächter oder wenn der Arbeiter das Uebergewicht auf dem
Arbeitsmarktc hat ?“ Kornzölle einführen aber hiefse nichts weiter
als durch eine künstliche Beschränkung der Landflucht den Arbeits-
markt zu Gunsten des Landwirts und zu Ungunsten des Arbeiters
beeinflussen.
Ist cs nun möglich, dem Lande seine Bevölkerung zu erhalten,
ohne dafs jene schädlichen Folgen eintreten würden, wie sie einst
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England. 5 I £
das englische Schutzzollsystem gezeitigt hat und wieder zeitigen
würde, wenn man es von neuem einführte ? Ist die Erhaltung der
Landbevölkerung ohne Anwendung künstlicher Mittel möglich und
zwar so möglich, dafs sie eine materielle und kulturelle Besserung
ihrer Lage bedeutet ? YVir zweifeln nicht daran. Aber wie soll dies
geschehen ?
Wir haben gesehen, dafs die starke Entwicklung der Land-
flucht zu der Zeit in England begann, als man den Landarbeiter
von einem kleinen Pächter oder Bodeneigentümer zum besitzlosen
Tagelöhner machte. Nicht als ob die damalige Entwicklung des
englischen Grofsbetriebs in der Landwirtschaft die einzige Ursache
für die steigende Abwanderung gewesen wäre. Die Anziehungs-
kraft der Städte und Industrie war gewifs die Haupttriebfeder für
die Landflucht. Aber ebenso gewifs hätte die Abwanderung im
18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts niemals den
starken Grad erreicht, wenn die Zahl der kleinen Landwirte nicht
durch das Zusammenschlagen der Pachtgüter, den Verlust der
Parzellen und durch die Einhegungen beständig vermindert worden
wäre. Auch die englischen Kleinbauern gingen in jener Zeit zu
Grunde. Sie verkauften ihren Kleinbesitz, um grofse Güter zu
pachten. Denn es war bei den steigenden Getreidepreisen rentabler
geworden, ein grofser Pächter als ein kleiner Bauer zu sein. ')
Hatten aber auf dem kleinen Bauerngut der Bauer und seine Söhne
die Hauptarbeit verrichtet, so hatte der zum Grofspächter gewordene
Bauer nurmehr die Leitung des Gutes zu besorgen. Die Arbeit
verrichteten Lohnarbeiter, und seine Söhne benötigte er nicht mehr.
Sie konnten Kaufleute, kleine Fabrikbesitzer u. s. w. werden, also
in die Städte abwandern.
All diese Umstände haben die Abwanderung enorm verstärkt.
Die steigende Rentabilität des Getreidebaues im Grofsen schuf den
landwirtschaftlichen Grofsbetrieb. Der landbesitzende oder land-
pachtende Arbeiter mufste seine Scholle hergeben, der kleine Bauer
verkaufte, die kleinen Pächter wurden durch grofse ersetzt. Heut-
zutage, wo der Getreidebau in England immer mehr an Rentabilität
einbüfst, bedauert der Grundbesitzer, dafs seine Vorfahren die kleinen
Güter zu wenigen grofsen zusammenschlugen. *) Sie rissen die
*) Vgl. meinen Aufsatz: „Der Untergang kleinbäuerlicher Betriebe in England“
in Conrads Jahrbüchern, August 1903. Heft II, S. 145 flf.
T) Vgl. Report Small Holdings 1889, qu. 53, desgl. Shaw Lcfcvre, Agraria n
Tcnurcs. London 1893, S. 39-
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Hermann L e v y ,
kleinen Farmhäuser nieder und ihre Nachkommen scheuen vor den
Ausgaben zurück, um sie wieder aufzurichten. Dennoch er-
scheint es unzweifelhaft, dafs mit der steigenden
Rentabilität der Viehzucht und Kleinkultur die
Chance für den Kleinbetrieb zu*, die für den Grofs-
betrieb abnimmt. Es erscheint immer wünschenwerter , den
kapitalintensiven Grofsbetrieb durch einen arbeitsintensiven Klein-
betrieb zu ersetzen. So gewinnt der Kleinbetrieb ökonomisch immer
mehr an Bedeutung.
Seine sozialpolitischen Vorteile aber sind unbestreitbar. Der
I^andarbeiter, der seinen Garten hat und ein Stück Weide mit ein
oder zwei Kühen, einige Schweine, Hühner und Gänse u. s. w. be-
sitzt, wird ungleich lieber auf dem Lande bleiben als der besitzlose
Tagelöhner. Seine landwirtschaftliche Beschäftigung auf dem eigenen
oder wenigstens für eigenen Vorteil bewirtschafteten Boden ist ihm
eine Freude und Erholung in weit gröfserem Mafse als die Abend-
und Nachmittagunterhaltungen der Stadt, bei denen er seine er-
sparten Gelder wieder hergiebt. Andererseits hat er die berechtigte
Hoffnung vor Augen, durch F'leifs und Sparsamkeit sich zu einem
„kleinen Pächter“ aufzuschwingen. Durch die Bewirtschaftung eines
eigenen oder gepachteten Stückchen landes fühlt er sich unabhängig
und weit über jenem Arbeiter, der lediglich auf dem Gute des
Grofspächters arbeitet.
Man hat nun aus zwei Gründen gemeint, dafs die Ausbreitung
der Parzellenbetriebe oder Allotments keine Zukunft hätte. Einmal
wandte man sich gegen die ökonomische Leistungsfähigkeit der
Allotments. So hat z. B. Graham in seinem bekannten VV'erke ein
ziemlich ungünstiges Urteil über die Parzellenbetriebe gefällt. Er
hat jedoch in erster Linie von Parzellenbetrieben gesprochen, in
denen Ackerbau getrieben wird.1) Und es ist in der That der Acker-
bau die schwächste Seite des Parzellenlandwirts. Die Erfolge, die man
einst von der Spatenkultur für den Getreidebau erwartete, sind im
grofsen Ganzen ausgeblieben. Will aber der kleine Parzellenlandwirt
seinen Acker pflügen, so mufs er in der Regel Pferd und Gerät-
schaften von dem gröfseren Nachbargut mieten. Ob sich in England für
solche kleinen Ackerbauparzellen Genossenschaften zum Ausleihen
von Pferden, Pflügen und Gerätschaften organisieren lassen, ist frag-
lich, auch darin möchte ich Graham recht geben. Aber der Acker-
*) Vgl. Graham a. a. O. S. 119 u. HO.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England. ^ j ^
bau ist ja gar nicht die Domäne des kleinen Landwirts. Sein
Hauptproduktionsgebiet ist die Viehzucht und die Klein-
k u 1 1 u r. In diesen Produktionszweigen ist der Arbeitseifer und die
Arbeitsintensität des kleinen Wirtes ein Vorteil, den der grofse
Landwirt durch Kapital, Maschinerie u. s. w. nicht ersetzen kann.
Aber freilich mit der Arbeitsintensität allein ist’s nicht gethan.
Diesem Vorteil des Kleinbetriebs stehen Nachteile gegenüber, welche
der Grofsbetrieb, wenn er sich mit der Viehzucht und Kleinkultur
befafst, nicht aufweist. Die Nachteile des Kleinbetriebs liegen in
der mangelhaften Art, wie er seine Produkte absetzt. Solange der
Kleinbetrieb kleine Quantitäten an die nachbarliche Bevölkerung
detailistisch verkauft, ist er jedenfalls in der Molkereiwirtschaft, dem
Gemüse- und Obstbau u. s. w. dem Grofsbetrieb zumindest gleich-
gestellt. Sobald er aber für grofse Absatzmärkte produziert, unter-
liegt er der Konkurrenz des Grofsbetricbs, der im grofsen produ-
ziert und im grofsen verkauft. Es bezieht sich dies vor allem auf
diejenigen Produktionszweige, die in der Verwertung tierischer Pro-
dukte bestehen, und ebenso auf den Obst- und Gemüsebau, auf
die Geflügel- und Schweinezucht und auf den Eierverkauf. Einer-
seits hat der Kleinbetrieb, z. B. in der Butterproduktion, nicht die
nötigen Maschinen, wie z. B. Pintrahmungsmaschinen, um eine gleich-
mäfsige gute Ware regelmäfsig zu versenden. Andererseits hat er
bei dem Versand weit gröfscre Unkosten als der grofse Landwirt,
der grofse Quantitäten sendet. Die natürliche Folge ist, dafs die
ganz kleinen Landwirte in England heute nur einen lokalen Absatz-
markt haben, der oft überfüllt ist, ohne dafs ein Abflufs für die
überflüssigen Produkte vorhanden ist. Aber dieser Nachteil läfst
sich nun vortrefflich durch genossenschaftliches Vorgehen beseitigen.
Die Molkereigenossenschaft ermöglicht es selbst dem kleinsten Land-
wirt, der vielleicht nur eine Kuh hat, seine Butter ebenso weit zu
versenden wie der gröfste, oder seine Milch sterilisiert zu verschicken
oder aus den entlegensten Grafschaften den Londoner Markt mit
vorzüglichem Rahm zu versorgen. Ebenso bietet ihm das genossen-
schaftliche Vorgehen die Möglichkeit, seine sonstigen Produkte im
Zusammenschlufs mit anderen in grofsen Massen und zu ebenso
billigen Frachtsätzen zu versenden wie der Grofslandwirt. Die ge-
nossenschaftliche Organisation bietet dem kleinsten Landwirt die-
selbe Chance in Bezug auf Produktion und Absatz im grofsen, wie
sie der grofse Landwirt hat, und dazu kommt der Vorteil, dals der
Kleinbetrieb den Grofsbetrieb durch intensivere Arbeitsleistung über-
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5 »4
Hermann Lcvy,
trifft. Die ökonomischen Eigenschaften des Kleinbetriebs, der sich
auf genossenschaftlicher Basis organisiert, bieten also allen Anlafs,
an eine glänzende Entwicklung desselben zu glauben. Und es ist
in hohem Grade erfreulich, wie erfolgreich die englische Agricultural
Organization Society den Gedanken des kooperativen Zusammen-
schlusses schon vielen kleinen und kleinsten Landwirten beizubringen
verstanden hat.
Aber wir wollen noch einen anderen Einwand gegen die
Parzellenbetriebe der Landarbeiter hören. Er ist alt. Man sagt,
der Arbeiter werde durch die Arbeit auf dem eigenen Boden zu
sehr von der Arbeit auf dem fremden Gute abgelenkt. Der grofse
Pächter werde ihn daher fortschicken, während andererseits das
Gut des Arbeiters zu klein sei, um ihn vollständig zu erhalten.
Dieser Einwand verträgt sich wenig mit der lauten Klage der
Pächter nach Arbeitern. Sollte es ihnen nicht doch vielleicht auf
die Dauer lieber sein, einen ständigen Arbeiter zu haben, auf den
sie sich verlassen können und der ihr Gut kennt, als jeden be-
liebigen Arbeiter, dessen sie gerade habhaft werden? Und während
sie gerade nach jungen Arbeitskräften suchen und behaupten, nur
die alten Leute blieben noch auf dem I .and, wäre es nicht Vorteils
genug, wenn die Parzellenbetriebe ihnen wieder junge Arbeitskräfte
lieferten? Und würden diese jungen Arbeiter, trotzdem sie eigenes
Land hätten, nicht auf den grofsen Gütern besser arbeiten als die
alten I.ohnarbeiter ohne Land? Es ist nicht nur in Deutschland
der Fall, dafs der Landwirt in einem gewissen patriarchalisch-feuda-
listischen Verhältnis zu seinen Arbeitern stehen möchte, obschon
es in der englischen Sprache kein „Du" und „Sie“ giebt. Der
englische Landwirt sieht es oft ungern, dafs seine Arbeiter auch
„halbe“ Landwirte sind. Aber er hat nunmehr nur die Wahl:
Arbeiter mit Land oder Land — ohne Arbeiter.
Ueberall besteht in England eine starke Nachfrage nach Allot-
ments oder Parzellenbetrieben. Die kleinen Güter bringen aner-
kannterweise eine weit höhere Pachtrente pro Acre als grofse
Güter.1) Auch zeigt die Betriebsstatistik von 1895 eine Zunahme
der kleinen Güter gegen derjenigen von 1885. 3) Die Parzellen-
betriebe unter I Acre (0,45 ha) haben sich in der Zeit von
!) Vgl. Report Small Holdings qu. 625 ff.
*) Vgl. Returns as to the number and size of agricultural holdings in the ycar
1895 p. XIV.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England. ij j ij
1873 bis 1895 sogar von 242542 auf 473714, also fast um
iooui0 vermehrt.1) Diese Parzellenbetriebe aber werden freilich
keineswegs immer von I .andarbeitern bewirtschaftet. Kleine Hand-
werker, zurückgezogene Kaufleute, Fabrikarbeiter u. s. w. bilden
vielleicht noch einen gröfseren Prozentsatz der Bewirtschafter jener
Allotments. Daher haben jene Zahlen für unsere Betrachtung
nicht eine vollwertige Bedeutung. Auch wäre es wünschenswert,
einige Aufschlüsse über die Allotments von I, 2 und 3 Acres zu
besitzen, die landwirtschaftlich bedeutsamer sind. Dafs der Land-
arbeiter ein leidenschaftlicher Freund der Allotments ist, kann nicht
geleugnet werden. Auch die englische Regierung gelangte zu der
Ueberzeugung, dafs angesichts der grofsen Nachfrage nach Allot-
ments, besonders von seiten der Landarbeiter, etwas für die Ent-
wicklung der Parzellenbetriebe gethan werden müsse. Auf beson-
deres Betreiben von Joseph Chamberlain und Jesse Collings gingen
im Jahre 1887 und im Jahre 1890 Gesetze durch, welche die Bil-
dung von Parzellenbetrieben durch Vermittlung der Lokalbehörden
erleichtern sollten. Auch der Small Holdings Act von 1892, der
hauptsächlich die Wiederbelebung eines Bauernstandes bezweckte,
sollte ein Mittel bilden, um die Abwanderung vom Lande einzu-
schränken. Mr. Chaplin, der damalige Landwirtschaftsminister, er-
klärte ausdrücklich, s) als er die Bill einbrachte, man könne die
Landflucht dadurch einschränken, dafs man der Landbevölkerung
mehr, als es jetzt der Fall sei, Gelegenheit gäbe, in ihrem
eignen Interesse und für ihren eigenen Nutzen auf dem
Lande zu arbeiten. Auch die jungen Leute würden viel gröfserc
Lust empfinden, auf dem Lande zu bleiben, wenn sie die Aussicht
hätten, durch ihren eigenen Fleifs einmal ein kleines Gut zu über-
nehmen.
Im allgemeinen aber hat weder der Allotments Act und noch
weit weniger der Small Holdings Act die Erfolge gehabt, die man
wünschte. Weit mehr als der Staat oder die Lokalbehörde kann
der Grundbesitzer und der Pächter thun. Aber nur zu oft ist der
grofse Pächter der Entwicklung von Allotments, wie wir hörten,
feindlich gesinnt. Ja es mag sogar häufig Vorkommen, dafs der
Grofspächter seinen Einflufs in der Lokalverwaltung dazu benutzt,
die Bildung von Parzellenbctrieben zu verhindern, wo eine Anwen-
*) Vgl- ebenda S. 62.
*) Vgl. G. Shaw Lcfevrc a. a. O. S. 79 — 80.
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5r6
Hermann L e v y ,
düng der genannten Gesetze erwünscht wäre. Dies ist sicherlich
ein Grund, weshalb die Erfolge des Allotment-Aktes nicht den Er-
wartungen voll entsprachen. Andererseits steht der Güteragent des
Grundbesitzers in der Regel dem Grofspächter näher als dem
kleinen Landwirt oder Arbeiter. Der Güteragent aber, der für den
Grundbesitzer den Pachtvertrag mit dem Pächter abschlielst und
alle anderen Geschäftsfragen regelt, hat wiederum einen nicht zu
unterschätzenden Einflufs auf die Entschlielsungen des Grundbe-
sitzers. Da aber in England der Grundbesitz nicht nur kapi-
talistischer Eigenschaften wegen begehrt wird, sondern noch weit
mehr als in anderen lindern um der sozialen und politischen Vor-
teile willen, so spielt die ökonomische Notwendigkeit in den Ent-
schliefsungen des Grundbesitzers nicht immer die Hauptrolle. Wären
die Grundbesitzer lediglich Kapitalisten, so hätten sie sicherlich in
weit gröfserem Mafsstabe die Bildung von Kleinbetrieben und
Allotments gefördert. Aber nur wenige kümmern sich um der-
gleichen. Sie haben kein Interesse lur derartige „Experimente“,
wie die Verkleinerung der Betriebe oder die Bildung von Parzellen-
wirtschaften. Sie überlassen die Kontrolle über ihre Güter einem
Güteragenten. Dieser aber hat lieber mit einigen Grofspächtern
zu thun als mit vielen kleinen Leuten, die in jedem Monat mit einem
anderen Anliegen kommen. So wird der natürliche ökonomische
Entwicklungsprozefs der Dinge gehemmt. Aber dennoch wird die
Landflucht nicht eher eingeschränkt werden, als der Landarbeiter,
wie Aldermann Winfrey ganz richtig bemerkt,1) „etwas besitzt,
was über den Wochenlohn vom Samstag Abend hinausgeht“. Wo
die Entwicklung der Parzellen- und Kleinbetriebe voranschreitet,
da wächst auch die Zahl der auf dem Lande wohnenden Bevöl-
kerung. Um nur ein Beispiel zu erwähnen, das Sir Robert Edg-
cumbe im Jahre 1902 veröffentlichte. „Ich will nur weniges über
die Vorteile kleiner Güter mit Rücksicht auf die ländliche Be-
völkerungsfrage sagen,“ so erklärte cr.s) „Als ich das Gut (Rew
Farm, Dorchester, Dorset) im Jahre 1888 kaufte, lebte der Pächter
auf demselben mit 3 Arbeitern und ihren Familien. Damals war
die Bevölkerung auf dem Gute 21. Seit jener Zeit haben ver-
schiedene Käufer 14 Häuser erbaut und aufserdem sind die vier
ä]l Vgl. Report of Procecdings at the fifth Congress of the International
Cooperative Alliance. London 1902, S. 343.
’) Kbenda S. 369 u. 367.
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Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
Arbeiterhäuser und das Gutshaus der Besitzung ebenfalls bewohnt
und zwar die 4 Arbeiterhäuser von 4 getrennten kleinen Eigen-
tümern und ihren Familien. So beträgt jetzt die Bevölkerung auf
dem Gute ungefähr 80 Seelen und wird weiter wachsen, wenn
weitere Häuser gebaut werden.“ Weiter erklärte er: „Die kleinen
Landwirte (überwiegend Landarbeiter) der Rew Farm drückten ihre
völlige Zufriedenheit mit ihrer Lage aus und beständig werde ich
gefragt: „Wann wird ein anderes Gut in kleinen Parzellen verkauft,
der und der möchte gern ein Stückchen Land haben r" Wenn
solche Unternehmungen in den letzten Jahren in der englischen
Landwirtschaft in grofsem Mafsstabe stattgefunden hätten, so hätte
dies die Abnahme der ländlichen Bevölkerung zu hemmen ver-
mocht. Dafs aber für solche Unternehmungen auf breiter Basis
Platz genug ist, das ergiebt sich aus der einfachen Thatsache, dafs
wir jährlich kleinere landwirtschaftliche Produkte im Wert von
36000000 £ importieren, nämlich Eier, Käse, Hühner, Enten,
Schinken, Speck u. s. w.“
Wir sehen : nachdem ein Jahrhundert lang der landwirtschaft-
liche Grofsbesrieb und der besitzlose Landarbeiter das Charak-
teristikum der englischen Betriebsverfassung gewesen ist, beginnt
nunmehr eine Reaktion, eine Rückkehr zu jener Agrarverfassung,
in der die Mehrzahl der in der Landwirtschaft Thätigen selbständige
oder teilweise selbständige Landwirte waren. Der Umwandlungs-
prozefs vollzieht sich natürlich sehr langsam. Die ökonomische
Voraussetzung dieser Umwandlung, die sinkende Rentabilität des
Getreidebaues im grofsen, die steigende Rentabilität von Viehzucht
und Kleinkultur ist in England gegeben, solange es daran festhält,
dem Getreidebau keinen künstlichen Schutz zu gewähren. Von
dem Augenblick an, wo der Arbeiter mehr für sein Brot bezahlen
müfcte, würde die Konsumtion von Fleisch, Eiern, Milch, Butter u. s. wT.
eine Einschränkung erfahren, während gerade die gesteigerte Kon-
sumfahigkeit der Arbeiterbevölkerung für diese Artikel die land-
wirtschaftliche Produktion des Kleinbetriebes begünstigt. Weiter
aber mufs das Genossenschaftswesen in England zur Entfaltung ge-
langen, um die Ökonomische Leistungsfähigkeit der kleinen Land-
wirte zu erhöhen und sie ihren ausländischen Konkurrenten, die
genossenschaftlich organisiert sind, gleich zu stellen. Schliefslich
aber ist es nötig, dafs die Grundbesitzer zu der Erkenntnis ge-
langen, dafs es ihre moralische Pflicht ist, ihr Land so zu ver-
werten, wie es dem Volk den größtmöglichsten wirtschaftlichen
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:}l8 Hermann Levy, Landarbeiterfrage und Landflucht in England.
Nutzen gewährt. Sie sollen es an diejenigen verpachten, die unter
den heutigen wirtschaftlichen Grundbedingungen das meiste aus
dem I^and herauszuarbeiten imstande sind. Nichts erscheint er-
wünschter, als wenn die reichen Grundbesitzer Englands dem
Streben nach dem gröfstmöglichsten Gewinn mehr huldigen
würden , wenn sie lediglich die kapitalistische Bedeutung ihres
Grundbesitzes im Auge hätten. Anstatt das Land aus Bequem-
lichkeit, Unkenntnis oder gesellschaftlichen Gründen an grol'se
Pächter zu vergeben und diesen allerlei pekuniäre Konzessionen zu
machen, um die abnehmende Rentabilität ihrer Grofsbetriebe zu
stützen, sollten sie es an die kleinen Leute geben, da wo deren
Betriebe heute ökonomisch bessere Chancen haben als die des
grofsen I^mdwirts. Dann würden sie sich dem schweren Vorwurf
entziehen, dafs sie die Rentabilität der Landwirtschaft aus Nach-
lässigkeit oder des Luxus wegen verringert haben, indem sie einen
ökonomisch rückständigen Betrieb aus nichtkapitalistischen Gründen
begünstigten. Sie haben eines der Mittel in der Hand, um das
englische Volk dem Lande zurückzugewinnen.
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Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber.
Von
Dr. PAUL MOMBERT
in Karlsruhe i. B.
Unter Wohlfahrtseinrichtungen wird man im allgemeinen die-
jenigen Anstalten verstehen, die ohne einen öffentlich rechtlichen
Anspruch zu gewähren, das Ziel verfolgen, die wirtschaftliche und
soziale Lage der unbemittelten Volksschichten zu bessern. Im Hin-
blick auf die Stellung der Unterstützten zu den Trägern dieser
Einrichtungen lassen sich zwei Formen derselben unschwer unter-
scheiden.
Einmal kann die Verbindung beider lediglich in dem rein
äufserlichen Moment bestehen, dafs der eine Teil die Unterstützungen
erhält, die von dem anderen ausgegangen sind ; ob dies letztere der
Staat, die Gemeinde, irgend eine Korporation oder ein Privater
sind, ist für die ökonomische Lage der Unterstützten ohne wesent-
liche Bedeutung.
Dieser ersteren Form der Wohlfahrtseinrichtungen , die ein
rein charitatives Gepräge trägt, steht nun aber eine andere gegen-
über, die sich dadurch auszeichnet, dafs der Träger dieser Anstalten
zugleich der Arbeitgeber der Unterstützten ist.
Während im erstgenannten Falle, die soziale Bedeutung dieser
Einrichtungen lediglich darin besteht, dafs sie unmittelbar zur
Hebung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Unterstützten
beitragen, ist bei den letztgenannten noch eine andere Wirkung
festzuhalten.
Sobald nämlich derartige Anstalten vom Arbeitgeber selbst
ausgehen, kann unter Umständen das Vertragsverhältnis, in dem
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520
Paul Mombert,
der Arbeiter zu jenem steht, in sehr hohem Grade beeinflufst
werden.
Im folgenden soll nur von diesen letztgenannten, die kurz als
„Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen — denn zum Unterschied von den
ersteren erstrecken sie sicl| lediglich auf Arbeiter und ihre An-
gehörige — bezeichnet werden sollen, die Rede sein.
Die Rechtfertigung für eine derartige Untersuchung liegt darin,
dafs gerade neuerdings wieder diese Einrichtungen in starker Zu-
nahme begriffen sind, und dafs in sehr vielen Kreisen immer noch
die Ansicht sehr verbreitet ist, auf diesem Wege Erspriefsliches zur
Lösung der „Arbeiterfrage“ beizutragen. *)
Darüber kann kein Zweifel bestehen, dafs der einzelne Arbeit-
geber es in hohem Grade in der Hand hat, durch seine individuelle
Einwirkung einen günstigen Einflufs auf die Lage seiner Arbeiter
auszuüben, ebensowenig wie darüber, dafs auf diesem Wege schon
manches Gute geschaffen worden ist und noch viel mehr ge-
schaffen werden kann.
Es wäre aber mehr als voreilig, nun ohne weiteres eine jede
sogen. Arbeiterwohlfahrtseinrichtung seitens des Arbeitgebers als
eine Wohlthat für seine Angestellten zu begrüfsen und in ihr
kritiklos, wie es nur allzuhäufig geschieht, einen neuen Schritt auf
dem Wege sozialer Reform zu erblicken. Man darf derartige An-
stalten nicht allein nach der Wirkung beurteilen, die sie auf die
Lage speziell der Arbeiter haben, denen sie gerade zugute kommen;
eine derartige Kirchturmspolitik ist hier nicht am Platze.
Will man in dieser Frage klar sehen, und die Möglichkeit haben,
die Spreu von dem Weizen zu sondern, so mufs man die Rolle be-
trachten, welche diese Einrichtungen — nicht dem einzelnen Ar-
*) So kann man in einer neuerdings erschienenen Schrift folgenden Satz
lesen :
„Nur bei immer weiterer Entfaltung der von dem Prinzip der Charitas durch-
drungenen privaten Reformbestrebungen wird der grofsherzige und fruchtbare Ge-
danke der Sozialreform, welcher eine unversiegbare Quelle des Trostes und der
Hoffnung für die Arbeiter ist, auch für die fernere Zukunft zur Lösung der Frage
der Arbeit und zur Beseitigung und zur Verhütung dos Elends beitragen.“
(Rollek und Ziegler, Private Wohlfahrtspflege für Fabrikarbeiter, Beamte
und ihre Familien . . . 1902, herausgegeben vom Bcrgischen Verein für Gemeinwohl
S. XIX). Wo im folg, auf die Bergischc Stahlindustricgesellschaft Bezug genommen
wird, ist dieses Buch als Quelle benutzt.
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Wohlfahrtseinrichtungcn der Arbeitgeber. £21
beiter gegenüber — sondern im Rahmen der gesamten Arbeiter-
frage überhaupt spielen. *)
Es ist bekannt, dafs ein guter Teil dessen, was man heute
gemeinhin als Arbeiterfrage zu bezeichnen pflegt, seine Haupt-
ursache in der schwachen ökonomischen Position hat, in der der
Arbeiter sowohl beim Abschlufs des Arbeitsvertrags als auch wäh-
rend der ganzen Dauer des Arbeitsverhältnisses sich dem Arbeit-
geber gegenüber befindet.
Die Gründe dafür sind zu bekannt, als dafs sie hier noch ein-
mal wiederholt zu werden brauchten.
Wenn mar heute allgemein die Verelendungstheorie zum alten
Eisen geworfen hat, wenn man heute mit Fug und Recht von
einem Aufsteigen der Arbeiterklasse reden kann, so hat dies seine
vornehmste Ursache darin, dafs es der Arbeiterschaft durch engen
Zusammenschlufs und durch einheitliches planmäfsiges Vorgehen
gelungen ist, bis zu einem gewissen Grade ihre ökonomische
Stellung dem Arbeitgeber gegenüber zu kräftigen. Wenn man
also in dieser Stärkung der ökonomischen Position des Arbeiters
eine der gröfslen wirtschaftlichen Fortschritte der letzten drei Jahr-
zehnte erblicken mufs und in dem Fortgang dieser Entwicklung
das vorzüglichste Mittel, um auch in Zukunft ein weiteres Auf-
steigen der Arbeiterklasse zu gewährleisten, so ist damit zugleich
auch der Mafsstab gegeben, um die Rolle zu beurteilen, welche
diese Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen im Rahmen der Arbeiter-
frage spielen.
Die Fragestellung ist also zunächst die, ob diese Wohlfahrts-
anstalten die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters vom Arbeit-
geber stärken oder schwächen.
Zunächst sollen eine Reihe von Beispielen zeigen, inwiefern
überhaupt ein solcher Zusammenhang besteht.
Eine der Hauptformen, in denen sich die Fürsorge der Arbeit-
geber für ihre Angestellten zeigt, ist die Erstellung von Wohnungen
') Dieser Zusammenhang ist schon ries öfteren behandelt worden. Ks sei hier »
nur erwähnt:
L. Brentano, Gewerbe II. Teil in Schönbergs Handbuch d. polit. Ockonomie.
I. Aurt.
Her kn er, Arbeiterfrage II. und III. Aufl. Kapitel „Wohlfahrtseinrichtungen
der Arbeitgeber**.
Derselbe, „Arbciterwohlfährtseinrichtungen“. Sozialpolitisches Zentralblatt. Berlin
Bd. 1 Nr. 20.
Archiv für so*, üesetsgebung u. Statistik. XVIII. 34
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522
I'aul Momlictl,
für dieselben. Wohl in den meisten Fällen wird eine solche vom
Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Wohnung dem Arbeiter in
hygienischer und ästhetischer Hinsicht nicht zu unterschätzende
Vorteile bieten, es wird sie auch vielfach zu einem relativ billigen
Preise erhalten. Aber diesen Vorzügen stehen auf der anderen
Seite recht grofse Nachteile gegenüber.
Es liegt ja in der Natur der Sache, dals ein solcher Arbeiter
der eine derartige Wohnung besitzt, unter den Folgen einer Auf-
lösung des Arbeitsverhältnisses viel schwerer zu leiden hat, als
wenn er eine andere Wohnung besäfse. In dem Augenblick, in dem
er — freiwillig oder unfreiwillig — seine Stellung verläfst, wird er
wohl in den seltensten Fällen sofort wissen , wo er eine neue
finden soll; in unserem Falle nun mufs er sich aufser einer neuen
Stellung noch eine neue Wohnung suchen und gleichzeitig die
nicht unbeträchtlichen Umzugskosten aufbringen. Diese Nachteile
liegen, wie bereits betont, in der Natur der Sache.
Vielfach verschärft treten diese aber dort auf, wo es offen-
sichtlich ist, dals der Arbeitgeber mit der Erstellung von Arbeiter-
wohnungen den Zweck verfolgt, das Abhängigkeitsverhältnis in dem
der Arbeiter sich schon so wie so befindet, noch zu vergröfsern.
Diese Absicht zeigt sich in der unverfrorendsten Weise dort, wo
nur eine sehr kurze Kündigungsfrist besteht.
Der Mietvertrag der der Firma Krupp gehörigen Kohlenzechen
„Hannover“ enthält die Bestimmung, dals die Wohnung mit dem
Tage geräumt werden mufs, an dem der Arbeiter seine Stellung
verläfst. ')
Die gleiche Bestimmung gilt für das Logierhaus der Gulsstahl-
fabrik in Essen. Auch hier hat die Entlassung ohne weiteres das
Ausscheiden aus der Gemeinschaft zur F’olge. *)
F.benso kann in dem Junggesellenheim der Farbenfabriken von
Bayer & Co. in Elberfeld das Mietverhältnis jederzeit ohne Ein-
haltung einer Kündigungsfrist gelöst werden. ’)
Wie es bei den übrigen Arbeiterwohnungen der Firma Krupp,
speziell in Essen, in dieser Beziehung gehandhabt wird, ist uns
*) Der Micts vertrag ist abgedruckt bei Kley, „Bei Krupp“. Leipzig 1899. S. 76.
a) Al brecht, Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland“ 1902.
Anlagen S. 50.
a) ».Wohlfahrtseinrichtungen der Farbenfabriken von Bayer & Co.“ Erläute-
rungen zur Ausstellung derselben in Düsseldorf 1902.
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Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber.
523
nicht bekannt ; jedoch läfct der Umstand, dafs in den Kohlenzechen
„Hannover" und in dem Junggesellenheim in Essen keine Kündi-
gungsfrist für aus dem Dienst scheidende Arbeiter besteht, den
Schlufs zu, dafs für die Arbeiterwohnungen in Essen dieser Brauch
auch allgemein üblich ist Dabei mufs man bedenken, dafs wohl
in der Mehrzahl aller Fälle, speziell für die ungelernten Arbeiter,
für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses keine Kündigungsfrist
besteht, der Arbeiter also mit seinen Angehörigen von einem
auf den anderen Tag auf die Strafse gesetzt werden kann. So kann
laut der dortigen Fabrikordnung § 8 *) bei den Elberfelder Farben-
fabriken das Arbeitsverhältnis von beiden Teilen jederzeit ohne
Aufkündigung gelöst werden. Das gleiche gilt für die Filiale dieser
Fabrik in Leverkusen.
§ 5 der Miets- und Hausordnung der Augsburger Kammgarn-
spinnerei in Augsburg hat folgenden Wortlaut:
„Die gewöhnliche gegenseitige Kündigungsfrist beträgt vier
Wochen. Die Direktion behält sich jedoch vor, diese Frist in
besonderen Fällen zu verkürzen oder zu verlängern. Die Woh-
nung mufs zur festgesetzten Zeit geräumt sein.“ s)
Da die Miets- und Hausordnung keinerlei Bestimmungen dar-
über enthält, die darauf schliefsen läfst, dafs für die Verkürzung
der Kündigungsfrist das Einverständnis des Mieters notwendig ist,
so ergiebt sich, dafs dieser hierin vollständig vom Arbeitgeber ab-
hängig ist.
Analog liegen die Verhältnisse bei der „Bergischen Stahl-
industriegesellschaft.
„Verläfst der Mieter die Arbeit derselben, so ist die Kündigung
für die Wohnung hierdurch von selber ausgesprochen ; will der
Mieter noch einige Zeit wohnen bleiben, so hat er eine diesbezüg-
liche besondere Vereinbarung mit dem Wohlfahrtsbureau zu treffen."8)
Aehnliche Wirkungen können die den Arbeitern seitens der
Fabrik zur Erstellung eigener Häuser gewährten Darlehen haben.
Es kann dies in einer ganz liberalen Weise geschehen, so dafs
die Nachteile, die den Arbeitern daraus erwachsen, wenn auch
nicht beseitigt, so doch stark herabgemindert werden können. Ein
Beispiel hierfür bieten die „Satzungen der Grund- und Hauserwerbs-
*) a. a. O. S. 15.
*) Alb recht a. a. O. Anlagen S. 323.
*) R o 1 1 0 k und Ziegler ... a..a. O. Anhang S. 99.
34*
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524
Paul Monbert,
kasse" für die Arbeiterschaft der I.ederwerke von Cornelius Heyl
in Worms. ')
Wird hier von der einen oder anderen Seite die Auflösung
des Arbeitsverhältnisses herbeigeführt, so wird wohl die zweite
Hypothek, die dem Arbeiter von der Fabrik auf sein Anwesen ge-
währt ist, fällig; er ist aber nicht gezwungen, die fällige Summen
sofort zu zahlen, sondern er hat dies bis längstens am Ende des
auf den Austritt folgenden Kalenderquartals zu thun, oder kann
seine Schuld durch wochenweise Abzahlungen von mindestens
2 Mk. tilgen.
Wohl kann ein Arbeiter, zumal wenn er stellenlos ist, hier-
durch in eine bedrängte Lage kommen ; aber diese Bestimmungen
erscheinen im rosigsten Lichte denen gegenüber, die wir bei der
durch ihre „Wohlfahrtseinrichtungen" so sehr „berühmten“ Firma
Friedrich Krupp in Essen antreffen.
Die Sicherung des Darlehens erfolgt durch Eintragung der
ersten Hypothek auf Grundstück und Gebäude; die Schuld wird in
Ratenzahlungen , die bei der Lohnauszahlung abgezogen werden,
abgetragen. „Das Kapital oder der noch rückständige Rest des-
selben wird sofort und ohne Rücksicht auf die gestatteten Raten-
zahlungen und ohne Kündigung fällig":
„Wenn der Schuldner wegen Vergehens gegen die Arbeits-
ordnung oder andere Dienstvorschriften zur Strafe entlassen wird,
oder aus dem Dienste der Firma innerhalb der ersten zehn Jahre
freiwillig ausscheidet." *)
Derartige Einrichtungen dienen mehr der Wohlfahrt des Unter-
nehmers als der des Arbeiters. In ihnen hat man eines der gröfsten
Hindernisse zu erblicken, die einem allmählichen Aufsteigen der
Arbeiterklasse in den Weg treten. Der Arbeiter gerät hier in eine
derartige ökonomische Abhängigkeit vom Unternehmer, dal's der
sogen, „freie Arbeitsvertrag" zur Farce wird. Die Furcht von einem
auf dem anderen Tag mit Weib und Kind auf die StraOse gesetzt
zu werden, zwingt iljn, widerspruchslos alle vom Arbeitgeber ein-
seitig festgesetzten Arbeitsbedingungen anzunehmen und hindert
ihn, sich gegen eine Verschlechterung derselben durch den Strike
zu wehren.
*) Al brecht a. a. O. Anlagen S. 422.
*) Al brecht a. a. O. Anlagen S. 319.
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Wohlfahrtscinrichtungen der Arbeitgeber.
525
Aehnliche Wirkung können aber auch andere sogen. Wohl-
fahrtseinrichtungen haben.
Ein Beispiel bietet das Statut der freiwilligen Zuschufskasse für
die Mitglieder der Betriebskrankenkasse der Bleifarbenfabrik von
W. Lcydendeker & Co. in Köln und Köln-Ehrenfeld.
Mitglieder dieser Kasse müssen ein Eintrittsgeld von 1 Mk.
und einen Wochenbeitrag von 25 Pfg. zahlen. Der Austritt aus
der Kasse steht jedem frei, jedoch ohne Anspruch auf Rückver-
gütung einmal geleisteter Beiträge und des Eintrittsgeldes. Auch
hat der freiwillig Ausgeschiedene keinerlei Anspruch auf Kassen-
leistungen. Das Ausscheiden aus dem Betrieb der Firma bedingt
gleichzeitig den Ausschlufs aus dieser Zuschufskasse. Der Aus-
geschiedene hat noch für 4 Wochen den Anspruch auf die Leistungen
der Kasse, wenn er für diese Zeit seine Beiträge weiterzahlt. ')
Analoge Bestimmungen enthalten die Statuten der Privatunter-
stützungskasse der „Harburger Gummi- und Kamm-Kompagnie“.
Die Beiträge betragen je nach der Höhe des Lohnes 10 — 35 Pfg.
pro Woche; für verheiratete Arbeiter 15 Pfg. mehr, da von der
Kasse auch Witwen- und Waisengeld gezahlt wird. Mit dem Aus-
tritt aus der Fabrik erlischt jedoch jeder Anspruch auf die
Leistungen der Kasse; ebenso auf gänzliche oder teilweise Rück-
erstattung der gezahlten Beiträge. Nur wenn das betreffende Mit-
glied länger als 5 Jahre zur Kasse beigetragen hat, wird ihm die
Hälfte der seit Ablauf der ersten 5 Jahre seiner Mitgliedschaft ge-
zahlten Beiträge zurückerstattet. ■)
In welcher Weise derartige Bestimmungen die Bewegungsfrei-
heit des Arbeiters lähmen, liegt auf der Hand.
Analoges gilt für die so vielfach bestehenden Pensionskassen.
Häufig müssen die Arbeiter dazu Beiträge zahlen, die oft recht
hoch sind und ihnen beim Dienstaustritt nicht zurückgezahlt werden.
(So bei Krupp 2'/s "in vom Arbeitsverdienst, soweit derselbe 6 */., Mk.
für den Tag oder 2000 Mk. für das Jahr nicht übersteigt.) s)
Aber auch dort, wo keine Beiträge gezahlt werden, schränken
diese Kassen die Bewegungsfreiheit des Arbeiters in sehr hohem
Grade ein.
Dafs vielfach dies in der Hauptsache der Zweck derartiger
J) Al brecht a. a. O. Anlagen S. 393.
*) Alb recht a. a. O. S. 435.
3) Kley a. a. O. S. 109.
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536
Faul Mombcrt.
Kassen ist, zeigen folgende Sätze, die Werner von Siemens in
seinen „Lebenserinnerungen (S. 252) ausspricht:
„Freilich die Freiheit zu striken wird dem Arbeiter durch die
Pensionbestimmungen wesentlich beschränkt, denn bei seinem frei-
willigen Austritt verfallen statutenmäfsig seine Altersrechte . . .
Jede Fabrik sollte eine solche Pensionskasse bilden, zu der die Ar-
beiter nichts beitragen, die sie aber trotzdem selber verwalten,
natürlich unter Kontrolle der F'irma. Auf diese Weise liefse sich
der Strikemanie, welche die Industrie und besonders die Arbeiter
selbst schwer schädigt, am besten entgegentreten.“ *)
Noch andere Formen von „Wohlfahrtseinrichtungen" sind hier
zu nennen. In ihrem Jahresbericht vom Jahre 1900 teilt die badische
Fabrikinspektion mit, dal's eine Fabrik im Murgthal ihren Taglohn-
arbeitern nach Ablauf des ersten Dienstjahres für jeden Tag eine
Prämie (satt Lohnzuschlag) von 10 Pfg., welche sich bei mehr als
zweijähriger Dauer des Arbeitsverhältnisses auf 15 Pfg. und bei
mehr als dreijährigem Ausharren auf 20 Pfg. erhöht, zahle. Diese
, .Prämien" werden jedoch erst beim Austritt bzw. nach Ablauf
des vierten Dienstjahres thatsächlich ausbezahlt, worauf dann an
Stelle der Prämie eine ordentliche Lohnerhöhung von 28 Pfg. täg-
eintreten soll.
„In Wirklichkeit — wird in dem Bericht mit Recht bemerkt —
stellen die Prämien Lohnbeträge dar, welche von der Firma ein-
behalten werden, um den Arbeiter in eine ihm nachteilige Ab-
hängigkeit zu bringen.“ Aehnliche Prämiensysteme finden sich in
der deutschen Industrie sehr häufig.
Diese Beispiele mögen zunächst genügen um zu zeigen , in
welch hohem Grade durch derartige Wohlfahrtseinrichtungen die
Bewegungsfreiheit der Arbeiter eingeschränkt werden kann.
Vielfach ist wohl bei derartigen Anstalten die Absicht mafs-
gebend gewesen, Selbständigkeitsbestrebungen der Arbeiter einen
Riegel vorzuschieben und auf diese Weise, wie W. v. Siemens sagt:
„das friedliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
zu sichern“.
Die Ausgaben, welche durch derartige Wohlfahrtseinrichtungen
hervorgerufen werden, rentieren sich also mitunter recht gut. Die
Arbeiter werden sich hüten, einer Verschlechterung ihrer Arbeits-
bedingungen durch einen Strike entgegenzutreten oder den Versuch
’) Berlin, 1901. VI. Aufl.
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Wohlfahrtseinriehtungen der Arbeitgeber.
527
zu machen, Lohnsteigerungen auf diesem Wege zu erreichen. Ent-
weder müssen sie sofort dann ihre Wohnungen räumen oder sie
gehen einer Reihe anderer Vorteile (Kasseneinrichtungen . . .) oder
der Beiträge verlustig, die sie vielleicht jahrelang unter grofsen
Opfern entrichtet haben.
Auf die Weise bedeuten also die Wohlfahrtsanstalten unter
Umständen für den Arbeitgeber eine grofse Ersparnis; denn er ist
so in der Lage, niedrige Löhne zu zahlen.
Folgende Worte rühren von einem der „sachkundigsten Ver-
treter dieser Fabrikantenphilantropie“ dem oberelsässischen Fabri-
kanten K. Grad her:
„Der Unterschied der Löhne zwischen der Normandie und
dem Elsafs beruht namentlich auf dem Unterschiede der [.ebens-
mittelpreise, die im nördlichen Frankreich viel höher sind als im
Elsafs. Andererseits sehen sich die Industriellen des Nordens, um
die Arbeiter zu erhalten, genötigt, sie durch den Reiz höherer
Löhne anzulocken, und wissen sie vielleicht nicht genug
durch Unterstützungs- und Pensionskassen zu fesseln,
wie sie in allen Fabriken des Elsafs zum Vorteil der Arbeitgeber
wie der Arbeiter bestehen. Diese Philantropie ist seitens
des Industriellen unserer Gegend ein gutes Ge-
s c h ä f t." *)
Man würde nun aber sehr vielen Unternehmern bitter Unrecht
thun, wenn man ganz allgemein bei ihnen solche Beweggründe
voraussetzen wollte. Sicherlich giebt es eine sehr grofse Zahl, ' die
mit den edelsten Absichten an die Gründung derartiger Wohlfahrts-
einrichtungen herangegangen sind und dabei das einzige Bestreben
hatten, der wirtschaftlichen und sozialen Not, die sie tagtäglich um
sich sahen, nach Kräften abzuhelfen und weder Geld noch Mühe
scheuten um dieses Ziel zu erreichen.
Es läfst sich auch noch eine dritte Reihe von Beweggründen
auffinden, die an der Wiege derartiger Anstalten gestanden haben
mögen.
Vielfach sind es wohl in erster Linie weder humanitäre Er-
wägungen noch die Absicht, die Abhängigkeit ihrer Arbeiter zu
vergröfsern gewesen, welche derartige Einrichtungen ins Leben ge-
*) Herkncr, „Die oberelsässisrhe Haumwollenindustric und ihrr Arbeiter“
1887, S. 23t.
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528
Paul Mombcrt,
rufen haben. Sehr häufig war es wohl das eigene wohlverstandene
Interesse des Arbeitgebers.
An manchen Orten fallt es den Industriellen schwer, tüchtige
Arbeitskräfte zu bekommen und sich zu erhalten. Man sucht dieses
Ziel durch Prämien, Gewinnbeteiligung oder andere Vergünstigungen
zu erreichen. Vielfach kann ein Unternehmer, wenn er sich die
erforderliche Anzahl von Arbeitern heranziehen und erhalten will,
den Bau von Arbeiterwohnungen gar nicht umgehen.
Wenn auch diese letzgenannten Gründe ebenso wie natürlich
die humanitären Erwägungen völlig einwandfrei und jenen an erster
Stelle genannten gegenüber sehr vorteilhaft abstechen, so können
auch sie grofse Bedenken hervorrufen.
Denn die gute Absicht ihres Gründers schliefst cs nicht aus,
dals die Wirkung dieser Anstalten auf die ökonomische Lage des
Arbeiters die gleiche ist, wie bei den erstgenannten Fällen.
Wenn auch hier die Absicht „Herr im eigenen Hause“ zu sein
und zu bleiben, nicht offen zu Tage tritt und den Hauptanstofs zu
der Errichtung solcher Anstalten gegeben hat, so braucht dies an
den Folgen für die Arbeiter nichts zu ändern.
Es sind dies diejenigen Falle, und sie treten wohl am zahl-
reichsten auf, in denen der Unternehmer der Ansicht huldigt, dafs
es im Interesse des Arbeiters liege, wenn sein Verhältnis zum Ar-
beitgeber die Gestalt eines „Patronagesystems“ annimmt und dafs
seine vergröfserte Abhängigkeit kein zu hoher Kaufpreis für alle
jene Wohlfahrtseinrichtungen sei.
Diese Bestrebungen haben vor allem die Eigentümlichkeit, dafs
alle Vorteile, die den Arbeitern gewährt werden, einen ausge-
sprochenen Charakter der Wohlthätigkeit an sich tragen ; ein Rechts-
anspruch wird nicht gewährt; in der Regel ist alles „dem billigen
Ermessen“ des Arbeitgebers überlassen.
ln der Mehrzahl der Fälle wird er auch wohl alle oder doch
den gröfsten Teil der Kosten auf seine Tasche übernehmen.
Nun ist ja sicher zuzugeben, dafs eine derartige Vermengung
der Arbeiter- mit der Armenfrage — denn um etwas anderes
handelt es sich im Grunde dabei nicht — in sehr vielen Pallen
durchaus am Platze ist Ueberall dort nämlich, wo man es mit
einer Arbeiterbevölkerung zu thun hat, die auf einem sehr tiefen
geistigen Niveau steht, ohne dafs die geringste Hoffnung vorhanden
ist, dafs sie in absehbarer Zeit sich aus eigener Kraft in die Höhe
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Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber.
529
zu ringen vermöchte. Dort ist dann die soziale VVohlthätigkeit der
besitzenden Klassen ein Kulturfaktor ersten Ranges; denn hier
handelt es sich darum, die Arbeiter erst an ein menschenwürdiges
Dasein zu gewöhnen, ihnen gewissermafsen erst die einfachsten Be-
dürfnisse anzuerziehen. *)
lieber diese Zeiten sind wir aber in Deutschland zum guten
Teil schon hinaus; vor allem in jenen Gegenden (Rheinland —
Westfalen), die den Hauptsitz jener Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen
bilden. Ueberall macht sich das mit Erfolg gekrönte Streben der
Arbeiterschaft bemerkbar, aus eigener Kraft in die Höhe zu kommen.
Hier erntet dann der Arbeitgeber — mögen seine Absichten noch
so gute sein — keinen Dank, wenn er die Arbeiterfrage inner-
halb seiner Fabrik mittels eines Systems „wohlwollender Bevor-
mundung“ lösen will.
Ein bezeichnendes Beispiel für derartige Bestrebungen bilden
die Wohlfahrtseinrichtungen der „Bergischen Stahlindustrie“.
Pis ist anzuerkennen, dafs hier in der That ein System von
Wohlfahrtseinrichtungen im herkömmlichen Sinne besteht, wie es
ausgebildeter und umfangreicher kaum gedacht werden kann. Aber
der Geist, der hindurchweht, ist ein durch und durch patriarchalischer.
„Alles für das Volk, nichts durch das Volk."
Der nahezu 50x3 Seiten starken Denkschrift ist nicht zu ent-
nehmen, dafs irgendwie ein Arbeiterausschuls besteht; der § 616
des B.G.B. der dem Arbeiter auch für die Zeit Lohnanspruch ge-
währt, in der er durch einen in seiner Person liegenden Grund fiir
kurze Zeit an der Arbeit verhindert ist, ist in der Arbeitsordnung
durch Privatvertrag beseitigt. Ganz abgesehen davon, was ja bei
Privatunternehmungen schwer durchführbar ist, dafs den Arbeitern
ein Rechtsanspruch auf ihren Ruhegehalt nicht zusteht, heifst es in
dem Statut ausdrücklich, dafs die Pension nur auf jederzeitigen
Widerruf und längstens auf ein Jahr bewilligt wird. Dafs der Be-
zug oder die Veringerung der Unterstützung aber nicht nur von
der finanziellen Lage der Kasse abhängt, ergiebt der Wortlaut des
§ 15 des betreffenden Statuts:
„Die einmal bewilligte Pension, das Witwen- und Waisengeld
kann auch jederzeit geändert, oder wieder entzogen werden ; nament-
lich aus Gründen, die in der Person des Pensions-, Witwen- und
Waisengeldempfanger liegen.“
•) Vgl. Herkncr, Sozialpolit. Zcntralblatt“ a. a. «).
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53°
Faul Mombcrt,
Auf die bureaukratischen Formalitäten, die alljährlich bei der
Neugewährung der Unterstützung nötig sind, soll hier nicht ein-
gegangen werden.
Sehr gerühmt wird in dieser Denkschrift die Wirksamkeit der
Zwangssparkasse für jugendliche Arbeiter. Diesen werden zwangs-
weise Abkürzungen am Lohn gemacht, und die so einbehaltenen
Summen zinstragend für sie angelegt; aufser dem Zins von 4°0
wird noch eine Prämie von 2 °/0 gewährt.
Während am I. Okt. 1888 die wöchentlichen Sparbeträge
bei 73 (37,2 #/„ der Sparer) freiwilligen Sparern 105 Mk. und bei
122 (62,8% der Sparer) Zwangssparern 96,50 Mk. betrugen,
waren es am 30. Juni
bei 400 (50,1 #/# der Sparern) freiwilligen Sparern 952,50 Mk., bei
277 (40,9 u/0 der Sparer) Zwangssparern 225,25 Mk.
Ich glaube, diese starke Zunahme der freiwilligen Sparer zeigt,
dafs eine Zwangssparkasse eine unnötige Einrichtung ist.
Die Erfahrung hat gezeigt, dafs eine 6°/0 Verzinsung (inkL
Prämie) Anreiz genug zum Sparen bietet, um den Zwang ent-
behren zu können; ist es doch bekannt, welch grofse Erbitterung
eine noch so gut gemeinte Bevormundung hier hervorruft und dal's
schon manche Zwangssparkasse zu Strikes geführt hat.
Sehr oft erscheinen auch solche „Wohlfahrtseinrichtungen1'
unter dem anspruchsvollen Namen der Gewinnbeteiligung:
Eine kleine Metallwarenfabrik des Schwarzwaldes hatte ihren
Arbeitern Gewinnbeteiligung versprochen, ohne aber die Höhe des-
selben irgendwie bestimmt festzusetzen. Diese bleibt dem Ermessen
des Geschäftsinhabers überlassen, der auch das Versprechen jeder-
zeit widerrufen kann. Den Arbeitern steht kein Recht zu, durch
Einsicht in die Bilanz sich von der Höhe des Geschäftsgewinnes
zu überzeugen. „Es bleibt daher von der angeblichen Gewinn-
beteiligung nichts anderes übrig als bestenfalls ein Weihnachts-
oder Neujahrgeschenk nach dem Belieben der Firma. Solche
„Wohlthaten bleiben natürlich ohne den gewünschten Erfolg; auch
braucht man sich über die berechtigte Kritik derselben in Ar-
beiterkreisen nicht zu wundern, wenn man den Sachverhalt näher
kennt.“ *)
In die gleiche Kategorie gehört auch die sogen. „Gewinn-
*) Bericht der bad. Fabrikinspektion für das Jahr 1900 S. 45.
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Woh 1 fah rtsc in rieh t ungcn der Arbeitgeber. ^1
beteiligung bei der Munitionsfabrik von Braun & Bloem in
Düsseldorf. ')
Die Beteiligung der Arbeiter richtet sich nicht nach dem Ge-
winn, sondern nach dem Absatz. Die Beträge werden halbjährlich
ausgezahlt ; auf dieselben haben nur diejenigen Anspruch, welche
über 3 Monate bei der Fabrik im Dienst gewesen sind.
Unpünktliches Kommen, sowie grobe Verstöfse gegen die
Fabrikordnung ziehen teilweisen oder ganzen Verlust der Be-
teiligung nach sich. Dafs im übrigen die einzelnen Arbeiter in
dieser Form nur recht geringfügige Beträge erhalten, ergiebt sich
daraus, dafs die Firma an etwa 90 Werkmeister und Arbeiter jähr-
lich 3900 Mk. als „Gewinnbeteiligung" auszahlt.
Im Hinblick auf das bisher ausgefuhrte sei an die Worte
Schmollers, in seinen Untersuchungen über „Wesen und Verfassung
der grol'sen Unternehmungen" erinnert:
„Fast überall, wo der Arbeitgeber sie unvermittelt einführen
will und seien sie noch so günstig für die Arbeiter, wie Gewinn-
beteiligung, Suppenanstalten, Wohnungszuweisung, Bäder etc., da
begegnen sie leicht dem Widerwillen, ja dem Verdacht der Arbeiter,
dem Mifstrauen und der Mifsstimmung. Die Leute wollen sich
auch zu ihrem Wohl nicht kommandieren lassen. F.s kann heute
nur gedeihen, was der versteht, dem es gereicht wird. Es wird
verstanden, wenn man die Arbeiter selbst heranzieht, sie mitwirken
läfst an der Entstehung, die Einrichtung als von ihnen geschaffen
erscheinen läfst.
Dazu mufs man aber mit den Vertrauenspersonen der Arbeiter
beraten, Komitees derselben möglichst die Sache in die Hand
geben.“ *)
Es sind noch eine recht geringe Anzahl von Arbeitgebern, die
sich zu einem derartigen Standpunkt durchgerungen haben. So
darf es aber auch kein Wunder nehmen, wenn jene Unternehmer ftir
ihre Anstalten, die ihren Ursprung oft der menschenfreundlichsten
Gesinnung verdanken, so wenig Dank ernten. Kann doch auch
der Sozialpolitiker diesen Wohlfahrtseinrichtungen nur mit sehr ge-
teilten Gefühlen gegenüberstehen.
Die bisherigen Ausführungen haben sich vor allem mit der prinzi-
J) Wohlfahrtspflege in den Provinzen Rheinland und Westfalen, llerausgcg.
von A. Hoffmann und H. Simon. Düsseldorf 1902 S. 77.
a) Zur Sozial- lind Gewerbepolitik der Gegenwart. 1890. S. 427.
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532
Paul Mombcrl,
piellen Bedeutung der Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen für den Ar-
beiter beschäftigt und demgemäfs auch nur jene betrachtet, die das
Arbeitsverhältnis als solches beeinflussen können.
Es giebt aber auch eine grofse Zahl von Wohlfahrtsanstalten,
die in dieser Beziehung jenseits von „Gut und Böse" stehen und
nach keiner Richtung hin das Arbeitsverhältnis beeinflussen. Es sei
hier nur an Einrichtungen zur billigeren und bequemeren Be-
schaffung der Lebensmittel, an Bibliotheken, Lesehallen, Kranken-
und Rekonvaleszentenanstalten erinnert , ferner an alle jene Ein-
richtungen, die in der Hauptsache den Angehörigen des Arbeiters
zugute kommen, wie Wöchnerinnenanstalten, Kinderhorte, Hand-
arbeits- und Haushaltungsschulen und ähnliches. Dafs derartige
Anstalten sehr segensreich wirken, wird von keiner Seite bestritten;
gerade deshalb erübrigt es sich aber auch, näher auf diese einzu-
gehen.
Oben wurde bereits an einer Reihe von Beispielen auf die
Wirkung mancher Wohlfahrtseinrichtungen auf das Arbeitsverhältnis
hingewiesen; es wurde dort bereits gesagt, dafs sehr vielen An-
hängern dieser Anstalten deren Wirkungen recht wohl bekannt
seien, dafs sie aber die segensreichen Folgen der ersteren so hoch
anschlagen, dafs sie die verstärkte Abhängigkeit des Arbeiters als
keinen zu hohen Kaufpreis dafür ansehen. Es wurde dort bereits
darauf hingewiesen, dafs dieser Standpunkt unrichtig sei, weil der-
artige Wohlfahrtscinrichtungen nicht allein die Abhängigkeit des
Arbeiters vergröfsern, sondern im Zusammenhang damit es ihm
auch unmöglich machen oder doch stark erschweren, bessere Ar-
beitsbedingungen zu erkämpfen.
Trotzdem legt es aber jener Standpunkt nahe, der Frage, wie
grofs eigentlich die den Arbeitern gebotenen Vorteile sind und
welche Unkosten daraus den Arbeitgebern erwachsen, noch etwas
näher zu treten.
Leider ist das zur Beantwortung dieser F'rage zu Gebote
stehende Material recht dünn gesäet.
Recht interessant ist das über die Arbeiterwohnungen der
„Bergischen Stahlindustrie“ mitgeteilte.
Der Mietzins für Arbeiterwohnungen beträgt:
a) Für eine Etagen wohnung von 3 Räumen nebst Zubehör
192 Mk. bezw. im Speicher 168 Mk. jährlich.
b) Für eine Etagenwohnung von 4 Räumen nebst Zubehör
276 Mk. bezw. im Speicher 216 Mk. jährlich.
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Wohlfahrtseinrichtungon der Arbeitgeber.
533
Zieht man noch in Betracht, dafs laut Mietsvertrag der Mieter
verpflichtet ist, die Wohnung im Jahr wenigstens einmal auf seine
Kosten neu weifsen zu lassen, dafs die Reinigung der Schornsteine,
der Abtrittsgruben auf seine Kosten erfolgt, dafs er die Kosten für
die Wassermiete tragen mufe, so ergiebt, dafs die Mietspreise als
recht hohe zu veranschlagen sind.
Ob und inwieweit diese Wohnungen dem Arbeiter in ästhe-
tischer und hygienischer Hinsicht besondere Vorteile bieten, ent-
zieht sich der Beurteilung der Aufsenstehenden. Um zu zeigen,
was billige Mietspreise sind, seien zum Vergleich diejenigen der
Firma Kalle & Co. in Biebrich a. Rhein (Chemische Fabrik) an-
geführt. ')
Die Miete beträgt dort monatlich :
für eine Zweizimmerwohnung 6 Mk.
„ „ Drei „ „ 9,5 „
„ „ Vier „ „ 13,5 „
in dem dortigen Heim für ledige Arbeiter wird einschlielslich
Wäsche wöchentlich i Mk Miete bezahlt.
Dafs die Altersunterstützungcn der „Bergischen Kleineisen-
industrie" sehr fragwürdige Vorteile bieten, ist oben gezeigt worden ;
auch quantitativ leisten sie nichts Hervorragendes.
Bei einem jährlichen Durchschnittsverdienst von 1000 Mk. er-
hält ein Arbeiter nach z. B. 30 jähriger Dienstzeit
vnm Reich 319 Mk.
von der Firma . . . . J31 „
Sa. . 550 Mk.
Für 'Arbeiter bei der Firma Kalle & Co. wurde unter den
gleichen Voraussetzungen erhalten
vom Reich 319 Mk.
von der Firma .... 630 „
940 Mk.
Hier beginnt auch der Anspruch auf Pension bereits nach fünf-
jähriger, bei der „Bergischen Stahlindustrie“ erst nach zehnjähriger
Dienstzeit.
') „Die Einrichtungen der Firma Kalle \ Co., Bichrich a. Rh. /um Wöhle
ihrer Arbeiter11 1901.
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534
Paul Mombert,
Damit hier ein Arbeiter einschlielslich Reichsrente die Hälfte
seines Arbeitsverdienstes als Ruhegehalt bezieht, muls er bereits
20 Jahre in den Diensten der Firma gestanden haben. Im Alter
von 71 Jahren und nach 50 jähriger Dienstzeit beträgt der Ruhe-
gehalt einschlielslich Invalidenrente vonseiten des Reichs 650 Mk.
oder noch nicht einmal des Jahresarbeitsverdienstes. ’)
Man sieht, dafs keine Rede davon sei, dafs die hier gebotenen
Vorteile die verschärfte Anhängigkeit des Arbeiters aufwiegen; viel
eher kann dies bei der Firma Kalle & Co. zugegeben werden, wo
unter den oben genannten Voraussetzungen ein Arbeiter bereits
nach 45 jähriger Dienstzeit die 1 löchstpension mit 900 Mk., zu der
dann noch die Rente von seiten des Reichs hinzukommt, erhält.
Auch die Pensionen bei Krupp sind in Anbetracht der hohen
Beiträge, welche die Arbeiter zahlen müssen und mit Rücksicht
darauf, dafs die Pensionsberechtigung erst durch eine 20jährige Zu-
gehörigkeit zur Kasse erworben wird, nicht als hoch zu be-
zeichnen. *)
Das gleiche gilt von dem sogen. Prämiensystem, das sich
sehr häufig vorfindet und das den Zweck verfolgt, im eigenen wohl-
verstandenen Interesse des Arbeitgebers durch Gewährung von
Lohnprämien oder Dienstalterszulagen diesem „einen Stamm tüch-
tiger und zuverlässiger Arbeiter zu erhalten.“
Auch hier giebt es Fälle, wo, wie gerne anerkant wird, dem
Arbeiter pekuniär grofse Vorteile geboten werden.
Bei den Farbenfabriken von Bayer & Co. in Elberfeld betragen
diese Prämien nach 3 Jahren 25 Mk. nnd steigen dann fortwährend,
bis sie nach 50 Dienstjahren 400 Mk. erreichen.
Diese Prämie sind derart hohe, dafs der Arbeiter innerhalb der
25 ersten Dienstjahre im ganzen 960 und im Verlauf von 50 Dienst-
jahren 2600 Mk. erhält. Diese Prämien werden in Form von Spar-
kassenbüchern ausgezahlt. *)
Demgegenüber sei auf die Prämien der königlich preufsischen
Eisenbahnwerkstätten hingewiesen; sie betragen hier4)
M Ks ist hier die sehr günstige Annahme gemacht, dafs der Arbeiter bereits
von seinem 16. Lebensjahre an der Invalidenversicherung angehörte.
*) Nur solche Arbeiter, welche während mindestens 15 Jahren in der Gufs-
stahlfabrik besonders schwere Arbeit verrichtet haben, erhalten bereits nach dieser
Zeit im Falle der Erwerbsunfähigkeit Pensionsberechtigung. Kley a. a. O. 109.
*) VVohfahrtseinrichtungen der Farbenfabriken ... a. a. O. S. 33.
*) Wohlfahrtscinrichtungen in den Provinzen ... a. a. O. S. 75.
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VVohlfahrtseinrichtungcn der Arbeitgeber.
S3S
nach 25 Dieastjahren y) Mk.
„ 35 « 5° ..
„ 50 „ 60 „
Es ergicbt sich aus diesen wenigen hier angeführten Beispielen
dafe die Frage, ob die Wohlfahrtseinrichtungen ein vollwertiges
Aequivalent für die vergröfserte Abhängigkeit der Arbeiter seien,
sich nicht ohne weiteres beantworten läfst. Eine Reihe der an-
geführten Beispiele haben gezeigt, dafs das Gebotene ganz unzu-
länglich ist: und wenn auch in manchen Fällen diese Wohlfahrts-
einrichtungen dem Arbeiter recht viel bieten, so können wir doch
nicht beurteilen, ob nicht auf der anderen Seite z. B. nicht recht
niedere Löhe gezahlt werden. Denn es wäre ein Irrtum anzu-
nehmen, dafs die Sicherstellung, welche den Arbeitern durch solche
Anstalten vielfach gewährt wird, eine beträchtliche Erhöhung der
Lohnquote bedeuten. Denn man muls immer bedenken, dafs das
durch derartige Wohlfahrtseinrichtungen Gebotene immer nur ein-
zelnen Arbeitern zugute kommt und dals eine grofse Zahl davon
unberührt bleiben. So kommt cs, dafs mit Summen, die man im
Vergleich zu den gezahlten Löhnen als recht geringfügig bezeichnen
mufs, recht erkleckliches geleistet werden kann.
So betrugen bei der Firma Kalle & Co-, die durch ihre Wohl-
fahrtscinrichtungen, wie bereits mehrfach hervorgehoben, ihren Ar-
beitern quantitativ recht viel bietet, die gesamten jährlichen Aus-
gaben für diese Anstalten noch nicht 5 °/0 der in dieser Zeit ge-
zahlten Lohnsumme; auf den Kopf eines Arbeiters kamen 52 Mk.
Man sieht, die so oft gehörte Behauptung, dafs die Wohlfahrts-
einrichtungen den Arbeiter reichlich für seine vergröfserte Ab-
hängigkeit entschädigten, kann nicht als stichhaltig angesehen
werden; es mag einzelne Fälle geben, wo dies zutrifft, in dieser
Allgemeinheit aber ist diese Ansicht unzutreffend.
Auch der Umstand, dafs die Arbeiter selbst oft die Vorteile
dieser Wohlfahrtseinrichtungen gerne in Anspruch nehmen, spricht
nicht gegen die an ihnen geübte Kritik. Hören wir, was ein so
ausgezeichneter Kenner der Arbeiterverhältnisse, wie der kürzlich
verstorbene Vorstand der badischen Fabrikinspektion Dr. Wörishoffer
darüber sagt:
„Die ungenügende Bezahlung mancher Arbeiterschichten läfst
es begreiflich erscheinen, dafs sie nach jedem augenblicklichen Vor-
teil im Interesse ihrer Familien begierig greifen, ungeachtet des auf
dem Grunde ihres Gefühlslebens vorhandenen Dranges nach freier
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536
Paul Mombert,
Bewegung in einer Lage, die sie von den empfangenen YVohlthaten,
als welche sie die genannten Veranstaltungen ansehen, unabhängig
macht. Die Lösung wird auch hier darin liegen, dafs die als VVohl-
thaten der Arbeitgeber angesehenen Wohlfahrtseinrichtungen in ge-
nossenschaftliche Unternehmungen der Arbeiter übergefiihrt werden.
Die jetzigen Aufwendungen des Arbeitgebers für diese Zwecke
brauchen deswegen den Arbeitern nicht verloren zu gehen. Sie
können in dem Mafse, in welchem die Arbeiter sich zur genossen-
schaftlichen Verfolgung gemeinsamer wirtschaftlicher Zwecke mehr
befähigt erweisen, als es jetzt der Fall ist, zu Lohnaufbesserungen
verwandt werden. Hierzu fehlt es ja auf weiten Gebieten nicht an
begründetem Anlasse. Wo es sich um Elitearbeiter handelt, findet
man jetzt schon einzelne Anlagen, die an Wohlfahrtseinrichtungen
nur gelegentlich etwas und dann nur das allernötigste leisten, die
aber ihre Arbeiter besser bezahlen als andere Anlagen der gleichen
Art. Derartige Betriebe geniefsen bei den Arbeitern ohne Rück-
sicht auf ihre Parteistellung das meiste Ansehen." ')
Leider gestattet das zu Gebote stehende Material nicht, der
Frage, die Wörishoffer hier streift, näher zu treten und die sonstigen
Arbeitsbedingungen dieser Betriebe wie Lohnhöhe, Länge der Ar-
beitszeit u. s. w. zu betrachten. Es ist kein gutes Zeichen, dafs in
all den vielen Berichten, in denen — sogar mitunter etwas auf-
dringlich — an der Hand der ins Leben gerufenen Wohlfahrts-
anstalten das soziale Empfinden der Betriebsleiter gepriesen wird,
über diese wichtigen Punkte so gut wie nichts enthalten ist.
Neben dem Mals von Freiheit, das er seinen Arbeitern gewährt,
sind es gerade die Höhe des Lohnes und die länge der Arbeitszeit,
die den besten Prüfstein für das soziale Verständnis eines Arbeit-
gebers abgeben ; denn wenn man unter Arbeiterwohlfahrtseinrich-
tungen die Mafsnahmen versteht, durch welche der Arbeitgeber
durch sein individuelles Einwirken die wirtschaftliche und soziale
Lage seiner Angestellten bessern kann, so sind die Höhe des
Lohnes und die Länge der Arbeitszeit diejenigen Punkte, an denen
ein derartiges Streben am ersten einzusetzen hat. Dafs man auch
von anderer Seite diese Auffassung teilt, geht daraus hervor, dal>
die neueste Publikation des österreichischen Arbeitsamtes, welche
die Wohlfahrtseinrichtungen der privaten Arbeitgeber behandelt, der
’) Bericht der badischen l-abrikinspektion Ihr das Jahr 1895, S. 111.
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Wohlfahrteeinrichtungen der Arbeitgeber. 537
Frage des Lohnes und der Länge der Arbeitszeit zwei umfangreiche
Kapitel widmet. *)
Wenn es auch nur weniges ist, das wir den verschiedenen
Schriften über Wohlfahrtseinrichtungen über diese beiden so wich-
tigen Punkte entnehmen können, so genügt doch dies wenige um
zu sehen, wie viel hier noch zu thun übrig ist.
In der „Bergischen Stahlindustrie“, die ein eigenes Wohlfahrts-
bureau besitzt und deren Wohlfahrtseinrichtungcn Kollek und Ziegler
ein nahezu 5c» Seiten dickes Buch gewidmet haben, beträgt die
Länge der Arbeitszeit ausschliefslich der Pausen :
Im Sommer für jugendliche Arbeiter gljt Stunden, für er-
wachsene Arbeiter io*/4 Stunden; im Winter für jugendliche Ar-
beiter auch 91/«, für erwachsene Arbeiter IO '/* Stunden. Für Nacht-
arbeiter Sommer und Winter ausschliefslich einer einstündigcn Pause
1 1 Stunden.
Was die Löhne anlangt, so wissen wir nur, dals bei der In-
validenversicherung 6 °/# der gesamten Arbeiterschaft (jugendliche
Arbeiter) in die Lohnklasse II (350 — 550 \lk.), 91 °/# in die Lohn-
klasse IV (850 — 1150 Mk.) fallen; 3 der Arbeiter sind nicht
versicherungspflichtig, da sie unter 16 Jahre alt sind. Der Lohn-
klasse V (über 1 1 50 Mk.) gehören also keine Arbeiter an.
So notdürftig und ungenügend diese Angaben auch sind, sie
zeigen doch, dafs von einer guten Bezahlung keine Rede sein kann.
Es ist recht schön und gut, dafs man für den Arbeiter und
seine Angehörigen in den Zeiten sorgt, wo sie krank und erwerbs-
unfähig sind; weit wichtiger aber als dies ist es, dafs er einen Lohn
erhält, der ihm eine auskömmliche Lebenshaltung ermöglicht, und
dafs die Arbeitszeit nicht so lange bemessen ist, dafs er in sittlicher
und hygienischer Beziehung darunter zu leiden hat.
Gerade aber in den Gegenden, in denen jene Arbeiterwohl-
fahrtseinrichtungen so häufig anzutreffen sind, lassen Arbeitslohn
und Arbeitszeit sehr zu wünschen übrig. Diese sind aber die
Punkte, von denen in erster Linie das Aufsteigen der Arbeiterklasse
abhängt. In dieser Beziehung haben die Arbeitgeber, denen das
Wohl ihrer Angestellten aufrichtig am Herzen liegt, ein reiches
Feld ihrer Bethätigung vor sich. Leider zeigt aber die Erfahrung,
*) Die VVohUahrteemricbtungcn der Arbeitgeber zu Gunsten ihrer Angestellten
und Arbeiter in Oesterreich, bis jetzt erschienen I. Teil: Wohlfahrtscinrichtungen
der Eisenbahnen. Wien 1902 u. 1903.
Archiv für »o*. Gesetzgebung u. Statistik. XVfll. 35
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Paul Mora b er t, Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber.
dafs Fortschritte in dieser Richtung nur in den seltensten Fällen
der Initiative der Arbeitgeber selbst entspringen und dafs die Ar-
beiterschaft nur durch einheitliches Vorgehen und engen Zusammen-
schlufs sich Verbesserungen auf diesem Gebiete erringen kann. Es
wurde aber im vorangegangenen mehrfach darauf hingewiesen, wie
sehr jene Wohlfahrtseinrichtungen diesen Zusammenschlufs der
Arbeiterschaft erschweren, und mit welch grofsem Mifstraucn man
ihnen deshalb gegenübertreten mufs, zumal bekannt ist, dafs in
vielen Fällen weniger die Fürsorge für die Arbeiter, als die be-
wufste Absicht, sie in eine verschärfte Abhängigkeit zu bringen,
an der Wiege derartiger Anstalten gestanden hat. Wo im ein-
zelnen Fall das eine oder andere Ziel vorgeschwebt hat, läfst
sich nur in den seltensten Fällen für den Aufsenstehenden beant-
worten; aber ausschlaggebend für die Beurteilung dieser Einrich-
tungen sind allein ihre Wirkungen und diese bilden unzweifelhaft ein
grobes Hindernis für das Aufsteigen der Arbeiterklasse.
Anmerkung. Obiger Aufsatz ist bereits Ende November 1902 abgeschlossen
worden. Ich kann deshalb nur anmerkungswcisc auf einiges seitdem neu erschienene
eingehen. Zunächst sei die Schrift v. Erd inan ns, „Die Wohlfahrtspflege“»
Jena 1903, erwähnt, die diese Fragen jedoch mehr systematisch als kritisch be-
handelt und die wirtschaftliche Bedeutung nur unzureichend berücksichtigt. Man
vgl. ferner die Arbeit Piepers, „Die Lage der Bergarbeiter im Ruhr-
revier“. Stuttgart 1903, der, was die dortigen Zechen Wohnungen anlangt, alle von
mir hervorgehobenen Nachteile derselben (a. a. O. S. 205) für den Arbeiter bestätigt.
Ein neues Beispiel einer derartigen „Wohnungsftirsorge“ bringt der Bericht der
Badischen Fabrikinspektion 1903, S. 55: $ 4 des Mictsvertrages einer
Seidenweberei in Rheinfclden schreibt vor: „Es müssen per Wohnung mindestens
drei Personen in der Fabrik von X. Y. Z. beschäftigt sein. Wo dies bei der eigenen
Familie des Mieters nicht zutrifft, so ist er verpflichtet Arbeiter oder Arbeiterinnen
aus dem Geschäfte des Vermieters in Kost und Logis zu nehmen. Kostgeld und
Miete unterliegen der Genehmigung von X. Y. Z.“ Ein eingehendes Material über
diese oben berührten Fragen bieten ferner die betreffenden Abschnitte des Dämmer-
sehen „11 andbuchs derArbciter wohlfahr t“. Es fehlt jedoch den betreffenden
Kapiteln jede Kritik. Dafs auch in den Kreisen der Privatbcamtcn ähnliche Stimmung
gegenüber den Wohlfahrtscinrichtungcn wie in Arbeiterkreisen herrscht, zeigt die
Schrift von Fluistens, „Die staatliche Pensionsversicher ung der
Privat beamten“, Berlin 1903, S. 19 ff. Sein Urteil über die llauskassen, welche
viele Firmen „zu Gunsten“ ihrer Angestellten errichtet haben, fafst der Verf. in den
Satz zusammen : „Diese Kassen sind, das mufs auch an dieser Stejle auf das nach-
drücklichste betont werden, weiter nichts als ein Mittel, die Stellung des Unter-
nehmers zu stärken und ihn billig in den Ruf eines humanen Arbeitgebers zu bringen.“
Eine vorzügliche Darstellung der Gründe, die Wörishofler zu seiner ablehnenden
Haltung derartigen Wohlfahrtseinrichtungen gegenüber veranlafsten, findet sich bei
Dr. Fuchs, „Friedrich W ö rish o f fc r“ , Karlsruhe 1903, S. 45 ff.
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Die Reichstagwahlen von 1898 und 1903.
Eine statistische Studie
von
ADOLF BRAUN
in Nürnberg.
Die politischen Massenerscheinungen sind trotz des lebhaften
Interesses, das sie beanspruchen, mit den zwar nicht ausreichenden,
aber an einzig unparteiischen Mitteln der statistischen Methode noch
wenig erforscht. Die amtliche Statistik der Reichstagswahlen be-
schränkt sich auf eine Feststellung der absoluten und relativen
Zahlen, die in jedem Wahlkreise für den Vertreter oder Partei ab-
gegeben werden, Kombinationen werden vollkommen vermieden.
Die amtliche Statistik hat es unterlassen, das Material der Wahl-
statistik mit bevölkerungs-, wirtschafts-, sozial-, kriminalstatistischen
und anderen Daten zu kombinieren; dem Privatstatistiker ist dies
nicht möglich, weil die Zahlen der amtlichen Statistik nach völlig
verschiedenen geographischen Gesichtspunkten ausgesondert werden
wie die Daten der Reichstagswahlstatistik. Ich habe an anderer
Stelle ') die methodische Seite dieser Präge erörtert, hier soll nur
an einem Versuch gezeigt werden, dafs sich auch ausschliefslich mit
den Elementen der Reichstagwahlstatistik eine Reihe bemerkens-
werter Resultate erzielen lassen. Ich bemühe mich , lediglich
die Zahlen sprechen zu lassen und die Parteien in ihrer Ent-
wicklung zwischen den beiden letzten Wahlgängen wie in ihrem
Vorwärts- beziehentlich Rückwärtsschreiten gegenüber anderen
Parteien vorzuführen. Ich sehe dabei ganz ab von der Wieder-
holung der in der amtlichen Veröffentlichung mitgeteilten absoluten
Zahlen.
’) Neue Zeit (Stuttgart) XXI, 2 [1903) S. 412 fr.
35*
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540
Adolf Braun,
Die charakteristische Erscheinung der Wahl vom 16. Juni 1903
war eine aufserordentlich stärkere Wahlbeteiligung gegenüber der
vorangegangenen Wahl im Jahre 1898. Dies sieht man deutlich
aus der folgenden Tabelle. Die Wahlbeteiligung betrug in ... .
Kreisen, in denen im ersten Wahlgange die höchste Stimmenzahl
hatte der Kandidat der
Unter
40 ”0
40—50
0,
0
50 60
01
Io
60 — 70
•/.
70—80
%
8O-
0
-90
0
90 IOO
%
Summa
1898
1903
98
°3
98
03
98
03
98 03
98
□
□
m
1S9S 1903
Sozialdemokratie
2
26
9
44 1 52
14
57
—
2
S7
122
Deutsche Volkspartci
—
—
—
—
—
2
3 ! :t
—
1
—
4
Freisinnige Volkspartei
—
—
—
l
2
—
2
—
6 4
2
1
—
—
12
6
Freisinnige Vereinigung
—
—
—
—
—
—
1
1
2 |
1
—
—
—
4
1
Nationalliberale Partei
—
—
3
—
2
1
>9
5
10 1(1
3
8
—
—
37
* J
Zentrum
—
—
>5
2
3»
8
36
17 I 48
4
13
—
—
104
1»
Antisemiten
—
—
3
—
5
3
3
—
2 4
—
1
—
—
'3
8
Reichspartei
—
—
—
—
—
—
9
l
11 10
s
6
—
—
*5
11
Deutsch-Konservativ
I
—
2
—
9
5
26
13
24 34
3
WJ
—
—
«5
12
Elsässer
—
—
2
—
I
1
3
3
2 1
2
4
—
—
10
9
Polen
—
—
—
—
—
—
2
—
8 5
5
12
—
1
15
18
Welfen
—
—
—
1
—
3
3
2 1
1
1
—
—
7
5
Nationalsoziale
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
Bund der Landwirte
—
—
—
2
—
2
—
1 1 2
—
—
—
—
5
Bauernbund
I
—
—
—
3
—
1
3
— 1
—
—
—
5
i
Verschiedene Parteien
—
—
2
4
2
—
—
— 1 —
—
—
4
4
2
25
64
'35
'3i '
40
397
—
5
22
72
181
114
3
397
Es gab im Jahre 1903 keinen Wahlkreis mit einer Beteiligung
von weniger als 40 Proz. der Wähler (1898 : 2) eine Wahlbeteiligung
von 40 bis 50 Proz. gab es im Jahre 1903 blofs in 5 Wahlkreisen,
im Jahre 1898 in 25 Wahlkreisen. Eine Wahlbeteiligung von 50
bis 60 Proz. im Jahre 1903 in 22 Wahlkreisen, im Jahre 1898 in
64 Wahlkreisen, eine Wahlbeteiligung von 60 bis 70 Proz. in 72
Wahlkreisen im Jahre 1903, in 135 dagegen im Jahre 1898.
Während also eine Beteiligung von weniger als 70 Proz. in 99
Wahlkreisen im Jahre 1903 festgestellt wurde, war eine solche im
Jahre 1898 für 224 Wahlkreise festzustellen. In 13 1 Wahlkreisen
betrug im Jahre 1898 die Wahlbeteiligung 70 bis 80 Proz, im Jahr
1903 dagegen in 18 1 Wahlkreisen. Noch schärfer weicht die
stärkere Wahlbeteiligung ab in der Gruppe der Wahlkreise mit
80 bis 90 Proz.; hier haben wir blofs 40 im Jahre 1898, dagegen
114 im Jahre 1903. Eine Wahlbeteiligung mit 90 bis 100 Proz.
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Die Reichstagwahlen von 1898 und 1903.
541
konnte 1898 überhaupt nicht festgestellt werden, sie war aber am
16. Juni 1903 in 3 Wahlkreisen nachzuweisen. Bei den verschie-
denen Parteien zeigt sich die verstärkte Wahlbeteiligung in un-
gleicher Weise, einiges ist in dieser Hinsicht aus der vorstehenden
Tabelle zu entnehmen.
Diese giebt auch eine Zusammenstellung der relativen Mehr-
heiten : die gröfste Steigerung zeigt sich bei den Sozialdemokraten,
ein Anschwellen der relativen Mehrheiten von 87 (1898) auf 122
(1903) Wahlkreise; dann folgen die Polen mit der Steigerung von
15 auf 18, das Zentrum von 104 auf 105. Nichts geändert hat
sich bei der deutschen Volkspartei, bei den National-sozialen und
bei den „verschiedenen Parteien"; alle übrigen wiesen eine starke
Verminderung ihrer Wahlkreise mit relativen Mehrheiten auf, wie
dies aus den Summenzahlen zu ersehen ist. Das Vorschreiten, be-
ziehentlich die Stabilität oder der Rückgang der Parteien hinsicht-
lich der Kreise mit relativen Mehrheiten ist deutlicher zu ersehen
aus der folgenden Zusammenstellung, in der die Zahl der Wahl-
kreise mit stärkster Stimmenzahl jeder Partei im ersten Wahlgange
im Juni 1898 mit IOO angenommen ist. Danach hätten im
1903 relative Mehrheiten aufzu weisen die
Jahre
Sozialdemokratische Partei
140,2
der bayerische Bauernbund .
80,0
Polen
120,0
die Welfen
7M
das Zentrum
100,9
die Reichspartei
68,0
die deutsche Volkspartei, die
die Antisemiten und Christlich-
Nationalsozialen und die
soziale
61,5
„Verschiedenen“ ....
100,0
die freisinnige Volkspartci
50,0
die Deutsch-Konservativen
95.7
der Bund der Landwirte . .
40,0
die Elsässer
90,0
die freisinnige Vereinigung
25tO
die nationalliberale Partei
81,1
Cum grano salis sind vorstehende Zahlen zu beurteilen. Sie
reichen nicht aus, um die relative Stärke der Parteien bei den Wahlen
von 1898 und 1903 zu erkennen, wohl aber um sich über die
Festigkeit ein Bild zu schaffen, mit der sie in den verschiedenen
Wahlkörpern Wurzel gefafst haben.
Weniger die natürliche Bevölkerungsbewegung als die soziale
Wandetbewegung haben eine aufserordentlich starke Ungleichheit
der Wahlkreise geschaffen. Seit 1867 besteht in Norddeutschland,
seit 1871 in Süddeutschland die Abgrenzung der Wahlkreise un-
verändert. Einzelne sind in der Volkszahl zurückgegangen, in der
Mehrzahl hat diese sich aber vermehrt, zum Teil fast versieben-
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542
Adolf Braun
facht , so in Berlin VI, in Teltow-Beeskow-Charlottenburg. Wie
die verschiedene Volksdichtigkeit der ursprünglich — von den
Kleinstaaten abgesehen — gleich starken Bevölkerung der Reichs-
tagswahlkreise in den Wahlen von 1898 und 1903 auf die Wahl-
beteiligung wirkte, ersieht man aus der nachstehenden Zusammen-
stellung:
Wahl-
Unter
40-
0
5°
50-
0
60
60
0
7°
70 - SO
Ol
80-90
Ol
90-
0
IOO
Summa
berechtigte
IO
0
0
0
0
0
I898
«903
98
03
98
03
98
03
98
03
98
03
03
18984903
bis
0
0
0
0
N
8
16
8
17
12
21
16
9
18
71
54
2o —
25 OOO
1
—
1
23
6
42
26
3«
61
8
14
—
2
116
110
25-
30 000
I
—
4
1
12
3
40
20
27
34
>3
29
—
—
97
87
3°—
35 000
—
—
2
1
4
2
l6
7
25
30
3
ln
—
—
5°
55
35-
40 OOO
—
—
—
—
1
—
9
4
IO
16
1
11
—
—
2t
31
40 —
45 OOO
—
—
—
—
2
—
2
7
10
3
11
—
—
14
31
45 —
50 OOO
—
—
—
—
I
4
3
1
4
—
—
6
9
5° —
55 000
—
—
—
—
3
1
1
2
>
3
—
1
6
7
55 —
60 OOO
—
—
—
—
2
—
—
1
1
1
—
—
3
2
60 —
65 OOO
—
—
—
—
1
—
I
3
—
4
—
—
2
7
65-
*T/-\
70 OOO
—
—
—
—
—
1
—
—
I
■
1
—
—
1
i
/U
75—
75 000
80 OOO
I
l
2
1
80-
85 OOO
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1
—
—
—
1
85 —
90 OOO
—
—
—
—
1
—
—
—
—
1
—
2
—
—
1
3
9° —
95 «00
—
—
—
—
—
—
—
—
0
—
—
—
—
95 —
loo OOO
—
—
—
—
—
—
I
—
I
—
—
—
2
2
100 —
125 000
'
—
—
—
—
—
—
1
I
1
—
I
—
—
1
3
125—
I 50 OOO
•
— -
—
—
—
2
—
—
—
1
—
2
1
über
50 OOO
—
—
—
—
-
—
1
—
—
—
1
• 2-
25
60
136
133
4‘
397
>umniA ’•
—
3
20
72
183
116
3
397
Die Tabelle ergiebt vor allem, dafs es im Jahre 1898 noch 284,
1903 blofs noch 251 Wahlkreise mit weniger als 30000 Wahl-
berechtigten gab. Kommen auch in den kleinsten Wahlkreisen die
relativ schwächsten Wahlbeteiligungsziffern vor, so finden wir doch
auch eine Verdoppelung der Kreise mit der zweitstärksten Wahl-
beteiligung bei den Wahlkreisen mit weniger als 20000 Wahlbe-
rechtigten. Wohl finden wir noch stärkere Steigerungskoeffizienten
in den dichter besetzten Wahlkreisen, aber trotzdem bleibt die
starke Wahlbeteiligung in dieser Gruppe von Wahlkreisen höchst
bemerkenswert und auffallend; sie erklärt sich aus der Zugehörig-
keit der hochindustriellen Kleinstaaten zu dieser Gruppe, in denen
bürgerliche Parteien mit der Sozialdemokratie sehr harte Wahlkämpfe
führten. Aus den fetten Zahlen, welche die in jeder Gruppe häu-
Digitized by
Die Reichstag wählen von 1898 und 1905.
543
figste Wahlbeteiligungsstärke hervorheben, erkennt man ebenso wie
aus dem gesamten Zahlenbilde, dafs es bei der letzten Reichstags-
wahl vor allem eine nicht von vielen Ausnahmen durchbrochene Regel
war, dafs mit der gröfseren Zahl der Wahlberechtigten, nicht blofs
wie selbstverständlich die absolute Zahl der abstimmenden, sondern
auch die relative Wahlbeteiligung wuchs. Die Steigerung der
Volkszahl in den Wahlkreisen hängt fast immer mit dem rascheren
Gange der Industrialisierung zusammen, diese, aber auch schon die
stärkere Zusammenballung der Bevölkerung führt zu lebhafterem
geistigen und speziell politischem Leben, zum Hervortreten sozialer
und damit politischer Gegensätze , zu einem Wetteifer der ver-
schiedenen Richtungen bei der Wahl und damit zu gesteigerter
Wahlbeteiligung. Die Ausnahmen von der Regel erklären sich aus
dem hervorstechendem Uebcrwiegen einer Partei, welche sowohl den
Eifer der Parteigänger, deren Richtung der Sieg gewifs ist, ebenso
mindert wie den ihrer Gegner.
Ein unerwartetes Ergebnis ergab die Untersuchung des Ein-
flusses der Zahl der Kandidaten auf die Stärke der Wahlbeteiligung.
A priori sollte man annchmen, dafs mit der Zahl der Kandidaten,
die Wahlbeteiligung steigen müsse, denn erstens wird jeder Wähler
bei gröfserer Zahl von Kandidaten eher einen finden, der seinen
Anforderungen an einen Reichstagsabgeordneten entsprechen würde,
und dann wird der Eifer der gröfseren Zahl von Wahlkoinites
mehr Wähler an die Wahlurne fuhren, als eine geringere Zahl von
Organisationen, die sich im Wahlkampfe bethätigt.
Den erwarteten Aufschlufs giebt die nachstehende Tabelle
nicht :
Unter
40
‘
5°
io— 60
OLl— 70
70 — So
80-90
90-
-IOO
Wahlbeteiligung
4° "0
0
t.
Of
>0
ot
so
%
0/
0
f*
Summa
in
Wahlkreiien
189S 1903
98
°3
98 03
98 [ 03
98 »3
öS 03
03
1398(1903
bei einem Kandidaten
1 : 1
I
1 1
1, 2 Kandidaten
—
4
—
4 —
.) 2
9 8
1 lü
—
1
22 19
—
—
1 i
—
18 6
38 24
35 47
Ki 41
—
1
u8,122
t* 4 ft
l
—
4
2
iS 9
52 27
5 1 s»
15 1 42
—
—
141 [ 189
-> 5
—
—
5
i
13 3
.iä l’;
34 37
9 j 14
—
—
93 1 71
„ 6
.. 7
I
1
i\ 1
2 f —
10 3
4 4
1 6
1
20 | 15
2 —
Summa
2
45
60
138 !
•33’
41
__
397
—
3
20
72
ISS
116
3
397
1
I
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S44
Adolf Braun,
Wir finden merkwürdigerweise unter den Zahlen für das Jahr
1898 Wahlkreise mit blofs einem und mit sieben Mandatswerbern,
welche in dieselbe Gruppe von Stärke der Wahlbeteiligung ge-
hören, für das Jahr 1903 fehlen Wahlkreise mit mehr als sechs
Kandidaten, der Wahlkreis mit einem Kandidaten gehört 1898
wie 1903 in die gleiche Gruppe. Bei der Wahl vom Jahre 1903
kam in den Wahlkreisen mit blofs zwei Kandidaten eine stärkere
Wahlbeteiligung zum Ausdruck als in allen anderen Gruppen, während
bei der Wahl vom Jahre 1898 eine stärkere Wahlbeteiligung durch
eine grölsere Zahl von Parteien, die um die Mandate rangen, hervor-
gerufen wurde. Es rührt diese auffallende Verschiedenheit jeden-
falls in erster Linie von dem Umstande her, dafs das Volk im
Jahre 1903 durch eine alle Gemüter bewegende Frage in zwei
Hauptgruppen geschieden war, so dafs für viele Wähler die weiteren
Parteiunterschiede weniger entscheidend waren, während bei der
Wahl vom Jahre 1898 der Kampf der vielen Parteien schroffer zum
Ausdruck kam, weil es an einer ähnlichen Wahlparole fehlte. In den
übrigens nicht vielen (19) Wahlkreisen mit blols zwei Kandidaten
stand ein Freund der Schutzzollpolitik einem Gegner derselben, ein
bürgerlicher einem sozialdemokratischen Kandidaten gegenüber, es
handelt sich auch vielfach um Kreise im Königreiche Sachsen,
die auch aus anderen Gründen eine scharfe Wahlbeteiligung auf-
wiesen.
Die Zahl der aus der amtlichen Wahlstatistik nachweisbaren
Kandidaten betrug im Jahre 1898 1552, im Jahre 1903 etwas
weniger: 1526. Bei beiden Wahlen war die Zahl der Wahlkreise
mit vier Kandidaten die gröfste (1898: 141=35,5 Proz.; 1903:
1 69 — 42,6 Proz. aller Wahlkreise). So überwog die Zahl der
Wahlkreise mit vier Kandidaten im Jahre 1903 die der in gleicher
Weise umworbenen Bezirke im Jahre 1898. Fast gleich blieb die
Zahl der Kreise mit weniger als vier Kandidaten (1898: 14 1;
1903: 142), desto interessanter ist, dafs die Zahl der Wahlkreise
mit mehr als vier Kandidaten im Jahre 1903 in allen Gruppen
hinter denen vom Jahre 1898 erheblich zurückblieb.
1903
1898
Ueber
vier Kandidaten
hatten 86 (21,66 Pro*.) 115 (28.97 Proz.j
ti
fünf
■1
„ 71 (>7,89 „
) 93 (23,43 .. )
11
sechs
..
.. 'S (3.7* ..
) 20 (5.04 )
sieben
it
„ — (0,00 „
) 2 (0,005 .. )
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Die Rcichstagwablen von 1898 und 1903.
545
Die vorstehende Tabelle giebt ferner noch ein besonderes Bild
über die stärkere Wahlbeteiligung. Im Jahre 1903 wies die Wahl-
statistik keinen Wahlkreis mit einer Wahlbeteiligung von weniger
als 40 Proz. auf und blofs 3, in denen noch nicht die Hälfte der
Wähler zur Urne gingen. Gruppieren wir etwas anders als in der
obenstehenden Tabelle, so erhalten wir das folgende anschauliche Bild,
1903 1898
Zahl der Wahlkreise mit einer Beteiligung absol. Proz. absol. Proz.
bis zu 50 Proz 3 0,008 27 6,80
»on 50—70 91 23,17 196 49,37
von 70—80 „ 183 46,10 133 33,50
Uber 80 „ 119 30,72 41 10,33
In mehr als % aller Wahlkreise war im Jahre 1903 die Be-
teiligung eine stärkere als 70 Proz., dagegen wurde diese von nicht
viel mehr als */s der Wahlkreise im Jahre 1898 erreicht.
Die Stärke der Wahlbeteiligung kam den Parteien nicht in
gleicher Weise zu gute, wie die folgende Tabelle nachweist :
bei den Parteien
eine
Mehrung
eine
Minde-
rung
•
•O V i 0 tj
a 3T.J
e 's £ «
45
O
C *o
rt ■r.
»- >
S5
Stimmenzahl in
.... Kreisen.
wzialdemokratic . .
380 330
10
60
absolute Mehrung
V. 370.
relative Mehrung
V.
270 Wahlkreisen
tatsche Volkspartei
>5 >3
39
41
»
Minderung
„■ 24,
11
Minderung
„
28
’reisinnige „
85 67
106
124
»1
>1
21,
11
11
57
„ Vereinigung
29 20
37
46
w
„
„ 8,
ii
11
11
26
Wionallibcralc . .
161 121
74
114
Mehrung
„ 87,
11
Mehrung
„
7
-entrum
248 165
31
114
»t
„ 217.
11
„
11
51
Antisemit. (Chr. Soz.)
481 41
81
88
II
Minderung
„ 33,
17
Minderung
11
47
tatsch Konservativ.
102 1 74
64
92
Mehrung
„ 3«.
II
11
18
ieichspartei . . .
32 21
35
46
Minderung
3,
• 1
„
11
25
Elsässer
6 4
8
10
„ 2,
II
6
i*olen
S* 39
9
22
Mehrung
.. 43.
II
Mehrung
„
17
Welfen
11 6
11
16
„ °l
II
Minderung
10
„
Bund der Landwirte
431 42
26
27
.. 17,
II
Mehrung
Bauernbund . . .
16 14
31
33
Minderung
„ 15,
Minderung
19
,,
Nztionadsoziale - .
16 16
10
10
II
Mehrung
.. 6,
”
Mehrung
6
**
Eine absolute Zunahme von Wahlkreisen mit gesteigerten
Stimmenzahlen weisen sieben Parteien (Sozialdemokraten, Zentrum,
Digitized by Google
546
Adolf Braun,
Nationalliberale, Polen, Deutsch-Konservative, Bund der Landwirte
und Nationalsoziale *) auf, einer Steigerung ihrer Wahlkreise mit
erhöhtem prozentualen Anteil an den abgegebenen Stimmen können
sich sechs Parteien rühmen (Sozialdemokraten, Zentrum, Polen,
Bund der I .andwirte, Nationalliberale, Nationalsoziale). Der abso-
luten Mehrung stehen relative Minderungen gegenüber bei den
Deutsch-Konservativen, bei den Welfen geht ein absolutes Gleich-
bleiben ihrer Wahlkreise mit einer relativen Minderung der
Stimmenzahl in io Wahlkreisen parallel.
Angeschlossen sei die Tabelle der Wahlkreise, welche die im
ersten Wahlgange erzielten absoluten Mehrheiten der Abstimmenden,
nicht der Wahlberechtigten, veranschaulicht:
Es siegten im ersten Wahlgange
1898
1903
die Sozialdemokraten
3*
56
„ deutsche Volkspartci
—
| —
„ freisinnige Volkspartci
1
—
„ „ Vereinigung
1
I —
„ nationallibcralc Partei
9
6
das Zentrum
83
85)
die Antisemiten
5
2
,, Reichspartei
1 1
6
„ Deutsch-Konservativen
40
33
„ Elsässer
8
6
„ Polen . . .
13
14
„ Welfen
—
1
„ Nationalzozialen
— |
1
der Bund der Landwirte j
2
|
„ Bauernbund
4
3
Summa .
169
215
lm Jahre 1903 ergaben die Wahlen in 46 Wahlkreisen mehr
als 1898 die absolute Mehrheit der Abstimmenden für eine Partei,
die I lälfte dieser Wahlkreise hat die Sozialdemokratie erobert, sonst
weisen einen Fortschritt blofs das Zentrum , die Sozialdemokratie
und die Polen auf.
Das Ergebnis der Haupt- und Stichwahlen in Beziehung zu
den Prozentanteilen der siegenden Parteien an den abgege-
benen Stimmen ersieht man aus der nachstehenden Zusammen-
stellung:
*) Die Reihenfolge entspricht stets der Zahl der Wahlkreise, die in Betracht
kommen, s. Tabelle.
Digilized by Googl
Die Reichstagwahlen von 1898 und 1903.
547
Es sind gewählt
die Abgeordneten
der
mit
weniger
»1« 3°*«
30-
0
-40
0
40-
U
-5°
0
50—60
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Io
60 -70
0/„
1 0
70-
0
-80
0
SO — OO
Io
90-100
0/
Io
Summa
der im
ersten Wahlgange abgegebenen Stimmen
1 SoS
1903
9«
03I98
03
9»
OJ
98
03
<jS
03
98
«3
9»
«3
I*“8 I90J
Sozialdemokratie
2
5
23
30
22
43
7
9
3
4
57
81
Deutsch. Volks parle)
2
1
4
«
2
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
8
7
Freisinnigen „
s
9
M
8
5
3
I
—
—
—
—
—
—
—
—
—
28
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„ V.-nimgunu
2
2
7
K
2
1
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—
—
—
—
—
—
—
—
—
12
9
Naüonalliber. Partei
9
8
13
1!)
15
17
7
6
2
1
—
—
—
—
—
—
46
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des Zentrums . . .
I
2
5
2
'3
8
20
22
*3
IS
11
17
15
21
24
II
102
11)1
der Antisemiten . .
3
3
2
2
3
4
2
1
2
1
1
—
—
—
—
—
13
11
T. Reichspartei . .
1
1
6
3
5
!!
9
6
—
1
2
—
—
—
—
—
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19
„ Dtsch-Konscrv.
—
2
7
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IO
14
20
18
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6
6
3
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—
1
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—
1
—
—
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„ Welt« a . . .
2
1
2
1
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—
—
—
—
—
—
9
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„ Nationalsozialcn
—
1
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
’
—
1
des Bundes d. Landw.
2
1
2
2
—
—
2
—
—
—
—
—
—
—
—
—
6
3
des Bauernbundes .
—
1
—
—
t
1
1
3
3
—
—
—
—
—
—
5
0
Unbestimmt . .
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
_ _
—
8
4
Zusammen 1S9S
„ 1903
3°
33
64
61
S6
84
88
1IHI
43
46
32
31
22
■
26
24
13
397 |
397
<
Die höchsten Relativzahlen weisen auf das Zentrum, die Deutsch-
Konservativen, die Elsässer, dann folgen die Polen und Sozialdemo-
kraten, hierauf die Nationalliberale Partei und die Reichspartei. Ein
Eingehen auf die Verschiebungen zwischen den Wahlen von 1898
und 1903 sowie auf den sonstigen Inhalt dieser Tabelle müssen
wir uns leider aus Raumrücksichten versagen. Ergänzt wird die
Tabelle durch die nun folgende:
(Siche die Tabelle auf S. 548, 2.)
Die Verschiebungen der Parteien werden da unter anderen
Gesichtspunkten veranschaulicht, und zwar unter denen, welche Tür
die Wahlkämpfe z. T. bedeutungsvoller sind als die absoluten und
die relativen Zahlen. Wir glauben , dafs hier das Zahlen-
bild so deutlich spricht, dafs sich eine Kommentierung erübrigen
durfte.
Einen kursorischen Ueberblick über das geographisch erweiterte
oder eingeengte Gebiet für die einzelnen Parteien gewährt die nach-
stehende Uebersicht, welche auch zeigt, dafs die Hauptsitze der
Parteien 1898 und 1903 die gleichen waren blofs bei den Sozialdemo-
kraten, der Reichspartei, den Antisemiten und beim bayerischen
Bauernbund.
Digitized by Google
548
Adolf Braun
Parteien
Es wurden
Stimmen
abgegeben in
Wahlkreisen
am 16. Juni
Höchster
%-Satz
Niedrigster
°/0-Satz
im Wahlkreis
1898
19<>3
1898
‘903
1898
1903
Sozialdemokratie . . .
385
390
73.«
77.0
Berlin IV
Berlin IV
0,2
0.1
Adelnau-Schildbcrg
Wirsitz-Schubin
Deutsche Volkspartci .
49
34
42.7
35,9
Böblingen
Strafsburg (Land)
0,2
0,1
Donauwörth
Buchen- W ertheim
Freisinnige „
164
141
53.‘
46.1
Bingen
Löwenberg
0,1
0,2
Tecklenburg
Falkenbcrg
„ Vereinigung
53
40
52.3
46,6
Bremen
Zabern
0,3
1.2
Piritz
Tecklenburg
Nationalliberale . . .
167
20 t
57,6
67,3
Wolmirstedt
Wittmund-Aurich
0,1
0,5
Breslau (Stadt)
Mayen-Ahrweiler
Zentrum
236
2B4
99.3
98,3
Daum-Prüm
Geilenkirchen
0,2
0,1
Rosenberg i. Westpr.
Randow
Deutsch- Konservative .
‘35
127
87,5
90,7
Pr. Holland
Kreuzburg
0,2
0,5
Biberach
Adelnau-Koblenz
Reichspartei ....
52
43
78,3
62,2
Mansfeld
Mansfeld
0,7
0,2
Heiligenstadt
Neifse
B. Bauernbund . . .
35
37
67,0
57,5
Pfarrkirchen
Pfarrkirchen
0,3
0,6
Buchen-Werland
Eichstädt
Bund der Landwirte
3>
47
59,7
38,4
Pvritz-Saalzig
Crailsheim
0,2
0.3
Erlangen-Fürth
Düsseldorf
Polen
40
57
81.8
79,7
Adelnau-Schildbcrg
Werse hen
0,1
0.1
Elbing-Marienburg
Magdeburg Stadt)
Elsässer
>4
11
86,2
98,0
Schlettstadt
Saarburg
0,3
14,1
Zabern
Mühlhausen
Welfen
18
20
47,3
4öt4
Uelzen-Lüdrow
Melle- Diepholz
1 1,2
0,4
Neuhaus a. d. 0.
Norden-Emden
Antisemiten ....
116
70
76,1
67.8
Kassel 3
Kassel 3
0,1
0.1
Dortmund-Hörde
Trier
Nationalsoziale . . .
<4
15
23,9
25.2
Oldenburg i. H.
Marburg
0,1
0,2
Obertaunus
Hamburg- OsL
Es war
die
stärkste
18981903
zweit-
dritt-
viert-
fünft-
scchst-
über-
haupt
nicht
ver-
treten
98 03
stärkste
Partei
98
°3
98
03
98
03
98
03
98
°3
Sozialdemokratie . . .
86
122
1 12
105
129
115
44
41
13
6
1
1
1a 7
Deutsche Volkspartei . .
4
4
IO
8
12
7
1 1
9
10
2
2
3
348 364
Freisinnige ,, . .
12
6
43
31
62
63
26
30
•9
8
1
3
234 256
„ Vereinigung .
4
1
18
23
‘7
10
10
4
4
1
—
1
344 357
Nationalliberair ....
38
30
69
93
35
57
>9
16
3
6
3
—
230 195
Zentrum
I04
105
2>
27
3°
38
49
70
24
21
3
3
162 133
Antisemiten (Christ. Soz.)
12
8
6
15
32
17
41
21
21
11
4
2
281 323
Reichspartei
2 5
17
18
15
9
9
1
2
—
-
—
344 354
Deutsch-Konservative . .
64
61
40
34
16
21
10
7
4
2
2
—
261 272
Welfen
7
5
2!
3
6
3
4
6
2
—
1
378 377
Elsässer
10
9
1
I
1
3S.i 386
Bund der Landwirte .
5
2
8
3
I 1
14
3
22
3
7
—
—
367 349
Polen
>5
18
9
13
3
3
4
11
5
10
4
2
357 34"
Bauernbund
5
4
21
15
2
7
5
7
3
5
—
—
361 359
Litauer
—
—
1
-
1
1
2
1
—
—
—
393 395
Dänen
1
1
—
_
I
—
2
2
393 394
Nationalsoziale ....
—
—
II
1
5
7
.6
6
2
4
—
2
383 377
Digitized by Google
Die Reichslagwahlen von 1898 und 1903.
549
Die relativen Verschiebungen der Parteien kann man zahlen-
mäfsig, genauer als es bisher möglich war, aus nachstehender
Tabelle ersehen. Der Stimmenanteil der Parteien betrug bei den
Hauptwahlen in den Jahren 1898 und 1903:
(Siehe die Tabelle auf S. 550 und 551.)
Zur Kommentierung der vorstehenden Zahlengruppierung ist
nicht viel zu bemerken. Im Jahre 1903 waren in mehr Wahlkreisen
als im Jahre 1 898 vertreten die Sozialdemokraten, die Nationalliberalen,
das Zentrum, der Bund der 1 andwirte, der bayerische Bauernbund,
die Polen, Welfen und die Nationalsozialen. Aus einer Reihe von
Wahlkreisen, in denen sie noch im Jahre 1898 vertreten waren,
verschwanden die deutsche und die freisinnige Volkspartei, die frei-
sinnige Vereinigung, die Antisemiten und die Christlichsozialen,
die beiden konservativen Parteien, endlich die Elsässer. Nach der
Ausdehnung ihres Verbreitungsgebietes ') gruppierten sich die Parteien
im Jahre 1903 (die Zahlen für 1898 finden sich in Klammern)
folgendermafsen : I . Sozialdemokraten ( 1), 2. Zentrum (2), 3. National-
liberale (3), 4. Freisinnige Volkspartei (4), 5. Deutschkonservative
(5), 6. Antisemiten und Christlichsoziale (6), 7. Polen (10), 8. Bund
der Landwirte (12), 9. Reichspartei (8), 10. Freisinnige Vereinigung
(7), 11. Bauernbund (11), 12. Deutsche Volkspartei (9), 13. Welfen
(13) , 14. Nationalsoziale (15), 15. Elsässer (14). Bei den Gruppen
über 50 Proz. verschwinden die Parteien nach und nach. Auch im
folgenden geben wir die Zahlen für das Jahr 1898 in Klammern
wieder. 95 bis 100 Proz. erreichte das Zentrum in 7 Wahlkreisen
(14) die Elsässer in einem (o), 90 bis 95 Proz. erreichten die
Deutschkonservativen in einem Wahlkreise (o), 75 bis 80 Proz.
erzielten die Sozialdemokraten in einem Wahlkreise (o), die Polen 3
(1898 gleichfalls 3 und aufserdem einen Wahlkreis mit 80 bis 85
Proz.), 65 bis 70 Proz. erzielten die Nationalliberalcn in einem
Wahlkreise (o), die Antisemiten in einem Wahlkreise (1898 schon
einen Wahlkreis mit 75 bis 80 Proz.), 60 bis 65 Proz. war der in
einem Wahlkreise erreichte Höchstpunkt der Reichspartei (1898
hatte sie in 2 Wahlkreisen 75 bis 80 Proz. erzielt), der Bauernbund
konnte nur einen Wahlkreis mit 55 bis 60 Proz. bei der letzten
Abstimmung feststellen (1898 hatte er einen Wahlkreis mit 60
bis 65 Proz. und 2 mit 65 bis 70 Proz.). In keinem Wahlkreis er-
reichten die absolute Mehrheit alle bisher nichtgenannten Parteien.
*) Die Gröfse desselben gemessen an der Zahl der Wahlkreise.
Digitized by Google
550
Adolf Braun,
0 IO
10— 15
I.5-
-20
20—2;
1*5-
-30
30—35
35-40
Parteien
0 /•
/
Io
%
»/.
0
0
%
0/
Io
0
Io
1898 1903
98
03
98 03
98
03
98 03
98 '03
98 03
98 03
Sozialdemokratie
12 1 7
136 113
30 32
38
27
23 26
29
28
27 32
19 27
Deutsche Volkspartei . . .
348 I 3(53
28 18
5 I 1
1
4
5 2
2
2
4 6
2 1
Freisinnige Volkspartei
233 ; 25(5
58
62
2(5 14
18
15
17 18
20
16
n 10
6|3
Freisinnige Vereinigung . .
344 ' 867
15
6
6 3
5
2
10 9
5
4
4 4
5 <
Nationalliberale
230 196
3°
44
10 | 13
<3
25
19 1 25
24
27
i, 26
i<V 10
Zentrum
161 133
76
95
10 1 8
12
17
10 13
s
13
8 6
8 7
Antisemiten (Christi. Sozial.)
281 327
69
31
91 7
13
7
8 5
4
4
1 3
3 3
Keichspartci
345 351
4
2
4 2
3
4
6 5
s
O
2 2
6 3
Deutsch-Konservative . .
262 270
24
12
— (5
5
1»
9 !>
1 1
15
16 9
12 9
Bund der Landwirte . . .
367 350
1 I
27
— 1 6
4
6
3 6
5
1
3 1
I 1 1
Bauernbund
362 360
7
8
1 ! 7
1
t
3| K
4
3
6 1
3 h
Polen
357 340
15
25
— 1 3
—
_
— 3
2
2
2 3
- 2
Elsässer . .
383 .(*(;
I
—
— 1
—
—
—
2 —
> 1
Welfen
378 377
—
5
3 . %
5
5
3 1
1
1
1 2
« -
Nationalsozial
3S4 | 382
9
11
1 ■ 1
I
1
2 1
1
1
45 — 50 Proz. als Höchstleistung erlangte die freisinnige Volkspartei
(1898 wies sie einen Wahlkreis mit 50 — 55 Proz., und 3 mit 45 — 50
Proz. auf), die freisinnige Vereinigung kam nur in einem Wahl-
kreise mit 45 — 50 Proz. in die Stichwahl (1898 hatte sie in je
einem Wahlkreise 50 — 55 und 45 — 50 Proz.), die Welfen] hatten
in einem Wahlkreise 45-— 50 Proz. (t), mit 35 — 40 Proz. als Höchst-
leistung mufste sich die deutsche Volkspartei begnügen (1898 je 2
Wahlkreise mit 35 — 40 und mit 40 — 45 Proz.), auch der Bund der
Landwirte hatte nur einen Wahlkreis mit 35 —40 Proz. (1898 hatte
er in je einem Wahlkreise 35 — 40, 45 — 50, 50 — 55, 55 — 60 Proz.
der Stimmen erzielt). Die Nationalsozialen erhielten in einem
Wahlkreise (o) 25 — 30 Proz. Auch sonst zeigt die vorstehende
Tabelle mit grofser Deutlichkeit die innerhalb eines Zeitraums von
5 Jahren erfolgten mannigfachen Verschiebungen in der politischen
Stellung der gesamten Nation. Eine Kommentierung im einzelnen
mufs ich mir ersparen und auf das Tabellenbild verweisen. Die Be-
ziehungen zwischen ökonomisch fortschreitenden und zurück-
bleibenden Wahlkreisen und den Parteien, die in denselben ver-
treten sind, lassen sich blofs auf einem Umwege feststellen : durch
die Kombination der Stärke der Parteien mit den nach der Zahl
der Wahlberechtigten gruppierten Wahlkreisen. Da die meisten
Wahlkreise zur Zeit der Reichsgründung die annähernd gleiche
Volkszahl hatten, so läfst sich die Ungleichheit in der gegenwärtigen
Volkszahl im wesentlichen zurückführen auf die soziale Wander-
Digitized by Google
Die Reichstagwahlcn von 1898 und 1903. j'l
—4?
45“
“5"
5°-?>
55
60
60—
-65
65-
-70
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75-
So
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98
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15
25
S
18
6
2
1
7
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3
—
1
—
—
—
—
—
—
—
1
3
2
T
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
— .
—
—
—
4
l
I
I
—
—
—
•
—
—
—
—
- —
— •
—
—
—
—
—
—
—
—
—
14
u
11
6
4
1
1
2
—
—
1
—
—
—
—
—
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—
—
—
—
—
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18
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10
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11
9
11
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—
1
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1
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—
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2
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1
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—
—
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—
13
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—
3
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—
—
1
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5
1
2
2
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1 1
1
1
2
2
2
2
4
4
3
3
3
1
—
1 1
1 1
1 1
1 1
3
1
1
-
—
—
—
—
bewegung, die wieder verursacht ist durch die verstärkte Industria-
lisierung der Gebiete mit über durchschnittlicher Zahl der Wahl-
berechtigten. Innerhalb der engen dem Statistiker in dieser Hin-
sicht gezogenen Grenzen findet sich das Material der Reichstags-
wahlen gruppiert in folgenden Tabellen :
(Siehe die Tabelle auf S. 552 u. 55^.)
Der Vergleich der Wahlkreise zeigt merkwürdige Verschiebungen,
die Zahl der schwächstbevölkerten sinkt rasch, so der mit weniger
als 30000 Wahlberechtigten von 284 im Jahre 1898 auf 251, somit
um 11,6 Proz. Die Zahl der Wahlkreise mit über 30000 Wahl-
berechtigten steigt dagegen von 113 auf 146, somit um 29,2 Proz.
Die Verschiebungen im einzelnen sind aus der vorstehenden Tabelle
zu erkennen. Da die kleinsten, zum Teil hochindustriellcn, Bundes-
staaten selbständige Wahlkreise bilden, so erklärt es sich, dafs die
Sozialdemokratie in 14 der kleinsten Wahlkreise (1898: 11) mit
25 bis 75 Proz. abgegebenen Stimmen vertreten ist, in 39 (55)
Kreisen konnte sie nur bis 25 Proz. der Stimmen aufbringen.
AehnHch liegt das Verhältnis in den Wahlkreisen mit 20 — 30000
Wahlberechtigten. Ihre Stärke kommt erst in Erscheinung in den
dichter bevölkerten Bezirken. Während sie in den Wahlkreisen mit
weniger als 30000 Wahlberechtigten blols in 12 (4: mehr wie
50 Proz. der Stimmen aufbringen konnte, so in den Kreise:) mit
mehr wie 30000 Einwohnern in 44 (29). Aehnlichc Verschiebungen
lassen sich auch feststellen für die Gruppe der Wahlkreise, wo die
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552
Adolf Braun
In den Kreisen mit
erhielten °,0
Wahlberechtigten
Sa.
189g
Sa.
1903
die Sozialdemokraten
0
o — 5
5-
-25
25-50
50—75
übtrj;
1898
1903
98 1 03
98
03
98 03
98
03
98 03
weniger als 20000
71
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2
2
20000— 30000
213
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30000 — 40000
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40000— 50000
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50000— 60000
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60000 — 70 000
3
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2
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90000 — 100000
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I
—
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1
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—
— | —
über 150000
I
-1 —
1
die freisinnige Vereinigung
weniger als 20 000
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12
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20000 — 30000
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197
188
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—
—
—
-
30000 — 40000
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—
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-
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2
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1
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125000— 150000
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1
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1
über 150000
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1
die Antisemiten
weniger als 20000
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—
—
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125 000 — 150 000
2
1
—
1
1
—
1
über 150000
1
1
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Die Reichstagwahlen von 1898 und 1903.
553
der Stimmen:
die deutsche Volkspattei
die freisinnige Volkspartci
o — 0—5 5-25
1S0S 19. > 3 08 03 öS 03
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7
7
2
4
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1
50—75 über 75
98 I 03 98 I 03
554
Adolf Braun,
In den Kreisen tnit
erhielten
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Wahlberechtigten
Sa.
1898
Sa.
1903
die
Nationalsozialen
O
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“75
über 75
1898
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—
—
—
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7*
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—
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—
—
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—
—
—
—
— —
—
—
50000 — 60000
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—
—
—
— —
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—
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—
—
— —
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—
—
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2
1
—
—
—
—
—
—
— 1 —
—
—
über 150000
1
1
Sozialdemokratie 25 bis 50 Proz. der Stimmen auf ihre Kandidaten
vereinigte. Das ganze entgegengesetzte Bild zeigen die vor-
stehenden Tabellen für das Zentrum und vor allem für die deutsch-
konservative Partei, für die Reichspartei, die Elsässer, Polen, Welfen,
den Bauernbund und den Bund der Landwirte, ähnlich liegt auch
das Verhältnis für die Nationalsozialen und für die Antisemiten.
Einen Uebergang bildet die freisinnige Vereinigung, stärker als diese
ist in den dichtbevölkerten Bezirken vertreten die freisinnige Volks-
partei und die Nationalliberalen. Auf die Betrachtung von Einzel-
heiten kann ich mich mit Rücksicht auf den begrenzten Raum
nicht einlassen, aber ich bin überzeugt, daß die vorstehende Tabelle
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Die Keichstagwihlen von 1898 und 1903.
SS5
der Stimmen :
so manchen Aufschlufs über die Beziehung von Volksdichtigkeit und
Stärke wie Art der politischen Parteistellung innerhalb der Be-
völkerung gewähren würde. Selbstverständlich sind diese Be-
ziehungen nicht unbekannt gewesen, doch die zahlenmäfsige Fest-
stellung wird manches Licht auf die interessante Frage werfen.
Zu den wenigen Kombinationen, die die amtliche Statistik er-
möglicht, wenn auch nicht gruppiert, gehört die über Konfession.
Wahlbeteiligung und Stärke der Parteien in den einzelnen Wahl-
kreisen. Ueber letztere geben die nachstehenden Tabellen Auf-
schlufs :
i**
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556
Adolf Braun
waren .sozialdemokratische Stimmen
ln den Kreisen mit o 0 — 2o 20 — 40 40 — 60 60 — 80 80 — 100
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50—55
55—60
60—65
65-70
70-75
75—80
80—85
85—90
90—95
95 — 100
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Die Reich stag wühlen von 1898 und 1903.
557
Stimmen der deutschen Volkspartci
Stimmen der freisinnigen Volkspartei
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-40
40
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Kreisen mit
Stimmen der Antisemiten (Christi. Soziale)
0%
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20-
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40 — 60
60 — 80
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1898 1903
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126
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Die Keichstagwahlen von 1898 und 1903.
559
Stimmen der Polen
Stimmen der Welfen
560
Adolf Braun,
Wenn es auch sicherlich unrichtig ist von konfessionellen Parteien
im Deutschen Reiche zu sprechen, so ist es doch eine Thatsache,
die ja auch durch die vorstehenden Tabellen bestätigt wird, dafc
einige Parteien ausschließlich in Gegenden mit überwiegend prote-
stantischer Bevölkerung, andere in denen mit überwiegend katho-
lischer Bevölkerung ihre Anhänger haben. Zu den Parteien, welche
fast ausschliefslich in protestantischen Gegenden einen namhaften
Anhang haben , gehören die drei linksliberalen Gruppen , die
deutsche, die freisinnige Volkspartei und die freisinnige Vereinigung,
denen sich auch hier die Nationalsozialen anschlossen, dann die
Welfen, der Bund der Landwirte, auch die Deutschkonservativen
und die Reichspartei, wenn auch beide in katholischen Bezirken
eine ansehnliche Zahl von Anhängern besitzen, ln katholischen Be-
zirken sind fast ausschliefslich vertreten die Elsässer, dann folgen
die Polen, dann erst das Zentrum. Ohne Unterschied der Kon-
fession, wenn auch stärker in den mehr protestantischen Bezirken,
treten auf die Nationalliberalen und die Sozialdemokraten. Eine
nur unbedeutende Verstärkung der Sozialdemokratie ist in den
katholischen Bezirken festzustellen und zwar auch in den fast rein-
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Die Reichstagwahlen von 1898 und 1903.
561
katholischen Bezirken, die rasche Entwicklung der Sozialdemokratie,
welche die letzte Reichstagswahl in Erscheinung gebracht hat.
kommt im wesentlichen zum Ausdruck in den mehr protestan-
tischen Bezirken und vor allem in den Wahlkreisen mit überwiegend
protestantischer Bevölkerung.
Bei der deutschen Volkspartei zeigt unsere Tabelle einen stär-
keren Rückgang in den mehr katholischen als in den mehr prote-
stantischen Bezirken. Die freisinnige Volkspartei hat in den katho-
lischen Bezirken, relativ, fast günstigere Ergebnisse als in den prote-
stantischen Bezirken wobei aber in Betracht zu ziehen ist, dafs sie
nur in einem mehr katholischen Wahlkreise mehr als 20 Proz. der
Stimmen aufweisen konnte. Während die freisinnige Vereinigung
im Jahre 1898 noch in 5 mehr katholischen Bezirken Stimmen
zählen konnte, gelang dies im Jahre 1903 blofs noch in 2 Wahl-
kreisen, relativ boten die protestantischen Kreise bessere Aussichten
wie die katholischen. Die nationalliberale Partei hat zwar in einer
grölseren Anzahl mehr katholischer Kreise im Jahre 1903 Stimmen
vereinigt als im Jahre 1898, aber mehr wie 40 Proz. der Stimmen
hatte sie 1898 in 12 mehr katholischen Wahlkreisen, im Jahre 1903
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562
Adolf Braun,
blofs in 9, aber auch in den mehr protestantischen Wahlkreisen
konnte sie im Jahre 1898 25 mit mehr als 40 Proz. aufzählen, im
Jahre 1903 blofs noch 22.
Das Zentrum ist im Jahre 1903 in zwei mehr protestantischen
Wahlkreisen mit 40 bis 60 Proz. der Stimmen aus der Urne hervor-
gegangen, im Jahre 1898 nur in einem dieser Bezirke, auch in den
protestantischen Bezirken mit 20 — 40 Proz. Zentrumstimmen zeigt
sich eine Verschiebung zu gunsten dieser Partei. Im Jahre 1898
giebt es 25, im Jahre 1903 27 Wahlkreise dieser Art, ganz erheblich
ist die Zahl der mehr protestantischen Wahlkreise gestiegen, in
denen weniger wie 20 Proz. Stimmen für das Zentrum abgegeben
wurden, so rührt dies von der Aufstellung von Zählkandidaturen
her, es ist besonders beachtenswert, dafs die Zahl der Wahlkreise
mit O — 20 Proz. der Stimmen für die Zentrumspartei von 25 auf
42 in dem Zeitraum von 1898 bis 1903 gestiegen war. Die Zahl der
Wahlkreise in mehr protestantischen Bezirken, in denen das Zentrum
überhaupt nicht verteten war, sank ganz erheblich, merkwürdiger-
weise bedeutend stärker als in der absolut natürlich kleinen Zahl
der Wahlkreise mit mehr katholischer Bevölkerung, in denen das
Zentrum keine Vertretung hatte.
Bei der Reichspartei läfst sich ein erheblicher Rückgang in den
nichtkatholischen Bezirken fcststellcn, aus 8 dieser Bezirke ver-
schwand sie, dagegen war sie in zwei mehr protestantischen Be-
zirken, in denen sie 1898 noch nicht vertreten war, im Jahre 1903
aufgetreten, aufserdem sind Veränderungen in der relativen Stärke
festzustellen, über die aber auf die Tabelle verwiesen werden mufs.
Die deutschkonservative Partei hat keine Stimmen in neun mehr
katholischen und in zwei mehr protestantischen Wahlkreisen im
Jahre 1903 verzeichnen können als im Jahre 1898, aufserdem weist
sie einen starken relativen Rückgang in den mehr katholischen und
eine eher entgegengesetzte Tendenz in den mehr protestantischen
Gegenden auf. Die ausgesprochen antisemitischen Richtungen haben
in den mehr katholischen Gegenden niemals festen Fufs gefalst.
sie haben im Jahre 1903 noch viel Terrain verloren, das sic 1898
besetzt hatten, erheblich gröfscr noch im Hinblick auf die Zahl
der Wahlkreise, in denen für sie überhaupt Stimmen abgegeben
wurden, ist ihr Rückgang in den mehr protestantischen Bezirken.
Die Zahl der Wahlkreise, in denen für den Bund der Landwirte
Stimmen abgegeben wurden, sank gegenüber dem Jahre 1898 im
Jahre 1903 erheblich in den katholischen Bezirken, stieg aber dafür
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Die Rcichstagwahlcn von 1898 und 1903.
563
in den mehr protestantischen Bezirken, während die relative Stärke
dieser Richtung sowohl in den mehr katholischen als in den mehr
protestantischen Bezirken Einbufse erlitt. Der Bayerische Bauern-
bund verlor in den mehr katholischen Bezirken an Terrain, gewann
aber dafür einiges in den Wahlkreisen mit überwiegend protestan-
tischer Bevölkerung.
Die Nationalsozialen hatten 1898 in 3, 1903 blofs in 2 mehr
katholisch bevölkerten Kreisen, 1898 in 10, 1903 in 16 mehr pro-
testantisch bevölkerten Bezirken Stimmen zählen können. Die Zahl
der mehr katholischen Wahlkreise, in denen die „Elsässer" vertreten
waren, ging von 13 auf II zurück, 1898 erhielten sie auch in einem
mehr protestantisch bevölkerten Wahlkreise Stimmen, die bei der
Wahl von 1903 verschwunden waren. Die Polen zählten 1898
blofs in 21, 1903 aber in 31 mehr katholisch bevölkerten Wahl-
kreisen Stimmen, auch die Zahl der mehr protestantisch bevölkerten
Wahlkreise mit polnischen Stimmen mehrte sich von 1898 (19) auf
1903 (26) um 7. Die W elfen waren weder 1898 noch 1903 in den
mehr katholischen Wahlkreisen vertreten, 1898 zählten sie in 19,
1903 aber in 20 Wahlkreisen Stimmen.
Wir schließen mit diesen Betrachtungen unsere rein statistische
Darstellung der Ergebnisse der Reichtagswahlstatistik. Wir glauben
im wesentlichen erschöpft zu haben, was sich mit den Elementen
der amtlichen Reichtagswahlstatistik kombinieren läfst, abgesehen
von den Angaben über die Wahlberechtigten.
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GESETZGEBUNG.
ITALIEN.
Das neue italienische Gesetz betr. die Frauen-
und Kinderarbeit.
Eingeleilet von
Prof. CARLO F. FERRARIS,
in Padua.
Das Gesetz vom n. Februar 1886, Nr. 3657, betr. die Kinder-
arbeit, war der dürftige Anfang der Arbeiterschutzgesctzgebung in
Italien. Das Gesetz hat sich sehr bald als ungenügend heraus-
gestellt, um so mehr als es der gröfsten Zahl der in den Gewerben
und Bergwerken beschäftigten Kinder, d. h. jenen über 12 Jahre,
keinen Schutz gewährte und keine Bestimmung über die Frauen-
arbeit enthielt. Doch sind, trotz der vielen den gesetzgebenden
Kammern vorgelegten Gesetzentwürfe, sechzehn Jahre verflossen,
bis ein neues ausgedehnteres Gesetz, jenes vom 19. Juni 1902,
Nr. 242, zustande gekommen ist.
Die Redaktion dieses Gesetzes ist nicht gerade glücklich aus-
gefallen, nicht nur wegen der Schwierigkeit des zu regelnden Gegen-
standes, sondern auch wegen der entgegenstehenden Meinungen
der verschiedenen politischen Parteien. Alle waren darüber einig,
dafs ein neues Gesetz absolut nötig war, aber die Forderungen der
sozialistischen Partei waren vielleicht übertrieben, während die
anderen Parteien befürchteten, der langsam fortschreitenden, obgleich
ziemlich viel versprechenden gewerblichen Entfaltung des lindes
neue I lindernisse in den Weg zu legen und insbesondere die Arbeits-
losigkeit zu vermehren.
So ist das Gesetz als eine Art Kompromifs zwischen den ent-
gegenstehenden Strömungen entstanden. Wir werden nun die
Hauptbestimmungen desselben systematisch darstellen.
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C. F Ferraris, Das neue ital. Gesetz betr. die Frauen- u. Kinderarbeit.
I. Grenzen der Anwendung des Gesetzes.
Das Gesetz betrifft eigentlich nur das Gewerbe, das Baugewerbe
und die Stein-Sand-Pozzolanbrüche (cave), Bergwerke und Tunnels;
Ackerbau und Handel bleiben ausgeschlossen.
Doch enthält das Gesetz eine allgemeine Bestimmung, welche
die Beschäftigung von Kindern, die das I ;. Altersjahr noch nicht
zurückgelegt haben, und von minderjährigen, d. h. noch nicht
21 Jahre alten Frauen bei allen, auch aufserhalb der obengenannten
Betriebe ausgeübten, gefährlichen oder ungesunden Arbeiten, mit
einigen Ausnahmen, die unten (sub II, b, c und sub III, 2, a) an-
gegeben sein werden, verbietet.
Auch allgemeine Bedeutung haben die Bestimmungen über die
Hygiene und die Sicherheitsmafsregeln der Betriebe (s. unten
sub IV, 4), wo Frauen und Kinder beschäftigt werden.
Das Gesetz unterscheidet nicht zwischen Klein- und Grofs-
betrieb, Heimarbeit und Fabrikarbeit, so dafs die Ausführung des-
selben ziemlich schwer sein würde, und es zu befürchten ist, dafs
die zu grofse Ausdehnung seine Wirksamkeit beeinträchtigt.
II. Bestimmungen für die Kinder beider Geschlechter.
a) Allgemeines Verbot. Die Kinder können vor der
Vollendung des 12. Altersjahres nicht beschäftigt werden; ausnahms-
weise ist gestattet, die zur Zeit des Inkrafttretens des Gesetzes
schon beschäftigten, welche das IO. Altersjahr zurückgelegt haben,
bei der Arbeit zu behalten.
b) Unterirdische Arbeiten. Das Verbot der Beschäftigung
bei unterirdischen Arbeiten in Brüchen, Bergwerken und Tunnels
dauert für die Kinder bis zur Vollendung des 1 3. Altersjahres : und
drei Jahre nach dem Erlasse des Gesetzes wird das Verbot, wenigstens
in den Brüchen, Bergwerken und Tunnels, wo keine mechanische
Traktion in Gebrauch ist, bis zur Vollendung des 14. Altersjahres
anwendbar sein, was um so mehr nötig ist, da in den Schwefel-
Bergwerken ohne mechanische Traktion nach alter Unsitte das
Tragen des Minerals von unten bis zur Oberfläche den Kindern
auferlegt ist! Ausnahmsweise finden diese Bestimmungen keine
Anwendung auf die Kinder, die zur Zeit des Erlasses des Gesetzes
schon 1 1 Jahre alt und beschäftigt sind. Jedenfalls, wenn die
unterirdischen Arbeiten gefährlich oder ungesund sind, dann kommt
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566
Gesetzgebung: Italien.
das weitere Verbot hinzu, dafs die Kinder, um dabei beschäftigt
werden zu können, mindestens 1 5 Jahre alt sein sollen (s. sub. c).
Beiläufig zu bemerken ist, dafs eine unten (III, I, a) zu er-
wähnende Klausel, die Frauen jedes Alters betreffend, die Kinder
weiblichen Geschlechtes von den unterirdischen Arbeiten ausschliesst
c) Gefährliche oder ungesunde Arbeiten. Die Be-
schäftigung der Kinder bei denselben ist, auch aufserhalb der ge-
werblichen Anstalten, Brüche, Bergwerke und Tunnels, bis zur Voll-
endung des 1 5. Altersjahres verboten. Welche Arbeiten als gefähr-
liche oder ungesunde zu betrachten sind, soll ein kgl. Dekret, nach
Anhörung des oberen Beirates für Gesundheitswesen und des Bei-
rates für Gewerbe und Handel (s. u. sub IV, 5), feststellen : Aus-
nahmen von dieser Regel können erlassen werden, aber zugleich sind
die Vorsichtsmafsregeln und Bedingungen, unter welchen dann die
noch nicht 1 5 Jahre alten Kinder zu jenen Arbeiten zugelassen sein
können, zu bestimmen.
d) Nachtarbeit. Den Kindern unter 1 5 Jahren ist die Nacht-
arbeit verboten. Ueber den Begriff der Nachtarbeit s. u. sub IV, 1.
e) Dauer der täglichen Arbeit. Die Kinder, welche das
10., aber noch nicht das 12. Altersjahr vollendet haben, können
nicht mehr als 8 Stunden in den 24 des Tages beschäftigt werden ;
ebenso nicht mehr als 11 Stunden die Kinder vom 12. bis zum
1 5. vollendeten Altersjahre.
Der Minister für Ackerbau, Gewerbe und Handel kann, zeitlich
und ausnahmsweise, nach Anhörung des provinzialen Beirates für
Gesundheitswesen (s. u. sub IV, 5) gestatten, dafs die tägliche
Arbeitszeit der Kinder zwischen dem 12. und dem 15. vollendeten
Altersjahre bis zum Maximum von 12 Stunden, wenn es aus
technischen und ökonomischen Rücksichten nötig ist, verlängert werde.
f) Ruhepausen. Die tägliche Arbeit der Kinder soll von
einer oder mehreren Ruhepausen unterbrochen werden; diese sollen
im ganzen mindestens eine Stunde dauern, wenn die Arbeit 6, aber
nicht 8 Stunden übersteigt, mindestens anderthalb Stunde, wenn
die Arbeit 8, aber nicht 1 1 Stunden übersteigt, und 2 Stunden,
wenn die Arbeit 1 1 Stunden übersteigt.
In keinem Falle darf die Arbeit der Kinder mehr als 6 Stunden
ohne Unterbrechung dauern.
g) Ruhetag. Den Kindern bis zum 15. vollendeten Alters-
jahre soll wöchentlich ein ganzer Ruhetag (24 Stunden) gestattet
werden.
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G F. Ferraris, Das neue ital. Gesetz betr. die Frauen- u. Kinderarbeit.
h) Arbeitsbuch. Die Kinder vor der Vollendung des
1 5. Altersjahres können nur dann beschäftigt werden, wenn sie mit
einem Arbeitsbuche und einem auf dem Arbeitsbuche geschriebenen
ärztlichen Zeugnis, aus dem ihre Gesundheit und ihre Fähigkeit
zu der ihnen bestimmten Arbeit hervorgeht, versehen sind.
Das Arbeitsbuch soll dem in der Ausführungs -Verordnung des
Gesetzes bezeichnetcn Muster entsprechen, den Gemeinden vom
Ministerium für Ackerbau, Gewerbe und Handel verschafft und
unentgeltlich dem Arbeiter durch den Bürgermeister der Gemeinde,
wo jener seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, überreicht werden.
Das Arbeitsbuch soll angeben: die Geburtszeit des Kindes,
dafs es geimpft worden ist, dafs es gesund und zu der ihm an-
gewiesenen Arbeit fähig anerkannt worden ist, dafs es den niederen
Kurs, d. h. die ersten drei Jahre der Volksschule nach den Be-
stimmungen des Gesetzes über den obligatorischen Elementar-
unterricht besucht und die Prüfungen überstanden hat.
Den Kindern, welche zur Zeit des Erlasses des Gesetzes jenen
Kurs nicht absolviert haben, wird eine dreijährige Periode gestattet,
um jene Bedingung zu erfüllen.
Die ärztliche Prüfung und das genannte Zeugnis werden, ohne
Kosten seitens des Arbeiters, vom amtlichen Arzte der Gemeinde
(ufficiale sanitario comunale) geleistet. Die Kosten für die erste
und die zufällig notwendigen weiteren ärztlichen Prüfungen werden
von den Gemeinden getragen.
Alle die genannten Urkunden sind stempelfrei.
III. Besondere Bestimmungen für Frauen.
1. Frauen jedes Alters.
a) Es ist ihnen die unterirdische Arbeit bei den Brüchen, Berg-
werken und Tunnels verboten.
b) Fünf Jahre nach dem Erlasse des Gesetzes trifft sie das
Verbot jeder Nachtarbeit. Während dieser fünf Jahre sollen die in
Nachtarbeit beschäftigten mit dem Arbeitsbuche, von dem oben
(sub II, h) die Rede war, versehen sein.
c) Ihre tägliche Arbeitszeit kann nie 12 Stunden übersteigen
d) Die täglichen Ruhepausen sind für sie z. Teil dieselben wie
für die Kinder, d. h. die Ruhepausen sollen im ganzen mindestens
eine Stunde dauern, wenn die Arbeit 6, aber nicht 8 Stunden über-
steigt, mindestens anderthalb Stunde, wenn die Arbeit 8, aber nicht
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568
Gesetzgebung : Italien.
1 1 Stunden übersteigt, und 2 Stunden, wenn die Arbeit 1 1 Stunden
übersteigt. Dagegen findet auf die volljährigen (d. h. vom voll-
endeten 2i Altersjahre an) keine Anwendung die Klausel, dafs die
Arbeit nicht mehr als 6 Stunden ohne Unterbrechung dauern kann :
für die minderjährigen s. unten sub 2, a.
e) Auch ihnen, wie den Kindern, soll wöchentlich ein ganzer
Ruhetag (24 Stunden) gestattet werden.
2. Minderjährige Frauen.
Auf die minderjährigen, d. h. noch nicht 21 Jahre alten Frauen,
sind, aufser den sub 1 angeführten Bestimmungen, noch die folgen-
den anwendbar:
a) Ihre Ausschliefsung von den gefährlichen oder ungesunden
Arbeiten, ihre ausnahmsweise Beteiligung daran, die Ruhepausen
bei der täglichen Arbeit (einschliefslich der Klausel, dafs für sie die
Arbeit nicht 6 Stunden ohne Unterbrechung dauern kann) und der
obligatorische Besitz eines Arbeitsbuches sind für sie ganz gleich
wie für die Kinder geregelt (s. oben sub II, c, f, h).
b) Die Nachtarbeit ist ihnen verboten. Vorläufig, d. h. für die
ersten fünf Jahre nach dem Erlasse des Gesetzes, findet diese Be-
stimmung auf jene minderjährigen Frauen keine Anwendung, welche
zur Zeit des Erlasses des Gesetzes schon das 1 5. Altersjahr zurück-
gelegt haben und beschäftigt sind.
c) Das Ministerium für Ackerbau, Gewerbe und Handel ist er-
mächtigt, während drei Jahre nach dem Erlasse des Gesetzes, mit
Zustimmung des provinzialen Beirates für Gesundheitswesen, zu ge-
statten, dafs an Stelle der gegenwärtig in gewerblichen Anstalten
beschäftigten minderjährigen Frauen andere minderjährige Frauen
mit vollendetem 1 5. Altersjahre treten.
3. Wöchnerinnen.
Die Wöchnerinnen können regelmäfsig nur nach einem Monate
nach der Entbindung beschäftigt werden ; früher nur in Ausnahme-
fällen, aber jedenfalls nur wenigstens nach drei Wochen, wenn aus
einem Zeugnis des Gesundheitsamtes der Gemeinde, wo sie ihren
gewöhnlichen Aufenthalt haben, erhellt, dafs ihr Gesundheitszustand
ihnen erlaubt, die von ihnen gesuchte Arbeit ohne Schaden zu
verrichten.
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C. F. Ferraris, Das neue ital. Gesetz betr. die Frauen- u. Kinderarbeit. 569
4. Säugende Frauen.
Die Errichtung eines besonderen Zimmers, wo die Arbeiterinnen
die Kinder nähren können, ist in den Fabriken, wo mindestens
fünfzig Frauen beschäftigt sind, obligatorisch, fakultativ in den
anderen ; den säugenden Arbeiterinnen soll immer gestattet sein,
entweder in dem besonderen, der Fabrik zugehörigen Zimmer die
Kinder zu nähren oder zu diesem Zwecke sich von der Fabrik
zeitlich zu entfernen, alles in der Art und in den Stunden, welche
das innere Fabrikreglemcnt bestimmen wird und unbeschadet der
vom Gesetze vorgeschriebenen Ruhepausen (s. oben sub III, 1, d
und 2, a).
IV. Besondere Normen und Organe zur Ausführung
des Gesetzes.
1. Begriff der Nachtarbeit.
Als solche wird jene betrachtet, welche zwischen 20 und 6 Uhr
vom 1. Oktober bis zum 31. März, und zwischen 21 und 5 Uhr
vom 1. April bis zum 30. September stattfindet. *) Wo die Arbeit
in zwei Arbeiterschichten verteilt ist, kann sie um 5 Uhr beginnen
und bis 23 Uhr dauern.
Der Minister für Ackerbau, Gewerbe und Handel ist ermächtigt,
mit Zustimmung des provinzialen Beirates für Gesundheitswesen,
die obengenannten Grenzen der Nachtarbeit in den Ortschaften, wo
es für besondere klimatische und Arbeitsverhältnisse nötig wird, zu
verändern.
2. Ankündigungen der Betriebe.
Wer bei den vom Gesetze und von der Ausfiihrungs -Verord-
nung bczeichneten Arbeiten Frauen jeden Alters und Kinder, die
noch nicht das 15. Altersjahr vollendet haben, beschäftigt, soll jedes
Jahr in den von der Ausfiihrungs -Verordnung bestimmten Formen
davon regelmäfsige Mitteilung machen. Man soll auch, im Laufe
des Jahres, jede Veränderung wegen dauernder Aufhebung der
Arbeiten, Wechsels der Firma, Einführung von mechanischen Trieb-
kräften, oder anderer von der Verordnung vorausgesehenen Ursachen,
*) Die Stunden werden offiziell in Italien von Mitternacht bis Mitternacht, d. h.
mit 1 bis 24, gezählt : so 20 Uhr bedeutet 8 Ubr Nachmittag, 6 Uhr bedeutet 6 Uhr
Vormittag, u. s. w.
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 37
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570
Gesetzgebung : Italien.
anzeigen. Die Ankündigung soll im doppelten Exemplar bei der
Präfektur der Provinz (eine Präfektur besteht in dem Hauptorte
jeder der 69 Provinzen des Königreichs), wo der Betrieb seinen
Sitz hat, stattfinden; die Präfektur soll sogleich dieselbe dem
Ministerium für Ackerbau, Gewerbe und Handel übersenden, und
ein Register mit den aus den Ankündigungen gezogenen Notizen
führen.
3. Innere Reglements der Betriebe.
Die inneren Reglements der vom Gesetze betroffenen Betriebe
sollen den Bestimmungen desselben und der Ausführungs -Verord-
nung (s. unten sub 7) entsprechen, mit dem Vidi des Bürgermeisters,
als Zeichen ihrer Rechtsgültigkeit, versehen und an einem Platze
ausgehängt sein, wo die Lektüre den Interessenten und den Auf-
sichtsbehörden (s. unten sub 5) leicht wird.
4. Hygiene und Sicherheit der Betriebe.
Bei allen Betrieben, wo Kinder und Frauen beschäftigt sind
(und so auch bei jenen, welche von dem besprochenen Gesetze
nicht besonders betroffen sind), und unbeschadet der Bestimmungen
anderer Gesetze und Verordnungen, sollen die Eigentümer, Ver-
walter, Direktoren, Unternehmer und Submittenten in den Arbeits-
und zugehörigen Räumen, sowie in den Schlaf-, Säuge- und Eis-
zimmern die nötigen Vorkehrungen zum Schutz der Hygiene, der
Sicherheit und der Sittlichkeit nach den Bestimmungen der Ver-
ordnung ergreifen und ausführen lassen.
5. Organe der Ausführung des Gesetzes.
Die Ausführung des Gesetzes steht dem Ministerium für Acker-
bau, Gewerbe und Handel zu, welches die nötige Aufsicht durch
die Gewerbeinspektoren, die Ingenieure und Hilfsingcnicure der
Bergwerke und die Behörden der gerichtlichen Polizei ausübt.
Die mit dem Aufsichtsdienst beauftragten Personen haben freien
Eintritt in die gewerblichen Anstalten, Bergwerke, Brüche und
Tunnels, registrieren die Uebertrctungen der Bestimmungen des Ge-
setzes und der Ausführungs -Verordnung, und setzen davon die zu-
ständigen gerichtlichen und administrativen Behörden für die nötigen
Mafsregcln in Kenntnis. Sie sind zur Geheimhaltung der ihnen
bekannt gewordenen Fabrikationsprozesse verpflichtet.
In der Ausführung des Gesetzes soll die Regierung für einige
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C. F. Ferraris, Das neue ital. Gesetz betr. die Frauen- u. Kinderarbeit. - J 1
ausdrücklich hervorgehobene Vorkehrungen das Gutachten einiger
Beiräte einholcn. Das Gesetz unterscheidet dabei zwischen Zu-
stimmung (parere favorevole) und Anhörung. Die Zustimmung
bindet die Regierung, so dafs eine vom Beirate gemifsbilligte Be-
stimmung fallen gelassen werden mufs, dagegen bei der Anhörung
bleibt immer die Regierung in ihren Entschlüssen frei.
Die vom Gesetze genannten Beiräte sind, aul'ser dem Staats-
rate, die folgenden :
a) Der Beirat für Gewerbe und Handel.
Er ist dem Ministerium für Ackerbau, Gewerbe und Handel
beigeordnet und hat zahlreiche Mitglieder, d. h. einige von der
Regierung unter den Grundeigentümern, Industriellen, Professoren
der ökonomischen und technischen Wissenschaften ernannte Räte,
Delegierte der Handelskammern, Vertreter anderer ökonomischen
Körperschaften, hohe Behörden des Ackerbau- und des Finanz-
ministeriums.
b) Der obere Beirat für Gesundheitswesen.
Er ist dem Ministerium des Inneren beigeordnet, und ist aus
Aerzten, Chemikern, Pharmazeuten, Tierärzten, Ingenieuren, Juristen,
hohen Verwaltungsbeamten zusammengesetzt.
c) Der provinziale Beirat für Gesundheitswesen.
Er ist der Präfektur in jeder der 69 Provinzen beigeordnet; er
wird aus Fachleuten ähnlich wie der obere Beirat, doch mit einer
kleineren Zahl von Mitgliedern, gebildet.
6. Uebertretungen.
Die Uebertretungen des Gesetzes und der Ausführungsverord-
nung werden mit bestimmten, hier nicht näher zu erörternden Geld-
bufsen, unbeschadet der vom Strafgesetzbuche angedrohten weiteren
Strafen, getroffen.
7. Ausführungsverordnung.
Die Regierung soll dieselbe, nach Anhörung des Staatsrates,
des oberen Beirates für Gesundheitswesen und des Beirates für Ge-
werbe und Handel, mit königlichem Dekret bestätigen. Das Gesetz
tritt vier Monate nach der Veröffentlichung der Verordnung in
Kraft.
Diese Ausführungsverordnung wurde durch kgl. Dekret vom
29. Januar 1903, N. 41, bestätigt. Sie enthält, unter anderen Be-
stimmungen :
37
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572
Gesetzgebung : Italien.
1. den genauen Begriff der Betriebe, in welchen das Gesetz
anzuwenden ist;
2. das Verzeichnis der gefährlichen oder ungesunden Arbeiten,
zu welchen Kinder und Frauen entweder nicht oder nur
mit besonderen Vorsichtsmafsregeln zugelassen werden. Es
ist aufserdem den Kindern und Frauen verboten, in den
Arbeitsräumen derselben Betriebe ihr Mahl zu geniefsen;
3. das Verbot, Kinder und minderjährige Frauen bei der
Reinigung von Maschinen in Bewegung zu verwenden;
4. die Dauer der den säugenden Arbeiterinnen für das Er-
nähren der Kinder in- und aufserhalb der Säugezimmer
gestatteten Zeit;
5. die besonderen Vorschriften zum Schutz der Hygiene, der
Sicherheit und der Sittlichkeit in den Betrieben , und über
die Pflichten und das Verfahren der Aufsichtsbehörden;
6. das Muster des Arbeitsbuches, das Formular für die ärzt-
lichen Prüfungen der Kinder, u. s. w.
7. Die Bestimmung, dafs das Ministerium für Ackerbau, Ge-
werbe und Handel wenigstens jedes dritte Jahr dem Parla-
ment einen ausführlichen Bericht über die Resultate der
Anwendung des Gesetzes und der Verordnung vorlegen soll.
Von besonderer Bedeutung, um die Grenzen der Anwendung
des Gesetzes zu bestimmen, ist der Art. I der Verordnung. Ich
halte es für nützlich, hier eine Uebersetzung desselben zu geben.
„Zur Anwendung des Gesetzes vom 19. Juni 1902, Nr. 242,
ist als gewerblicher Betrieb oder Laboratorium zu betrachten, wo
mit Hilfe von mechanischen Motoren Handarbeiten gewerblicher
Natur verrichtet werden, ungeachtet der Zahl der beschäftigten Ar-
beiter. Wenn mechanische Motoren nicht in Gebrauch sind, ist
als gewerblicher Betrieb oder Laboratorium zu betrachten, wo
regelmäfsig mehr als 5 Arbeiter jedes Geschlechts und Alters
zusammen beschäftigt sind.“
„Bei Anwendung desselben Gesetzes sind als Bauarbeiter jene
zu betrachten, welche den Bau, die Verbesserung, Erhaltung oder
auch die Wiederherstellung von öffentlichen oder privaten Gebäuden
bezwecken.“
„Die Tunnel-Arbeiten, ungeachtet des Zweckes, sind denen in
Brüchen und Bergwerken gleichgestellt."
„Die Arbeiten in den Torflagern sind jenen der Brüche gleich-
geachtet."
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Gesetz vom
9. Juni 1902 Xr. 242. Die Frauen- und Kinderarbeit betr. 573
Wir lassen nunmehr den Wortlaut des Gesetzes folgen.
Gesetz vom xg. Juni xgoa, Nr. 242. Die Frauen- und Kinderarbeit betreffend.
Victor Emmanuel III. von Gottes Gnaden und durch Willen der Nation
König von Italien:
Der Senat, und das Abgeordnetenhaus haben angenommen : Wir haben be-
stätigt und verordnen was folgt:
Art. 1. Die Kinder beider Geschlechter sollen, um zur Arbeit in den gewerb-
lichen Anstalten, in den Laboratorien, im Baugewerbe, und zu den nicht unter-
irdischen Arbeiten in den Brüchen (cave), Bergwerken und Tunnels zugelassen zu
werden, mindestens das 1 2. Altersjahr zurückgelegt haben.
Doch können jene, die das io. Altersjahr vollendet haben, dort bleiben, wenn
sic zur Zeit des Inkrafttretens dieses Gesetzes schon beschäftigt sind.
Mit Vorbehalt der Bestimmungen des Art. 4, bei den unterirdischen Arbeiten
in den Brüchen, Bergwerken und Tunnels können die Kinder, welche das 13. Alters-
jahr noch nicht zurückgelegt haben, und die Frauen jedes Alters nicht beschäftigt
werden.
Drei Jahre nach dem Erlasse dieses Gesetzes, können bei den unterirdischen
Arbeiten der Brüche, Bergwerke und Tunnels, wo keine mechanische Traktion ver-
wendet wird, die Kinder, welche das 14. Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben,
nicht beschäftigt werden.
Doch können jene, die das 1 1. Altersjahr vollendet haben, dort bleiben, wenn
sie zur Zeit des Erlasses dieses Gesetzes schon beschäftigt sind.
Auch mit Vorbehalt der Bestimmungen des Art 4, können bei den gefähr-
lichen oder ungesunden Arbeiten, obgleich dieselben nicht in gewerblichen Anstalten,
Brüchen, Bergwerken oder Tunnels ausgeführt sind, die Kinder, welche das 15. Alters-
jahr nicht zurückgelegt haben, und die minderjährigen Frauen nicht beschäftigt
werden.
Art. 2. Bei den Arbeiten, die von diesem Gesetze und der im Art. 15 vor-
gesehenen Ausfilhrungs -Verordnung bezeichnet sind, können die minderjährigen
Frauen und die Kinder vor der Vollendung des 15. Altersiahrs nicht beschäftigt
werden, wenn sie nicht mit einem Arbeitsbuche und einem auf dem Arbeitsbucbc
geschriebenen ärztlichen Zeugnis, aus dem ihre Gesundheit und ihre Fähigkeit zu
der ihnen bestimmten Arbeit erhellt, versehen sind.
Das Arbeitsbuch soll dem in der Verordnung bezeichneten Muster entsprechen,
den Gemeinden vom Ministerium für Ackerbau, Gewerbe und Handel verschafft,
und unentgeltlich vom Bürgermeister der Gemeinde, wo der Arbeiter seinen gewöhn-
lichen Aufenthalt hat, demselben überreicht werden.
Das Arbeitsbuch soll angeben : die Geburtszeit der minderjährigen Frau und
des Kindes ; dafs sie geimpft worden sind ; dafs sie gesund und zur ihnen ange-
wiesenen Arbeit fähig anerkannt worden sind ; dafs sie den niederen Kurs ') der
*) D. h. die drei ersten Jahre.
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574
Gesetzgebung : Italien.
Volksschule, nach Mafsgabe des Art. 2 des Gesetzes vom 15. Juli 1877, Nr. 3961, 1
absolviert haben.
Den Kindern, welche zur Zeit des Erlasses dieses Gesetzes diese letzte Be*
dingung nicht erfüllt haben, wird eine dreijährige Periode, um dieselbe sich anzu-
eignen gestattet.
Der amtliche Arzt (ufficiale sanitario) der Gemeinde soll, ohne Entgeh
seitens des Arbeiters, die ärztliche Prüfung leisten und das Zeugnis im Arbeits-
buche nicderschrciben.
Die zufälligen Kosten der ersten, so wie der weiteren ärztlichen Prüfungen
sollen die Gemeinden tragen. Die Verordnung wird, in welchen Fällen die ärzt-
liche Prüfung wiederholt sein soll, bestimmen.
Das Arbeitsbuch, das ärztliche Zeugnis, das Geburtszeugnis und alle zur Er-
langung derselben nötigen Urkunden sind stcmpelfrei.
Art. 3. Wer bei von diesem Gesetze und der Ausführungs -Verordnung be-
zcichnctcn Arbeiten Frauen jedes Alters und Kinder, die noch nicht das 15. Alters-
jahr vollendet haben, beschäftigt, soll jedes Jahr, in den von der Ausführungs -Ver-
ordnung bestimmten Formen und Zeit, davon regclmäfsige Ankündigung abgeben.
Man soll auch, im Laufe des Jahres, jede Veränderung wegen dauernder Auf-
hebung der Arbeiten, Wechsels der Firma, Einführung von mechanischen Trieb-
kräften, oder anderer von der Verordnung vorausgesehenen Ursachen, anzeigen. Die
Ankündigung soll in doppeltem F.xcmplar bei der Präfektur der Provinz, wo der
Betrieb seinen Sitz hat, statlhnden ; die Präfektur soll sogleich dieselbe dem
Ministerium für Ackerbau, Gewerbe und Handel übersenden und ein Register mit
den aus den Ankündigungen gezogenen Notizen führen.
Die Eigentümer von Betrieben, welche von diesem Gesetze betroffen sind,
sollen, binnen 6 Monaten nach dem Inkrafttreten desselben und unbeachtet der
früheren auf Grund des Gesetzes vom 11. Februar 1886, Nr. 3657, und der Ver-
ordnung vom 17. September 1886, Nr. 4082,*) gemachten Ankündigungen, eine
neue Ankündigung abgeben.
Art. 4. Mit königlichem Dekret, nach Anhörung des oberen Beirates für Ge-
sundheitswesen und des Beirates lür Gewerbe und Handel, sollen die gefährlichen
oder ungesunden, den Kindern beider Geschlechter, welche das 15. Altersjahr noch
nicht zurückgelegt haben, und den minderjährigen Frauen verbotenen Arbeiten be-
stimmt werden.
Auf gleicher Weise, aber als Ausnahmefälle, sollen jene gefährlichen oder un-
gesunden Arbeiten, zu welchen die Kinder vor der Vollendung des 15. Altersjahres
und die minderjährigen Frauen, aber mit den nötig anerkannten Vorsicbtsmafsregcln
und Bedingungen, zugelassen sein können, bestimmt werden.
Art. 5. Die Nachtarbeit ist den Männern vor der Vollendung des 15. Alters-
jahrs und den minderjährigen Frauen verboten. Doch können die Frauen, welche
*) Den obligatorischen Elementarunterricht betreffend.
*) D. h. das frühere Gesetz und die frühere Verordnung, die Kinderarbeit
betreffend.
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Gesetz vom 19. Juni 1902, Nr. 242. Die Frauen- und Kinderarbeit betr.
das 15. Altersjahr schon zurückgelcgt haben, in jenen gewerblichen Anstalten,
Brüchen oder Bergwerken, wo sie zur Zeit des Erlasses dieses Gesetzes schon be-
schäftigt sind, bleiben.
Fünf Jahre nach dem Erlasse dieses Gesetzes wird die Nachtarbeit den Frauen
jedes Alters verboten sein.
Während dieser fünf Jahre sollen die in Nachtarbeit beschäftigten Frauen jedes
Alters mit dem Arbeitsbuche nach den Bestimmungen des Art. 2 versehen sein.
Der Minister für Ackerbau, Gewerbe und Handel ist ermächtigt, während drei
Jahre nach dein Erlasse dieses Gesetzes, mit Zustimmung des provinzialen Beirates
für Gesundheitswesen, zu gestatten, dafs an Stelle der gegenwärtig in gewerblichen
Anstalten beschäftigten minderjährigen Frauen andere minderjährige Frauen mit
vollendetem 15. Altersjahre treten.
Als Nachtarbeit wird jene betrachtet, welche zwischen 20 und 6 Uhr vom
1. Oktober bis zum 3!. März, und zwischen 21 und 5 Uhr vom I. April bis zum
30. September stattfmdet. *)
Wo die Arbeit in zwei Arbcitcrschichtcn verteilt ist, kann sie um 3 Uhr be-
ginnen und bis 23 Uhr dauern.
Der Minister für Ackerbau, Gewerbe und Handel ist ermächtigt, mit Zu-
stimmung des provinzialen Beirates für Gesundheitswesen, die obengenannten Grenzen
der Nachtarbeit in den Ortschaften, wo cs für besondere Zustände von Klima und
Arbeit nötig wird, zu verändern.
Art. 6. Die Wöchnerinnen können regelmäfsig nur nach einem Monate nach
der Entbindung beschäftigt werden ; früher nur in Ausnahmefällcn, aber jedenfalls
nur wenigstens nach drei Wochen, w’enn aus einem Zeugnis des Gesundheitsamtes
der Gemeinde, wo sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, erhellt, dafs ihr Ge-
sundheitszustand ihnen erlaubt, die von ihnen gesuchte Arbeit ohne Schaden zu
verrichten.
Art. 7. Die Kinder beider Geschlechter, welche das 10., aber noch nicht das
12. Altersjahr vollendet haben, können nicht mehr als 8 Stunden in den 24 des
Tages beschäftigt werden ; ebenso nicht mehr als 1 1 Stunden die Kinder beider
Geschlechter vom 12. bis zum 15. vollendeten Altersjahrc, und nicht mehr als 12
Stunden die Frauen jedes Alters.
Der Minister für Ackerbau, Gewerbe und Handel kann zeitlich und ausnahms-
weise, nach Anhörung des provinzialen Beirates für Gesundheitswesen, gestatten, dafs
die tägliche Arbeitszeit der Kinder zwischen dem 12. und dem 15. vollendeten
Altersjahre bis zum Maximum von 1 2 Stunden, wenn cs aus technischen und öko-
nomischen Rücksichten nötig ist, verlängert werde.
Art. 8. Die Arbeit der Kinder und der Frauen jedes Alters soll von einer
oder mehreren Ruhepausen unterbrochen werden : diese sollen im ganzen mindestens
eine Stunde dauern, wenn die Arbeit 6, aber nicht 8 Stunden übersteigt, mindestens
anderthalb Stunden, wenn die Arbeit 8, aber nicht 1 1 Stunden übersteigt, und
2 Stunden, wenn die Arbeit 1 1 Stunden übersteigt.
*) S. die betreffende Anmerkung in der Einleitung.
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576
Gesetzgebung : Italien.
In keinem Falle kann die Arbeit der Kinder und der minderjährigen Frauen
mehr als 6 Stunden ohne Unterbrechung dauern.
Art. 9. Den Frauen jedes Alters und den Kindern bis zum 15. vollendeten
Altcrsjahrc soll wöchentlich ein ganzer Ruhetag (24 Stunden) gestattet werden.
Art. 10. Mit Vorbehalt der Bestimmungen anderer Gesetze und Verordnungen,
sollen die Eigentümer, Verwalter, Direktoren, Unternehmer und Submittenten, welche
Kinder oder Frauen jedes Alters beschäftigen, in den Arbeits- und zugehörigen
Räumen, sowie in den Schlaf-, Säuge- und Efszimmern die nötigen Vorkehrungen
zum Schutz der Hygiene, der Sicherheit und der Sittlichkeit, nach den Bestimmungen
der Verordnung ergreifen und ausführen lassen.'
Man soll in den Fabriken, wo Frauen beschäftigt sind, das Säugen der Kinder
in einem besonderen, der Fabrik zugehörigen Zimmer erlauben, oder den nährenden
Frauen gestatten, sich von der Fabrik zeitlich zu entfernen, alles in der Art und in
den Stunden, welche das innere Fabrikreglement bestimmen wird und unbeschadet
der vom Art. 8 vorgeschriebenen Ruhepausen.
Das besondere Säugezimraer soll immer in den Fabriken, wo wenigstens
fünfzig Arbeiterinnen beschäftigt sind, bestehen.
Art. II. Die inneren Reglements der von diesem Gesetze betroffenen Betriebe
sollen den Bestimmungen desselben und der vom Art. 15 vorgesehenen Ausführungs-
verordnung entsprechen, mit der Visa des Bürgermeisters, als Zeichen ihrer Rechts-
gültigkeit, versehen und an einem Platze ausgehängt sein, wo die Lektüre den
Interessenten und den im nächsten Artikel bezeichnetcn Behörden leicht wird.
Art. 12. Die Ausführung dieses Gesetzes steht dem Ministerium für Ackerbau,
Gewerbe und Handel zu, welches die nötige Aufsicht durch die Gewerbeinspektoren,
die Ingenieure und Hilfsingenieure der Bergwerke und die Behörden der gericht-
lichen Polizei ausübt.
Die mit dem Aufsichtsdienst beauftragten Personen haben freien Eintritt in die
gewerblichen Anstalten, Bergwerke, Brüche und Tunnels, und bestätigen die Ueber-
tretungen der Bestimmungen dieses Gesetzes und der AusfUhrungs -Verordnung.
Die betreffenden Aktenstücke werden sofort den zuständigen gerichtlichen Be-
hörden übermittelt.
Auch eine Abschreibung soll der örtlichen Präfektur zur Kenntnisnahme mit-
geteilt werden.
Auf die genannten Personen sind die im dritten Satze des Art. 5 des Gesetzes
vom 17. März 1898, Nr. 80, enthalten, die Enthüllung von geheimen Fabrikations-
prozessen betreffenden Bestimmungen anwendbar. *)
*) Dieser Satz lautet : „Alle die mit Inspektionen beauftragten Personen ....
sollen, soweit es möglich ist, sich enthalten, die geheimen Fabrikationsprozesse zu
untersuchen, und stets über diejenigen Verschwiegenheit beobachten, welche in der
Ausübung ihres Amtes ihnen bekannt geworden sind ; widrigenfalls unterliegen sie
einer Bufsc von 500 bis 1000 Franken, und aufserdem dem Schadenersätze und, im
Falle eines beabsichtigten Verrats, den ira Art. 298 des Strafgesetzbuches ange-
drohten Strafen.“
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Gesetz vom 19. Juni 1902, Nr. 242. Die Frauen und Kinderarbeit betr. 577
Art. 13. Die zur Beobachtung der in den ersten neun Artikeln dieses Gesetzes
enthaltenen Bestimmungen verpflichteten Personen, welche dieselben übertreten, sind
mit einer Bufse bis 50 Franken fUr jeden beschäftigten und von der Ucbertretung
betroffenen Arbeiter strafbar; die Bufse kann nie den Gesamtbetrag von 5000 Franken
übersteigen.
Die Bufse für Ucbertretungen der Artikel 10 und ll kann 50 bis 500 Franken
betragen.
Die Ucbertretungen der Bestimmungen der vom Art. 15 vorgesehenen Aus-
führungs-Verordnung können mit einer Bufse bis zu 50 Franken strafbar erklärt
werden.
Im Rückfall wird die Bufse von einem Sechstel bis zu einem Drittel erhöht.
Die aus den Bufsen herrührenden Summen fallen zur mit dem Gesetze vom
17. Juli 1898, Nr. 350, errichteten National • Versorgungskasse für die Invalidität und
das Alter der Arbeiter *) heim.
Art. 14 Für die nur mit einer Bufse bestraften Uebcrtretungen kann der An-
geklagte den Prozefs auf neben, wenn er vor dem Beginn der öffentlichen Verhand-
lung, aufser den Prozefskostcn, eine Summe, welche dem Maximum der für die be-
gangene Ucbertretung bedrohten Bufse entspricht, bezahlt.
Art. 15. Binnen sechs Monaten nach Veröffentlichung dieses Gesetzes in der
offiziellen Zeitung des Königreichs wird, nach Anhörung des Staatsrates, des oberen
Beirates für Gesundheitswesen und des Beirates für Gewerbe und Handel, eine
durch königliches Dekret bestätigte Verordnung die Normen zur Ausführung des-
selben feststellen. Das Gesetz wird vier Monate nach der Veröffentlichung der Aus-
führungs-Verordnung in Kraft treten.
Die weiteren Veränderungen der AusfÜhrungs -Verordnung werden auch vier
Monate nach ihrer Veröffentlichung in Kraft treten.
Art. 16. Alle diesem Gesetze widrige Bestimmungen sind und bleiben auf-
gehoben.
Wir verordnen, dafs das vorliegende Gesetz, mit dem Staatsinsicgcl versehen,
jn die amtliche Sammlung der Gesetze und Verordnungen des Königreichs Italien
aufgenommen werde und verfügen, dafs jedermann, den cs angeht, es als Staatsgesetz
befolge und zur Befolgung bringe.
Gegeben Rom, den 19. Juni 1902.
Viktor Emmanuel.
G. Baccelli.
*) S. das jetzt geltende Gesetz in diesem Archiv, Band XVII, S. 195 ff.
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VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA.
Die amerikanische Arbeitergesetzgebung
des Jahres 1902.
Von
Dr. jur. CHARLES HENRY HUBERICH,
Dozent der Rechte an der Universität von Texas (Austin).
In zwiefacher Hinsicht ist die amerikanische Arbeitergesetz-
gebung des vergangenen Jahres eine interessante. Erstens zeigt sie
den Anfang der gesetzlichen Regelung der Kinderarbeit in den
südlichen Bundesstaaten, und zweitens den Beginn eines Unfall-
versicherungssystems. Andererseits ist es beachtenswert, dafs, trotz
der Arbeitcrunruhen, auf dem Gebiete der Gesetzgebung, Strikes
und Aussperrungen betreffend, nur eine unwesentliche Veränderung
in Massachusetts über Schiedsverfahren zustande kam.
Während der Unruhen in den Kohlenminendistrikten von
Pennsylvania wurde in diesem Staat die Annahme eines den Ge-
setzen von Neuseeland und New South Wales ähnlichen Zwang-
schiedsverfahrens von vielen Seiten beantragt. Das unmittelbare
Bedürfnis nach solcher Gesetzgebung wurde durch die vom Präsident
Roosevclt vcranlafste Einsetzung der Anthracitkohlenstrikckommission
beseitigt, und kein anderer Staat hat bis jetzt das Experiment ge-
wagt. Angesichts der wohlbekannten Opposition der Gewerkvereine
gegen solche Gesetzgebung ist deren Annahme kaum zu erwarten.
Inbezug auf diese Frage sprechen die Mitglieder der obenerwähnten
Kommission in ihren dem Präsidenten am 23. März 1903 vorge-
legtcn Bericht sich folgendermafsen aus: „Wir können solche
drastische Mafsregel nicht empfehlen. Wir glauben, dals in den
Vereinigten Staaten ein solches System weder Anklang finden noch
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Ch. H. Hubcrich, Die amerikan. Arbeitergesetzgebung des Jahres tgo2. ^jg
erfolgreich sein würde. . . . Unsere Industrien sind zu ausgedehnt
und zu verwickelt, um eine praktische Anwendung solches Systems
zu erlauben.“
An Stelle solcher Zwangschiedsverfahren befürwortet die Anthra-
citkohlenstrikekommission amtliche Untersuchung aller Arbeiter-
streitigkeiten. Ein Entwurf eines Bundesgesetzes wurde durch
Mr. Charles Francis Adams der American Civic Federation im
Dezember 1902 vorgelegt. Dadurch ist der Bundespräsident be-
fugt, in allen Fällen, wo durch die Streitigkeit der Geschäftsverkehr
zwischen den verschiedenen Bundesstaaten oder zwischen den Ver-
einigten Staaten und dem Auslande gehindert wird, eine Kom-
mission einzusetzen, um die Thatsachen der Kontroverse fest-
zustellen. Solche Gesetze bestehen bereits in einigen Staaten der
Union.
Die Entwicklung des Fabriksystems in den südlichen Bundes-
staaten bringt daselbst die Frage der Einführung einer adäquaten
Gesetzgebung in den Vordergrund. Die zunächst zu lösende Frage
ist die der Regelung der Kinderarbeit. Die Zahl der jugendlichen
Angestellten ist eine gewaltige. Der Arbeitskommissär von North
Carolina berichtet, dal's 7600 Kinder unter 14 Jahren in den
Fabriken dieses Staates angestellt sind : der Verfasser eines Auf-
satzes in den Annals of the American Academy1) veran-
schlagt die Zahl der in den Staaten North Carolina, South Carolina,
Georgia, Alabama, und Mississippi in der Baumwollenmanufaktur
angestellten Arbeiter unter 14 Jahren auf 22000 aus einer Gesamt-
zahl von 88 829 Personen, die in dieser Industrie beschäftigt werden.
Stark bekämpft wird die Annahme der Gesetze, die die Ein-
schränkung dieser Arbeit bewirken sollen, doch zeigt die Gesetz-
gebung der Jahre 1902 und 1903 deutlich den Sieg der Reform-
bewegung. Im crstcren Jahr erstreckte sich die Bewegung auf die
Staaten Kentucky, Louisiana und Maryland.
In Kentucky ist durch Gesetz vom 12. März die Arbeit von
Kindern unter 14 Jahren in Fabriken, Werkstätten und Minen
untersagt. Arbeitgeber, die nicht selbst das genaue Alter ihrer
minderjährigen Angestellten kennen, müssen sich ein diesbezügliches
Attest seitens der Eltern oder des Vormundes ausstellen lassen.
l) Hayes Kob l>i ns, „The nccessity for factory legislation in the South, in
Annals of the American Academy of Political and Social Scienc e.“
lld. XX, S. 1S4.
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580
Gesetzgebung: Vereinigte Staaten von Amerika.
Auf Bewilligung der Eltern, bezw. des Vormundes, und des Graf-
schaftsrichters, genehmigt durch den Grafschaftsanwalt, darf ein
Kind, welches noch nicht das gesetzliche Alter erreicht hat, ange-
stellt werden.
Das Gesetz Louisianas vom 24. Juli (amendierend Acts of 1886,
Cap. 43, § 4) beschränkt die Arbeitszeit jugendlicher Personen unter
18 Jahren und Frauen in Fabriken, Werkstätten, Warenlagern,
Kleider- und Putzmacherateliers, Telephon - und Telegraphen-
bureaus (die lerzten beiden neu) auf 60 Stunden pro Woche,
oder durchschnittlich 10 Stunden pro Tag, inklusive eine Stunde
zum Mittagessen.
Maryland (Gesetz vom II. April, das Gesetz von 1894, Cap.
317 amendierend) verbietet die Anstellung von Kindern unter 14
(früher 12) Jahren in Fabrikbetrieben, ausgenommen in Fabriken
zur Herstellung verlöteter Waren, Wo jedoch das Kind die Stütze
der Eltern ist oder sich selbst zu unterhalten hat, kann von der
Anwendung dieses Gesetzes Abstand genommen werden. Auch
hat das Gesetz keine Geltung in den Grafschaften Frederick,
Washington, Queen Anne, Carroll, Wicomico, Caroline, Kent,
Somerset, Cecil, Calvert, St. Mary, Prince George, Howard, Balti-
more, Worcester, Garrett, Talbot, Montgomery und Harford. ')
Das Rhode Island Gesetz vom 4. April (amendierend General
[.aws of 1896, Cap. 198, § 22) setzt die Maximalarbeitszeit von
Minderjährigen unter 16 Jahren und Frauen in Fabriken und
Werkstätten (letzteres neu) auf 58 (früher 60) Stunden pro
Woche und 10 Stunden pro 'Pag fest, ausgenommen wo die Stunden
pro Tag erhöht werden, um einen kürzeren Arbeitstag an einem
Tage der Woche festzusetzen, oder wo Reparaturen nötig sind,
um P’instellung des Betriebes zu vermeiden. Ein anderes Gesetz
desselben Staates vom gleichen Datum (amendierend General Laws
of 1896, Cap. 64) verbietet die Anstellung eines Kindes unter
13 Jahren in irgend welcher Beschäftigung, ausgenommen während
der Ferienzeit der öffentlichen Schulen in dessen W'ohnort. Ferner
soll kein Kind unter 15 Jahren angestellt werden ohne Vorzeigung
einer Bescheinigung des Schulkomitees des Wohnsitzes des Kindes,
worin der Name, Geburtsort, Geburtstag, und Name und Wohnsitz
derjenigen Person, die die Obhut des Kindes hat, angegeben sind.
*) Acts of 1892, Cap. 443 beschränkt die Arbeitszeit von Kindern unter
16 Jahren in Fabriken, oder in Kaufläden, in der Stadt Baltimore auf 10 Stunden
pro Tag.
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Ch. H. Hubcrich, Die amerikan. Arbeitergesetzgebung des Jahres 1902. 581
Das Ohio-Gesetz vom 12. Mai (amendierend Revised Statutes
§§ 4364—66, 6986 — 88) bestimmt, dass die Arbeitszeit von Ange-
stellten unter 18 Jahren in Fabriken, Werkstätten und Kaufläden
10 Stunden pro Tag oder 55 Stunden pro Woche nicht übersteigen
darf. Solchen Arbeitern mufs ferner eine Mittagsruhe von nicht
weniger als 30 Minuten gewährt werden, doch soll diese Zeit nicht
als ein Teil der gesetzlichen Maximalarbeitszeit berechnet werden.
Arbeitsverträge mit Minderjährigen müssen genau den verabredeten
Lohn angeben, und mufs dem Arbeiter ein Memorandum davon
überliefert werden. Änderungen des Lohnes minderjähriger Arbeiter
müssen mindestens 24 Stunden vor dem Inkrafttreten des neuen
Lohnmafses angekündigt werden. Kein Knabe unter 16 Jahren
und kein Mädchen unter 18 Jahren darf in den Stunden zwischen
7 Uhr abends und 6 Uhr morgens arbeiten. Kein Kind unter
14 (früher 13) Jahren soll überhaupt in einer Fabrik, Werkstätte
oder Kaufladen beschäftigt werden : noch soll solches Kind während
der Schulzeit der öffentlichen Schulen in irgend einer anderen
Weise thätig sein. Jede Person, die Arbeiter unter 18 Jahren be-
schäftigt, mufs ein Register führen, worin der Name, Geburtsort,
Alter und Wohnsitz des Angestellten bezeichnet ist.
Maryland (Gesetz vom 8. April) verbietet die Arbeit von Per-
sonen unter 16 Jahren in Brauereien, in der Herstellung von
alkoholischen Getränken und in Schankwirtschaften. Massachusetts
verbietet die Anstellung von Personen unter 16 Jahren in Betrieben
von Personen- oder Frachtaufzügen irgend einer Art, und die An-
stellung von Personen unter 18 Jahren, wo solche Aufzüge eine
Schnelligkeit von mehr als 100 Fufs pro Minute besitzen (Gesetz
vom 29. April). Iowa (Gesetz vom 11. April) verbietet die Be-
schäftigung von Personen unter 16 Jahren bei gefährlichen Ma-
schinerien und die Reinigung von Maschinen während sie im Gange
sind, durch männliche Personen unter 16 Jahren und weibliche
Personen unter 18 Jahren. Rhode Island (Gesetz vom 3. April)
verbietet die Anstellung von Personen unter 18 Jahren in dem Be-
trieb von Personen- oder Frachtaufzügen in Fabriken und Werk-
stätten. Porto Rico (Gesetz vom 25. Februar) setzt die Maximal-
arbeitszeit der Angestellten unter 16 Jahren, in Fabriken auf
6 Stunden pro Tag — wovon 3 Stunden Arbeit morgens und
3 Stunden nachmittags verrichtet werden soll, — fest.
Im Gebiete der Haftpflichtgesetzgebung hat das Jahr 1902 die
interessantesten Neuerungen aufzuweisen. Haftpflichtgesetze wurden
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582
Gesetzgebung : Vereinigte Staaten von Amerika.
erlassen in den Staaten New -York, Virginia, Ohio, Porto Rico
und Maryland. Die ersten vier Gesetze sind lediglich auf das
common law basiert und schliefsen sich der neueren Gesetz-
gebung in den anderen Bundesstaaten an. Das Gesetz Marylands
jedoch ist eine teilweise Verwerfung der Theorie des common
law, wonach die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für Betriebs-
unfälle nur dann begründet ist, wo solche Unfälle unmittelbar durch
eine culpose Handlung oder Unterlassung (Nachlässigkeit, Fahr-
lässigkeit) des Betriebsherrn verursacht wurden.
Das Gesetz von New -York, angenommen am 15. April, be-
zeichnet den Sieg nach langjährigem Kampfe der Arbeiterorgani-
sationen um eine statutarische Regelung der Haftpflicht der Arbeit-
geber zu erlangen. ') Die Bestimmungen des Gesetzes sind wie folgt :
„Art. 1. Wenn nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (1. Juli)
Körperverletzungen einem Angestellten, der zur Zeit des Unfalles
selbst gehörige Vorsicht und Sorgfalt ausübte, zugefügt sind :
„I. Durch einen Mangel im Zustande des mit dem Geschäfte
des Arbeitgebers in Verbindung stehenden oder darin befindlichen
Arbeitsplatzes, der Werkzeuge oder Maschinen, falls solcher
Mangel, oder dessen Nichtbemerkung oder Nichtabänderung der
Nachlässigkeit des Arbeitgebers oder einer in dessen Diensten
stehenden und durch ihn mit der Pflicht der Inspektion des Arbeits-
platzes, der Werkzeuge und Maschinen betrauten Person, zuzu-
schreiben ist.
„2. Durch die Nachlässigkeit einer im Dienste des Arbeitgebers
stehenden, mit der Oberaufsicht betrauten und Oberaufsicht aus-
übenden Person, deren alleinige oder hauptsächliche Pflicht solche
Aufsicht ist; oder, in der Abwesenheit dieser Person, durch die
Nachlässigkeit einer anderen, mit Genehmigung des Arbeitgebers
solche Oberaufsicht ausübender Person,“ so besitzt der Verletzte,
bezw. im Todesfälle dessen Verwandte, dieselben Klagcrechte, als
ob er nicht im Dienste des Beklagten gestanden hätte.
Art. 2. Schriftliche Anzeige der Zeit und Ursache des Unfalles
mufs dem Arbeitgeber innerhalb 120 Tagen, berechnet vom Tage
des Unfalles an, gemacht werden, und die Klage muls innerhalb
eines Jahres erfolgt sein.
Art. 3. Die von dem Angestellten selbst übernommenen
Risikos sind beschränkt auf die notwendigen Gefahren, d. h.
*) Vgl. meinen Bericht für 190t in dieser Zeitschrift, Bd. XVII S. 427.
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Ch. H. Hubcrich, Die amerikan. Arbcitergeselagebung des Jahres 1902.
solche Gefahren, die aus der Natur der Beschäftigung entspringen.
Die alleinige Thatsache, dafe der Angestellte nach Entdeckung einer
Gefahr im Dienste des Arbeitgebers verblieb, soll nicht bedeuten,
dafs der Angestellte auch alle daraus entspringenden Risikos über-
nahm. Doch mufs er den Arbeitgeber von solchen Mängeln oder
Gefahren benachrichtigen, ausgenommen in Fällen, wo diesem
schon von anderer Seite Kunde davon gemacht ist, widrigenfalls die
Klage abzuweisen ist.
Art. 5. Das Gesetz ist alternativ: alle anderen Verfahren
bleiben dem Kläger offen.
Das Ohio-Gesetz vom 4. April lautet wie folgt :
„Der Arbeitgeber haftet für Schadenersatz für Verletzungen,
die seinem Angestellten, der zur Zeit des Unfalles selbst mit ge-
höriger Sorgfalt der Ausübung seiner Pflichten nachging, durch
Mängel in 'dem Zustande der in dem Betriebe des Arbeitgebers
verwandten Maschinen oder Werkzeugen zustiefsen, wenn solche
Mängel oder deren Nichtbemerkung oder Nichtabänderung cler Nach-
lässigkeit des Arbeitgebers oder einer in dessen Diensten stehenden
und durch den Arbeitgeber mit der Pflicht der Inspektion, Reparatur
und Beaufsichtigung der Maschinen oder Werkzeuge betrauten
Personen, zuzuschreiben sind.“ Dieses neue Gesetz ist allgemein
abgefafst und bezieht sich äuf alle Beschäftigungen : das alte Gesetz
war beschränkt auf Eisenbahnangestcllte.
Die am 10. Juli in Kraft getretene Verfassung des Staates
Virginia, und das Gesetz vom 2 7. März setzen die Verantwortlich-
keit der Eisenbahngesellschaften für die im Betriebe verletzten An-
gestellten in allen Fällen fest, wo solche Verletzung der Schuld
eines im Dienstrang über dem Verletzten stehenden Vertreters oder
Beamten der Gesellschaft, oder einer Person, welche das Recht der
Kontrolle über den Verletzten hatte, oder der Nachlässigkeit eines
in einem anderen Arbeitsdepartement, als dasjenige des Verletzten,
beschäftigten Mitarbeiters, oder der Nachlässigkeit eines auf einem
anderen Zuge beschäftigten Mitarbeiters, oder einer Person, die mit
der Weichenstellung, dem Signalgeben, der Führung einer Loko-
motive, der Beförderung von Zügen oder Sendung von tele-
graphischen oder telephonischen Befehlen betraut ist, zuzuschreiben
ist Die alleinige Thatsache, dals der Verletzte den unsicheren Zu-
stand oder die Mängel der Maschinen, Arbeitsstätten, Geräte oder
Bauten kannte, soll nicht an und für sich die Schadensersatzpflicht
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584
Gesetzgebung: Vereinigte Staaten von Amerika.
des Arbeitgebers verringern. Alle Verträge, die eine andere Haft-
pflicht aufstellen, sind nichtig erklärt.
Das Haftpflichtgesetz Porto Ricos (Gesetz vom 1. März) folgt
im wesentlichen den Bestimmungen des englischen Employers’
Liability Act. 1880. Abweichend vom letzteren bestimmt es jedoch,
dafs die Ausführung einer Arbeit durch Nebenunternehmer (inde-
pendent contractors) die Verantwortlichkeit des Hauptunternehmers
für Mängel in den durch diesen gelieferten Bctricbsanlagen nicht
verringern soll. Der Maximalbetrag der Schadenersatzsumme bei
Verletzungen ist 5 2000, bei Todesfällen $ 3000.
Das Haftpflichtgesetz von Maryland vom I. April enthält die
folgenden Bestimmungen :
„Art. I. Jede Korporation, Firma, Gesellschaft oder Person,
welche im Betriebe einer Kohlen- oder Thonmine, Steinbruch, einer
Dampf- oder Strafseneisenbahn innerhalb des Staates Maryland, und
jede incorporierte Stadt, Gemeinde oder Grafschaft im Staate,
welche im Sielenbau, Ausgrabungen oder anderen Bauten beschäftigt
ist, oder die Bauunternehmer solcher Arbeiten für benannte Städte,
Gemeinden oder Grafschaften, sollen gegenüber jedem in oben-
genannten Beschäftigungen Angestellten Arbeiter, oder im Todes-
fall seiner Frau (bezw. ihrem Mann, wo die Getötete eine ver-
heiratete Frau war) oder seinen (bezw. ihren) Eltern oder Kindern,
gemäfs Code of Public Laws, Art. 67, § 2 für allen aus der Ver-
letzung oder dem Tode des angestellten verursuchten Schaden ver-
antworlich sein, in allen Fällen, wo solcher Todesfall oder solche
Verletzung durch die Nachlässigkeit des Arbeitgebers oder eines
Arbeiters oder Angestellten des Arbeitgebers verursacht wurde.
Wo es erwiesen wird, dafs solche Verletzung oder solcher Tod
durch die gemeinsame Nachlässigkeit des Arbeitgebers, seiner
Arbeiter oder Angestellten einerseits und die Nachlässigkeit des
Verletzten, bezw. Getöteten, andererseits verursacht wurde, soll der
Arbeitgeber für die Hälfte des aus der Verletzung oder aus dem
Todesfälle fliefsenden Schadens haftbar sein.“
„Art. 2. Die durch die vorhergehenden Paragraphen festgestellte
Schadenersatzpflicht kommt dann in Fortfall, wenn der Arbeitgeber,
die Stadt, die Gemeinde oder Grafschaft (oder deren Bauunter-
nehmer, die folgenden Summen Geldes auf ein Jahr berechnet, im
voraus in monatlichen Zahlungen dem Versicherungskommissär
auszahlen:
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Ch. H. Huberich, Die amcrikan. Arbeitergesetzgebung des Jahres 1902. 585
1. In Kohlen- oder Thonminenbetrieben und Stein-
brüchen, für jeden Angestellten $ 1,80
2. In Dampfeisenbahnbetrieb 3,00
3. Strafseneisenbahnbetrieb 0,60
4. Sielenbau, Ausgrabungen und anderen Bauten
seitens der Munizipalbehörden . . . Nach Bestimmung des
Staatsversicherungskommissärs.“
Die zu zahlende Summe darf zur Hälfte dem Lohn des An-
gestellten abgezogen werden, vorausgesetzt dafs eine dahinlautende
Vereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer
besteht. Die Fonds sollen vom Versichcrungskommissär verwaltet
werden, und daraus sollen für jeden Todesfall, der innerhalb eines
Jahres vom Tage des Unfalles stattfindet, den Hinterbliebenen des
Verunglückten die Summe von 9 TOOO ausgezahlt werden.
Dem Versicherungskommissär ist das Recht eingeräumt, die
nötigen Reglements zur Ausführung des Gesetzes zu erlassen.
Ferner ist derselbe befugt, die Anwendung des Gesetzes auf andere,
nicht im oben angeführten ersten Paragraphen genannte Betriebe,
unter Festsetzung der zu zahlenden Prämie, zu erweitern. Auch
darf er die im obigen 2. Paragraphen festgesetzten Prämien ändern,
falls sie nicht im richtigen Verhältnis zu dem Risiko stehen.
Wo ein Arbeitgeber nach amtlicher Untersuchung fcststellt,
dafs er im ganzen genommen seinen Angestellten durch Unfall-,
Alters- oder Krankenversicherung einen besseren Schutz gewährt
als den durch das Gesetz vorgeschriebenen, so kann derselbe von
der Befolgung dieses Gesetzes entbunden werden.
Ein ähnlich lautendes Gesetz, das auf die Kohlen- und Thon-
minenbetriebe der Grafschaften Allegheny und Garrett beschränkt
ist, wurde in demselben Staate am 8. April angenommen. Der
einzige wesentliche Unterschied liegt in der Berechnung des Schaden-
ersatzes: wenn es festgestellt ist, dafs der Unfall z. T. der Nach-
lässigkeit des Verletzten zuzuschreiben ist, soll der Schaden nicht
zur Hälfte, sondern im Verhältnis zur Gröfse der Nachlässigkeit
durch den Verletzten getragen werden.
Der Hauptfehler dieser Gesetze von Maryland ist, dafs die Ver-
sicherungsklauseln nur Anwendung finden im Fall des Todes (inner-
halb eines Jahres) des Angestellten. Jedoch sind sie vielleicht der
Anfang einer unzweifelhaft notwendigen radikalen Abänderung der
amerikanischen Haftpflichtgesetzgebung. Augenblicklich findet das
Gesetz nur Anwendung auf ungefähr 15000 Arbeiter. .
Archiv für sor. Gesetzgebung u. Statistik, XVIII. 3®
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586
Gesetzgebung: Vereinigte Staaten von Amerika.
In Colorado wurde die im Jahre 1901 den Wählern unter-
breiteten Verfassungsänderung, wodurch der Landtag befugt ist, die
Arbeitszeit der in Bergwerken und anderen unterirdischen Arbeiten,
oder bei Hochöfen, Schmelzöfen oder anderen Erzreduzierwerken,
oder in anderen der Gesundheit schädlichen, oder dem Leben oder
den Gliedern gefährlichen Industrien Angestellten, auf 8 Stunden
festzusetzen, im November 1902, angenommen. l)
In California wurde gleichfalls, im November 1902, ein Ver-
fassungsgesetz, wodurch ein 8 stiindiger Arbeitstag für die an öffent-
lichen Arbeiten beschäftigten Personen angesetzt ist, angenommen.
Porto Rico (Gesetz vom I. März) setzt ebenfalls einen 8 ständigen
Arbeitstag bei öffentlichen Arbeiten fest.
In New -York wurde ein Gesetz angenommen (27. März) zur
Abänderung der Staatsverfassung, um den Landtag die Befugnis zu
erteilen, die Arbeitszeit, Löhne und andere Arbeitsbedingungen bei
öffentlichen Arbeiten zu regeln. Dieses Gesetz muls wiederum von
den I Landtagen 1903 oder 1904 angenommen, und dann den Wählern
zur Abstimmung unterbreitet werden. Ein anderes Gesetz desselben
Staates (14. April) ermächtigt die New- Yorker Stadt- Wasscrleitungs-
koinmission in den durch sie eingegangenen Kontrakten zur Er-
richtung von Wasserreservoirs etc., einen 8stündigen Arbeitstag für
die an solchen Werken angestellten Arbeiter festzusetzen.
In Massachusetts sollen, laut Gesetz vom 19. Juni, der be-
stehenden Kommission zur Förderung einer gleichförmigen Gesetz-
gebung in den Vereinigten Staaten zwei weitere Kommissäre als
Vertreter von Manachusetts beigefügt werden, wovon einer das
Interesse der Arbeitgeber, der andere das Interesse der Arbeit-
nehmer vertreten soll, um u. a. die Einführung einer gleichförmigen
Gesetzgebung betreffend den 8 ständigen Arbeitstag in den ver-
schiedenen Bundesstaaten zu fördern. In demselben Staat wurde
eine Resolution von beiden Kammern des Landtages angenommen
(11. Februar), worin ein Amendement der Bundesverfassung vor-
geschlagen wird, um dem Kongrefs die Macht zur Erlassung eines
Gesetzes zur Feststellung der Arbeitsstunden in sämtlichen Bundes-
staaten zu erteilen. ')
Louisiana (amendierend Laws of 1886, CaP- 95» Art- 1 — 3) bat
durch Gesetz vom 8. Juli die Arbeitszeit der im Betrieb von Strafsen-
bahnen Angestellten auf höchstens 10 (früher 12) Stunden fest-
’) Siehe meinen Bericht in dieser Zeitschrift, Bd. XVII, S. 428.
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Ch. H. Iluberich, Die amerikan. Arbeitergesetzgebung des Jahres 1902. 587
gesetzt. Genannte io Stunden müssen ferner innerhalb 12 auf-
einanderfolgende Stunden verteilt sein. In Notfällen darf diese Ver-
ordnung bei Einwilligung des Angestellten und unter Vergütung
für Ueberstunden zeitweilig aufgehoben werden.
Rhode Island hat gleichfalls einen iostündigcn Arbeitstag
(solche Arbeit mufe innerhalb 1 2 aufeinanderfolgenden Stunden ver-
richtet sein) für Strafsenbahnangestellte bestimmt (Gesetz vom
4. April und 5. Dezember). Diese Arbeitszeit kann jedoch durch
Vertrag verändert werden, und hat ferner keine Anwendung an
Feiertagen und unter aufsergewöhnlichen Umständen, in welchen
beiden Fällen Extraarbeit unter Zahlung für Ueberstunden verrichtet
werden darf.
Das Gesetz Marylands vom 27. März betreffend die Heimarbeit
verbietet den Gebrauch eines Zimmers oder Räumlichkeiten in
einem Hause oder in einer Mietskaserne, seitens irgend einer Person
aufscr der darin wohnenden Familie (Mann, Frau, Kinder) zur Her-
stellung von Röcken, Westen, Hosen, Kniehosen, Oberhosen, Mänteln,
Hüten, Mützen, Kappen, Hosenträger, Wollwäsche, Blusen, Unter-
zeug, Oberwäsche, Pelze, Pelzbesatz, Pelzbezug, Hemden, Geldbörsen,
Federn, künstlichen Blumen, Cigaretten oder Cigarren. Der Ge-
brauch seitens der Familie ist erlaubt nur auf Genehmigung des
Chefs des Industrie -statistischen Bureaus, nach erfolgter Inspektion.
Solche Erlaubnis wird erteilt unter Feststellung der Maximumzahl
der in den Räumlichkeiten zu beschäftigenden Personen, und kann
zu irgend einer Zeit aus Sanitätsgründen zurückgezogen werden.
Personen, die die Fabrikation der obenerwähnten Gegenstände
durch solche Heimarbeiter betreiben, müssen ein Namenregister
solcher Angestellten führen, welches zu jeder Zeit zur Einsicht auf-
liegen soll, und wovon dem Chef des Industrie-statistischen Bureaus
eine Kopie geliefert werden mufs.
In New-Jersey (Gesetz vom 3. April) sind neue Verordnungen
über die Inspektion und Regelung der Einwohnerzahl in Miets-
kasernen zustande gekommen.
In Kentucky (21. März) wurde für Minenbetriebe eine halb-
monatliche Zahlungsperiode (am 15. und 30. eines jeden Monats)
angenommen. Der volle Betrag für alle bis zu 15 Tagen vor dem
betreffenden Zahlungstag verrichtete Arbeit mufs sodann in barem
Gelde ausgezahlt werden. Das Maryland-Gesetz vom II. April be-
stimmt einen monatlichen Zahlungstag (nicht später als den 10. jedes
Monats) für alle Lohnarbeiter in Fabriken, Bergwerken, Telegraphen-,
3»*
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588
Gesetzgebung: Vereinigte Staaten von Amerika.
Telephon- und Packetpostanstalten, auf Eisenbahnen und Straßen-
bahnen. Lohnzahlungen müssen für den vorhergehenden Monat in
gesetzlicher Münze bezahlt werden. Die 14 tägige Lohnzahlungs-
periode der Grafschaft Allegheny soll jedoch nicht durch dieses
Gesetz aufgehoben werden.
Das Fabrikgesetz Iowas vom 11. April verpflichtet Fabrik-
besitzer u. s. w. zur Anschaffung von Riemenleitrollen oder ähn-
lichen Vorrichtungen zur Werfung der Riemen auf die Riemen-
scheiben und zur Umfriedigung gefährlicher Maschinen: ferner zum
Gebrauch gehöriger Ventilatoren bei Polierarbeiten, um die Arbeiter
gegen Polierstaub zu schützen. Dasselbe Gesetz verordnet ferner
die Vorsehung von Fabriken, Werkstätten und Hotels mit einer
genügenden Anzahl von Toilettenzimmern und mit Separatzimmern
für weibliche Angestellte.
Das Gesetz vom 3. April des Staates Rhode Island betreffend
Personen- und Frachtaufzüge in Fabriken und Werkstätten, welche
einige Aenderungcn gegenüber dem alten Gesetze einfuhrt, erfordert,
dafs alle solche Aufzüge mit einem automatischen Signalapparat
versehen seien, wodurch in jedem Stockwerk angekündigt wird,
wenn immer solcher Aufzug in Bewegung ist; ferner daß alle
Oeffnungen für solche Aufzüge mit Gitterwerk umfriedigt seien, und
seien, und dafs die Aufzüge so eingerichtet seien, dafs sie nicht in
Bewegung gesetzt werden können bis alle zum Aufzug führende
Thüren und Oeffnungen geschlossen sind.
In South Carolina sollen elektrische Strafsenbahnwaggons
während der Monate Dezember bis März inkl. mit geschlossenen
Vorplätzen zum Schutz der Führer versehen sein (Gesetz vom
25. Februar).
Ein Gesetz Iowas vom n. April erfordert die Anstellung von
besonderen Arbeitern, die alle Sprengbohrlöcher vor der Ladung
zu inspizieren haben. Solche Arbeiter müssen eine vom Staats-
mineninspektor des betreffenden Distrikts ausgestellte Bescheinigung
ihrer Fähigkeiten vorweisen. Derselbe Staat verordnet die An-
bringung von Feuerleitern in allen Fabriken u. s. w. von drei oder
mehr Stockwerk Höhe (Gesetz vom 8. April).
Das Gesetz Ohios vom 29. April (Revised Statutes, 1900.
Art. 4238, s. 20, amendierend) bedingt die Anbringung eines Blend-
bodens (counter floor) im Bau eines jeden Hauses (früher eines
jeden Hauses von mehr als zwei Stockwerk).
Massachusetts erfordert von Fabrikbesitzern die Lieferung von
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Ch. H. Hubericb, Die amerikan. Arbeitergesetzgebung des Jahres 1902.
reinem Trinkwasser an ihre Angestellten. Solches Trinkwasser soll
den Arbeitern auch während der Arbeitszeit zugänglich sein (Gesetz
vom 18. April).
Im Gebiete der staatlichen Kontrole von Gewerben verordnet
Virginia (Gesetz vom 28. März) und Louisiana (Gesetz vom 3. Julii)
die Patentierung, nach erfolgtem Examen, der Bleigiefser; Ohio
(Gesetz vom 9. Mai) das der Hufschmiede. In letzterem Staat wurde
(13. März und 30. April) auch das Gesetz über das Staatsexamen
von Maschinenwärtern bei stehenden Dampfmaschinen einigen
Aenderungen unterworfen.
Zum Schutz der Ausübung der politischen Rechte dient
folgendes Gesetz von Massachusetts, angenommen am 8. Mai:
„Keine zu einer Wahl (früher Staatswahl) berechtigte Person
soll am Tage solcher Wahl in einer Fabrik, Werkstätte oder Kauf-
laden, ausgenommen solcher, die am Sonntage gesetzmäfsig be-
trieben werden können, während des Zeitraumes von zwei Stunden
nach Eröffnung der Wahlbureaus in dem Wahlbezirk oder der
Stadt, wo solche Person stimmberechtigt ist, beschäftigt werden“
(früher, „im Fall wo solche Person um Urlaub für solche Zeit-
periode gebeten hat").
In demselben Staat ist die Tragung oder Benützung der Ab-
zeichen, Bändern, Mitgliederrossetten oder Knöpfen einer Arbeiter-
vereinigung, soweit dieselben amtlich eingetragen sind, mit der Ab-
sicht als Mitglied solcher Vereinigung zu gelten, verboten (Gesetz
vom 3. Juni).
Das Massachusetts - Gesetz über das Staats-, Einigungs- und
Schiedsamt ist dahin amendiert, dafs besagtes Amt in Fall von
Arbeiterstreitigkeiten versuchen soll (früher darf), einen Ausgleich
oder die Ueberweisung an das Staatsamt zu bewirken (Gesetz vom
5. Juni).
Kentucky (Gesetz vom 17. März) verordnete die Ernennung
eines Arbeitsinspektors und eines Assistentarbeitsinspektors, denen
die Beaufsichtigung der Fabriken, Werkstätten und Maschinen über-
wiesen ist. Dem Arbeitsinspektor ist ferner die Sammlung der
Arbeiterstatistik des Staates übertragen. Ohio (Gesetz vom 12. Mai)
bestimmt die Anstellung eines Staatsinspektors der automatischen
Kuppelungsapparate und Luftbremsen bei Eisenbahnwaggons und
Lokomotiven. Es ist die Pflicht dieses Inspektors, sofortige Anzeige
etwaiger Mängel in diesen Apparaten an die betreffende Eisenbahn
zu machen. Nach erfolgte Anzeige mufs die Eisenbahn sofort die
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Gesetzgebung: Vereinigte Staaten von Amerika.
nötigen Reparaturen vornehmen und ist nach 24 Stunden für allen
darausfliefsenden Schaden verantwortlich. Durch Gesetze vom
2. und vom 10. Mai ist in demselben Staat verordnet, dafs Passagier-
und Frachtzüge nicht ohne genügende Mannschaft fahren dürfen.
In Massachusetts wurde die Eisenbahnkommission ersucht, im
Januar 1903 einen Bericht zu erstatten über die Möglichkeit der
Einführung billiger Morgen- und Abendzüge fiir die in der Nähe
der Stadt Boston wohnenden Arbeiter (Gesetz vom 6. Mai).
In Maryland ist dem Chef des Bureaus für gewerbliche Sta-
tistik aufgetragen, ein Staatsarbeitsnachweisbureau zu errichten.
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MISZELLEN
Die progressive Zahncaries in Schule und Heer
und die zahnhygienischen Aufgaben der Sanitäts-
behörden im Interesse der Volkswirtschaft.
Von
H. KÜMMEL,
Zahnarzt in Berlin.
Schon mehr als drei Jahrzehnte wirkt man in zahnärztlichen Kreisen
dahin, auf die immer mehr zunehmende Zahnverderbnis und ihre
schlimmen Folgen hinzuweisen. Der Londoner Arzt Richardson betont
in seinem Vortrag über die „konstitutionellen und lokalen Ursachen der
Caries“ bereits 1881 als erster, dafs er bei seinen Patienten während
dreier Dezennien praktischer Thätigkeit gänzlich cariesfreie Zähne nur
selten gesehen habe, und dafs die Krankheit in der gegenwärtigen
Jugend verbreiteter sei und heftiger auftrete, als um die fünfziger Jahre.1)
Die gleiche Beobachtung hat Brunsmann gemacht, der bereits von vier-,
ja sogar von dreijährigen Kindern mit total hohlen Milchzähnen zu be-
richten weifs und er fügt hinzu, „dafs auch bei den bleibenden Zähnen
eine Progression der Verderbnis besteht, unterliegt nach meinen in
1 5 jähriger Praxis gemachten Erfahrungen keinem Zweifel.“ *)
Fragen wir zunächst, welches die allgemeinen Ursachen dieses
weitverbreiteten Uebels sind, und prüfen wir dann, durch welche Mittel
es zu bekämpfen ist. Statistische Belege sollen uns dabei helfen, über
die Häufigkeit der Krankheit ein klares Bild zu bekommen und eventuell
auch Wege zu eröffnen, die man gehen müfste, um der Zahnfäule Ein-
halt zu thun.
') Deutsche Monatsschrift für Zahnheilkundc, I, 1883. S. 77.
*) Brunsmann, „Uebcr progressive Zahnverderbnis". Vortrag im zahn-
ärztlichen Verein für Niedersachsen. 1885. D. M. f. Z. III, 1885. S. 584.
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592
Miszellen.
Die Zahnverderbnis ist im wesentlichen charakterisiert durch das
Auftreten der Zahnfäule, sogenannte Zahncaries, eines fast unmerklich
beginnenden, allmählich fortschreitenden, in seinem Ausgange als faulige
Zerstörung des ganzen Zahnes sich darstellenden Krankheitsvorganges.
Dafs diesem Krankheitsprozefs in den Schichten der minder-
bemittelten Bevölkerung nicht die mindeste Beachtung geschenkt wird,
nimmt nicht weiter wunder. Aber selbst in den Kreisen der Besser-
situierten betrachtet man die Zahncaries als eine völlig harmlose Er-
scheinung, der man nicht einmal recht das Signum einer Krankheit auf-
prägen möchte. Dies wird erst dann verständlich, wenn man erfährt,
dafs weder die wohlhabenden noch die ärmeren Volksklassen von der
Bedeutung der Kauwerkzeuge in genügendem Mafse unterrichtet sind.
Man hat in der Schule gelernt, dafs das normale menschliche Ge-
bifs 32 Zähne zählt und ist deshalb nicht weiter besorgt, wenn 2 oder
3 Zähne faulen oder Zahnstein ansetzen oder ausgezogen werden. Man
tröstet sich damit, dafs man an der Zahncaries nicht stirbt und dafs man
fehlende Zähne schon für weniges Geld ersetzt bekommt. Aufserdem
hält man es für ganz selbstverständlich, dafs mit zunehmendem Alter die
Zähne schlechter werden bezw. dafs man sie verliert. Die wirklichen
Nachteile aber, welche carieskranke Zähne für das Befinden des
ganzen Körpers mit sich bringen, liegen nicht offen genug zu tage,
als dafs man den Zähnen eine so grofse Beachtung schenken zu müssen
glaubt. ') Man weifs noch nicht, oder aus Indifferenz und Unbequem-
lichkeit will man nicht wissen, dafs untadelhafte Zahnreihen schätzbare
Wächter der Gesundheit sind, Vorrichtungen, welche nicht kaubare
Ingesta schon am Eingänge der Verdauungswege ausscheiden, anderer-
seits aber aus den Nahrungsmitteln einen wohl zerkleinerten Bissen
bilden, aus dem, wenn er mit Speichel gut durchmengt ist, durch Ver-
mittlung der Verdauungssäfte, die dem Körper zugute kommenden Nähr-
stoffe leicht ausgezogen werden können. Denn das Gedeihen des
Menschen hängt nicht so sehr von der Menge der eingeführten,
als von der Menge der verdauten Nahrungsstoffe ab.*) Fehler und
Abnormitäten der Zähne müssen aber diese Organe in Ausübung der
angedeuteten Funktion stören und folglich die Verdauung und Er-
nährung des menschlichen Körpers ungünstig beeinflussen. Die Nahrung
kann nicht wirklich ausgenutzt und zuträglich verwertet werden; ein gut
Teil wird vielmehr unverbraucht ausgeschieden. Krankheiten der Ver-
dauungsorgane und Beeinträchtigung des Stoffwechsels sind die unaus-
*) Pareidt, „Die Stellung der Zahnheilkunde unter den medizinischen
Spezialitäten und das Studium der Zahnheilkunde“. Vurtrag auf der 25. Vers. d.
Zentralvereins deutscher Zahnärzte, Dresden 1886. D. M. f. Z. IV, 1886. Beiheft,
S. 85 ff.
*) Rose, „Anleitung zur Zahn- und Mundpflege“. Jena 1900.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer elc.
bleiblichen Folgen. Faulige oder durch Caries verloren gegangene und
nicht ersetzte Zähne bedingen also einen wirtschaftlichen Ausfall für den
Körperhaushalt und natürlich auch für die Wirtschaftshaltung des Ein-
zelnen. Und diesem Verlust an bezahltem Nährmaterial gesellen sich
noch die durch Stauungen schlecht gekauter Speisen im Magen und
Darm bedingten Störungen hinzu : Magenkatarrh, Verstopfung, Durchfall,
widernatürlich gehäufte Klähungen u. s. w. Das hat schon vor mehr als
100 Jahren Hufeland erkannt, wenn er in seiner „Makrobiotik"1) sagt:
„Zur guten Verdauung sind nun gute Zähne ein sehr notwendiges
Stück, und man kann sie daher als sehr wesentliche Eigen-
schaft zu langem Leben ansehen, und zwar auf zweierlei Art :
Einmal sind gute und feste Zähne immer ein Hauptzeichen eines ge-
sunden festen Körpers und guter Säfte. Wer die Zähne sehr frühzeitig
verliert, der hat schon mit einem Teil seines Körpers gewissermafsen
auf die andere Welt pränummeriert. Zweitens sind gute Zähne ein
Hauptmittel zur Verdauung und folglich zur Restauration.“
Am schlimmsten ist es mit der Fürsorge um die Zähne natürlich
in den Arbeiterkreisen bestellt, und besonders bei denen, die beruflich
gezwungen sind, mit Zahnschmelz angreifenden Stoffen zu arbeiten ;
z. B. sämtliche Blei-, Quecksilber- und Phosphor-Industriearbeiter, sodann
die Konditoren und Bäcker u. a. m. Nicht zuletzt wird in diesen
Kreisen die Pflege der Zähne — wie fast im allgemeinen — nicht als
eine Frage der Gesundheit, sondern als eine Toilettenfrage auf-
gefafst und für Toilettenfragen hat die ärmere Volksschicht wenig Zeit.
Ich habe darum in meiner Studie : „Zahnarzt und Arbeiterschutz",*)
wo das mehr oder weniger anerkannte Bedürfnis nach einem wirksamen
Arbeiterschutz meines Erachtens nur durch zahnärztliche Hilfe zu be-
friedigen ist, einer gewissermafsen amtlichen Thätigkeit der zuzuziehenden
Zahnärzte das Wort geredet. Ich that es recht bescheiden.
Ein Berufsgenosse aber, der unter dem Pseudonym „Branden-
burgensis“ in der „Deutschen zahnärztlichen Wochenschrift“ zur „Militär-
zahnarztfrage" sich äufserte, *) geht kühn weiter und verlangt für Heer
und Marine vorläufig nicht weniger als 450 Militärzahnärzte, d. h. mit
zahnärztlicher Behandlung der Mililärpersonen dienstlich zu beauftragende
Zivilzahnärzte, und er ist optimistisch genug, zu glauben, ein privatwirt-
schaftlicher Berufsverband, eine selbstgeschaffene Standesvertretung, wie
es der Vereinsbund deutscher Zahnärzte sei, solle und könne die
Militärverwaltung dahin beeinflussen, dafs sie bei einer derartigen Ver-
sorgung der stehenden Wehrmacht mit zahnärztlicher Hilfe alle möglichen
wirtschaftlichen Interessen des Zahnärztestandes berücksichtige. Dafs
’) Rcklam -Ausgabe S. 141/142.
*) Jena (Gustav Fischer) 1903. S. 118 — 121.
s) V. Jahrgang. Nr. 46 vom 14. II. 1903.
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594
Miszellen.
diese Forderung leider sehr begründet ist, werden meine weiter
unten anzuführenden Zahlen darthun. Wie utopistisch diese Forderung
aber ist, geht aus der Thatsache hervor, dafs das preufsische Kriegs-
ministerium dem ostasiatischen Rxpeditionslcorps seinerzeit, sage und
schreibe , einen Zahnarzt zu dienstlichen Zwecken beigegeben hatte,
ein Ereignis, das in den zahnärztlichen Zeitschriften sorgsam verzeichnet
wurde.
Dafs man solche Forderungen leider noch als utopistische bezeichnen
mufs, scheint wiederum daran zu liegen, dafs man die Bedeutung der
Zahnheilkunde und der Zahngesundheitspflege im Volke sowohl, als auch
seitens des amtlichen öffentlichen Gesundheitsamtes noch allzusehr
unterschätzt. Fis wird daher meine Aufgabe sein, an der Hand ge-
diegenen statistischen Materials und auf Grund reichhaltiger Beobachtungen
darzuthun, von welcher Wichtigkeit die zahnärztliche Thätigkeit für die
Gesundheitspflege ist, und welche enorme Schäden aus einer Vernach-
lässigung der Zahnpflege dem einzelnen sowohl, wie der Gesamtheit er-
wachsen. Man wird zahnärtlicherseits den mafsgebenden Behörden und
der Oeftentlichkeit die erschreckenden statistischen Zahlen so lange vor
Augen halten müssen, bis eine Besserung auf diesem Gebiete eingetreten
sein wird.
Fün cariöser Zahn bedeutet ja nicht Schmerz und Verlust eines
Zahnes, sondern mindestens Gefahr für die ganze Zahnnachbarschaft.
Dieser eine cariöse Zahn ist Infektions-Träger und -Erreger zu gleicher
Zeit; er ist Ursache und Folge für das Faulwerden mehrerer Zähne;
mehr noch! Cariöse Zähne rufen, wenn die Krankheitserreger ihren
Weg in den Organismus finden, mittelbar wie unmittelbar eine Reihe
anderer Krankheiten örtlicher wie allgemeiner Natur hervor. *) Die
Fachlitteratur wimmelt von Mitteilungen, wo Drüsenschwellungcn, Kiefer-
knochenerkrankungen, Mundrose, Magen- und Darmkrankheiten, Lungen-
entzündung, Brand, Blutvergiftung, Katarrhe der Nase und des Mittel-
ohres, Krämpfe, Epilepsie, Nervosität, Neurasthenie, die weit ver-
breiteten Konstitutions- bezw. Kreislaufanomalien der Blutarmut und
Bleichsucht, ja sogar Tuberkulose die mittelbare Folge faulender Zähne
waren. Die reichen praktischen Erfahrungen von Grawitz, Israel, Rühle,
Odenthal u. v. a. bilden hierfür eine unerschöpfliche Fundgrube. Der
cariöse Zahn bedeutet aber nicht allein eine grofse Gefahr für den
Besitzer, sondern auch — infolge der Ansteckungsmöglichkeit! — für
andere Individuen. Wo viele Menschen zusammengepfercht sind, wie in
Schulen, Universitäten, Kasernen, Krankenhäusern, Gefängnissen, ist es
') Wangemann, „Der Einllufs der Krankheiten der bleibenden Zähne auf
den Gesamtorganismus". In l.angenbecks Archiv für klinische Chirurgie. Bd. XLV.
Heft 2. Berlin 1892.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer elc.
immer möglich, dafs durch Sprechen, Räuspern, Niesen, Husten eine
Ansteckungsverraittlung stattfindet. ')
Wie wichtig für das Kind ein leistungsfälliges, gesundes Gebifs
ist, sollte einer Erwähnung erst gar nicht bedürfen. Leidet eine Frau
aber, die ein Kind unter dem Herzen trägt, an Caries und hat sie dem-
zufolge Verdauungsbeschwerden, eine schlechte Ausnutzung der aufge-
nommenen Nahrung, so leidet selbstverständlich auch der Embryo dar-
unter; das Kind kommt schwächlich zur Welt und ist selber schon für
die Zahncaries prädestiniert. Dies'umsomehr, als die von Caries befallene
Mutter in weit geringerem Mafse fähig ist, ihr Kind zu stillen, als eine
Mutter mit gesundem Gebifs. Die durchschnittliche Zahl der defekten
(fehlenden und cariösen) Zähne betrug bei den Stillungsfahigen und
Nichtbefähigten im Alter von:
befähigt:
unbefähigt
21 — 25
3.7
16,1
26—30
5.4
16,0
31— 35
9.4
■7.9
36—40
12,1
21,8
41—45
13.5
24,8
46—50
19,0
25.3
5«— 55
21.9
25.1
56—60
17.4
28,1
Die Untersuchungen des berühmten Physiologen von Bunge s) nach
der Ursache der Stillungsunmöglichkeit, die sich auf */s — 3/4 aller
deutschen Frauen erstreckt, ergeben die traurige Thatsache, dafs die
Zahncaries in vielen Fällen die Verschuldung trug.
Bunge stellte auf Grund seiner statistischen Erhebungen ferner fest, dafs
die Stillungsunfahigkeit sich von Geschlecht zu Geschlecht forterbte und
immer mehr zunahm. „Kann eine Frau nicht stillen, so kann auch fast
ausnahmslos die Tochter nicht stillen, und die Fähigkeit ist unwider-
bringlich für alle kommenden Generationen verloren.“ Von 151 stillungs-
fähigen Frauen hatten 17 cariöse Zähne, von 388 stillungsunfähigen war
nur eine einzige tadellos bezahnt und die konnte ihr Kind nur acht
Tage lang stillen. Es ergab sich, dafs die Zahnfäule eine erb-
liche Erscheinung der Entartung ist und mit der Unfähig-
keit zur Milchabsonderung parallel läuft. Welche Bedeutung die Mutter-
milch aber für das Gedeihen des Kindes hat, ist bekannt genug, und
dafs die Ernährung des Kindes mit der Muttermilch weit kräftigere
und widerstandsfähigere Zähne zur Entwicklung bringt, als die Ernährung
’) D. M. f. Z. XVIII, 1900. Heft 7. Referat von I'areidt. S. 333.
*) „Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu stillen“. München
1900. S. 17 — 20 u. S. 23—27.
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596
Mitzellen.
mit der Flasche, setze ich gleichfalls als bekannt voraus. Die Zähne
des brustgesäugten Kindes werden weniger leicht cariös als die des
flaschengenährten.
Und das Kind ernährt sich nicht bloß ; es wächst auch ; es hat
infolgedessen eine relativ gröfsere Nahrungsaufnahme nötig wie der Er-
wachsene. Jede intensivere Störung durch schmerzende oder fehlende
Zähne macht dies aber unmöglich und tibt deshalb auf den zarten im
Aufbau begriffenen Organismus des Kindes einen weit schädlicheren
Einflufs aus als auf den ausgewachsenen Menschen. ') Darum ist die
sorgsame Erhaltung der Milchzähne zur Zeit des natürlichen Zahnwechsels
auch im Interesse der bleibenden Molarzähne dringend erforderlich.
Die Bedeutung guter Milchzähne hat Jessen*) neuerdings
besonders scharf hervorgehoben. Infolge frühzeitigen Ausfallens der
cariös verderbten Milchzähne bleibt der Zahnbogen in seiner Entwick-
lung zurück und wird zu eng; die bleibenden Zähne in der Zahnreihe
finden nicht genügend Platz, brechen an ungünstigen Stellen durch oder
wachsen schief und sind somit für den Kauakt oft wertlos, neigen mehr
oder weniger zur Zahnfäule und können nebenbei auch Ursache von
Kiefermifsbildungen und Gesichtsentstellungen werden. Gut malmende
Zähne helfen dagegen gut verdauen, assimilieren sich selber wieder,
soweit sie abgenutzt werden und regenerieren sich von innen her.
So beginnt die Aufgabe der Zahnpflege streng genommen schon
vor der Geburt des Kindes durch eine Gesundhaltung des Muttergebisses
und nach der Geburt durch Reinhaltung der Mundschleimhäute. „Eine
gesund erhaltene Mundschleimhaut — sagt Röse — ist das sicherste
Vorbeugungsmittel gegen ansteckende Krankheiten aller Art.“ Wenn
Kinder, entsprechend den meisten Erfahrungen und wie die Statistik
lehrt, schon viele cariöse Zahne haben, so bestehen dabei meist fort-
dauernde Entzündungserscheinungen in der ganzen Mundhöhle. Diese
begünstigen einerseits das Auftreten von Verdauungsstörungen, anderer-
seits die Entstehung verschiedener, nicht selten das Leben gefährdender
Infektionskrankheiten. ®) In den kleinsten, durch Caries entstandenen
Zahnhöhlen stauen sich Speiseteilchen, die sich faulig zersetzen und Brut-
stätten zahlloser Mikroorganismen bilden. *) So werden cariöse Zähne,
sogar bei vermeintlich ausreichender Mundpflege, Veranlassung zur Un-
’) Leo Burgerstein, „Gesundheitspflege in der Mittelschule", eit. von
IiiUischer in der Diskussion über „Untersuchung der Zahne bei den Schulkindern“.
2. Sitzung der II. Sektion des 6. internationalen Kongresses für Hygiene in Wien.
27. Sept. 1887. Ret. in D. M. f. Z. Bd. V, 1887. S. 486,87.
*) „Die Aufklärung des Volkes über die Bedeutung der Zahnpflege für die
Gesundheit“. Berlin 1900.
3) D. M. f. Z. Bd. XVII, 1899. 2. Heft.
4) Mikulicz-Kümmel, „Die Krankheiten des Mundes". Jena 1898. S. 24.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc.
Sauberkeit der Mundhöhle, die dann für Spaltpilze aller Art, für die
Träger vieler Infektionskrankheiten einen sehr günstigen Boden liefert.
Es entsteht ein Herd fauliger Zersetzungsprodukte und übelriechender
Gase, welche die Zimmerluft verpesten und eine Ansteckungsgefahr für
Kinder und Erwachsene bedeuten. *)
Angesichts dieser Thatsachen scheint eine sachliche Untersuchung
am Platze, welche Bedeutung die Zahnheilkunde und Zahngesundheits-
pflege für die Volksgesundheitspflege und deren berufene Hüterin, die
amtliche, öffentliche Medizin hat; ob sie in derselben eine ihrer erweis-
lichen Bedeutung entsprechende Anerkennung und Berücksichtigung
findet und — falls nicht — was von zahnärztlicher Seite geschehen kann
oder sollte, um ihr eine solche durch Einwirkung auf Behörden und
Oeffentlichkeit oder sonstwie zu verschaffen. Der gewohnten Mifs-
achtung der Zahnpflege und der Geringschätzung der
Zah n v e r d er b n i s gegenüber gilt es n ac h zu w e i se n , dafs
die Caries eine Volkskrankheit ersten Ranges ist, dafs
sie nicht nur die nationale Wehrkraft beeinträchtigt,
sondern die Leistungsfähigkeit eines Volkes überhaupt
und hier ist die Grenze, wo wir das Gebiet der Zahnheilkunde verlassen
und in das der Nationalökonomie hinübergehen müssen.
East zu gleicher Zeit tauchte in verschiedenen Ländern der Ge-
danke auf, Untersuchungen über die Cariesfrequenz der Zähne vorzu-
nehmen. Eine einigermafsen umfangreiche Statistik war nur in der
Schule und in der Armee anzustellen, freilich mit dem Nachteil, dafs
in betreff der Schuluntersuchungen nur die Städte inbetracht kommen
konnten, weil Zahnärzte auf dem Lande nicht ansässig waren. Die Land-
bevölkerung mufste hier also ausgeschlossen werden bezw. sie konnte
nur beim Militär berücksichtigt werden, wo man Stadt- und Land-
bevölkerung beisammen hatte, allerdings wieder mit Ausschaltung der
weiblichen Bevölkerung. Die Untersuchungen, insbesondere bei Schul-
kindern, wurden in verschiedenen Ländern vorgenommen. In Deutsch-
land in den Städten : Berlin, Breslau, Hamburg, Hannover, Halle,
Magdeburg, Elberfeld, Würzburg und Umgegend, Strafsburg, Karlsruhe,
Heidelberg, Freiburg i. B. und Umgebung, Bruchsal, Pforzheim,
Kaiserslautern, in Thüringer Landorten und endlich im Schleswig-
Holsteinischen.
Lipschitz5) stellte bei seinen Untersuchungen im Jahre 1894 an
’) Jessen, Denkschrift für die Errichtung eines zahnärztlichen Instituts an
der Kaiser -Wilhelms- Universität, Strafsburg. Vgl. 9. Jahresbericht der Poliklinik
flir Zahnkrankheitcn Tür das Jahr 1901/1902. Berlin 1902. S. 8.
*) „Beiträge zur Cariesfrequenz bei Schulkindern und Bekämpfung der Caries“.
Vortrag vom 12. intern, mediz. Kongr. zu Moskau, Sektion für Odontologie.
D. M. f. Z. XV, 1897. S. 45 t.
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598
Miszellen.
407 sechs- bis sechzehnjährigen Kindern einer Berliner Mädchen-
schule fest, dafs nur 3 Schülerinnen, das sind 0,74 °'0, cariesfreie
Gebisse hatten. Von allen 9432 Zähnen waren 2923 (30,99 %)
cariös.
Fenchel fand 1893 bei seinen Untersuchungen im Hamburger
Staatswaisenhause *) unter 335 Kindern beiderlei Geschlechts nur t2 ge-
sunde Gebisse, die Knaben waren zu 2 */, %, die Mädchen zu 5 ü „ frei
von Zahnfäule. Sämtliche Kinder hatten 2471 cariöse Zähne; auf ein
Kind kamen durchschnittlich 8 angefaulte Zähne. Diese Ergebnisse be-
stimmten das Hamburger Medizinalkollegium — um zu entscheiden, ob
die bei Waisen festgestellte Cariesfrequenz von durchschnittlich 96,25 0 0
einen Ausnahmezustand darstelle — Fenchel zu weiteren Untersuchungen
von 693 dortigen Seminarschülern zu veranlassen und es ergab sich
hier, dafs 98 % der Mädchen und 99 °/0 der Knaben cariöse Zähne
hatten. s)
Bei 374 Kindern einer Hannoverschen Volksschule hatten —
nach Kühns3) — nur 32 Schüler unversehrte Zahnreihen. Von den
212 Knaben hatten 22 = 10,4 °/# von den 162 Mädchen 10 = 6,7 %
tadellose Zähne.
Koerner stellte bei 3942 schulpflichtigen Kindern in Halle nur
236 gesunde Gebisse fest.4) Von 1456 Knaben besafsen nur ro8 (7,4 °0),
von 2486 Mädchen nur 128 (5,1 %) ein gesundes Gebifs. Und Koerner
nennt dies noch „mittlere Zahlen“.
Greve ( Magdeburg) hat bei seinen Untersuchungen an 42 1 Kindern
der Lauenburger Bürger- und Volksschulen 86 Kinder (20,43%),
freilich ohne Berücksichtigung der Milchzähne, mit gesunden Gebissen
gefunden. 3)
Voerckel fand t897 in Elberfeld unter 3987 Kindern beiderlei
Geschlechts nur 5%, Weber in Witten unter 1016 Kindern 9,7 %
frei von Caries •).
*} Corr. Bl. f. Zahnärzte. Okt. 93. Cit. im Originalaufsatz: Fenchel, „Zahn-
ärztliche Thätigkeit in Volksschulen“ in D. M, f. Z. XI, 1893. Vgl. ferner: Fenchel,
„Uebcr die Versorgung von Volksschulkindern mit zahnärztlicher Hilfe“. Vortrag
(intern, zahnärztl. Kongrefs in Kopenhagen am 1 3-/z 4.. August 1894). D. M. f. Z. XII,
1894. S. 361.
*) Corr. Bl. f. Zahnärzte. Berlin, Januar 1895.
*) 32. Vers. d. zahnärztl. Vereins f. Niedersachsen (6. II. 98 Hannover),
D. M. f. Z. XII, 1898. S. 316/24.
4) D. M. f. Z. XVII, 1899. S. 367 ff.
*) D. M. f. Z. XVII, 1899. S. 382—83. Ref. von Pareidt Uber Greve
„Altes und Neues zur Cariesfrage“ (Wiener Zahnärztl. M. I. 12. XII. 98).
°) D. M. f. Z. XVI, 1898. S. 105—117.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc.
In 2t Ortschaften der Würzburger Gegend hat Berten *)
(1893 — 94) 3347 Schulkinder im Alter von 6 — 14 Jahren untersucht,
bei denen sich 78348 Zähne, darunter 12015 kranke (d. i. 15,3 "/„)
fanden. Von den 1645 Knaben hatten 307 (18,7 #/#), von den 1702 Mädchen
262 (i5,4°/0) cariesfreie Gebisse.
Jessen fand in Strafsburg 1900 — 1901 unter 10005 unter-
suchten Gebissen dortiger Schulkinder nur 430 Gebisse (4,29 B/„), die
gesund waren. 1902 ergab das Resultat bei 10 66 t untersuchten sechs-
bis vierzehnjährigen Kindern nur 165 (noch nicht 1 ’/* "/«) cariesfreie
Gebisse *). Die 10 005 Kinder hatten 102 456 cariöse Zähne, 51 219 Zähne
fehlten vollständig; die 10 661 Kinder hatten bereits 82510 Zähne ein-
gebüfst; 48476 Zähne (48,1 °/0) waren cariös.
In Karlsruhe waren nach den Ergebnissen des Vereins badischer
Zahnärzte8) unter 1394 Kindern der besseren Schulen 1175 behand-
lungsbedürftig, in Heidelberg unter 804 Kindern 595.
Von 3460 durch Röse untersuchten Kindern in Freiburg i. Br.
hatten von den Knaben 1 '/, u/#, von den Mädchen nur 1 °/0 cariesfreie
Zähne.4) Von im ganzen 27319 Milchzähnen waren bei den Knaben
5 *,3 °/o> bei den Mädchen 54% cariös erkrankt, von den 53717 blei-
benden Zähnen bei den ersteren 25,8, bei den letzteren 27 */„. Im
Durchschnitt war also die Hälfte der Milchzähne und der vierte Teil
aller bleibenden Zähne aDgefault. — Im F’reiburger Gymnasium hatten
2,1 "la der Schüler vollkommen gesunde Gebisse; der vierte Teil aller
Zähne waren erkrankt. 1658 Kinder der Freiburger Umgebung waren
zu 79 °/n der Knaben und zu 98,7 °j0 der Mädchen cariös.
In Bruchsal hatten von 550 Schulkindern nur 104 (23,3 °/#), in
Pforzheim von 700 nur 75 (io,9 00) einen cariesfreien Mund.
In Kaiserslautern, wo 1897 von Jochheim und Brader
4446 Kinder (2319 Knaben und 2127 Mädchen) untersucht wurden,
batten nur 52 (1,17 °/0), nämlich 20 Knaben und 32 Mädchen, ein ge-
sundes Gebifs. 5)
6303 untersuchte Kinder in Thüringer Landorten waren zu
98 °/# der Knaben und zu 82,8 °/0 der Mädchen cariös.6)
In Schleswig-Holstein halte man bis 1899 bereits 20 000 Kinder
,) Sitzungsberichte der phys.-med. Gesellsch. zu Würzburg 1894, Nr. 9. Refer.
von Parcidt in D. M. f. Z. 1895. S. 470.
*) Journal f. Zahnheilkunde XVII, 14. S. 127/28 und XVIII, I. S. to.
*) D. M. f. Z. XIII, 1895. S. 195.
. 4) „Die Zahnverderbnis unter den Schulkindern Freiburgs“. Freiburger Tage-
blatt (Hausfreund) vom 24. VI. 94. Vgl. D. M. f. Z. XII, 1894. S. 289 — 291.
6) D. M. f. Z. XVI, 1898. S. 104.
®) Röse, „Ueber die Zahnverderbnis in Volksschulen**. Vortrag auf der
06. Vers, deutscher Naturforscher und Aerzte in Wien.
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6oo
Miszellen.
untersucht, wovon 95 °/# an Caries litten. Kleinmann und Gersten-
feld hatten in Flensburg allein 4279 Kinder untersucht; der nie-
drigste Satz war 8 */, °/#, der höchste 28 '/.*/„ der Kinder mit gesunden
Gebissen. ’)
Etwas besser waren die Verhältnisse in England, wo von 1 1 000
untersuchten Kindern 1600 tadellose Gebisse hatten. Im einzelnen er-
gaben die Untersuchungen nach den drei Berichten des „School Commitee“
der British Dental Association folgendes Resultat:
1. Durchschnittlich 26 °/0 der Infants (Kinder unter dem 6. Lebens-
jahre) hatten cariesfreie Gebisse. Caries fand sich schon vom 2. Lebens-
jahre an und nahm prozentweise im geraden Verhältnisse zum Alter zu.
In einem in Leeds untersuchten Institute fanden sich bei 186 Infants
nur 1,6 °/# cariesfreie Milchgebisse. Von 5249 untersuchten Non-infants
(Kinder über 6 Jahren) hatten 485 (9,24 u/0) ein cariesfreies Gebife;
20976 Zähne waren cariös.
2. Von 3368 weiter untersuchten Kindern waren 782 (23,22 °/„) im
Besitze eines tadellosen Gebisses; im ganzen fanden sich 9456 cariöse
Zähne.
3. Von 1900 untersuchten Kindern hatten 241 (12,7 #;„) gesunde
Gebisse; 6673 Zähne waren behandlungsbedürftig.
Fisher (Dundee) untersuchte 1885 400 Zöglinge einer Schiffer-
schule, von denen nur 80 gesunde Zähne hatten, während alle übrigen
einer Behandlung der Zahncaries unterworfen werden mufsten. — ln der
„Industrial School of Girls“ hatten von 85 Schulmädchen nur 15 ein ge-
sundes Gebifs. Von den Schifferschülern hatten also nur 20 #/#, von den
Industrieschulmädchen kaum 18 °/0 gesunde Zahnverhällnisse. *)
Ottofy gab bei der 21. Jahresversammlung der amerikanischen
zahnärztlichen Gesellschaft zu Louisville (Kentucky) eine Uebersicht über
die dortigen verschiedenen Statistiken und legte eine eigene über 625
fünf- bis fünfzehnjährige Kinder vor. s) 48 hatten vollkommen gesunde
Zahnreihen. Im ganzen waren 3819 Zähne (34 "/„) cariös; durchschnitt-
lich hatte jedes Kind 6,13 cariöse Zähne.
') Disk, zu K ii I) n s Vortrag in der Abt. f. Zahnbeilkunde der 69. Vers,
deutscher Naturforscher und Aerztc zu Braunschweig 1897. Heft 2, S. 228/29. Vgl.
ferner: D. M. f. Z. XVII, 1899. S. 530 (25. Jahresversammlung des Vereins schles-
wig-holsteinischer Zahnärzte. Juni 1899 in Kiel.)
*) Fisher, Compulsory Attention to the teeth of School Children (Journ. of
the Brit. Dcnt. Ass. VI, lo. Oktob. 1885). Kcf. von Pareidt in D. M. f. Z. V,
1887. S. 158.
*) Louis Ottofy, The Incipicncy of Dental Caries. Transactions of die
Americ. Dcnt Ass. 21 th. ann. sess. Kefcr. von Pareidt in D. M. f. Z. VII, 1SS9.
S. 289.
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H. Kümmel, Die progressive Zahn ca ries in Schule und Heer etc. 60I
Eine Untersuchung von 1000 Schweizer Schulkindern (in Luzern)
im Jahre 1890 ergab nur 58 cariesfreie Gebisse1) und von 1000 in
Ungarn (durch Ungtvari) untersuchten Kindern hatten 128 gesunde
Zähne. ")
Förberg fand in Schweden (Stockholm) unter 1500 Volksschul-
kindern nur 2,3% cariesfrei; von 117 Kindern eines Freimaurerwaisen-
hauses litten nur 6,8 °/„ nicht an der Zahnfäule.
Westergaad untersuchte 1000 dänische Volksschulkinder in
Kopenhagen und fand jeden 5. Zahn cariös. Hei Siebenjährigen war
jeder 4. Zahn, bei Dreizehnjährigen jeder 6. Zahn beschädigt. Einen
völligen Verlust der Leistungsfähigkeit des Gebisses erlitten */„, eine Ver-
minderung der Kaufähigkeit */, , der Kinder. *)
Dehnen wir unsere Statistik auf etwas ältere Personen aus, etwa auf
Militärpflichtige, so ergeben da und dort angestellte Untersuchungen
in preufsischen, bayrischen, badischen, pommerschcn und schlesischen
Regimentern an insgesamt 14081 Soldaten, dafs nur 2229 im Vollbesitz
ihrer gesunden Zähne waren.
Steffen-Cuxhaven untersuchte 450 Mann der kaiserlichen
Marine, von denen 26 (5,8 °/0) intakte Gebisse hatten.4)
Port untersuchte 1894 — 95 858 Soldaten eines bayerischen In-
fanterieregiments und fand tadellose Gebisse bei 35 (7,54 "!„) Zwanzig-
jährigen, 21 (8,50 °/0) Einundzwanzigjährigen und 5 (3,40 °/0) Zweiund-
zwanzigjährigen. Von sämtlichen 858 Untersuchten hatten also nur 7 °/#
(61 Mann) intakte Gebisse.6)
Nach Untersuchungen Kimmles und Ports8) beim Gardekorps,
der Elitetruppe des Heeres, haben unter 1000 Mann 836 regelwidrige
Gebisse, in denen durchschnittlich je 5,8 Zähne defekt sind. Von
85 ebenda untersuchten jungen Unteroffizieren hatten 72 je 8 cariöse
Zähne.
*) Brunsmann, „Ueber zahnärztliche Hygiene in den Schulen“. Vortrag
vom 8. II. 1891 im zahnärztlichen Verein für Niedersachsen. D. M. f. Z. IX, 1891.
Beiheft (Juli) S. 60.
*) Ungtvari, „Uebcr die Zähne der Schulkinder“. Oesterr. Ung. Vierteljahrs-
schrift f. Z. Juli 1893.
*) Tandlacgeselskabel in Kjöbnhavn; Bericht der Tidsskrifl for Sundhedplejc,
übers, in Corr. Bl. f. Z. April 1900. Referat von Par ei dt in D. M. f. Z. XVIII,
1900. S. 430/31.
4) Citicrt nach Bruck: ,,Die Einführung der Zahnpflege in Heer und Marine“.
Breslau 1901. S. 2;.
*) Vortrag auf der 9. Jahresvers. (München, Juni 1895) der bayr. Zahnärzte.
D. M. f. Z. XIII, 1895. S. 473.82.
“) Deutsche militärärztliche Zeitschrift. XXVIII, 4. 1899. S. 206/14; ebenda,
Heft 7. S. 404 16.
Archiv für toz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 39
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602
Miszellen.
Rose untersuchte 1895 bei 5610 Musterungspflichtigen in ver-
schiedenen Bezirken Bayerns genau den Zustand der Zähne; nur 307
(5,4 °„) hatten ein cariesfreies Gebifs. ')
Bartels- Freiburg i. Br. hatte noch die günstigsten Ergebnisse
zu verzeichnen. 337 von 1677 untersuchten Mannschaften = 20,1
zeigten tadellose Gebisse. *)
Lührse-Stettin untersuchte i. J. 1898 2486 Mann mit 75 483 Zah-
nen, von denen 1 1 5 19 cariös waren. Nur 314 Mann (1 2,6 0/„) hatten völlig
intakte Kauwerkzeuge. a)
Bruck - Breslau untersuchte 1 899 — 1 900 3000 Mann der Breslauer
Garnison. Davon hatten 184 (6,13 #/0) cariesfreic Zähne.4) Bruck be-
rechnet übrigens aus allen bis 1900 gemachten statistischen Erhebungen
über Cariesfrequenz beim Militär, einschliefslich seiner eigenen, dafs
von roi48 Mann nur 578 (also etwa 6 */„) absolut tadellose Gebisse
hatten.
Etwa 100 000 Individuen, nämlich 88054 meist schulpflichtige
Kinder beiderlei Geschlechts und 14081 erwachsene junge Männer des
Militärdienstalters sind nach den hier mitgeteilten Angaben auf Caries-
frequenz untersucht worden. Nur 0,74 bis 26 "/„ der Kinder — die
schlechtesten Verhältnisse zeigten die Berliner Schulmädchen, die besten
die noch nicht schulpflichtigen englischen Kinder mit nur Milchzahn-
gebissen — und 4 bis 20 °/„ der wehrfähigen jungen Deute hatten ge-
sunde Gebisse. Von 50013 Kindern hatten 3899 (7,8 °/0), von allen
14081 Soldaten 1203 (8,7"/,,) cariesfreie Zähne.
Nehmen wir nun aber die Verhältnisse in der Gesamtbevölkerung
als günstiger an, so darf man gewifs mit gröfster Wahr-
scheinlichkeit behaupten, dafs durchschnittlich nur
10% derselben völlig gesunde Gebisse haben.
Ich bemerke, dafs diese meine Liste schon deshalb sehr unvoll-
kommen ist, weil sie ja mangels genügender statistischer Grundlagen
nur die vereinzelten Untersuchungen weniger Ortschaften und Lander
bringt; immerhin läfst auch diese knappe Zusammenstellung schon ahnen,
um welch eine weit verbreitete Volkskrankheit es sich hier handelt und
es wird — selbst bei allen Zugeständnissen an die subjektiv verschie-
dene Untersuchungsmethode der Aerzte — nicht zu hoch gegriffen sein,
wenn man 80 — 90",, der gesamten Bevölkerung der germanischen
Länder als carieskrank erklärt.
Man sollte meinen, dafs angesichts solcher Zahlen, die die Zahn-
caries zu einer Volkskrankheit ersten Ranges stempeln, die zuständigen
') Ciliert nach Bruck, 1. c. S. 23'24.
») D. M. f. Z. XVII, 1899. S. 87.
«) D. M. f. Z. XVII, 1899. S. 254.
4) Bruck, 1. c. S. 19.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc.
Behörden längst darauf bedacht seien, ernstlich Abhilfsmittel zu schaffen,
aber davon ist keine Rede. Man ist indifferent genug, die Zahncaries
im öffentlichen Gesundheitswesen fast gänzlich unberücksichtigt zu lassen,
obwohl die Nachteile, die dem Staate hieraus erwachsen, grofs genug
sind. Niemand wird leugnen, dafs ein Mensch, der durch Zähne zu
leiden hat, nicht im gleichen Mafse arbeitsfähig und Strapazen zu er-
tragen imstande ist, wie der Gesunde. Infolge des engen Zusammen-
hanges der Zahnnerven mit dem ganzen Nervensystem, wird der zahn-
leidende Mensch verstimmt und nervös. Seine krankhafte Reizbarkeit
hindert ihn, seine Kräfte in gewohnter Weise zu entfalten. Der von
Caries befallene Soldat ist nicht imstande, seinen Dienst im gleichen
Mafse zu verrichten, wie der Soldat mit gesundem Gebifs, und wie ge-
fährlich das unter Umständen in Kriegszeiten werden kann, liegt auf der
Hand. ’)
Brunsmann hat schon 1891 als erster der deutschen Zahnärzte einen
gewissen Zusammenhang zwischen der Zahnfaule als einer sozialen Krank-
heitserscheinung und der Yolkswehrkraft anerkannt, nachdem zuvor in
England schon Cunningham 1886, in Frankreich Pillette und Dubois
betonten, ■) wie die allgemein verbreitete Zahncaries die Wehrkraft be-
einträchtige. Sie hoben hervor, dafs die Schäden und Nachteile eines
fehlerliaften Gebisses schon im bürgerlichen Leiten in die Augen springend
seien, beim Militär jedoch, infolge der soldatischen Ernährungs- und
Lebensweise, noch viel gröfser wären. Die Untersuchungen Brunsmanns,
Kühns, Bartels, Roses, Brucks u. a. haben diese Behauptung bestätigt
Sucht man der Zahncaries im Heere nicht zu steuern, so zieht man
sich selbst einen Feind grofs — und nicht den ungefährlichsten. Viele
junge Männer können wegen ihrer Körperschwäche und zurückgebliebenen
Entwicklung überhaupt nicht zum Militärdienst herangezogen werden,
die — wie Röse !1) und Bruck 4) eklatant nachgewiesen haben, — in
vielen Fällen nur auf hervorragend schlechte Zähne zurückzuführen ist ;
eine Ansicht, welcher der sächsische Militärarzt Naetter unbedingt bei-
stimmt, s) indem er mit Röse sagt, „dafs die wegen allgemeiner Körper-
schwäche untauglichen oder nur bedingt tauglichen Leute zum grofsen
Teile darum in ihrer körperlichen Entwicklung zurückgeblieben sind,
J) Bartels, Schweiz. V. f. Zahnheilkunde VII, 4. Okt. 1897. Referat von
Nicmcy er- Alnienhorst in D. M. f. Z. XVII, 1899. S. 85/90.
*) „De la creation d’un Service dentaire dans l’armcc“. L’Odontologie, April
1 886, cit. von C h. G o d o n ; Hygiene publique, les Services dentaires gratuits en
France, ebda. 1887. Referate über beide von Brunsmaun in D. M. f. Z. IV,
1886, S. 274 und V, 1887, S. 196 97.
*) Anleitung zur Zahn- und Mundpflege. Jena 1900.
4) Die Einführung der Zahnpflege in Heer und Marine. Breslau 1901.
4) Deutsche militüriirztliche Zeitschrift XXIX, 1900. S. 475.
39*
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604
Miszellen.
weil sie ausnehmend schlechte Zähne haben“. Ebenso Bruck, welcher
sagt (1. c. S. 7): „Die Beschaffenheit der Zähne übt einen nicht zu
unterschätzenden Einflufs auf die Tüchtigkeit und Leistungs-
fähigkeit des Soldaten aus. Leute mit defekten lind schmerzenden
Zähnen sind unmöglich imstande, den Anforderungen voll und ganz
zu entsprechen, die der Dienst an sie stellt, noch weniger würden
sie aber ohne schwere Schädigung ihrer Leistungsfähig-
keit imstande sein, die Strapazen eines Feldzuges zu er-
tragen, in dessen Verlauf sie sich nicht nur tagelang im
Freien aufzuhalten haben, sondern auch häufig zubiwa-
kieren gezwungen sin d“.
Die Nachlässigkeit in der /lahnpflege beeinträchtigt aber nicht nur
die nationale Wehrkraft, sondern auch die Leistungsfähigkeit eines Volkes
überhaupt.
Ich habe in meiner Studie „Zahnarzt und Arbeiterschutz“ eindring-
lich genug erwiesen, dafs eine ganze Reihe von Arbeitern, die von der
Zahncaries befallen sind, letztere nur ihrem Berufe zuzuschreiben haben,
und dafs diese Arbeiter, da sie durch keinerlei gesetzliche Mafsregeln
geschützt sind, nicht nur ein sehr grofses Kontigent Carieskranker stellen,
sondern auch ganz erheblich dazu beitragen, die Caries weiter zu ver-
breiten. Hs verwundert dann nicht mehr zu hören, dafs mehr als 85 */„
der Oesamtbevölkerung von der Zahnfäule befallen sind und dafs sie
schon deshalb als eine Volkskrankhcit von äufserst bedenklicher sozialer
Tragweite charakterisiert werden mufs, sofern sie eine wesentliche Rolle
in der Unterernährung der Massen spielt, eine Herabsetzung der Wehr-
kraft mitbedingen kann und vor allem: weil ihre Erblichkeit über-
zeugend nachgewiesen ist.
Die Erblichkeit der Zahncaries hat in der umfangreichsten, über
diese Frage bisher ausgeführten statistischen Untersuchung der Pariser
Zahnarzt P. Dubois ') bei Gelegenheit der Rekrutenaushebung dargethan.
Er zeigte, dafs die auffallenden Verschiedenheiten in dem Zustande der
Zähne in den verschiedenen Departements Frankreichs weder zurück-
zufiihren seien auf die verschiedene Ernährungsweise, noch auf das
Trinkwasser, noch auch auf die Beschaffenheit des Bodens und die geo-
graphische Lage, sondern hauptsächlich auf die Verschiedenheit der
Rasse, mithin also auf die Erblichkeit.
F'assen wir die Ergebnisse der bisherigen Darlegung kurz zusammen,
so ergiebt sich, dafs die Zahnfäule eine der weitestverbreiteten — viel-
leicht die am meisten verbreitete — Volkskrankheit ist, die für den
Erkrankten nicht nur, sondern auch für seine Umgebung Ursache vieler
örtlicher und allgemeiner Störungen werden kann.
*) Comptes rendus du premier Congris dcnUirr international, tenu a Paris.
189t. pag. 45.
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II. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc. 605
Der soziale Schaden, der sich hieraus für die Volkswirtschaft ergiebt,
liegt klar zutage, wenngleich auch der statistische Beweis hierfür fehlt.
Allein, es liegt auf der Hand, dafs man schon ganz erhebliche Ziffern
erhielte, wenn man die Krankheitskosten berechnen könnte, welche die
Zahncaries etwa in den Armeen verursacht.
Fragen wir nun, welches die Ursachen der Zahncaries sind und
was zu ihrer Beseitigung zu thun ist?
Flüchtig haben wir die Ursachen der Caries bereits kennen gelernt.
Es sind: die F.rblichkeit, schlechte l>ezw. falsche Ernährung, berufliche
Einwirkungen, Ansteckung und in erster Linie Nachlässigkeit in der Zahn-
pflege. Schlechte Ernährung und F.rblichkeit gehören zu den allgemeinen,
den prädisponierenden, Ansteckung, vernachlässigte Zahnpflege u. s. w.
zu den unmittelbar veranlassenden, excitierenden Ursachen. Die letzteren
sind es vornehmlich, denen wir unter den gegebenen Verhältnissen noch
am ehesten zu Leibe rücken können. Die Herbeiführung einer gründ-
lichen Mundpflege ist deshalb auch das erste und nächstwichtigste,
was anzustreben ist, um der Entstehung von Zahncaries vorzubeugen.
Wird der Mund nach einer Mahlzeit nicht gereinigt , so bleiben
Speisereste zwischen und an den Zähnen haften , die alsbald in
Gärung (ibergehen und Mikroorganismen in Wirksamkeit bringen. Es
bilden sich Säuren, die zur Auflösung und Erweichung des Zahnschmelzes
und des Zahnbeins führen und die Zahnfäule zur Folge haben. Die
bakterielle Zersetzung überträgt sich von einem Zahn auf den anderen ;
das carieskranke Individuum steckt andere Menschen an, die carieskranke
Mutter überträgt ihr Leiden auf ihr Kind. Dies ist der Zusammenhang
der progressiv fortschreitenden Zahnfäule, die ursächlich durch eine un-
genügende Mundpflege hervorgerufen wird.
Der Kampf gegen die allgemeinen Ursachen der Caries ist
ungleich schwieriger, weil man es hier, wie z. B. bei der Erblich-
keit mit noch unerschlossenen Problemen (ererbte Konstitutions-
schwäche, ererbte Krankheitsanlage, schlechte Kalkassimilation u. s. w.) zu
thun hat oder wie bei der unzweck mäfsigen Ernährung mit
Fragen, die vom ökonomischen Standpunkte aus eine befriedigende Ant-
wort nicht finden lassen. Wenn man dem Minderbemittelten auch
sagen wird, dafs ihm dies Brot, dieses Getränk, dieses Gemüse in Rück-
sicht auf die Zähne nicht bekömmlich sein wird, so sind das sehr
schöne hygienische Forderungen, die er wirtschaftlich aber nicht durch-
zuführen imstande sein wird. Ebenso ist es mit den beruflichen
Schädlichkeiten, welche teils durch Allgemeinwirkung auf den
Körper, teils durch örtliche Schädigung Veranlassung von Zahncaries
werden; zu den ersteren gehören — wie ich in meiner bereits citierten
Arbeit „Zahnarzt und Arbeiterschutz“ auseinandersetzte — die giftigen
Blei-, Quecksilber- und Phosphorindustrieen, zu den letzteren die Säure-
industrieen, die Gewerbe der Bäcker und Konditoren u. s. w., sowie
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Miszellen.
mechanisch die Zähne angreifende Berufsarten. Hier wäre freilich der
beste hygienische Rat, den schädlichen Beruf mit Rücksicht auf die Zahn-
verderbnis aufzugeben, ein Rat, der jedoch, ebenfalls aus wirtschaftlichen
Gründen, in den allcrseltensten Fällen würde befolgt werden können.
Ebenso schwierig ist für den Zahnarzt auch der Kampf gegen er-
worbene allgemeine oder örtliche Krankheiten, wie z. B.
Rhachitis, Skrofulöse u. s. w., die Zahncaries im Gefolge haben können.
Auch die besonderen Prozesse im femininen Sexualleben
(häufige Schwangerschaften, Menstruation, Stillungsperiode) können nach
den Bungeschen Darlegungen Ursachen der Zahncaries sein. Auch un-
vorsichtig genommene Medikamente (Eisenpräparate u. s. w.) üben
ihren schädlichen Einflufs auf das Gebifs aus.
Sicherlich werden viele dieser einzeln aufgezahlten Ursachen sich
oft miteinander verbinden; so kann beispielsweise die schlechte Mund-
pflege in Verbindung mit beruflichem Einflufs (Bäckergewerbe) Zahn-
caries verursachen und rhachitische Schmelzdefekte können zuletzt durch
Trunksucht des Vaters, d. h. durch Erblichkeit belastet sein.
Kragen wir, wie diese Ursachen zu beseitigen sind, so ergiebt sich
von selbst die Vorfrage: wer sie zu beseitigen hat? Unsere Antwort
kann nicht anders lauten als: der wissenschaftlich gebildete Zahnheil-
kundige, der Zahnarzt.
Die ersten, die praktisch etwas gegen die Zahnfaule unternommen
haben, scheinen amerikanische Dentisten gewesen zu sein, die, wie die
Vorgänger unserer modernen Chirurgen (Bader, Feldscherer u. s. w.), aus
dem Volke gekommen sein mögen und anfänglich einem weit empfundenen
Bedürfnisse nach Linderung praktische Hilfeleistung gewährten, allmäh-
lich durch Erfahrung und Uebung grofse Handgeschicklichkeit er-
reichten, bis sie aus ihrer Kunstfertigkeit ein einträgliches Gewerbe
machten. Daneben gab es Aerzte, die den Ursachen, Folgen, inneren
Erscheinungen der Zahnfäule nachforschten, ohne sich jedoch praktisch
bethätigen (Hufeland, Richardson, Carpenter u. a.). Zange und Schlüssel
waren sicherlich lange die einzigen Helfer in der Not. Allein aus den
Erfahrungen amerikanischer Techniker, den Forschungen englischer,
französischer, skandinavischer und vor allem deutscher Dentisten und
den spärlichen Zahnuntersuchungen von Aerzten erwuchs während der
letzten drei Dezennien eine wissenschaftlich wie kunsttechnisch gleich
bedeutsame, hoffnungsreiche Kämpferin gegen die Zahncaries: Die
moderne wissenschaftliche Zahnheilkunde, ausgeübt durch einige tausend
approbierte praktische Zahnärzte. Ihr verdanken wir die immer gründ-
licher werdende Erforschung der Ursachen der Zahnfäule, die statistischen
Belege für die Häufigkeit ihres Vorkommens und die Mittel und Wege,
diesem Uebel erfolgreich zu steuern.
Es fragt sich nun, welche Bedeutung der Zahnheilkunde und Zahn-
hygienie für die allgemeine Gesundheit und Volkswirtschaft auf Grund
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H. Kümmel, Die progressive Zahncarics in Schule und Heer etc.
ihrer bisherigen Leistungen und Leistungsfähigkeit zukommt und ob sie
die ihr gebührende Stellung im öffentlichen Leben gefunden hat bezw.
was zu thun ist, um ihr dieselbe im Interesse der Volkswohlfahrt zu
verschaffen ?
Und hier stofsen wir gleich auf das traurige Kapitel von der Unter-
schätzung der Zahnheilkunde und -hygiene im öffentlichen Leben. Denn
noch gilt bei der Menge der Rat des Zahntechnikers als ebenso
vollwertig, wie der des Zahnarztes. Wie will aber der Zahntechniker
— bei aller Hochachtung vor seinem Stande ! — eine Entscheidung
darüber fällen können, ob im einzelnen Falle eine Extraktion am Platze
ist oder eine Plombierung, wenn er den allgemeinen gesundheitlichen
Verhältnissen des Patienten schon deshalb gar keine Rechnung tragen
kann, weil er den engen Konnex der Zähne mit dem ganzen Organismus
nicht kennt? Um die genaue Diagnose eines Zahnleidens und seiner
Ursachen- zu stellen — denn die letzteren zu erkennen, ist ja weit-
aus das wichtigste — mufs man ein wissenschaftliches Fachstudium hinter
sich haben. Der Techniker kann unmöglich von allen Entwicklungs-
und Erkrankungsverhältnissen der Zähne und von den vielen Krank-
heitskomplikationen, die die Caries im Gefolge hat , das präzise Bild
haben, das doch erforderlich ist, wenn man die Patienten nicht schema-
tisch behandeln will. Der Zahntechniker hat — und es wäre unbillig,
es von ihm zu verlangen! — weder eine anatomische noch eine kli-
nische Vorstellung von dem Zusammenhang zwischen Caries und Magen-
krankheiten, zwischen Caries und Epilepsie, Caries und Nervosität,
Caries und Tuberkulose u. s. w. Und ebensowenig wie ein Zahnarzt
sich anmafsen wird, eine Augenoperation zu unternehmen, oder einen
schweren I, ungenkranken zu behandeln, sollte selbst ein praktischer Arzt
auch die Behandlung Zahnkranker dem Spezialisten überlassen. Am
allerwenigsten ist aber der Techniker der berufene Helfer. Was dem-
nach zuerst zu erwirken ist, um die Caries zurückzudämmen und der
Zahnverderbnis Einhalt zu gebieten, das ist eine hygienische, auf
wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer Erfah-
rung begründete Belehrung und entsprechende Er-
ziehung des bereits zahnkranken und einer gehörigen
Zahnpflege ermangelnden Publikums.
Der Zahnarzt stelle seine Dienste in den Bereich der leidenden
Menschheit; er soll den Zahnkranken heilen, aber ihm nicht auf Wunsch
die Zähne ausreifsen ; nicht „Zum Henker damit!" wie Benedikt in
Shakespeares „Viel Lärm um Nichts“ ausruft, sondern „Zum Zahnarzt!“
wie Claudio rät. Der Zahnarzt soll auf faulige Wurzeln keine Ersatz-
stücke setzen, wie es das Publikum wünscht, soll nicht die Vorderzähne
mit Gold füllen und die Backzähne sich selbst überlassen; er erfülle
nicht aus Liebedienerei die unvernünftigen Wünsche ungeduldiger
Patienten, sondern behandle nach bestem Wissen und nach dem gegen-
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Miszellen.
wärtigen Stande der wissenschaftlichen Zahnheilkunde so, wie es jeder
einzelne Fall erfordert.1) Die ungeheure Verbreitung der Caries und die
damit verbundenen Zahnverluste werden dabei dem Techniker immer
noch Arbeit genug geben.
Aus dem Gesagten geht hervor, dafs der Kampf gegen die Caries
— dieser überaus bedenklichen Volkskrankheit — nur dann ein siegreicher
werden kann, wenn es gelingt, eine hygienische, auf wissenschaftlicher
Krkenntnis und praktischer Erfahrung gegründete Belehrung erfolgreich
zu verbreiten und die entsprechende Erziehung des zahnkranken Volkes
zu einer ordentlichen ' Zahnpflege zu erwirken. Diese Aufgabe fällt dem
wissenschaftlich gebildeten Zahnheilkundigen allein zu.
Die amtliche öffentliche Medizinalverwaltung, die berufene Hüterin
der Volksgesundheit, kann die Thatsache nicht aus der Welt schaffen,
dafs es 85 Proz. carieskranke Personen giebt, und dafs infolgedessen die
soziale Zahngesundheitspflege, obwohl es sich dabei weder um grofse
Sterblichkeitsziffern, noch um schwere Seuchengefahr handelt, mit zu
den wichtigsten Aufgaben gehört, deren Lösung sie endlich in Angriff
zu nehmen hat.
Man erhält neben den anderen Lösungen, die wir bereits gaben,
eine weitere Erklärung für diesen enorm hohen Prozentsatz Caries-
kranker, wenn man bedenkt, dafs vor 10 Jahren kaum 1000 approbierte
Zahnärzte auf etwa 5 Millionen Menschen kamen, von denen mehr als
a/„ zahnärztlicher Hilfe bedurften. Es kam demgemäfs ein Zahnarzt auf
30000 Patienten, eine Arbeitszumutung, die kein Mensch zu bewältigen
vermag. *) Da hat denn der Zahnarzt freilich keine Zeit, hygienische
eingehende Ratschläge zu erteilen. Viel genug, wenn er unter solchen
Umständen überhaupt gründlich untersucht. Dafs er dann seine prak-
tische Thätigkeit und seine Aufklärung in die Kreise der Minder-
bemittelten trägt, ist nicht gut zu verlangen.
Die privaten praktizierenden Zahnärzte können die Zahngesundheits-
pflege einmal wegen ihrer verhältnismäfsig viel zu geringen Anzahl, ferner
aus wirtschaftlichen Gründen, sowie wegen örtlicher Verhältnisse nicht
in die breiten Volksmassen hinaustragen. Vor allem die Kleinstädte
und Landorte, in denen weder ein Zahnarzt ansässig noch bequem zu-
gänglich ist und andererseits die ungünstigen Verhältnisse mancher
Grofsstädte, in denen junge Zahnärzte sich häufen und deshalb mit
Eixistenzschwierigkeiten zu kämpfen haben und in ihrem sozialhygienischen
Empfinden beeinträchtigt werden, verhindern eine raschere Verbreitung
einer rationellen Zahnpflege. Würde man aber annehmen, dafs der
*) Vgl. H. Kümmel, „Aufgabe des Zahnarztes in der öflentl. Gesundheits-
pflege“. Korresp.-Bl. f. Zahnärzte XXXII. Heft 3.
*) Vgl. hierzu II. Kümmel: „Zur Reform des zahnärztlichen Studiums.“
I). Zahnärztl. Wocbenschr. V. 14. S. 168.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Sehulc und Heer etc.
Zahn techniker hier ein stark mithelfender Arm ist, so befände man
sich in gewaltigem Irrtum.
Rufen wir die Statistik noch einmal zu Hilfe, so erfahren wir von
der British-Dental-Association, dafs man bei den ersten 40000
untersuchten Zähnen nur 4 Füllungen fand, beim Ab-
schlufs der Untersuchungen unter 100000 Zähnen nur 237 Füllungen.
Die Zahnbürste kannte man kaum. Roses Schulkinderuntersuchungen
ergaben, dafs von 28342 kranken Zähnen 21 729 durch Füllungen
zu retten gewesen wären; 6613 waren gezogen bezw. mufsten
gezogen werden; im ganzen fand man aber nur 53 Plomben, nämlich
1 7 Milch- und 36 bleibende Zähne. Auch hier war die Zahnbürste
fremd. Besser stand es um die Gymnasiasten; von 615 Schülern mit
4428 erkrankten Zähnen liefsen 170 sich 727 Zähne füllen. Bei 407
bessersituierten Schülern Berlins mit 1263 kranken Milchzähnen fand
Lipschitz, sage und schreibe, einen gefüllten Zahn (0,08 Proz.), von
1660 cariös bleibenden Zähnen waren 104 (6,26 Proz.) gefüllt. 399
Mädchen der 407 hatten zahnärztliche Hilfe nötig. 1 24 Schülerinnen
hatten ihre Zähne nie gereinigt. Voerckel fand bei 5003 Kindern mit
25 768 kranken Zähnen gerade 29 Füllungen. Mund- und Zahnpflege
war etwas Unbekanntes. 700 Kinder wiesen starke Zahnsteinablagerungen
auf, 100 hatten einen übelriechenden Mund, 73 litten an Schleimhaut-
entzündungen im Munde.
Nicht viel besser sieht es im Heere aus. Bartels konstatierte bei
16 1 Freiburger Soldaten, von denen nur 6 behandelt waren, 2 Füllungen.
5 Soldaten trugen künstliche Ersatzstücke auf faulenden Wurzeln. In
Waldkirch waren von 201 Gestellungspflichtigen 6 behandelt worden.
In Altbreisach war von 4077 erkrankten Zähnen nicht einer behandelt
worden, dagegen fand Bartels ein Ersatzstück auf faulenden Wurzeln.
Der bayrische Stabsarzt Daffner nahm während drei Dienstjahren
(1882 — 1885) bei 6520 Mann 330 Zahnextraktionen vor; bei 7 Proz.
der Extraktionen brach ihm nach seinem eigenen Bericht l) die Krone
ab. 92 Proz. der Extraktionen machte Daffner mit dem Schlüssel,
8 Proz. mit der Zange. Wieviel Extraktionen nebenbei Barbiere und
Lazaretgehilfen Vornahmen , darüber weifs der Bericht nichts zu ver-
melden. Drenkhahn (Hamburg) erzählt,*) der angstfreie preufsische
Soldat komme beim geringsten Zahnschmerz mit der Bitte um Entfernung
des Zahnes. Dieser Bitte werde gewöhnlich von seiten des Militärarztes
nachgegeben. Denn den Rat, den kranken Zahn sich erhalten zu lassen,
beantworte der Soldat in der Regel mit einer Fünfzigpfennigextraktion
l) lieber Zähne, Zahncaries und Zahnextraktion. D. M. f. Z. IV, 1886. S. 81 ff.
*) Deutsche militärärztl. Zeitschrift XXVII, 1898. S. 49 — 65. „Schwere
Folgen von Zahnkrankheiten in der Armee und ihr Zusammenhang mit Zahn-
extraktionen. “
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Miszellen.
beim Barbier. So ist die Zahl der Soldaten, denen schmerzhafte Zähne
ausgezogen werden, eine ganz enorme.
Nach den Angaben der Thomer Stationsaufseher der Garnison-
lazarette wurden dort durchschnittlich 5, im Jahre 1800 also Zähne ge-
zogen.
Diese Zahlen sprechen Bände!
Man begreift es, wenn angesichts ihrer Brunsmann ausruft: ') ..Der
Mann, der gegen die Zahncaries ein Mittel erfände oder ein Präservativ-
en t deckte, er müfstc gleich einem Koch bejubelt mul geehrt werden,
denn er hätte damit, wenn auch nicht eine todbringende Krankheit, so
doch ein gesellschaftliches Ucbel beseitigt, das noch viel verbreiteter ist,
als die Tuberkulose und auf den ganzen Organismus direkt und indirekt
den destruierendsten Einflufs ausübt.“
Hierher gehört auch der Ausspruch des Wiener Pädagogen
Dr. Leo Burgerstein : 2) „Könnte man alle üblen Folgen, welche die Ver-
nachlässigung des Gebisses bei einem Individuum nach sich zieht, in
e i n akutes Leiden zusammendrängen . die schläfrigsten Eltern und
Lehrer, die für solche Dinge nur ein Lächeln der Geistesabwesenheit
haben, miifsten erwachen.“
Es erhebt sich nunmehr die Frage: Darf die Gesellschaft einer
solchen Volkskrankheit gegenüber sich vollkommen unthätig und phleg-
matisch verhalten ? Mufs sie nicht vielmehr alle Mittel anwenden, um
dem Fortschreiten der Krankheit Einhalt zu gebieten ? Unsere Ant-
wort ist mit einem abermaligen Hinweis auf die Statistik eo ipso ge-
geben.
Wo ist aber der Hebel anzusetzen, um die individuelle Zahn- und
Mundpflege zum Gemeingut der ganzen Bevölkerung zu machen • Was
ist in dieser Hinsicht geleistet worden, und welche Aufgaben sind noch
zu erfüllen ?
Die Caries ist eine chronische Krankheit, von der nach Brunstnann
94,2 Proz. der Menschheit ergriffen ist. Eine so weit eingerissene
Krankheit läfst sich, wenn man selbst 10000 Zahnärzte staatlicherseits
beschäftigte, nicht von heute zu morgen beseitigen ; sie bedarf
vielmehr einer chronischen Prophylaxe und einer
energischen Ausdauer gegenüber der Indifferenz und
Interessenlosigkeit des Volkes, das von der Zahn-
caries geheilt werden soll. Die Schule und das Heer
sind die beiden Hauptfestungen , die zunächst erobert werden müssen
und bei gutem Willen der Behörden auch leicht erobert werden könnten.
In Schule und Heer können Lehrer und Vorgesetzte eine regelmäfsige
Zahnuntersuchung und Zahnpflege erzwingen. Würde dieser unlieb-
') D. M. f. Z. IX, 1891 Beiheft S. 60.
*) D. M. f. Z. V, 1887. S. 486 7.
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H. Kümmel, Die progressive Zahnes ries in Schule und Heer elc. (3| I
same Zwang während der Schul- bezw. Dienstjahre konsequent aufrecht
erhalten, so würde er nach einiger Zeit bald zur Gewohnheit werden
und im späteren Leben ein Bedürfnis sein. Nächst Schule und Heer
käme die Marine in Betracht, die Hospitäler, die Wohlthätigkeits-
an st alten u. s. w.
Diese Forderung wird hier nicht zum erstenmal erhoben. Die
französische Gesellschaft „Ligue de 1'Interet Public, Societe Protectrice
des citoyens contre les ■Abus“, der Viktor Hugo, Clemenceau u. v. a.
bedeutende Männer angehörten, strebte bereits 1884 mit Energie eine
systematische zahnärztliche Inspektion in allen Pariser Primärschulen an,
die zwangsweise durchgeführt werden sollte. ’) Die dem
Munizipalrat von Paris diesbezüglich überreichte Denkschrift bezog
sich auf schon bestehende derartige recht erfolgreiche Einrichtungen in
Cherbourg und in Vcrvi£rs in Belgien und sie verlangte, dafs die Schul-
kinder, insbesondere die der ärmeren Volksklassen, vierteljährlich die be-
trauten Zahnärzte aufzusuchen gezwungen werden, um sich ihre Kauwerk-
zeuge in Ordnung bringen zu lassen.
Einige Jahre später (1887) berichtete der französische Zahnarzt
Godon, es seien seitens einzelner Zahnärzte schon mehrfach Vorschläge
an ihn herangetreten, in Irrenanstalten, Waisenhäusern, Privatschulen u.s.w.
unentgeltlich periodische Zahnuntersuchungen vornehmen zu wollen, die
auch in verschiedenen Städten, in Rouen, Niort, Dieppe, Vernon u. a.
durchgeführt wurden. In Rouen brachte der dortige Zahnarzt Bagnot,
freilich unter vielen Mühen und Geldopfern, die dortige Munizipalität
dahin, dafs eine zweckentsprechende Klinik eingerichtet und sämtliche
Schulkinder der obligatorischen Visitation eines Zahnarztes unterworfen
wurden. „Zu Tausenden wurden Zettel gedruckt, vorn mit einem
schematischen Bilde des Gebisses und mit Rubriken für Namen und
Alter u. s. w. der Individuen, für Beobachtungen des Inspizierenden u. s. w.
und hinten mit allgemeinen Regeln der hygienischen Zahnpflege. Sie
wurden unter die Schüler verteilt, und diese haben sich dann einer
periodischen Inspektion von seiten des angestellten Zahnarztes zu unter-
werfen. Dieser bezeichnet die etwaigen Schäden und deren Grad
durch verschiedenfarbige Stifte auf jenem Schema, und so werden die
Eltern auf den kranken Zustand der Zähne ihrer Kinder aufmerksam
gemacht und zur Verbesserung angehalten, wobei es ihnen überlassen
bleibt, sie von jenem inspizierenden Zahnarzte oder einem anderen aus-
führen zu lassen.“ Die Wirkungen solchen Vorgehens waren — wie
nicht anders denkbar — nur segensreiche und sie waren dies in er-
höhtem Mafse, wenn der Inspektionszahnarzt, wie z. B. Fayoux in Niort,
noch für besonders gutgepflegte Zähne kleine Prämien aussetzte.
*) Medical Times and Gazette, Dental Combos. Vgl. D. M. t. /. II, 1 SS4.
S. I40 „Zahnärztliche Gesetzgebung in Frankreich“.
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Miszellen.
Fisher ') teilt mit, dafs in der „North Surrey District School for
pauper children" zu Anerley mit 850 Zöglingen zwischen 3 und 16 Jahren
ein approbierter Zahnarzt angestellt war. „Derselbe hat jede Woche
einen Vormittag in der Schule anwesend zu sein, und das Schul-
direktorium liefert ihm die nötigen Instrumente und Materialien, sowie
ein Salär von 60 Pfd. (1200 Mk.) jährlich."
Der Wienet Zahnarzt Dr. Hillischer war der nächste, der auf dem
6. internationalen Kongrefs ftir Hygiene und Demographie in Wien im
September 1887 sich der obligatorischen Zahnpflege in den Schulen an-
nahm. „Wenn die hohen Unterrichtsbehörden der Kommunalverwaltung
und die Lehrerschaft Wiens nichts dagegen einzuwenden haben sollten",
wollte er in den nächsten Jahren mit seinem Assistenten alljährlich mehr-
mals die Zähne aller Schulkinder Wiens unentgeltlich untersuchen und
behandeln. Er bewirkte auch auf dem Kongrefs die Protokollierung
folgender Resolution: „Im Rahmen der beantragten ärztlichen Schulauf-
sicht sollten die Zähne aller Schulkinder — womöglich mehrmals im
Jahre — einer obligatorischen Untersuchung und eventuell,
z. B. bei Kindern Unbemittelter, einer fakultativen Behandlung
unterzogen werden. Hierzu sollte die freiwillige Hilfe tüchtiger Fach-
ärzte herangezogen werden.“
Dieser Resolution sind auf internationalen Versammlungen weitere
gefolgt, jedoch ohne jeden Erfolg.
Im praktischen England, wo die Anerleyer Distriktschule die erste
geregelte Zahngesundheitspflege und die Wohlthat eines Schulzahnarztes
genofs, erzielte man durch eine im grofsen Stile betriebene Agitation,
die der bereits citierte Zahnarzt Cunnigham leitete, in kurzer Zeit auch
grofse Erfolge. In seinem Vortrage über „The Dental aspect of public
Health“ *) that Cunnigham dar, man müsse die maisgebenden Stellen
veranlassen, einen wesentlichen Teil der öffentlichen Aufwendungen für
ärztliche Dienstleistungen der zahnärztlichen Hilfe zuzuwenden und durch
Fürsorge für die Zähne der Schulkinder ein Werk von nationalem
Gewinn zu unternehmen. Dieser Vortrag wurde mit dem Fisher -
schen in einer Broschüre vereint, die mit einer Vorrede von Sir John
Tomes versehen , die gröfste Verbreitung im Lande fand. *) Es
folgten über ganz Grofsbritannien sich erstreckende statistische Arbeiten
des School Committee der British Dental Association, die sich nicht nur
über die Häufigkeit der Zahnfäule orientieren, sondern auch die weiteste
>) D. M. f. Z. V, 1887. S. 158.
*) D. M. f. Z. VI, 1888. S. 208.
*) D. M. f. Z. VI, 1888. S. 495/96. Referat von Westpbal über Sir John
Tomes „Preface to the Fisher and Cunnigham Pamphlet.“ Vgl. Joum. of the Brit
Dcnt. Ass. August 1887. S. 457.
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II. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc. (3 1 3
Oeffentlichkeit ftir die Sache der Zahngesundheitspflege interessieren
wollten. Cunnigham agitierte durch populäre Vorträge, die er da und
dort hielt, lebhaft weiter, indem er auch durch drastische Lichtbilder
den Nutzen der Zähne für die Verdauung, für die Mitwirkung beim
Sprechen und ihre ästhetische Bedeutung lebendig veranschaulichte. Die
Folge war, dafs bereits 1894 an mehreren Schulen Zahnärzte fest an-
gestellt wurden, deren Wirken ein höchst segensreiches war.
1893 berichtete der englische Zahnarzt Spokcs auf dem Kopen-
hagener Kongrefs, ’) dafs ihm auf Anraten des Schularztes die Zahnfür-
sorge für 750 Kinder übertragen und zu diesem Zwecke in der Schule
ein entsprechendes Operationszimmer eingerichtet wurde. Im ersten Be-
richtsjahre nahm er bei den 750 Kindern 1153 Revisionen, 640 Extrak-
tionen von Milchzähnen und 81 von bleibenden Zähnen, sowie 321
dringliche Füllungen vor.
1894 hatte die Londoner Schulbehörde zehn Zahnärzte mit einem
Gehalt von 3000 Mk. angestellt, die die Zähne der Schulkinder regel-
mäfsig zu untersuchen hatten. *)
So sehen wir die Frage der Zahngesundheitspflege in den Schulen
Englands seit den Jahren 1891 bezw. 1894 durch Anstellung von Schul-
zahnärzten an den Distrikts- und sonstigen Schulen, wo eine Gemeinde
der anderen nachfolgte, allmählich eine praktische und erfolgreiche Lösung
finden.
In den anderen europäischen Ländern steht man aber noch am
Anfang der Entwicklung, die England schon durcheilt hat.
Schon Brunsmann äufserte sich im zahnärztlichen Verein für Nieder-
sachsen 1891 inbezug auf eine direkte Einwirkung der Zahnärzte auf
die Zahnhygiene innerhalb der Schulen nicht allzu optimistisch. Einer-
seits — meinte er — seien behördliche Schritte nicht zu erwarten, an-
dererseits werde in der Schulzahnarztfrage mehr geredet als gehandelt
und es sei fraglich, ob sich Zahnärzte genug fänden, unentgeltliche Zahn-
revisionen in den Schulen vorzunehmen. Man sei im Wollen grofs,
anstatt weniges thatsächlich durchzuführen, z. B. durch Lehrer und Bücher
auf die Schüler zahnhygienisch einzuwirken.
In derselben Versammlung berichtete Eckart, er sei für das
Alumnat des Klosters Lokkum zu zahnärztlichen Leistungen verpflichtet
worden; die Behörden wollten infolgedessen auch für Gymnasien und
Bürgerschulen zahnärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
1891 begann auch Fenchel mit seinen statistischen Cariesfrequenz-
untersuchungen *) und betonte die Notwendigkeit der Einrichtung staatlich
*) Brit. Journ. of Dent. Science, XXXVI, Nr. 617. 2. X. 93.
*) Deutsche med. Wochenschrift, 1894. S. 1152.
*) Novemberbeiheft der D. M. f. Z. IX, 1891. S. 93 ff. Hygiene als Prophy-
laxis der üaries.
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Miszellen.
subventionierter zahnärztlicher Kliniken in deutschen Städten und die
Verbreitung hygienischer Belehrungen — besonders in den Schulen — ,
die sich in folgende wesentliche Punkte zusammenfassen lassen:
1. Die Pflege der Zähne, d. h. das Reinigen mufs schon mit dem
3. Jahr beginnen.
2. Milchzähne müssen im Falle des Hohlwerdens, ebenso wie die
Molarzähne, gefüllt werden.
3. Regelmäfsige zahnärztliche Revision ist vom 4. Jahre ab not-
wendig.
4. Winke für die Pflege des ersten Molarzahnes. *)
5. Cariöswerden der Zähne kann durch tägliches sorgfältiges Reinigen
erheblich aufgehalten werden.
Der Erfolg Fenchels war eine zahnärztliche Poliklinik, die der
Hamburger zahnärztliche Verein im November 1893 eröffhete. Dies
Institut sollte, nach der Meinung Fenchels, den Behörden bald seine
Notwendigkeit beweisen ; das Endziel müfstc dann ein staatliches zahn-
ärztliches Institut sein, das der allgemeinen Bevölkerung gewidmet wäre.
Im Jahre 1894 konnte Fenchel denn auch auf dem Kopenhagcner
Kongrefs von einigen praktischen Erfolgen berichten. Es wurde folgende
Resolution von ihm vorgeschlagen, die als „autoritative Richtschnur“ für
alle sozialhygienisch arbeitenden Zahnärzte gelten mag:
„Der am 13. und 14. August 1894 in Kopenhagen tagende inter-
nationale zahnärztliche Kongrefs ist der Ansicht, dafs die Zahncaries bei
allen zivilisierten Völkern einen so progressiven Charakter angenommen
hat, dafs sie dringende Gegenmafsregeln, namentlich im Kindesalter, er-
heischt. Der Kongrefs empfiehlt, in allen zivilisierten Ländern Kom-
missionen zu bilden, welche es sich zur Aufgabe machen, die Zahnver-
hältnissc der betr. Länder, womöglich in ihren Beziehungen zum ge-
samten Gesundheitszustand, statistisch festzustellen und die betr. Behörden,
welchen die LTeberwachung der Gesundheitspflege ihrer Länder obliegt,
darauf aufmerksam zu machen, unter gleichzeitigem Hinweis auf die zur
Bekämpfung der Zahncaries geeigneten Malsregein. Als geeignete Mafs-
regeln zu diesem Zwecke empfiehlt der Kongrefs in erster Linie die
Aufklärung des Volkes für rationelle Zahnpflege und Zugänglichmachung
unentgeltlicher zahnärztlicher Hilfe für die Kinder der unbemittelten
Klassen. Ferner empfiehlt der Kongrefs, dafs die etwaigen Unter-
suchungen über Zahnkrankheiten in den Schulen womöglich in Beziehung
zu allgemeinärztlichen Untersuchungen von Schulkindern stattfinden
müssen."
*) Vgl. Klave, „Der erste permanente Mahlzahn bei Kindern im Alter von
6 — 12 Jahren“, in D. M. f. 7.. 1884. S. 1 — 5: ferner Kuhns, ebda. XVI, 1808
S. 316-324.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc. 615
Ungefähr seit derselben Zeit beginnt in Deutschland das Interesse
für die öffentliche Zahngesundheitspflege, wenigstens in zahnärztlichen
Kreisen, lebendiger zu werden, während die Behörden und Lehrer sich
immer noch ablehnend verhielten. Fenchel (Hamburg), Greulich und
Berten (Würzburg), Kühns (Hannover) u. a. erfuhren den lebhaftesten
Widerstand. Lipschitz (Berlin), der in Berliner Gemeindeschulen
statistische Untersuchungen vornehmen wollte, erhielt von der Schul-
deputation den Bescheid, „eine solche Untersuchung läge aufserhalb des
Interessenkreises der Schulverwaltung.“ Rose meinte (in der 38. Ver-
sammlung des zahnärztlichen Vereins flir Niedersachsen 1901):') „Die
Stadtverwaltungen .... denken sich in die Sache nicht so hinein und
lassen auch eventl. durch Intriguen von seiten der Nichtärzte sich be-
einflussen."
In den letzten Jahren ist jedoch der Widerstand gegen die selbst-
losen freiwilligen zahnhygienischen Bestrebungen der Zahnärzte etwas ge-
brochen. Brunsmann, Kühns, Voerckel, Weber und Bartels wollen nun,
dafs das Kind durch die Autorität des Lehrers zur Zahnpflege veranlafst
werde; hierzu wäre allerdings, wie Röse bemerkt, nötig, zunächst die
Lehrer über die Schädlichkeit und Gefährlichkeit der erkrankten Zähne
und über den Nutzen einer energischen Zahnpflege aufzuklären. *)
Die Lehrer hätten dann die Zähne der Kinder zu überwachen, sie vor
Infektionsgefahr zu bewahren, zur Zahnpflege anzuleiten, kurze diesbezüg-
liche Aufsätze anfertigen zu lassen u. s. w. In die Schulbücher der
Kinder müfste ein Lesestück über Zahn- und Mundpflege aufgenommen
werden. Die zahnhygienischen Bestrebungen wären durch den An-
schauungsunterricht, durch Gewährung von kleinen Prämien u. s. w. noch
zu fordern. Daneben wäre die Anstellung von Schulzahnärzten natürlich
eine Vorausbedingung, da selbst die gründlichsten Belehrungen erkrankte
Zähne ja nicht heilen können. Hand in Hand mit der Anstellung von
Schulzahnärzten und gewissermafsen zu ihrer Krgänzung müfste nach der
Ansicht Fenchels die Errichtung von Polikliniken gehen, welch letztere
allein die unentgeltliche Behandlung zahnkranker Volksschulkinder und
der zahnkranken unbemittelten Bevölkerung überhaupt ermöglichen
würden. Eine solche poliklinische Einrichtung liefse sich vielleicht als
zahnärztliche Station in den städtischen Krankenhäusern treffen, wenn
sie nicht aus eigenen Mitteln, wie die gemeinsame erste deutsche Poli-
klinik des zahnärztlichen Vereins für Niedersachsen und der Stadt
Hannover, errichtet werden kann. Fenchel (1891), Rose (1894) und
Kühns (1896) waren die ersten, die die Einführung von Zahnpoli-
kliniken energisch wünschten, die sie als die sichersten Hilfsstationen
ansahen, solange die Schulzahnarztfrage noch keine definitive günstige
*) D. M. f. Z. XIX. S. 231 — 39.
’) Vgl. Bartels, D. M. f. XVII, 1899. S. 85—90.
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Miszellen.
Erledigung gefunden hat. Die Bestrebungen hatten den Erfolg, dafs
Fenchel endlich als Leiter der mit 500000 Mk. Kapital gegründeten
Mellinstiftung in Hamburg auserwählt wurde, die völlig Unbemittelten
unentgeltlich, weniger Bemittelten gegen geringe Entschädigung zahn-
ärztliche Hilfe leistet. Die Thätigkeit wurde mit 2 Assistenten be-
gonnen, raufste aber im folgenden Jahre, wegen des aufserordentlich ge-
stiegenen Bedürfnisses, bereits auf 12 Assistenten verteilt werden. Es
werden jährlich 1000 armen Kindern die Zähne in Ordnung gebracht
und tooo künstliche Zähne unentgeltlich eingesetzt Da es in Hamburg
aber mehr als 50 000 arme Schulkinder giebt, so ist dennoch staatliche
Hilfe erforderlich, wenn eine wirkliche Besserung erzielt werden soll. ')
Rose wurde der Leiter der zweiten wohlthätigen Stiftung in
Deutschland, der seitens des Kommerzienrats Lingner 1900 in Dresden
errichteten „Wissenschaftlichen Zentralstelle für Zahnhygiene“ und der
damit verbundenen zahnärztlichen Poliklinik zur ausschliefslichen Be-
handlung zahnkranker Schulkinder, *) die teils ganz unentgeltlich (Volks-
schulkinder), teils gegen die übliche Taxe der zahnärztlichen Institute
(Kinder höherer Schulen) behandelt werden. Der festangestellte Direktor
darf keine Privatpraxis betreiben ; Zahnärzte sollen bei selbständigen
zahnhygienischen Forschungen unterstützt, die Volksbelehrung und Schul-
zahnarztbewegung soll gefördert werden. Röse bildete mit Professor
Miller (Berlin) und Dr. Cohn unter Zustimmung aller deutschen zahn-
ärztlichen Vereine ein Komitee zur wissenschaftlichen Bearbeitung aller
statistischen Untersuchungen, die in der Dresdner wissenschaftlichen
Zentralstelle ausgeführt werden sollten.
Ein weiterer Erfolg ist, dafs die Schuldeputation Frankfurt a. M.
1 1 Zahnärzten des dortigen Zahnärzteverbandes gleichfalls die Zahn-
untersuchung der Volksschulkinder genehmigte. a)
Der badische Verein unternahm 1894 mit Genehmigung des
badischen Oberschulrats statistische Feststellungen über Cariesfrequenz. *)
Eine Broschüre Roses, „Die Zahnpflege in den Schulen", wurde in Baden
und Eisafs-Lothringen in jeder Schulklasse zur Instruktion der Lehrer
und zur Belehrung der Schüler ausgelegt. s)
Die Untersuchungen der Zahnärzte von Schleswig-Holstein
und die Berichterstattung darüber an die zuständige Regierung am
1. April 1900 hatten gleichfalls zur Folge, dafs sämtlichen königlichen
*) Vgl. Bericht von Groet- Bremen über die 8. Sektion des Pariser Kon*
^resses. D. M. f. Z. XVIII, 1900. S 515/16.
*) D. M. f. Z. XVIII, 1900. S. 575/76.
*) D. M. f. Z. XIX, 1891. S. 231/36 u. S. 326.
4) Zahnärztl. Rundschau, 1894.
a) ebda. 1895. Nr. 149.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc.
Schulvisitatoren und städtischen Schulbehörden des schleswigschen Re-
gierungsbezirks, sowie den Kreisschulinspektoren von Hadersleben, Apen-
rade, Sonderburg, Tondem und Möpeltondem ein Erlafs zuging, in dem
seitens der Regierung die dringendste Notwendigkeit ausgesprochen
wurde, bei den Schülern auf eine rationelle Zahn- und Mundpflege zu
achten und in prophylaktischer Beziehung auf sie einzuwirken. *)
Demnächst übernahmen in Altona 6 Zahnärzte die unentgeltliche
Behandlung der Volksschulkinder, die 1901 an 1049 Kindern 1050
Extraktionen und 50 Füllungen Vornahmen. -)
Die Darmstädter Bürgermeisterei sandte 1901 auf Veranlassung
-der dortigen Schulärzte an die Eltern aller Schulkinder eine gedmekte
Anweisung, welche Belehrungen über eine rationelle Mund- und Zahn-
pflege enthielt, die zu befolgen die Eltern ein drin glichst ermahnt
-wurden. 3) Diesem Vorgehen der Schulärzte folgte das der dortigen
Zahnärzte. Aus der Erwägung heraus, „dafs Minderbemittelte sehr oft
-die unentgeltliche zahnärztliche Behandlung in der Privatpraxis als ehr-
verletzendes Almosen ansähen und gerade die Volksschulkinder so
•enorme Cariesfrequenz hätten,“ 4) begründete der Verein hessischer
Zahnärzte unter bedeutender finanzieller Unterstützung des Professors
Witzei nach dem Vorbilde Jessens in Strafsburg (s. u.) eine eigene
Volks- bezw. Schulzahnklinik, deren Förderung neben der einmütigen
Opferwilligkeit des Vereins und der unentgeltlichen Dienstleistung
•6 Darmstädter Zahnärzte, Regierung und Stadtverwaltung betrieben
hatten.
ln Pissen hat der verstorbene Alfred Krupp eine Heilstätte für
■die Zahncaries gestiftet, deren Leitung Professor Witzei übernehmen sollte
und die allen Angestellten der P'irma, sowie ihren Familien unentgelt-
liche Zahnbehandlung gewährt. 5)
Ob in Berlin der beabsichtigte Anfang wirklich gemacht ist und
die „Berliner zahnärztliche Poliklinik“ von 4 Berliner Zahnärzten sich
thatsächlich und mit Erfolg in den Dienst der guten Sache gestellt und
die zahnärztliche Behandlung für zwei Gemeindeschulen übernommen
hat. ist z. Zt. nicht feststellbar.
In der Charlottenburger Stadtverordnetenversammlung fiel
jüngst eine Anregung, neben 12 angestellten Schulärzten für 1000 Mk.
einen Schulzahnarzt anzustellen, auf gänzlich unfruchtbaren Boden.
’) Bericht über die 26. Jahresvers. (Juni 1900) zu Lübeck. In I ). M. f. /..
XVIII, 1900. S. 454.
*) Jessen bei der Eröffnung der Darmstädter Schulzahnklinik. Odontologischc
Blätter VII, 1902/1903. Nr. 18. S. 364.
’) Odontologischc Blätter VI, 190t 1902, Nr. 14. S. 255.
4) Odontol. Blätter VII, 1902 03. Nr. 18. S. 361.
4) Odontol. Blätter 15. XII. 1902. S. 363, 371.
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 4°
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6i8
Miszellen.
Die Berliner Armendirektion hatte schon vor mehr als zwanzig
Jahren für das grofse „Friedrichstädtische Waisenhaus“ einen Zahnarzt
angestellt (I)r. Ritter). Während seines ersten Dienstjahres hat er bei
83 Mädchen 243 Füllungen in bleibenden Zähnen gelegt und 65 Zahn-
steinreinigungen vorgenommen.
In Dresden hat Zahnarzt Toerger in den beiden städtischen
Kinderanstalter. allmonatlich zahnärztliche Untersuchung und Behandlung
der Kinder vorzunehmen. Er ist ferner Schulzahnarzt an der Ehrlichschen
Schule, deren 50 Internatskinder er jährlich zweimal in seiner Praxis
behandelt, während er die 200 gesunden Schulkinder einmal jährlich
untersucht und über Mund- und Zahnpflege belehrt. Endlich ist er
auch Schulzahnarzt im Dresdener Freimaurerinstitut mit 230 Internisten.
Seine private schulzahnärztliche Thätigkeit fällt jedoch nicht unter den
Begriff des kommunalen Schulzahnarztes.
Im Centralwaisenhause zu Ems soll F’rev verhältnismäfsig günstige
Erfolge in regelmäfsiger zahnärztlicher Ueberwachung von allerdings nur
wenigen Zöglingen aufzuweisen gehabt haben.
In München ist Kallhardt seit 1898 seitens des Kultusministeriums
in der „Zentralwerkstatt zur Erziehung kriippelhafter Kinder angestellt,
wo er 1900 1901 31 Zahnreinigungen, 78 Extraktionen, 449 Füllungen
an einigen 60. Kindern vomahm.
Die unbedingt gröfsten Erfolge auf dem Gebiete der Schulzahn-
arztfrage hat bisher jedoch der Strafsburger Privatdozent Dr. Jessen er-
zielt. „Eine Hebung der Volksgesundheit durch Besserung der Zahn-
verhältnisse kann nur in der Schule erstrebt und erreicht werden“, sagt
Jessen in seinem Vortrage : „Zahnhygienische Forderungen“; ') „städtische
Schulbehörden und staatliche Unterrichtsverwaltung müssen Interesse be-
kommen, die verständnislose, wenig einsichtige Volksmasse aufgeklärt
werden. Dem Mittelstand, und besonders den Arbeitern fehlt auch die
nötige Zeit, Geld und guter Wille zu gesundheitlich ausreichender
Selbsthilfe. Da mufs die Schule durch Schulärzte und Schulzahnärzte
nachhelfcn. Die Kosten sind klein im Vergleich zu ihrem Nutzen.“
„In einzelnen Städten ist dies Ziel erreicht, unter anderem auch in
Strafsburg, wo alle Volksschulkinder, 16000 an der Zahl, alljährlich
zahnärztlich untersucht werden sollen und auch für ihre Behandlung ge-
sorgt ist. Die übrige Bevölkerung der Stadt wird über die Bedeutung
der Zahnpflege durch kurze Regeln darüber aufgeklärt, welche jedes
Schulkind auf seiner mit Gebifsschema und ßestelivermerk (zur Behand-
lung) versehene Untersuchungskarte mit nach Hause bringt. Diese
Regeln erhält auch jeder Patient von Jessens Universitätspoliklinik mit
nach Hause. Das mufs die Zahnpflege verbreiten und die Volks-
gesundheit fördern.“
*) D. M. f. XIX, 1901. S. 211 — 218.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc. 619
So hat denn in 28 Semestern vom Winter 1888 bis einschliefslich
Sommer 1901 Jessen 64 Zahnärzte und 285 Mediziner als Schüler ge-
habt, die unter seiner Leitung (seit 1899 gesellte sich noch die Poli-
klinik für Zahn- und Mundkrankheiten des Privatdozenten Dr. Römer
hinzu) 67599 Patienten behandelten, bei denen insgesamt 45076 Ex-
traktionen vorgenommen und 36 568 Füllungen gemacht wurden.
Die Genehmigung zu Schulkinderuntersuchungen hatte die Strafs-
burger städtische Schulbehörde in der Mitte der neunziger Jahre ge-
geben, die kostenlose Untersuchung und Behandlung Jessen aus freien
Stücken übernommen. „Gerade die völlig unentgeltliche Behandlung,
auch ohne Erstattung der Materialkosten, ist das einzige Mittel, um die
Kinder der Arbeiter zur Zahnpflege zu erziehen.“ *)
Es fanden denn alljährlich zahnärztliche L'ntersuchungen der Schul-
kinder statt. Der Andrang wurde aber endlich so grofs (es fanden sich
zuweilen 60 Kinder in einer Stunde ein), dafs es an Zeit, Raunt und
Arbeitskräften gebrach, so dafs Jessen der städtischen Behörde die bau-
liche Veränderung der bisherigen Zahnpoliklinik vorschlug und ihr
nahelegte, einen städtischen Schulzahnarzt anzustellen und die erforder-
lichen Instrumente u. s. w. anzuschaflfen. Diese Vorschläge billigte der
Gemeinderat.
Die amtliche Verfügung der Untersuchungen durch den Oberschul-
rat erfolgte 1901. Nach jahrelangen Bemühungen Jessens gelang es ihm
endlich, die erste städtische Schulzahnklinik mit besoldetem Stadtschul-
zahnarzt (Assistent Jessens), der seine Zeit ausschliefslich den Schul-
kinderuntersuchungen zu widmen hat, am iS. Oktober 1902 ins Leben
zu rufen.
Die Räume sind von der Universität zur Verfügung gestellt worden,
während die Kosten der baulichen Veränderungen und der Einrichtung
die Stadt Strafsburg bestritt. Sie beliefen sich auf 2 500 Mk. Das
Jahresgehalt des Assistenten, der ein in Deutschland approbierter Zahn-
arzt sein und sich jeweils für zehn Monate verpflichten mufs, beträgt
2000 Mk., die laufenden Ausgaben für Instandhaltung der Instrumente,
für Medikamente, Materialien, Bedienung, Heizung, Beleuchtung, Gas und
Wasser betragen jährlich 750 Mk. und setzen sich folgendermafsen zu-
sammen : Heizung, Beleuchtung und Wasser 1 50 Mk., Bedienung monat-
lich 15 Mk. =180 Mk., so dafs für die Betriebskosten 420 Mk. übrig
bleiben. Als Direktor der städtischen Schulzahnklinik ist Jessen er-
nannt und damit städtischer Beamter, aber ohne Gehalt. Die jährlichen
Ausgaben für die zahnärztliche Untersuchung und Behandlung von
*) Jessen, Denkschrift für die Errichtung eines rahnärztl. Instituts an der
Kaiser -Wilhelms - Universität Strafsburg. Berlin 1902. S. 13.
40*
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620
Miszellen.
16000 Volksschulkindern in Strafsburg belaufen sich demnach auf
2750 Mk. *)
Eine ähnliche Summe kann und mufs jede Stadt Air eine so
wichtige Sache ausgeben, da es sich um das Wohl der Bevölkerung,
um Gesundheit des heranwachsenden Geschlechtes handelt. (Jessen.)
Mit Jessen bin ich der Ansicht, dafs die approbierten Zahnärzte in
allen Städten zunächst die Erlaubnis der Behörden nachsuchen müfsten,
unentgeltliche Zahnuntersuchungen der Volksschulkinder vornehmen
zu dürfen. Genaue Statistiken müfsten die Lehrer fuhren. Zahn-
hygienische Flugschriften sollten verteilt werden. *) Untersuchungskarten,
die ein Gebifsschema und folgende kurze Regeln und Belehrungen über
Zahnpflege enthalten, sollten zur Verwendung kommen.
1. Mit 2*/j Jahren hat jedes Kind 20 Zähne.
2. Im 6. Jahre erscheint der erste bleibende Backenzahn.
3. Von 7 — 14 Jahren dauert der Zahnwechsel.
4. Im 12. Jahre erscheint der zweite bleibende Backzahn, im 18.
bis 40. Jahre der Weisheitszahn.
5. Gesunde Zähne sind für die Verdauung und die Gesundheit des
ganzen Körpers unentbehrlich.
6. Milchzähne haben für das Kind denselben Wert, wie die blei-
benden Zähne für den Erwachsenen.
7. Von Kindheit an müssen die Zähne täglich zweimal (morgens
und abends) kräftig gebürstet werden.
8. Die Zähne sollen alljährlich vom Zahnarzt untersucht werden.
9. Sobald sie erkranken, müssen sie gefüllt werden, ehe Schmerzen
auftreten.
10. Gesunde Milchzähne sind die Vorbedingung für gute bleibende
Zähne.
11. Um die Mundhöhle gesund zu erhalten, müssen alle Wurzeln, die
nicht gefüllt werden können, ausgezogen werden.
1 2. Die eigenen Zähne müssen erhalten werden, weil künstliche nur
ein Notbehelf sind.
Fassen wir alle diese Mitteilungen zusammen, so ergiebt das
Resultat, dafs bis jetzt gerade ein Zahnarzt als Gemeinschulzahnarzt
angestellt ist, also kommunaler Medizinalbeamter ist. Man hat nun oft
die F'rage aufgeworfen, ob die Schule, trotz der erschreckend häufigen
’) Jessen, ,,Dic städt. Schulzahnklinik in Strafsburg i. E.“ D. M. f. Z. XXI.
10 S. 544.
a) Römers Schrift ,,Dic Bedeutung der Zahnpflege tür das Wohlbefinden des
ganzen Menschen“ wurde in 6000 Exemplaren dem Strafsburger Oberschulrat zur
Verteilung an die Schulen überwiesen. Vgl. Jessen, „I )ic Aufklärung des Volkes
über die Bedeutung der Zahnpflege Air die Gesundheit“. Berlin 1900.
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H. Kamme!, Die progressive Zahnearies in Schule und Heer etc. 62 1
Zahncaries, überhaupt die Pflicht habe, sich um die Zahnhygiene zu
kümmern und man hat diese Frage, selbst zahnärztlicherseits, nicht
immer bejaht. Die zahnärztliche Behandlung von Kindern habe mit der
Schule doch eigentlich nichts zu thun, bemerkte Lipschitz, der alle dies-
bezüglichen Bestrebungen überhaupt für verfehlt hält. *) Vor allem sei
die Zahncaris keine Schulkrankheit wie Kurzsichtigkeit und Rückgrats-
verkrümmung, und deshalb habe die Schule auch nicht die Pflicht, für
die Behandlung zahnkranker Kinder zu sorgen, abgesehen davon, dafs in
der Schule die zahnärztliche Hilfe vielfach schon zu spät komme: sie
müfste meist schon früher einsetzen. Die zahnärztliche Untersuchung
von Schulkindern dürfe nicht Selbstzweck sein ; sie habe nur die Auf-
gabe, den Nachweis zu erbringen, dafs die Zahncaries eine allgemeine
Volkskrankheit ist, die schon das Gebifs jugendlicher Individuen in hohem
Mafse angreife bezw. zerstöre. Dieser Beweis sei durch die bisher
stattgehabten Untersuchungen aber bereits eklatant geliefert. Nunmehr
sei es viel wichtiger, die städtischen Behörden der gröfseren Städte zur
Gründung zahnärztlicher Anstalten anzuhalten, in welchen die Kinder
der Unbemittelten vollständige und unentgeltliche zahnärztliche Hilfe er-
halten; ferner in Krankenhäusern, in welchen bereits durch Extrahieren
von Zähnen teilweise zahnärztliche Hilfe geleistet wird, diese auf die
Konservierung von Zähnen auszudehnen und endlich in Städten, in
welchen weder eins noch das andere durchgeführt werden kann, zur Aus-
übung der zahnärztlichen Funktion bei unbemittelten Kindern Armen-
zahnärzte anzustellen.
Die Behauptung Lipschitz’, dafs die Zahncaries keine Schulkrankheit
sei, ist nun allerdings zutreffend, sie beweist aber nichts gegen die Be-
deutung der Erkrankung für die Schule, die ja durch die grofse An-
steckungsgefahr eo ipso gegeben ist. „Die Erkrankungen des Organismus,
sagt Leubuscher, *) die die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit
des Kindes herabsetzen, müssen für die Beurteilung seitens des Lehrers,
fiir die Ansprüche, die er an das Fassungsvermögen des Kindes stellen
darf, von grofser, ausschlaggebender Bedeutung sein.“ Insofern gehört
eben auch die Zahnhygiene zur allgemeinen Körperhygiene, deren Pflege
ja ebenfalls der Schule obliegt Zahnhygiene ohne zahnärztliche Be-
handlung ist jedoch ein Nonsens. Der Zahnhygiene bedürfen, wie
unsere statistischen Zahlen bewiesen, etwa nur 5 — 10 Proz., der zahn-
ärztlichen Behandlung sind dagegen 95 — 90 Proz. der Schüler benötigt.
Und schliefslich hält ja auch Lipschitz — wie wir — die Anstellung
von Zahnärzten, die Errichtung zahnärztlicher Anstalten u. s. w. für eine
') 12. intern, mediz. Kongreß zu Moskau. August 1897. Sektion für Odon-
tologie.
*) Staatliche Schulärzte (Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der
Pädagogischen Psychologie und Physiologie V, 2). Berlin 1902. S. 5.
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Ö22
Miszellen.
Notwendigkeit. Ob diese anzustellenden Zahnärzte nun „Armenzahn-
ärzte" oder „Schulzahnärzte", und ob diese zu errichtenden Anstalten
Polikliniken" oder wie auch immer heifsen, die Hauptsache ist ja doch,
dafs zur Beseitigung der Zahncaries seitens der Behörden und der Zahn-
ärzte alle verfügbaren Mittel und Kräfte aufgewendet werden. Selbst
in den Städten mit mehr als tooooo Kinwohnem, die ja auch in der
Anstellung von Schulärzten für die anderen vorbildlich zu werden be-
ginnen — t 7 von 33 haben durchgeführte Schularzteinrichtung, 5 haben
sie beschlossen oder vorbereitet1) — ist trotz der Menge vorhandener
Zahnärzte die Möglichkeit kostenloser zahnärztlicher Behandlung für eine
grofse Anzahl von Schulkindern nicht vorhanden, obwohl sie doch, wie
Altona, Hamburg, Strafsburg, Dannstadt beweisen, durch die Zahn-
ärzte geschaffen werden kann und ntufs, wenn den Schul-
behörden die Notwendigkeit der Anstellung von Schulzahnärzten be-
wiesen werden soll. Man suche die Schulkinder unentgelt-
lich behandeln zu dürfen, und der Unterschied zwischen dem
zahngesunden bezwf. zahnbehandelten und zahnkranken Kinde wird auf
Schulbehörden, Aerzte, Lehrer u. s. w. bald viel stärkeren Eindruck
machen als jedwede theoretische Belehrung und thatenlose Aufklarungs-
predigt.
Es ist schon viel, dafs man seitens der Behörden der Zahnpflege
überhaupt irgend welchen Wert beimifst. So ordnet der Erlafs des
königlich preufsischen Unterrichtsministers vom 31. Juli 1880 in den
Alumnaten eine regelmäfsige Zahnpflege an;*) die preufsische Regierung
hält neuerdings (1901) die Lehrer an, bei den Seit ülem auf eine gründ-
iche Zahn- und Mundpflege zu achten. s) Die Zöglinge des königlichen
Studienseminars in Aschaflenburg werden auf Anordnung der Regierung
jährlich dreimal zahnärztlich untersucht. 4)
All das darf freilich kaum ein Anfang genannt
werden. LTm der grofsen Volkskrankheit Einhalt
zu gebieten, dazu bedarf es eben derer, die sie zu be-
siegen verstehen, der Zahnärzte — aber ihre An-
stellung an Schulen als Kommunalbeamte wird noch
nicht so bald v erwirklicht werden. Dann zeige der
') Hart mann, Stellungnahme der Stadtverwaltungen zur Schulgcsundhcils-
pflege. Vcrhandl. der 3. Jabrcsvers. des Allg. deutschen Vereins für Sehulgesund-
heitspflege ;Krgänzungshefl zu „Gesunde Jugend". 111. Bd.). Leipzig 1 002.
’) Handbuch der Schulhygiene von Burgerstein und Netolitzky. Wien.
VII, I des Handbuchs der Hygiene von Wcyl. Jena 1895. S. 387.
Ä) Kitter, Hechte, l'Hichtcn und Kunstfchlcr in der Zahnheilkunde. Berbn
1903. S. 297.
*) Deutsche zahnär/.Ü. Wochenschrift, 1901, Nr. 154.
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II. Kümnscl, l)ic progressive Zahncaries in Schule und Heer etc.
Zahnarzt, dafs er in selbstlosem sozialem Bemühen
zunächst nur auf das Volkswohl bedacht ist. Er
weifs, dafs er die volkswirtschaftliche Kraft hebt,
wenn er der Zahncaries erfolgreich zu Leibe rückt
und er thue dies, indem er Opfer nicht scheut und
das Kigeninteresse hin tan setzt. Seine Bemühungen
werden am Ende auch ganz naturgemüfs Früchte
tragen.
Man könnte die Frage aufwerfen, ob denn die Armenpflege hier
nicht eingreifen müsse : Die Armenpflegeverwaltuug müfste sich sagen,
dafs körperliche und geistige Gesundheit und Leistungsfähigkeit, welche
die besten Vorheugungsmittel gegenüber der Verarmung sind, auch durch
schlechte Zahne beeinträchtigt werden. Deshalb müfste ihr besonders
viel daran gelegen sein, in den Kreisen der Minderbemittelten für zahn-
hygienische Aufklärung und frühzeitige Zahngesundung zu sorgen. Bei
solcher tieferen Erfassung ihrer gesundheitlichen Prophylaxe der Ver-
armung würde sie einmal die angestrebte Anstellung von Schulzahn-
ärzten und die Errichtung von Schulzahn- bezw. Polikliniken zu betreil>cn
haben, die ja dann vor allem den Kindern der ärmeren Volkskreise zu
gute kämen, sodann für zahnhygienische Mafsnahmen bei den noch nicht
schulpflichtigen Kindern Ortsarmer Vorkehrungen zu treffen haben. l)
Von konservierender moderner zahnärztlicher Behandlung ist jedoch nir-
gends die Rede ; Extraktionen besorgt auf Zuweisung der Armenärzte
jeder Barbier, Gebisse fertigen nicht nur mittelmäfsige Techniker, sondern
auch geschäftliche Zahninstitute an. Letztere werden in Berlin über-
haupt nur in dringenden Fallen auf das Gutachten des Armenarztes durch
Vermittlung des Armenkommissionsvorstchers zu Krankenkassenpreisen
gewährt. In Berlin sind ferner zur unentgeltlichen Behandlung von
Zahn- und Mundkrankheiten zwei Zahnärzte zugelassen. In Charlotten-
burg hatte die Armenkommission in ihrer Geschäftsanweisung vom
Jahre 1901 zahn- oder gar zahnärztliche Behandlung gar nicht vorge-
sehen; erst für den Stadthaushaltsetat 1903 1904 sind dem Magistrats-
antrage gemäfs 3000 Mk. für zahnärztliche Behandlung Ortsarmer be-
willigt worden. *) Was Hamburg betrifft, so teilen die „Blätter für das
Hamburger Armenwesen" 3) in einem Rundschreiben des verwaltenden
b Ritter hat Armenzahnärzte zu regelmäfsigcr Untersuchung der fraglichen
Kinder ev. in deren Itehausung, wo auch exklusive der Füllungen, die ltehandtung
slatttindcn könnte, vorgeschlagen.
*) Amtliche Nachrichten d. Charlotlenb. Armen Verwaltung IV, 9. Januar 1901.
S. 318. Vgl. auch „Neue Zeit", Charl. lägl. Zeitung (Ende März bezw. Anfang
April 1903).
*) Vgl. Zahnärztl. Rundschau, 1902. Nr. 328.
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624
Miszellen.
Vorstehers für das Medizinalwesen der Allgemeinen Armenanstalt die
Grundsätze mit, nach welchen die der Armenanstalt von seiten der
Mellinstiftung jährlich unentgeltlich bewilligten 5oo Zähne und weitere
a 1,50 Mk. anzufertigenden Zähne den Ortsarmen zu gute kommen sollen,
und zwar nur auf Empfehlung der Armenärzte dauernd unterstützten
Personen, die behufs besserer Ernährung ein künstliches Gebifs unum-
gänglich nötig haben.
Was die Armenverwaltungen für die Zahnpflege der Waisenkinder
bisher gethan haben, wurde oben bereits mitgeteilt. Es waren nur
Berlin, Dresden, München und Ems, die sich diesbezüglich l>ethätigt
hatten.
Neben der Armenverwaltung sollte aber auch seitens der Kranken-
häuser, soweit sie städtische Institutionen sind, für eine städtische
Ausübung der Zahnhygiene gesorgt werden. Die einzige Anstalt, in der
bis jetzt die zahnärztliche Behandlung eingeführt ist, ist die „Volksheil-
stätte (für Lungenkranke) am Grabowsee“ bei Oranienburg. ')
Sollte es aber — nach unseren Ausführungen über die Beziehungen
zwischen Zahnverderbnis einerseits und sonstigen örtlichen wie allge-
meinen Erkrankungen, insbesondere Infektionskrankheiten andererseits,
deren Begünstigung durch Mundschleimhautentzündungen, vor allem aber
auch über Magenkrankheiten nach Zahn Verderbnis: kurz im Hinblick auf
die Bedeutung eines gesunden Gebisses für Gesundung und Gesundheit
jedes Menschen — nicht Pflicht der ärztlichen Leiter der allgemeinen
Krankenanstalten sein, die Folgerungen daraus zu ziehen und sich der
ständigen Hilfe eines zahnärztlichen Assistenten zu versichern : Von
einer entsprechenden praktischen Bethätigung ist aber , trotz der
Sympathien, die die Krankenhaus-Direktoren der Idee entgegenbringen,
keine Rede, selbst dort nicht, wo zwei ärztliche Autoritäten leitende
Stellungen einnehmen, Ewald, als Direktor der inneren Abteilung des
Augustakrankenhauses in Berlin, und G r a w i t z , als Oberarzt derselben
in Charlottenburg, denen wir aufserordentlich wichtige Forschungen über
den Zusammenhang zwischen Zahncaries und schweren chronischen All-
gemeinkrankheiten verdanken.
Wie Ritter aus bereits erwähnten Gründen verlangt, dafs kein
Kinderkrankenhaus ohne besondere Vorsorge für zahnärztliche
Ueberwachung errichtet werden sollte, dürfen wir mit Delbanco in Ham-
burg 2) gewifs erwarten, dafs in nicht zu ferner Zeit in allen a 1 1 g e -
*) Vgl. hierzu: H. Hümmel, „Zahnärzte für Krankenanstalten“. Journal f.
Zahnhcilk. Berlin XVIII, 17. S. 162 163.
*) Nach Ritter auch die Heilstätte Görbcrsdorf, wo I)r. J o n a s - Breslau
zahnärztlich behandelt — Als staatlicher Irrenzahnarzt entwickelt Köhler (Darmsladt)
seit langen Jahren eine segensreiche Thätigkeit. Vgl. D. Z. W. VI. 30, S. 442.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc. 625
meinen Krankenanstalten (die besondere Bedeutung der opera-
tiven und technischen Zahnheilkunde für die Chirurgie des Mundes u. s. w.,
also für die chirurgischen Spezialanstalten, gehört nicht hierher) der
Zahnarzt herangezogen werde. „Kein Arzt wird heute ein Magenleiden
in Behandlung nehmen — sagt Delbanco — ohne gleichzeitig Sorge zu
tragen, dafs die kranken Zähne entfernt bezw. ausgebessert werden . . .
Sind die Keime der Zahncaries nicht die Ursache des Magenkatarrhs, so
fordern sie ihn doch. Der Circulus vitiosus wird geschlossen, indem
der Magenkatarrh die Hinfälligkeit und damit die Verjauchung der Zähne
beschleunigt : was ist das für eine hygienische Fürsorge, die dem, was
den Mund passiert, erwiesen wird, dem Munde selbst aber nicht ge-
schieht?“ Aber abgesehen von dem Zusammenhang zwischen Zahncaries
und Magen- bezw. anderen Krankheiten, spielt doch in allen Kranken-
häusern die Ernährung eine sehr wichtige Rolle , die ja bei
schlechten Zahnverhältnissen nur eine ungenügende oder sehr mangel-
hafte sein kann, was eines Beweises wohl kaum bedarf. Ebenso ist auch
bei vorhandener Zahncaries die thunlichst gefahrlose therapeutische Ver-
wendung differenter Medikamente (Eisen, Quecksilber u. a.) unmöglich.
Hier mufs eben der Zahnarzt der ständige Gehilfe des Krankenhaus-
arztes werden, und durch die Wirksamkeit des ersteren könnte sicher
manche Behandlung eine Beschleunigung bezw. Abkürzung und auch eine
gründlichere Heilung erfahren. Der wirtschaftliche Vorteil wäre der,
dafs hierdurch die städtischen Krankenhausausgaben sich mit der Zeit
auch verringern würden. ')
Die Realisierung dieser Pläne, die Anstellung von Schul-, Armen-,
Waisen- und Krankenhauszahnärzten, ist durch einen Hauptfaktor sehr
fraglich, durch den Kostenpunkt. Er scheint eine unübersteigliche
Barriere zu bilden und er scheint die Zukunft einer gesunden Entwick-
lung der schul-, militär- u. s. w. zahnärztlichen obligatorischen Behandlung
und somit auch eine Verminderung der das Volkswohl arg gefährdenden
Zahncaries in Frage zu stellen.
Sichere Hilfe kann hier also nur durch die Zahnärzte selbst
kommen, die opferfreudig und opferfähig genug sind, sich zur unentgelt-
lichen Behandlung zu erbieten. Es müfsten zahnärztlicherseits die Ge-
meindeverwaltungen vcranlafst werden, dafs dieselben unter Bereitstellung
von Mitteln aus Schul-, Armen-, Krankenhausetat u. s. w. zunächst ver-
suchsweise (in den Krankenhäusern, Baracken oder anderen Räumen)
Zahnpolikliniken zur vollständigen sachgemäfsen zahnärztlichen Behand-
lung namentlich Unbemittelter (nach dem Muster der Hamburger,
Strafsburger u. a.) eröffnen. Die Errichtung einer Schul-, Krankenhaus-
oder Ortsarmenzahnklinik liefse sich im Laufe der Zeit sicher bewerk-
') „Eine hygienische Forderung“. Deutsche Mcdizinalzeitung. 1900. S. 997,99.
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626
Miszellen.
stelligen und damit wäre auch die Basis für den späteren Aufbau eines
Schulzahnarztinstituts gelegt.
Auch die Krankenkassen, bei denen die zahnärztliche Versorgung,
namentlich in den Grofsstädten, ganz verwickelte und fur alle Teile un-
erquickliche Verhältnisse geschaffen hat, hal>en mit den Versicherungs-
anstalten gröfstes gesundheitliches und wirtschaftliches Interesse an einer
Möglichkeit, die zahnärztliche und zahnhygienische Behandlung ihrer Mit-
glieder zu Kassenpreisen geregelt zu sehen.
Damit wäre das Fundament gegeben, auf welchem die praktische
Volkszahnhygiene weiter bauen könnte und mtifste. Die öffentlichen
Gesundheifsbehörden, die bis jetzt für eine der sozialen Bedeutung der
Zahnverderbnis entsprechenden Zahngestindheitspflege so gut wie gar
nichts gethan haben, werden dann die Wichtigkeit erkennen, welche
die Zahnpflege für das gesamte Volkswold besitzt : die Statistik wird sie
darüber belehren, dafs die Anstellung wissenschaftlich gebildeter Zahn-
ärzte ein absolutes Bedürfnis ist, und dafs demzufolge ihre soziale Be-
thätigung in der Form kommunalamtlicher Medizinal-
personen eine unumgängliche Notwendigkeit ist. Die Bedeutung
und Notwendigkeit der Volkshygiene stempelt die approbierten Zahn-
ärzte ohne weiteres zu berufenen amtlichen Medizinalpersonen, sobald
ihre soziale Bethätigung den Gemeinden Nutzen und Erfolg zahn-
hygienischer Fürsorge allüberall zunächst durch statistische Unter-
suchungen und gleichfalls unentgeltliche Ueberwachung der Zahnpflege,
weiterhin durch unentgeltliche poliklinische Behandlung der zahnkranken
Volksschulkinder, Armen und Waisen bewiesen hat. Dann wird die
pekuniäre Sicherung von Zahnpolikliniken für Schulen und Arme, die
Anstellung kommunaler zahnärztlicher Krankenhaus-Assistenten und Schul-
zahnärzte wie anderer nur mehr eine Frage der Zeit sein !
Ein noch wichtigeres Interesse, die Volkszahnhygiene zu pflegen,
hat der Staat aber in betreff des Heeres, eine F'rage, die wir be-
reits oben berührt haben. Auch hier kam man über die Anfänge nicht
hinaus.
Die Kadetten-Anstalt zu Grofs-Lichtcrfelde hat seit langem rcgel-
mäfsige zahnärztliche Behandlung und Beaufsichtigung eingeführt. Private
Abmachungen dieser Art bestehen auch anderswo zwischen Kadetten-
Anstalten und Unteroffizierschulen einerseits und Zahnärzten anderer-
seits, ohne aber für die Allgemeinheit des Heeres etwas zu be-
deuten.
1897 war für I’rcufsen eine Summe von 11 500 Mk. ausgesetzt, für
welche die schadhaften Zähne der Unteroffizierschüler und Vorschüler von
Zahnärzten untersucht und einer erhaltenden Zahnpflege, bis zum Ersatz
schadhafter Zähne, unterworfen werden sollten. In derselben Weise wurde
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II. Kümmel, Die progressive Zahnearies in Schule und Heer etc.
iu Bayern und Sachsen vorgegangen, während Württemberg sich ab-
lehnend verhielt. *)
Künstlicher Zahnersatz wird aktiven Mannschaften laut Verfügung
des Generalstabsarztes von Coler nur bei Dienstbeschädigung oder Dienst-
unfähigkeit gewährt.
Als ehrenamtlicher Zahnarzt hat Haun in Erfurt beim
4. Armeekorps seit 1S65 ca. 25000 Zähne behandeln dürfen.5)
Seit Anfang 1891 sind zwei Berliner Zahnärzte vom Sanitätsamte
des Gardekorps mit der zahnärztlichen Behandlung der Unteroffiziere
und ihrer Familien betraut, während die Zahnextraktion bei den Soldaten
bislang meist von jungen, zahnärztlich schlecht ausgebildeten Militär-
ärzten ausgeführt wurden.
Nach einer Mitteilung von Schaffer- Stuckert ®) hat fernerhin der
preufsische Kriegstninister die Sanitätsämter aller Armeekorps angewiesen,
in sämtlichen Garnisonplätzen Vorträge mit approbierten Zahnärzten ab-
zuschliefsen zwecks zahnärztlicher und technischer Behandlung der Unter-
offiziere und Mannschaften nebst Familienangehörigen.
Dies sind die Resultate; sie sind spärlich genug.
Die Zahnheilkunde ist eben bis heute noch für die Militärmedizin
ein Stiefkind, trotzdem sich diese Beiseiteschiebung am Gesundheits-
zustand der Armeen bereits bitter gerächt hat, wie unsere genannten
Zahlen erwiesen haben. Neuerdings wird das auch in der militärärzt-
lichen Literatur anerkannt und eine Aenderung energisch angestrebt.
Sehr bezeichnend ist die Antwort des Chefs des preufsischen Sanitäts-
korps auf eine Umfrage des holländischen Zahnarztes Stark betreffs
der Zahnpflege in den europäischen Heeren. Sie lautet : „ln der
preufsischen Armee gehört die Fürsorge in bezug auf Zahnkrankheiten
und -pflege zu den dienstlichen Obliegenheiten der Sanitätsoffiziere, bei
technischen Schwierigkeiten werden in vielen Fallen Zahnärzte zu Rate
gezogen.“
Die Ueberwachung der Zahnpflege der Soldaten liegt jedoch den
Unteroffizieren ob, die selbst zum gröfsten Teile an cariösen Zähnen
leiden.
Etwas besser liegen die Zahn Verhältnisse in Oesterreich. „Den
österreichischen Militärärzten wird seitens der Heeresverwaltung, in An-
erkennung der hohen Bedeutung rationeller Mundpflege u. s. w. und der
Notwendigkeit jeglicher kunstgerechter zahnärztlicher Behandlung des
Soldaten, nicht blos Gelegenheit zur Ausbildung in der Zahnheilkunde
l) Nach Ritter, 1. c. S. 301.
5) Diskussion zu Starks Vortrag im Zentralvercin d. Z. 6. Aug. 97- D. M.
f. Z. IV, 1897. S. 434.
*) D. Zahnärztl. Wochcnsrhr. V, 25. S. 303.
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628
Miszellen.
gegeben, sondern auch die dazu notwendigen Behelfe gewährt. Die Aus-
bildung in der Zahnheilkunde erfolgt in raehrmonatlichen praktischen
Kursen an den zahnärztlichen Instituten der betreffenden Dozenten, die
sich unentgeltlich dazu erbieten, oder in Privatkursen bei denselben, oder
bei hervorragenden Zahnärzten gelegentlich der Spezialkurse der Militär-
ärzte. Der Unterricht umfafst die Krankheiten der Mundhöhle, speziell
Zähne, deren Reinigung und Erhaltung, die kunstgemäfse Extraktion ver-
lorener Zähne, den Zahnersatz. Behufs praktischer Verwertung dieser
Kenntnisse haben alle Militärsanitätsanstalten Instrumentenkästen zur
Extraktion, Reinigung, Konservierung defekter Zähne, die Garnison-
spitäler, sowie die Militärerzichungs- und Bildungsanstalten ein voll-
ständiges, sehr reichliches Instrumentar für jede wie immer geartete
zahnärztliche Hilfeleistung." (Vgl. Stark, 1. c.).
In Deutschland erfolgten die ersten Schritte zu einer Besserung
der zahnärztlichen Behandlung von Mannschaften und gleichzeitig zu
einer entsprechenden Ausbildung der Sanitätsoffiziere, ähnlich der eben
besprochenen österreichischen, in München 1896/1897. Im Dezember
1896 übernahm Port1) die zahnärztliche Behandlung der Münchener
Garnison und unterrichtete dazu kommandierte Militärärzte im Extrahieren,
in Zahn- und Mundpflege, Diagnostik der verschiedenen Zahnerkrankungen,
Behandlung von Kieferbrüchen u. s. w.
Die Zahl der Patienten vervierfachte sich beinahe, die der Einzel-
behandlungen stieg fast auf das Neunfache in den vier Jahren.
1900 bekam Port einen aktiven Assistenzarzt als ständigen Assistenten.
Die bayerische Militärverwaltung hat solche Kurse für Sanitäts-
offiziere seit 1897 noch in weiteren vier gröfseren Garnisonen unter
Leitung eines zahnärztlich ausgebildeten Militärarztes oder eines Civil-
zahnarztes eingerichtet und sorgt, da sie keine militärärztliche Akademie
und also keinerlei Einflufs auf die Ausbildung ihrer späteren Militär-
ärzte hat, durch deren Abkommandierung an zahnärztliche Universitäts-
institute (die sie erst nach der Ablegung der zahnärztlichen Approbations-
prüfung verlassen) für ihre besondere Spezialausbildung.
In Sachsen ist die Zahnheilkundc durch kriegsministerielle Ver-
fügung vom 3. April 1902 amtlich in der Armee eingeführt worden
durch Einrichtung zahnärztlicher Stationen in den Gamisonlazaretten
Dresden und Leipzig. s)
1 ) „Rückblick stuf meine Thätigkeit als Zahnarzt am Garnisonlazaret München
in den Jahren 1898 — 1900 cinschl.“ (Corr.-Bl. f. Z. Juli 1901). Refcr. von
K u n s t m a n n -Dresden in D. M. f. Z. XIX, 1901. S. 518/19.
*) Richter, „DieZahnheilkunde in der Armee“ Korr.-Bl. f. Z. XXXII. Ilctl 2,
S. 152. — Nach einer privaten Mitteilung desselben Autors ist sogar beabsichtigt,
im Chemnitzer Garnisonlazarett eine neue (ftlr Sachsen die dritte) zahnärztl. Station
einzuriehlcn.
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H. Kümmel, Die progressive Zahncaries in Schule und Heer etc.
In Preufsen haben Kurse für Militärärzte wohl nur in Stettin unter
Leitung von Lührse *) im Anschlufs an seine statistischen Soldaten-
untersuchungen stattgefunden. Vom Stettiner Generalkommando 2. Armee-
korps wurden demselben vom November 1897 ab Patienten überwiesen,
nachdem er sich freiwillig zu deren Behandlung erboten hatte. 20 Sa-
nitätsoffiziere beteiligten sich, zwar unregelmäfsig, von Ostern 1898 bis
Mitte 1900 an diesen Kursen; behandelt wurden im ganzen 1060 Mann
Neuerdings hat sich nun noch Jessen in Strafsburg zur kostenlosen
Untersuchung und Behandlung von Soldaten, die ihm überwiesen werden,
bereit erklärt, und dem Generalarzt des 15. Armeekorps in seinem
schriftlichen Vorschlag anerapfohlen, ein interessierter aktiver Zahnarzt
möge ein Jahr lang seine Kurse mitmachen, um sich dann nach gesetz-
lich vorgeschriebener einjähriger praktischer Thätigkeit die zahnärztliche
Approbation zu erwerben.
Kimmle hat nun, um die Einführung der Zahnheilkunde im ganzen
Heere zu bewerkstelligen, den Vorschlag gemacht, die Mannschaften in
Bezug auf die Zahnpflege einer dauernden Kontrolle des Kompagnie-
chefs oder Kompagnieoffiziers zu unterwerfen ; Bruck hat Instruktion der
Rekruten über den Wert der Zahnpflege, Lieferung von Zahnbürsten
mit Benutzungserklärung, sowie Zahnkontrollkarten für die Rekruten vor-
geschlagen. Dies sind Vorschläge, die zwar recht acceptabel sind, ohne
geschultes Sanitätspersonal aber doch wirkungslos bleiben würden.
Gleichviel, ob das Sanitätspersonal nun aus Civilzahnärzten oder
Sanitätsoffizieren und -Unteroffizieren besteht, so ist schon der Ueber-
wachung halber eine gründliche Vorbildung und Erfahrung auf dem Ge-
biete der Zahnheilkunde unerläfslich, die durch Kurse für die Militär-
ärzte, durch Studienkurse und Unterricht für die Zöglinge der Kaiser-
Wilhelms- Akademie erreicht werden könnte. Daneben wird , des
besonderen Bedarfs an konservativ - therapeutisch geschulten Dienst-
personal halber, auf die Heranbildung geschulter Spezialisten, vor allem
unter den militärdienstfähigen Civilzahnärzten, kaum verzichtet werden
können, die alsdann auch die Ueberwachung der einjährig-freiwilligen
zu praktischer Dienstleistung heranzuziehenden Zahnärzte übernehmen
könnten. ' Von dem derart im Heer bethätigten Zahnarzt bis zu seiner
Anstellung als Medizinalbcamter ist dann nur noch ein Schritt.
Will man aber die Entwicklung des Zahnarztes zum kommunalen
wie staatlichen Medizinalbeamten beschleunigen, so ist seitens der Zahn-
ärzte eine energische fortgesetzte Aufklärung des Volkes über die Be-
deutung der Zahnheilkunde, ferner das Sammeln brauchbarer Statistiken
in Schulen, Armceen, Gefängnissen u. s. w. die erste Bedingung. Will
man auf gesetzgeberischem Wege einen Erfolg erzielen, so mufs nach
’) „Zahnheilkundc und Militärmeduin“. D. M. f. Z. XX, 1902. S. 276/84.
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Miszellen.
den Bungeschen Worten (I. c. S. 31), der intellektuelle Erfolg voraus-
gegangen sein. Nur auf diese Weise, wenn man das Uebel bei der
Wurzel packt, wenn man unsererseits um der guten Sache willen Opfer
nicht scheut, wird man der Volkskrankheit, der Zahnverderbnis, einen
festen Damm entgegensetzen können, der ein weiteres Vordringen der
Krankheit unmöglich machen wird. Die segensreichen Folgen für das
Volkswohl und die Volkswirtschaft, die hieraus erwachsen, werden un-
ermefsliche sein.
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Die Hugo Heimannsche öffentliche Bibliothek und
Lesehalle in Berlin in den ersten vier Jahren ihres
Bestehens und ihr gedruckter Katalog.
Von
Dr. w. paszkowski,
Bibliothekar an der Königlichen Bibliothek in Berlin.
Am 24. Oktober d. J. konnte die von dem Stadtverordneten Herrn
Hugo H e i m an n in Berlin aus eigenen Mitteln zur unentgeltlichen Benutzung
Air jedermann begründete Oeffentliche Bibliothek und Lesehalle auf ein
vierjähriges Bestehen zurückblicken. Wie weiten Kreisen diese hochherzige
Stiftung unter allen Bevölkerungsschichten der Reichshauptstadt in dieser
Zeit zugute gekommen ist, das mögen einige Zahlen lehren, welche die letzte
Statistik über das vierte Betriebsjahr mitteilt. Danach haben seit der Er-
öffnung des Instituts insgesamt 420 S74 Personen in demselben geistige
Anregung gesucht, 126343 davon allein im letzten Jahre. Die Zahl der
in und aufser dem Hause verliehenen Bände betrug in diesem Zeiträume
247609, davon 75161 Bände im letzten Jahre. Nach hause verliehen
wurden im letzten Betriebsjahre nicht weniger als 61 675 Bände. Die
Lese säle wurden in diesem Zeiträume von 64 668 Personen, und zwar
62256 Männern und 2412 Frauen, in den vier Jahren zusammen von
2 1 5 668 Personen besucht. Die Zahl der hier ausliegenden periodischen
Schriften beträgt jetzt 510 Zeitungen und Zeitschriften jeder Art und
Richtung. Man wird diese bedeutende Entwicklung nicht zum mindesten
auf Rechnung der äufserst liberalen Benutzungsbestimmungen zu setzen
haben; denn unseres Wissens ist es hier zum ersten Male in Deutsch-
land unternommen worden, eine grofse freie öffentliche Biichersammlung
ohne jede erschwerende Formalität den Bewohnern einer Riesenstadt
zugänglich zu machen. Dem Besitzer des Instituts gebührt dafür nicht
minder Anerkennung als dem Publikum, das das Vertrauen desselben
zu würdigen verstanden hat und dessen Haltung, wie der letzte Bericht
ausdrücklich hervorhebt, musterhaft gewesen ist. Wenn man bedenkt.
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632
Miszellen.
wie wenig man sonst geneigt ist, bei der Benutzung grofser derartiger
Institute von allerlei Kautelen abzusehen, und wie mifstrauisch man im
allgemeinen einem so verschiedenartig zusammengesetzten Publikum wie
dem dieser Bildungsstätte entgegenzukommen gewohnt ist, so mufs man
geradezu erstaunen, dafs im letzten Jahre unter den 61 675 nach hause
verliehenen Büchern nur 16 verloren gegangen sind. Denn was will es
besagen, dafs beispielsweise der letzte Bericht der Kruppschen Bücher-
halle, — die, weil auch aus privaten Mitteln gegründet, mehrfach zum
Vergleich mit der Heimannschen Bibliothek auffordert, — hervorhebt,
es seien trotz der riesigen Frequenz dieser übrigens vorzüglich ausge-
statteten und verwalteten Sammlung im Laufe der drei letzten Jahre
nur zwei Bände abhanden gekommen? Denn die Kruppsche Bibliothek
ist eigentlich keine freie öffentliche Bibliothek, sondern sie ist nur den
Werkangehörigen zugänglich, Leuten also, die in einem bestimmten Ab-
hängigkeitsverhältnis zum Stifter stehen, und die der Bibliothekar be-
ständig unter den Augen hat. In der Heimannschen Bibliothek handelt
es sich aber um ein vielgestaltiges Publikum, das über das ganze Weichbild
Berlins zerstreut ist, ja auch über die Vororte, und dessen einer Teil ganz
ohne Beruf, vielfach ohne eigene Wohnung ist. Da ist denn in der Tat
das Verhalten dieses Publikums ein schöner Beweis für die Richtigkeit
des Satzes, dafs, wo man Vertrauen sät, man auch Vertrauen erntet.
Zu den musterhaften Einrichtungen dieses Instituts, die wir bereits
in einem früheren Artikel dieser Zeitschrift kurz geschildert hatten (vgL
Bd. 1 5, 1900, S. 267 — 270) ist nun ein gedruckter Katalog gekommen, der in
schöner Ausführung in einem stattlichen Bande vor uns liegt, und der zur
Erleichterung der Benutzung wesentlich beitragen wird. Dieser systema-
tische Katalog, den wir in nachfolgendem einer etwas eingehenderen Be-
sprechung unterziehen wollen, verzeichnet in 19 Abteilungen, die in sich
wiederum systematisch geordnet sind, den gesamten Bücherbestand bis Ende
März d. J. Er verbindet die Vorzüge eines systematischen und Kreuz-
kataloges derart, dafs jedes einzelne Werk nicht nur an der ihm im
System zukommenden Stelle aufgeführt wird, sondern auch unter allen
anderen Wissensgebieten, die es etwa noch berührt. So erscheint
öfter ein Werk an 2 — 3 Stellen, womit nicht allein die Auffindbarkeit
erleichtert, sondern auch dem Benutzer die weitgehendste Anregung zum
Weiterarbeiten gegeben wird. Dazu kommt noch ein ausführliches und
sehr sorgfältig gearbeitetes Sachregister, das die Brauchbarkeit dieses
Verzeichnisses erhöht. Bedauerlich ist es nur, dafs der Bearbeiter sich
nicht dazu entschlossen hat, noch ein alphabetisches Autorenregister
hinzuzufügen. Denn wenn auch ein in der Bibliothek aufgestellter alpha-
betischer Katalog hier ergänzend hinzutritt, so würde doch die Auf-
nahme eines solchen Registers in den gedruckten Katalog vielen Be-
nutzern äufserst willkommen gewesen sein, die zu hause nachsehen wollen,
ob dieses oder jenes Werk vorhanden ist, und die zwar den Autor einer
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\V. Paslkowski, Die Huko Heimannschc öffentliche ltihliothek etc. 633
Schrift kennen, nicht aber ohne erheblichen Zeitaufwand sich in das
System werden hineinfinden können.
Die einzelnen Abteilungen der Bibliothek sind sehr verschieden aus-
gestattet. Das wird von vielen Ijedauert werden, aber es erklärt sich
aus dem Bestreben des Begründers, seine Sammlung vornehmlich zu einer
Bildungsstätte für die gewerblichen Arbeiter Berlins zu machen, ln der
That zeigt die Statistik des letzten Betriebsjahres, dafs von den 7475
Personen, die der Leserkreis umfafst, 3812 gewerbliche Arbeiter sind,
während die Zahl der Kaufleute 1907, der Aerzte und Juristen 135,
der Staats- und Privatbeamten 367, der Lehrer und Lehrerinnen 249,
der Studierenden 122, der Seminaristen und Schüler 317 beträgt, wozu
noch 566 Benutzer ohne Beruf kommen. So sind die Abteilungen
Volkswirtschaft, Gewerbekunde, Naturwissenschaft und Geschichte, nach
denen erfahrungsgemäfs in diesen Kreisen die gröfste Nachfrage herrscht,
vornehmlich berücksichtigt worden. Dafs die Litteratur zur Sozialwissen-
schaft und Sozialdemokratie dabei l>esonders reichlich bedacht ist, wird
von diesem Gesichtspunkte aus gleichfalls erklärlich. Auffallender ist die,
wie uns scheint, etwas einseitige Berücksichtigung der Litteratur zur Juden-
frage, S. 98 ff.
Beim genaueren Durchsehen des Kataloges stofsen allerhand Mängel
auf, die der Beseitigung, und Versehen, die der Verbesserung be-
dürfen. Wenn ich daher hier einige solcher Ausstellungen mache und
hie und da auch Bedenken und Wünsche äufsere , so soll damit das
feststehende Verdienst dieses mit vieler Umsicht gearbeiteten Verzeich-
nisses in keiner Weise geschmälert werden. Es sollen nur einige Ge-
sichtspunkte angedeutet werden, nach welchen meines Erachtens die
Zusammensetzung und Aufstellung des Bücherschatzes noch verbesse-
rungsfahig ist. Lücken sollen nur, sofern sie besonders auffallend sind,
hier erwähnt werden, denn irgend eine Vollständigkeit in den einzelnen
Abteilungen kann natürlich von einem so jungen Institut nicht erwartet
noch verlangt werden.
Zu Abt. I. Das wissenschaftlich viel umstrittene etymologische
Wörterbuch von Fauhnann wäre besser durch das im allgemeinen als
brauchbar anerkannte Buch von Kluge zu ersetzen. Kürschners Litteratur-
kalender und Dietrichs Zeitschriftenbibliographie werden in der Nach-
schlagebibliothek ungern vermifst.
In Abt. II wäre neben Gräsels immer noch sehr brauchbaren Grund-
züge der Bibliothekslehre auch des Verfassers ausführliche Bearbeitung
derselben, das Handbuch der Bibliothekslehre, Leipzig 1902, zu stellen.
Das Zentralblatt für Bibliothekswesen sollte doch schon um der An-
gestellten des Instituts wegen nicht fehlen, ebensowenig wie das Jahr-
buch der deutschen Bibliotheken, das auch die Volksbibliothekcn berück-
sichtigt, desgleichen die Verzeichnisse der in dem Lesesaal der Königl.
Archiv für sox. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 41
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634
Miszellen.
und der Universitätsbibliothek in Berlin aufgestellten Handbiblio-
theken.
Zu Abt. III. Das Lehrbuch der historischen Methode von Bernheim
wäre durch die neuere Auflage zu ersetzen, wie auch Dahlmann-Waitz'
Quellenkunde S. 41. Sehr verdienstlich ist die ausführliche Inhaltsangabe
der unter zusainmenfassendem Titel erschienenen kleineren Schriften der
Autoren z. B. S. 10 der gesammelten Reden und Vorträge von Curtius,
S. 14 der allgemeinen Weltgeschichte von Oncken u. a. m. Erwünscht
wäre indessen eine solche Inhaltsangabe auch bei Lamprechts deutscher
Geschichte S. 43 und verschiedenen Sammelwerken. Napoleons III. Ge-
schichte Julius Cäsars, S. 26 ist wohl als wertlos auszuscheiden.
Unter der Litteratur zur Geschichte des Altertums fehlt das be-
deutende Werk von E. Meyer, Geschichte des Altertums. Von Riehls
schönem Buche „Land und Leute“ S. 44 wäre eine neuere Auflage ein-
zustellen, zur Litteratur über Bismarck fehlt die gehaltvolle Biographie
von Lenz, Wuttkes Werk: Die deutschen Zeitschriften und die Ent-
stehung der öffentlichen Meinung, Leipzig 1875, das hier fehlt, ist
immer noch ein sehr wertvolles Buch zur Kulturgeschichte der neueren Zeit.
Abt IV. Zur Litteratur über Fichte fehlt das bekannte und gründ-
liche Werk von Adolf Lasson. Zu Goethe vermissen wir die sorgfältige
Biographie von Bielschowsky ; die Abhandlung von Helmholtz über
Goethes naturwissenschaftliche Anschauungen, die S. 191 verzeichnet ist,
hätte unter dem Kopf „Goethe“ verwiesen werden müssen, Heinemanns
„Goethe“ ist in der 3. Aufl, 1903 ein recht brauchbares Buch geworden,
auch das kleine Buch von Bode, Goethes Lebensweisheit enthält manches
Lesenswerte. Zu Hegel fehlt S. 122 das bekannte Werk von R. Hayro,
Hegel und seine Zeit, zu Schopenhauer S. 137 die treffliche Lebens-
beschreibung von Gwinner. Zu Adam Smith vermissen wir hier jede
Litteratur, wenigstens wäre das Buch von Hasbach über diesen grofsen
Lehrer der Volkswirtschaft anzuschaffen.
Abt. V. Unter der Litteratur über Berlin vermifst man die Ver-
weise von zahlreichen in der Bibliothek vorhandenen Werken, so der
Schriften von Lindenberg und Rodenberg. Das schöne Werk von Hans
Meyer über das deutsche Volkstum, das eben jetzt in 2. Aufl. erscheint,
dürfte in einer Bibliothek, die Volksbildungsbestrebungen dient, keines-
falls fehlen. Abt. VI. S. 188 ist der bekannte verstorbene Berliner
Universitätsprofessor Dubois-Reymond falsch in das Alphabet eingeordnet:
er gehört unter D und nicht unter B; seine Rede über die Humboldt-
Denkmäler gehört zur Litteratur über Berlin. S. 190 wäre bei Haeckel
eine Inhaltsangabe seiner ges. populären Vorträge erwünscht. Die drei
vorhandenen Jahrgänge der Potonieschen Naturwissensch Wochenschrift
stehen doch gar zu weit von einander getrennt, wie man denn über-
haupt durchgehends sich nicht damit wird einverstanden erklären können,
dafs die einzelnen Jahrgänge derselben Zeitschrift unter verschiedenen
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W. Paszkowski, Die Hugo Iieimannsche öffentliche Bibliothek etc. 635
Nummern aufgestellt werden. Offenbar ist hier das Datum der Er-
werbung und die Rücksicht auf den Indikator mafsgebend gewesen, aber
für den Bibliothekar ist eine solche Aufstellung mit den gröfsten Un-
zuträglichkeiten verbunden. Von Jochmanns Grundrifs der Experimental-
physik S. 201 ist eine zu alte Auflage eingestellt, Cohns Abhandlung
über Goethe S. 110 hätte auch unter Goethe verwiesen werden müssen,
ebenso S. 105 Virchows Rede über Goethe als Naturforscher. Von
Liebigs Chemischen Briefen S. 205 giebt es eine neuere und bessere
Ausgabe. Von Helmholtz S. 225 vermissen wir das grundlegende Werk
über die Tonempfindungen. Rubners Lehrbuch der Hygiene fehlt auf
S. 238. Die Schrift über die Verbrecherwelt von Berlin S. 262 gehört
zu Berlin. Auch in den Abteilungen VII — IX liefsen sich noch derartige
kleine Mängel nachweisen, doch ist anzuerkennen, dafs diese Abteilungen
mit gröfserer Sorgfalt ausgestaltet sind, wie dies ja auch in dem oben
angedeuteten Plane der Bibliothek liegt. Die Abteilung X Philosophie
scheint mir aber doch etwas knapp weggekommen zu sein. Der Grund-
rifs der Geschichte der Philosophie von Ueberweg-Heinze zum mindesten
sollte doch nicht fehlen, ebensowenig wie Schelling ganz fehlen dürfte,
und wie die neueren Richtungen in der Philosophie doch etwas mehr
bedacht werden müfsten, als durch einige mehr oder weniger zufällig
zusammengebrachte Schriften.
Zu Abt. XI sei noch die Anschaffung von Chantepie de la Saussaye's
T . ehrbuch der Religionsgeschichte empfohlen, zu Abt. XII des trefflichen
Werkes von Paulsen über die deutschen Universitäten, Berlin 1902, zu
Abt. XIV, 2 a die Schriften des Vereins für Sozialpolitik. In Abt. XVI
Litteraturgeschichte , Geschichte des Theaters und der Presse vermifst
man das Werk von I.itzmann, das deutsche Theater in den litterarischen
Bewegungen der Gegenwart.
Die immer noch sehr brauchbaren Erläuterungen zu den deutschen
Klassikern von Düntzer, von denen S. 518 nur wenige aufgefuhrt sind,
sollten vollständig vorhanden sein. Zu Wustmanns „Allerhand Sprach-
duminheiten" S. 535 gehören noch Erbes Ergänzungen.
Es sind hier mit Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden Raum
nur flüchtig die einzelnen Abteilungen gemustert worden, und es sollte
auch nur gezeigt werden, dafs hier und da noch eine bessernde Hand
eingreifen konnte. Im ganzen wird man sagen müssen, dafs die Bibliothek
mit vieler Umsicht und mit ungewöhnlich reichen litterarischen Kennt-
nissen zusamtnengestcllt ist, dafs sie ihre Aufgabe glänzend erfüllt, und
dafs wir lebhaft wünschen, es möchte die in Aussicht genommene Ver-
mehrung der wissenschaftlichen Litteratur, die unzweifelhaft auch eine
Steigerung der Nachfrage nach sich ziehen wird, von demselben Geiste
erfüllt sein, der das ganze uneigennützige Werk ins Leben gerufen hat,
dem Geist der Liebe zur Aufklärung und Belehrung derjenigen Volks-
•»!*
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Miszellen.
schichten, die in harter Arbeit um die Existenz nach geistiger Erholung
dürsten.
Ob Herr Heimann bei der fortschreitenden VergTöfserung der
Bibliothek mit dem gewählten Nummernsystem allein wird auskommen
können, ist fraglich. Offenbar ist dies System durch die Aufstellung des
für 20 000 Nummern berechneten Indikators bedingt, der Air kleinere
Bibliotheken gewifs recht brauchbar ist. Eine Kombination der Nume-
rierung mit der Buchstabenbezeichnung wird sich, wie ich glaube, in
Zukunft nicht umgehen lassen. Die Aufstellung würde sicherlich dadurch
an Uebersichtlichkeit gewinnen, wenn die zusammengehörigen Teile
eines Werkes auch wirklich zusammengebracht würden. Ein grofses
Verdienst würde sich der Besitzer dieser Bibliothek damit erwerben,
wenn er sich dazu entschlösse, einen mit reichen litterarischen Kennt-
nissen ausgestatteten Beamten oder eine vielseitig gebildete Dame ledig-
lich mit der Aufgabe zu betrauen, das Publikum bei der Wahl der Lek-
türe sachgemäfs zu beraten, umsomehr, als durch den Indikator die
Berührung des Bibliothekars mit dem Publikum sehr eingeschränkt wird.
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LITTERATUR.
David, Eduard: Sozialismus und Landwirtschaft. Erster Band:
Die Betriebsfrage. Berlin, Verlag der Sozialistischen Monats-
hefte 1903. (702 S.)
Auf der Grundlage einer höchst detaillierten Sachkenntnis, in
lebendig anschaulicher, übersichtlich gruppierter Darstellung versucht
K. David , dessen Name in den sozialistischen Agrardebatten der
po er Jahre zuerst weiteren Kreisen bekannt wurde, in seinem Buch
den Nachweis zu führen, dafs die Marxistische Formulierung der all-
gemeinen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz für die Landwirtschaft
nicht zutreffe, ja, dafs das Kntwicklungsschema der agrikulturellen dem
der industriellen Produktion, aus welcher Marx seine Theorie abgezogen
habe, geradezu entgegengesetzt sei. Daher hat«: die Partei ihr Pro-
gramm in Agrarsachen von Grund aus zu revidieren. Die alte, so oft
abgehandelte Kontroverse über das Verhältnis von Grofsbetrieb und
Kleinbetrieb in der Landwirtschaft gewinnt durch die Art, wie David
methodisch seine Ansicht aus dem Wesensunterschiede zwischen land-
wirtschaftlicher und industrieller Produktion herleitet, durch die Breite
und die Einheitlichkeit der Durchführung, wie durch die an das Theo-
retische geknüpften praktisch politischen Forderungen neuen Gehalt und
neues Interesse. Auch wenn die Argumentation nicht zwingend ist —
und das scheint sie uns keineswegs, — immer wird der Leser eine
Fülle neuer fruchtbarer Anregungen aus dem Werke gewinnen.
Dafs die Tendenz zu steigender Konzentration der Produktions-
mittel und damit zu einer fortschreitenden Verdrängung der im Klein-
betriebe ehemals selbständigen Existenzen durch bezahlte Lohnarbeiter
kapitalistischer Betriebe, mit klarster Deutlichkeit in der industriellen
Bewegung hervortretend, in der modernen Landwirtschaft nicht zu beob-
achten ist, dafs der Tendenz also nicht jene uneingeschränkte Bedeutung,
mit der die sozialistische Auffassung früher rechnete, zukommt, das ist
bereits in Kautskys „Agrarfrage“ (1899), gegen die Davids Buch seine
polemische Spitze richtet, unumwunden zugestanden. Zeigt doch die
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Lilteratur.
deutsche Betriebszählung vom Jahre 1893, dafs seit 1882 die Zahl der
kleinen und kleinbäuerlichen Betriebe von 2 — 20 Hektar in Deutschland
um mehr als rooooo, die der grofsen, kapitalistisch organisierten Landwirt -
schaftsbetriebe aber nur ganz minimal zugenommen hat. Kautsky meint an-
scheinend auch gar nicht, dafs es sich hier um eine rein temporäre Er-
scheinung handle, dafs der landwirtschaftliche Grofsbetrieb das bisher
Versäumte durch ein um so schnelleres Ausdehnungstempo in absehbarer
Zeit einholen werde. Einstimmig in dem Konstatieren dieser Divergenz
zwischen der Bewegung in den beiden grofsen I’roduktionssphären,
stehen David und Kautsky, was die Erklärung und Beurteilung des
Phänomens anlangt, in schärfstem Gegensätze zueinander. Nach Kautskys
Ansicht ist die Widerstandskraft der auf die Arbeit der Familienglieder
basierten kleinbäuerlichen Wirtschaften wesentlich der Uebcrarbeit und
der Unterkonsumtion der in solchen Betrieben thätigen Personen ge-
schuldet. Das Produktivitätsverhältnis zwischen kleinem und grofsem,
kapitalistisch organisierten Betrieb in der Landwirtschaft — jedenfalls
in ihren Hauptzweigen — ist, daran hält Kautsky fest, analog dem Pro-
duktivitätsverhältnis des handwerksmäfsigen Klein- und Grofsbetriebes in
der Industrie zu beurteilen. Dort wie hier repräsentiere die kapitalistische
Unternehmung bei tüchtiger Leitung dem Kleinbetriebe gegenüber das
rationellere, technisch überlegene, die Produkteinheit mit geringerem Ar-
beits- und Kostenaufwand erzeugende Produktionsverfahren. Die tech-
nische Ueberlegenheit des Grofsbetriebes mag infolge einer Reihe
spezifischer Besonderheiten der Bodenkulturarbeit in der Landwirtschaft
geringer sein als in der Industrie, aber „sie ist vorhanden“. Zwar käme
den bäuerlichen Betrieben die gröfsere Sorgfalt des Selbstwirtschafters
als ein Ertrag steigerndes Moment zugute, aber ausschlaggebend sei
das nicht. Wie das Handwerk durch Ausbeutung unbezahlter Lchrlings-
arbeit und äufserste Bedürfniseinschränkung, so führe ähnlich auch der
bäuerliche Kleinbetrieb, in dem an Stelle der Lehrlings- die unbezahlte
Arbeit der Familienglieder träte, den Existenzkampf. Nur durch die
schwersten persönlichen Opfer der Betriebsinhaber könnten diese tech-
nisch notwendig rückständigen Betriebe sich erhalten, fortptlanzen und
vermehren. Der Marxsche Satz, dafs der auf das Privateigentum des
Arbeiters an den Produktionsmitteln begründete Kleinbetrieb „mit der
Konzentration der Produktionsmittel zugleich die Kooperation, Teilung
der Arbeit innerhalb derselben Produktionsprozesse, gesellschaftliche Be-
herrschung lind Regelung der Natur, freie Entwicklung der gesellschaft-
lichen Produktivkräfte ausschliefse“, gelte allgemein, wie für die In-
dustrie so für die Landwirtschaft. Dafs in dieser die Tendenz zur
Konzentration der Betriebe nicht siegreich zum Durchbruch komme,
beweise nur, dafs die Konkurrenz nicht überall und durchgehends mit
der Gewalt eines Naturgesetzes auf die Verdrängung der technisch
minderwertigen durch die technisch überlegene Produktionsweise hin-
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David, Eduard, Sozialismus und Landwirtschaft.
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arbeite, dafs in der Fortpflanzung und Entwicklung der agrikulturellen
Struktur Momente, die mit der gröfseren oder geringeren Produktivität
der Betriebsformen in keinem innneren Zusammenhänge stehen, eine be-
sonders bedeutsame Rolle spielen.
Dem hält David entgegen, dafs, so hart das Los der selbst-
arbeitenden Kleinbauern auch heute noch sei, sich ihre Lebenshaltung
gegen früher gehoben habe. Die Klasse stagniere nicht, sie sei — das
beweise u. a. die grofse Rührigkeit, mit der sie an der Ausbildung und
Verbreitung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens sich beteilige
— in einem vielversprechenden, die Keime selbständiger Initiative ent-
wickelnden Vormarsch begriffen. Ein solcher Vormarsch aber, dafs ist
die Hauptsache, werde durch keine dieser Betriebsform inner-
lich anhaftenden technischen Schranken eingeengt. Im
Gegenteil, so wie die Dinge heute liegen, biete der kleinbäuer-
liche Betrieb für die Entfaltung der agrikulturellen
Produktivkräfte günstigere Bedingungen als der Grofs-
betrieb. Um dies Probandum dreht sich das ganze Buch ; die lange
Analyse des landwirtschaftlichen Produktionsprozesses hat keinen anderen
Zweck, als den, dies eine zu beweisen.
Marx' Lehre von der technischen Minderwertigkeit des Klein-
betriebes sei unbestreitbar für die Industrie, bei der es sich um die
„Verarbeitung toter Dinge“ handle. „Aber Kooperation, Arbeitsteilung,
Maschinerie — die grofsen Positionen, auf denen die höhere Leistungs-
fähigkeit des Grofsbetriebes in der mechanischen Produktion sich auf-
baut", haben — so resümiert David im Schlufswort seine weit ausge-
sponnene Argumentation — in der Landwirtschaft, deren Produktion
auf die „Entwicklung lebender Wesen“ gerichtet ist, keine ausschlag-
gebende Bedeutung. „Die Vorteile der Kooperation auf grofsem Mafs-
stab sind hier wesentlich eingeschränkt, und soweit sie auch in der
Landwirtschaft Bedeutung haben, kann sie sich der individuelle Wirt-
schafter durch genossenschaftliche Organisation leicht erschliefsen. Auf
der anderen Seite wachsen die Nachteile der grofsen Kooperation mit
der Weite des Arbeitsfeldes und der Schwierigkeit der Kontrolle in
aufserordentlichem Mafse. Die manufakturmäfsige Arbeitsteilung versagt
in der Landwirtschaft so gut wie ganz. Gegen die Verwandlung des
zeitlichen Nacheinanders in ein räumliches Nebeneinander der Stufen-
prozesse protestiert die Natur des biologischen Produktionsvorganges.
Auch hinsichtlich der spezialisierenden Arbeitsteilung kann der Landwirt-
schaftsbetrieb dem mechanischen Produktionsbetrieb nicht folgen. Und
wie weit bleibt seine Maschinerie hinter dem entwickelten Maschinismus
der Grofsindustrie zurück. Anstatt von einer stationären grofsen Kraft-
maschine bezieht der Landwirtschaftsbetrieb seinen Kraftbedarf von mo-
bilen Kleinmotoren, und unter diesen dominiert bis heute das Zugtier.
So bewundernswert auch manche landwirtschaftlichen Werkzeugmaschinen
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Litteratur.
64O
sind, was wollen die isolierten, hin- und herwandernden, wochen- uml
monatelang zur Unthätigkeit verdammten Iiinzeltnaschinen bedeuten
gegenüber dem rastlos thätigen Maschinenautomaten einer Fabrik, der die
an ihn gefesselten Menschen wie Teile seiner selbst zur Arbeit zwingt.
Dabei ist der wesentlich geringere Nutzen der Maschinerie in der Land-
wirtschaft keineswegs ein unantastbares Vorrecht des Cirofsbetriebes. Die
meisten landwirtschaftlichen Maschinen sind Kleinmaschinen, der Klein-
heit der tierischen Motoren angepafst und darum auch dem Kleinljetrieb
zugänglich. Der weitere Umstand, dafs die landwirtschaftliche Maschine
nur zeitweise benutzt wird, ermöglicht es, dafs auch gröfsere Maschinen,
so vor allem die wichtige Dampfdreschmaschine nebst Reinigungs-
maschine, durch viele kleine Betriebe gemeinsam benutzt werden.“ Und
weiter: „In der mechanischen Verarbeitung steht die Werkzeugentwicklung
an erster Stelle ; sie macht hier das Wesen der Produktionsentwicklung
aus. In der Sphäre der organischen Hervorbringung ist die Werkzeug-
entwicklung zwar kein unwichtiger, aber auch nicht entfernt der wich-
tigste Faktor des Fortschritts. Das mechanisch-technische Prinzip ist
hier nicht das dominierende, die Entwicklung bestimmende Prinzip.
Nicht technische Erfindungen, sondern wissenschaftliche Entdeckungen
haben die Landwirtschaft revolutioniert. Nicht die Anwendung der
Dampfmaschine, sondern die richtige Erkenntnis der Beziehungen
zwischen Boden, Pflanze und Tierleib leitete die moderne Landwirtschaft
ein. Physikalische und chemische Bodenverbesserung, Regulierung der
Feuchtigkeitsverhältnisse, rationelle, allgemeine und s]>ezielle Nährstoff-
zufuhr durch natürliche, künstliche und grüne Düngung, Vermehrung der
Pflanzen- und Nutztierarten, Herauszlichtung veredelter, den natur-
gegebenen Verhältnissen und den besonderen Nutzzwecken bestangepafster
Varietäten, individualisierende Pflege der zu kultivierenden Organismen
und Beschtitzung gegen ihre zahllosen Feinde und Schädlinge — das
sind die Gebiete, auf denen der landwirtschaftliche Fortschritt seine
gröfsten Triumphe gefeiert hat. Die raschere Erledigung der mechanischen
Hilfsoperation ist nicht unwesentlich, aber sic ist nicht die Hauptsache
der Betriebsentwicklung. Das Wesen dieser beruht auf der Steigerung
der Lebensintensität durch rationelle Gestaltung der äufseren Wachstums-
bedingungen und der inneren Veranlagung der Organismen.“ Wenn aber
unter Mitwirkung der rasch und fruchtbar entwickelten ländlichen
Produzentengenossenschaften, „die technischen Fortschritte dem Klein-
betrieb zum gröfsten Teil, so sind die wissenschaftlichen Fortschritte ihm
ohne Ausnahme zugänglich.“
David operiert nur mit den beiden Kategorien „Grofsbetrieb“ und
„Kleinbetrieb“, wobei er unter diesem den kleinbäuerlichen, ausschliefslich
oder nahezu ausschliefslich auf die Selbstarbeit der Familienglieder basierte
Wirtschaft versteht. Das bringt, scheint mir, von vornherein etwas
Schiefes in diesen Teil seiner Beweisführung. Wenn wirklich dem land-
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David, Eduard, Sozialismus und Landwirtschaft. 641
wirtschaftlichen Grofsbetrieb darum keine oder keine erhebliche Vorzugs-
stellung zukommen soll, weil die technischen und wissenschaftlichen
Fortschritte an und für sich auch dem Kleinbetrieb zugänglich seien, so
werden die auf kleinerer Betriebsfläche aufgebauten Betrielrc, sollte man
meinen, doch nur in dem Mafse jene Möglichkeit ausnutzen können, als
die Betriebsinhaber durch genügende Geldmittel und rationelle agro-
nomische Vorbildung unterstützt werden. In beiderlei Hinsicht aber ist
der kleinbäuerliche einem kleinkapitalistischen Landwirtschafts-
betriebe gegenüber offensichtlich im Nachteil. Die Fortschritte des land-
wirtschaftlichen Kreditwesens ändern daran auch nichts, da der Kredit
beiden Teilen natürlich nur nach Mafsgabe ihres eigenen Vermögens
zu Gebote steht. Ebenso ist beiden Teilen der Anschlufs an die ver-
schiedenen Arten sonstiger ländlichen Genossenschaften, die Ausnutzung
der dort gebotenen Hilfsmittel möglich. Dafs der gröfsere Betrieb in
der Landwirtschaft an sich nicht notwendig der bessere sein imifste, hatte
übrigens auch Kautsky „auf die faux frais der mit steigender Betriebs-
Hache progressiv steigenden Transportkosten hinweisend" ja selbst aus-
drücklich hervorgehoben.
Aber der kleinkapitalistische ist ein Lohnarbeit anwendender
Landwirtschaftsbetrieb! Den Lohnarbeitern, die bei der Weite des länd-
lichen Produktionsfeldes schwer zu beaufsichtigen und die hier auch
durch kein System des Akkordlohns angestachelt werden können, fehlt der
treibende Stachel des Eigeninteresses, die Spannkraft und die Sorgfalt,
mit der der Bauer und seine Angehörigen beim Werke sind. Dies von
keiner Seite, auch von Kautsky nicht, geleugnete Moment der Ertrags-
steigerung, über das die kleinbäuerliche Wirtschaft verfügt, ist für David
das in letzter Instanz Entscheidende. Die zunächst nur negative Argu-
mentation, dafs die kleinen Betriebe von der Möglichkeit, die technischen
und wissenschaftlichen Errungenschaften sich anzueignen, in der Land-
wirtschaft nicht ausgeschlossen seien, kann nur dann zu einem posi-
tiven Satz, zur These, dafs gegenwärtig der Kleinbetrieb die
günstigeren Produktionschancen biete, hinüber führen, wenn man
diesem Faktor, der durch eigen Interesse potenzierten Arbeitssorgfalt^ der
kleinbäuerlichen Wirtschafter eine ungemessene Bedeutung für
die Produktivitätssteigerung beilegt, eine Kraft, die alle in der Armut
und Unbildung der kleinbäuerlichen Wirtschafter begründeten Hemmungen
rationeller Betriebsweise wett macht.
Es ist das eine subjektive Schätzung, die weder durch Berufung auf
die Resultate der vergleichenden Betriebszählung, noch auch auf die
ökonomischen Fortschritte, die innerhalb weiter kleinbäuerlicher
Schichten gegen früher vielfach zu konstatieren sein mögen, zur Beweis-
kraft erhoben werden kann. Wenn die Meinung, die die Widerstands-
kraft des Kleinbauertums, ohne jene Fortschritte in Anschlag zu bringen,
aus blofser Ueberarbeit und Unterkonsumtion erklären will, voreilig
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642
I.itteratur.
generalisiert, so ist gegen die Davidsche Antithese, die Proklamation der
Kleinbauernwirtschaft als der tendentiell produktiveren Betriebsweise, die
mit gleicher Arbeit und Geldaufwand mehr resp. bessere Erträge als der
Grofsbetrieb zu erzielen vermöge, derselbe Einwand zu erheben. So in-
teressant und lehrreich Davids methodisch durchgeführte Analyse des land-
wirtschaftlichen Produktionsprozesses und die Vergleichung des Grofs-
und Kleinbetriebes unter diesem Gesichtspunkte ist, zur Begründung der
Davidschen These reicht sie nicht aus, kann sie der Natur der Sache nach
nicht ausreichen. Dazu wären nähere Mafsbestimmungen, Zahlen not-
wendig, in denen das Plus und Minus der Produktivität, wie es aus dem
Zusammenspiel der positiven und negativen Instanzen resultiert , sich
klar ausdrückt, eine auf breiter Grandlage entworfene Statistik darüber,
wie sich die Geld- und die in Geldumzurechnendcn Arbeitskosten in
rationell geleiteten kapitalistischen Grofs- und Kleinbetrieben gegenüber
vorgeschrittenen kleinbäuerlichen Wirtschaften für die einzelnen Kultur-
arten in den verschiedenen Gegenden stellen. Ohne das fehlt jede
sichere Handhabe der Beurteilung.
Der Satz, dafs der kleinbäuerliche Betrieb heute bessere Chancen der
Produktivitätserhühung als der kapitalistisch organisierte biete, wird dann
weiter durch eine Betrachtung der in der modernen „weltwirtschaft-
lichen Formation der organisierten Produktion“ waltenden
Tendenzen gestützt. Diese Tendenzen, führt David aus, drängen in
den alten westeuropäischen Kulturländern auf eine steigende Intensi-
ficierung der Landwirtschaft, auf den Uebergang zu Kulturen, die pro
Flächeneinheit die Verausgabung relativ gröfserer Arbeitsmengen zulassen
und fordern. Nur in den Kulturen mit „niederem Arbeitsfassungsver-
mögen“, deren Produkt zugleich leicht und billig transportierbar, vor allem
in der Körnerproduktion, arbeite die überseeische Konkurrenz mit ihrem
extensiven Raubbau billiger als die heimische Landwirtschaft, die mit den
hohen Bodenpreisen und der Notwendigkeit starken Düngersatzes zu
rechnen hat. „ln den neuen I .ändern geht die alte angehäufte Boden-
kraft in die Produktivität ein. Europa geniefst den Nutzen dieses exten-
siven Raubbaues mit; es wäre thöricht dies nicht zu thun. So lange das
für Getreidebau erschliefsbare Neuland des Erdballs reicht, was noch für
sehr lange der Fäll sein dürfte, werden die Industrievölker aus diesem
Naturvorrat schöpfen.“
Für die Viehzucht aber, die bei genügendem Hinzukauf von Futter-
mitteln auf kleiner Betriebsfläche elastisch ausdehnbar ist, ebenso für
die Herstellung der meisten landwirtschaftlichen Qualitätsprodukte, zumal
derer, die in frischem Zustand keinen weiten Transport vertragen, liegen
die Dinge anders. Hier falle die Konkurrenz der überseeischen Länder
entweder fort oder sie habe doch nicht den Vorsprung beträchtlich ge-
ringerer Produktionskosten. Daher geht, durch lokale Verhältnisse natür-
lich sehr vielfältig durchkreuzt, die allgemeine Entwicklung in den
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-j
David, Eduard, Sozialismus und Landwirtschaft.
643
alten hoch industriellen europäischen Staaten rationellerweise dahin, den
Getreidebau zu Gunsten jener heut lohnenderen Kulturen mit „gröfserem
Arbeitsfassungsvermögen", in denen die bei der Körnerproduktion noch
so wichtige Maschinennutzung keine oder eine ganz verschwindende
Rolle spielt, einzuschränken. Dafs eine solche Entwicklungsrichtung, so
weit sie durchdringt, im ganzen natürlich mehr eine Verkleinerung als
eine Ausdehnung der Betriebsflächen begünstigt, liegt auf der Hand.
Aber es ist nicht abzusehen, warum nun bei intensiverer auf kleinerem
Areal basierter Wirtschaftsweise gerade der kleinbäuerliche Betrieb in
die günstigste Stellung rücken und am raschesten Vordringen müsse.
Den Vorsprung, den gröfsere Geldmittel und bessere agronomische
Schulung kapitalistisch organisierten Betrieben gewähren, wird doch durch
jene auf Betriebsintensivizierung und Areal Verkleinerung der Wirtschaften
gerichtete Tendenz nicht aufgehoben, mag immerhin der Fortfall der
Maschinennutzung bei solcher Kulturart das Produktivitätsverhältnis für
den Kleinbauer vorteilhafter als beim Getreidebau gestalten. Dafs man
in der Vermehrung der speziell kleinbäuerlichen Wirtschaften in
Deutschland von 1882 — 95 das Anzeichen einer weitertreibenden in der
westeuropäischen agrikulturcllen Gesamtentwicklung notwendig begrün-
deten Tendenz zu erblicken habe, kann daher wohl in Zweifel gezogen
werden. In Grofsbritannien z. B. , das ganz ungeschützt dem Anprall
der billigen überseeischen Getreidezufuhr ausgesetzt ist, in dem man
also nach David ein noch weit stärkeres Vordringen der kleinbäuer-
lichen Wirtschaft erwarten sollte, sind von 1885 — 95 die Betriebe
bis zu 2 Hektar zurückgegangen, die von 2 bis 8 und von 8 bis
20 Hektar haben, sich zwar etwas vermehrt aber nach beträchtlich ge-
ringerem Prozentsatz als die von 20 bis 40 und die von 40 bis 120 Hektar.
Während diese beiden letzten Kategorien an Flächenumfang um 356 112,
haben die beiden ersten nur um 5 t 329 Hektar, den siebenten Teil des
Zuwachses, den jene erzielten, zugenommen.
Gemäfs dieser Ansicht, dafs unter den gegebenen, die Ausbreitung
der Viehzucht und intensiverer Kulturarten begünstigenden Verhältnissen
der kleinbäuerliche Betrieb gegenüber dem kapitalistisch organisierten
der tendentiell produktivere sei, dafs ihm infolge dieser Ueberlegenheit
in freiem Konkurrenzkampf die Zukunft gehöre, erhebt David die For-
derung einer prinzipiellen Revision der sozialistischen Anschauungsweise
und Taktik. Während die bisher in der Partei herrschende Auffassung
in den Grofsbetrieben der Landwirtschaft, ganz analog zu den Grofs-
betrieben der Industrie, die technisch höchst entwickelten Organisationen
sah, die ein sozialistisches Regime nur umzubilden, die es als Ausgangs-
und Stützpunkt für eine allmähliche Sozialisierung der gesamten Pro-
duktion und Verteilung zu benutzen haben werde, sind sie nach David
rückständige zum Absterben verurteilte Gebilde, die, wesentlich auf un-
rentablen Körnerbau zugespitzt, in Deutschland nur künstlich durch die
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644
Litteratur.
Kornzoll- und Liebesgabenpolitik der Regierung am Leben erhalten
werden. Nicht eine Umbildung der agrarischen Grofsbetriebe, die ihnen
ihre kapitalistische Hülle abstreift, sondern die Zerschlagung der im Grofs-
betrieb bewirtschafteten Ländereien, die Aufteilung derselben unter klein-
bäuerliche Selbstwirtschafter, überhaupt eine weitgreifende staatliche
Förderung der Kleinbauernbetriebe und ihrer Produzentengenossenschaften
wäre die einem sozialistischen Regime in der Agrikultur vorerst gestellte
Aufgabe. Sei doch die Förderung der kleinbäuerlichen nicht nur För-
derung einer demokratisch volkstümlichen sondern zugleich der wirt-
schaftlich rationellsten, das Höchstmafs an Produktivität verbürgenden
Betriebsform. Die Proklamation eines solchen Zieles, aufgenommen in
das Gegenwartsprogramm der Partei, würdf dann aber auch rings das
landarbeitende Volk, Bauern und Landarbeiter, die das „altgeliebte Ideal1-
wirtschaftlicher Selbständigkeit noch immer im Herzen tragen, für die
Sozialdemokratie gewinnen. Jetzt das Gefolge der Junkerpolitik. Stimm-
vieh für Kornzollforderungen, die nur dem Grofsagrarier nützen können,
den kleinen Landwirt aber unberührt lassen, oder, wo er Korn hinzu
kauft, direkt schädigen, würden diese Massen dann mit dem industriellen
Proletariat zu einer einzigen unüberwindlichen Macht zusammenschmelzen.
„Nicht ein unversöhnlicher wirtschaftlicher Gegensatz — wie die Grofs-
agrarier glauben machen wollen — sondern eine tief verankerte
Interessensolidarität besteht zwischen der Landbebauermasse und
der übrigen werkthätigen Volkstnasse. Wer die Arbeiterschaft niederhält,
hält die Bauernschaft nieder. Die materielle und kulturelle Hebung der
Arbeitsbauern ist an das siegreiche Fortschreiten der modernen Arbeiter-
Itewegung geknüpft !“
So lebhaft der Wunsch eines solchen Zusammenschlusses in der
Sozialdemokratie empfunden wird, so stark das Bedürfnis nach einem
agitatorisch wirksamen Agrarprogramm, die Voraussetzungen, von
denen her David seine Folgerungen entwickelt, die Theorien von der
überlegenen Produktivität des Kleinbauernbetriebes, sind derart ungewifs
und auf absehbare Zeit hinaus so wenig beweisbar, scheint es, dafs Davids
Auffassung der überlieferten, von Kautsky etwas modifizierten Partei-
anschauung zwar in mancherlei Hinsicht Abbruch thun, aber in ihrer
prinzipiellen Formulierung kaum darauf rechnen kann, sich Aner-
kennung zu erkämpfen. Bei der grofsen Kompliziertheit der landwirt-
schaftlichen Verhältnisse ist es nicht ausgeschlossen, dafs die Entwicklung
der Agrikultur innerhalb verschiedener Länder und Gegenden so weit
auseinander laufende Bahnen einschlagen mag, dafs beide Ansichten,
entsprechend eingeschränkt, nebeneinander Recht behalten können. Da
mag der Klein-, dort mag der Grofsbetrieb das fortgeschrittene Element
darstellen, an welches eine demokratisch sozialistische Politik einmal vor-
wiegend anzuknüpfen haben würde.
Sei es indels wie immer um die Produktivität der kleinbäuerlichen
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David, Eduard, Sozialismus und Landwirtschaft.
645
Betriebsform bestellt, dafs man mit ihrem Fortbestände auf absehbare
Zeiten hin zu rechnen hat, wird nicht bestritten. So erhalten die David-
sehen Ausführungen über die F.ntwicklung der bäuerlichen Bezugs- und
Verwertungsgenossenschaften, der Hinweis auf die Verbindungsfaden, die
sich zwischen ihnen und den Konsumgenossenschaften der Industrie-
arbeiter (Dänemark und F.ngland) anspinnen, — Ansätze, die, in ihrer Ten-
denz auf Ausschaltung des kapitalistischen Zwischenhandels gerichtet, zu
lebenskräftigen Zellen eines genossenschaftlichen Organisationssystems“
werden können — eine von dem Austrag jener Kontroverse wesentlich
unabhängige Bedeutung. Sie zeigen in höchst interessanter Weise, dafs
der bäuerliche Kleinbetrieb, wenn man vom Zwerginafs seiner Produk-
tion absieht, in allen übrigen Beziehungen durchaus nicht notwendig ein
Hemmschuh fortschreitender Sozialisierung des Wirtschaftslebens sein
mufs, ja dafs er unter Umständen aus sich selbst Tendenzen erzeugt, die
ihn in jene allgemeine Bewegung mit hineinziehen, dafs in der That auch
dann, wenn wie David meint, in der Landwirtschaft der Kleinbetrieb
der Zukunft gehören würde, Möglichkeiten einer Anknüpfung gegeben
sind. Natürlich wtirde eine solche Entwicklung — David hebt das in
seiner Polemik selbst hervor — nicht ausschliefsen, dafs sich nicht später
einmal auf der Grundlage bäuerlicher Produzentengenossenschaften auch
ein weiterer Zusammenschlufs zu ländlichen Produktivgenossenschaften
der Arbeitsbauern vollziehen könnte und so auch in der landwirt-
schaftlichen Produktionssphäre ein sozialistisches Prinzip zur Herr-
schaft käme.
Der zweite Band soll nach dem Plan des Werkes die Eigentums-
frage und Preisbildung behandeln.
Berlin-Charlottenburg.
CONRAD SCHMIDT.
Curti, Theodor, Geschichte der Schweiz im XIX. Jahrhundert.
Reich illustriert von A. Anker, H. Bachmann, E. Bille
L. Dünki, A. Hoftmann, J. Morax, P. Robert, H. Scherrer,
Neuenburg (V erlag von F. Zahn) 1902. 714 S.
Mit der Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert wollten Ver-
fasser und Verleger ein Volksbuch im besten Sinne des Wortes schaffen.
Die leider viel zu wenig bekannte neuere und neueste Geschichte un-
seres lindes sollte durch Theodor Curti, unterstützt von einer Reihe
hervorragender Künstler, zum Gemeingut des Schweizervolkes werden.
Der Plan ist vollständig gelungen. Curtis Schweizergeschichte im
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646
l.itlcrutur.
19. Jahrhundert hat in unserem Lande eine Verbreitung gefunden, wie
selten ein Werk. Der Name des Verfassers und die Opferwilligkeit und
Energie des Verlegers haben demselben den Weg überallhin gebahnt.
Man findet es in der Hand des Arbeiters und Bauern, beim Hand-
werker und Beamten , beim Politiker und Gelehrten, kurz bei allen
Ständen und Berufsarten.
Das Geschenk , welches der im ganzen Schweizerland bekannte
St. Galler Landammann bei seinem Eintritt in die Leitung der „Frank-
furter Zeitung" unserem Volke durch dieses Wert zueignete, ist aber
auch für den Historiker, den Verwaltungsbeamten, den Staatsmann und
Volkswirt von höchster Bedeutung. In leicht verständlicher Form bahnte
Theodor Curti einer neuen Geschichtschreibung und Geschichtsauf-
fassung die Wege. Die sozialen Zustände sind bei ihm nicht blofs der
Hintergrund, den der Geschichtschreiber gelegentlich mit ein paar
raschen Strichen zeichnet, sondern das Fundament, auf dem sich alles
Werden und Geschehen abwickelt. Mit seinem Scharfblick hat er aus
dem überaus weitschichtigen Material, das er in wichtigen Partien selber
auffinden und Zusammentragen mufste, überall die wirtschaftlichen Mo-
mente, Triebfedern und Zielpunkte erkannt und mit klassischer Prägnanz
zum Ausdruck gebracht.
Dem Sprofs alter st. gallischer Magistratenfamilie kommen dabei
seine mannigfachen persönlichen Beziehungen wie auch seine lang-
jährige Bethätigung als Mitglied des Nationalrates, der Regierung des
Kantons St. Gallen u. s. w. trefflich zu statten. Ein gutes Stück der
neueren Schweizergeschichte hat er selber miterlebt. So mancher Fort-
schritt auf dem Gebiete der Sozialpolitik in Bund, Kantonen und Ge-
meinden wurde durch ihn als Journalist oder als Politiker oder als Ver-
waltungsmann angeregt und durchgeführt. Seine nähere und engere
Verwandtschaft ist mit den Geschicken des engeren und weiteren
Vaterlandes innig verknüpft. Aus der Erinnerung und manchem
Familienarchiv schöpfte er wertvolle Züge und Anhaltspunkte.
Eine Besprechung der sozial|>olitisch bedeutsamen Pariieen seines
Buches an dieser Stelle rechtfertigt sich denn auch ohne weiteres.
Dieselben beginnen mit der Schilderung der Fremdendienste;
denn man kann den Gang der Schweizergeschichte nicht verstehen, ohne
sich über die ökonomische Bedeutung jener Klarheit verschafft zu haben
Es ist Curtis Verdienst, die Bedeutung des Söldnerwesens als Erwerbsart
deutlich hervorgehoben und bis ins Detail nachgewiesen zu haben. Wohl
hat die urwüchsige Kriegslust tapferer Volksstämme, eine Macht|>olitik,
die bald wieder aufgegeben wurde und längerhin die Parteipolitik dem
schweizerischen Soldnerwesen Vorschub geleistet. Aber die Haupttrieb-
feder war und wurde bis gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts immer
mehr das Bedürfnis des ärmlichen nationalen Haushalts. Die Be-
vülkerungsvermehrung und das Fehlen einer grofsen nationalen ln-
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Curti, Theodor, Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert.
dustrie, welche ausreichenden Verdienst hätte schaffen können, mufsten
bewirken, dafs die Schweiz den Krieg zu ihrer Industrie machte. Die
Bedeutung dieser „F’reradenindustrie“ mag unter anderen daraus ersehen
werden, dafs allein die französische Krone von 1474 — 1715 an die
Schweizer 1049843313 Gulden Soldgelder und 96825310 Gulden
weitere Summen entrichtete.
Der Schilderung der sozialen Zustände im 18. Jahr-
hundert, welcher Curti ein besonderes Kapitel widmet, verdanken wir
wiederum manchen neuen Zug. Er zeigt wie durch die Vermehrung
des Reichtums in den Hauptorten durch Handel, Fremdendienste, Auf-
hebung der Klöster etc. manche Familien ihre Mitbürger zu Zinsschuld-
nern machten. Dadurch änderten sich auch die politischen Verhältnisse.
Selbst die Volksherrschaft in den Landgemeindekantonen, in Bünden und
Wallis, schwächte sich ab, machte der Familienherrschaft und einer
Familiendemagogie Platz.
Die Schilderung der Landwirtschaft und der Umgestaltung
derselben im zweiten Teile des 18. Jahrhunderts gehört zu dem besten,
was wir hierüber gelesen. Auch schöpft Curti an dieser Stelle zum Teil
aus bisher unbekannten Quellen. Die Veränderung des Zustandes des
Grundbesitzes durch Verschuldung und Erbteilung, die Teilung der
Allmend, die Aufhebung des Weidgangs und des Zelgenzwangs, die An-
lage von Kunstwiesen etc. wird prägnant und doch erschöpfend dar-
gestellt.
Das Kapitel über die „Aufhebung der Feudallasten“ durch
die Helvetik giebt ihm Gelegenheit zu einem wertvollen Exkurs über die
Grundzinse und Zehnten, ln einem besonderen Kapitel des IV. Buches
zeichnet er die agrarischen Kämpfe der dreifsiger Jahre in einem ein-
zelnen Kanton. In einem anderen Kapitel zeigt er, wie die land-
wirtschaftliche Privatwirtschaft allmählich von den mancherlei Fesseln
befreit, vom Getreidebau zum Futterbau überging, wie die Milchwirt-
schaft einen grofsen Aufschwung nahm, aber gleichzeitig auch die Boden-
verschuldung ein bedrohliches Wachstum zeigte. Der Bund besann sich
verhältnismäßig spät auf seine Pflicht, die Landwirtschaft zu fördern.
Als Curti anfangs der achtziger Jahre anläfslich der Budgetberatung im
Nationalrate Erhöhung des Kredites für Futterbau und jährlich 147000 Frcs.
zur Unterstützung der Bodenverbesserung forderte, wollte Bundesrat Droz
darin einen Anfang des Staatssozialismus sehen. Aber die Frucht dieser
Debatten war das Landwirtschaftsgesetz vom Jahre 1884, welches Bundes-
beiträge gewährt an das landwirtschaftliche L’nterrichtswescn , an land-
wirtschaftliche Versuchsstationen, Vereine, Genossenschaften und Aus-
stellungen, für Förderung der Rindvieh- und der Pferdezucht. Boden-
verliesserungen können nach diesem Gesetz mit 40 " „ subventioniert
werden, ebenso die Schutzmafsregeln gegen die Verbreitung der Reblaus
und andere Schädlinge der Landwirtschaft. Den Einflufs dieses Ge-
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648
Liltcratur.
setzes auf die Bundesfinanzen mag man am besten aus dem Budget
pro 1904 ersehen. Dasselbe stellt folgende gröfsere Ausgaben der
Landwirtschaftsdepartements in Aussicht :
Subvention der theoretisch- praktischen Ackerbauschulen
Frcs.
50 265
„ „ landwirtschaftlichen Winterschulen
»*
75 92°
„ kantonaler Weinbauschulen, Weinbauversuchs-
Stationen
»»
5° 75°
„ der Molkereischulen
n
28 950
„ „ Rindviehzucht
,,
500 000
, „ Pferdezucht
1»
546 650
„ Kleinviehzucht
»
25 000
„ „ Bodenverbesserungen
400 000
Mafsnahmen gegen Schäden, welche die landwirtschaftliche
Produktion bedrohen
»t
600 000
daneben gibt der Bund für seine landwirtschaftlichen Ver-
Suchsanstalten jährlich mehr als
„
400 OOO
aus.
Gerade so einläfslich schildert Curti die Entwickelung der schweize-
rischen Industrie, des Gewerbes und Handels. Dabei widmet er der
Darstellung des Arbeiterschutzes besondere Sorgfalt. Er zeichnet
die Entwickelung derselben von den ersten Anfängen bis auf die
heutige Zeit Kein einziger Zug ist da vergessen. Hoffnungsfroh zeigt
er in den kantonalen Arbeiterschutzgesetzen die Pioniere der Ausdehnung
und Vertiefung des eidg. Arbeiterschutzes. Die Schilderung des Brandes
in Ustcr, bei welchem die Handweber des Kantons Zürich sich durch
das Anzünden einer Fabrik der Webmaschine als Konkurrenten zu ent-
ledigen trachteten, gibt Curti Gelegenheit zu interessanten Streiflichtern
auf die sozialen Verhältnisse , die Gemüts- und Gedankenwelt der Ar-
beiter der dreifsiger Jahre.
Den schweizerischen Eisenbahnen widmet Curti drei interessante
Kapitel. Im ersten schildert er den überaus folgenschweren Kampf
zwischen den Anhängern der Privatbahnen und der Staatsbahnen, der
um die Mitte des 19. Jahrhunderts sich in unserem Lande abspielte. Er
zeigt die offenen und geheimen Triebfedern, »'eiche statt zum Bau des
schweizerischen Eisenbahnnetzes durch den Bund zum Erlafs des Bundes-
gesetzes über den Bau und Betrieb von Eisenbahnen im Gebiete der
schweizerischen Eidgenossenschaft führten.
In einem anderen Kapitel behandelt er die Gotthardbahn, in-
dem er von der ernsten Eisenbahnkrisis ausgeht, welche die Suisse occi-
dentale und die Nordostbahn an den Abgrund des Ruins führten und
über die Nationalbahn die bekannte Katastrophe hereinbrechen liefe.
Wie Curti im Jahre 18S0 kurz nach dem am 29. Februar stattgefundenen
Durchschlag des Tunnels diesen , von Arbeitern begleitet , teils durch-
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Curti, Theodor, Geschichte der Schweiz im ig. Jahrhundert.
schritten teils durchfahren hat, so nahm er auch am Eisenbahn-
rückkauf, dem er ein drittes Kapitel widmet, hervorragenden Anteil.
Vergeblich hatte der Bundesrat schon im Jahre 1857 einen Fonds
zum Ankauf von Eisenbahnaktien gründen wollen , um mit Hilfe des-
selben allmählich den Rückkauf bewerkstelligen zu können. Umsonst
hatte im Jahre 1862 der damalige Bundespräsident Stämpfli in einer
Broschüre den Rückkauf aller Bahnen befürwortet , um den Eisenbahn-
zuständen, die krankhaft seien, eine Wendung zum Bessern zu geben.
Die Anstrengungen von Bundesrat Welti zum Ankauf der Zentralbahn
scheiterten am Veto des V'olkes. Zwei Monate nach diesem verwer-
fenden Volksentscheid stellte Curti im Nationalrat eine Motion, welche
den Bundesrat zu einer Untersuchung über den Gesamtrückkauf einlud.
Bundesrat Zemp, der erste konservative Katholik in dieser Behörde, ist
im Laufe dieser Untersuchung aus einem Gegner des Eisenbahnrück-
kaufs zu einem Freund desselben geworden.
Eine von Curti präsidierte Expertenkommission hatte die der
Bundesversammlung zu machenden Vorlagen zu prüfen. Im Laufe der
Zeit gelang es, mit allen Eisenbahngesellschaften Verträge über die Zu-
sammenlegung ihrer Konzessionen abzuschliefsen. Es wurde das Bundes-
gesetz betreffend das Stimmrecht der Aktionäre von Eisenbahngesell-
schaften, sowie dasjenige über das Rechnungswesen der Eisenbahnen er-
lassen. Noch mehr als diese gesetzgeberischen Akte hat der Streik der
Eisenbahnangestellten bei der Nordostbahn vom März 1897 dem Rück-
kauf vorgearbeitet. Alle Versuche denselben zu verhindern, scheiterten
kläglich. . Wurde doch das Gesetz am 20. Februar 1898 vom Schweizer-
volk mit 385 792 gegen 181 721 Stimmen angenommen.
Die aktive Teilnahme des Geschichtschreibers am Gange der Er-
eignisse pflegt im allgemeinen der Objektivität der Darstellung nicht
viel zu nützen. Nur zu leicht mischt sich in die Freude über errungene
Siege oder in den Schmerz über erlittene Niederlagen ein persönlicher
Zug, welcher dem Gegner nicht ganz gerecht zu werden vermag. Bei
Curtis Geschichte der Schweiz im t9. Jahrhundert trifft, wie bereits im
Vorangehenden bemerkt wurde, das Gegenteil zu. Die Ruhe und Ob-
jektivität des Philosophen verläfst ihn bei keinem Anlafs. So ist unter
anderem die Schilderung der Bewegung für das Banknotenmonopol
ein Meisterstück der Darstellung. Dr. med. Joos von Schaffliausen,
dessen Name mit den meisten sozialen Errungenschaften der letzten
Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts enge verknüpft ist, sowie eine Reihe
hervorragender Männer werden im Verlaufe der SchilderungderEreignis.se
treffend charakterisiert und geradezu plastisch dargestellt, ohne dafs dazu
viel Worte verwendet werden. Oder gibt es eine treffendere Schilderung
von Dr. Joos, als die Zeichnung der unentwegten Energie, mit welcher
dieser für das Banknotenmonopol kämpfte. Als das Volk das Banknoten-
gesetz abgelehnt hatte, brachte Dr. Joos im Nationalrate eine Motion
Archiv für *oz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 42
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650
Litteratur.
ein, welche die Einführung des Ranknotenmonopols bezweckte. Obwohl
diese Motion blofs 6 Stimmen auf sich vereinigte, wandelte Joos dieselbe
in eine Volksiniative um, reiste als „Wanderapostel" im Lande herum
und betrieb unentwegt die Sammlung von 50000 Unterschriften. Von
der Presse unterstützte ihn zuerst nur die von Theodor Curti und Rein-
hold Rüegg soeben gegründete „Züricher Post". Langsam ging die
Unterschriftensammlung vor sich. Schliefslich konnten 56 526 solcher
eingereicht werden — der erste Fall , dafs die Sammlung von 50 000
Unterschriften für eine Verfassungsänderung F.rfolg hatte. Wohl wurde
die Initiative verworfen, aber die Väter des Gedankens liefsen denselben
nicht mehr ruhen.
Wer sich über Entstehung und Wirkung des Alkoholmonopols, des
Post-, Telegraphen- und Telephonwesens überhaupt des Verkehrs und
Handels rasch, sicher und gründlich orientieren will, findet in Theodor
Curtis Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert ebenfalls alles Wissens-
werte. Mit Recht ist dieselbe ein unentbehrliches Nachschlagebuch für
alle diejenigen genannt worden, die sich für die Volkswirtschaft unseres
Landes interessieren. —
Frauenfeld.
EMIL HOFMANN.
Die direkten Staatssteuern des Kantons Zürich im neunzehnten Jahr
hundert. Winterthur. (Geschwister Ziegler) 1903, 279 S.
Das klassische Werk von Georg Schanz über „Die Steuern der
Schweiz" befriedigte manche Jahre die Bedürfnisse der Politiker, Ver-
waltungsbeamten und Gelehrten auf diesem Gebiete vollkommen. Allein
im Laufe der Zeit machte sich da und dort das Bedürfnis geltend nach
Darstellungen der neuesten Erscheinungen in der kantonalen Steuer-
gesetzgebung und Steuerverwaltung. Die wachsenden Steuerlasten, ver-
bunden mit einer gewissen Steuermüdigkeit der Steuerträger, gestalteten
die Entwicklung der Steuergesetzgebung in vielen Kantonen zu einer so
schwierigen Aufgabe, dafs die allergründlichste Vorbereitung hierfür un-
bedingt notig war.
Zu diesen Kantonen gehört unter andern auch Zürich, welcher im
Begriffe steht, neuerdings einen Versuch zur Revision seines aas dem
Jahre 1870 stammenden Steuergesetzes zu wagen. Diesem Umstand
verdankt die vorliegende Schrift ihre Entstehung; denn Regierungsrat
H. Ernst fühlte sich dadurch bewogen, den Plan zu einer Geschichte
des Finanzwesens des Kantons Zürich abzuändern und zuerst eine Dar-
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Die direkten StaaUsteuem des Kantons Zürich im 19. Jahrhundert. 65 I
Stellung der direkten Staatssteuern erscheinen zu lassen. Ist dieselbe
auch in erster Linie mehr für praktische Zwecke bestimmt, so bietet sie
doch eine wertvolle Bereicherung unserer Litteratur über das Steuer-
wesen und verdient als solche die Beachtung weiter Kreise. Sie be-
ginnt mit einer Schilderung des Steuersystems des helvetischen Einheits-
staates. Der I. Abschnitt zeigt, wie trotz des Widerstandes der Be-
völkerung gegen jede Art von direkter Steuer im Kanton Zürich zuerst
die direkten Spezialsteuern, nämlich Landjägersteuer, die Montierungs-
und Militärpflichtersatzstcuer und die Handelsabgabe eingeführt wurden.
Der II. Abschnitt behandelt die Erhebung allgemeiner direkten Steuern
in Form aufserordentlicher Vermögenssteuern, bis die Verfassung vom
to. März 1873 die allgemeine Staatssteuerpflicht grundsätzlich an-
erkannte.
Der III. Abschnitt behandelt die regelmäfsigen und allgemeinen di-
rekten Staatssteuem, während der IV. ein Verzeichnis der Gesetze und
Verordnungen über die direkten Staatssteuern enthält.
Die Darstellung der Steuergesetze von 1832 und 1861 und der
Staatssteuergesetzgebung seit 1870, die Schilderung ihrer Entstehung und
ihrer Wirkungen, sowie der jeweiligen Revisionsbestrebungen geben dem
Verfasser Gelegenheit, die Strömungen und Ideale auf dem Gebiete der
Steuergesetzgebung, die Entwicklung der Steuertechnik wie die allge-
meinen politischen und volkswirtschaftlichen Verhältnisse der einzelnen
Zeitperioden treffend zu skizzieren.
Kann beispielsweise die Bedeutung der beiden Städte Zürich und
Winterthur besser demonstriert werden, als durch die Thatsachc, dafs
ihr Steuerkapital 65,8 I’roz. des Steuerkapitals des Kantons ausmacht?
Ist es nicht eine den Volkswirt überhaupt interessierende Erscheinung,
dafs sich die Zahl der Einkommenssteuerpflichtigen und die Gesamt-
summe des steuerbaren Einkommens gewaltig vermehrt und der Ertrag
der Steuer sich versechsfacht hat, sodafs die Einkommensteuer, welche
im Jahre 1870 nur den halben Ertrag der Vermögenssteuer erreichte,
im Jahre 1901 nahezu auf s;4 des Ertrages der Vermögenssteuer ge-
stiegen ist. Hält man damit die Thatsache zusammen, dafs im letzten
Jahrzehnt ungefähr 44 Proz. des steuerpflichtigen Vermögens verheim-
licht wurden, so ergibt sich von selbst eine der Hauptaufgabe des
neuen Steuergesetzes, nämlich die bisher noch verborgenen Steuer-
kapitalicn ans Licht zu ziehen. Als wirksames Mittel zur Erreichung
dieses Zieles gilt dem Verfasser mit Recht, die schon vor mehr als
30 Jahren vorgeschlagene periodisch bei sämtlichen Steuerpflichtigen
vorzunehmende Inventarisation. Leider ist die Aussicht auf Einführung
gering und wird man sich deshalb mit genauerer Kontrolle einer
detaillierten Selbsttaxation, mit Verschärfung der Strafen gegen Verheim-
lichung und ähnlichen kleinen Mitteln begnügen müssen, um dem Ziele
sich allmählich zu nähern.
42*
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t t l — I
652
Littcratur.
Neben diesen alten Klippen der Steuergesetzgebung ist in der Be-
steuerung der Aktiengesellschaften und der im Kanton domizilierten Er-
werbsgenossenschaften eine solche neueren Datums entstanden. Die
Darstellung der Steuerbehandlung derselben und die Anführung der
gegen die geplante Besteuerung geltend gemachten Gründe liefert einen
wertwollen Beitrag zur Charakteristik der Bedeutung der Aktiengesell-
schaften im Kanton Zürich. Dieselbe ist um so sprechender, als der
Verfasser hier wie überhaupt in der ganzen Schrift bei der Kritik eine
grofse Zurückhaltung beobachtet, indem er die mafsgelrenden und
interessierten Kreise möglichst selbst zum Worte kommen läfst.
Eraue n feld.
EMIL HOFMANN.
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Register zu Band I — XVIII
des
Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik.
(A = Abhandlung, M = Miscclle, L = Literatur, G = Gesetzgebung. I)ic
römischen Ziffern bedeuten die Bandzahl, die arabischen den Beginn der Seitenzahl
des Beitrages.
Autoren-Register.
A. •
1. Adickes, Fr., Oberbürgermeister; Umlegung und Zonenenteignung als Mittel
rationeller Städteerweiterung. IV', 429 A.
2. Agahd , Konrad, Lehrer; Die Lrwerbsthätigkeit schulpflichtiger Kinder im
Deutschen Reiche. XII, 373 A.
3. Aschrott, P. F., Dr., Landrichter; Die amerikanischen Trusts als Weiterbildung
der Untemehmerverbändc. II, 383 A.
4. — Tourbic, Dänisches Armenrecht unter teilweiser Vergleichung mit deutschem
Recht. II, 205 L.
5. — Krohne, Lehrbuch der Gefängniskunde unter Berücksichtigung der Kriminal-
statistik und Kriminalpolitik. III, 670 L.
6. — Deutsche Justiz - Statistik. Berlin 1889. — Kriminal - Statistik für 1887.
III, 672 L.
7. — Mischlcr, E., Dr., Die Armenpflege in den österreichischen Städten und ihre
Reform. IV, 238 L.
8. Aurin, Ferdinand, Dr. ; Die französischen Arbciterausständc der Jahre 1893 — 97.
XIII, 688 M.
B.
9. Barth, Paul, Prof. Dr. ; Bücher, Karl. Arbeit und Rhythmus. X, 321 L.
10. Baemrcithcr, J. M.f Dr., Minister a. D. ; Die Statistik über Arbeitslose in Eng-
land. I, 43 A.
!l. Bauer, Stephan, Prof. Dr. ; Die Heimarbeit und ihre geplante Regelung in
Oesterreich. X, 239 A.
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654 Autoren-Register.
12. Rauer, Stephan, Prof. Dr. ; Family Budgets; bring thc income and expenses of
twentyeight British households 1891 — 1894. — Compiled for thc Economic
Club with an Introduction. X, S07 L.
13. Bax, E. Beifort; Bernstein, E., Kautsky, K. u. A., Die Geschichte des Sozialis-
mus in Einzeldarstellungen. IX, 283 L.
14. Bemis, Edward \\\, Prof. ; Die amerikanische Arbeitsstatistik. XI, 37 1 A.
1 5. Bernstein, Eduard ; Die Arbeitsteilhaberschaft in der britischen Genossenschafts-
bewegung. XIV, 406 A.
16. — Der gegenwärtige Stand der Wohnungsfrage in England. XV, 616 A.
17. — Die Lage der Ladengehilfen in England und das Gesetz über die Beschaffung
von Sitzgelegenheit für weibliche Ladengehilfen. XV, 247 G.
18. — Karpelcs, Benno, Dr. ; Die englischen Fabrikgesetzc. XV, 758 L.
19. — Kulemann, W. ; Die Gewerkschaftsbewegung. XV, 740 L.
20. — Zur Litteratur der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. XVI, 379 A.
21. — England. Das Ergänzungsgesetz von 1900 über die Behausung der arbeiten-
den Klassen. XVI, 244 G.
22. — Die Arbeiter-Unfallentschädigungs-Gcsctzgebung in England. XVI, 450 G.
23. — Die gegenwärtige Lage der englischen Landarbeiter. XVI, 263 M.
24. — Die Arbeiterkonsumvercine und die Einkommensteuer in England. XVI, 742 M.
25. — Einige Reformversuche im Lohnsystem. XVII, 309 A.
26. — Sinzheimcr, Ludwig, Dr. ; Der Londoner Grafschaftsrat. Erster Band. XVII,
271 L.
27. Berthold, Arthur, Dr. ; Das hamburgische Gesetz betreffend die Wohnungspflege.
XIII, 179 G.
28. Blankenstein, P., Assessor; Die Ausdehnung der Krankenversicherung auf die
Hausindustrie. X, 868 A.
29. van der Borglit, R., Dr., Direktor im Reichsamt des Innern ; Die Aufgaben und
die Organisation des Reichsversicherungsamtes. III, 1 A.
30. — Statistik der entschädigungspflichtigen Unfälle im Deutschen Reich für 1887.
III, 539 A.
31. — Gibon, M. A. ; Les accidents du trnvail et de l'industrie. III, 691 L.
32. — Zur Reform des Abzahlungsgeschäftes. IV, 270 A.
33. — I)ic Statistik der Unfall- und Krankenversicherung im Deutschen Reich für
1888 und 18S9. IV, 531 M.
34. — Die niederländische Fabrikinspektion. VIII, 210 M.
35. — Die niederländische Fabrikinspektion in den Jahren 1894 — 1896. XII, 275 M.
36. Borgius, Walther, Dr., Generalsekretär; Wandlungen im modernen Detailhandel.
XIII, 41 A.
37. Bowley, Arthur, L. M. A. ; Die Thätigkcit der Arbeitsabteilung (Labour-Dcparte-
ment) im englischen Handelsministerium. X, 298 M.
38. — Booth, Charles, Life and Labour of thc people in London. Vol. I — IX.
XI, 805 L.
39. Braun, Adolf, Dr. ; Hampke, Thilo, Dr. ; Der Befähigungsnachweis im Hand-
werk. (Conrads Sammlung national-ökonomischer und statistischer Ab-
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Autoren-Register. 65 5
Handlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S. VIII, I.)
v, 375 L-
40. Braun, A. ; Ueber die Grenzen der Weiterbildung des fabrikmäßigen Grofs-
betricbcs in Rufsland (A. u. d. T. Münchener volkswirtschaftliche Studien-
Herausgegeben von Lujo Brentano u. Walther Lotz. 5. Stück). VII, 537 L.
41. — Overbergh, Cyr. van; Lcs inspccteurs du travail dans les fabriques et les
ateliers. VIII, 316 L.
42. — Ausdehnung der Statistik über die Krankenversicherung im Deutschen Reiche.
XVIII, 217 M.
43- 45* — Neue Littcratur von und über Gewerkschaften. XVII, 248 L. XVIII, 204 L.
44. — Schutz der Arbeiter in den Tierhaar- und Bürstenindustrien in Deutschland.
XVIII, 377 G.
45 a. — Die Rcichstagswahlen von 1898 und 1903. XVIII, 539 A.
46. Braun, Heinrich, Dr. ; Zur Einführung. I, 1 A.
47. — Schönlank, B., Dr. ; Die Fürtlier Quccksilbcr-Spiegelbelcgen und ihre Arbeiter.
I, 681 L.
48. — Das Rundschreiben des schweizerischen Bundesrats betr. den internationalen
Arbeiterschutz. II, 497 G.
49. — Die österreichische Postsparkasse in ihrer Bedeutung für die arbeitende Klasse.
II, 365 M.
50. — Ungarn. Der Gesetzentwurf betr. die Sonntagsruhe. III, 359 G.
51. — Ungarn. Das Gesetz betr. die Sonntagsruhe. IV, 512 G.
52. — Die Errichtung einer Kommission für Arbeiterstatistik in Deutschland. V, 145 G.
53. — Zur Lage der deutschen Sozialdemokratie. VI, 506 A.
54. — Oesterreich. Der Entwurf eines Gesetzes betr. die Arbeitsstatistik. VII, 306 G
55. — Goehrc, Die evangelisch-soziale Bewegung. IX, 652 L.
56. — Ein internationales Amt zum Arbeiterschutz. XI, 274 M.
57. — Bericht des Vorstandes der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in
Frankfurt a. M. über die Thätigkeit der Gesellschaft seit ihrer Begründung.
XV, 761 L.
58. — Notes Critiques. XVI, 547 L.
59. — Liebrecht, Dr., Landesrat; Reichshilfe für Errichtung kleiner Wohnungen. —
Kampfimeycr, Paul, Die Baugenossenschaften im Rahmen eines nationalen
Wohnungsreformplans. XVI, 543 L.
60. — Goltz, Hans, Freiherr v. d.; Die Wohnungsinspektion und ihre Ausgestaltung
durch das Reich. Herausgegeben vom Verein Reichswohnungsgesetz. —
Die Förderung des Reichswohnungswesens und die Bekämpfung der
Schwindsuchtsgefahren. Vorträge vom Oberbürgermeister Dr. Adickes,
Landesrat Dr. Schröder und Baudirektor Thorwart. Bericht über die
I. Versammlung des Vereins für Förderung des Arbeiterwohnungswesens
und verwandte Bestrebungen. — Cohn, Louis, Die Wohnungsfrage und
die Sozialdemokratie. XVI, 284 L.
61. Braun, J. ; Strikcs und Lockouts in den Vereinigten Staaten von Amerika
(1881 — 1886). II, 654 M.
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656
Autoren-Register.
62. Braun, Lily; Das Frauenstimmrecht in England. X, 417, A.
63. — Frank, Louis, Dr. Keifer, Maingic, Louis, L'assurance matemelle. XI, 543 L.
64. — Die Frauenfrage im Altertum. XIII, 155 A.
65. — Die Anfänge der Frauenbewegung. XIII, 314 A.
66. — Der Kampf um Arbeit in der bürgerlichen Frauenwelt. I. Geschichtliche
Entwicklung. — II. Die treibenden Kräfte in der bürgerlichen Frauen-
bewegung. XVI. 40 u. 93 A.
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organisationen. VIII, 75 A.
69. Brooks, John Graham; Booth, Charles; Labor and Life of the People. V, 370 A.
70. Brückner, N., Dr. ; Das neue französische Gesetz über die unentgeltliche Kranken-
pflege. VI, 528 G.
71. Bücher, K., Prof. Dr. ; Das baselstädtischc Gesetz betr. den Schutz der Arbeite-
rinnen. I, 320 G.
72. — Die belgische Sozialgesetzgebung und das Arbeiterwohnungsgesetz vom
9. August 1889. IV, 249 u. 442 A.
73. Bulgakoff, Sergci ; Kautsky, Karl ; Die Agrarfrage. Eine Uebersicht über die
Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozial-
demokratie. XIII, 710 L.
74. Bunzcl, Julius, Dr. ; Die Lage der ungarischen Landarbeiter. XVII, 34 t A.
c.
75. Cabn, Emst, Dr. ; Wohnungsgesetzgebung in Bayern. XVI, 698 G.
76. — Ein Arbeiterwohnungsviertel in einer süddeutschen Provinzstadt (Bayreuth).
XVII, 440 M.
77. Calisse, Carlo, Prof.; Hartmann, L. M., I. Urkunde einer römischen Gärtner-
genossenschaft vom Jahre 1030. — II. Zur Geschichte der Zünfte im
frühen Mittelalter. VIII, 320 L.
78. Chcyncy, E. P., Prof. ; Der Farmerbund (Farmer’s Alliance) in den Vereinigten
Staaten. V, 132 A.
79. — Die Achtstundcnbcw'egung in den Vereinigten Staaten und das neue Acbt-
stundengesetz. V, 459 G.
80. Cohen, Arthur, Dr. ; Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Münchener Kellnerinnen.
V, 97 A.
81. — Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen
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82. Cohn, Gustav, Prof. Dr. ; Ein Beitrag zur Geschichte der wirtschaftlichen Kar-
telle. VIII, 396 A.
83. — Die Entwicklung der Bestrebungen für internationalen Arbeiterschutz. XIV,
53 A.
84. Cohn, Heinrich, Dr., Rechtsanwalt; Das prcufsische Gesetz betreffend die Waren-
haussteuer. XV, 529 A.
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Autorcn-Register. 6cj 7
85. Curti, Theodor, Regicrungsrat ; Die schweizerische Gesetzgebung über die Arbeits-
zeit in den Transportanstalten. VII, 653 G.
86. — Die Arbeitslosenversicherung in St. Gallen. X, 157 M.
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SS. — Waldcigentum und Waldwirtschaft. XIII, 683, M.
D.
S9. Daszynska, Sophia, Dr. ; Die Fabrikinspektion in Russisch-Polen. V, 34S M.
90. DementjefF, E. M., Dr. ; Die Lage der Fabrikarbeiter in Zentralrufsland. II,
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91. — Die russische Fabrikgesetzgebung. III, 284 A.
92. — Rufsland. Das Arbciterschutzgcsctz vom 24. Februar 1S90. IV', 197 G.
93. Dietzel, H., Dr. Prof.; Sombart, W. ; Die römische Carapagna. II, 676 L.
94. Dilke, Charles, M. P., Sir von ; Großbritannien. Gesetzentwurf betr. die Acht-
stundenarbeit für Bergleute. VI, 114 G.
95. — Grofsbritannien. Der Haftpflichtgesetzentwurf von 1897. (VVorkmcn [Com-
pensation tor Accidcnts Bill.) X, 937 G.
96. Dyrcnfurth, Gertrud ; Die gewerkschaftliche Bewegung unter den englischen
Arbeiterinnen. VII, 166 A.
E.
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99. Ehrlich, E., Prof. Dr. ; Der schweizerische Erbrechtsentwurf. IX, 174 G.
100. Engländer, Oskar, Dr.; Die Statistik der Unfall- und Krankenversicherung in
Oesterreich fiir das Jahr 1896. XIV, 422 M.
101. Erismann, F., Prof. Dr. ; Untersuchungen über die körperliche P'ntwicklung der
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102. — Schüler, F., Dr., u. Burckhardt, A. F.., Dr. Untersuchungen über die Gc-
sundheitsverhältnissc der Fabrikbevölkerung in der Schweiz. I, 66 i L.
103. — Die Bekanntmachung des Bundesrats vom 31. Juli 1897, betr. die Einrich-
tung und den Betrieb der Buchdruckereien und Schriftgiefsereien in
Deutschland. XI, 426 G.
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der neuen Gesetzvorlage. XII, 178 A.
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F.
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109. — Italien. Das neue Gesetz betr. die National-Versicherungskassc für die In-
validität und das Alter der Arbeiter. XVII, 195 G.
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658 Autoren-Rcgister.
109a. Ferraris, Carlo F., Prof.; Italien. Das neue Gesetz, betr. die Frauen und Kinder-
arbeit. XV'III, 564 G.
1 IO. Fick, L. ; Kahler, Wilhelm; Gesindewesen und Gesinderecht in Deutschland.
X, 162 L.
111. Flcsch, Karl, Dr., Stadtrat; Siegfried, R. ; Die Proportional wähl. Ein Votum
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115. — Die deutschen Stadtgemeinden und ihre Arbeiter. XVIII, 445 M.
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vom 29. September 1901 erläutert. XVIII, 223 L.
1 1 7. Fontaine, Arthur, Direktor ira französ. Handelsministerium; Die Publikation des
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120. Frankenberg, H. v., Stadtrat; Die Versorgung der Arbeiterwitwen und Waisen
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127. Freese, Heinrich; Deutsches Reich. Das Baupfandgesetz. XVII, 169 G.
128. Fuchs, C. J., Prof. Dr. ; Miaskowski, A. v. ; Agrarpolitische Zeit- und Streit-
fragen. III, 192 L.
129 — Grofsmann, Fr.; Ueber die gutsherrlich-bäuerlichcn Rechtsverhältnisse in der
Mark Brandenburg vom 16. bis 18. Jahrhundert. IV, 244 L.
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deutschen Gesetzgebung. I, 417 A.
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schaftsgenossenschaften. I, 595 G.
132. — Lehr; Aus der Praxis der früheren Haftpflichtgesetzgebung in Deutschland
und der sich an dieselbe anschließenden Unfallversicherung. II, 207 L.
G.
133. Galton, F. W. ; Rousiers, Paul de; Le Trade Unionisme en Angleterre. X
668 L.
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Autoren-Rcgister. 659
134. Galton, F. W. ; Die Fortschritte der englischen Gewcrkvercinc. XII, 449 A.
135. — Die englische Fabrikinspektion im Jahre 1896. XII, 785 M.
130. Gizycki, Lily v. ; Zur Beurteilung der Frauenbewegung in England und Deutsch-
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137. Goldstein, J., Dr., Dozent; Kuczinsky, R., Dr. ; Der Zug nach der Stadt.
XII, 152 L.
138. Grubcr, Max v., Prof.; Der österreichische Gesetzentwurf zur Bekämpfung der
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139. — Das Gesetz vom 30. Juni 1900 betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher
Krankheiten in Deutschland. XVI, 222 G.
140. — Der neue österreichische Gesetzentwurf zur Hintanhaltung der Trunksucht.
XVIII, 184 G.
141. Grünberg, K., Prof. Dr. ; Die rumänische Agrargesetzgebung im Hinblick auf
ihre Reform. II, 74 A.
142. — Der Entwurf eines Heimstättengesetzes für das Deutsche Reich. IV, 369 G.
H.
143. Hainisch, Michael, Dr. ; Die geplante Agrarreform in Oesterreich. VII, 430 A.
144. — Das bäuerliche Erbrecht in Gesetzgebung und Litteratur der jüngsten Zeit.
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145. — Buchenberger, A., Dr. ; Grundzüge der deutschen Agrarpolitik unter be-
sonderer Würdigung der kleinen und grofsen Mittel. XII, 154 L.
146. Hallgartcn, Robert, Dr. ; Licbcnau, W. ; Städteverwaltung im römischen Kaiser-
reich, XV, 747 L.
147. — Hugo, C. ; Die deutsche Städteverwaltung, ihre Aufgaben auf den Gebieten
der Volkshygiene, des Städtebaues und des Wohnungswesens. XVI, 747 L.
148. Hartmann, L. M., Dr. Dozent,; Ueber die Ursache des Unterganges des rö-
mischen Reiches. II, 483 A.
149. — Weber, M., Dr. ; Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das
Staats- und Privatrecht. V, 215 L.
150. — Loria, A. ; Lcs bases economiqucs de la Constitution Sociale. VII, 548 L*
151. — Russell. J. ; Die Volkshochschulen in England und Amerika. VIII, 716 L.
152. — Reyer, E. ; Handbuch des Volksbildungswesens. VIII, 716 L.
153. — Brückner, N. ; Erziehung und Unterricht vom Standpunkt der Sozialpolitik.
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154. Heine, Wolfgang, Rechtsanwalt; Die Abänderung des Gesetzes betr. die Be-
schlagnahme des Arbcits- oder Dienstlohns und der Civilprozefsord-
nung. X, 455 \G.
155. — Die Sozialpolitik des Handclsstandes und das deutsche Handelsgesetzbuch.
XI, 279 A.
156. — Koalitionsrecht und Erpressung. XVII, 589 A.
157. Heinemann, Hugo, Dr., Rechtsanwalt; Der österreichische Strafgesetzentwurf
und die arbeitende Klasse. VII, 359 A.
158. Hcifs, Clemens, Dr. ; Die Stcuerprogression. XIII, 580 A.
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66o
Autorcn-Register.
159. Heiss, C. ; Kiaer, A. N. u. Hanssen, E. ; Sozialstatistik, I — III. XIV, 462 L.
160. — Lage der Holzarbeiter. Ergebnis statistischer Erhebungen für das Jahr 1893
veranstaltet vom deutschen Holzarbeiterverband. — Die Lage der Holz-
arbeiter. Nach statistischen Erhebungen für das Jahr 1897, herausgegeben
vom Vorstand des deutschen Holzarbciterverbands. — Die Verhältnisse in
der Gerberei und Lederfarbcrci. Dargestcllt auf Grund statistischer Er-
hebungen des internationalen Sekretariats der Lederarbeiter und auf Grund
anderer Materialien. XV, 27 1 L.
161. — Leipart, Theodor; Zur Lage der Arbeiter in Stuttgart. XVI, 529 L.
162. — Haushaltungsrechnungcn der Nürnberger Lohnarbeiter. XVI, 767 L.
163. — Die deutsche Strikestatistik. XVII, 150 A.
164. — Flesch, Karl, Dr. jur. ; Zur Kritik des Arbeitsvertrags. Seine volkswirt-
liche Funktion und sein positives Recht. Sozialrechtlichc Erörterungen.
XVII, 734 L.
165. — v. Zwicdineck-Südenhorst, Otto, Dr. ; Lohnpolitik und Lohnthcoric mit be-
sonderer Berücksichtigung des Minimallohnes. — Der Arbeiterschutz bei
Vergebung öffentlicher Arbeiten und Lieferungen, bericht des k. k. arbeils-
statistischcn Amtes über die auf diesem Gebiete in den europäischen und
überseeischen Industriestaaten unternommenen Versuche und bestehende
Vorschriften. — Klien, Dr. Ernst, Minimallohn und Arbeiterbeamtentum.
I. Bd. 2. H. der Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu
Jena, herausgegeben von Prof. Dr. Picrstorff. XVII, 741 L.
166. — Die Arbeitseinstellungen und Aussperrungen in Oesterreich während der
Jahre 1894—1901. XVIII, 385 M.
267. Herkncr, Heinrich, Prof. Dr. ; Die belgische Arbcitscnquetc und ihre sozial-
politischen Resultate. I, 260, 388 A.
168. — Die englische Fabrikinspektion im Jahre 1885/86. I, 176, M.
169. — Stalistique de la Bclgique. Industrie. I, 657 L.
170. — Belgien. Das Gesetz betr. die Bildung des Industrie- und Arbeitsrates
(Einigungskammer). II, 146 G.
171. — Fuchs, C. J., Dr. ; Der Untergang des Bauernstandes und das Aufkommen
der Gutsherrschaften. Nach arcliivalischen Quellen aus Neu- Vorpommern.
II, 529, L.
172. — Weyer, O. W. ; Die englische Fabrikinspektion. Ein Beitrag zur Geschichte
der Fabrikgesetzgebung in England. II, 215 L.
173. — Zur Kritik und Reform der deutschen Arbeiterschutzgesetzgebung. III, 209 A.
174. — Deutsches Reich. Der Entwurf eines Gesetzes betr. die Abänderung der
Gewerbeordnung. III, 567 G.
175. — Braun, Adolf, Dr. ; Die Arbeiterschutzgesetze der europäischen Staaten.
1. Teil. Deutsches Reich. III, 689 L.
176. — Frankenstein, K. ; Zur Organisation der amtlichen Lohnstatistik. III, 700 L.
177. — Studien zur Fortbildung des Arbeitsverhältnisses. IV, 563 A.
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Autorcn-Register.
66 r
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und Kindern in gewerblichen Betrieben. Unter Berücksichtigung der Aus-
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180. — Post, Dr. Jul. u. Albrecht Dr. H. ; Musterstätten persönlicher Fürsorge von
Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigen. Bd. II. Die erwachsenen
Arbeiter. VI, 345 L.
181. — Grünberg, K.; Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutshcrrlich-
bäuerlichcn Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien. VII, 541 L*
182. — Platter, J. Dr. ; Kritische Beiträge zur Krkenntnis unserer sozialen Zustände
und Theoricen. VII, 724 L.
183. — Das Frauenstudium der Nationalökonomie. XIII, 227 A.
184. Hjelt, August, Dr. ; Das erste Arbeiterschutzgesetz Finnlands vom 15. April 1889.
III, 643 G.
185. — Die Unfallversicherung der Arbeiter in Finnland. XIII, 410 G.
186. I lillebrand, J., Dr. ; Steinbach, E., Dr. ; Die Grundsätze des heutigen Rechts
über den Ersatz von Vermögensschäden. II, 526 L.
187. Hirschberg, E., Direktor Dr. ; Board of Trade. — Labour Department. Report
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to both Houses of Parliament). VIII, 300 L.
188. Hofmann, E., Dr., Nationalrat; Zwei Haushaltungsbudgcts über einen zwanzig-
jährigen Zeitraum. VI, 49 A.
189. — Die Arbeitslosenversicherung in der Schweiz. VIII, 227 M.
190. — Berghoff- Ising, J. ; Die sozialistische Arbeiterbewegung in der Schweiz.
VIII, 503 L.
191. — Engel, E. ; Die Lebenskosten belgischer Arbeiterfamilien früher und jetzt.
VIII, 707 L.
192. — Die Wohnungsenqueten in der Schweiz. IX, 604 M.
193. — Schanz, Georg; Zur Frage der Arbeitslosenversicherung. IX, 659 L.
194. — L. Sonnemanns Grundzüge eines Rcicbsgesctzcs zur kommunalen Versiche-
rung gegen Arbeitslosigkeit. X, 800 M.
195. — Schanz; Neue Beiträge zur Frage der Arbeitslosenversicherung. X, 812 L.
196. — Das Projekt einer Arbeitslosenversicherung in Zürich. XI, 762 G.
197. — May, Max; Wie der Arbeiter lebt. XI, 819 L.
198. — Cornil, Georges; L'assurancc municipalc contrc lc chömage involontaire.
XII, 292 L.
199. — Die Arbeitslosenversicherung in St. Gallen und Bern. XIII, 85 A.
200. — Der gegenwärtige Stand der Arbeitslosenversicherung in der Schweiz.
XIV, 105 A.
201. — Landolt, Karl; Die Wohnungsenqußte in der Stadt Bern vom 17. Februar
bis 11. März 1896. XIV, 215 L.
202. — Die Ergebnisse der schweizerischen Wohnungsenqueten. XV, 684 M.
203. — Der Gesetzentwurf betr. Arbeitcrinncnschutz im Kanton Bern. XVII, 686 G.
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204a. Hofmann E.; Curti, Theodor; Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert.
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204 b. — Die direkten Staatsstcucrn des Kantons Zürich. XVIII, 650 L.
205. llubcrich, Henry Charles, Dozent, Dr. ; Die amerikanische Arbeitergesetzgebung
des Jahres 1901. XVII, 426 G.
206. — Die amerikanische Arbeitergesetzgebung des Jahres 1901. XVIII, 199 G.
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207. Hugo, C., Dr. (s. a. Lindemann); Maltbie, M. R. ; Municipal Functions, a Study of
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208. Jastrow, Hermann, Amtsgerichtsrat; Das deutsche Rcichsgesetz über die Ab-
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210. Jastrow, J., Privatdozent, Dr. ; Die preufsischcn Steucrvorlagen vom Standpunkt
der Sozialpolitik. V, 527 A.
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II. Die Vermögenssteuer. 532.
III. Der Erlafs der Grundsteuer. 553.
IV. Die Aufhebung der Rcrgstcuern. 574.
V. Die Gemeindesteuern. 583.
VI. Steuerpflicht und Wahlrecht. 599.
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und Sozialpolitik. VII, 103 A.
212. Jay, Raoul, Prof.; Die Fabrikinspektion in Frankreich. III, 115 A.
213. — Frankreich. Das Gesetz betr. die Aufhebung der auf das Arbeitsbuch be-
züglichen Bestimmungen. III, 632 G.
214. — Die Syndikate der Arbeiter und Unternehmer (Syndicats profcssionels) in
Frankreich. IV, 403 A.
215. — Frankreich. Das Dekret betr. den Obersten Arbeitsrat IV, 192 G.
216. — Gesetz und Verordnung betr. Errichtung eines Arbeitsamtes in Frankreich.
IV, 700 G.
217. — Das französische Gesetz vom 27. Dezember 1890 über den Arbeitsvertrag und
das Verhältnis der Eiscnbahngesellschaften zu ihren Angestellten. V, 340 G.
218. — Annuairc des syndicats profcssionncls industriels, commereiaux et agricolcs,
constitues conformeraent ä la loi du 21. mars 1884 en France et en
Algerie. 3 emc annec. 1891. V, 213 L.
219. — Die neue Arbeiterschutzgesetzgebung in Frankreich. VI, 24 A.
220. — Die Einigungsämter in Frankreich auf Grund des Gesetzes vom 27. Dezember
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221. — Frankreich. Das Gesetz vom 29. Juni 1894 über die Hilfs- und Pensions-
kassen der Grubenarbeiter. VII, 473 G.
222. — Annuaire des syndicats profcssionncls industriels commerciaux et agricolcs
en France ct en Algerie. 4 e. et. 5 c. annee, 1892 et 1S93. VII, 726 L.
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Autoren-Rcgistcr.
663
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238. — Die weibliche Fabrikinspektion in den Vereinigten Staaten. XI, 128 A.
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241. — Drei Entscheidungen oberster Gerichte über den gesetzlichen Arbeitstag in
den Vereinigten Staaten. XII, 744 G.
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244. — Das Fabrikinspektorat von Newyork und seine Stellung zur Arbeiterschutz-
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248. Kollmann, Paul, Direktor; Mischler, Ernst, Prof. Dr. ; Das Armen wesen in
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664, Autoren-Rcgistcr.
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Reich für das Jahr 1891. VI, 566 M.
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Autoren-Rcgister. 665
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Deutschen Reich für das Jahr 1894. X, 774 M.
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27S. — Die Ursachen der Betriebsunfälle in der deutschen Industrie und Landwirt-
schaft. XI, 143 A.
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Deutschen Reich für das Jahr 1895. XI, 474 M.
280. — Die Statistik der Unfall-, Alters- und Invaliditätsvcrsicherung im Deutschen
Reich für das Jahr 1896. XII, 55 1 M.
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283. — Das deutsche Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899. XV, 170 G.
284. — Die Statistik der Unfall-, Alters- und Invaliditätsversichcrung im Deutschen
Reich für das Jahr 1897. XV, 490 M.
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Standpunkte der Nationalökonomie. 11, 523 L.
287 a. Levy, Hermann, Dr. ; Landarbeiterfrage und I^andflucht in England. XVIII, 483 A.
288. Lcxis, W., Prof. Dr. ; Keleti, K., Dr. ; Die Ernährungsstatistik der Bevölkerung
Ungarns auf physiologischer Grundlage bearbeitet. I, 35 1 L.
289. Lindemann, H., Dr. ; Zur Littcratur über die Wohnungsfrage. XVII, 508 L.
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nungswesens. XVIII, 138 G.
291. Lizst, v., Franz, Prof. Dr. ; Die Forderungen der Kriminalpolitik und der Vor-
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292. Locw, Emil, Dr. ; Armenpflege und Altersversorgung in England. VIII, 695 M.
293. — Das Problem der Arbeitslosigkeit in England. IX, 79 A.
294. — Grofsbritannien. Das Gesetz betr. die Einigungsämter. IX, 583 G.
295. Löwenfeld, Th., Prof. Dr. ; Kontraklbruch und Koalitionsrecht im Hinblick
auf die Reform der deutschen Gewerbegesetzgebung. III, 383 A.
296. — Koalitionsrecht und Strafrecht. XIV, 471 A.
297. Losch, Hermann, Dr., Finanzrat ; Das Königreich Württemberg. II, 21 1 L.
298. — Das Mikroskop, das Brillenglas, der Feldstecher und das Fernrohr in der
deutschen Volkswirtschaftslehre. XVI, 502 M.
Archiv für »oz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIU. 43
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666
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bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich. VIII, 1 A.
300. — Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. XV, 1 A.
301. Lotz, Walter, Prof. Dr. ; Nübling, Eugen; Ulms Baumwollweberei im Mittel-
alter. Urkunden und Darstellungen. Ein Beitrag zur deutschen Städte-
und Wirtschaftsgeschichte. IV, 553 L.
302. — Zimmermann, Alfred, Dr. ; Geschichte der prcufsisch-deutschen Handels-
politik, aktenmäfsig dargestellt. V, 524 L.
303. — Die Reform der direkten Steuern in Bayern, unter besonderer Berücksichtigung
der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. XI, 549 A.
304. Lux, H. Dr. ; Die Sittlichkeitsvcrbrecfaen in Deutschland in kriminalistischer
Beleuchtung. V, 248 A.
M.
305. Macrosty, Henry, W. B. A. ; Die Trusts im Amerika. XVII, 281 A.
306. — Die englische Fabrikgesetzgebung in den Jahren 1878 — 1901. XVII, 670 G.
307. — Der Rechtszustand der Gewerkvereine in Grofsbritannien. XVIII, 322 A-
308. Mangoldt von, Karl, Dr. ; Die gewerblichen Fortbildungsbestrebungen der
Dresdner Arbeiterschaft. VI, 290 A.
309. — Ein Reformprogramm für die Wohnungs- und Ansiedlungsfragc in Deutsch-
land. XVIII, 112 A.
310. Martin, Rudolf, Referendar; Zur Verkürzung der Arbeitszeit in der mechanischen
Textilindustrie. VIII, 240 M.
311. Mataja, V., Sektionschef Dr. ; Das schweizerische Bundesgesetz vom 26. April
1887, betr. die Reform der Haftpflicht I, 136 G.
312. — Ratenhandel und Abzahlungsgeschäfte. Ein Beitrag zur Beurteilung der
Konsumtionsverhältnissc der unteren Klassen. I, 157 M.
313. — Falkner, R. P. ; Die Arbeit in den Gefängnissen. I, 360 L.
314. — Zccrleder, A. ; Die Schweizerische Haftpflichtgesetzgebung. I, 678 L.
315. Mayr, v. G., Unterstaatssekretära. D., Prof. Dr. ; Arbeiterversicherung und Sozial-
statistik. I, 201 A.
316. — Handbuch der Vcrwaltungsstatistik. V, 692 L.
317. Mayer, Gustav, Dr. und Zanten, van, J. H., Dr. ; Der Entwurf eines Unfall-
versicherungsgsctzcs in den Niederlanden. X, 750 G.
318. Mengcr, A., Prof. Dr. ; Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen.
I. u. II. Artikel. II, I u. 419 A.
319. — Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen (Erbrecht). III,
57 A.
320. Menzel, A., Prof. Dr. ; Liefmann, Robert, Dr. ; Die Untcrnchmcrvcrbände (Kon-
ventionen, Kartelle), ihr Wesen und ihre Bedeutung. XII, 289 L.
321. Miaskowski, A. von, Graf, Eduard; Die Austeilung der Allmend in der Gemeinde
Schötz. VI, 169 L.
322. Millict, E. W., Direktor; Einiges über die Wirkungen des schweizerischen Al-
koholmonopols. III, 180 M.
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Autoren-Register.
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323. Minz&s, Boris, Prof. Dr. ; Das staatssozialistische Experiment einer obligatorischen
gegenseitigen Hagelversicherung ln Bulgarien. XII, 461 M.
324. — Tugau-Baranowsky, M. ; Geschichte der russischen Fabrik. XV, 515 A.
325. — Ergebnisse der vierjährigen Tätigkeit der obligatorischen gegenseitigen Hagel-
versicherung in Bulgarien. XVI, 277 M.
326. Mischler, Ernst, Prof., Dr. ; Die östereichische Fabrikinspektion im Jahre 1887.
I, 624 M.
327. — Verwaltungsbericht des Rates der Stadt Leipzig für das Jahr 1886. I, 357 L.
328. — Zur Beurteilung der Kriminalität des Deutschen Reiches. II, 192 M.
329. — Die österreichische Fabrikinspektion im Jahre 1888. II, 516 M.
320. — Stalistica giudiziaria penale per l’anno 1886. II, 679 L.
331. — Münsterberg, E. ; Das Landarmcnwcscn. III, 685 L.
332. — Die österreichische Gewerbeinspektion im Jahre 1889 und 1890. V, 193 M.
333. — Die österreichische Gewerbeinspeklion im Jahre 1891. V, 475 M.
334. — Die österreichische Gewerbeinspektion mit besonderer Rücksicht auf den
Bericht vom Jahre 1892. VI, 458 A.
335. — Die österreichische Gewerbeinspektion in den Jahren 1893 und 1894. VIII,
492 M.
336. — Die österreichische Gewerbeinspektion im Jahre 1895. IX, 251 M.
337. — Die Hauptergebnisse der deutschen Berufszählung vom 14. Juni 1895. X,
288 M.
338. — Die Gewerbeinspektion in Oesterreich im Jahre 1896. X, 948 M.
339. — Die österreichische Gewerbeinspektion im Jahre 1897. XII, 775 M.
340. — Grundzüge einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung für Oesterreich.
I. Die Vorgeschiche des Gesetzentwurfs. XV, 281 A.
341. — Grundzüge einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung für Oesterreich.
II. Die Vorfrage der legislativen Kompetenz. — Das lokalkommunale und
das territoriale Gestaltungsmoment. XV, 285 A.
342. — Grundzüge einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung für Oesterreich.
III. Der Gedanke einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung im
Systeme der Verwaltung. XV, 290 A.
343. — Grundzüge einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung für Oesterreich.
IV. Die Grundzüge des Gesetzentwurfs. XV, 300 A.
344. — Grundzüge einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung für Oesterreich.
V. Die Aussichten der Verwirklichung des Gesetzentwurfs. XV, 318 A.
345. — Die Gewerbeinspektion in Oesterreich im Jahre 1898. XV, 257 M.
346. — Die österreichische Gewerbeinspektion im Jahre 1899. XVI, 251 M.
347. — Die österreichische Gewerbeinspektion im Jahre 1900. XVII, 478 M.
348. Molkenbuhr, Hermann, M. d. R. ; Deutsches Reich. Die Novelle zur Gewerbe-
ordnung. XIV, 191 G.
349. — Die Novelle zur Gewerbeordnung vom 30. Juni 1900.
350. — Deutsches Reich. Die neue Scemannsordnung und
XVII, 619 G.
XV, 653 G.
ihre Nebengesetze.
43*
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668
Autorcn-Kegister.
350a. Mombcrt, Dr. Paul, Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber. XVIII, 519 A.
351. Moore, Samuel, Oberrichter; Die englische Haftpflichtgesetzgebung und die
beabsichtigte Reform derselben. I, 572 G.
352. — Das Swcating-System in England. I, 642 M.
353. — Das Trucksystem in Grofsbritannicn und die Gesetzgebung. II, 219 A.
354. Morgensticrnc, B. ; Rubin, M. ; Tabcllarisk Fremstilling of Beboelscsog Husleie-
forholdene i Staten Kjobenhavn. I, 676 L.
N.
355. Nacf, E. , Kantonstatistiker; Die schweizerische Fabrikinspektion im Jahre
1886,87. I, 635 M.
356. — Die Berichte der schweizerischen Fabrikinspektion für 1888 und 1889. III,
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357. — Schweiz. Die Unfall- und Krankenversicherung. IV, 665 G.
358. — Die Berichte der schweizerischen Kantonsregierungen über die Ausführung
des Fabrikgesetzes für 1889 und 1890. V, 205 M.
359. — - Der Vollzug des schweizerischen Fabrikgeselzes. VII, 520 M.
360. — Der Vollzug des schweizerischen Fabrikgesetzes. IX, 588 M.
361. — Der Vollzug . des schweizerischen Fabrikgesetzes in den Jahren 1895/96.
XI, 521 M.
362. — Der Vollzug des schweizerischen Fabrikgesetzes. XIII, 443 M.
363. Nash, Vanghan ; Das englische Fabrikgesetz von 1895. IX, 187 G.
364. Natorp, Paul, Prof. Dr. ; Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik. VIII.
140 A.
365. — Edclheim, John, Dr. ; Beiträge 2ur Geschichte der Sozialpädagogik mit be-
sonderer Berücksichtigung des französischen Revolutionszcitalters. XVII,
541 L.
366. Nccfc, M., Direktor; Oestcrreichisches Städtebuch. Gesammelt und redigiert
von K. Th. Inama-Stcmcgg u. E. Mischlcr. I, 195 L.
367. Necrgaard, N.; Unfallversicherung und Krankenuntcrstülzung in Dänemark.
III, 345 G.
368 Neuburg, Clamor, Prof. Dr. ; Der Entwurf zur Abänderung der deutschen Ge-
werbeordnung. X, 519 A.
369. Nocht, B., Dr., Uafcnarzt, Hamburg; Zur Revision der deutschen Seemanns-
ordnung. XII, 157 A.
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370. Ocrtmann, Paul, Prof. Dr. ; Die Bauhandwerkerfragc und der Entwurf eines
Reichsgesetzes betr. die Sicherung der Bauforderungen. XII, 34 A.
371. Oldendorff, A., Dr. ; Die Säuglingssterblichkeit in ihrer sozialen Bedeutung.
I, 83 A.
372. — Becker, J., Dr. ; Anleitung zur Bestimmung der Arbeits- und Erwerbs-
unfähigkeit nach Verletzungen. I, 371 L.
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Autoren-Register. GOty
373. Oldendorff, A. ; Körösi, J. ; Die Sterblichkeil der Stadt Budapest i. d. J. 1882/85
und deren Ursachen. I, 679 L.
374. — Statistica dellc cause di mortc nei comuni capoluoghi di provincia e di
circondario e dellc morti violente avvenutc in tutto il regno. Anno 1885.
II, 527 L.
375. — Mitteilungen des bcrnischen statistischen Bureaus, Jahrgang 1887, Liefe-
rung II. II, 535 L.
376. Oppenheimer, Franz, Dr. ; Gide, Charles ; La Cooperation. Conferences de
Propagande. XVI. 759 L.
P.
377. Paszkowski, Wilhelm, Dr. ; Die Hugo Heimann’schc öffentliche Bibliothek und
Lesehalle in Berlin. XV, 267 M.
377 a, — Die Hugo Heimann’schc öffentliche Bibliothek und Lesehalle in Berlin in
den ersten vier Jahren etc. XVIII, 630 M.
378. A. Peterscn-Studnitz; Norgcs offizielle Statistik, 3. R. Nr. 64. Fattigstatistik
(Armenstatistik). I, 674 L.
379. — Raphael, Axel ; Arbctsgifvare och arbetare. Förliknings-metoder vid deras
intressetoister i England och Förenta Statema. II, 207 L.
380. — Selsmordene i Kongeriget Danmark i Tiaarct 1876 — 1885. Saertryk of
Statistike Meddelelser. IV, 240 L.
381. Philippovich, E. v., Prof. Dr. ; Die soziale Lage der Cigarrenarbeiter im Grofs-
herzogtum Baden. III, 368 M.
382. — Die staatlich unterstützte Auswanderung im Grofsherzogtum Baden.
V, 27 A.
383. — Deutsches Reich. Der Entwurf eines Auswanderungsgcselzes. V, 638 G.
384. — Die Vereinigten Staaten und die europäische Auswanderung. VI, 259 A.
385. — Arbeitcrausschüssc und Einigungsämter in Oesterreich. VII, 595 A.
386. — Wiener Wohnungsverhältnisse. VII, 2 14 A.
387. Platter, J., Prof. Dr. ; Die geplante Alters- und Invalidenversicherung im Deutschen
Reich. I, 7 A.
388. Ploetz, Alfred, Dr. ; Sozialpolitik und Rassenhygiene in ihrem prinzipiellen
Verhältnis. XVII, 393 A.
389. Pollak, Rudolf, Privatdozent, Dr. ; Die Dienststreitigkeiten im österreichischen
Recht und ihre Reform. IX, 155 G.
390. — Oesterreich. Gesetz betr. die Einführung von Gewerbegerichten und die
Gerichtsbarkeit in Streitigkeiten aus dem gewerblichen Arbeits-, Lehr- und
Lohnverhältnisse. X, 272 G.
391. Pringsheim, O., Dr. ; Die Lage der arbeitenden Klassen in Holland.
I, 69 A.
392. — Das niederländische Arbeiterschutzgesetz vom 5. Mai 1889. II, 506 G.
393. — Kosmann. B. ; Obcrschlesien, sein Land und seine Industrie. II, 202 L.
394. — Neuere Untersuchungen über die Lage der arbeitenden Klassen in Holland.
IV, 315 A.
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6yo
Autoren* Register.
395. Pringsheim, O. Dr. ; Niederlande. Das Gesetz betr. die Veranstaltung einer En-
quete über die Arbeiterverbältnisse. IV, 692 G.
396- — Report on strikes and lockouts by the labour Correspondcnt to the Board
of Trade. V, 219 L.
397. — Ein Experiment mit dem Achtstundentage. VI, 14 A.
398. — Hertz, Friedrich Otto; Die agrarischen Fragen im Verhältnis zum Sozia-
lismus. Mit einer Vorrede von Eduard Bernstein. XIV, 75 t L.
399- — Landwirtschaftliche Manufaktur und elektrische Landwirtschaft XV,
406 A.
400- — Die Aussichten der elektrischen Landwirtschaft XVII, 715 M.
401. — Nordenholz, A., Dr. jur. ; Allgemeine Theorie der gesellschaftlichen Produk-
tion. XVII, 279 L.
Q-
402. Quarck, M., Dr. ; Bcrthold, G., Dr. ; Die Entwicklung der deutschen Arbciter-
kolonien. I, 367 L.
403. — Die deutsche Fabrikinspektion im Jahre 1887. II, 347 M.
404. — Die preufsische Bergarbeitcrenquetc vom Jahre 1889. III, 162 M.
405. — Der Wucher auf dem Lande, Berichte und Gutachten veröffentlicht vom
Verein für Sozialpolitik. Schnapper-Arndt, G. ; Zur Methodologie sozialer
Enqueten. Zuns, J., Der „Wucher auf dem Lande“. III, 695 L.
406. — Die Reorganisation der Gewerbeinspektion in Preufscn. IV, 207 M.
407. — Das neue Krankenversicherungsgesetz für das Deutsche Reich. V, 279 G.
R.
408. Rae, John ; Neue Fortschritte der Achtstundcnbcwegung in England. XII, 1 A.
409. Raphael, Axel, Dr. ; Das schwedische Arbeiterschutzgesetz vom io. Mai 1889.
UI, 140 G.
410. — Die schwedische Sozialpolitik des Jahres 1894. VIII, 283 M.
41 1. Rauchberg, Heinrich, Prof. Dr. ; Die sozialstatistischen Ergebnisse der letzten
französischen Volkszählung. II, 281 A.
412. — Bücher, Karl, Dr. ; Die Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt am I. De-
zember 1S88. IV, 228 L.
413. — Philippovich, E. von, Dr. ; Auswanderung und Auswanderungspolitik in
Deutschland. V, 517 L.
414. — Die Statistik der Unfall- und Krankenversicherung in Oesterreich für die
Jahre 1890 — 1895. XII, 647 A.
415. — Die Erhebung über Frauen- und Kinderarbeit in den Vereinigten Staaten.
XII, 135 M.
416. — Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895.
Vorbemerkung. Erster Teil. Die Methode der Berufs- und Gewerbezählung.
XIV, 227 A.
417. — Die Berufs- und Gewerbczählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895.
Zweiter Teil. Berufsgliederung und soziale Schichtung. XIV, 261, 603 A.
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Autorcn-Rcgistcr.
671
418. Rauchberg, H. ; Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich vom
14. Juni 1895. II. Teil. Berufsgliederung und soziale Schichtung. —
IX. Die häuslichen Dienstboten. XV, 123. — X. Die Familienangehörigen
ohne eigenen Hauptceruf. 129. — XI. Ueberblick über die soziale
Schichtung der gesamten Bevölkerung. 138. — XII. Der Nebenerwerb. 147 A.
419. — XIII. Die Stellung der Frauen im Erwerbsleben. XV, 332. — XIV. Alter und
Familienstand der Erwerbstätigen. 373. — XV. Das Glaubensbekenntnis
der Erwerbstätigen. 402 A.
420. — Die Landwirtschaft im Deutschen Reich. Nach der landwirtschaftlichen
Betriebszählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. XV, 554 A.
421. — Gewerbe und Handel im Deutschen Reich. Auf Grund der Gewerbezählung
vom 14. Juni 1895. XVI, 142 A.
422. — Entwicklungstendenzen der deutschen Volkswirtschaft. XVI, 31 7 A.
423. Redlich, Josef, Dozent Dr. ; Das Österreichische Heimatrecht und seine Reform.
X, 549 A.
424. — Waentig, Heinrich; Gewerbliche Mittclstandspolitik, XIII, 471 L.
425. Reeves, Hon. W. P. ; Die obligatorischen Schiedsgerichte in einigen englischen
Kolonien. XI, 635 A.
426. — Die Gesetzgebung Ncu-Seelands über Fabriken, Läden und Dienstboten.
XII, 516 G.
s.
428. Schanz, Georg, Prof. Dr. ; Die neuen statistischen Erhebungen über Arbeits-
losigkeit in Deutschland. X, 325 A.
429. — Rcitzcnstcin, Dr. Freiherr von; Der Arbeitsnachweis, seine Ausgestaltung
im In- und Auslande. XI, 824 L.
430. — Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. XVI, A. — I. Der Arbeitsnachweis.
549. — II. Sonstige Mittel behufs Verhütung und Unterdrückung der
Arbeitslosigkeit. 615.
431. Schippel, Max, M. d. R. ; Beiträge zur neuesten Handelspolitik Deutschlands.
Herausgegeben vom Verein für Sozialpolitik. I. u. II. Bd. XVI, 523 L.
432. Schmid, Ferd., Prof. Dr. ; Krebs, W. ; Organisation und Wirksamkeit der ge-
werblichen Schiedsgerichte etc. I, 355 L.
433. — Report on the Statistics of Wages in Manufacturing Industries. I, 647 L.
434. — Deutsches Reich. Der neue Gesetzentwurf betr. die Gewerbegerichte. III.
3>4 G.
435. — Stieda, W. ; Das Gewerbegericht. III, 676 L.
436. — Smith, R. M. ; Wages Statistics and the next Census of the United States.
Statistische Mitteilungen über die beim Bergbau Preufsens gezahlten Arbeits-
löhne. — Ermittlungen über die Lohnverhältnisse in Berlin. — Neefe,
Dr. M. ; Ermittlungen über die Lohnvcrhällnissc in Breslau. — Schmitz, J. ;
Uebersicht der für die sämtlichen deutschen Bundesstaaten festgestellten
ortsüblichen Tagelöhnc. III, 196 L.
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672 Autoren-Register,
437. Schmid, F. ; Deutsches Reich. Das neue Reichsgesetz betr. die Gewerbegerichte.
IV, 157 G.
438. — Die neuen sozialpolitischen Vorlagen der österreichischen Regierung. V, 1 54 G.
439. Schmidt, Conrad, Dr. ; Wagner, Adolf, Prof. ; Lehr- und Handbuch der poli-
tischen Oekonomie. Erste Hauptabteilung: Grundlegung der politischen
Oekonomic. I. u. II. Halbband. VI, 588 L.
439a. — Sombart, Werner; Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert.
X, 318 L.
44°* — Barth, Paul, Dr. ; Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. I. Teil.
XII, 790 L.
440a. — David, Eduard; Sozialismus und Landwirtschaft, 1. Band, die Betriebsfrage.
XVII L 637 L.
441. Schneider, F. Dr.; Deutsches Reich; Das Gesetz, betr. die Erwerbs- und Wirt-
schaftsgenossenschaften. II, 293 G.
442. Schoenlank, Bruno, Dr., M. d. R. ; Die Kartelle. III, 489 A.
443. — Deutsches Reich. Die Verordnungen über die Einrichtung der Quecksilber-
Spicgelbelegen. 111, 149 G.
444. — Eine Randglosse zur mittelalterlichen Sozialstatistik. III, 659 M.
445. — Morgenstern, F. ; Die Fürthcr Mctallschlägcrei. III, 679 L.
446. — Smith, Kichmond Mayo; Emigration and Immigration. IV, 396 L.
447- — Pringsheim, Otto Dr. ; Beiträge zur wirtschaftlichen Entwicklungsgeschichte
der vereinigten Niederlande im 17. und 18. Jahrhundert. IV, 707 L.
448. — Daszynska, Sophie; Zürichs Bevölkerung im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag
zur Kenntnis der historischen Städte-Statistik. IV, 548 L.
449. — Ein Kapitel aus der urkundlichen Geschichte der Kartelle. V, 403 A.
450. — Zur Statistik der Prostitution in Berlin. VII, 330 M.
451. — Herkner, H., Dr. Prof.; Die Arbeiterfrage. Eine Einführung. VII, 532 L.
452. Schüller, Ludwig, Dr. ; Die Wiener Enquete über Frauenarbeit. X, 379 A.
453. — Richard, Dr. ; Die österreichische Handwerkergesetzgebung. XI, 381 A.
454. Schüler, F., Dr., eidg. Fabrikinspektor; Die Fabrikinspektion. II, 537 A.
455. — Der Normalarbeitstag in seinen Wirkungen auf die Produktion. IV, Sa A.
456. — Studien zur Frage des ZUndhoIzmonopols. V, 70 A.
457. — Die Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzgebung in der Schweiz. VI.
357 A.
458. — Jay, Raoul, Professor; Etudes sur la question ouvriere en Suisse. VI,
165 L.
459. — Das Zürcher Gesetz betr. den Schutz der Arbeiterinnen. VII, 461 G.
460. — Zur Frage der Unfall- und Krankenversicherung in der Schweiz. IX, 420 A.
461. — Die Fäbrikwohnhäuser in der Schweiz. IY, 261 M.
462. — Die Grundsätze für die Ausbildung der prcufsischen Gewerbeinspektion.
XI, 502 M.
463/ — Die Verkürzung der Samstagnachmittag-Fabrikarbeit in der Schweiz. XI,
252 M.
464. — Die sozialen Zustände in der Seidenindustrie der Ostschweiz. XIII, 510 A.
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Autoren-Register.
67 3
465. Schüler, F. ; Weibliche Fabrikinspektoren in der Schweiz. XVII, 384 A.
466. — Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes. XVIII, 21 y\.
467. — Die Revision des schweizerischen Fabrikgesetzes (Schlufs). XVIII, 282 A.
468. Schnitze, Ernst, Dr. ; Aschrott, P. F. ; Volksbibliothek und Volkslesehalle eine
kommunale Veranstaltung? XI, 540 L.
469. — Ploetz, Alfred, Dr. ; Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der
Schwachen. XII, 148 L.
470. Schulz, M. von, Magistratsrat und Gewerberichter; Die Stellung der Heimarbeit
im deutschen Gewerberecht. X, 731 A.
471. — Zur Frage der kündigungsloscn Entlassung der Arbeiter im deutschen Ge-
werberecht (§ 123 Ziff. 3 R.G.O.). XI, 787 M.
472. — Das Redaktionsversehen im § 138a der deutschen Reichsgewerbeordnung.
XII, 429 A.
473. — Unger, Emil, Dr. ; Entscheidungen des Gewerbegerichts zu Berlin unter Be-
rücksichtigung der Praxis anderer deutscher Gerichte. XII, 798 L.
474. — Ansprüche arbeitsunfähiger Arbeiter nach deutschem Gewerberecht. XIII,
382 G.
475. — Zur Revision des deutschen Gewerbegerichtsgesetzes. XIV, 139 G.
476. — Die Zuständigkeit der Gewerbegerichte aus § 91, Absatz 6 der deutschen
Handwerkernovelle. XIV, 705 G.
477. — Ueber Schiedsverträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer nach dem deutschen
Gewerbegerichtsgesetz und der Reichszivilprozefsordnung. XV, 598 A.
478. — Deutsches Reich. Die Gewcrbegerichtsnovclle vom 30. Juni 1901. XVI,
678 G.
479. — Arbeiter* und Konsumentenschutz im Bäckergewerbe. XVII, 51 A.
479 a. — Zur Koalitionsfreiheit. XVIII, 457 A.
480. Schulze-Gävernitz, G. von, Univ.-Prof., Dr. ; Der wirtschaftliche Fortschritt, die
Voraussetzung der sozialen Reform. V, 1 A.
481. — Eine Studie zum osteuropäischen Merkantilismus. VIII, 436 A.
482. Sbrojavacca, L., Dr. ; Die Unterstützungsvereine der Arbeiter in Italien. III, 75 A.
483. Sigg, Jean, Arbeitersekretär; Schweiz. Ein Gesetz über Arbeitstarife und
Kollektivstreitigkeiten in Kanton Genf. XVIII, 344 G.
484. Silbermann, Josef, Dr., Generalsekretär; Die I-age der deutschen Handels-
gehilfen und ihre gesetzliche Reform. IX, 350 A.
485. — Die Frage der kaufmännischen Schiedsgerichte in Deutschland. XI, 658 A.
486. — Die Arbeitszeit der kaufmännischen Angestellten in den Engros- und Fabrik-
geschäften Berlins. XVI, 726 M.
487. Simmel, Georg, Dozent Dr. ; Jastrow, J., Dr. ; Die Aufgaben des Liberalismus
in Preufsen. VI, 622 L.
488. — Kidd, B. ; Soziale Evolution. VIII, 507 L.
489. Sinzheimer, Ludwig, Dozent Dr. ; Zur Statistik der Frauenarbeit in England
und Wales. VII, 682 M.
489a. — Donald, Robert; The London Manual and Municipal Yearbook 189697
and 1897 98. XI, 822 L.
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674 Autoren-Register.
490. — Donald, Robert; The Municipal Ycarbook for the United Kingdom for
1897. XI, 822 L.
491. — Hallgarten, Robert, Dr. jur. ; Die kommunale Besteuerung des unverdienten
Wertzuwachses in England. (Münchener Volks wirtschaftliche Studien,
Stück 32.) XIV, 739 L.
492. Smith, Adolphe, F. C. S. ; Das Sweating-System in England. IX, 392 A.
493* Sombart, W., Dr. Professor ; Lohnstatistische Studien. 11, 259 A.
494. — Die deutsche Zigarrenindustrie und der Erlafs des Bundesrata vom 9. Mai
1888. II, 107 A.
495. — Die Statistik der Unfall- und Krankenversicherung im Deutschen Reich für
1887. II, 639 M.
496. — Bücher, Karl, Prof.; Basels Staatseinnahmc und Steuerverteilung 1878 — 1887.
II, 681 L.
497. — Zur Beurteilung der Zustände der römischen Campagna. III, 378 M.
498. — Die Hausindustrie in Deutschland. IV, 103 A.
499. — Gothein, Eberhard ; Pforzheims Vergangenheit. Ein Beitrag zur deutschen
Städte- und Gcwcrbegcschichte. IV, 247 L.
500. — Rosin, II., Prof. Dr. ; Das Recht der Arbeiter-Versicherung. Erster Band.
I. u. 2. Abteilung. IV, 710 L.
501. — Wolf, Julius, Dr. ; Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung.
Kritische Würdigung beider als Grundlegung einer Sozialpolitik. (A. u.
d. T. Eines Systems der Sozialpolitik Erster Band.) V, 487 L.
502. — Mataja, Victor; Grofsmagazine und Kleinhandel. V, 379 L.
503. — Studien zur Entwicklungsgeschichte des italienischen Proletariats. VI, A.
I. Einleitung. 177.
II. Zur Orientierung über die heutige Lage der Gewerbe und des
gewerblichen Proletariats in Italien. 181.
III. Die Streikbewegung in den italienischen Gewerben während der
Jahre 1860—1891. 218.
504. — Das italienische Gesetz vom 15. Juni 1893 betr. die Einsetzung von „Probi-
viri“. VI, 549 G.
505. — Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung. II. Erwiderung auf
die „Antwort“ Professor Julius Wolfs. VI, 147 M.
506. — Rosin, Heinrich, Prof. Dr. ; Das Recht der Arbeiterversicherung. VI, 1 7 1 L
507. — Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx. VII, 555 A.
508. — Schoenlunk, Bruno, Dr. ; Soziale Kämpfe vor dreihundert Jahren. VII, 720 L.
509. — Stammhammer, Josef; Bibliographie des Sozialismus und Kommunismus.
VII, 340 L.
510. — Studien zur Entwicklungsgeschichte des italienischen Proletariats. IV. Die
Arbeiterkammern (Camere dcl Lavoro) in Italien. VIII, 521 A.
51 1. — Zur neueren Litteratur über das Handwerk. IX, 624 L.
512. — Ideale der Sozialpolitik. X, I A.
513. — Stammhammer, Josef; Bibliographie der Sozialpolitik. X, 166 L.
514. — Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation. I. Die gewerbliche Arbeit
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Autoren-Register. Qj j
in natur- und scozialwissenhaftlicher Betrachtung. Bisherige Litteratur.
XIV, l A.
515. Sombart, W. ; Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation. II. Grundzüge
einer Prinzipienlchre der ökonomischen Technik. XIV, 17 A.
516. — Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation. III. Wirtschaft und Betrieb.
XIV, 310 A.
517. — Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation. IV. Betrieb und Betriebs-
formen. XIV, 321 A.
518. — Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation. V. Wirtschaftsstufe», Wirt-
schaftssysteme, Wirtschaftsformen. XIV, 368 A.
519. — Der Stil des modernen Wirtschaftslebens. XVII, I A.
520. — Beruf und Besitz. XVIII, 1 A.
521. Stammler, Rudolf, Prof. Dr. ; Lotraar, Philipp, Prof.; Vom Rechte, das mit uns
geboren ist. Die Gerechtigkeit. VI, 615 L.
522. Steck, Albert, Rechtsanwalt; Die heutige Gewerkschaftsbewegung in der Schweiz.
X, 886 A.
523. Stcinitz, Kurt, Dr. ; Deutsches Reich. Die unehelichen Kinder und das bürger-
liche Gesetzbuch. VIII, 474 G.
524. — Stammler, Rudolf ; Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Ge-
schichtsauffassung. IX, 639 L.
525. Stevens, Alzina Parsons; Die Gewerkvercine der Vereinigten Staaten. XII, 695 A.
526. Struve, Peter, v. ; Zusammenfassung der Resultate der wirtschaftlichen Er-
forschung Kufslands durch die landschaftliche Statistik. Bd. I. I. Vor-
wort von Prof. A. Tschuproff. 2. Allgemeine Ucbersicht der landschaft-
lichen Statistik der Bauernwirtschaft von Prof. A. Fortunatoff. 3. Die
bäuerliche Landgemeinde von W. Woronzoff. V, 498 L.
527. — Zusammenfassung der Resultate der wirtschaftlichen Erforschung Kufslands durch
die landschaftliche Statistik. Bd. II. Die bäuerliche Pacht der nicht zu den
Bauernanteilen gehörigen Ländereien. Von Prof. N. KaryschefT. VI. 172 L.
528. — Hourwich, J. A. ; The cconomics of the russian village. VI, 630 L.
529. on, Nikolai ; Studien über unsere Volkswirtschaft nach der Bauerneman-
zipation (russisch). VII, 350 L.
530. — Jauschul, J. J. ; Gewerbliche Syndikate oder Unternebmerverbände zur Re-
gelung der Produktion vornehmlich in den Vereinigten Staaten von Amerika.
VIII, 514 L.
531. — Rosenberg, G. J. ; Zur Arbeiterschutzgesetzgebung in Kufsland. IX, 297 L.
532. — Die Mansche Theorie der sozialen Entwicklung. Ein kritischer Versuch.
XVI, 658 A.
533. — Kistjakowsky, Th. Dr. ; Gesellschaft und Einzelwesen. XIV, 222 L.
534. — Bernstein, Eduard; Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben
der Sozialdemokratie. XIV, 723.
535. — K autsk v, Karl ; Bernstein und das sozialdemokratische Programm. XIV’, 723 I,.
536. Szanto, E., Prof. Dr. ; Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus.
VIII, 308 L.
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676
Autoren-Register.
T.
537. Thiels, Karl, Dr. ; Die neuesten Versuche einer staatlichen Regelung des Ge-
treidehandels. VIII, 345 A.
538. — Die Konsumvereine und die neueste deutsche Wirtschaftspolitik, X, 49 A.
539. — Müller, Hans; Die schweizerischen Konsumgenossenschaften. Ihre Entwick-
lung und ihre Resultate. X, 169 L.
540. Tönnies, Ferdinand, Prof. Dr. ; Natorp, Paul, Dr. ; Pestalozzis Ideen über
Arbeiterbildung und soziale Frage. VII, 715 L.
541. — Das Verbrechen als soziale Erscheinung. VIII, 329 A.
542. — The American Journal of Sociology. VIII, 723 L.
543. — Gizycki, G. v. ; Vorlesungen über soziale Ethik. VIII, 705 L.
544. — Meyer, Albert v. Fällanden ; Die Verbrechen in ihrem Zusammenhang mit
den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen im Kanton Zürich.
IX, 304 L.
545. — Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg vor dem Strikc 1S9697.
X, 173 A.
546. — Der Hamburger Strike von 1896 97. X, 673 A.
547. — Legien, Carl; Der Strike der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg-
Altona. X, 490 L.
548. — Strafthatcn im Hamburger Hafenstrike. XI, 5 1 3 M.
549. — Die Enquete über Zustände der Arbeit im Hamburger Hafen. XII, 303 A.
550. — Lolmar, Philipp ; Die Freiheit der Berufswahl. XII, 584 L.
551. — Natorp, Paul; Sozialpädagogik, Theorie der Willenserziehung auf der
Grundlage der Gemeinschaft. XIV, 445 L.
552. — Prcufsen. Die Erweiterung der Zwangserziehung. XV, 458 G.
553. — Aschrott, P. F.., Dr. ; Die Zwangserziehung Minderjähriger und der zur Zeit
vorliegende Gesetzentwurf. XV, 510 L.
554. — Lietz, H., Dr. ; Das erste Jahr des deutschen Landerziehungsheims bei Usen-
burg i. H. Lietz, H., Dr.; Das zweite Jahr etc. XV, 756 L.
555. Trap, Cordt, Direktor; Die dänische Arbcitcrvcrsichcrung, insbesondere das
Unfallversicherungsgcsetz vom 7. Januar 1898. XII, 233 G.
556. Tugan*Baranowsky, M., Privatdozent, Dr. ; Die sozialen Wirkungen der Handels-
krisen in England. XIII. 1 A.
V.
557. Vandervelde, Emil, Deputierter Prof. Dr. ; Die sozialistische Genossenschaft in
Belgien. VI, 303 A.
558. — Belgien. Das Gesetz vom 15. Juni 1896 über die Arbeitsordnungen.
IX, 556 G.
559. — Belgien. Der Entwurf eines Gesetzes über Berufsvereine. XI, 402 G.
560. — Ein Kapitel zur Aufsaugung des Landes durch die Stadt. XIV, 80 A.
561. — Das Grundeigentum in Belgien in dem Zeiträume von 1834/99,
XV, 419 A.
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Autoren- Register.
677
562. Vandervelde, E. ; Das ländliche Genossenschaftswesen in Belgien. XVI, A.
I. Die katholische Organisation. 643.
II. Die sozialistische Organisation. 647.
III. Die Ergebnisse des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens. 656.
IV. Die Zukunft des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens. 669.
563. — Die Rückkehr nach dem Lande. XVIII, 66 A.
564. Vanderrydt, II., Ingenieur; Belgien. Das Gesetz vom 11. April 1897 betr. die
Bestellung von Delegierten zur Grubeninspektion. XI, 161 G.
565. — Die Arbeitsinspektion in Belgien während der Jahre 1895 und 1896.
XII, 258 M.
566. Varlez, Louis, Dr. , Korrespondent des Arbeitsamtes in Gent. Das belgische
Arbeitsamt. X, 957 M.
567. — Die Kommunalversicherung gegen Arbeitslosigkeit in Gent. XVII, 238 M.
568. Verkauf, Leo, Dr. ; Deutsches Reich. Das lnvaliditäts- und Altcrsversichcrungs-
gesetz. II, 576 G.
569. — Das bäuerliche Ancrbenrccht in Oesterreich. II, 311 G.
570. — Myrdacz, P., Dr. ; Ergebnisse der Sanitätsstalistik des k. k. Heeres in den
Jahren 1 870/82. III, 205 L.
571. — Die Gesetzgebung zu Gunsten der Bergarbeiter in Deutschland und Oester-
reich. IV, 618 A.
572. — Oesterreich; Der Entwurf eines Hilfskassengesetzes. IV, 491 G.
573. — Nasse und Krümmer; Die Bergarbeiterverhältnisse in Grofsbritamnicn
IV, 393 L.
574. — Scring, M. ; Arbeitcrausschüssc in der deutschen Industrie. IV, 544 L.
575. — Die Reform des Arbeitei Schutzes beim preufsischen Bergbau. V, 606 A.
576. — Frankreich ; Das Gesetz betr. die Delegierten für die Sicherheit der Berg-
arbeiter. V, 183 G.
577. — Die Reform der Unfallversicherung in Oesterreich. VII, 42 A.
578. — Agrarschutz und Sozialrcform. XVIII, 225 A,
579. Vinck, Emil; Vandervelde, Emile; Lcs associations professionelles d’artirans et
ouvriers en Belgique. VI, 627 L.
580. Virgilii, Filippo, Prof. Dr. ; Die soziale Gesetzgebung in Italien. XI, 726 G.
581. Voigt, Paul, Dozent Dr. ; Die neue deutsche llandwcrkergcsetzgebung.
XI, 39 A.
582. — Ein neuer Beitrag zur Frage des Bauhandwerkerschutzes. XVI, 204 A.
w.
583. Wacntig, Heinrich, Prof. Dr. ; Der Stahlarbeitcrstrike vom Sommer 1901 und
seine Lehren. Ein Beitrag zum Verständnis des amerikanischen Kapita-
lismus. XVII, 549 A.
584. Wagner, Adolf, Prof. Dr. ; Uebcr soziale Finanz- und Steuerpolitik. IV, 1 A.
585. Wagner, Paul; Wolf, R. ; Zur Lage der kaufmännischen Hilfsarbeiter in Oester-
reich. I, 362 L.
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6j8 Autoren- Register.
586. Webb, Sidney und Beatrice; Der Norznalarbcitstag und die englischen Gewerk-
schaften. IX, 440 A.
587. — Die Stellung der britischen Gewerkvereinc gegenüber der Einführung neuer
Arbeitsmethoden. X, 83 A.
588. — Die theoretische Basis der britischen Gewerkvereine. XI, I A.
589- — Die englischen Gewerkvereine nach ihrem wirtschaftlichen Wert. XI, 323 A.
590. Weber, Alfred, Dr. ; Das Sweatingsystem in der Konfektion und die Vorschläge
der Kommission für Arbeiterstatistik. X, 493 A.
591. — Neuere Schriften über die Konfektionsindustrie. XI, 527 L.
592. Weber, Max, Prof. Dr. ; Entwicklungstendenzen in der I,age der ostelbischen
Landarbeiter. VII, 1 A.
593. — Lotmar, Philipp; Der Arbcits vertrag. Nach dem Privatrecht des Deutschen
Reiches. Erster Band. XVII, 723 L.
594. Westcrgaard, Harold, Prof.; Die Arbeiterversicherung in Dänemark. VII,
296 G.
595. — Niels; Arbeiterbauvereine in der Umgegend Kopenhagens. XIV, 716 M.
596. Winter, Fritz, Dr. ; Die Heimarbeit in der österreichischen Konfektionsindustrie.
XV, 725 M.
597. — Die Lage der studentischen Hauslehrer an den Wiener Hochschulen. XVII,
702 M.
598. Wittclshöfer, Otto; Die soziale Reform als Gebot des wirtschaftlichen Fort-
schritts. V, 436 A.
599. — Der österreichische Kartcllgesctzentwurf. XIII, 122 A.
600. Wolf, Julius, Prof. Dr. ; Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung.
I. Antwort auf die Kritik Professor Werner Sombarts. VI, 135 M.
601. Wolflf, W. Henry; Grofsbritannien. Das Arbeiter-Unfallentschädigungsgesctz.
(Workmen’s Compensation Act.) XI, 688 G.
602. Wright, Carroll D., Direktor; Die Organisation der arbeitsstatistischen Aemter
in den Vereinigten Staaten. I, 377 A.
z.
603. Zeller, W., Dr. ; Das österreichische Unfallversicherungsgesctz. I, 533 G.
604. — Hilse, K., Dr. ; Die Haftpflicht der Strafscnbahncn. I, 670 L.
605. — Schmitz, J. ; Sammlung der Bescheide, Beschlüsse und Rekursentscheidungen
des Rcichsversicherungsamtes nebst den wichtigsten Rundschreiben des-
selben. II, 534 L.
606. — Just; Die Unfallversicherung der in land* und forstwirtschaftlichen Betrieben
beschäftigten Personen nach dem Reichsgesetz vom 5. Mai 1886. II,
213 L.
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Topographisches Register.
AUSTRALIEN.
607. Wortlaut des Fabrik- und Ladengesetzes vom Jahre 1896 (Nr. 1 195). X,
595 G.
Aufserdcm siebe Autoren-Register Nr. 233 u. 426.
BELGIEN.
608. Gesetz betr. die Regulierung der Lohnzahlung der Arbeiter. I, 621 G.
609. Wortlaut des Gesetzes: „Loi instituant le Conseil de l'Induslrie et du travailM
in deutscher Uebersetzung. II, 149 G.
610. Gesetz vom 9. August 1889 betr. die Arbeiterwohnungen und die Errichtung
von Patronage-Komitees. IV, 527 G.
61 1. Wortlaut des Gesetzes vom 15. Juni 1896 über die Arbeitsordnungen. IX,
578 G.
612. Wortlaut des Gesetzes betr. die Bestellung von Delegierten zur Gewerbe-
inspektion. XI, 176 G.
Aufserdcm siehe Autoren-Register Nr. 72, 167, 169, 170, 179, 191, 429, 557,
SS». 559. 5Ö‘. 562, 563. 564. 5*5. 569. 5*7 »• 579-
BULGARIEN
Siche Autoren-Register Nr. 322 u. 324.
DÄNEMARK.
613. Wortlaut des Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen die Folgen
von Unfällen in grofsen Betrieben. XII, 248 G.
Aufserdcm siehe Autorcn-Kcgister Nr. 4, 226, 227, 354, 367, 380, 555, 594
“- 595-
DEUTSCHLAND
Baden, siehe Autoren-Register Nr. 38t, 382 u. 499.
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6So
Topographisches Register.
Bayern.
614. Wortlaut der bayerischen Bekanntmachung betr. die Einrichtung und den Be-
trieb der Spiegelbclcganstalten. III, 156 G.
615. Wortlaut der Verordnung vom 10. Februar 1901, die V.'ohnungsaufsicht be-
treffend. XVI, 704 G.
616. Wortlaut des Erlasses vom 12. April 1901 betr. die Verordnung vom lo. Fe-
bruar 1901 Über die Wohnungsaufsicht. XVI, 707 G.
Aufscrdcm siehe Autoren-Registcr 75, 76, 80. 162, 303, 445 u. 508.
DEUTSCHES REICH.
617. Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter. I, 142 G.
618. Entwurf eines Gesetzes betr. die Alters- und (nvaliditätsvcrsichcrung. II, 152 G.
619. Bekanntmachung betr. die Einrichtung und den Betrieb der zur Anfertigung von
Zigarren bestimmten Anlagen, vom 9. Mai 18SS. II, 190, G.
620. Gesetz betr die Invalidität*- und Altersversicherung. II, 603, G.
621. Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes betr. die Gewerbegerichte. III, 332 G.
622. Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes betr. Abänderung der Gewerbeordnung.
III, 590 G.
623. Beschlüsse der VIII. Kommission zu dem Entwurf eines Gesetzes betr. Ab-
änderung der Gewerbeordnung. III, 608 G.
624. .Antrag der sozialdemokratischen Fraktion zur Abänderung der Gewerbeordnung.
III, 614 G.
625. Wortlaut des Antrages der deutsch-freisinnigen Partei zur Schaffung eines Ge-
setzes betr. die eingetragenen Berufsvereine. III, 625 G.
626. Wortlaut des Antrages der sozialdemokratischen Fraktion zur Schaffung eines
Gesetzes betr. parlamentarische Enqueten. III, 630 G.
627. Wortlaut des Antrages des Abgeordneten Siegle betr. arbeitsstatistische Auf-
nahmen. III, 631 G.
628. Wortlaut des Gesetzes betr. die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890. IV. 176 G.
629. Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeordnung vom I. Juni 1891. IV, 346 G.
630. Wortlaut des Entwurfs eines Ileimstättcngesctzes für das Deutsche Reich IV,
388 G.
631. Wortlaut des Regulativs zur Errichtung einer Kommission für Arbeiterstatistik.
V, 152 G.
632. Wortlaut des Krankcnvcrsicherungsgcsetzcs vom 15. Juni 1883 in der Fassung
der Novelle vom 10. April 1892. V, 288 G.
633. Ausführungsbestimmungen zum Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeordnung.
Bekanntmachung betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugend-
lichen Arbeitern in Glashütten. V, 336 G.
634. Ausführungsbestimmungen zum Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeordnung;
Bekanntmachung betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugend-
lichen Arbeitern in Drahtziehereien mit Wasserbetrieb. V, 329 G.
635. Ausführungsbestimmungen zum Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeordnung.
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Topographisches Register.
68 1
Bekanntmachung betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugend-
lichen Arbeitern in Cichorienfabriken. V, 330 G.
<>36. Ausführungsbestimmungen zum Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeordnung.
Bekanntmachung betr. die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter auf Stein-
kohlenbergwerken. V, 331 G.
637. Ausführungsbestimmungen zum Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeordnung.
Bekanntmachung betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen auf Stein-
kohlenbergwerken, Zink- und Bleicrzbcrgwerken und auf Kokereien im
Regierungsbezirk Oppeln. V, 332 G.
■638. Ausführungsbestimmungen zum Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeordnung.
Bekanntmachung betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugend-
lichen Arbeitern in Rohzuckerfabriken und Zuckerraffinerien. YT, 335 G.
639. Ausführungsbestimmungen zum Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeordnung.
Bekanntmachung betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugend-
lichen Arbeitern in Walz- und Hammerwerken. V’. 337 G.
640. Ausführungsbestimmungen zum Gesetz betr. Abänderung der Gewerbeordnung.
Bekanntmachung betr. die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Hechel-
räumen u. dgl. V, 338 G.
641. Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes über das Auswanderungswesen. V, 658 G.
642. Entwurf eines Gesetzes betr. Stadterweiterungen und Zonenenteignungen. VI,
521 G.
643. Entwurf eines Gesetzes, betr. die Abänderung von Arbciterversicherungsgcsetzen.
IX, 469 G.
644. Entwurf eines Gesetzes betr. die Abänderung der Gewerbeordnung. IX, 516 G.
645. Text des Gesetzes betr. die Beschlagnahme des Arbcits- oder Dienstlohns. X,
463 G.
646. Text des § 249 der Civilprozcfsordnung. X, 464 G.
647. Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes betr. die Abänderung der Gewerbe-
ordnung vom 15. März 1897. X, 629 G.
648. Wortlaut des Gesetzes betr. das Auswanderungswesen vom 9. Juni 1897. XI,
207 G.
649. Wortlaut des Gesetzes betr. die Abänderung der Gewerbeordnung vom 26. Juli
1897. XI, 215 G.
650. Wortlaut der Bekanntmachung, betr. die Einrichtung und den Betrieb der
Buchdruckereien und Schriftgiefsereien vom 31. Juli 1897. XI, 439 G.
. 651. Wortlaut des Handelsgesetzbuches vom lo. Mai 1897. VI. und VII. Abschnitt.
XI, 443 G.
652. Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes betr. die Sicherung der Bauforderungen.
XII, 97 G.
653. Wortlaut des Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zum Gesetze betr. die Sicherung
der Bauforderungen. XII, 101 G.
654. Wortlaut des Entwurfs eines ln validen Versicherungsgesetzes. (Dem Reichstag
am i 9. Januar 1899 vorgelegt.) XIII, 590 G.
Archiv für «02. Gesetzgebung u. Statistik. XVIII. 44
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6$ 2 Topogwphi>cbc« Register.
$55- WoxtUut <ic* fcltwurfe CJQC5 Gesetze* betr. dtt Abänderung der Gewerbe-
ordnung. XIV, 304 G.
656. Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes Schutze des gewerblichen Arbeits-
verhiUtoisses. XIV, 7 G.
657. Wortlaut des Invalidcnversichcrungsgc$ctzcs vqxd 13. Juli 1899. XV, 188 G.
658. Wortlaut des Gesetzes betr. die Abänderung der Gewerbeordnung vom 30. Juni
1900. XV, 666 G.
659. Wortlaut des Gesetzes betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten«
Vom 30. Juni 1900. XVI, 234 G.
660. Wortlaut des Gesetzes zur Abänderung des Gesetzes betr. die Gewerbegerichte*
Vom 30. Juni 190». XVI, 691 G.
661. Wortlaut der Entwürfe eines Reichsgesetzes betr. die Sicherung der Bau-
forderungca. XVII, 184 G.
662. Wortlaut des Gesetzes betr. eine Seeaiaansordnuag vom 2. Juni 1902. XVII,
*33 G.
663. Wortlaut des Gesetzes betr. die Verpflichtung des Kauffahrteischiffe zur Mit-
nahme beimzuse hallender Seeleute vom Juni (902. XVU, 66z G.
664- Wortlaut des Gesetzes Uctr. die Stellenvermittelung für Scbiff&lcute vom 2. Juni
1902. XVII, 664 G.
66s- Wortlaut de. Gesetzes Uctr. Abänderung secrecbtlicher Vorschriften des Handels-
gcselzbuchcs von 2. Juni 1903. XVII, 066 Ci.
Aufserdem siche Nr. 2, 5, 6, 20, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 39, 41, 42, 43, 44,
45. 47, 5*. 53. 55. 57. 59, 60, 81, >03, 110, in, 113, 114, n$, u6,
119, 120, 121, 122, 123, 124, 12$, 127, 128, 130, 131, 132 I36, 137,
139, 142. *45. »47. »5*. ‘53, «54, »55. *5*. **•> »63, 164. **5. *73.
>74. »75. ‘7*. »7«. »82. *94, *97. »9«, 208, 209, »30, 232, 247, 253,
254, 255, 256, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 272,
273, 274, 276, 277, 278, 279, 280. 281, 282, 283, 284, 28$, 289, 290,
295, 296, 298, 299, 3°*. 302, 304, 3<>9. 3>°* 3*5. 3*7. 3*8, 3*7. 33“,
337. 348, 349, 35°. 368, 369. 370. 37*. 37*. 383. 387. 402, 4°3, 4°5.
407, 4*3, 4*6. 4*7, 4*8, 4*9. 420, 4»*, 422, 428, 429, 431, 432, 434,
435- 437. 44*. 443, 444, 449. 468, 47°, 47*. 47*. 473. 474, 475. 476,
477, 478, 479, 484. 485, 494, 495. 498, 500, 500a, $11, $23, $37, 538,
554, 568, $7», 574, 57», 58 *, 582, 584, 590, 59*. 593. 604. 605 u. 606.
666. Hamburg. Wortlaut des Gesetzes betr. die Wohnuagspflege. XIII, 181 G.
Siehe auch Nr. 27, 545, $46, 548 u. 549.
667. Hessen. Gesetz betr. die Wohnungsfürsorge für Minderbemittelte. XVIII,
*57 G.
668. Lübeck. Wortlaut des Gesetzes betr. die Wohnungspflege in der Stadt Lübeck
und deren Vorstädten. XVIII, 149 G.
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Topographische*; Register.
683
Preufsen.
669. Wortlaut der Denkschrift, bctr. die künftige Regelung der Gewerbeinspektion
in Preufsen. IV, 214 M.
670. Wortlaut des Gesetzes, bctr. die Abänderung einzelner Bestimmungen des All-
gemeinen Berggesetzes vom 24. Juni 1865. V, 665 G.
671. Wortlaut der Vorbildungs- und Prüfungs-Ordnung für die preufsischen Gewerbe-
Aufsichtsbeamten. XI, 507 M.
672. Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes über Zwangserziehung Minderjähriger.
Dem preufsischen Herrenhaus am 8. Januar 1899 vorgelcgt. XV, 485 G.
Aufserdem siehe Nr. I, 84, 112, 126, 128, 129, 171, *10, 211, 228, 245,
302. 377, 393, 397, 4°4, 4°6, 45°, 462, 486. 487, 547, 552, 553, 575,
584, 592.
Siebe Nr. 308 u. 326.
Sachsen.
Württemberg.
673. Verfügung des Ministeriums des Innern über die Wohnungsaufsicht. XVIII.
152 G*
Aufserdem siehe auch Nr. 161 u. 297.
ENGLAND.
674. Gesetzesvorlage betr. die Haftpflicht der Arbeitgeber,. I, 586 G.
675. Die Truckgesetze von 1831 und 1887. II, 383 G.
676. Wortlaut des Gesetzes zur Ergänzung und Ausdehnung der Bestimmungen über
Fabriken und Werkstätten. Vom 6. Juli 1895. VHi, 645. G*
677. Wortlaut des Gesetzes betr. die Einigungsämier. IX, 586 G.
678. Wortlaut des Entwurfs eines Gesetzes betr. Acndcrung des Rechtes auf Ent-
schädigung der Arbeiter für Unfälle, die sie in der Ausübung ihres Be-
rufes erleiden. X, 943 G.
679. Wortlaut der Akte zur Verbesserung des Gesetzes in betreff der Entschädigung
von Arbeitern infolge von Unfallverletzungcn, welche sie im Laufe ihrer
Beschäftigungen erleiden (6. August 1897). XI, 713 G.
680. Wortlaut des Gesetzes betr. die Beschaffung von Sitzen für den Gebrauch von
Ladcnangestclltcn vom 9. August 1899. XV, 256 G.
681. Wortlaut des Gesetzes zur Ergänzung der dritten Abteilung des Gesetzes von
1890 über die Behausung der arbeitenden Klassen vom 8. August 1900
(63 & 64 Vict. Kap. 59). XVI, 247 G.
682. Wortlaut des Gesetzes zur Verbesserung der Gesetzgebung über die Entschädi-
gung von Arbeitern für Unfälle im Arbeitsverhältnis vom 6. .August 1897.
XVI, 464 G.
683. Wortlaut des Arbeiter-Entschädigungsgesctzes vom 30. Juli 1900. XVI, 477 G.
Aufserdem siehe auch Nr. 10, 12, 15, 16, 17, 18, 21, 22, 23, 24, 26, 31, 73,
44*
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684
Topographisches Register.
38, 41, 62, 68, 69, 82, 94, 95, 96, 97, 98, 118, 133, 134, 135, 151, 152,
153, 168, 172, 187, 235 286, 287 a, 292, 293, 294, 306, 307, 310, 352,
353. 363. 379. 396, 408, 435. 4^9. 432. 468, 489, 490, 491, 492, 556,
573« 586, 587, 588, 589 und 601.
FRANKREICH.
684. Wortlaut des Gesetzes betr. die Aufhebung der auf die Arbeitsbücher bezüg-
lichen Bestimmungen. III, 641 G.
685. Wortlaut des Dekretes betr. den Obersten Arbeitsrat vom 22. Januar 1891.
IV, 195 G.
686. Wortlaut des Gesetzes vom 22. Juli 1891 betr. die Errichtung eines Arbeits-
amtes. IV, 704 G.
687. Wortlaut der Verordnung vom 19. August 1891 betr. die Bildung eines Arbeits-
amtes. IV, 704 G.
688. Wortlaut des Gesetzes vom 8. Juli 1890 betr. die Delegierten für die Sicher-
heit der Bergarbeiter. V, 188 G.
689. Wortlaut des Gesetzes vom 27. Dezember 1890 über den Arbeitsvertrag und das
Verhältnis der Eisenbahngesellschaften zu ihren Angestellten. V, 347 G.
690. Gesetz betr. die Arbeit von Kindern, minderjährigen Mädchen und Frauen in
gewerblichen Unternehmungen. VI, 116 G.
691. Wortlaut des Gesetzes betreffend das fakultative Sühne- und Schiedsverfahren
in Gesamtslreitigkeitcn zwischen Arbeitgebern und Arbeitern oder Ange-
stellten vom 27. Dezember 1892. VI, 341 G.
692. Wortlaut des Gesetzes über die unentgeltliche Krankenpflege vom 15. Juli 1893.
VI, 557 G.
693. Wortlaut des Gesetzes vom 29. Juni über die Hilfs- und Pensionskassen der
Grubenarbeiter. VII, 484 G.
694. Wortlaut des Gesetzes vom 9. April 1898 über die Haftung für Unfälle, von
denen die Arbeiter in ihrer Thätigkeit betroffen werden. XVI, 479 G.
695. Wortlaut des Dekretes vom 28. Februar 1899 zur Ausführung des Artikels 26
des Gesetzes vom 9. April 1898. XVI, 488 G.
696. Wortlaut des Dekretes vom 28. Februar 1899 zur Ausführung des Artikels 27
des Gesetzes vom 9. April 1898. XVI, 493 G.
697. Wortlaut des Dekretes vom 28. Februar 1899 zur Ausführung des Artikels 28
des Gesetzes vom 9. April 1898. XVI, 499 G.
698. Wortlaut des Ministerialerlasses vom I. März 1899 betr. Einsetzung eines Be-
ratungsausschusses für Arbcitsunfallversicherung. XVI, 500 G.
699. Wortlaut des Dekretes über die Arbeitsbedingungen bei Vergebung von Auf-
trägen seitens des Staates. XV1I1, 1 79 G.
700. Wortlaut des Dekretes über die Arbeitsbedingungen bei Vergebung von Auf-
trägen seitens der Departements. XVIII, 181 G.
701. Wortlaut des Dekretes über die Arbeitsbedingungen bei Vergebung von Auf-
trägen seitens der Gemeinden und der öffentlichen Wohlthätigkcitsanstalten.
XVIII, 183 G.
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Topographisches Register.
685
Aufserdem siehe Nr. 8, 31, 41, 58, 70, 117, 212, 213, 214, 215, 216, 217,
218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 365, 371, 41 1, 429, 432, 537.
576 u. 591.
FINNLAND.
702. Wortlaut des Gesetzes betr. den Schutz der Arbeiter in den industriellen Ge-
werben. III, 650 G.
703. Wortlaut der Verordnung einschliefslich näherer Vorschriften über die Aus-
führung des Gesetzes betr. den Schutz der Arbeiter in den industriellen
Gewerben. III, 655 G.
704. Wortlaut des Gesetzes vom 5. Dezember 1895 ^etr* die Haftung des Arbeit
gebers für körperliche Beschädigung, die den Arbeiter betrifft. XIII, 41S G,
705. Wortlaut der Verordnung vom 18. Februar 1897, nähere Vorschriften enthaltend
über die Ausführung des Gesetzes vom 5. Dezember 1895 betr. die Haf-
tung des Arbeitgebers für körperliche Beschädigung, die den Arbeiter
trifft. XIII, 425 G.
706. Wortlaut des Erlasses vom 9. Dezember 1897 betr. die Prinzipien zur Schätzung
des Invaliditätsgrades bei Anwendung des Gesetzes vom 5 Dezember 1895
über die Haftpflicht des Arbeitgebers für körperliche Beschädigung, welche
die Arbeiter trifft. XIII, 430 G.
Aufserdem siehe auch Nr. 184 und 185.
ITALIEN.
707. Wortlaut des Gesetzes über die Probi-viri. VI, 557 G.
708. Wortlaut des Gesetzes vom 17. März 1898, die Betriebsunfälle der Arbeiter
betr. XII, 734 G.
709. Wortlaut des Gesetzes vom 17. Juli 1898 Nr. 350, die National versorgungs-
kasse für das Alter und die Invalidität der Arbeiter betr. (Cassa nazio-
nale di previdenza per la vecchiaja e per la invaliditä degli operai).
XIII, 662 G.
710. Wortlaut des Gesetzes betr. die Nationalversorgungskassc ftlr die Invalitität
und das Alter der Arbeiter. XVII, 199 G.
710a. Wortlaut des Gesetzes vom 19. Juni 1902 bclr. die Frauen- und Kinder-
arbeit. XVIII, 573 G.
Aufserdem siehe Nr. 31, 77, 93, 107, 108, 109, 329, 374, 482, 493, 497, 503,
504, 510 u. 580.
NIEDERLANDE.
711. Gesetzentwurf gegen Ueberarbeitung und Verwahrlosung jugendlicher Personen,
I, «55 G-
712. Niederländisches Gesetz d. d. 28. Juni 1881 betr. den Kleinhandel mit
geistigen Getränken und die Verhütung der öffentlichen Trunkenheit
I, 312 G.
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686
Topographische* Register.
713. Wortlaut des Gesetzes vom 5. Mai 1889 gegen übermäßige and ge-
Ährlkfie Arbeit junger Personen and Fräsen ia deutscher Uebersetzung.
II, 510 G.
714. Wortlaut des Gesetzes vom 19. Januar 1890 über vorbereitende Mafsregeln zur
Erlangung der notwendigen Kenntnis von Thatsacben und Zuständen, um
zu beurteilen, wis weit Ausdehnung der sozialen Gesetzgebung ein Be-
dürfnis sei. IV, 695 G.
715. Wortlaut des Entwurfs eine* Gesetzes cur Einführung einer Versicherung der
Arbeiter gegen die Folgen von Unfälle« in bestimmten Betrieben.
x, 757 c.
716. Wortlaut der hauptsächlichen Artikel des Gesetzes betr. die Errichtung von
• Arbeitskammern. XI, 758 G.
Aufscrdcm siche auch Nr. 34, 35, 106, 316, 791, 392. 394, 395 u. 447.
NORWEGEN.
Siehe Nr. 159 u. 378.
ÖSTERREICH.
717. Oesterreichisches Gesetz vom 28. Dezember 1887 betr. die Unfallversicherung
der Arbeiter (Text). I, 554 G.
718. Wortlaut des Gesetzes vom l. April 1889, betr. die Einführung besonderer
Erbteilungsvorschriften für landwirtschaftliche Besitzungen mittlerer Gröfse.
n, 334 g.
719. Der Fjitwurf eines Gesetzes betr. die Vcräufscrung beweglicher Sachen gegen
Ratenzahlungen. IV, 390 G.
7*0. Wortlaut des Gesetzentwurfs betr. die registrierten Hilfskassen. IV, 502 G.
72t. Wortlaut des Gesetzentwürfe betr. die Errichtung von Berufegenossenschaften
* der Landwirte. VII, 493 G.
722. Wortlaut des Gesetzentwurfs betr. die Errichtung von Rentengütcm. VII,
501 G.
723. Wortlaut des Gesetzentwurfs betr. die Errichtung von Arbeiterausscbüssen und
Einigungsämtern. VII, 676 G.
724. Wortlaut des Gesetzes vom 27. November 1896 betr. die Einführung von Ge-
werbegerichten etc. X, 278 G.
725. Wortlaut des Gesetzes vom 5. Dezember 1896, wodurch einige Bestimmungen
des Gesetzes vom 3. Dezember 1863 (B.G.B1. Nr. 105) betr. die Regelung
der Heimatverhältnissc, abgeändert werden. X, 664 G.
.726. Wortlaut des GeseUentwurfs Über Kartelle in Betiehong auf Verkaufegegen-
stände, die einer mit der industriellen Produktion ia enger Verbindung
stehenden indirekten Abgabe unterliegen (189 der Beilagen tu den steno-
graphischen Protokollen des Abgeordnetenhauses. XIV. Session 1898).
XIII, 187 G.
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Topographisches Register. 68)r
747. Wortlaut des Gesetzentwurfs, womit Bestfthtnimge* na Htniatthilrang dar
Trunksucht gHroTtoi Werde». XVIII, 194 G.
Aufserdem siehe auch Nr. 7, II, 31, 39, 41, 49, 54, 100, 105, 138, 140, 143,
144, 152, 153, 157, 165, 166, 181, 182, 231, 448, 312, 325, 328, 33*,
332. 334, 335. 336, 338, 339, 34°, 34 1, 342, 343, 344, 345. 346, 347,
366, 385. 386, 389, 390, 414, 423, 424, 429. 432, 437, 438, 452, 453
569, 57°, 571, 572, 577, 585, 59i, 596, 597, 599 u- 603.
Siehe Nr. 537.
RORTOOaL.
römisches reich.
Siehe Nr. 146, 148 u. I49.
RUMÄNIEN.
Siehe Nr. I4I.
RUMLAND
728. Wortlaut des Arbeiterschutzgesetres vom 24. Februar 189t). IV, 204 G.
729. Wortlaut des Gesetzes VOM 8. 'tt>. Jühi Ober die l'mttitungetl tlts Gemeinde-
landes. VII, 690 G.
730. Wortlaut des Gesetzes vom 14. 26. Dezember 1893 über die Unveräußerlichkeit
des Bauernlandes. VII, 692 G.
731. Die neue Fabrikgesetzgebung Kufslnnds. XII, 47; O.
732. Wortlaut des am 2./14. Juni 1897 bestätigten Gutachtens des Relebsrats über
die Länge Und Verteilung der Arbeitszeit in Fabriken, Hütten Und Berg,
werken. XII, 51* G.
Aufserdem siehe auch Nr. 31, 4», *9, 5», 9I, 9*, Hst, 229, *34, *47, 3*3,
481, 526, 527, 528, 528a, 5*9 «. 531.
SCHWEDEN.
733. Wortlaat des Gesetzes betr. Schutz gegen öeffchreu Im Bettiebe. Ill-, 144 G.
734. Wortlaut des Entwurfs einen Oe#ett*s IW da» Königreich Schweden betr. Ver-
sicherung zum Zwecke der Gewährung einer Pension bei dnnenhder Erwerbs-
Unfähigkeit. VIII, 632 G.
Siehe auch Nr. 31, 252, 409 u. 410.
SCHWEIZ.
735- Text de« Rundschreibens an sämtliche europäische Industriestaaten betr. Arbeiter-
schutz. II, 502 G.
736. Wortlaut des Züricher Gesetzes betr. den Schutz der Arbeiterinnen. VU, 468 G.
737. Wortlaut des waadtländischen Gesetzes, betr. das Lehrlingswescn vom 21. No-
vember 1897. XI, 468 G.
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688
Topographisches Register.
738. Wortlaut des Gesetzentwurfs betr. Arbeitslosenversicherung in Zürich. XI, 779 G.
739. Wortlaut des Entwurfs einer Verordnung betr. Arbeitslosenversicherung in Zürich.
XI, 780 G.
740. Wortlaut des Bundesgesetzes (Entwurfs) betr. Fabrikation, Einfuhr, Ausfuhr und
Verkauf von Zündhölzchen mit gelbem Phosphor. XII, 257 G.
741. Wortlaut des Gesetzentwurfs betr. Arbeiterinnenschutz im Kanton Bern. XVII,
697 G.
Aufsrrrlem siche auch Nr. 31, 4 1 , 48, 56, 71, 8$, 86, 87, 88, 99, 102, 104,
128, 164, 188, 189, 190, 192, 196, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 204 a,
204b, 257, 258, 259, 260, 271, 29I, 31 1, 314, 320, 321, 355, 356, 357,
35*. 359, 360. 361, 36*. 375. 4‘2, 4*9. 43*. 44*. 456. 457. 45*. 459.
460, 461, 463, 464, 465, 466, 467, 483, 496, 522, 537, 539, 540, 544.
UNGARN.
742. Wortlaut des Gesetzentwurfs betr. die Sonntagsruhe. III, 364 G.
743. Wortlaut der Verordnung betr. die Sonntagsruhe. III, 365 G.
744. Wortlaut des Gesetzes und der Verordnung betr. die Sonntagsruhe. IV, 520 G.
745. Wortlaut des Gesetzentwurfs Uber die Regelung der Rechtsverhältnisse zwischen
den Arbeitgebern und den landwirtschaftlichen Arbeitern. XII, 120 G-
Siehe auch Nr. 50, 51, 74, 249, 250, 251, 288 u. 373.
VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA.
745. Gesetz betr. die Errichtung eines Arbeitsdepartements. I, 618 G.
747. Amerikanische Gesetze zum Schutze der Bauhandwerker und Bauarbeiter. XII,
104 G.
748. Wortlaut des Gesetzes zur Regelung der Kinderarbeit im Staate Illinois und
der Anordnung seiner Durchführung. XII, 549 G.
749. Wortlaut der Entscheidung des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten
vom 28. Februar 1898. Nr. 261 u. 264. XII, 765 G.
750. Wortlaut des staatlichen Bibliotheksgesetzes von Illinois. Amcndiert und an-
genommen am 10. Juni 1897. XIII, 212 G.
Aufserdem siehe auch Nr. 3, 14, 61, 78, 79, 151, 152, 205, 206, 206 a, 230,
237. 23*. 239, 240, 241, 242, 243, 244, 305, 379, 384, 415, 432, 433,
436, 446, 468, 511, 525, 530, 542, 583 u. 602.
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Sachregister.
(NB. Die Ziffern beziehen sich auf die voranstehenden Nummern der einzelnen
Artikel des Autoren- und topographischen Registers.)
Abzahlungsgeschäfte $2, 2p8t 312, 719.
Achtstundenbewegung 7 91 397, 408.
Agrargeschichte 129, 149-
Agrargesetzgebung 141.
Agrarpolitik JÄi 14^, 182, 40$.
Agrarreform 143.
Agrarschutz e;78.
Agrarstatistik 420.
Alkoholmonopol, Schweiz 321.
Allmend, Austeilung der, Schweiz 320.
Altersversicherung, Deutschland 269. 274. 276, 280, 284, 387, $68, 617, 618, 620.
England 292. Italien 108. IQQ, 710. Schweden 2$2.
Anerberccht, bäuerliches in Oesterreich 569.
Arbeit, gewerbliche $1^ $1$.
Arbeit und Rhythmus 9.
Arbeiter, landwirtschaftliche, Ungarn 745.
Arbeiter, städtische 11$.
Arbeitsamt, Belgien S66. England 1 18. Frankreich 117. 216 , 686, 687.
Schweiz 260.
Arbeiterausschüsse, Deutschland 574. Oesterreich 38$, 438, 723.
Arbeiterbauvereine, Dänemark $9$.
Arbeiterbeamtentum l6$.
Arbeiterbewegung, sozialistische 190.
Arbeiterbildung $40.
Arbeiterfrage, Schweiz 4^8.
Arbeiterfrage 4$!.
Arbeiterinnen, England 96.
Arbeiterinspektoren $76.
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690
Sachregister.
Arbeiterkammern, Niederlande 106, 716. Italien 510. Belgien 60Q.
Arbeiterkolonien 402.
Arbeitsbuch, Frankreich 211, 684.
Arbeitsdepartements 746.
Arbeitslosenversicherung, Deutschland 193, 19g, 430. Belgien 198. England i£>
187, 393- Schweiz 86, 189, 196, 199, 200, 738, 739.
Arbeitsnachweis 429. Frankreich 223.
Arbeitsordnungen, Belgien 558, 611.
Arbeitsrat, oberster, Frankreich 215, 68g.
Arbeiterinnenschutz 71, 303, 4S9- Schweiz 736, 741.
Arbeiterschutz, Belgien 179. Deutschland 44, 8l* 103, 173, 178, 348, 349, 443,
479, 494, 622, 623, 624, 620, 633, 634, 633, 636, 637, 638, 639, 640,
644, 647, 649, 650, 655, 656, 658. England 18, 24t 22^- 2j6.
Finnland 184, 702, 703. Frankreich 219. Niederlande 39«. Ruialand
93, S3i , 728, 732. Schweden 409. Schweis 4gy, 735. Vereinigte
Staaten 20g, 206, 206 a.
Arbeiterschutz, internationales Amt 56.
Arbeiterschutz, internationaler 83, 17S.
Arbeitersekretariate 232.
Arbeiterstatistik, Belgien 167. Deutschland 52, 627. Oesterreich 54.
Arbeiterstatistik, Kommission für Deutschland 631.
Arbeiterstatistik, Amt, Vereinigte Staaten 14, 602.
Arbeitstarife, Schweiz 483.
Arbeitsunfähigkeit 474.
Arbeitsanfälle 34.
Arbeitsvermittlung, Oesterreich 340, 341, 342, 343, 344»
Arbeitsertrag 164, 593. Frankreich tiy.
Arbeiterversicherung, Dänemark $94. Deutschland 171, 122, 123» *$3t 36 1. 366,
22°1 225- 3*5» S°°. 506. SIS. *41
Arbeiterwitwen und -Waisen 120.
Arbeiterwohnungswesen 60»
Arbeiterwohnungsgesetz, Belgien 72.
Arbeitszeit der kaufmännischen Angestellten 486.
Arbeitszeit in den Transportanstalten 8$.
Arbeitszeit, Verkürzung der, in der Textilindustrie 310.
Arbcits- oder Dicnstlohn, Beschlagnahme 64g.
Armenpflege, Deutschland 121. England 292. Owterteich J, §48.
Armenrecht, Dänemark 4.
Armenstatistik, Norwegen 378.
Armenwesen in Steiermark 248.
Aussperrungen 61, 166. 396.
Auswanderungsgesetz 1 19, 383.
Auswanderungspolitik 382.
Auswanderung, Deutschland 413, 446, 641, 648. Vereinigte Staaten 3&4»
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Sachregister.
Bäckergewerbe, Arbeiter- und Konsumentenschutz 479.
Bauernbefreiung, Böhmen 181. Preufsen 345.
Bauernbefreiung und Ursprung der Landarbeiter 228.
Bauernstandes Untergang 171.
Bauernverband 259.
Bauernwirtschaft, die bäuerliche Landgemeinde, Kufslands $26.
Bauarbeiterschutz 747.
Bauforderungen, Sicherung der 370, 6$^ 6&L.
Baugenossenschaften 59. Kopenhagen 395.
Bauhand werkerfrage 370.
Bauhandwerkerschutz 582.
Baupfandgesetz 137.
Baumwoliweberei im Mittelalter 301.
Befähigungsnachweis im Handwerk 39«
Bergarbeiterschutz, Preufsen $75, 670. Frankreich 576.
Bergarbeitergesetzgebung, Deutschland und Oesterreich SB.
Bergarbeiterenquetc, Preufsen 404.
Bergbaugenossenschaften 438.
Bergarbeiter- Hilfs- und Pensionskassen, Frankreich 221, 693.
Bergwerkinspektion, Belgien 564. Frankreich 688.
Bergleute, Achtstundenarbeit, Fngland 94.
Bergarbeiterverhältnisse, Großbritannien 573.
Berufsgenossenschaften der Landwirte, Oesterreich 72t.
Berufsstatistik $20.
Berufsvereine, Belgien $$9. Deutschland
Berufswahl $90.
Berufszählung, Deutschland 1895, 337» 416, 417% 418, 419.
Beschlagnahme des Arbeits- oder Dienstlohnes 194.
Besteuerung, kommunale des Wertzuwachses, England 491.
Betriebsformen und Wirtschaft $16.
Betriebsformen und Betrieb 517.
Betriebsunfälle der Landwirtschaft 278.
Betriebsunfälle der Arbeiter, Italien 107«
Bevölkerungsbewegung, Schweiz 37$, 412.
Bewegung, soziale, im 19. Jahrhundert 439.
Bibliographie des Sozialismus $09.
Bibliographie des Sozialpolitik $13.
Bibliothekgesetz, staatliches, Amerika 750.
Bibliothek und Lesehalle, öffentl., Berlin 377.
Borstenindustrie, Schutz der Arbeiter 44.
Bürgerliche* Gesetzbuch, Diensttertiag 299.
Bürgerliches Recht und besitzlose VolksWasse 317. 318
Btchdruckemcn, Arbeiterschttz 103«
691
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692
Sachregister.
Campagna, römische 9^ 497.
Cichorienfabriken, Arbeiterschutz 635.
Cigarrenindustrie, Arbeiterschutz 494.
Civilprozefsnovcllc, sozialpolitischer Inhalt 209.
Civilprozefsordnung, Text des § 24Q, 646.
Civilprozefsordnung, Abänderung 1 54.
Delegierte für Bergbauinspektion, Frankreich 688.
Detailhandel, Wandlungen in 36.
Dienstbotenschutz, Neu-Seeland 426.
Dienststreitigkeiten, Oesterreich 389.
Dienstvertrag im bürgerl. Gesetzbuch 299.
Dorfgemeinde, russische 528.
Drahtziehereien, Arbeiterschutz 634.
Einigungskammern, Belgien 170.
Einigungsämter, England 294. 379, 677.
Kinigungsämtcr, Frankreich 220. 691.
Einigungsämter, Oesterreich 385, 723.
Einkommensteuer, England 24.
Einwanderung, Amerika 446.
Eisenbahnarbeiter, Arbeitsvertrag, Frankreich 217, 68q.
Enqueten, parlamentarische, Deutschland 626.
Enquctcngcsctz über Arbeitsverhältnisse, Niederlande 395, 714.
Entwicklungsgeschichte, wirtschaftliche, Niederlande 447.
Entwicklung, körperliche der Arbeiterbevölkerung, Zentralrufsland 101.
F'rbrecht, bäuerliches, Preufscn 144-
Erbteilungsvorschriften, Oesterreich 718.
Erbrechtsentwurf, Schweiz 99-
Ernährungsstatistik, Ungarn 288.
Erpressung und Koalitionsrecht l$6.
Ersatz von Vcrmögensschäden 186.
Erziehung und Unterricht l 53.
Ethik, soziale 543.
Evangelisch-soziale Bewegung 55.
Evolution, soziale 488.
Fabrikarbeiter, Lage der, Zenlralrufsland 90.
Fabrikant oder Handwerker 125.
Fabrikgenossenschaften, Oesterreich 438.
Fabrikgesetzgebung, Australien 233, 607. Dänemark 227- Rufsland 91^ 731. Schweiz
2S7, 366, 467. Vereinigte Staaten 237.
Fabrikinspektion, Allgemeines 41, 454- Deutschland 403. England 135. 168. 172.
Frankreich 212. Niederlande 34* 35. Oesterreich 325, 328. Rufsland
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Sachregister. ^93
12; Schweii 204, 333, 356, 358, 3321 36°, j6i, 362, 465. Ungarn 242=
Vereinigte Staaten 338, 244. S. auch Gewerbeinspektion.
Fabrik Wohnhäuser, Schweiz 461.
Farmerbund, Vereinigte Staaten 78.
Feldgemeinschaft, Sibirien 234.
Fortbildung des Arbeitsverhältnisses 1 77.
Fortbildungsbestrebungen der Dresdner Arbeiterschaft 308.
Frauenarbeit, England 489. Frankreich 690. Italien 109 a. Oesterreich 452. Vereinigte
Staaten 41 5.
Frauenarbeiterschutz, Belgien I7Q- Niederlande 713.
Frauenbewegung, die Anfänge der 65.
Frauenbewegung, bürgerliche 6fL England und Deutschland 136.
Frauen frage im Altertum 64.
Frauenstimmrecht, England 62*
Frauenstudium der Nationalökonomie 183.
Fragen, agrarische 398.
Fürsorgeerziehungsgesetz, Frcufsen 1 12.
Gastwirtsgehilfen, Arbciterscbutz
Gefängnisarbeit 3 1 3.
Gefängniskunde, Lehrbuch der 5.
Gemeindebesitz, Rufsland 528a, 729, 730.
Genossenschaften, Belgien 557, 562. England 15. Deutschland 131, 376, 44t-
Genossenschaften römischer Gärtner 77-
Geschichte des Sozialismus 13.
Geschichtsauffassung, materialistische 524.
Gesindewesen und Gesinderecht, Deutschland 1 10.
Gesundheitsverhältnisse der Fabrikbevölkerung, Schweiz 102.
Getreidehandel, Regelung des $37.
Gewerbegerichte, Allgemeines 82* 432. 435. Dänemark 2 2Ü, Deutsches Reich 1 13.
Il6. 434, 43L 413. 4Ii 436, 42i 4Z», <>lii Italien 304; 707.
Oesterreich 39Q. 724.
Gewerbegescbichte, Ulms Baumwollweberei 301. Pforzheims Vergangenheit 4QQ. Ge-
schichte der Kartelle 44Q. Mittelalterliche Sozialstatistik 444.
Gcwcrbcgcsctzgebung, Reform der 295.
Oewerbeinspcktion, Belgien 565, Oesterreich 334, 332, 334, 333, 336; 338, 332;
345, 346, 347- Frcufsen 126, 40b, 462, 669. 671. Schweden 733. S, auch
F'abrikinspcktion.
Gewerbeordnung, Deutschland 174. 348, 349. 368, 472.
Gewerberecht, Deutschland 470. 471. 474.
Gewerbestatistik, Belgien 169.
Gewerbezählung, Deutschland 416, 417. 418, 4t9. 421.
Gewerkschaften, Allgemeines 19. Belgien 5 79. Deutschland 20, 43* 45, 1 56.
Flngland 68, 96, 133. I 34» 235. 3Q7. $87. s88, 589- Frankreich 214. üS,
222. Schweiz 522. Vereinigte Staaten 525.
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Sachngisl«.
6»»
Glashütten, Ar beite rschuiz ia 6av
Grofsbetricb, fabrikmitfsiger ia Russland 40-
Grofsmagazine und Kleinhandel 302.
Grubeninspektion, Delegierte zur, Belgien 612.
Grundeigentum, Belgien 56L»
Gutsherrschaft. Aufkommen der 171.
Hafenarbeiter, Hamburg, Strike 345. 34 & 347 ► 348, 545.
Haftpflicht, Deutschland 132, 277, 604. England 95^ 331, 674, 682. 683, 678. 67Q.
Finnland 704. 705, 706» Frankreich 6<u. 693. 6o6. 697. Italien 708.
Schweiz 311. 314.
Hagelversicherung, Bulgarien 322, 3^,
Handelsgchilfen, Deutschland 133, 484. England 680.
Handelsgesetzbuch, Deutschland 155, 631.
Handelskrisen, England 336.
Handelspolitik, Deutschland 302, 431.
Handwerker oder Fabrikant 125.
Handwerksgeschichte, Deutschland 308.
Handwerkergesetzgebung, Oesterreich 453. Deutschland 381.
Handwerk, Litteratur 31 1.
Haushaltungsbudgets, Deutschland 162, 197. England 12. Schweiz 188.
Hausindustrie, Deutschland 2^ 498.
Hauslehrer, studentische, Lage der 3Q7.
Hechelräume, Arbeiterschutz 640.
Heimstättengesetz, Deutschland 142, 630.
Heimarbeit, Oesterreich ll, 396, 725.
Heimatrecht, Oesterreich 423.
Hilfsarbeiter, kaufmännische, Oesterreich 385.
Hilfs- und Pensionskassen der Grubenarbeiter Frankreich 221, 693.
Hilfskassengesetz, Oesterreich 372, 720.
Industrie- und Arbeitsrat, Belgien 170.
Industrie und Landwirtschaft, Unfälle, Deutschland 278.
Industrie, Obcrschlesien 393.
Industrientwicklung, Kufsland 323.
Invaliden- und Altersversicherung, Deutschland 269. 274, 276, 280. 281. 283, 284,
387, 368, 617. 618. 620, 634, 657. Italien 108. 109, 709, 710. Schweden
252, 734.
Italiener die, Chicago 242.
Justiz-Statistik, Deutschland 6,
Kartelle, Allgemeines UQ. 442, 449.
Kartcllgesctz, Oesterreich 399, 726.
Kartelle, Verein. Staaten 330.
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Sachregister.
621
Kaufmännische Angestellte, Arbeitszeit, l’reuisca 486.
Kaufmannsgerichte, Deutschland 1 14.
Kaufmännische Schiedsgerichte 485.
Kaufmannsgehilfenschutz, England 680.
Kinder, schulpflichtige, Erwerbsthätigkeit, Deutschland 2,
Kinderschutz, England 2Ä6» Italien 109a. Niederlande 7 1 1. Verein. Staaten 240 , 41 $,
Kleinhandel und Grofsmagazinc $9*i
Koalitionsfreiheit 479 a.
Koalitionsrecht und Strafrecht, Deutschland 196.
Kontraktbruch und Koalitionsrecht, Deutschland 295.
Kollektiv-Streitigkeiten und Arbeitstarife, Schweiz 483.
Kommunalpolitik, Belgien 367. Oesterreich 366. England 26^ 97, 490. Deutsch-
land U£, r42, 326.
Kommunalpolitik, Arbeitslosigkeit 194, 500 a.
Kommunalpolitik, Allgemeines 207, 468, 536.
Konfektion, Sweatingsystem fr9Q-
Konfektionsindustrie, Neuere Schriften $91.
Konfektionsindustrie, Heimarbeit, Oesterreich 596.
Konsumgenossenschaften, Deutschland 538. Schweiz 539.
Konsumentenschutz im Bäckergcwcrbc 479.
Krankenpflege, unentgeltliche, Frankreich jo^ 692.
Krankenunterstützung, Dänemark 367.
Krankenversicherung, Deutschland 33» 42* 267. 269, 274, 276, 279. 282. 407«
49S, 632.
Krankenversicherung, Oesterreich 414. Schweiz 271 , 460.
Krankheiten, gemeingefährliche, Bekämpfung, Deutschland 139. 6^9-
Kriminalität, allgemeine 4SI. Deutschland 327.
Kriminalstatistik, Deutschland £ 304. Italien 329.
Kriminalpolitik, Schweiz 291.
Ladengesetz, Australien 607.
Landarbeiter, England, Lage der 23.
Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit 230.
Landarbeiterfrage, Preufscn 592. England 287 a.
Landarbeiter, Ungarn JAi 2>l-
Landarmenwesen, Deutschland 330.
Land- und Forstwirtschaft, Deutschland, Unfallversicherung 606.
I^and wirte, Berufsgenossenschaften, Oesterreich 721.
Landwirtschaft, elektrische 400.
Landwirtschaft und Industrie, Betriebsunfälle, Deutschland 278.
Landwirtschaft, kapitalistische 236.
Lebenskosten belgischer Arbeiterfamilien iqi.
Lehrer, Versichcrungsptlicht der, Deutschland 124.
Lehrlingswesen, Schweiz 25S, 737.
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6g6
Sachregister.
Leibeigenschaft, Hufsland und Deutschland 247.
Lesehalle, öffentliche in Berlin 377.
Liberalismus, Preufsen 487.
Lohnpolitik und Lohntheorie 16$.
Lohnsystem, Reformversuche 25.
Lohnstatistik, Münchener Kellnerinnen &Q. Arbeiter Stuttgarts 161.
Lohnstatistik, zur Organisation der 176. Amerika 433, 436.
Lohnstatistik, Italien 493.
Lohnzahlung, Belgien 6o£-
Manufaktur, landwirtschaftliche 399.
Maschinenbauer, englische, Strike 98.
Marxismus 507, §32.
Maximalarbeilstag, Vereinigte Staaten 749.
Merkantilismus, Kufsland 48 L.
Methodenstreit 298.
Minderjährige, Zwangserziehung, Preufsen 553.
Minimallohn, Lohnpolitik 165.
Milserntcn, Kufsland 229.
Mittelstandspolitik, Oesterreich 424.
Mutterschaft und geistige Arbeit öj.
Muttcrschaftsversichcrung 63.
Normalarbeitstag, allgemeines 455. England 586. Ver. Staaten 241.
Notes Critiques, Frankreich 58.
OcfTcntlichc Arbeiten, Arbeiterschutz 165. Arbeitsbedingungen, Frankreich 225.
Obcrschlesicn, seine Industrie 393.
Pacht, bäuerliche, Rufsland 527.
Pädagogik 554.
Postsparkasse, Oesterreich 49.
Produktion, gesellschaftliche 40 1.
Programm der Zeitschrift 46.
Proletariat, gewerbliches, Italien 503.
Proportionalwahl, Württemberg III.
Prostitution, Preufsen 450.
«Quecksilber-Spiegelbelcgc, Arbeiterschutz 443.
Kasse, Tüchtigkeit unserer 469-
Rassenhygiene 388.
Ratenhandel und Abzahlungsgeschäfte, Oesterreich 312.
Recht des Schadenersatzes 287.
Rechtsphilosophie ^21.
Rechtsprechung, soziale, Deutschland 605.
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Sachregister.
697
Reform, soziale 598.
Reichstagswahlen 45 a,
Rcichsvcrsicherungsamt, Deutschland 29, 60 y
ReichsversicherungsgeseUgebung, Deutschland 273.
Rentengüter, Oesterreich 722.
Rohrzuckerfabriken, Arbeiterschutz 638.
Schiedsgerichte, obligatorische, England 425.
Schiedsvcrträgc der Gewerbegerichtc, Deutschland 477.
Schiffswerftarbeiter, Lage der, Ungarn 250.
Schriftgicfscreien, Arbeiterschutz, Deutschland 103, 650.
Schwindsuchtsgefahren
Säuglingssterblichkeit 371.
Samstagnachmittag-Fabrikarbeit, Schweiz 463.
Sanitätsstatistik, Oesterreich 570.
Seearbeiterschutz, Deutschland, 663, 66$.
Sccmannsordnung, Deutschland 330, 369, 662.
Seidenindustrie, soziale Zustände, Schweiz 464-
Selbstmordstatistik, Dänemark 380.
Sklaverei in den Kolonien 246.
Sonntagsruhe, Ungarn 5^ £1^ 742, 743, 744.
Sozialgeschichte, Soziale Kämpfe vor 300 Jahren 508.
Sozialgesetzgebung, Belgien 72.
Sozialdemokratie, deutsche 53, $34» $3$.
Sozialismus, Geschichte des 13.
Sozialismus und soziale Bewegung 439.
Sozialismus und I.and Wirtschaft 440 a.
Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung $ot, $0$, 600.
Sozialpädagogik, allgem. 364, $$t. Frankreich 36$.
Sozialpolitik 182, 512. Schweden 4 IQ.
Sozialrcform 480, $78.
Sozialstatistik, Deutschland 42, 47. 160, 2 56, 315, 422, 428, 444. 445, 484. Eng-
land 38, 69. Frankreich 41 L. Holland 39 t. 394. Norwegen 1 $9.
Sozialversicherung, Reform unserer 272.
Soziale Wanderungen 137.
Soziologie 150, 440. 533, 542-
Spiegclbeleganstaltcn, Einrichtung und Betrieb, Bayern 614.
Submissionen, Frankreich 225, 699, 700, 701.
Sweatingsystcm in der Konfektion, Deutschland 590.
Sweatingsystem, England 352, 492.
Sweatingsystcm, Vereinigte Staaten 239.
Syndicatc, Frankreich 218, 222.
Staatssozialismus, Bulgarien 322, 324.
Staatseinnahmen und Steuerverteilung, Schweiz 496.
Archiv für so 1. Gesetzgebung u. Statistik. XVTll. 45
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Sachregister.
698
Staatsstcucrn des Kantons Zürich 204 b.
Städlccrweiterung und Zonenenteignung, Preufsep l, 642.
Städtestatistik, Schweiz 448,
Stadtverwaltung im römischen Kaiserreich 146.
Statistik Württemberg 297, Italien 374.
Steinkohlenbergwerke, Arbeiterschutz, Deutschland 636, 6.37 •
Stellenvermittlung für Schiflfsleutc, Deutschland 664,
Sterblichkeit, Budapest, 373-
Steuerpolitik, Bayern 303. Deutschland $84.
Steuerprogression, Preufscn 158, t.
Steuerreform, Prcufcen 211.
Steuervor lagen, Preufscn 210.
Stcucrverteilung und Staatseinnahmen, Schweiz 496.
Stil des modernen Wirtschaftslebens 3 iq. .
Strafgesetzentwurf, Oesterreich l 37>
Strafrecht und Koalitionsrccht, Deutschland 296,
Strafscnbahncn, Haftpflicht, Deutschland 604-
Streitfragen des Sozialismus $34, 534.
Strikcstatistik , Deutschland 163. England 983 396. . Frankreich Italien 503.
Vereinigte Staaten 61, 383.
Tagelöhne, ortsübliche, Deutschland 264.
Tarifverträge 300.
Textilindustrie, mechanische, Arbeitszeit 310.
Theorie der politischen Ockonomie 427.
Todesursachenstatistik, Italien 374. *• *»
Truckgesetze, F.ngland 675.
Trucksystem, England 353.
Trunkenheit, Gesetze gegen. Oesterreich 1 38. 140* 727. Niederlande 712.
Ticrhaarindustric, Arbeiterschutz. Deutschland »44. • *
Tran*»portanstalten, Arbeitszeit in »len, Schweiz 8^: • » 1
Trusts in Amerika 3, 30$.
Uneheliche Kinder und bürgerliches Gesetz, Deutschland 5 23.
Unfallversicherung, Dänemark 367, 33>, 613. Deutschland 30. 33^ 130, 132,' 255.
262. 263, 268, 260. 274. 276, 279, 280. 2S4. 285, 372, 493, 600 . Eng-
land 22j 601 . Finnland 183. Frankreich, 224, 698. Niederlande 316.
715. Oesterreich 100, 231. 414. 377, 60;. 717. Schweiz 27t, 337, 466.
Untergang des römischen Reiches 148.
Unterricht und Erziehung 1 53.
Unterstützungsvcrcine der Arbeiter, Italien 482.
Urgeschichte der Arbeit 9.
Ursprung der Landarbeiter 22Ä.
\ t /.
Verbrechen und soziale Verhältnisse, Schweiz 544.
Vereins- und. Vcrsammlungsrecht, Deutschland 234.
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Sachregister.
699
Versicherungspflicht der Lehrer 124.
Versicherung soziale, Oesterreich 105.
Verstaatlichung der schweizer Eisenbahnen 87.
Verwaltungsstatistik, Handbuch 333-
Volksbildungswesen, Handbuch des 1 52.
Volksbibliotheken, Berlin 377 a. Vereinigte Staaten 243,
Volkshochschulen, England 151.
Volkswirtschaft, russische 529.
Volkslesehalle und Volksbibliothek 468.
Waldcigcntum und Waldwirtschaft. Schweiz SIL
Walz- und Hammerwerke, Arbeiterschutz, Deutschland 649.
Wanderungen soziale, Belgien 560, 563.
Warenhaussteuer, prcufsische 84.
Wertzuwachs unverdienter. England 49 1-
Wirtschaftsstufen, Wirtschaftssysteme, Wirtschaftsformen 5 1 8.
Wohlfahrtseinrichtungen, allgem. 180, 350 a. Belgien öio.
Wohnungsverhältnisse, Dänemark 3 $4- Deutschland £2» 52: &£L 263, 289. 200,
Lübeck 668. Württemberg 673. England Uh 2J_, 681. Oesterreich 386
Schweiz 1Q2, 201, 202.
Wucher auf dem Lande, Deutschland 403.
Xahncarics 248 a.
Zigarrenarbeiterschutz, Deutschland 619.
Zigarrenarbeiter, soziale Lage, Baden 381.
Zink- und Bleierzbergwerke, Arbeiterschutz, Deutschland, 637-
Zonenenteignung und Städteerweiterung, l'rcufscn l. Deutschland 642.
Zuckerraffinerien, Arbeiterschutz, Deutschland 638.
Zündhölzchenfrage, Schweiz 104. 456, 740.
Zünfte im Mittelalter Jl:
Zwangserziehung Minderjähriger, l’reufsen 5 5 2 , 553, 672.
309 , 666. Bayern 7$ , 76 , 6t S, 616. Hamburg 2]_. Hessen 66;
FE8 3 1912
45*
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läppert & Co. (G. Pit*’ «che Buchdr.), Naumburg a. S.
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univermty of michiqan
3 9015 06526 0393
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