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Full text of "Archiv für sozialwissenschaft und sozialpolitik"

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ARCHIV 

FÜR 

SOZIALE  GESETZGEBUNG  UNI)  STATISTIK. 


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ARCHIV 

FÜR 

SOZIALE  GESETZGEBUNG 
UND  STATISTIK. 

ZEITSCHRIFT 

ZUR  ERFORSCHUNG  DER  GESELLSCHAFTLICHEN 
ZUSTÄNDE  ALLER  LÄNDER 


IN  VERBINDUNG  MIT 

EINER  REIHE  NAMHAFTER  FACHMÄNNER  DES 
IN-  UND  AUSLANDES 

HERAUSGEGEBEN  VON 

Dr.  HEINRICH  BRAUN. 


ACHTZEHNTER  BAND. 


BERLIN. 

CARL  HEYMANNS  VERLAG. 

1903. 

HK UXELI.ES:  L1BRAIHIE  EL’ROl'EKN.YF.  C.  MUQCAKDT.  — BUDAPEST:  FKRÜ1 NAN  B 
I’Peifkr.  — CHRISTIANIA : B.  aschekouo  & co.  — HAAG:  i.ibkairie  belinfantk 
frRrkd.  — KOPENHAGEN:  amdk  frkd.  höbt*  sön.  — LONDON:  david  nutt. — 
NEW- YORK:  GUSTAV  b.stbchkht.  — PAPIS:  H.  i.k  soudier.  — ST.  PETERSBURG: 
k.  L.  ricker  — ROM:  loeschf.r  a co.  — STOCKHOLM : samson  & wallin.  — 
WIEN : manische  k.  k.  hokvbrlaos-  ünd  oniversitatebochhandluno.  — ZÜRICH : 

MEYER  & ZELLEU. 


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Nachdiuck  und  Uebersetsung  voi behalten. 


VerlagvArcliiv  3732. 


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Abschiedswort. 

Nach  sechzehn  Jahren  lege  ich  hiermit  die  Redaktion  des  von 
mir  begründeten  Archivs  nieder.  Ob  die  in  18  Bänden  verkörperte 
Arbeit  dieser  Zeitschrift  die  im  Einführungsartikel  geäufserte  Hoff- 
nung, dafs  sie  „für  Wissenschaft  und  Leben  nicht  ohne  ein  frucht- 
bares Ergebnis  bleiben  wird“,  erfüllt  hat,  darüber  zu  urteilen  steht 
mir  nicht  zu.  Ich  will  lediglich  mit  einem  Wort  erklären,  worin 
ich  die  Berechtigung  erblicke,  von  der  freiwillig  übernommenen 
Aufgabe  mich  aus  eigener  Entschliefsung  zu  trennen  und  sie  anderen 
Händen  zu  überlassen. 

Als  ich  vor  mehr  als  einem  halben  Menschenalter  das  Archiv 
ins  Leben  rief,  um  einen  Mittelpunkt  für  die  wissenschaftliche  Er- 
forschung der  wichtigsten  Teile  des  sozialen  Problems  zu  bilden, 
war  die  soziale  Gesetzgebung  in  ihren  ersten  Anfängen  und  das 
Interesse  für  Sozialpolitik  — von  den  Kreisen  der  sozialdemokra- 
tischen Partei  abgesehen  — ein  spärliches.  Dieses  Interesse  zu 
steigern  durch  eine  wissenschaftlich  unbefangene , rückhaltlose 
Darstellung  der  thatsächlichen  Zustände  der  Gesellschaft  und  die 
kritische  Erörterung  der  Leistungen  wie  der  Erfordernisse  der 
sozialen  Gesetzgebung,  bedurfte  es  eines  bis  dahin  fehlenden  Organs. 
Ein  solches  zu  schaffen,  war  m.  E.  damals  nur  jemand  im  stände, 
der  als  Sozialdemokrat  einen  stark  entwickelten  Sinn  für  die  sozial- 
politische Seite  jeder  volkswirtschaftlichen  Frage,  als  Akademiker 
ausreichende  Beziehungen  mit  den  littcrarisch  thätigen  Fachmännern 
Deutschlands  wie  des  Auslandes  und  zugleich  nach  allen  Seiten 
eine  vollkommene  Unabhängigkeit  bcsafs,  um  eine  streng  wissen- 
schaftliche Haltung  glcichermafsen  gegen  die  Einflüsse  der  Regierungen, 


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VI 


Abschiedswort. 


der  politischen  Parteien  und  akademischen  Richtungen  zu  sichern. 
So  stellte  ich  mir  die  Aufgabe  und  bemühte  mich  um  ihre  Lösung. 

In  der  seitdem  verflossenen  Zeit  hat  sich  ein  unverkenn- 
barer Umschwung  vollzogen.  Zwar  befindet  sich  die  soziale  Gesetz- 
gebung trotz  relativer  Fortschritte  in  einem  sehr  unbefriedigenden 
Zustand,  aber  das  sozialpolitische  Verständnis  und  die  Einsicht  in 
das  dringende  Bedürfnis  einer  Förderung  der  sozialen  Gesetzgebung 
und  ihres  Ausbaues  nach  allen  Richtungen  ist  heute  weitverbreitet. 
Und  an  Kräften  mit  der  spezifischen  Begabung,  eine  Zeitschrift 
wie  das  Archiv  zu  leiten,  ist  jetzt  auch  kein  Mangel. 

Ohne  eine  Pflicht  zu  verletzen,  kann  ich  deshalb  von  der 
Redaktion  zurücktreten,  um  mich  fernerhin  der  politischen  Thätig- 
keit  zu  widmen. 

Mit  Vertrauen  darf  ich  die  Leitung  der  Zeitschrift  der  neuen, 
aus  den  Herren  Professor  Werner  Sombart,  Professor  Max  Weber 
und  Dr.  Edgar  Jaffe  sich  zusammensetzenden  Redaktion  überlassen, 
die  die  Zusage  gegeben  hat,  das  Archiv  im  alten  Geist  weiter- 
zuführen; ich  kann  das  umso  mehr,  als  Prof.  Sombart  vom  2.  bis 
zum  18.  Band  durch  eine  Fülle  von  Arbeitcn’das  Archiv  wesent- 
lich unterstützt,  und  Prof.  Weber  auch  bisher  schon  durch  Beiträge 
zu  seiner  Förderung  beigetragen  hat. 

So  scheide  ich  vom  Archiv  mit  dem  Wunsch  für  sein  Ge- 
deihen und  mit  herzlichem  Dank  an  seine  Mitarbeiter,  an  die  ich 
ebenso  wie  an  die  Leser  die  Bitte  richte,  der  Zeitschrift  fernerhin 
ihr  thätiges  Interesse  zu  bewahren. 

Berlin,  Dezember  1903. 


Heinrich  Braun. 


INHALT  DES  ACHTZEHNTEN  BANDES. 

Seite 

Braun,  Dr.  Heinrich,  in  Berlin,  Abschiedswort  . ...  V 

ABHANDLUNGEN. 

Braun,  Dr.  Adolf,  in  Nürnberg,  Die  Reichstagswahlen  von  1898  und  1903. 

Eine  statistische  Studie  539 

l.evy,  Dr.  Hermann,  in  Berlin,  Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in 

England 483 

Macrosty,  Henry  \W,  in  London,  Der  Kechtszustand  der  Gewerkvereine 

in  England 322 

Mangoldt,  Dr.  Karl  von,  in  Dresden,  Ein  Reformprogramm  für  die 

Wohnungs-  und  Ansiedlungsfrage  in  Deutschland 1 1 2 

Mombert,  Dr.  Faul,  in  Karlsruhe,  Wohlfahrtseinricbtungen  der  Arbeitgeber  519 
Schüler,  Dr.  F.,  ehemal.  schweizerischem  Fabrikinspektor,  Die  Revision  des 

schweizerischen  Fabrikgesetzes 21.  282 

Schulz,  M.  von,  Vorsitzendem  des  Gewerbegerichts  in  Berlin,  Zur  Koali- 
tionsfreiheit   457 

So  zn  hart,  Prof.  Dr.  W.,  in  Breslau,  Beruf  und  Besitz  . . . . ..  I 

Vandervelde,  Prof.  Dr.  Emil,  Die  Rückkehr  nach  dem  Lande  ...  66 

Verkauf,  Dr.  Leo,  in  Wien,  Agrarschutz  und  Sozialreform  . . 225 

GESETZGEBUNG. 

Deutsches  Reich.  Der  Gesetzentwurf  betreffend  Kaufmannsgerichte.  Von 

Dr.  K.  Flesch , Stadtrat  in  Frankfurt  a.  M 127 

Gesetzgeberische  Fortschritte  auf  dem  Gebiet  des  Wohnungswesens.  Von 

Dr.  Hugo  Lindanaitn  in  Stuttgart-Degerloch 138 

Schutz  der  Arbeiter  in  den  Tierhaar-  und  Borstenindustrien.  Von  Dr.  Adolf 

Braun  in  Nürnberg 377 

Lübeck.  Wortlaut  des  Gesetzes  betreffend  die  Wobnungspflege  in  der  Stadt 

Lübeck  und  deren  Vorstädten 149 

Württemberg,  Verfügung  des  Ministeriums  des  Innern  über  die  Wohnungs- 
aufsicht  ....  152 

Hessen.  Gesetz  betreffend  die  Wohnungsfürsorge  für  Minderbemittelte  157 

Frankreich.  Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten 
in  Frankreich.  Von  Raoul  Jayt  Professor  an  der  juristischen  Fakultät 

in  Paris 161 

Wortlaut  des  Dekretes  Uber  die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  von  Auf- 
trägen seitens  des  Staates 179 

Wortlaut  des  Dekretes  über  die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  von  Auf- 
trägen seitens  der  Departements 1 8 1 

Wortlaut  des  Dekretes  über  die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  von  Auf- 
trägen seitens  der  Gemeinden  und  der  öffentlichen  Wohlthätigkcits- 
anstalten ....  183 


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VIII 


Inhalt. 


Seite 


Italien.  Das  neue  Gesetz  betr.  die  Frauen-  und  Kinderarbeit.  Eingeleitet 

von  Prol.  Carlo  F.  Ferraris , in  Padua 564 

Wortlaut  des  Gesetzes  vom  19.  Juni  1902,  betr.  die  Frauen-  und  Kinderarbeit  573 
Ucstcrrcich.  Der  neue  österreichische  Gesetzentwurf  zur  Hintanhaltung  der 
Trunksucht.  Von  Prof.  Dr.  Max  Gruber , Direktor  des  hygienischen 

Instituts  der  Universität  München 184 

Wortlaut  des  Gesetzentwurfs,  womit  Bestimmungen  zur  llmtanhaltung  der 

Trunksucht  getroffen  werden . . ~ 192 

Schweiz.  Ein  Gesetz  über  Arbeitstarife  und  Kollektivstreiligkeiten.  Von 

Jean  Sigg  in  Genf 344 

Vereinigte  Staaten  von  Amerika.  Die  amerikanische  Arbeitergesetz- 


der  Rechte  an  der  Universität  von  Texas  in  Austin 199 

Die  amerikanische  Arbeitergesetzgcbung  des  Jahres  IQQ2.  Von  Dr.  jur. 
Charles  Henry  Huberichy  Dozent  der  Rechte  an  der  Universität  von 
Texas  in  Austin 578 


Flesch,  Dr.  Karl,  Stadtrat  in  Frankfurt  a.  M.,  Die  deutschen  Stadtgemeinden 

und  ihre  Arbeiter 445 

Heiss,  Dr.  Clemens,  in  Berlin,  Die  Arbeitseinstellungen  und  Aussperrungen 

in  Oesterreich  wahrend  der  Jahre  1894—1901  . . 38s 

Kümmel,  H.,  Zahnarzt  in  Perlin,  Die  progressive  Zahnen  ries  in  Schule  und 
Heer  und  die  zahnhygienischen  Aufgaben  der  Sanitätsbehörden  im 

Interesse  der  Volkswirtschaft ^91 

Paszkowski,  Dr.  W.,  Bibliothekar  in  Herlin,  Die  Hugo  Heimannschc  Biblio- 
thek und  Lesehalle  in  Berlin  in  den  ersten  vier  Jahren  ihres  Be- 
stehens und  ihr  gedruckter  Katalog 630 


LITTERATUR 


Curti,  Theodor,  Geschichte  der  Schweiz  im  19.  Jahrhundert.  Besprochen 

von  Dr.  E.  Hof  mann  in  Fraucnfcld  ...  645 

David.  Eduard.  Sozialismus  und  I^andwirtscliaft.  1.  Band.  Die  Betriebs- 
frage. Besprochen  von  Dr.  Conrad  Schmidt  in  Berlin 637 

Litteratnr  von  und  über  Gewerkschaften.  Besprochen  von  Dr.  Adolf  Braun 

in  Nürnberg 204 

Schulz,  M.  vM  Gcwcrbegerichtsgesetz  in  der  Fassung  der  Bekanntmachung 
vom  29.  September  1901  erläutert.  Besprochen  von  Dr.  Karl  Flesch 

in  Frankfurt  a.  M 223 

Die  direkten  Staatssteuern  des  Kantons  Zürich  im  19.  Jahrhundert.  Be- 
sprochen von  Dr.  E.  Hofmann  in  Frauenfeld Ö50 


REGISTER  zu  Band  I-  XVlll  dea  Archivs, 


Autorenregister 6^2 

Topographisches  Register 679 

Sachregister 689 


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Beruf  und  Besitz. 


Von 

WERNER  SOMBART. 

I.  Die  Gliederung  der  Bevölkerung  nach  dem  Berufe. 

Seit  der  Menschen  so  viele  geworden  sind,  beschäftigt  man 
sich  gern  damit,  sie  nach  allen  möglichen  Unterscheidungsmerk- 
malen zu  rubrizieren,  in  Gruppen  zu  ordnen.  Der  Kriterien,  nach 
denen  die  Gruppierung  vorgenommen  wird,  existieren  so  viele,  als 
ein  Mensch  Eigenschaften  besitzt.  Ob  er  alt,  ob  jung,  ob  Mann, 
ob  Frau,  ob  Jude,  ob  Christ,  ob  Deutscher,  ob  Pole,  ob  Lediger, 
ob  Ehemann,  ob  Verrückter  oder  Gesunder,  ob  Verbrecher,  ob 
wohlgesitteter  Bürger,  ob  Rundkopf,  ob  Langkopf:  alles  kann  einen 
Anlafs  zur  Registrierung  und  Klassifizierung  des  einzelnen  bieten. 
Und  offenbar  giebt  es  nun  auch  ökonomisch  bemerkenswerte  Eigen- 
schaften , die  die  Bürger  eines  Landes  voneinander  unterscheiden 
und  nach  deren  Vorhandensein  oder  Nichtvorhandensein  man  die 
Bevölkerung  in  Gruppen  einteilen  kann.  Wir  können  in  diesem 
Falle  von  sozialen  oder  wirtschaftlichen  Gruppen  sprechen. 

Das  erste  Unterscheidungsmerkmal,  nach  dem  man  die  sozialen 
Gruppen  sondert,  ist  die  Berufszugehörigkeit  Nach  den  Ergebnissen 
der  Berufszählung  von  1882  und  1895  für  das  Deutsche  Reich  ge- 
hörten von  je  hundert  Personen  der  Gesamtbevölkerung  zu  der  Be- 
rufsabteilung 

1 8S2  1 895 

A.  Landwirtschaft,  Gärtnerei  und  Tierzucht,  Forstwirtschaft  und 


Fischerei 42,5  35,7 

darunter:  Landwirtschaft  allein . . 41,4  34,4 

B.  Bergbau  und  Hüttenwesen,  Industrie  und  Bauwesen.  . . . 35,5  .39,1 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  I 


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Werner  Sombart, 


1882  1 895 


C.  Handel  und  Verkehr 10,0  11,5 

D.  Häusliche  Dienste  (cinschl.  persönliche  Bedienung),  Lohn- 

arbeit wechselnder  Art 2,1  1,7 

E.  Armee-,  Hof-,  Staats-,  Gemeinde-,  Kirchendienst,  freie  Berufs- 

arten   4,9  5,5 

E.  Ohne  Beruf  und  Bcrufsangabc  . . . 5,0  6,4 

100  100 


Aus  diesen  Ziffern  vermögen  wir  die  uns  bekannten  Tendenzen 
der  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  ohne  weiteres  abzulesen : 

Verringerung  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung;  Ver- 
mehrung der  Erwerbstätigen  in  Gewerbe,  Handel  und  Verkehr; 
Anwachsen  der  Gruppe  E und  F:  Beamte  aller  Art,  denn  die 
Menge  in  Ordnung  zu  halten  wird  immer  schwieriger;  freie  Be- 
rufsarten und  Rentiers:  denn  die  Gesellschaft  wird  immer  reicher. 

Noch  deutlicher  treten  diese  Grundzüge  unserer  gesellschaft- 
lichen Umschichtung  zu  Tage,  wenn  wir  entfernte  Zeiträume  mit- 
einander vergleichen.  So  gehörten  im  Königreich  Preufsen  (ich 
stelle  die  Ziffern  für  das  Königreich  alten  und  neuen  Bestandes 
zusammen,  weil  die  Verschiebungen  in  dem  Anteilsverhältnis  un- 
bedeutend sind)  von  je  hundert  Personen  zu  den  Berufsgruppen 
(nach  den  amtlichen  Zählungen) 


■843 

1895 

A. 

Landwirtschaft 

60,84 — 61,34 

36.12 

B. 

Gewerbe 

23.37 

38.37 

C. 

Handel  und  Verkehr 

•.95 

11,39 

D. 

Häusliche  Dienste 

(in  den  übrigen  Berufs- 

gruppen  mitgezählt) 

2,09 

E. 

u.  F.  Beamte,  freie  Berufe  u.  Berufslose 

4,5-5 

11,67 

100 

100 

Betrachten  wir  nun  aber  die  Gliederung  der  Bevölkerung  nach 
Berufen  im  einzelnen  etwas  genauer,  so  fallt  uns  zunächst  die  That- 
sache  auf  (die  sich  ebenfalls  als  ein  Ergebnis  uns  bekannter  Ent- 
wickelungsreihen darstellt),  dafs  die  Zahl  der  verschiedenen  Berufe  — 
durch  Differenzierung  namentlich  der  gewerblichen  Thätigkeit  — - in 
fortwährendem  Wachsen  begriffen  ist. 

Das  Berufsverzeichnis  von  1895  weist  nicht  weniger  als 
10397  Berufsbenennungen  auf:  4218  mehr  als  im  Jahre  1882. 


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1 1 •.  1 


Beruf  und  Besitz. 


3 


Eine  Differenzierung  ist  wohl  auch  insofern  eingetreten , als  heute 
weniger  Personen  verschiedene  Berufe  zu  gleicher  Zeit  ausüben. 
Ununterbrochen  hat  sich  die  allgemeine  Tendenz  zur  Trennung  der 
einzelnen  Berufstäthigkeiten  .siegreich  durchgesetzt,  trotzdem  in 
einzelnen  Sphären  des  Wirtschaftslebens,  namentlich  im  Handwerk, 
eine  Gegentendenz  sich  deutlich  verfolgen  läfst. 

Der  Rückgang  der  handwerksmäfsigen  Organisation  und  die 
damit  vielfach  verbundene  Verringerung  des  Produktionsumfanges  der 
einzelnen  Handwerke  hat  nämlich  in  wachsendem  Mafse  die  Hand- 
werker veranlagt,  den  Ausfall  an  Einnahme  durch  einen  Neben- 
erwerb zu  decken.  Während  die  einen  versuchen , sich  aus  einem 
mit  ihrem  Produktionsbetriebe  verbundenen  Ladengeschäfte  Ein- 
nahmen zu  verschaffen  (man  denke  an  die  Buchbinder,  Bürsten- 
macher, Drechsler,  Glaser,  Hutmacher,  Kammmacher,  Klempner, 
Kürschner,  Sattler,  Schuhmacher,  Töpfer,  Uhrmacher!),  haben  die 
anderen  sich  zu  helfen  gewufst  durch  Vereinigung  mehrerer  ehe- 
mals selbständiger  Produktionszweige:  der  Schlosser  sucht  die 
Schmiedearbeiten,  der  Schmied  die  Schlosserarbeiten  an  sich  zu 
ziehen,  die  Zimmereibetriebe  verrichten  die  Bautischlerarbeiten,  die 
Tischler  setzen  die  Fensterscheiben  ein;  die  Bäcker  treiben  nebenher 
Konditorei  und  Pfefferküchelei;  Sattler-  und  Tapezierarbeiten,  Stell- 
macher- und  Schmiedearbeiten  werden  kombiniert.  Noch  andere 
endlich  suchen  einen  irgend  welchen,  wie  auch  immer  gearteten 
Nebenerwerb  zu  bekommen.  Da  finden  wir  Handwerker  im  Neben- 
berufe thätig  als:  Zeitungskolporteure,  Versicherungsagenten,  Spe- 
diteure, Pensionshalter,  Karusselbesitzer,  Lohnkellner,  Leichenträger, 
Vereinsdiener,  Ausläufer,  Laternenanzünder , Kirchendiener,  Nacht- 
wächter, Schulpedelle,  Küster,  Hausmeister,  Ausrufer,  Totengräber 
und  was  weiCs  ich,  als  was  sonst  noch. 

Trotz  dieser  Tendenz  zur  Berufsvereinigung  im  Handwerk 
(die  allerdings  wohl  nicht  in  ihrem  ganzen  Umfange  von  der  Be- 
rufsstatistik  erfafst  wird!)  läfst  sich  nun  aber,  wie  gesagt,  im 
grofsen  Ganzen  eine  auch  in  der  Gegenwart  zunehmende  Verselb- 
ständigung der  einzelnen  Berufstätigkeiten  nachweisen.  Wenigstens 
ist  dieses  das  Ergebnis  eines  Vergleichs  der  beiden  Berufszählungen 
von  1882  und  1895.  In  dem  Zeitraum,  der  zwischen  ihnen  liegt, 
stieg  die  Anzahl  der  Personen,  die  einem  „Nebenberuf"  obliegen, 
nur  bei  den  berufslosen  Selbständigen:  von  diesen  hatten  1882 
179679,  1895  dagegen  201  335  einen  Nebenberuf.  Da  aber  doch 
im  Grunde  das  Nichtsthun  kein  selbständiger  Beruf  ist,  so  bedeutet 


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4 


\V erner  Sombart, 


die  Zunahme  der  Ausübung  einer  Erwerbsthätigkeit  in  der  „Berufs- 
abteilung“  der  Berufslosen  doch  eher  eine  Zunahme  als  eine  Ab- 
nahme der  Berufstrennung,  sicher  aber  nicht  das  letztere.  Uebrigens 
hat  die  Zahl  der  Berufslosen  von  1882  bis  1895  stärker  zugenommen, 
als  die  Zahl  der  „erwerbsthätigen  Berufslosen",  so  dafs  diese  von  der 
Gesamtheit  der  Berufslosen  1895  nur  9,40,  1882  dagegen  noch  13,27  11  „ 
ausmachten. 

Wo  jedoch  schon  ein  Beruf  ausgeübt  wurde , ist  auf  der 
ganzen  Linie  die  Kombination  verschiedener  Berufe  sogar  in 
absoluten  Ziffern  seltener  geworden.  Und  zwar  erscheint  mir  die 
Abnahme  der  Nebenberufsfälle,  angesichts  der  Kürze  des  Zeitraums 
als  eine  rapide:  sie  betrug  nämlich  über  eine  halbe  Million  (3  272  1 1 1 
gegen  3 799  596). 

Zieht  man  nun  aber  die  Vermehrung  der  Erwerbsthätigen  in 
Rücksicht,  so  erscheint  die  Verminderung  der  Bedeutung  neben- 
beruilicher  Thätigkeit  noch  erheblicher.  Es  ergiebt  sich  dann  nämlich, 
dafs  1882  noch  etwa  ein  Fünftel  (20,96  %),  1895  dagegen  nur  noch 
ein  Siebentel  (14,29  °/„)  aller  Erwerbsthätigen  (einschüefslich  der  „be- 
rufslosen Selbständigen“)  einem  Nebenerwerbe  nachgingen.  Von 
loo  Nebenberufslallen  kommen  (1895)  auf  die  Landwirtschaft  32,06, 
auf  die  Gewerbe  45,58,  auf  Handel  und  Verkehr  1 1 ,73 , auf  häus- 
liche Dienste  u.  s.  w.  0,96,  auf  öffentliche  Dienste  u.  s.  w.  3,52, 
auf  die  Berufslosen  6,15. 

Diese  Verselbständigung  der  Berufe  bringt  naturgemäfs  in 
mehr  als  einer  Hinsicht  schwerwiegende  Folgen  für  das  Los  des 
einzelnen  Wirtschaftssubjektes  mit  sich.  Oekonomisch  bedeutet  sie 
eine  Steigerung  des  Konjunkturrisikos;  also  der  Unsicherheit,  denn 
je  ausschliefslicher  ein  Beruf  ausgeübt  wird,  desto  gröfser  die  Wahr- 
scheinlichkeit für  den  Selbständigen  wie  für  den  Abhängigen,  von 
ungünstiger  Konjunktur  heimgesucht  zu  werden.  Physiologisch  ist 
die  Berufsspezialisierung  ebenfalls  von  tiefeinschneidender  Wirkung; 
insbesondere  darf  die  Verringerung  einer  landwirtschaftlichen  Neben- 
beschäftigung, namentlich  für  den  Handarbeiter,  als  eine  erhebliche 
Verschiebung  seiner  körperlichen  wie  seelischen  Existenzbedingungen 
angesprochen  werden. 

Angesichts  dieser  Thatsachen  könnte  man  nun  zu  der  Annahme 
gelangen : die  Berufszugehörigkeit  habe  heute  eine  gröfsere  Bedeutung 
auch  für  die  Stellung  des  einzelnen  in  der  Gesellschaft  als  ehedem. 
Eine  solche  Annahme  wäre  jedoch  durchaus  irrig.  Es  trifft  vielmehr 
das  Gegenteil  zu:  welchem  Berufe  jemand  angchört,  wird  immer 


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Beruf  und  Besitz.  c 

gleichgültiger;  anders  ausgedrückt:  die  Ausübung  eines  bestimmten 
Berufs  verliert  unausgesetzt  an  gesellschaftbildender  Kraft,  weil 
die  Berufsgruppe  immer  mehr  an  Festigkeit  einbüfst.  Und  das  hat 
einen  doppelten  Grund:  es  wird  nämlich  sowohl  die  äufsere  als 
auch  namentlich  die  innere  Beziehung  des  einzelnen  zu  dem  Berufe, 
den  er  ausübt,  immer  lockerer. 

Wer  aufmerksam  meinen  Ausführungen  gefolgt  ist, l)  dem  mufs 
klar  geworden  sein,  dafs  das  neunzehnte  Jahrhundert  eine  Epoche 
unerhört  zahlreicher  beruflicher  Neubildungen  gewesen  ist.  Das 
gilt  vor  allem  für  die  Sphäre  der  gewerblichen  Produktion.  Hier 
sind  die  alten  Handwerke  grofsenteils  durch  gänzlich  anders  geartete 
Industrieen  ersetzt;  ehemals  zusammengehörige  Thätigkeiten  sind  zer- 
legt, heterogene  Verrichtungen  zu  einem  einheitlichen  Produktions- 
prozesse zusammengefügt,  zahlreiche  Berufe  (man  denke  nur  an  die 
chemische  Industrie  oder  an  die  Surrogatindustrie!)  überhaupt  neu 
geschaffen  worden.  Aber  es  ist  nicht  nur  eine  Eigenart  der  kapi- 
talistischen Wirtschaft,  dafs  sie  berufliche  Neubildungen  hervorruft; 
nicht  minder  charakteristisch  ist  es  für  sie,  dafs  sie  die  neugeschaffenen 
Gewerbezweige  einer  unausgesetzten  weiteren  Umbildung  unterwirft. 
Die  Berufsbildung  kommt  also  niemals  zur  Ruhe.  Warum  das 
der  Fall  ist,  wissen  wir.  Es  ist  in  der  Eigenart  der  kapitalistischen 
Interessen  und  der  ihr  dienstbar  gemachten  Technik  und  Betriebs- 
organisation gleichermaßen  begründet. 

Die  alte  handwerksmäfsige  Produktionsweise  -)  beruht  auf  der 
Gruppierung  einer  bestimmten  Anzahl  von  Arbeitsverrichtungen  um 
die  Persönlichkeit  eines  technischen  Arbeiters.  Diese  Gruppierung 
war  das  Ergebnis  eines  langen,  organischen  Anpassungsprozesses 
und  mufste  ihrer  inneren  Natur  nach  die  Neigung  zur  Beständigkeit 
besitzen : die  empirische  Technik  enthielt  dafür  die  Gewähr.  Denn 
was  diese  an  Aenderungen  brachte,  flofs  doch  immer  wieder  nur 
aus  dem  Born  des  persönlichen  Könnens  eines  lebendigen  Arbeiters. 
Heute  werden  die  einzelnen  Verrichtungen  nach  sachlich-rationalisti- 
schen Gesichtspunkten,  ohne  jede  Rücksicht  auf  eine  organische 
Persönlichkeit  zu  einem  einheitlichen  Arbeiterprozefs  zusammenge- 
fafst,  der  seine  Gestalt  mit  jeder  neuen  (auf  wissenschaftlichem  Wege 
gewonnenen)  Verbesserung  des  Verfahrens  verändert. 

Diese  sachlich-rationalistische  Gruppierung  der  einzelnen  Thätig- 
keiten, die  in  ihrer  Gesamtheit  einen  Beruf  bilden,  führt  also  ebenso 
notwendig  zu  einem  steten  Wechsel,  wie  die  persönliche  Gruppierung 
die  Stereotypierung  der  Berufe  im  Gefolge  haben  mufs.  Der  ein- 


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Werner  Sombart, 


zelne  Produzent  hat  demnach  heutzutage  aus  rein  äufserlichen 
Gründen  gar  keine  Zeit  mehr,  mit  einer  bestimmt  umgrenzten 
Berufsthätigkeit  zu  verwachsen.  Die  einzelnen  Berufe  laufen  fort- 
während durcheinander. 

Aber  noch  bedeutsamer  ist  wohl  die  Thatsache,  dafs  die  Mög- 
lichkeit, mit  seinem  Denken  und  Fühlen  ein  festes  Verhältnis  zu 
einem  bestimmten  Berufe  zu  gewinnen , immer  geringer  geworden 
ist.  Zweifellos  wird  das  Bewufstsein  der  Berufszugehörigkeit  um 
so  stärker  sein,  je  eigenartiger  die  ausgeübte  Thätigkeit  ist,  dagegen 
mufs  das  Berufsgefiihl  auf  ein  Minimum  herabsinken , wenn  die 
Thätigkeit  ihre  qualitative  Färbung  so  gut  wie  verloren  hat  Be- 
rufsgefühl entfaltet  sich  zum  Berufsstolz , der  Berufsstolz  erzeugt 
eine  bestimmte  Berufsehre.  Hat  ein  Beamter  noch  eine  spezifische 
Berufsehre  ? Hat  sie  insbesondere  der  niedere  Beamte  ? Als 
solcher?  Oder  in  dem  Verwaltungszweige,  in  dem  er  gerade 
beschäftigt  ist?  Aber  diesen  kann  er  beliebig  vertauschen:  er  kann 
aus  dem  Staatsdienst  in  den  Gemeindedienst  treten  — und  um- 
gekehrt, und  hier  wiederum  aus  einem  Bureau  ins  andere  kommen. 
Hat  der  Händler  ein  spezifisches  Berufsbcwufstsein ? Als  solcher? 
Oder  innerhalb  seiner  Branche?  Aber  er  handelt  heute  mit  Fellen 
und  morgen  mit  Kohle.  Auch  wird  die  Beziehung  des  Kauf- 
manns zu  seiner  Ware,  wie  wir  sehen,  immer  loser.  Er  bekommt 
sie  oft  gar  nicht  mehr  zu  Gesicht;  das  Handelsgeschäft  ist  nur  noch 
quantitativ  bestimmt.  Hat  ein  Getreidchändler  in  Mannheim  oder 
ein  Warenhausbesitzer  noch  einen  ausgeprägten  Berufsstolz?  Oder 
fühlen  sie  sich  nicht  vielmehr  beide  in  erster  Linie  als  kapitalistische 
Unternehmer?  Jedenfalls  kann  es  nur  immer  der  Schatten  eines 
Berufsbewufstseins  sein  von  dem,  was  etwa  im  Mittelalter  ein 
Handwerksmeister  hatte,  der  sich  mit  seinen  Berufsgenossen  um  die 
Embleme  seines  Gewerkes  scharte  wie  der  Soldat  um  die  Fahne. 
Nun  sind  aber,  wie  die  Statistik  lehrt,  alle  jene,  sagen  wir  einmal 
qualitätslosen  Berufsarten  im  Vordringen  begriffen,  die  Erwerbs- 
zweige also,  die  gar  keine  oder  nur  geringe  berufsbildende  Kraft 
besitzen,  werden  immer  zahlreicher.  Aber  auch  in  der  Sphäre 
solcher  Berufe,  die  ehemals  ein  ganz  besonders  starkes  Zugehörig- 
keitsgefühl in  denen,  die  sie  ausübten,  erzeugt  haben,  also  namentlich 
auch  in  der  Sphäre  der  gewerblichen  Produktion  (für  die  l^and- 
wirtschaft  hat  sich , aul'ser  an  den  wenigen  Stellen , wo  sie  rein 
kapitalistisch  betrieben  wird,  wenig  gegen  früher  geändert)  sind 


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Beruf  und  Besitz. 


7 

Berufsbewufstsein,  Berufsstolz,  Berufsehre  heute  stark  verringert 
Und  es  wäre  wunderbar,  wenn  es  anders  wäre. 

Da  ist  gleich  die  neue  Technik,  die  das  Aufkommen  eines 
Berufsgefühls  in  den  meisten  Fällen  schlechterdings  ausschliefst. 
Die  Thätigkeit  erscheint  ja  gar  nicht  mehr  als  Emanation  einer 
Persönlichkeit,  sondern  als  Abwickelung  eines  Prozesses : sie  ist  ver- 
sachlicht Was  kann  der  einzelne  aus  ihr  an  persönlichem  Eigen- 
artsbewufslsein  ableiten?  Ein  Schneider,  ein  Schlosser,  ein  Bäcker, 
ein  Gerber:  sie  alle  haben  einen  wohlumschriebenen  Kreis  von 
Thätigkeiten,  deren  Ausübung  ihnen  einen  Lebensinhalt  gewähren 
und  mit  Stolz  erfüllen  kann.  Wie  aber  soll  ein  Arbeiter  in  einer 
Insektenpulverfabrik  oder  in  einer  Hühneraugenringefabrik  oder  in 
einer  Schwefelsäurefabrik  ein  innerliches  Verhältnis  zu  seiner  Be- 
rufstäthigkeit  gewinnen? 

Weiter:  die  empirische  Technik  beruhte  auf  einem  persönlichen 
Können  und  persönlichen  Erlernen;  die  moderne  Technik  auf  einem 
objektiven  Wissen.  Der  Handwerker  umgab  seine  Thätigkeit  gern 
mit  dem  Nimbus  des  Geheimnisvollen,  dessen  innerstes  Wesen  nur 
ihm  und  seinen  Genossen  offenbar  ward.  Man  erinnere  sich  der 
fast  mystischen  Verschleierung,  deren  beispielsweise  die  alten  Bau- 
gewerbe teilhaftig  wurden.  Der  heutige  Produktionsprozel's  wird 
paragraphenweise  in  den  Lehrbüchern  beschrieben  und  kann  von 
jedermann  gegen  Entrichtung  der  Kosten  erlernt  werden.  An  die 
Stelle  des  mit  den  Schauern  der  Mystik  umkleideten  Berufsgeheim- 
nisses tritt  das  ordnungsmäfsig  erteilte  D.  R.-P.  Nr.  so  und  sa 
Auch  das  Fabrikationsgeheimnis  wird  zum  Geschäft. 

Mit  der  neuen  Technik  ist,  wie  wir  wissen,  die  neue  Betriebs- 
organisation gekommen:  der  arbeitsteilig-kooperative  und  grofeen- 
teils  der  automatische  Betrieb.  Nun  ist  es  aber  ersichtlich,  dafs 
auch  die  neueren  Betriebsformen  der  Entfaltung  eines  spezifischen 
Berufcgefühls  hinderlich  sind.  Der  einzelne  Arbeiter  hat  nichts 
mehr  mit  der  Gesamtthätigkeit  seines  Produktionszweiges  zu  thun, 
sondern  ist  zu  einem  wesenlosen  Teilfunktionär  in  dem  gesellschaft- 
lichen Produktionsprozefs  geworden. 

Soll  die  Knopflochnähterin  in  einer  Schuhfabrik  sich  als 
Schusterin  fühlen?  oder  der  Bursche,  der  eine  Nägelmaschine 
bedient,  als  Schmied  ? Dazu  kommt,  dafs  die  hochentwickelte  mo- 
derne Berufsorganisation  immer  mehr  Raum  für  die  sogenannte 
,, ungelernte“,  besser  qualitätslose  Arbeit  bietet,  oder  aber  die  ehe* 
mals  „gelernte“  Handarbeit  zu  einer  (unter  Umständen  sehr  kom* 


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Werner  Sorobart, 


plizierten  und  darum  nach  wie  vor  „gelernten“)  Maschinenarbeit 
umwandelt.  In  diesen  Fällen  ist  aber  wiederum  die  Beziehung 
des  Arbeiters  zu  dem  inneren  Wesen  der  gesamten  Produktions- 
thätigkeit  loser  geworden,  die  Arbeit  ist  wiederum  um  ein  weiteres 
Stück  versachlicht. 

Aber  der  wichtigste  Umstand  ist  doch  vielleicht  dieser:  im 
Rahmen  der  kapitalistischen  Wirtschaftsform  ist  der  technische 
Arbeiter,  in  dem  doch  vor  allem  die  bestimmt  gefärbte  Berufs- 
arbeit das  Berufsbewufstsein  erzeugen  mufs,  an  dem  wirtschaft- 
lichen Erfolge  seiner  Thätigkeit  nicht  mehr  interessiert.  Der  Pro- 
duktionsleiter jedoch,  der  allein  noch  ökonomisch  an  dem  Pro- 
duktionserfolge ein  Interesse  hat,  ist  nicht  mehr  technischer  Ar- 
beiter, hat  also  gar  kein  qualitativ  gefärbtes  Verhältnis  mehr  zu 
dem  Inhalt  seiner  produktiven  Thätigkeit.  Er  entwickelt  immer 
mehr  seine  abstrakte  Händlernatur.  Dafs  er  gerade  Leder  statt 
Eisen,  Mehl  statt  Garn  herstellt,  ist  doch  für  seine  Eigenschaft  als 
kapitalistischer  Unternehmer  vollständig  gleichgiltig.  Morgen  wird  er 
das  I.eder  mit  dem  Eisen,  das  Garn  mit  dem  Mehl  vertauschen: 
der  Inhalt  seines  Produzententums  ist  beliebig  auswechselbar.  Wie 
sollte  er  ein  Berufsbewufstsein  entwickeln?  Höchstens  einmal  bei 
der  Berechnung  der  Unfallrenten  oder  bei  der  Beratung  des  Zoll- 
tarifs. Aber  darauf  kann  sich  doch  keine  feste  Berufsgliederung  auf- 
bauen. Zu  den  dümmsten  Gedanken  unserer  an  dummen  Gedanken 
so  reichen  Zeit  gehört  deshalb  auch  der : einen  modernen  Staat  auf 
.der  Grundlage  etwa  der  Berufsgenossenschaften,  d.  h.  in  „Berufs- 
ständen“, organisieren  zu  wollen. 


II.  Die  Einkommensverteilung  in  alter  undneuerZeit. 

Der  zweite  Gesichtspunkt,  unter  dem  man  soziale  Gruppen 
unterscheiden  kann,  ist  der  Besitz,  oder  richtiger  das  Einkommen. 
Leider  sind  die  zuverlässigen  Ziffern,  die  uns  über  Besitz  oder  Ein- 
kommensverteilung in  Deutschland  zur  Verfügung  stehen,  so  gering 
und  reichen  vor  allem  so  kurz  zurück,  dafs  die  Betrachtung,  die 
weit  auseinanderliegende  Zeiträume  in  Vergleich  stellen  will,  viel- 
fach auf  die  Wertung  symptomatischer  Erscheinungen,  allgemeine 
Stimmungsbilder  und  Totaleindrücke  angewiesen  ist.  Dadurch 
empfängt  sie  aber  begreiflicherweise  leicht  eine  subjektive  Färbung 
-und  kann  zu  Bedenken  Anlafs  geben.  Ich  werde  deshalb  auch  nui 
mit  aller  Reserve  in  den  folgenden  Zeilen,  soweit  nicht  völlig  ein- 


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Beruf  und  Besitz. 


9 


wandsfreie  und  vergleichbare  Zahlen  vorliegen  (was  nur  für  die 
letzten  Jahrzehnte  des  Jahrhunderts  der  Fall  ist),  mein  Urteil  ab- 
geben über  die  Veränderungen,  welche  die  Einkommensschichtung 
in  Deutschland  während  des  neunzehnten  Jahrhunderts  erfahren  hat. 

Man  kann  diese  Veränderungen  unter  einem  zweifachen  Ge- 
sichtspunkte betrachten':  man  kann  entweder  den  Zustand  vor 

hundert  Jahren  mit  dem  heutigen  vergleichen  und  feststellen,  worin 
sich  die  beiden  unterscheiden;  oder  man  kann  die  Verschiebungen 
in  Betracht  ziehen,  denen  der  alte  Status  während  der  hundert 
Jahre  unterworfen  worden  ist.  Wir  werden  sehen,  dafs  diese  beiden 
Betrachtungsweisen  zu  wesentlich  verschiedenen  Ergebnissen  führen. 

Was  jedermann,  dem  die  vergangenen  und  die  gegenwärtigen 
Einkommens-  und  Vermögensverhältnisse  auch  nur  einigermafsen 
vertraut  sind,  bei  einem  Vergleiche  sofort  und  vor  allem  auffallen 
mufs,  ist  die  Thatsache,  dafs  am  Ende  des  Jahrhunderts  eine  Kate- 
gorie von  Einkommensbeziehern  eigentlich  ganz  neu  hinzugetreten 
ist:  die  Kategorie  der  reichen  Leute.  Anders  und  etwas  genauer 
ausgedrückt:  das  hervorstechende  Merkmal  der  modernen  Ein- 
kommensverteilung (im  Gegensatz  zu  der  vor  hundert  Jahren)  ist 
der  (private)  Geldreichtum  als  Massenerscheinung.  Reichtum  war 
vor  hundert  Jahren  in  Deutschland  nur  bei  dem  grundbesitzenden 
Adel  zu  finden.  Dessen  Reichtum  ist  aber  (von  ganz  wenigen 
Gebieten  abgesehen)  bei  uns  niemals  ein  sehr  beträchtlicher  ge- 
wesen und  vor  allem,  er  war  in  damaliger  Zeit  gewifs  noch  ein 
vorwiegend  naturaler.  Aufserhalb  des  Adels  jedoch  gab  es  reiche 
Leute  nur  in  verschwindender  Anzahl.  Wir  dürfen  das  ohne 
weiteres  schliefsen,  wenn  wir  sehen,  dafs  noch  um  die  Mitte  des 
Jahrhunderts  ihre  Zahl  selbst  in  den  reichen  Städten  Westdeutsch- 
lands ganz  aufserordentlich  gering  ist.  Wobei  man  die  Reichtums- 
grenze sehr  niedrig  ziehen  kann:  etwa  bei  ioooo  Mark  Ein- 
kommen. Wenn  ich  sage:  es  gab  (aufserhalb  des  grundbesitzenden 
Adels)  im  Jahre  1800  keine  tausend  Personen  in  ganz  Deutschland, 
die  ein  Einkommen  von  ioooo  Mark  bezogen,  so  kann  ich  das 
ziffermäfsig  nicht  belegen.  Es  ist  ganz  freie  Schätzung.  Aber  ich 
habe  doch  einige  Anhaltspunkte.  Ich  kenne  die  Einkommens- 
verhältnisse der  1840  er  Jahre  aus  Aachen,  Köln,  Düsseldorf  und 
einigen  anderen  rheinischen  Städten,  der  1850er  Jahre  aus  Berlin, 
Breslau  und  anderen  norddeutschen  Städten,  und  diese  bieten  fol- 
gendes Bild,  dem  ich  gleich  immer  zum  Vergleich  das  Gegenwarts- 
bild gegenüberstellen  will. 3) 


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fO 


Werner  Sombart, 


In  Aachen  hatten  vor  sechzig  Jahren  nur  133  Personen  ein 
Einkommen  von  mehr  ab  2400  Thalern,  das  sich  durchschnittlich 
auf  4950  Thaler  belief.  Aachen  war  aber  damals  eine  der  reichsten 
Städte  der  preufsischen  Monarchie,  viel  reicher  als  das  gleich  zu 
erwähnende  Köln.  Trotzdem  giebt  es  heute  (1900)  schon  mehr  als 
zehnmal  so  viel  Leute  mit  jenem  Einkommen  (über  6000  Mark 
1 573),  die  etwa  das  dreifache  Gesamteinkommen  beziehen.  In 
Köln  gab  es  (1846)  nur  533  Personen  mit  einem  Einkommen 
von  mehr  als  1800  Thaler,  deren  Durchschnittseinkommen  etwa 
3000  Thaler  betrug.  1900  hatten  4233  Personen  mehr  als 

6000  Mark  Einkommen.  Und  während  die  „reichen“  Leute  im 
Jahre  1846  ein  Gesamteinkommen  etwa  4 */*  bis  5 Millionen  Mark 
zu  verzehren  hatten , verfugt  dieselbe  Kategorie  heute  über  ein 
solches  von  90  bis  100  Millionen  Mark,  es  beträgt  also  heute  das 
Durchschnittseinkommen  in  dieser  Sphäre  20  bis  2 5 ex»  Mark, 
woraus  vor  allem  auf  das  Anwachsen  und  die  Vermehrung  der 
höheren  Einkommen  zu  schliefsen  ist. 

Ueber  diese  besitzen  wir  genauere  Angaben  für  die  Zeit  nach 
1851,  d.  h.  nach  erfolgter  Reform  der  preufsischen  Einkommensteuer. 
Ich  wähle  Berlin  zum  Vergleich,  weil  sich  hier  die  Eigenart  der 
modernen  Entwickelung  wohl  am  deutlichsten  beobachten  läfst.  Im 
Jahre  1854  bezogen  in  Berlin  ein  Einkommen  von  mehr  als 
3600  Thaler  rund  1000  Personen,  denen  1900  die  13  503  Personen 
mit  mehr  als  9500  Mark  gegenüberstehen.  Mehr  als  20000  Thaler 
Einkommen  hatten  vor  fünfzig  Jahren  nur  23,  mehr  als  40000  Thaler 
gar  nur  6.  Also  in  ganz  Berlin  gab  es  damals  6 Thalermillionäre. 
Heute  (1900)  dagegen  hundertmal  mehr  (639  Personen  mit  einem 
Einkommen  von  mehr  als  100000  Mark),  während  sich  jene  23 
Anderthalbemarkmillionäre  auf  1323  vermehrt  hatten.  Welch  ein 
Szenenwechsel : das  ganze  Tiergartenviertel  ist  in  dem  letzten 
halben  Jahrhundert  aus  dem  Erdboden  gestampft ! Damab  hatte 
der  Höchstbesteuerte  auch  nur  64000  Thaler  Einkommen;  heute 
hat  er  sicher  das  fünfzehnfache  Einkommen,  denn  schon  1898 
bezog  er  2485000  bis  2490000  Mark.  Ich  sagte:  es  sei  die 
Kategorie  der  reichen  Leute  in  dem  verflossenen  Jahrhundert  den 
übrigen  Einkommensbeziehern  neu  hinzugefügt  worden.  Das  bt, 
wie  man  sieht,  richtig,  wenn  man  die  Menge  ihrer  Vertreter  in 
Rücksicht  zieht.  Da  es  ja  aber  vereinzelte  reiche  Leute  schon  vor 
hundert  Jahren  gab,  so  kann  man  die  Veränderung,  die  sich  voll- 
zogen hat,  auch  so  ausdrücken:  die  Gruppe  der  Reichen  ist  ganz 


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Beruf  und  Besitz. 


I 


gewaltig,  viel  viel  rascher,  als  irgend  eine  andere  Einkommens- 
kategorie, in  diesen  hundert  Jahren  angewachsen. 

Am  Ende  des  Jahrhunderts  giebt  es  in  Preufsen  rund  7000 
Thalermillionäre,  rund  34  OCX)  Markmillionäre  und  angehende  Thaler- 
millionäre  und  immerhin  rund  166000  Personen,  die  genug  zu 
leben  haben  (Einkommen  über  9500  Mark).  Viel  ist  es  noch  nicht, 
was  wir  an  wohlhabenden  Leuten  besitzen  (wie  die  Vergleiche  mit 
der  Gesamtzahl  der  Bevölkerung  noch  deutlicher  erkennen  lassen 
werden).  Ich  glaube  sogar,  es  giebt  in  ganz  Deutschland  noch 
keinen  einzigen  Markmilliardär,  denn  Krupp  scheint  doch  nicht 
mehr  als  etwa  200  Millionen  Mark  zu  besitzen.  Während  beispiels- 
weise Carnegie  seinen  Anteil  am  Stahltrust  mit  300  Millionen  S 
(über  1200  Millionen  Mark)  bar  ausgezahlt  erhielt. 

Eine  zweite  E genart,  die  die  heutige  Einkommensgestaltung 
zum  Unterschiede  der  früheren  aufweist,  ist  der  Ausfall  einer  Kate- 
gorie von  Einkommensempfängern  am  entgegengesetzten  Pol:  der 
ganz  Elenden  und  schlechterdings  Notleidenden.  Wie  auf  der  einen 
Seite  der  Reichtum  als  Massenerscheinung  neu  aufget'"ten  ist,  so 
ist  auf  der  anderen  Seite  das  graue  Elend  als  Massenerscheinung 
verschwunden.  Wir  besitzen  keine  Einkommensstatistik  aus  der 
früheren  Zeit.  Aber  wer  die  Schilderungen  der  zeitgenössischen 
I.itteratur  (von  der  der  Leser  in  meinem  Kapitalismus  Bd.  II 
S.  266  ein  Verzeichnis  findet)  auch  nur  anblättert,  kann  nicht 
zweifeln  daran , dafs  sich  ein  grofser  Teil  der  arbeitenden  Be- 
völkerung, ja  man  darf  vielleicht  sagen,  die  grofse  Masse  des  nie- 
deren Volkes  in  Stadt  und  Land,  zumal  während  der  1830  er  und 
1840  er  Jahren,  in  Deutschland  in  einem  Zustand  chronischer  Not 
befand.  Positiver  Mangel  am  allernotwendigsten,  Hunger  sans 
phrase  waren  die  ständigen  Begleiter  zahlreicher  Familien,  und  der 
Hungertyphus  in  Oberschlesien  und  die  Weberunruhen  sind  deut- 
liche Wahrzeichen  des  allgemeinen,  tiefen  Elends  jener  Zeit.  Man 
wird  nun  aber,  denke  ich,  noch  nicht  der  Schönfärberei  beschuldigt 
werden,  wenn  man  behauptet,  dafs  heute  von  wirklicher  Not 
weniger  zu  spüren  ist,  als  vor  fünfzig  oder  hundert  Jahren.  Was 
man  auch  so  ausdrückcn  könnte : eine  massenhafte  Besetzung  von 
Einkommensstufen  (dafs  es  vereinzelte  Fälle  schlimmster,  positiver 
Not  immer  noch  geben  wird,  ist  selbstverständlich)  beginnt  heute 
bei  einem  höheren  Einkommensbetrage,  als  ehedem : sagen  wir 
(um  eine  Zahl  zu  nennen)  bei  300,  statt  bei  150  Mark  Familien- 
einkommen. Die  ganze  Masse  der  Einkommensempfänger  ist  also 


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Werner  Sombart, 


um  ein  paar  Grade  in  die  Höhe  geschoben  und  ist  dafür  nach 
oben  hin,  wie  wir  sahen,  um  einige  Striche  über  ihr  früheres  Ende 
hinausgewachsen. 

Fragt  sich : wie  sieht  es  in  den  Mittelschichten  aus,  also  um 
wiederum  Zahlen  anzugeben:  in  den  Einkommensstufen  zwischen  300 
und  16000  Mark,  also  beim  Gros  der  Bevölkerung?  Ist  dieses  in 
seinen  Einkommensverhältnissen  wesentlich  anders  gruppiert,  als 
vor  hundert  oder  fünfzig  Jahren  ? Wohlverstanden,  die  Frage  lautet : 
haben  von  je  tausend  Personen  ebensoviel  heute  wie  damals  300 
bis  400,  500  bis  600  Mark  Einkommen  und  so  fort  ? Ich  möchte 
fast  antworten:  ja,  die  Schichtung  ist  heute  annähernd  dieselbe. 
Jedenfalls  sind  wesentliche  Verschiebungen  nicht  nachweisbar  und 
auch  wahrscheinlich  nicht  vorgekommen.  Wenn  sich  etwas  mit 
einiger  Sicherheit  aussagen  Iäfst,  so  ist  es  dieses,  dafs  die  niedrigen 
Einkommen  — unter  600  Mark  und  unter  900  Mark  — eine  Ten- 
denz zur  Verringerung  aufzeigen,  d.  h.  also,  dafs  die  Personen^  die 
solche  kleinen  Einkommen  beziehen,  von  der  Gesamtbevölkerung 
einen  immer  geringeren  Prozentsatz  bilden.  Dafür  lassen  sich 
einige  Ziffern  als  Beweis  anführen:  so  machten  beispielsweise  in 
Breslau  diejenigen  Personen,  die  ein  Einkommen  über  900  Mark 
bezogen,  im  Jahre  1858  erst  4,8  °/#,  1900  dagegen  11,8%  der  Ge- 
samtbevölkerung aus.  Nach  einer  Zusammenstellung  Ernst  Engels 
vermehrten  sich  je  100  Steuerzahler  in  Preufsen  von  1852  bis  1873 
in  der  Einkommensstufe  unter  400  Thaler  auf  122,8,  in  derjenigen 
von  400  bis  1000  Thaler  auf  175,  dagegen  in  derjenigen  über 
1000  Thaler  auf  225,7. 

Nach  einer  Berechnung  Soetbeers  wäre  diese  Abnahmetendenz 
in  den  untersten  Einkommensstufen  (bis  525  Mk.)  während  der 
1870  er  und  einem  Teil  der  1880  er  Jahre  nicht  zu  beobachten  ge- 
wesen ; im  Gegenteil : es  hätte  1 876  jene  Kategorie  von  aller- 
kleinsten Einkommenserr.pfangern  nebst  Angehörigen  nur  25,65%, 
1888  dagegen  29,20%,  1890  nur  wieder  28,62  % ausgemacht.  Sicher 
dagegen  ist,  dafs  die  Verminderungstendenz,  die  auch  Soetbeer  für 
das  Ende  der  1880er  Jahre  beobachtet,  seitdem  in  Preufsen  nicht 
wieder  stillgestanden  hat,  sondern  scheinbar  sogar  stärker  geworden 
ist.  Und  seit  1892  besitzen  wir  doch  erst  recht  eine  leidlich  brauch- 
bare Statistik.  Nach  dieser  ergiebt  sich,  dafs  1892  noch  70,27  %, 
1900  nur  noch  62,4 1 % der  Bevölkerung  ein  Einkommen  von  weniger 
als  900  Mark  bezogen.  Im  Königreich  Sachsen  bildeten  1879  die 
Personen  mit  einem  Einkommen  von  weniger  als  500  Mark  51,51 


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Beruf  und  Besitz. 


13 


1894  36,59%,  1900  nur  noch  28,29%,  diejenigen  mit  einem  Ein- 
kommen von  weniger  als  800  Mark  bezw.  in  den  genannten 
Jahren  76,39,  65,30,  55,69%.  In  Summa  ist  die  Veränderung, 
die  die  Einkommensverteilung  im  neunzehnten  Jahrhundert  erfahren 
hat.  herzlich  unbedeutend.  Von  dem  Zuwachs  an  Reichtum,  den 
wir  ja  auf  ein  Mehrfaches  des  Bevölkerungszuwachses  glaubten  an- 
setzen zu  dürfen,1)  ist  ein  Teil  verwandt,  um  Millionäre  oder  Millionärs- 
aspiranten in  gröfseren  Mengen  zu  züchten:  eine  Spezies  des  homo 
sapiens,  die  früher  nur  in  vereinzelten  Exemplaren , gleichsam  nur 
in  Probeexemplaren  vorkam;  ein  anderer  Teil  ist  dazu  benutzt 
worden,  um  die  untersten  Einkommensstufen  auszukaufen,  die  Slums 
der  Gesellschaft  zu  sanieren.  In  den  Rest  teilt  sich  die  so  viel 
stärkere  Bevölkerung  annähernd  zu  gleichen  Teilen  wie  ehedem. 

Man  wird  auch  wohl  sagen  dürfen,  die  Einkommensverteilung 
sei  heute  differenzierter  als  vor  hundert  oder  vor  fünfzig  Jahren. 
Denn  sicher  ist  zwischen  den  Aermstcn  und  den  Reichsten  heute  ein 
gröfserer  Abstand  als  damals,  nicht  etwa  weil  die  Aermsten  ärmer 
geworden  wären,  sie  sind  vielmehr  weniger  arm,  sondern  weil  die 
Reichsten  um  so  viel  rascher  an  Reichtum  gewachsen  sind. 

Aber  im  grofcen  Ganzen  ist  das  Bild , das  die  deutsche  Be- 
völkerung in  ihrer  Einkommensschichtung  darstellt , nach  wie  vor 
so  ziemlich  das  nämliche.  Es  ist  dieselbe  breite  Bettelsuppe  armer 
und  kümmerlicher  Existenzen,  auf  der  die  paar  Reichen  wie  Fett- 
augen schwimmen.  Vielleicht  ist  die  Mehlsuppe  etwas  konsistenter 
und  sicher  sind  die  Fettaugen  zahlreicher  geworden.  Oder  pafst 
der  Vergleich  etwa  nicht,  wenn  man  sieht,  daüä  in  Preufsen  (1900) 
nur  4,19  vom  Hundert  der  Gesamtbevölkerung  ein  Einkommen 
von  mehr  als  3000  Mk.  beziehen,  nur  % Prozent  aber  ein  solches 
von  mehr  als  9500  Mk.  ? 

Ich  sagte  vorhin : das  Bild,  das  uns  die  Einkommensverteilung 
gewähre,  verändere  sich , wenn  wir  — statt  den  Status  quo  ante 
mit  dem  Status  quo  hodie  zu  vergleichen  — die  Verschiebung  des 
vormaligen  Zustandes  selber  ins  Auge  fafsten.  Dann  müssen  wir 
offenbar  von  der  Annahme  ausgehen:  die  Bevölkerung  habe  sich 
während  der  letzten  hundert  Jahre  nicht  vermehrt,  und  müssen 
fragen:  was  ist  aus  den  Bewohnern  Deutschlands  vor  hundert 
Jahren  und  ihren  Nachkommen  geworden  ? Bei  dieser  Fragestellung 
ergiebt  sich,  dafs  die  Steigerung  des  Wohlstandes  in  allen  Schichten 
eine  beträchtliche  gewesen  sein  mufs.  Im  Jahre  1900  bezogen 
1 1 Millionen  in  Preufsen  ein  Einkommen  von  mehr  als  900  Mk. 


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14 


Werner  Sombart 


Das  Königreich  Preufsen  alten  Bestandes  hatte  1816  rund  io  Millionen 
Einwohner,  in  seinem  heutigen  Umfange  also  wohl  wenig  mehr 
als  1 1 Millionen.  Heute  würde  also  kein  Preufse  weniger  als 
900  Mk.  Einkommen  beziehen.  Sicher  hätten  diejenigen , die  ehe- 
dem 900  bis  3000  Mk.  bezogen,  jetzt  zwischen  3000  und  10  000  Mk., 
diejenigen , die  schon  damals  auskömmlich  zu  leben  hatten, 
würden  jetzt  ein  reichliches  Einkommen  (über  toooo  Mk.)  be- 
ziehen u.  s.  w. 

Diese  Fiktion  bedeutet  mehr  als  eine  Spielerei.  Nicht  nur. 
dals  sie  uns  die  Leistungen  des  Jahrhunderts  klar  machen  hilft 
Sie  giebt  uns  auch  die  Handhabe , um  für  eine  ganze  Reihe  von 
Fällen  die  tatsächlichen  Wandlungen  richtig  zu  beurteilen.  Das 
sind  diejenigen  Fälle , in  denen  die  Einkommensbezüge  gleichsam 
schematisch  mit  dem  steigenden  Wohlstände  gewachsen  sind.  Also 
namentlich  bei  den  besoldeten  Berufen.  Diese  haben  thatsächlich 
während  des  neunzehnten  Jahrhunderts  eine  Veränderung  in  ihrer 
Lage  erfahren , wie  ich  sie  eben  für  die  (als  stabil  fingierte)  Ge- 
samtbevölkerung andeutete : was  ehemals  dürftig  lebte,  lebt  jetzt  in 
bescheidenen  aber  leidlichen  Verhältnissen ; wer  früher  ein  beschei- 
denes Einkommen  hatte,  bezieht  jetzt  ein  auskömmliches  u.  s.  w. 
Ganz  interessante  Studien  lassen  sich  z.  B.  über  die  materielle 
Lage  der  Volksschullehrer  heute  und  vor  hundert  Jahren  anstellen. 
Wir  besitzen  eine  genaue  Uebersicht  über  die  Gehaltsbezüge  der 
kurmärkischen  Landschullehrer  um  das  Jahr  1 800  (vgl.  Krug, 
Nationalreichtum  2,  495).  Daraus  ergiebt  sich , dafs  der  Höchst- 
gehalt 250  Thaler  betrug.  Diesen  erreichten  jedoch  von  insgesamt 
1650  Lehrern  noch  nicht  3 (die  220  bis  250  Thaler  „jährliche 
Einkünfte“  — also  wohl  cinschliefslich  der  Naturalbezüge?  — 
hatten),  nur  weitere  2 hatten  ein  Einkommen  aus  ihrer  Stelle  von 
mehr  als  200  Thaler.  195  insgesamt  bezogen  mehr  als  100  Thaler, 
1455  Lehrer  also  hatten  weniger  als  100  Thaler  Gehalt,  421  zwischen 
20  und  40  Thaler,  236  zwischen  10  und  20  Thaler,  184  zwischen 
5 und  10  Thaler.  Demgegenüber  ist  festzustellen,  dafs  im 
Jahre  1896  das  durchschnittliche  Gesamteinkommen  der  Land- 
schullehrer in  der  Provinz  Brandenburg  1395  Mk.,  also  465  Thaler 
betrug ! 

Derselbe  Gewährsmann  berichtet  uns,  dafs  in  Schlesien  durch 
den  Studien-  und  Erziehungsplan  von  1801  jedem  katholischen 
I .andschullehrer,  der  im  Seminarium  gewesen  war,  jährlich  als  Mini- 
mum seines  Einkommens  versprochen  (!)  wurde: 


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Beruf  und  Besitz. 


5 


50  Thaler  bar  Geld : 

1 5 Scheffel  Getreide ; 

3 Scheffel  Küchenspeise; 
frei  Holz  und  Wohnung; 

1 Scheffel  Aussaat  an  Gartenland; 

Gräserei  für  2 Stück  Rindvieh  und  I Stück  Schwarzvieh. 

Wie  man  sieht,  wurde  als  selbstverständlich  angenommen,  dal's 
der  Volksbildner  nebenher  Landwirtschaft  betrieb.  Im  Jahre  1896 
betrug  das  durchschnittliche  Gesamteinkommen  für  Landschullehrer 
in  Schlesien  1287  Mk. 

Ganz  analoge  Vergleiche  liefsen  sich  für  die  meisten  übrigen 
Beamtenkategorien  anstellen. 

Wie  man  schon  aus  diesen  wenigen  Andeutungen,  die  ich  über 
die  Einkommensverteilung  im  neunzehnten  Jahrhundert  gemacht 
habe,  ersehen  haben  wird,  sieht  sich  die  Sache  ganz  anders  an,  je 
nach  dem  Standpunkte,  von  dem  aus  man  sie  betrachtet.  Das  hat 
es  bewirkt,  dafs  in  der  Diskussion  über  dieses  Problem  die  ver- 
schiedensten und  häufig  entgegengesetzte  Meinungen  vertreten  sind, 
und  zwar  zweifellos  in  vielen  Fällen  mit  vollem  Recht. 

Sagt  einer:  die  pekuniäre  Lage  der  Volksschullehrer  ist  heute 
zehnmal  günstiger  als  vor  hundert  Jahren,  so  ist  das  richtig;  sagt 
einer:  die  arbeitenden  Klassen  beziehen  heute  durchschnittlich  ein 
höheres  Einkommen  als  vor  hundert  Jahren,  so  ist  das  richtig; 
sagt  einer:  der  gesteigerte  Wohlstand  ist  vornehmlich  den  Reichen 
zugute  gekommen,  so  ist  das  richtig;  sagt  einer:  die  Einkommens- 
verteilung ist  heute  ungleicher  als  vor  hundert  Jahren,  so  ist  das 
richtig;  sagt  einer:  die  ganze  ökonomische  Entwicklung  ist  für  die 
Katze  gewesen,  denn  im  grofsen  Ganzen  lebt  die  Menge  heute  noch 
ebenso  kümmerlich  wie  ehedem , oder  auch : denn  es  giebt  heute 
viel  mehr  armselige  Existenzen  (sage  Leute  mit  weniger  als  900  Mk. 
Einkommen),  so  ist  das  richtig.  Und  so  liefsen  sich  die  richtigen, 
sich  scheinbar  widersprechenden  Urteile  noch  nach  Belieben  ver- 
mehren. Je  nach  dem  gröfseren  oder  geringeren  Taschenspicler- 
geschick  kann  man  die  Dinge  genau  in  der  Gestaltung  zeigen,  wie 
man  es  für  den  gerade  vorliegenden  Zweck  möchte.  Nur  freilich 
sind  in  der  Hitze  des  Gefechts  einige  Irrtümcr  untergelaufen,  die 
sich  im  I.aufe  der  Zeit  zu  hartnäckigen  Irrlehren  ausgewachsen 
haben  und  die  ich  doch  wenigstens  registrieren  will.  Also:  I.  Es 
ist  sicher  nicht  wahr,  dafs  die  Armen  ärmer  geworden  sind;  im 
Gegenteil : die  Aermsten  sind  heute  „reicher“  als  vor  hundert  Jahren, 


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Werner  Sombart, 


ganz  gleich  ob  man  die  ärmsten  Hunderttausend  oder  die  ärmsten 
Zehnmillionen  nimmt. 

2.  Es  ist  sicher  nicht  wahr,  dafs  die  mittleren  Schichten  des 

Einkommens  — sage  zwischen  900  und  3000  Mk.  — schwächer 
geworden  seien:  im  Gegenteil:  sie  werden  (durch  raschen  Zuzug 
von  unten)  immer  kräftiger.  So  waren  in  diesen  Schichten  in 
Preufsen  1892  bis  1893  81,89%,  *9°°  dagegen  87,47%  aller 

Zensiten  veranlagt;  im  Königreich  Sachsen  stieg  ihre  Zahl  (800 
bis  3300  bezw.  3400  Mk.)  von  20,94  % im  Jahre  1879  auf  31,14*/,, 
im  Jahre  1894  und  40,35  % im  Jahre  1900;  in  Bremen  machten 
die  Steuerzahler  zwischen  1500  und  3000  Mk.  Einkommen  1874 
12,89%,  '895  14,32%  aus;  in  Hamburg  bezogen  1895  (vorher 
nicht  vergleichbar)  zwischen  1000  und  2000  Mk.  Einkommen 
39,85%,  1899  dagegen  52,21%  aller  Zensiten  u.  s.  vv.  Diese  Ziffern 
sind  für  denjenigen  nicht  auffallend,  der  weifs,  dafs  eine  der  Eigen- 
arten der  kapitalistischen  Entwickelung  gerade  darin  besteht, 
Existenzen  mit  einem  mittleren  Einkommen  in  unübersehbarer 
Fülle  ins  Leben  zu  rufen : kleinkapitalistische  Unternehmer,  hoch- 
gelohnte Qualitätsarbeiter,  höhere  Angestellte,  Agenten,  besser 
situierte  Ladeninhaber,  Wirte  u.  dgl. 

3.  Es  ist  sicher  nicht  wahr,  dafs  die  Zahl  der  Reichen  immer 
mehr  zusammenschrumpfe;  im  Gegenteil:  man  mag  die  Grenze 
ziehen,  wo  man  will:  bei  10000,  20000,  50000,  100000  Mk.: 
immer  wird  das  Ergebnis  sein,  dafs  die  Leute  mit  derartigen  Ein- 
kommen sich  rascher  vermehren,  als  irgend  eine  andere  Spezies  der 
Einkommensbezieher.  Und  sich  vermehren  gerade  etwa  im  Ver- 
hältnis zu  dem  Anwachsen  des  von  ihnen  zusammen  bezogenen 
Einkommens,  so  dafs  also  jeder  von  ihnen  immer  gleich  reich  im 
Durchschnitt  bleibt.  Greifen  wir  — zum  Beweis  — das  reiche 
Hamburg  heraus  und  zwar  gerade  die  Aufschwungsperiode  1895 
bis  1899.  Da  hatten  1895  ein  Einkommen  zwischen  10000  und 
25000  Mk.  3443  Personen,  1899  schon  4082.  Jene  bezogen 
zusammen  53,5  Millionen  Mark,  diese  63,1  Millionen  Mark,  jene 
hatten  also  ein  Durchschnittseinkommen  von  15853  Mark,  diese 
von  15  750  Mark.  Zwischen  25000  und  50000  Mark  lag  das 
Einkommen  1895  von  1054,  1899  von  1322  Hamburgern;  jenen 
fielen  insgesamt  36,9  Millionen  Mark , diesen  46,0  Millionen 
Mark  jährlich  in  den  Schofs,  dem  einzelnen  also  1895  35  987  Mark, 
1899  nur  noch  35384  Mark.  Zwischen  50 000  und  100000  Mark 
Einkommen  bezogen  1895  484  Personen,  1889  585;  das  Gesamt- 


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Beruf  und  Besitz. 


«7 


einkommen  dieser  besser  situierten  Leute  betrug  im  einen  Falle 
33,i  Millionen  Mark,  im  anderen  40,4  Millionen  Mark.  Durch- 
schnittseinkommen 68390  Mark  und  69060  Mark.  Endlich 
lebten  in  guten  Vermögensverhältnissen  (mehr  als  100000  Mark 
Einkommen)  in  den  beiden  Jahren  2;o  bezw.  31 1 Personen. 
Sie  vereinnahmten  durchschnittlich  2 10  000  bezw.  219646  Mark. 
Mit  „der  beständig  abnehmenden  Zahl  der  Kapitalmagnaten“  ist 
cs  also  ein-  für  allemal  nichts:  man  mag  die  Ziffern  der  Statistik 
drehen  und  wenden , wie  man  will.  Je  näher  wir  dem  Moment 
des  „Zusammenbruchs“  des  kapitalistischen  Wirtschaftssystems 
kommen,  desto  mehr  „Expropriateurs"  wimmeln  herum.  Das  Ge- 
schäft der  „Expropriation“  wird  immer  schwieriger  werden ! 

Hat  nun  die  Einkommensstatistik  schon  genug  Unfug  ange- 
richtet bei  der  Aufstellung  von  allgemeinen  Theorieen  der  ökono- 
mischen Entwickelung,  so  ist  sie  gar  verhängnisvoll  geworden  für 
alle  Sozialethiker,  d.  h.  für  diejenige  Spezies  von  Nationalökonomen 
die  es  nicht  lassen  können,  die  Bilanz  eines  Wirtschaftssystems  zu 
ziehen  und  irgend  einen  Debet-  oder  Credit-Saldo  herauszurechnen. 
Man  hat  sowohl  zur  Verherrlichung  als  zur  Verunglimpfung  des 
Kapitalismus  gleichcrmafsen  die  Entwickelung  der  Einkommensver- 
teilung herangezogen,  und  seit  Jahrzehnten  kommt  regelmäfsig  alle 
paar  Jahre  ein  Buch  heraus,  welches  ziffermäfsig  nachweist,  dafs 
das  kapitalistische  Wirtschaftssystem  in  der  Wurzel  faul  sei:  Be- 
weis, die  zunehmende  Ungleichheit  der  Vermögensverteilung;  wo- 
durch dann  einer  Gegenschrift  zum  Leben  vcrholfen  wird,  in  der 
zu  lesen  steht : im  Gegenteil,  das  herrschende  Wirtschaftssystem  ist 
das  beste  aller  Wirtschaftssysteme : Beweis,  die  Hebung  der  unteren 
Volksklassen  u.  s.  w. 

Ist  es  nun  schon  (nach  meiner  Meinung)  im  allgemeinen 
unstatthaft  und  der  Wissenschaft  unwürdig,  sich  an  solchen  Kanne- 
gietsereien:  ob  es  in  der  Welt  immer  besser  oder  immer  schlechter 
werde,  zu  beteiligen,  so  ist  es  geradezu  gefährlich,  als  Waffe  in 
diesem  Meinungskampfe  sich  der  Einkommensstatistik  zu  bedienen, 
was  ich  doch  noch  mit  einigen  Worten  dartun  möchte. 

Zum  ersten : wenn  man  die  Frage  entscheiden  will , ob  ein 
Wirtschaftssystem  günstig  oder  ungünstig  auf  die  Einkommensver- 
teilung eingewirkt  habe , so  wird  sich  der  klaren  Beantwortung 
entgegenstellen,  dafs  während  des  Zeitraums,  dessen  Ende  und 
dessen  Anfang  man  ins  Auge  fafst,  eine  Veränderung  im  Stande 
der  Bevölkerung  Platz  gegriffen  hat.  Was  verlangt  man  denn 

Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  2 


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i8 


Werner  Sombart, 


von  einem  Wirtschaftssysteme:  dafs  es  eine  vermehrte  Bevölkerung 
ebenso  gut  ernähre  wie  die  vorher  kleinere  Menge?  oder  dafs  es 
nur  der  anfangs  vorhandenen  Bevölkerung  ein  gleiches  Auskommen 
ermögliche?  Zumal  für  das  neunzehnte  Jahrhundert  ist  diese 
Frage , wie  ersichtlich , von  besonderer  Bedeutung , für  ein  Jahr- 
hundert, in  dem  sich  die  Bevölkerung  in  Deutschland  verdoppelt 
hat.  Ich  meine  nun : wenn  ein  Wirtschaftssystem  es  fertig  bringt, 
die  doppelte  Anzahl  Einwohner  eines  Landes  nicht  nur  ebenso 
reichlich,  sondern  reichlicher  mit  „Glücksgütern"  auszustatten,  wenn 
es  ihm  — in  Ziffern  gesprochen  — gelingt , dreifsig  Millionen 
Menschen  mehr  zu  erhalten,  ohne  das  Existenzniveau  der  grolsen 
Massen  wesentlich  zu  senken,  so  ist  dieses  eine  Leistung,  die 
beispiellos  in  der  Geschichte  dastcht.  Ich  mufs  sagen,  dafs  diese 
That  für  mich  an  das  Wunderbare  grenzt,  und  dafs  ich  — wenn 
ich  lediglich  die  Entwickelung  des  Reichtums,  auch  des  Teils  des 
Reichtums,  der  auf  die  niederen  Volksschichten  entfällt,  ins  Auge 
fasse  — die  Bastiat  und  Genossen  verstehe,  wenn  sie  die  kapita- 
listische Ordnung  der  Dinge  als  die  von  Gott  in  eigener  Person 
gesetzte  Ordnung  ansahen.  Dafs  heute  in  Deutschland  nicht  Jahr 
für  Jahr  ein  paarmal  hunderttausend  Menschen  Hungers  sterben, 
ist  geradezu  erstaunlich  und  der  höchsten  Bewunderung  wert.  Es 
ist  seltsam,  dafs  man  immer  gerade  aus  der  ungünstigen  Ent- 
wickelung der  Einkommensverteilung  dem  Kapitalismus  den  Strick 
hat  drehen  wollen.  Ich  kann  mir  denken,  dafs  man  ohne  viel 
Mühe  ein  Sündenregister  des  Kapitalismus  zusammenstellt,  grofs 
genug,  um  gegen  dieses  Wirtschaftssystem  in  manchem  Herzen  Ab- 
scheu und  Hafs  zu  erzeugen.  Er  hat  uns  die  Masse  gebracht,  er 
hat  unser  l.eben  der  inneren  Ruhe  beraubt,  er  hat  uns  der  Natur 
entfremdet,  er  hat  uns  den  Glauben  unserer  Väter  geraubt,  indem 
er  die  Welt  in  ein  Rechenexempel  auflöstc  und  eine  Ueberwertung 
der  Dinge  dieser  Welt  in  uns  wach  rief,  er  hat  die  grofse  Masse 
der  Bevölkerung  in  ein  sklavenartiges  Verhältnis  der  Abhängigkeit 
von  einer  geringen  Anzahl  von  Unternehmern  gebracht.  Aber 
dafür  hat  er  eines  gerade  in  bewundernswürdiger  Weise  geleistet : 
er  hat  eine  riesig  angewachsene  Menschenmenge  auf  das  beste  zu 
sustentieren  vermocht,  er  hat  gerade  das  Futtcrproblem  meisterhaft 
gelöst,  besser  als  irgend  eine  Wirtschaftsverfassung  vor  ihm. 

Stellt  man  sich  auf  den  Standpunkt  der  reinen  Quantität 
— und  fast  alle  Beurteiler  stehen  auf  ihm  — so  ist  der  Kapitalis- 
mus thatsächlich  mit  einem  Glorienscheine  umgeben,  aus  dem  sich 


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Beruf  und  BesiU. 


19 

mit  flammender  Schrift  die  Worte  abheben : Dreifsig  Millionen 
Menschen  mehr! 

Nun  ist  aber  das  andere  Bedenken,  das  jeder  Versuch  erweckt, 
aus  den  Ziffern  der  Einkommensstatistik  Material  für  die  Wertung 
eines  Wirtschaftssystems  zu  gewinnen,  dieses : dafs  die  Zahlen,  weil 
rein  quantitativ  bestimmt,  sich  so  vorzüglich  zum  Abmessen  zu 
eignen  scheinen  und  doch  in  Wirklichkeit  diese  Eignung  nicht 
besitzen.  Denn  wir  dürfen  nicht  vergessen,  dafs  hinter  den  kommen- 
surabeln  Zahlengröfeen  die  völlig  unmefsbaren  Qualitäten  der  subf 
jektiven  Bedarfsbefriedigung  stehen. 

Es  mufs  dringend  vor  dem  Irrtum  gewarnt  werden:  man 
könne  nach  irgend  einem  Umrechnungsschematismus  schliefslich 
doch  zu  reinen  Quantitäten  der  Bedarfsbefriedigung  gelangen ; oder 
man  dürfe  etwa  den  Brotpreis  oder  den  Preis  sonst  eines  einzelnen 
Konsumartikels  zu  Grunde  legen,  um  daraufhin  die  Bedeutung 
eines  bestimmten  Einkommens  in  verschiedenen  Zeiten  zu  ermessen. 
Nein,  es  bleibt  bei  der  absoluten  Unvergleichbarkeit,  denn  die  un- 
wägbaren und  unmefsbaren  Umstände  bei  der  Verwendung  des 
Einkommens  sind  das  Entscheidende.  Die  Lage  des  Städters  oder 
des  Landbewohners,  des  Konsumenten  von  Mehlsuppe  oder  Kar- 
toffeln, von  Schnaps  oder  Zeitungen,  von  Wolle  oder  Baumwolle 
ist  eine  so  grundverschiedene,  dafs  man  sie  niemals  in  ein  reines 
Quantitätsverhältnis  zu  einander  stellen  kann.  Wie  will  man  fest- 
stellen, ob  IOOO  Mark  Einkommen  in  der  kleinen  Stadt  vor  hundert 
Jahren  und  IOOO  Mark  Einkommen  heute  in  der  (irofsstadt 
mehr  oder  weniger  für  den  einzelnen  bedeuten?  Was  nützt  es  zu 
sagen:  damals  kostete  das  Brot  soviel,  heute  soviel?  Jener  afs  ja 
Roggenbrot,  dieser  ifst  Weizenbrot;  jener  afs  früh  Mehlsuppe,  dieser 
trinkt  Kaffee  mit  Zucker  und  Milch;  jener  hatte  eine  gleich  grofse 
Wohnung  wie  dieser  zum  halben  Preise,  auch  noch  ein  Gärtchen 
vor  dem  Hause,  während  dieser  im  Hof  vier  Treppen  hoch  wohnt. 
Aber  dafür  bekommt  der  Grofsstädter  mit  einem  Einkommen  von 
1000  Mark  viel  billigere  Hemden  (wenn  sie  auch  nicht  mehr  so 
lange  halten),  gut  gebrautes  Bier,  den  „Vorwärts"  und  alle  Sonntage 
Freikonzert  für  sein  Geld,  kann  auch  ein  paarmal  in  der  Woche 
in  der  Strafsenbahn  fahren  und  kann  zehnmal  so  viel  Briefe  für 
den  gleichen  Portobetrag  absenden.  Seine  Kinder  werden  ihm 
gratis  unterrichtet,  während  sein  Vorgänger  vor  hundert  Jahren 
sich  ein  Schwein  mästen  konnte;  nachts  wenn  er  betrunken  aus  der 
Kneipe  kommt,  läuft  er  nicht  Gefahr,  im  Sumpfe  stecken  zu  bleiben, 

2* 


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20 


Werner  Sombart,  Beruf  und  Besitz. 


denn  die  Strafsen  sind  wohlgepflastert  und  gut  beleuchtet,  während 
der  Kleinstädter  vor  hundert  Jahren  doppelt  so  viel  Fleisch  essen 
konnte  und  halb  so  viel  Steuern  zahlte.  Wer  hat  denn  nun  mehr? 

Die  blofse  Zahl  besagt  noch  gar  nichts;  erst  was  dahinter 
steckt,  giebt  uns  Aufklärung  über  Wesen  und  Wert  einer  wirtschaft- 
lichen Kultur,  und  deshalb  scheint  mir  auch,  als  sei  (dank  der  all- 
gemeinen , auf  quantitative  Betrachtungsweise  gerichteten  Zeit- 
tendenz)1)  der  Erörterung  der  Einkommensverteilung  in  der  Dis- 
kussion über  das  Wesen  und  den  Wert  der  wirtschaftlichen  Ent- 
wickelung oft  ein  zu  breiter  Raum  angewiesen  worden.  Ich  will 
einmal  geradezu  sagen : es  ist  für  die  Beurteilung  eines  gesell- 
schaftlichen Zustandes  sehr  wenig  bedeutungsvoll,  ob  eine  Gruppe 
von  Personen  1000  oder  2000  Mark  Einkommen  bezieht,  ob  sich 
ihr  Einkommen  gesteigert  oder  verringert  hat,  solange  ich  von 
den  sonstigen  Veränderungen,  von  den  veränderten  Qualitäten  nichts 
weifs.  Selbstverständlich  (aber  das  meine  ich  gar  nicht)  vom  all- 
gemein menschlichen  Standpunkte  aus.  Aber  auch  in  rein  ökono- 
misch-sozialer Betrachtungsweise,  wie  aus  den  eben  gemachten  An- 
deutungen ohne  weiteres  hervorgeht.  Und  deshalb  wird  man  auch, 
wenn  man  die  Veränderungen  untersucht,  denen  die  Schichtung 
einer  Gesellschaft  unterworfen  worden  ist,  sein  Augenmerk  nicht 
sowohl  auf  die  Verschiebungen  in  der  Einkommensverteilung  richten 
müssen,  als  vielmehr  auf  die  Veränderungen  der  Lage  in  quali- 
tativer Hinsicht.  Sie  werden  die  eigenartige  Struktur  einer  Gesell- 
schaft viel  besser  zum  Ausdruck  bringen,  als  jene  rein  quantitativen 
Verschiebungen. l) 

*)  Dieser  Aufsatz  gehört  in  einen  gröfseren  Zusammenhang.  Wenn  daher  ein- 
zelne Aussagen  unverständlich  bleiben,  so  wird  der  Leser  gebeten,  sich  den  ge- 
wünschten Aufschlui's  zu  holen  in  meinem  demnächst  (im  Verlage  von  Georg  Bondi, 
Berlin)  erscheinenden  Buche:  „Die  deutsche  Volkswirtschaft  im  19.  Jahrhundert.“ 

*)  Für  die  Gedankengänge  auf  der  Seite  5 flf.  sind  zur  Ergänzung  heranzu- 
ziehen die  einschlägigen  Kapitel  in  meinem  „Kapitalismus“  im  1.  und  2.  Bande. 
Auch  sind  zu  vergleichen  meine  Aufsätze  in  diesem  „Archiv“  Band  XIV*. 

s)  Vgl.  hierzu  meinen  Kapitalismus  Band  II  Kapitel  13. 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  *) 

Von 

Dr.  F.  SCHÜLER, 

ehern,  schweizerischen  Fabrikinspektor. 

Es  ist  ein  Vierteljahrhundert  vorübergegangen,  seit  das  heute 
noch  unverändert  zu  Recht  bestehende  schweizerische  Fabrikgesetz 
geschaffen  worden.  Schon  in  den  ersten  Jahren  seiner  Existenz 
sind  ihm  allerlei  Mängel  vorgeworfen  worden  und  man  hat  seine 
Revision  verlangt  Die  dahin  zielenden  Wünsche  sind  nie  ganz 
verstummt.  Sowohl  Freunde,  als  geheime  oder  offene  Gegner  eines 
ausgiebigen  Schutzes  der  industriellen  Arbeiterschaft  haben  sie  vor- 
gebracht. Die  im  Laufe  der  Jahre  gemachten  Erfahrungen  haben 
gezeigt,  dafs  in  der  That  sowohl  das  Gesetz  selbst,  als  die  Art  seiner 
Ausführung  manches  zu  wünschen  übrig  lasse.  Dies  wurde  auch 
von  allen  Behörden  und  Amtsstellen  anerkannt,  die  mit  dem  Ge- 
setzesvollzug sich  zu  beschäftigen  hatten. 

Der  Bundesrat  hat  sich  immerwährend  bemüht , bestehende 
Lücken  aaszufüllen,  Mangelhaftes  im  Sinn  und  Geist  des  Gesetz- 
gebers von  1877  zu  beseitigen  oder  zu  ergänzen.  Er  that  dies  durch 
eine  möglichst  extensive,  aber  stets  gewissenhaft  den  Wortlaut  des 
Gesetzes  respektierende  Interpretation  seiner  Vorschriften.  Wo 

')  Der  hier  mitgeteilte  Aufsatz  ist  weder  offizieller,  noch  auch  nur  offiziöser 
Natur,  sondern  eine  ganz  private  Ansich tsäufserung,  welche  sich  auf  die  Erfahrungen 
von  einigen  dreifsig  im  Dienst  der  Fabrikinspektion  zugebrachten  Jahren  stützt. 
F.r  bezweckt,  die  baldige  Revision  des  bestehenden  Gesetzes  anzuregen  und  zu  einer 
möglichst  allgemeinen  und  gründlichen  Diskussion  der  vorzunehmenden  Acnderungen 
den  Anstofs  zu  geben.  Eine  Neugestaltung  des  Gesetzes  hat  allerdings  vom  Bundesrat 
und  der  Bundesversammlung  auszugehen,  aber  mit  dem  Volksentscheid  zu  rechnen. 
Bei  der  ungeheuren  Verschiedenheit  der  Anschauungen  und  Interessen  mufs  mit  aller 
Vorsicht  vorgegangen  und  nicht  allzuviel  auf  einmal  in  Angriff  genommen  werden, 
wenn  man  auf  Gelingen  hoffen  will. 


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22 


F.  Schüler, 


Zweifel  darüber  erhoben  wurden,  haben  die  eidgenössischen  Räte 
sein  Vorgehen  als  ein  korrektes  anerkannt.  Der  Dank,  den  er  dafür 
erntete,  war  ein  geringer.  Während  ihm  von  der  einen  Seite  der 
Vorwurf  zu  geringer  Energie,  des  Mangels  an  Arbeiterfreundlichkeit 
gemacht  wurde,  beschuldigte  man  ihn  von  der  anderen  Seite  der 
Kompetenzüberschreitung,  der  einseitigen  Förderung  der  Arbeiter- 
interessen. Will  der  Bundesrat  wirkliche  Fortschritte  in  der  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung erzielen,  soll  unser  Land,  das  so  lange  sich 
rühmte,  auf  diesem  Gebiete  zu  den  fortgeschrittensten  Völkern  zu 
gehören,  nicht  gegenüber  vielen  anderen  Zurückbleiben  und  sollen 
die  angestrebten  Verbesserungen  unserer  Gesetzgebung  wirklich 
einen  festen  Halt  gewinnen,  bleibt  wohl  nichts  anderes  übrig,  als 
eine  Revision  unseres  F'abrikgesetzes,  welche  alle  streitigen  oder  neu 
auftauchenden  Fragen  zur  allgemeinen  Diskussion  stellt  und  für  ein 
neu  zu  schaffendes  Gesetz,  das  die  Unklarheiten  des  bisherigen  be- 
seitigt, Unzweckmäfsiges  ändert  und  Notwendiges  beifügt,  die  Ge- 
nehmigung der  höchsten  Instanz,  des  Schweizervolkes  einholt. 

Die  Verbesserungsbedürftigkeit  des  1877  er  Gesetzes  ist  vom 
Bundesrat  durch  verschiedene  Mafsnahmen  thatsächlich  anerkannt. 
Die  Berichte  einzelner  Kantonsregierungen  über  den  Vollzug  des 
Fabrikgesetzes,  ihre  Motivierungen  des  Erlasses  kantonaler  Arbeiter- 
schutzgesetze zeigen  deutlich  genug,  dafs  auch  sie  verschiedener 
Mängel  bewufst  sind.  Die  Fabrikinspektoren  haben  seit  Jahren  auf 
eine  Reihe  von  Punkten  hingewiesen,  wo  nach  ihren  Erfahrungen 
eine  bessernde  Hand  angelegt  werden  sollte.  Sie  halten  es  für 
dringend  notwendig,  dafs  damit  nicht  länger  gezögert  werde. 

Im  Jahre  1877  glaubte  man  noch,  allen  Anforderungen  an  den 
Schutz  der  Arbeiter  genügt  zu  haben,  wenn  man  ein  Fabrik- 
gesetz  schuf.  Das  war  kaum  zu  bedauern.  Eine  noch  weiter  in 
das  gewerbliche  Leben  eingreifende  Gesetzgebung  hätte  nicht  die 
mindeste  Aussicht  auf  Annahme  gehabt.  Ein  umfassenderes  Gesetz 
hätte  sich  auch  nicht  so  bald  und  so  vollständig  eingelebt,  wie  das 
F'abrikgesetz  es  gethan  hat.  Die  Durchführung  wäre  eine  weit 
schwierigere  gewesen,  wenn  kompliziertere  Verhältnisse  hätten  be- 
rücksichtigt werden  müssen1.  Aber  mit  der  Zeit  tauchte  immer 
mehr  die  Frage  auf:  warum  soll  denn  nur  der  Arbeiter  in  der  Fabrik 
geschützt  sein,  nicht  aber  derjenige,  der  in  einem  Kleinbetriebe  oder 
in  der  Hausindustrie  genau  die  gleiche  Arbeit  verrichtet?  Die  un- 
gleiche Behandlung  wurde  um  so  schwerer  empfunden,  als  der  eine 
Entschädigung  bei  gewerblichen  Unfällen  beanspruchen  konnte,  der 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


23 


andere  nicht.  Man  hat  dem  Vorwurf  der  Ungleichheit  vor  dem 
Gesetz  wenigstens  einigermafsen  zu  begegnen  gesucht,  indem  man 
die  Haftpflicht  auf  weitere  Kreise  ausdehnte.  Der  Entwurf  eines 
Kranken-  und  Unfallversicherungsgesetzes  hat  möglichste  Gleichheit 
herbeizuführen  getrachtet;  sein  böses  Schicksal  ist  bekannt. 

Mit  jedem  Jahr  mehren  sich  die  Stimmen,  welche  den  Schutz, 
den  das  Gesetz  den  Fabrikarbeitern  gewährt,  auch  auf  andere  Kate- 
gorieen  von  Arbeitern  ausgedehnt  wissen  möchten.  Wie  weit  man 
damit  gehen  solle  oder  könne,  darüber  gehen  die  Ansichten  sehr 
auseinander  und  nicht  minder  darüber,  in  welcher  Weise  dies  ge- 
schehen sollte.  Wo  irgend  die  Frage  ernstlich  diskutiert  wurde, 
vermied  man  es,  von  einer  gesetzlichen  Regelung  der  Verhältnisse 
der  land-  und  forstwirtschaftlichen  Arbeiterschaft  zu  sprechen.  Man 
hatte  in  der  Regel  nur  die  industriellen  Lohnarbeiter  im  Auge,  so- 
wie die  des  Handels-  und  Wirtschaftsgewerbes.  Eine  Besprechung 
weiter  gehender  Wünsche  hätte  wohl  hier  keinen  Zweck.  Es  wird 
schwierig  genug  sein,  die  Frage  des  Schutzes  der  vorerwähnten 
Lohnarbeitergruppen  zu  einer  dem  Schweizervolk  genehmen  und 
doch  alle  berechtigten  Ansprüche  befriedigenden  Lösung  zu  bringen. 

Man  ist  in  den  verschiedenen  Ländern  bei  der  Schaffung  von 
Arbeiterschutzgesetzen  sehr  ungleich  vorgegangen.  Einzelne  der- 
selben haben  die  bezüglichen  Bestimmungen  als  Bestandteile  einer 
umfassenden  Gewerbegesetzgebung  behandelt.  Eine  Menge  Aus- 
nahmen von  deren  allgemein  gehaltenen  Vorschriften  sind  notwendig 
geworden.  Die  Gesetzgebung  ist  auch  so  kompliziert  ausgefallen, 
dals  der  Mann  aus  dem  Volke  sich  nicht  so  leicht  darin  zurecht 
findet  In  anderen  lindern  hat  man  sich  von  Anfang  an  auf  eine 
bestimmte  eng  begrenzte  Aufgabe  beschränkt  und  ist  nur  ganz 
allmählich  weiter  gegangen.  So  machte  es  England,  welches  seiner 
Zeit  die  wirksamsten  Anregungen  und  das  Vorbild  für  unser  eid- 
genössisches Fabrikgesetz  geliefert  hat  Der  englische  Gesetzgeber 
Wulste  wohl,  dafs  nicht  alles  nach  der  gleichen  Schablone  behandelt 
werden  könne.  Er  pafste  die  Gesetze  den  Bedürfnissen  der  ein- 
zelnen Industriegruppen  an  und  fafste  von  Zeit  zu  Zeit  verallgemei- 
nernd zusammen,  was  allgemein  pafste. 

Bei  uns  hat  man  vielfach  den  Wunsch  aussprechen  gehört,  dafs 
das  Fabrikgesetz  einfach  auf  weitere  Kreise  ausgedehnt  werde. 
Dies  wäre  allerdings  der  kürzeste  Weg,  einer  weit  grölseren  Arbeiter- 
zahl gesetzlichen  Schutz  angedeihen  zu  lassen.  Der  Bundesrat  hat 
ihn  auch  betreten,  soweit  dies  irgend  zulässig  war.  Dafür  zeugt 


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24 


F.  Schüler, 


die  in  weit  höherem  Grad,  als  das  Wachsen  der  Industrie  bedingte, 
angewachsene  Zahl  der  unter  dem  Fabrikgesetz  stehenden  Betriebe 
und  Arbeiter.  Weiter  zu  gehen,  als  jetzt  schon  geschehen,  dürfte 
nach  der  Ansicht  vieler  kompetenten  Leute  kaum  möglich  sein.  Es 
wird  zwar  behauptet,  der  zweite  Satz  von  Art.  34  der  Bundes- 
verfassung, „ebenso  ist  der  Bund  berechtigt,  Vorschriften  zum  Schutze 
der  Arbeiter  gegen  einen  die  Gesundheit  und  Sicherheit  gefährdenden 
Gewerbebetrieb  zu  erlassen“,  sich  auf  den  Betrieb  jedes  beliebigen 
Gewerbes  beziehe,  obschon  der  erste  Satz  lautet : „der  Bund  ist  be- 
fugt, einheitliche  Bestimmungen  über  die  Verwendung  von  Kindern 
in  den  Fabriken  und  über  die  Dauer  der  Arbeit  erwachsener  Per- 
sonen in  denselben  aufzustellen.“  Es  mag  anderen  die  Erörterung 
überlassen  bleiben,  ob  eine  solche  Interpretation  des  Verfassungs- 
artikels richtig  ist;  ich  begnüge  mich  mit  der  Beantwortung  der 
Frage,  ob  denn  wirklich  eine  richtige  Durchführung  der  jetzt  be- 
stehenden fabrikgesetzlichen  Bestimmungen  möglich  wäre,  wenn 
diese  auf  alle,  auch  die  kleinsten  Betriebe  angewendet  würden, 
deren  Unterstellung  bereits  vorgeschlagen  worden  ist.  Hat  man 
doch  z.  B.  verlangt,  dafs  auch  die  Einzelsticker,  die  kleinsten  Haus- 
ateliers der  Uhrmacherei,  alle  Bäckereien  mit  Gesellen  oder  Lehr- 
lingen unter  das  Fabrikgesetz  fallen.  Wie  man  sich  die  Hand- 
habung des  Gesetzes  denkt,  ist  freilich  nicht  beigefügt  worden  und 
doch  hätte  man  Veranlassung  genug  hierzu  gehabt,  als  die  konto- 
nalen  Arbeiterschutzgesetze  im  Stadium  der  Beratung  sich  befanden. 
Sie  alle,  auch  das  fortschrittlichste  nicht  ausgenommen,  gewähren 
den  von  ihnen  erfafsten  Betrieben  einen  weit  gröfscren  Spielraum, 
als  das  Fabrikgesetz.  Sie  sind  zum  Teil  gerade  deshalb  geschaffen 
worden,  weil  man  nicht  nur  keinen  anderen  Weg  als  möglich  er- 
achtete, die  schutzbedürftigen  Lohnarbeiter  kleinster  Betriebe,  sowie 
ihrer  Lehrlinge  und  auch  die  dem  Laden-  und  Wirtschaftspersonal 
angehörigen  zu  berücksichtigen,  sondern  weil  man  die  Anwendung 
aller  fabrikgesetzlichen  Bestimmungen  teils  als  unmöglich,  teils  als 
für  diese  Industrieen  verderblich  erkannte.  Man  hat  also  spezialisiert. 
Dies  scheint  auch  im  Wunsche  des  Volks  zu  liegen,  das  den  Ver- 
such der  Bundesbehörden,  die  vom  Wunsche  beseelt  waren,  durch 
ein  schweizerisches  Gewerbegesetz  den  Arbeitern  einen  vollständigeren 
Schutz  zu  Teil  werden  zu  lassen,  als  einen  unzweckmäßigen  zurückwies. 

Wenn  wir  also  zu  einem  guten  Ziele  gelangen  wollen,  werden 
wir  am  besten  thun,  Schritt  für  Schritt  vorzugehen,  das  Beispiel 
der  Kantone  zu  befolgen,  die  Spezialgesetze  für  die  Kleinindustrie, 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


25 


vorläufig  meist  nur  für  die  weiblichen  Angehörigen  derselben,  ge- 
schaffen haben,  deren  Erfahrungen  zu  benutzen,  wie  seiner  Zeit  das 
Fabrikgesetz  auf  Grund  der  Erfahrungen  einiger  Kantone  aufgebaut 
wurde.  Dabei  braucht  auch  die  Hausindustrie  mit  ihren  vielen  und 
schweren  Uebelständen  nicht  leer  auszugehen.  Aber  bevor  an  diese 
Aufgabe  geschritten  werden  kann,  wird  es  notwendig  sein , sich 
Kenntnis  von  Bedeutung,  Umfang  und  Verhältnissen  der  Haus- 
industrie zu  verschaffen,  eine  Kenntnis,  die  uns  noch  völlig  abgeht. 
Alle  unsere  Nachbarländer  bemühen  sich,  auf  den  verschiedensten 
Wegen  sich  die  erforderlichen  Aufschlüsse  über  ihre  Hausindustrieen 
zu  verschaffen  und  damit  eine  Grundlage  für  eine  auch  diese  Klasse 
von  Arbeitern  so  weit  möglich  schützende  Gesetzgebung  zu  ge- 
winnen. Leider  sind  bei  uns  derartige  Vorschläge  mehr  auf  Grund 
von  Theorieen  und  unbewiesenen  Voraussetzungen,  als  auf  prak- 
tischen Studien  beruhend  aufgetaucht  Machen  wir  uns  nun  an 
ein  ernstliches  Studium  der  Haus-  und  Kleinindustrie,  um  auch 
hier  besseres  bieten  zu  können.  Vorerst  aber  wird  es  am  ge- 
ratensten sein,  unsere  Fabrikgesetzgebung  unter  Benutzung  der  bis- 
herigen Erfahrungen  und  gewissenhafter  Berücksichtigung  der  zu 
Tage  getretenen  Bedürfnisse  zu  revidieren. 

L Welche  Betriebe  unterstehen  dem  Fabrikgesetz? 

Diese  Frage  muls  notwendigerweise  verschieden  beantwortet 
werden,  je  nach  den  Bestimmungen,  welche  das  Gesetz  enthält.  Es 
giebt  eine  grofse  Zahl  von  Vorschriften,  welche  auf  jeden  indu- 
striellen Betrieb  ihre  Anwendung  nicht  nur  finden  können,  sondern 
auch  angewandt  werden  sollten.  Hierher  gehören  die  zum  Schutz 
von  Leben  und  Gesundheit  der  Arbeiter,  über  die  Verantwortlichkeit 
des  Arbeitgebers  bei  gewerblichen  Verletzungen  oder  Erkrankungen, 
über  Anstellungs-  und  Zahlungsverhältnisse.  Eine  Reihe  anderer 
Bestimmungen,  namentlich  solche,  welche  sich  auf  die  Arbeitszeit 
beziehen,  sind  in  gewissen  Industriecn  nicht  oder  doch  nicht  allge- 
mein und  jederzeit  durchführbar.  Eis  müssen  Ausnahmen  zugestanden 
werden,  wenn  die  betreffende  Industrie  nicht  schwer  geschädigt  oder 
gar  verunmöglicht  werden  soll.  Je  häufiger  diese  Abweichungen 
von  der  gemeinsamen  Norm  gestattet  werden  müssen,  um  so  kom- 
plizierter gestaltet  sich  die  Gesetzgebung,  je  schwieriger  wird  ihr 
Vollzug,  je  leichter  verwischen  sich  die  Grenzlinien,  bis  zu  welchen 
die  gewerbepolizeilichen  Vorschriften  ihre  Anwendung  finden  sollen. 


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26 


F.  Schüler, 


Die  Gefahr,  dafs  ein  Fabrikgesetz  nur  mangelhafte  Anwendung  finde, 
steigt  mit  der  Ausdehnung  seines  Wirkungsgebiets  auf  Betriebe  mit 
ganz  verschiedenartigen  Verhältnissen  und  Bedürfnissen. 

Dies  war  einer  der  wichtigsten  Gründe,  warum  unser  schweize- 
risches Fabrikgesetz  nicht  die  ausgedehnte  Anwendung  fand,  die 
von  mancher  Seite  gewünscht  wurde.  Es  zeigte  sich  sofort,  dafs 
einzelne  wenige  Berufsarten  nicht  allen  Anforderungen  des  Fabrik- 
gesetzes nachkommen  konnten,  ohne  ihre  Existenz  zu  gefährden. 
Man  war  vor  die  Alternative  gestellt,  eine  offenbare  Gesetzesver- 
letzung zu  dulden  oder  auf  die  Unterstellung  dieser  Betriebe  zu 
verzichten.  Man  zog  das  letztere  vor,  um  nicht  selbst  den  Anstois 
zu  einem  laxen  Gesetzesvollzug  zu  geben.  Die  Einbeziehung  der 
Kleinindustrie , des  Handwerks  unter  das  Fabrikgesetz  hätte  die 
Zahl  solcher  Fälle  vermehrt,  das  Bedürfnis  nach  Ausnahme- 
gestattungen vervielfacht.  Wie  zahllos  sind  die  Fälle,  wo  z.  B.  der 
Glaser  eine  zerschlagene  Fensterscheibe  in  einem  Schlafzimmer 
nach  Feierabend  noch  einsetzen,  der  Schlosser  einen  Schrank,  den 
der  Besitzer  nicht  öffnen  kann,  aufmachcn,  der  Schneider  oder  die 
Näherin  ein  zerrissenes  Kleidungsstück  des  eiligen  Reisenden  noch 
flicken,  der  Schmied  den  verunglückten  Reisewagen  wieder  in 
stand  stellen,  der  Koch  oder  Zuckerbäcker  für  unverhoffte  Gäste 
etwas  bereit  machen  mufs.  Arbeiten  ja  doch  alle  diese  Leute 
nicht  wie  die  Fabrik  auf  Vorrat  hin,  sondern  auf  Stückbestellung 
für  feste  Kunden,  an  die  sie  ihr  Produkt  absetzen,  deren  Bedarf  sie 
aber  nicht  voraussehen  können.  Welche  unendliche  Schwierigkeiten 
würden  aus  solchen  Fällen  für  den  Gesetzesvollzug  erwachsen ! 

Es  bedarf  keiner  langen  Erörterung,  um  den  Nachweis  zu 
leisten,  dafs  auch  die  Ueberwachung  seines  Vollzugs  ganz  andere 
Zahlen  von  Beamten  und  selbstverständlich  auch  andere  Summen 
erfordern  würde,  als  sie  dem  Bund  jetzt  zu  Gebote  stehen.  Die 
Zahl  der  zu  überwachenden  Betriebe  wäre  eine  vielfach  gröfsere, 
als  jetzt  und  sollte  ihre  Beaufsichtigung  in  gleicher  Weise  statt- 
finden, wie  dies  bei  den  Fabriken  der  Fall  ist,  würde  das  vierfache 
Aufsichtspersonal  kaum  hinreichen.  Denn  nach  dem  Vorbild  der 
vielgepriesenen  neuseeländischen  Gesetzgebung  auf  je  zweihundert 
Betriebe  einen  nebenbei  beliebig  einen  anderen  Beruf  betreibenden 
Inspektor  anzustellen,  also  sich  mit  einer  so  jämmerlichen  Aufsicht 
zu  begnügen,  wie  sie  jetzt  so  viele  Gemeindebehörden  zu  Gunsten 
der  Arbeiterinnenschutzgesetze  ausüben,  würde  unserem  Volk  doch 
nicht  einfallen.  Sollte  aber  eine  mangelhaftere  Gewerbeaufsicht, 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


2 7 


als  die  jetzige,  Folge  der  Ausdehnung  der  Inspektion  sein,  wäre 
damit  der  Arbeiterschaft  schlecht  gedient.  Wir  miifsten  aber  diese 
Folge  befürchten,  wenn  wir  sehen,  welche  ein  geringer  Bruchteil 
der  kleinindustriellen  Betriebe  alljährlich  da  besucht  wird,  wo,  wie 
in  Deutschland  z.  B.  die  gleiche  gewerbliche  Aufsicht  auch  auf  sie 
sich  erstreckt. 

Diese  Erwägungen  und  Erfahrungen  fuhren  zum  Schlufs,  dafs 
es  für  die  Sache  des  Arbeiterschutzes  vorteilhafter  sei , für  die 
Kleinindustrie  eine  besondere  Gesetzgebung  zu  schaffen,  welche 
sich  den  besonderen  Bedürfnissen  derselben  anpassen  kann  und 
eben  deswegen  eine  bessere  Aussicht  sowohl  für  Annahme  des 
Gesetzes  durch  das  Volk,  als  auch  der  richtigen  und  strengen 
Durchführung  durch  die  Behörden  bietet.  Mit  dieser  Scheidung 
sind  aber  die  Schwierigkeiten  der  Frage  noch  nicht  überwunden, 
was  denn  alles  unter  das  Fabrikgesetz  gehöre.  Die 
meisten  Gewerbe-  oder  Fabrikgesetzgebungen  lassen  sich  gar  nicht 
auf  eine  genaue  Definition  der  „Fabrik“  ein.  Sie  überlassen  es  den 
Oberbehörden , in  zweifelhaften  Fällen  zu  entscheiden.  Aehnlich 
ist  auch  die  Schweiz  vorgegangen.  Mit  der  Interpretation  des  Art  i 
des  Fabrikgesetzes  begann  das  schweizerische  Eisenbahn-  und  Handels- 
departement seine  Thätigkeit  im  Vollzug  des  Fabrikgesetzes.  Zahl- 
reiche Bundesratsbeschlüsse,  Kreisschreiben,  Rekursentscheide  etc. 
haben  diese  Interpretation  vervollständigt  Ein  Beschlufs  vom  3.  Juni 
1891  hat  festgestellt,  es  seien  Fabriken: 

a)  Betriebe  mit  mehr  als  fünf  Arbeitern,  welche  mechanische 
Motoren  verwenden,  oder  Personen  unter  achtzehn  Jahren 
beschäftigen,  oder  gewisse  Gefahren  für  Leben  und  Gesund- 
heit der  Arbeiter  bieten; 

b)  Betriebe  mit  mehr  als  zehn  Arbeitern,  bei  welchen  keine 
der  sub.  lit.  a)  genannten  Bedingungen  zutrifft; 

c)  Betriebe  mit  weniger  als  sechs,  beziehungsweise  weniger 
als  elf  Arbeitern,  welche  aufsergcwöhnliche  Gefahren  für 
Gesundheit  und  Leben  bieten,  oder  den  unverkennbaren 
Charakter  von  Fabriken  aufweisen. 

Damit  war  gröfsere  Sicherheit  und  Klarheit  für  die  Beurteilung 
der  Unterstellbarkeit  eines  Betriebs  unter  das  Gesetz  geschaffen.  Es 
waren  bestimmte  Zahlen  festgesetzt,  deren  kein  Fabrikgesetz 
entraten  kann.  Je  kleiner  die  Betriebe  sind,  um  so  mehr  werden 
freilich  diese  Zahlen  bald  unter  das  erforderliche  Minimum  sinken, 
bald  über  dasselbe  ansteigen.  Jeder  dieser  Schwankungen  ent- 


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28 


F.  Schüler, 


sprechend  eine  Streichung  oder  Wicderunterstellung  vorzunehmen, 
geht  nicht  an  und  es  mufste  deshalb  mit  einiger  Willkür  der  Mo- 
dus innegehalten  werden,  dafs  erst  nach  längerem  Bestand  der  Mini- 
malarbeiterzahl die  Unterstellung  erfolgen  und  erst  bei  sicher  an- 
dauerndem Herabsinken  unter  diese  Ziffer  die  Streichung  erklärt 
werden  dürfe.  Dies  und  der  Grundsatz,  dafs  bei  der  Entscheidung 
die  erreichte  Maximalzahl  gilt,  sofern  sie  regelmäfsig  wiederkehrt, 
dürfte  wohl  zweckmäfsig  mit  Rücksicht  auf  die  Entscheide  in  Haft- 
pflichtstreitigkeiten, im  Gesetz  angedeutet  werden. 

Das  Gesetz  verlangt  für  die  Qualifikation  als  Fabrik  das  Vor- 
handensein eines  „geschlossenen  Raums".  Dies  hat  schon  zu  den 
abenteuerlichsten  Begehren  den  Anstofs  gegeben.  Man  anerbot 
Ausheben  der  Fenster,  selbst  Beseitigung  des  Daches,  um  keinen 
geschlossenen  Raum  und  damit  keine  Verpflichtung  zu  haben, 
sich  dem  Fabrikgesetz  zu  fügen.  Der  Bundesrat  hat  eine  solche 
Interpretation  des  Wortlautes  nicht  zugelassen  und  erklärt,  die  Ar- 
beit im  „geschlossenen  Raum"  sei  im  Gegensatz  zu  derjenigen  im 
Freien  aufzufassen  und  könne  auch  da  schon  vorhanden  sein,  wo 
nur  nach  einzelnen  Richtungen  Schutz  gegen  die  atmosphärischen 
Einflüsse  besteht.  Ein  andermal  entschied  er,  dafs  die  sogen.  Platz- 
arbeiter in  einem  Sägereigeschäft  zur  Gesamtarbeiterzahl  einzu- 
rechnen seien,  da  sie  mit  dem  übrigen  Betriebspersonals  ein  un- 
trennbares Ganze  bilden.  Die  Leute  brauchen  somit  nur  im  Gebiet 
der  industriellen  Anstalt,  also  in  der  Regel  in  einem  abgeschlossenen, 
nicht  aber  geschlossenen  Raum  zu  arbeiten,  um  zu  den  Fabrik- 
arbeitern gerechnet  zu  werden.  Eine  dieser  Auffassung  entsprechende 
Wortung  des  Gesetzes  liefse  sich  wohl  leicht  finden. 

Sehr  oft  hört  man  die  Ansicht  äufsern,  dafs  Art.  I als  Fabrik 
alle  industriellen  Betriebe  erklären  sollte,  in  welchen  Motoren 
verwendet  werden.  Der  Wunsch  war  sehr  begreiflich,  so  lange 
elementare  Kraft  gewöhnlich  nur  in  einem  Umfang  in  Anspruch 
genommen  wurde,  dafs  durch  deren  Verwendung  eine  gewisse  Ge- 
fahr für  den  Arbeiter  herbeigeführt  wurde.  Heute  ist  die  elektrische 
Betriebskraft,  oft  in  ganz  minimem  Umfang,  in  die  kleinsten  Hand- 
werksbetriebe gedrungen,  sie  wird  sogar  mit  jedem  Jahr  mehr  im 
gewöhnlichen  Haushalt  verwendet.  Bald  dürfte  auch  die  Haus- 
industrie sich  an  dieser  Benutzung  beteiligen.  In  zahlreichen  Fällen 
kann  von  einer  Gefährdung  des  Arbeiters  durch  diese  elektrischen 
Installationen  gar  nicht  gesprochen  werden.  Die  Gefährdung  aber 
ist  der  einzige  Grund,  der  zur  Unterstellung  unter  das  Fabrikgesetz 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


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veranlassen  könnte.  Man  würde  daher  weit  über  das  Ziel  hinaus- 
schiefsen,  wenn  man  jeden  Betrieb,  in  welchem  ein  noch  so  unbe- 
deutender Motor  verwendet  würde,  dem  Fabrikgesetz  unterstellen 
und  einer  grofsen  Zahl  von  Kleinbetrieben  eine  ausnahmsweise  Be- 
handlung angedeihen  lassen  wollte,  weil  sie  die  Arbeit,  vielleicht 
einer  einzelnen  Arbeiterin,  durch  einen  Kraft  und  Zeit  ersparenden 
Apparat  auf  gefahrlose  Weise  erleichtern  möchten.  Wo  aber  wirk- 
liche Gefahren  für  Gesundheit  und  Leben  der  Arbeiter  durch  einen 
Motor  herbeigeführt  werden , verleiht  ja  schon  der  Bundesrats- 
beschlufs  vom  3.  Juni  1891  das  Recht  zur  Unterstellung. 

Genügt  also  hier  das  bestehende  Gesetz,  dürfte  cs  in  anderer 
Hinsicht  eine  etwas  veränderte  Fassung  erhalten,  welche  die  Unter- 
stellung verschiedener  Arten  von  Betrieben  künftighin  ermöglichen 
würde.  Dahin  gehören  vor  allem  aus  die  Bergwerke  und 
unterirdischen  Brüche  und  Gruben.  Sie  sind  seit  einigen 
Jahren  allerdings  einer  speziellen  Inspektion  unterstellt,  die  sich 
mit  der  Unfallsverhütung  und  der  Durchführung  des  Haftpflicht- 
gesetzes zu  befassen  hat;  aber  die  Anstellungs-  und  Zahlungsver- 
hältnissc  der  Arbeiterschaft,  ihre  Arbeitszeit  sind  nicht  gesetzlich 
geregelt,  obschon  dies  ebenso  wünschbar  sein  dürfte  und  auf  gleiche 
Weise  geschehen  könnte,  wie  bei  den  Fabrikarbeitern.  Auch  aus- 
ländische Gesetzgebungen,  wie  z.  B.  die  deutsche,  wenden  die  all- 
gemeinen Arbeiterschutzbestimmungen  auch  auf  diese  Kategorie 
von  Arbeitern  an.  Man  wird  vielleicht  einwenden , dafs  es  eine 
Inkonsequenz  sei,  wenn  nicht  auch  die  offenen  Brüche  und 
Gruben  ganz  gleich  behandelt  werden.  Es  mufs  aber  doch  auf- 
merksam gemacht  werden,  dafs  die  Verhältnisse  hier  etwas  anders 
gestaltet  sind.  Denn  erstlich  sind  diese  Betriebe  zu  einem  grofsen 
Teil  nicht  andauernde,  sondern  sie  existieren  oft  nach  wenigen 
Wochen  nicht  mehr.  Ihre  Arbeiterzahl  ist  eine  sehr  schwankende, 
oft  ganz  kleine.  Die  Arbeit  ist  sehr  von  den  Witterungsverhält- 
nissen abhängig  und  eine  „regelmäfsige"  tägliche  Arbeitszeit  kaum 
durchführbar.  Daraus  würden  zahllose  Schwierigkeiten  für  den  Ge- 
setzesvollzug erwachsen.  Freilich  läfst  sich  nicht  leugnen,  dafs 
namentlich  die  grofsen,  regelmäfsig  seit  Jahren  betriebenen  Unter- 
nehmungen in  diesem  Erwerbszweig  den  lebhaften  Wunsch  wach 
rufen,  dafs  auch  hier  die  Arbeiterverhältnisse  gesetzlich  geordnet 
werden;  aber  sie  müfsten  jedenfalls  zuerst  genauer  gekannt  und 
studiert  sein,  bevor  eine  Ausdehnung  des  Fabrikgesetzes  auf  dieses 
Gebiet  vorgcschlagen  werden  dürfte.  Es  giebt  weiterhin  eine  ganze 


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F.  Schüler, 


Reihe  von  industriellen  Anstalten,  die  ganz  den  Charakter  des 
Grofsbetriebs  an  sich  tragen,  deren  Einrichtungen  derselben  Kon- 
trolle, deren  Arbeiter  desselben  Schutzes  bedürfen,  wie  ganz  ge- 
wöhnliche Fabriken,  die  aber  in  der  Erfüllung  ihrer  speziellen  Be- 
stimmung gehemmt,  zum  Teil  ganz  daran  verhindert  würden,  wenn 
alle  Bestimmungen  des  Fabrikgesetzes  ohne  Ausnahme  auf  sie  An- 
wendung finden  müfsten.  Von  ihrer  Unterstellung  kann  daher  nur 
ernstlich  die  Rede  sein,  wenn  die  Möglichkeit  der  Aufhebung 
gewisser  Vorschriften  für  sie  geschaffen  wird.  Dahin  ge- 
hören die  industriellen  Armen-  und  Erziehungsanstalten, 
die  gewerblichen  Lehranstalten  in  Verbindung  mit  Werk- 
stätten, die  irgend  welche  Industriezweige  betreibenden  Zucht- 
häuser und  Besserungsanstalten.  Ist  es  doch  klar,  dafs 
allen  Insassen  dieser  Anstalten  der  gleiche  Schutz  gebührt,  wie 
jedem  anderen  Arbeiter  oder  Lehrling.  Es  ist  eben  so  notwendig, 
dafs  ein  speziell  mit  den  Mafsregeln  zum  Schutz  der  Arbeiter  vor 
Verletzung  oder  Erkrankung  vertrauter  Beamter  beratend,  eventuell 
auch  fordernd,  Einsicht  in  die  Einrichtungen  einer  solchen  Anstalt 
nehme.  Eis  ist  dies  sogar  mehr  als  einmal  von  den  Leitern  von 
Zuchthäusern  und  Armenanstalten  ausdrücklich  von  den  Fabrik- 
inspektoren gewünscht  worden  und  es  ist  nicht  einzusehen,  wie  ein 
Anstaltsvorstand  einer  Aufsicht  in  diesem  Sinn  sich  zu  entziehen 
versuchen  sollte.  Ebenso  sollten  ihm  die  Gewerbebeamten  als  Ver- 
treter der  Hygieine  überhaupt  und  mit  der  praktischen  Anwendung 
derselben  vertraute  Männer  nur  willkommen  sein.  Auch  eine  Be- 
schränkung der  Arbeitszeit  auf  ein  gewisses  Mals  darf  für  diese  An- 
staltsbcwohner  aus  denselben  Gründen , wie  bei  den  anderen  Ar- 
beitern, gefordert  werden,  wenn  es  je  — wofür  freilich  kaum  Fälle 
namhaft  gemacht  werden  können  — überschritten  würde. 

Die  Frage,  wem  die  Gestattung  von  Ausnahmen  zufallen  müfste, 
ohne  welche  die  Unterstellung  dieser  Anstalten  kaum  denkbar 
wäre,  ist  wohl  bald  gelöst.  Würde  den  Kantonen  diese  Kompetenz 
'eingeräumt , müfste  man  zum  vorneherein  auf  eine  gleichmäfsige 
Behandlung  der  Angelegenheit  in  den  verschiedenen  Landesteilen 
verzichten.  Nur  eine  generelle  Entscheidung  durch  den  Bundesrat 
böte  genügende  Garantie,  dafs  sie  gestützt  auf  genaue  Kenntnis 
der  Verhältnisse  solcher  Betriebe  in  der  ganzen  Schweiz  und  unter 
Beanspruchung  des  Fabrikinspektorats  für  eine  genaue  Unter- 
suchung derselben  getroffen  werden  könne. 

In  engem  Zusammenhang  mit  der  Erörterung,  welche  indu- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


31 


striellen  Betriebe  unter  die  Bestimmungen  des  Fabrikgesetzes  fallen 
sollen,  steht  auch  die  Beantwortung  von  zwei  anderen  Fragen.  Es 
ist  schon  oft  die  Frage  aufgeworfen  worden,  ob  nicht  auch  alle 
die  unter  dem  Kollektivnamen  der  Wohlfahrtseinrichtungen 
gewöhnlich  zusammengefafsten  Veranstaltungen,  die  in  so  hohem 
Mafs  die  ganze  Lebenshaltung  des  Arbeiters  und  sein  Verhältnis 
zum  Arbeitgeber  beeinflussen , als  zum  Fabrikbetrieb  gehörig  zu 
betrachten  und  demgemäfs  amtlicher  Aufsicht  zu  unterstellen  seien. 
Dieser  Punkt  dürfte  aber  besser  bei  Feststellung  der  Aufgaben  und 
Kompetenzen  des  Inspektorats  zur  Sprache  kommen. 

Ebenso  dürfte  zweckmäfsiger  bei  Besprechung  von  Art.  6 des 
Fabrikgesetzes  genauer  festgestellt  werden , wer  als  Fabrik- 
arbeiter zu  betrachten  und  zu  behandeln  sei,  ein  Gegen- 
stand, der  nicht  nur  das  Inspektorat,  sondern  auch  den  Bundesrat 
schon  wiederholt  beschäftigt  hat;  auch  würde  wesentlich  zur  Ver- 
meidung unrichtiger  Auffassungen  beitragen,  wenn  schon  im  ersten 
Artikel  nicht  von  „Arbeitern",  sondern  einfach  von  „Personen“  ge- 
sprochen würde. 

II.  Schutz  von  Gesundheit  und  Leben  der  Arbeiter. 

Die  Ausführung  der  Vorschriften  dieses  Artikels  stöfet  nicht 
selten  in  der  Weise  auf  Schwierigkeiten,  dafs  da,  wo  gemietete 
Lokale  benutzt  werden,  Eigentümer  und  Mieter  sich  gegenseitig 
die  Pflicht  zuzuschieben  versuchen,  den  auf  Grund  dieses  Gesetzes 
erlassenen  Weisungen  nachzukommen.  Wo  nur  ein  einziger  Mieter 
den  besser  einzurichtenden  Raum  benutzt  oder  von  den  Schutz- 
vorrichtungen erheischenden  technischen  Einrichtungen  Gebrauch 
macht,  könnte  man  sich  wohl  an  den  Betriebsinhaber  halten,  der 
sich  seinerseits  vertraglich  das  Rückgriffsrecht  auf  den  Vermieter 
für  die  ihm  entstehenden  Unkosten  sichern  könnte.  Wo  aber 
mehrere  Mieter  gemeinsam  den  gleichen  Raum  oder  die  gleichen 
Maschinen  benutzen,  erwachsen  für  die  Behörden  oft  die  gröfsten- 
Schwierigkeiten,  den  Vollzug  der  Vorschriften  durchzuführen.  Die- 
selben Erfahrungen  hat  man  auch  in  anderen  Ländern  gemacht. 
England  z.  B.  wurde  dadurch  zu  folgenden  Gesetzesvorschriften 
veranlafst : der  Eigentümer,  der  mechanische  Kraft  in  verschiedene 
Teile  seiner  Gebäude  liefert,  in  welchen  von  Mietern  Fabriken  be- 
trieben werden,  sei  für  folgendes  verantwortlich:  dafs  die  Räume 
in  reinlichem  Zustand,  frei  von  Ausdünstungen  von  Kanälen,  Ab- 


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F.  Schüler, 


tritten  oder  anderen  verunreinigten  Orten  gehalten,  nicht  überfüllt 
und  ventiliert  werden;  dafs  die  gesetzlich  vorgeschriebenen  Schutz- 
vorrichtungen an  Aufzügen,  Krahnen,  Motoren  aller  Art  und  Trans- 
missionen angebracht  werden.  Nur  wenn  der  Mietzins  200  Pfund 
übersteigt,  geht  die  Verantwortlichkeit  auf  den  Mieter  über.  Ebenso 
fällt  sic  diesem  zu,  wo  es  sich  um  Schutzvorrichtungen  an  Ma- 
schinen handelt,  die  er  beschafft. 

Eine  ähnliche  Bestimmung  würde  auch  bei  uns  klare  Verhält- 
nisse schaffen,  während  jetzt  der  Mieter,  der  eine  mit  allerlei 
Mängeln  behaftete  Fabrik  übernommen,  sich  in  der  Regel  nur  an 
Art.  276  des  Oblig.-Rechts  zu  halten  wufste,  welcher  verlangt, 
dafs  die  vermietete  Sache  „in  einem  zum  vertragsmäfsigen  Gebrauch 
geeigneten  Zustand  übergeben  werde“.  Diese  Eignung  wurde  dann 
bestritten,  weil  der  Zustand  nicht  ein  den  gesetzlichen  Anforde- 
rungen entsprechender  sei.  Die  angeregte  Bestimmung  würde  aber 
nicht  nur  ein  sichereres  Rechtsverhältnis  schaffen  und  vielen  Streitig- 
keiten zuvorkommen,  sondern  auch  einen  weit  rascheren  und  meist 
auch  zweckmäfsigeren  Vollzug  der  gesetzlichen  Vorschriften  herbei- 
fuhren. 

Nur  in  einer  verhältnismäfsig  geringen  Zahl  von  Fabriken  ent- 
stehen von  Zeit  Differenzen  darüber,  wer  für  Heizung,  Be- 
leuchtung und  Reinhaltung  der  Lokale  zu  sorgen  habe. 
Alles  dies  wird  hier  und  da  den  Arbeitern  zugemutet.  Sehr  selten 
haben  sie  für  die  Heizung  durch  Abzüge  aufzukommen,  die  sie 
sich  hierfür  gefallen  lassen  müssen;  öfter  haben  sie  für  die  Be- 
leuchtung zu  sorgen.  Namentlich  in  den  Uhrmacherdistrikten 
scheint  diese  Sitte  zu  herrschen.  Sie  wird  mit  der  allgemeineren 
Einführung  von  elektrischer  oder  Gasbeleuchtung  immer  mehr  in 
Abnahme  kommen;  wo  man  aber  daran  festhält,  besteht  die  Ge- 
fahr, dafs  die  Beleuchtung  durch  qualmende  Lampen  erfolgt,  welche 
die  Luft  des  Arbeitsraums  verpesten  und  so  die  Nebenarbeiter  be- 
lästigen und  gesundheitlich  schädigen.  Am  wenigsten  dürfte  gegen 
die  Pflicht  der  Arbeiter  einzuwenden  sein,  in  gewissen  Perioden 
ihre  Arbeitsstellen  aufzuräumen  und  zu  reinigen.  Sie  ist  ein  wirk- 
sames Mittel,  die  Leute  zur  Ordnung  und  Reinlichkeit  anzuhalten. 
Wenn  aber  das  Waschen  des  Fufsbodens  und  der  Ab- 
tritte von  den  Arbeitern  oder  gewöhnlich  von  den  Arbeiterinnen 
verlangt  wird,  bedeutet  diese  Extrathätigkeit  sehr  häufig  eine 
Ueberschreitung  der  gesetzlichen  Arbeitszeit  und  überhaupt  eine 
Zumutung,  die  von  den  meisten  Arbeiterinnen  sehr  unangenehm 


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Die  Revision  des  schweizerischen  FabrikgeseUes. 


33 


und  zudem,  wenn  keine  besondere  Vergütung  geleistet  wird,  als 
Unrecht  empfunden  wird.  Es  würde  sich  gewifs  rechtfertigen, 
■wenn  zum  Beginn  des  Alinea  2 gesagt  würde:  „der  Arbeitgeber 

hat “ Zu  dem  sollte  nach  „beleuchtet"  eingeschaltet  werden: 

„genügend  erwärmt  und  nach  Möglichkeit  rein  gehalten";  diese 
letztere  Vorschrift  sollte  aber  auch  auf  alle  andern  Räumen,  wo  der 
Arbeiter  sich  aufzuhalten  hat,  Efslokale,  Gänge,  Abtritte  ausgedehnt 
und  auch  hinlängliche  Beleuchtung  für  dieselben  vorgeschrieben 
werden.  Um  den  Fabrikinspektoren  sofort  ein  sicheres  Urteil  zu 
ermöglichen,  ob  ein  Arbeitslokal  überfüllt  sei,  würde  ein  An- 
schlägen der  Mafse  jedes  Arbeitsraumes  an  auffallender 
Stelle,  wie  dies  in  einzelnen  Gegenden  oder  Industrien  bereits  ein- 
geführt ist,  von  grofsem  Nutzen,  eine  solche  Vorschrift  recht  em- 
pfehlenswert sein,  wenigstens  in  Lokalen  mit  relativ  zahlreichem 
Personal.  Am  besten  würde  zugleich  die  zulässige  Maximal  - 
arbeiterzahl  angegeben.  In  mangelhaften  Lokalen  sollte  zudem 
<lie  in  denselben  erlaubte  Arbeiterzahl  durch  Verordnung  des  betr. 
Regierungsrats  oder  des  eidgenöss.  Industriedepartements  auf  An- 
trag der  Inspektoren  heruntergesetzt  werden  können. 

Es  mag  gestattet  sein,  an  dieser  Stelle  noch  auf  eine  Lücke 
der  Gesetzgebung  hinzuweisen.  In  manchen  Betrieben  bildet  Kost 
und  Logis  einen  Teil  des  Arbeitslohnes.  Hier  und  da  kommt 
es  vor,  dafs  das  eine  oder  andere  in  sehr  mangelhafter  Weise  ge- 
währt wird.  Dies  ist  ohne  Zweifel  eine  Beeinträchtigung  der  dem 
Arbeiter  zukommenden  Löhnung  und  er  kann  mit  dem  gleichen 
Recht,  wie  die  Sorge  für  regelmäfsige  und  bare  Zahlung  auch  die 
richtige  Beschaffenheit  dieses  Teils  seiner  Löhnung  verlangen.  Eine 
amtliche  Aufsicht  hierüber  liegt  im  Interesse  nicht  nur  des  Ar- 
beiters, der  sich  oft  nicht  gegen  allzugeringe  Leistungen  des  Arbeit- 
gebers zu  wehren  vermag  und  also  des  Schutzes  bedarf,  sondern 
nicht  selten  auch  des  Arbeitgebers,  über  dessen  angeblich  geringe 
Wohnräume,  schlechte  Betten  und  geringe  Beköstigung  zuweilen 
sehr  grundlos  geklagt  wird.  Die  Fabrikinspektoren  sind  deshalb 
zum  Besuch  von  Pensionaten,  Speiseanstalten,  Schlafräumen  u.  dgl. 
nicht  selten  ausdrücklich  von  den  Fabrikbesitzern  aufgefordert 
worden.  Prinzipale,  die  ihren  Arbeitern  zu  Teil  werden  lassen,  was 
ihnen  gebührt,  werden  gegen  eine  amtliche  Nachschau  nichts  einzu- 
wenden haben , wo  aber  die  Leistungen  billigen  Anforderungen 
nicht  entsprechen,  darf  die  Arbeiterschaft  mit  Recht  ein  Einschreiten 
•des  amtlichen  Aufsichtspersonals  verlangen. 

Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  3 


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F.  Schüler, 


Die  Anforderungen,  die  bezüglich  der  Vorkehrungen  zum 
Schutz  von  Gesundheit  und  Leben  der  Arbeiter  zu 
stellen  sind,  variieren  selbstverständlich  sehr  je  nach  der  Art  der 
Industrie  und  den  Einrichtungen  zum  Betrieb  derselben.  Trotzdem 
ist  es  möglich  und  zweckmäßig,  allgemein  für  gewisse  Industrieen 
oder  Industriegruppen  gültige  Vorschriften  zu  erlassen.  Der  Bundes- 
rat hat  in  dieser  Richtung  schon  manches  gethan  und  der  Nutzen 
dieser  Vorschriften  wird  allgemein  anerkannt.  Es  wäre  aber  wünsch- 
bar, dafs  der  Erlaß  solcher  Vorschriften  noch  in  ausgedehnterem 
Maß  stattfände.  Die  bisher  erlassenen  sind  meist  aus  Beratungen 
mit  den  Inspektoren  oder  Anträgen  derselben  hervorgegangen,  auch 
aus  der  Konsultation  hervorragender  Fachmänner.  Es  wäre  aber 
von  großen  Nutzen,  wenn  eine  Einrichtung  geschaffen  würde,  die 
auch  den  zunächst  Beteiligten,  Fabrikanten  und  Arbeitern 
eine  regelmäßige  Mitwirkung  bei  der  Schaffung  solcher  Verord- 
nungen ermöglichen  würde.  Der  Vollzug  derselben  würde  sicher- 
lich gefördert,  die  Gleichgültigkeit  gemindert,  der  Widerstand,  der 
sich  in  einzelnen  Dingen  geltend  macht,  gemildert.  Die  deutschen 
Berufsgenossenschaften,  die  schon  so  viel  Gutes  geschaffen,  könnten 
uns  hierbei,  wenigstens  teilweise,  als  Vorbild  dienen. 

Nicht  weniger  wichtig,  als  die  Erstellung  von  Schutzvorrich- 
tungen, ist  die  Sorge  dafür,  dafs  den  Verletzten  oder  Er- 
krankten die  richtige  Pflege  zu  teil  werde.  Es  ist  hierfür  in 
unseren  schweizerischen  Fabriken  sehr  viel  geschehen,  aber  hier  und 
da  trifft  man  entsetzliche  Gleichgültigkeit.  Eis  darf  wohl  die  Frage 
aufgeworfen  werden,  ob  Betriebe,  welche  eine  gewisse  Arbeiterzahl 
beschäftigen  und  bestimmte  Gefahren  bieten , nicht  zu  verpflichten 
seien,  für  die  Ausbildung  von  Leuten  zu  sorgen,  die  in  Ver- 
letzungsfallcn  die  erste  Hilfe  bringen  könnten  und  ebenso  für  die 
Anschaffung  in  Notfällen  erforderlichen  Verbandmaterials  und 
Medikamenten  Vorrats,  sowie  die  Ueberweisung  eines 
geeigneten  Verbandlokals. 

Die  meisten  Detailvorschriften  behufs  Ausführung  von  Art.  II 
werden  von  den  Inspektoren  bei  Anlaß  ihrer  Inspektionen  erlassen. 
Sie  werden  nicht  nur  mündlich,  sondern  auch  schriftlich  zur 
Kenntnis  gebracht.  Kommt  man  ein  Jahr  später  wieder,  ist  oft 
nichts  oder  nichts  recht  ausgefuhrt.  Allerlei  Gegengründe  werden 
angeführt,  welche  die  Ausführung  verzögert  haben  oder  den  Ver- 
zicht auf  dieselbe  begründen  sollen.  Das  Verlangen  wird  wieder- 
holt, ein  Termin  mit  Androhung  von  Klage  gesetzt,  Nachschau 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


35 


gehalten,  ein  Amtsbefehl  der  kantonalen  Regierung  erwirkt,  Be- 
strafung verlangt.  So  wird  die  ganze  Mafsnahme  verschleppt,  die 
vorhandene  Gefahr  bleibt  Jahr  und  Tag  bestehen.  Die  Sache 
würde  sich  ganz  anders  gestalten,  wenn  die  Weisung  der  Inspek- 
toren Rechtskraft  erhielte  und  Renitenz  Strafe  nach  sich 
zöge,  sofern  nicht  innerhalb  eines  bestimmten  kurzen  Termins 
schriftliche  Einsprache  gegen  das  Begehren  des  Inspektors  bei  ihm 
oder  bei  der  kantonalen  Regierung  erhoben  würde. 

Die  Anwendung  von  Zwangsmafsregeln  zur  Durchführung 
von  Schutzvorschriften  irgend  welcher  Art  ist  bisher  selten  vorge- 
kommen. Und  doch  besteht  nicht  die  mindeste  Aussicht,  ohne 
solche  auszukommen.  Die  Zahl  derjenigen,  welche  sich  um  Ver- 
ordnungen und  amtliche  Befehle  nicht  kümmern , hat  sich  eher 
gemehrt  als  gemindert.  Oft  werden  die  verlangten  Vorrichtungen 
zwar  erstellt,  aber  nicht  benutzt  oder  wieder  entfernt  oder  auch 
unbrauchbar  gemacht.  Auf  diese  Weise  werden  alle  Bestrebungen, 
die  Arbeiter  vor  maschinellen  oder  gesundheitlichen  Gefahren  zu 
schützen,  lahm  gelegt.  Aber  die  Schuld  liegt  nicht  nur  an  den 
Arbeitgebern,  deren  Interesse  an  der  Vermeidung  von  Verletzungen 
so  oft  den  sonstigen  Widerwillen  gegen  die  Erstellung  kostspieliger 
oder  unbequemer  Einrichtungen  aufwiegt,  sondern  ebenso  sehr,  in 
manchen  Industrieen  weit  mehr,  an  den  Arbeitern.  Sehr  häufig 
werden  die  erprobtesten  und  nach  einiger  Uebung  bequemsten 
Vorrichtungen  von  ihnen  verschmäht  oder  gar  demoliert.  Alle 
Neuerungen  haben  gegen  ihr  Vorurteil  zu  kämpfen.  Die  Voraus- 
setzung, dafs  es  dem  Prinzipal  möglich  sei,  durch  Bufsen  oder  An- 
drohung der  Entlassung  diesem  thörichten  Benehmen  entgegen- 
zutreten, ist  an  zahlreichen  Orten  eine  irrige.  Die  Bufsen  werden 
von  den  Arbeitern  so  lebhaft  bekämpft,  dafs  manche  Arbeitgeber 
keinen  Gebrauch  mehr  von  ihrem  Buisenrecht  machen.  Dies  ist 
namentlich  in  kleineren  Betrieben  der  Fall,  zumal  in  denjenigen  der 
Holzindustrie,  wo  die  Prinzipale  durch  ihre  Arbeiter  zum  Verzicht 
auf  jede  Bufse  wegen  Beseitigung  oder  Nichtgebrauch  der  Schutz- 
vorrichtungen gezwungen  worden  sind.  Durch  die  Androhung  der 
Enüassung  wird,  namentlich  in  Zeiten  des  Arbeitermangcls,  gar 
nichts  erreicht.  Es  darf  daher  wohl  behauptet  werden,  dafs  auch 
die  besten  Einrichtungen  zum  Schutz  von  Gesundheit  und  Leben 
der  Arbeiter  zu  einem  grofsen  Teil  wertlos  sind,  so  lange  nicht 
strengere  Mafsrcgeln  nicht  allein  gegen  renitente  Arbeitgeber,  son- 
dern auch  gegen  fehlbare  Arbeiter  ergriffen  werden.  Letzteres  ist 


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F.  Schüler, 


aber  erst  möglich,  wenn  das  Gesetz  nicht  nur  von  einer  Bestrafung 
der  Arbeitgeber  wegen  Verletzung  des  Fabrikgesetzes  spricht,  son- 
dern auch  der  Arbeiter  da  zur  Rechenschaft  gezogen  werden  kann, 
wo  er  eine  Gesetzesverletzung  begangen  hat,  deren  Verhütung  nicht 
in  der  Macht  des  Arbeitgebers  lag.  Wie  sehr  diese  bisherige  U n - 
möglichkeit  den  Arbeiter  zu  bestrafen,  der  Durchführung 
des  Gesetzes  überhaupt  schadet,  sie  in  zahlreichen  Fällen  geradezu 
unmöglich  macht,  werden  wir  später  noch  sehen.  Es  dürfte  wohl 
auch  kein  anderes  Land  in  der  Weise  vorgegangen  sein,  wie  das 
unsrige.  Im  englischen  Fabrikgesetz  z.  B.  heifst  es : „wenn  ein  Ar- 
beitgeber beweist,  dafs  er  alle  gebotene  Sorgfalt  angewandt,  das 
Gesetz  durchzuführen,  und  dafe  die  Uebertretung  ohne  sein  Wissen, 
Einverständnis  oder  Duldung  erfolgte,  ist  nicht  der  Arbeitgeber, 
sondern  die  schuldbare  Person  zu  strafen",  eine  Vorschrift,  die 
übrigens  nur  den  einfachsten  Begriffen  von  Recht  und  Billigkeit 
entspricht. 

Wie  übrigens  auch  ohne  Verhängung  zahlreicher  Bufsen  der 
Renitenz  der  Arbeitgeber  bei  Ausführung  von  Art.  II  des  Fabrik- 
gesetzes entgegengetreten  werden  kann,  lehren  uns  ebenfalls  aus- 
ländische Fabrikgesetzgebungen,  welche  den  Fabrikanten,  welche 
von  den  kompetenten  Behörden  erlassenen  Weisungen  nicht  nach- 
gekommen sind,  alle  Ausnahmebewilligungcn,  wie  Llcber- 
zeit-  oder  Schichtenarbeit,  versagen  und  zudem  die  zulässige 
Arbeiterzahl  in  schlechten  Lokalitäten  niedriger  ansetzen,  als  sie 
sonst  durch  den  vorhandenen  Kubikinhalt  bedingt  würde. 

Ueber  die  Berechnungsweise  und  das  Mafs  der  Bufsen  oder 
sonstigen  Bestrafungen  soll  bei  Besprechung  von  Art.  19  des  Fabrik- 
gesetzes verschiedenes  beigebracht  werden. 

III.  Bau  und  Betrieb  der  Fabriken. 

Dieser  Artikel  hat  erst  seine  rechte  Bedeutung  gewonnen,  seit 
der  Bundesrat  seine  „Vorschriften  betreffend  den  Neu-  oder  Umbau 
von  Fabrikanlagen“  erlassen  hat  (13.  Dezember  1897).  Gewöhnlich 
werden  auch  die  Pläne  für  Bauten,  welche  sogen.  Wohl- 
fahrtscinrichtunen  zu  dienen  haben,  von  den  Fabrikbesitzern 
zur  Begutachtung  und  Genehmigung  eingesandt.  Es  ist  nirgends 
bestimmt  gesagt,  ob  ihnen  diese  Pflicht  obliegt  oder  nicht.  Da 
aber  die  Fabrikarbeiter  durch  ihre  Stellung  und  ihre  Verhältnisse 
zum  Teil  wenigstens  genötigt  sind,  von  diesen  Einrichtungen  Ge- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


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brauch  zu  machen,  hat  sich  die  staatliche  Aufsicht  wohl  auch  dar- 
über zu  erstrecken.  Es  wären  also  die  Pläne  zu  Arbeiterwohnungen, 
Schlafsälen,  Speiseanstalten  ebensogut  einzureichen,  wie  diejenigen 
für  die  Fabriken  selbst. 

Schwieriger  dürfte  die  Frage  zu  beantworten  sein,  ob  nicht 
auch  die  Erstellung  von  gemeinsamen  Werkstätten  der 
staatlichen  Aufsicht  unterliege.  An  der  Wünschbarkeit  derselben 
ist  nicht  zu  zweifeln,  da  es  sich  ja  auch  hier  um  Räume  handelt, 
wo  eine  Menge  Arbeiter  nachteiligen  gesundheitlichen  Einflüssen 
ausgesetzt  sein  können,  wie  in  Fabriken  und  wo  sie  ebenso  wenig, 
als  dort,  die  Beseitigung  derselben  ohne  Zustimmung  des  Besitzers 
erwirken  können.  Auch  ist  der  Wortlaut  von  Art.  I unseres  Fabrik- 
gesetzes derart,  dafs  die  Unterstellung  solcher  Werkstätten  unter 
das  Fabrikgesetz  nicht  unmöglich  wäre , obwohl  unter  Fabrik- 
arbeitern gewöhnlich  nur  solche  verstanden  werden,  welche  im 
Lohn  und  Auftrag  einer  anderen  Person  arbeiten,  in  den  Werk- 
stätten dieser  Art  aber  die  Leute  auf  eigene  Rechnung  ihre  Arbeit 
verrichten.  Eine  Entscheidung  hierüber  sollte  hier  oder  schon  in 
Art.  I getroffen  werden. 

Bei  Vorlage  der  Fabrikbaupläne  ist  es  schon  vorgekommen, 
dafs  ein  Urteil  über  die  Zweckmäßigkeit  eines  Baues  oder  die 
Hinlänglichkeit  der  Einrichtungen  zum  Schutz  von  Gesundheit  und 
Leben  der  Arbeiter  nicht  möglich  war,  weil  nicht  bekannt  war, 
W’elche  Substanzen  zur  Verarbeitung  kommen  und  welche 
F'abrikationsmethoden  angewendet  werden  sollen.  Dies  war 
z.  B.  der  Fall,  wo  chemische  Präparate  erstellt  werden  sollten,  deren 
Darstellung  Geschäftsgeheimnis  war.  Die  Furcht  vor  Verrat  des- 
selben bewog  die  Bauherren,  die  erwähnten  Angaben  zu  ver- 
weigern. Obwohl  sie  dann  auf  Andringen  der  Behörden  doch  ge- 
macht wurden,  sollte  doch  die  Verpflichtung  dazu  ausdrücklich  in 
einem  revidierten  Gesetz  erwähnt  werden. 

Die  Begutachtungen  der  Pläne  für  Neu-  oder  Umbauten  von 
Fabriken  sind  nach  dem  Kreisschreiben  des  Bundesrats  vom  13.  De- 
zember 1897  von  einigen  wenigen  Kantonsregierungen  als  nicht  in 
den  Geschäftskreis  des  Fabrikinspektorats  fallend  betrachtet  worden. 
Der  Bundesrat  hat  aber  die  Zweckmäfsigkeit  der  M i t b e g u t - 
achtung  durch  die  Inspektoren  nachgewiesen  und  es  ist 
seither  kein  Widerspruch  mehr  gegen  seine  Vorschrift  erhoben 
worden.  Dessenungeachtet  möchte  eine  ausdrückliche  Forderung 
dieser  doppelten  Prüfung  durch  das  Fabrikgesetz  am  Platz  sein, 


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3» 


F.  Schüler, 


wobei  der  Entscheid  bei  Differenzen  zwischen  den  Ansichten  der 
kantonalen  Regierungen  und  der  Inspektoren  dem  Bundesrat  vor- 
zubehalten wäre. 

Aus  den  Amtsberichten  der  Inspektoren  ergiebt  sich , dafs 
nicht  selten  versucht  wird , Bauten  ohne  Einreichung  der 
Baupläne  oder  unter  Mifsachtung  der  an  die  Plangenehmi- 
gung geknüpften  Bedingungen  auszuführen.  Die  Versuchung- 
zu  solchen  Gesetzesverletzungen  ist  grofs,  denn  dadurch  werden 
oft  Tausende  an  den  Baukosten  erspart  oder  es  kann  nicht  selten 
zum  Nachteil  eines  hygienisch  zweckmäßigen  Betriebs  — eine  be- 
trächtliche Ersparnis  an  den  Betriebskosten  erzielt  werden.  Sollte 
auch  eine  scheinbar  sehr  scharfe  Bufse  für  die  Nichtbeachtung  des 
Gesetzes  ausgesprochen  werden,  resultiert  aus  derselben  für  den 
Bauherrn  doch  oft  ein  sehr  bedeutender  Gewinnst.  Allerdings  be- 
steht die  Möglichkeit,  dafs  die  Bewilligung  zum  Betrieb  gar  nicht 
erteilt  wird;  allein  die  Wahrscheinlichkeit,  dafs  eine  so  strenge 
Mafsregel  ergriffen  werde,  ist  so  gering,  dafs  sie  kaum  in  Betracht 
kommt.  Es  erscheint  daher  empfehlenswert,  dafs  der  Bund  ein 
gewisses,  den  Wert  der  Baute  berücksichtigendes  Straf- 
minimum feststelle,  das  Zuwiderhandlungen  weniger  lukrativ  er- 
scheinen läßt. 

IV.  Anzeige  der  Unfälle.  Unfalluntersuchung. 

Art.  V des  Fabrikgesetzes  schreibt  in  Lit.  d)  vor,  dafs  die 
Haftpflicht  auch  auf  gewisse  durch  den  Fabrikbetrieb  erzeugte 
Krankheiten  auszudehnen  sei.  Man  hätte  also  erwarten  sollen, 
dafs  eine  Anzeigepflicht  nicht  nur  für  Tötungen  und  Körper- 
verletzung im  Art.  IV  vorgesehen  sei,  sondern  auch  für  die  er- 
wähnten Gewerbekrankheiten.  Dies  ist  merkwürdigerweise 
nicht  der  Fall.  Das  Ucbersehene  sollte  daher  nachgeholt  werden. 
Der  Erfüllung  dieser  Anzeigepflicht  stellen  sich  aber  Schwierig- 
keiten entgegen,  die  bei  der  Anzeige  von  Verletzungen  nicht  Vor- 
kommen. Der  Arbeitgeber  denkt  oft  nicht  daran,  als  eine  durch 
den  Betrieb  hervorgerufene  Krankheit  anzusehen,  was  jeder  ver- 
ständige Arzt  als  solche  erklären  muß.  Er  will  auch  nicht  ohne 
dringende  Not  seinen  Betrieb  als  einen  krankmachenden  hin- 
stellen, ganz  abgesehen  von  den  ökonomßchen  Folgen,  die  ihm 
aus  einer  Gewerbekrankheit  erwachsen  können.  Noch  weniger  ist 
oft  der  Arbeiter  imstande,  die  Krankheit,  die  ihn  befallen,  als  eine 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


39 


zur  Haftpflichtentschädigung  berechtigende  zu  erkennen.  So  bleiben 
manche  Erkrankungen  unangezeigt  und  unentschädigt.  Die  einzige 
Person,  der  man  das  Erkennen  der  Krankheit  unbedingt  zumuten 
darf,  wenige  schwierig  zu  erkennende  und  leicht  zu  verwechselnde 
Formen  ausgenommen,  ist  der  Arzt.  Es  fragt  sich  daher,  ob 
nicht  ihm  auch  eine  Anzeigepflicht  zugemutet  werden  dürfte  und 
sollte. 

Eis  sind  nur  „erhebliche"  Unfälle  anzuzeigen.  Schon  am 
6.  Januar  1882  hat  der  Rundesrat  diesen  Ausdruck  dahin  de- 
finiert. dafs  als  erhebliche  Verletzung  eine  solche  gelte,  welche 
eine  Arbeitsunfähigkeit  von  mehr  als  sechs  Tagen  nach  sich  ziehe. 
Da  diese  Interpretation  nicht  jedermann  zugänglich  ist,  würde  sie 
am  besten  in  das  Gesetz  mit  aufgenommen. 

Dasselbe  gilt  von  einer  schon  am  28.  November  1878  er- 
lassenen Vorschrift  des  eidgen.  Eisenbahn-  und  Handelsdeparte- 
ments, die  durch  ein  Kreisschreiben  vom  8.  November  1887  ihre 
Ergänzung  fand  und  verlangt,  dafs  dem  Fabrikinspektor  nicht  nur 
jeder  Unfall  angezeigt,  sondern  auch  die  betreffenden  Unter- 
suchungsakten übermittelt  werden.  Auch  diese  Vorschrift  in 
das  Gesetz  aufzunehmen,  wäre  nicht  überflüssig.  Und  nicht  minder 
wünschbar  wäre  es,  den  Ausdruck  „sofort"  dahin  zu  mildern,  dafs 
zwar  in  schweren  Fällen  sofortige  Anzeige  verlangt  wird,  in  leich- 
teren aber,  entsprechend  der  bundesrätlichen  Weisung,  innerhalb 
spätestens  sieben  Tagen. 

Nach  dem  Buchstaben  des  Art.  IV  wäre  in  jedem  Verletzungs- 
fall eine  amtliche  Untersuchung  über  dessen  Ursachen 
und  Folgen  einzuleiten.  Der  Gesetzgeber  dachte  bei  Erlafs  dieser 
Vorschrift  jedenfalls  nur  an  die  Unfälle,  welche  den  Tod  oder 
bleibenden  Nachteil  oder  lange  Arbeitsunfähigkeit  herbeiführen, 
nicht  aber  an  die  Tausende  minimer  Verletzungen,  die  alljährlich 
zur  Anzeige  und  zur  Entschädigung  gelangen.  Der  betreffende 
Passus  hat  zur  Folge,  dafs  einzelne  auf  Sporteln  erpichte  Beamte 
eine  Unzahl  Untersuchungen  vornehmen,  welche  nur  ihrem  Beutel, 
aber  nicht  zum  mindesten  dem  verletzten  Arbeiter  zum  Vorteil 
gereichen.  Manche  Kantone  bemühen  sich,  dieser  bureaukratischen 
Pedanterie  oder  Ausbeutung  des  Gesetzes  vorzubeugen  und  es 
wäre  sicherlich  sehr  zu  begrüfsen,  wenn  eine  Formulierung  ge- 
funden werden  könnte,  die  sie  in  diesem  Bestreben  unterstützen 
würde.  Noch  mehr  aber  wäre  eine  Bestimmung  zu  begrüfsen, 
welche  den  mit  der  Unfalluntersuchung  betrauten  Beamten  ver 


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40 


F.  Schüler, 


pflichtet,  bei  Bufse  die  Untersuchung  wirklich  bedeutender  Un- 
fälle in  kürzestem  Termin,  wo  möglich  sofort,  spätestens  aber 
innerhab  einer  Woche  vorzunehmen.  Die  zahllosen  Fälle  von 
Verzögerung  dieser  Untersuchungen  bis  zu  einem  Zeitpunkt,  wo 
die  Verletzten  abgereist  und  unauffindbar,  die  Zeugen  nicht  mehr 
aufzutreiben,  die  Ursachen  und  der  Verlauf  nicht  mehr  zu  ermitteln 
sind,  sprechen  Jahr  aus  und  ein  mit  allem  Nachdruck  dafür.  Der 
so  oft  durch  die  Nachlässigkeit  der  Beamten  um  die  Unfallentschä- 
digung gebrachten  oder  doch  darin  beeinträchtigten  Arbeiterschaft 
wäre  damit  ein  grofser  Dienst  geleistet. 

Ueber  die  Frage,  wo  die  Unfallanzeigen  zu  machen 
seien,  bestehen  sehr  verschiedene  Ansichten.  Nach  den  einen  ist 
die  Anzeige  da  zu  machen,  wo  der  Arbeitgeber  seinen  Wohnsitz 
hat,  nach  den  anderen  da,  wo  der  Unfall  erfolgt  ist  Für  das  erstere 
spricht , dafs  dort  die  Entschädigungsansprüche  geltend  gemacht 
werden  müssen,  für  das  zweite,  dafs  die  Unfalluntersuchung  am 
raschesten  und  zweckmäfsigsten  wird  vorgenommen  werden,  wenn 
der  Unfall  sofort  bekannt  wird  und  die  zur  Untersuchung  pflichtigen 
Beamten  mit  allen  Verhältnissen,  Lokalitäten  und  Personen  vertraut 
sind.  Untersuchungen,  welche,  wie  in  solchen  Fällen  oft,  im  Auftrag 
einer  anderen  Kantonsregierung  vorgenommen  werden  müssen,  werden 
in  der  Regel  mit  geringerem  Eifer  ausgeführt,  als  im  Dienst  und 
unter  Kontrolle  der  eigenen  Vorgesetzten.  Jedenfalls  sollte  die 
Frage  nach  dem  richtigen  Ort  der  Unfallsanzeige  durch  das  Gesetz 
entschieden  werden. 

Wünschbar  ist  ferner,  dafs  die  Vorschriften  des  Bundesrats 
betreffend  Führung  einer  Unfallsliste  vom  25.  Oktober  1887 
ebenfalls  im  Gesetz  Erwähnung  finden. 

VI.  Wer  ist  Fabrikarbeiter. 

Während  Art.  V des  Fabrikgesetzes  keiner  Besprechung  bedarf, 
da  er  durch  das  Bundesgesetz  betreffend  die  Haftpflicht  aus  Fabrik- 
betrieb ersetzt  worden  ist,  bietet  der  kurze  Art.  VI  Anlafs  zu  ver- 
schiedenen Bemerkungen. 

Man  trifft  bei  den  Fabrikbesitzern  die  verschiedenartigsten  An- 
sichten, welche  der  in  ihren  Anstalten  beschäftigten  Personen  in 
die  vorgeschriebene  A r b e i t e r 1 i s t e aufzunehmen  seien.  Die  Ent- 
scheidung darüber  ist  nicht  nur  deswegen  von  Bedeutung,  weil 
davon  die  Anwendbarkeit  der  fabrikgesetzlichen  Bestimmungen  auf 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


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diese  oder  jene  Personen  abhängt,  sondern  weil  sie  auch  eine  ein- 
flufsreiche  Rolle  bei  der  Entscheidung  in  manchen  Haftpflicht- 
streitigkeiten spielt. 

Unser  Gesetz  spricht,  ohne  sich  in  eine  nähere  Definition  ein- 
zulassen einfach  von  Arbeitern,  welche  in  den  Anstalten  eines 
Fabrikbesitzers  beschäftigt  seien.  Nach  diesem  Wortlaut  kommt 
es  also  durchaus  nicht  darauf  an,  dafs  die  Arbeiter  einer  Fabrik 
im  Lohn  und  Dienst  des  Besitzers  der  Fabrik  stehen,  sondern  es 
ist  nur  die  Vereinigung  einer  gewissen  Zahl  von  Ar- 
beitern in  den  Lokalitäten  der  F'abrik  mafsgebend.' 
Diese  Auffassung  entspricht  der  vorzugsweise  durch  sanitarische 
Motive  herbeigefiihrten  Entstehungsweise  unseres  Fabrikgesetzes. 
Sie  wurde  auch  vom  Bundesrat  geteilt,  als  er  am  9.  Mai  1882  be- 
schlofs,  „in  Stickereien,  welche  von  mehreren  Mietern  betrieben 
werden,  ist  der  jeweilige  Eigentümer  des  Etablissements  für  die 
Handhabung  des  Gesetzes  verantwortlich.“  Er  teilte  also  nicht  die 
Ansicht,  dafs  nur  unselbständig  arbeitende,  im  Lohn  oder  doch  im 
Dienst  eines  anderen  stehende  Personen  als  Fabrikarbeiter  betrachtet 
werden  dürfen,  noch  weniger  giebt  er  zu,  dafs  alle  im  Dienst  des 
gleichen  Arbeitgebers  stehen  müssen. 

Dieser  Auffassung  entspräche  es  auch,  eine  gemeinsame 
Werkstätte,  die  von  einer  Anzahl  Berufsgenossen  gemietet 
worden  ist,  dem  Fabrikgesetz  zu  unterstellen.  Dafür  spricht  ferner, 
dafs  hier  alle  Bedingungen  vorhanden  sind,  welche  das  Charakte- 
ristische einer  Fabrik  ausmachen:  die  Gesamtheit  treffende,  vom 
einzelnen  nicht  zu  vermeidende  Nachteile  für  die  Gesundheit, 
manchmal  gemeinsame  maschinelle  oder  andere  Gefahren,  bei  ge- 
mischter Arbeiterschaft  auch  Gefährdung  der  Sittlichkeit.  Gegen  eine 
solche  Einbeziehung  unter  das  Fabrikgesetz  kann  die  Schwierigkeit 
der  Handhabung  gewisser  Gesetzesbestimmungen  geltend  gemacht 
werden.  Bei  dem  in  manchen  Industriezweigen  überhand  nehmenden 
Bestreben  der  Arbeiter,  statt  in  den  Werkstätten  der  Prinzipale  zu 
arbeiten,  gemeinsame,  von  einer  Genossenschaft  gemietete  oder  er- 
worbene Werkstätten  zu  erstreben,  darf  diese  Frage  in  einem  revi- 
dierten Fabrikgesetz  nicht  ungelöst  bleiben. 

Schon  längst  entschieden  ist  die  Frage,  ob  nur  Personen,  die 
um  Lohn  in  einer  Fabrik  arbeiten,  als  Fabrikarbeiter  dem  Gesetz 
unterstehen.  Sie  wurde  wiederholt  in  dem  Sinn  beantwortet,  dafs 
auch  Familienglieder,  die  nicht  Mitbesitzer  einer  Fabrik  seien 
und  unter  Aufsicht  und  Weisung  des  Inhabers  zu  arbeiten  haben, 


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42 


F.  Schüler, 


als  Fabrikarbeiter  zu  betrachten  seien.  Konsequenterweise  gilt  dies 
auch  für  freiwillig,  aber  regelmäfsig  in  der  Fabrik  mitarbeitende 
Personen,  sogen.  Volontairs.  Verschiedene  Beantwortung  hat  da 
gegen  die  Frage  gefunden,  ob  derjenige,  der  noch  keine  definitive 
Anstellung  in  einem  Etablissement  gefunden,  sondern  zuerst  eine 
Probezeit  durchzumachen  hat,  vom  Tage  seines  Eintritts  in  die 
Fabrik  an  als  Arbeiter  derselben  zu  behandeln  sei.  Fis  scheint  dies 
fast  selbstverständlich,  denn  es  läfst  sich  nicht  denken,  dafs  für  den 
auf  Probe  zugelassenen  andere  Regeln  für  den  Betrieb  gelten  sollten, 
als  für  jeden  anderen.  Eine  solche  Ausnahmestellung  würde  ja  die 
Durchführung  des  ganzen  Fabrikgesetzes  im  betreffenden  Etablisse- 
ment gefährden.  Was  aber  die  Bedeutung  der  Qualifikation  als 
Fabrikarbeiter  für  die  Haftpflicht  anbetrifft,  handelt  es  sich  ja  für 
den  seine  Arbeiter  gegen  Unfall  versichernden  Prinzipal  um  eine 
ganz  minime  Mehrleistung  für  die  kurze  Probezeit. 

Im  übrigen  galt  bisher  allgemein  die  Norm,  dafs  jede  regel- 
mäfsig in  einer  Fabrik  beschäftigte  Person,  die  an  der  Herstellung 
eines  Fabrikats  oder  eines  Teiles  desselben  mittelbar  oder  unmittel- 
bar sich  zu  beteiligen  hat  oder  beim  Verkaufsbereitstellen,  Ver- 
packen oder  der  Spedition  von  Materialien  und  Waren  mitwirkt, 
als  vom  Fabrikgesetz  geschützt  zu  betrachten  sei,  dafs  aber  die- 
jenigen nicht  inbegriffen  seien,  welchen  die  selbständige  Leitung 
des  Betriebs  oder  die  Besorgung  des  kaufmännischen 
Teils  desselben  obliegt.  Unter  dem  Titel  der  Bureauarbeiter 
werden  aber  nicht  selten  Personen,  namentlich  Kinder,  dem  Schutz 
des  Fabrikgesetzes  entzogen , die  denselben  dringend  notwendig 
hätten.  So  werden  Kinder  angeblich  als  zum  Bureau  gehörige 
„Laufkinder"  angestellt,  aber  zu  allen  möglichen  anderen 
kleinen , zum  Betrieb  gehörigen  oder  auch  anderen  Dienst- 
leistungen verwendet ; Mädchen  werden  z.  B.  als  sogen.  „Falze- 
rinnen“ in  enge  Räume  zusammengepfercht  und  unter  dem  Vor- 
wand, dem  kaufmännischen  Teil  des  Buchdruckereigeschäfts  dienst- 
bar zu  sein,  bis  tief  in  die  Nacht  zur  Arbeit  angehalten.  Es  ist 
klar,  dafs  der  Wortlaut  des  Gesetzes  solcher  Ausbeutung  ein  Finde 
machen  sollte.  Man  darf  wohl  die  Frage  aufwerfen,  ob  man  über- 
haupt nicht  weiter  gehen  und  auch  die  Bureauarbeiter,  zum  min- 
desten die  Jugendlichen  und  die  F'rauen,  durch  die  Unterstellung 
unter  das  Fabrikgesetz  schützen  sollte.  Je  mehr  die  Verwendung 
des  weiblichen  Geschlechts  in  den  Bureaux  überhand  nimmt,  um  so 
mehr  drängt  sich  diese  Frage  auf  und  verlangt  ihre  baldige  Lösung. 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


43 


Inbezug  auf  die  Handlanger,  Fuhrleute  und  ähn- 
liches Personal  hat  sich  der  Bundesrat  in  einem  Spezialfall 
höchst  vorsichtig  dahin  geäufsert  (Kommentar  pag.  31),  dafs  sie  als 
Fabrikarbeiter  gezählt  werden  sollen , sofern  nicht  nachgewiesen 
werden  könne,  dafs  sie  im  Innern  der  betreffenden  Etablissemente 
nicht  beschäftigt  werden.  Dieser  Nachweis  wird  selten  genug  ge- 
leistet werden  können  und  die  Arbeitgeber  versuchen  es  auch 
selten.  In  den  Arbeiterlisten  findet  man  sehr  gewöhnlich  Hand- 
langer und  Fuhrleute  ohne  weitere  Bemerkung  mit  aufgezählt. 
Ausnahmen  zu  gestatten  scheint  daher  überflüssig  und  man  könnte 
wohl  alle  im  Dienst  eines  Fabrikbetriebs  regelmäfsig 
beschäftigten  Personen  gleichmäfsig  unter  das  Fabrikgesetz 
stellen,  gleichviel  zu  welcher  Dienstleistung  sie  als  Arbeiter  der 
Fabrik  verpflichtet  sind. 

Es  würden  zahlreiche  Kontroversen  über  die  Anwendbarkeit 
des  Fabrikgesetzes  sowie  über  das  Zutreffen  der  Haftpflicht  ver- 
mieden, wenn  das  zu  revidierende  Gesetz  über  die  erwähnten 
Punkte  gröfsere  Klarheit  schaffen  würde. 

Aber  auch  in  einem  anderen  Punkt  wäre  eine  deutlichere  Be- 
stimmung zu  wünschen.  Art.  VI  schreibt  nur  vor,  dafs  die  Arbeit- 
geber eine  Arbeiterlistc  nach  bestimmtem  Formular  zu  führen 
haben.  Es  sagt  nicht,  wo  diese  vom  Fabrikinspektor  zu  kon- 
trollierende und  besonders  wegen  den  Angaben  über  das  Geburts- 
datum der  beschäftigten  Kinder  wichtige  Liste  zur  Einsicht  bereit 
zu  halten  sei.  Nun  kommt  es  oft  vor,  dafs  sie  sich  in  dem  eine 
halbe  Stunde  oder  noch  weiter  entfernten  Fabrikbureau  vorfindet. 
Der  Inspektor  mufs  also  die  Einsichtnahme  durch  eine  grofse  Zeit- 
versäumnis und  eine  nicht  geringe  Mehranstrengung  erkaufen  und 
kommt  nicht  selten  in  Versuchung,  wenn  keine  Gründe  zu  beson- 
ders genauer  Nachschau  vorliegen,  auf  dieselbe  für  einmal  ganz  zu 
verzichten.  Der  Wunsch  ist  daher  gewifs  gerechtfertigt,  dafs  das 
Arbeiterverzeichnis  stets  in  der  Fabrik  selbst  aufliegen  müsse. 

VII.  Regiemente.  — Bufscn.  — Lohnabzüge. 

An  der  Berechtigung  der  Vorschrift,  dafs  jeder  Fabrikbesitzer 
verpflichtet  sei,  eine  Fabrikordnung  zu  erlassen,  ist  nie  gezweifelt 
worden.  Auch  über  das,  was  hinein  gehöre,  hat  sich  noch  wenig 
Streit  erhoben.  Ein  vielfach  geäufserter  Wunsch  ist,  dafs  gleich- 
artige Betriebe  auch  gleichartige  Regiemente  besitzen  und 
dafs  die  Aufstellung  und  Annahme  von  Normalreglementen,  wie  sie 


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44 


F.  Schulrr, 


vielfach  entworfen  worden,  sehr  zu  empfehlen  sei.  Ganz  wohl  be- 
gründet ist  auch  der  weitere  Wunsch,  dafs  gleichzeitig  mit  dem 
Reglement  die  Adresse  des  Kreisinspektors  angeschlagen 
werden  müsse.  Wer  weifs,  wie  oft  die  Arbeiter  mit  ihren  Fragen 
oder  Beschwerden  sich  an  die  unrichtigen  Personen  wenden,  wird 
dieses  Verlangen  sehr  begreiflich  finden.  Dafs  die  Regiemente  immer 
gedruckt  werden  müssen,  wo  es  sich  nur  um  kleinste  Betriebe 
handelt,  ist  wohl  überflüssig,  wenn  sie  nur  in  deutlicher  und  grol'ser 
Schrift  angeschlagen  und  an  die  Arbeiter  verteilt  werden.  Dagegen 
darf  mit  Recht  darauf  gedrungen  werden,  dafs  das  Reglement  im 
Besitz  des  ausgetretenen  Arbeiters  bleibe,  denn  hier 
und  da  werden  nachträgliche  Beschwerden  erhoben , über  deren 
Berechtigung  die  Arbeiter  oder  ihre  Ratgeber  nicht  im  klaren 
sind,  wenn  sie  kein  Exemplar  besitzen.  Aus  dem  gleichen  Grund 
sollte  auch  vorgeschrieben  sein,  dals  der  Kreisinspektor  ein  Exem- 
plar jedes  genehmigten  Reglements  zugestellt  erhalte. 

Alle  diese  Bestimmungen  würden  zweckmäfsig  mit  denen  des 
Art.  VIII  zu  einem  Artikel  vereinigt  und  die  Vorschriften  betreffend 
Bufsen  und  Lohnabzüge  in  einem  besonderen  behandelt. 

Diese  letzteren  beide  sind  vielen  Anfechtungen  ausgesetzt.  Ob- 
wohl fast  alle  Vereinsstatuten  B u fs  e n androhen,  alle  Arbeiterkranken- 
kassen solche  Bestimmungen  enthalten,  wird  von  vielen  Seiten  auf 
deren  Beseitigung  in  den  Fabriken  gedrungen.  Sonderbarerweise  weifs 
ich  mich  aber  keines  dahin  zielenden  Begehrens  der  Arbeiter  bei 
Genehmigung  der  F'abrikordnungen  zu  entsinnen.  Richtig  ist,  dafs 
der  Wert  der  Bufsen  auch  von  den  Arbeitgebern  immer  geringer 
taxiert,  dafs  sie  immer  seltener  verhängt  werden,  auch  wo  sie  nach 
der  Fabrikordnung  zulässig  wären.  Ihr  Betrag  wird  von  den 
Arbeitern  sehr  gewöhnlich  weit  überschätzt,  weil  sie  auch  einen 
grofsen  Teil  der  Lohnabzüge  als  Bufsen  betrachten.  Daher  kommt 
es  auch,  dafs  von  den  wegen  ungesetzlichen  Bulsen  erhobenen 
Klagen  der  gröfste  Teil  abgewiesen  werden  mufs,  da  es  sich  um 
gesetzlich  zulässige  Abzüge  handelt  Die  Gegner  der  Bufsen 
glauben  im  Appell  an  das  Ehrgefühl  der  Arbeiter  ein  weit  besseres 
Mittel  zur  Bekämpfung  allfälliger  Ausschreitungen  zu  finden,  als  in 
den  Bufsen  und  verweisen  auf  das  Mittel  der  Androhung  der 
Entlassung.  Diese  mag  wohl  fruchten,  wenn  die  Arbeit  gesucht 
ist,  sehr  wenig  aber  bei  vorhandenem  Mangel  an  Arbeitern.  Weit 
mehr  Verlafs  ist  auf  die  Einsicht  und  das  Ehrgefühl,  namentlich 
der  Männer.  Wie  soll  man  sich  aber  helfen,  wenn  — wie  so  oft  — 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetz«. 


45 


einer  Arbeiterschaft  die  Einsicht  in  den  Nutzen  vorgeschriebener 
Schutzvorrichtungen  fehlt  und  sie  dieselben  nicht  anwendet  oder 
beseitigt;  was  ist  zu  thun  gegenüber  Leuten,  die  so  tief  gesunken 
sind,  dafs  sie  sich  in  allerlei  Unflätereien  und  Unsittlichkeiten  ge- 
fallen, die  man  aber  um  ihrer  armen  Haushaltung  oder  auch  um 
ihrer  Unentbehrlichkeit  im  Geschäft  willen  nicht  von  heute  auf 
morgen  wegschicken  kann;  was  ist  zu  machen  gegenüber  unge- 
zogenen Kindern,  die  man  doch  nicht  körperlich  strafen,  nicht  so- 
fort wegschicken  darf,  die  aber  bei  Hause  ihre  Strafe  empfangen, 
wenn  das  Lohnbuch  einen  Bufsenabzug  für  ihre  Ungezogenheiten 
aufweist?  Die  häufigsten  Bufsen  sind  aber  glücklicherweise  nicht 
die  eben  erwähnten,  sondern  die  Verspätungsbufsen.  Dafs 
die  Arbeitszeit  inne  gehalten  werden  mufs,  ist  selbstverständlich, 
denn  wo  die  Arbeiten  ineinander  greifen,  oder  gemeinsam  ausge- 
führt werden  (z.  B.  Sticker  und  Fädlerin,  Spinner  und  Ansetzer) 
wird  auch  der  Nebenarbeiter  durch  Verspätung  geschädigt;  es 
werden  Schwierigkeiten  im  Betrieb  herbeigeführt.  Bleibt  der  Ar- 
beiter sogar  einen  halben  oder  ganzen  Tag  aus,  mufs  oft  ein  Teil 
der  Betriebskraft,  ein  Teil  der  Maschinerie,  die  jeden  Tag  einen 
zuweilen  nicht  unbeträchtlichen  Wert,  hier  und  da  selbst  mehr,  als 
den  Lohn  des  Arbeiters  repräsentieren,  unbenutzt  bleiben.  Kann 
nicht  durch  eine  Verhängung  von  Bufsen  mit  Nachdruck  zur  Ord- 
nung  gemahnt  werden,  wird  der  Arbeitgeber  veranlafst  werden, 
den  ihm  zugefügten  Schaden  zu  berechnen  und  in  Abzug  vom 
Lohn  zu  bringen.  Dieser  Abzug  ist  aber  nicht  das  Eigentum  der 
Arbeiterschaft,  wie  das  Bufsengeld. 

Gegenüber  diesen  praktischen  Erwägungen  werden  nun  freilich 
theoretische  Gründe  ins  Feld  geführt.  Der  Arbeitgeber  ist  An- 
kläger und  Richter  zugleich,  er  kann  büfsen  oder  straffrei  ausgehen 
lassen,  er  kann  je  nach  Gutdünken  hohe  oder  niedrige  Bufsen  aus- 
sprechen. Man  braucht  aber  nur  die  Urteile  der  Gerichte  in  Fällen 
von  Uebertretung  des  Fabrikgesetzes  zu  durchblättern,  wird  man  die- 
selben Ungleichheiten  und  Willkürlichkcitcn  in  der  Bestrafung  finden. 
Es  bleiben  also  nur  die  theoretischen  Bedenken  des  Juristen  und 
der  bei  vielen  Arbeitern  vorhandene  Widerwillen  gegen  das  Bufsen- 
wesen  übrig.  Ich  mufs  gestehen,  dafs  ich  nach  sorgfältiger  Ab- 
wägung der  Gründe  für  und  wider  glaube,  dafs  die  Beibehaltung 
der  Bufsen  im  Interesse  unserer  Arbeiterschaft  liege,  obwohl  ich 
den  sehnlichen  Wunsch  hege,  dafs  die  Häufigkeit  derselben  immer 
abnehme,  da  mit  ihrer  Verminderung  auch  die  Veranlassung  zu 


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} 


I 


46  F.  Schüler, 

allerlei  kleinlichen  Reibereien  und  gegenseitiger  Verstimmung 
zwischen  Prinzipal  und  Arbeiter  abnimmt.  Wo  die  Notwendigkeit 
des  Bufsenwesens  nicht  vorhanden  ist,  wie  in  der  Mehrzahl  der 
schweizerischen  Betriebe,  ist  gewils  der  förmliche  Verzicht  darauf 
anzuraten ; wo  aber  ernstliche  Gründe  für  Beibehaltung  vorliegen, 
liegt  es  durchaus  nicht  im  Interesse  der  Industrie,  die  Abschaffung 
zu  erzwingen. 

Dagegen  soll  das  Bufsen recht  in  engen  Schranken  gehalten 
werden.  Es  ist  die  Höhe  der  Bufsen  schon  durch  das  bisherige 
Gesetz  auf  die  Hälfte  des  Tagesverdienstes  beschränkt.  Dieser  Be- 
trag wird  in  zahlreichen  Etablissementen  selten  oder  nie  erreicht. 
Er  läfst  sich  auch  kaum  rechtfertigen,  aufser  etwa,  wenn  es  sich  um 
Blau  machen  handelt,  in  welchem  Fall  der  Arbeiter  oft  schlechter 
wegkäme,  wenn  eine  Entschädigungsforderung  an  die  Stelle  der  Bufse 
träte.  Das  Heruntersetzen  des  Maximalbetrages  auf  einen  Dritteil 
oder  Vierteil  dürfte  wohl  vorgeschlagen  oder  auch  einige  andere 
Normen  über  Bufsenberechnung  in  das  Gesetz  aufgenommen 
werden.  Ebenso  dürfte  die  Ansicht  der  Mehrheit  der  ständerätlichen 
Kommission  der  70  er  Jahre  im  Gesetz  zum  Ausdruck  kommen, 
dafs  nur  Bufeen  verhängt  werden  dürfen,  welche  in  derFabrik- 
ordnung  angedroht  sind.  Endlich  — und  das  ist  wohl  das 
Wichtigste  von  allem  — sollte  die  Führung  einer  Bufsenliste 
mit  Angabe  des  Grundes,  des  Betrags  und  des  Verhängers  der 
Bufse  von  allen  F'abriken  verlangt  werdeti , wo  man  nicht  auf 
Bufsen  überhaupt  verzichtet  hat.  Diese  Liste  wäre  dem  Fabrik- 
inspektor vorzuweisen  und  auf  Verlangen  auch  den  Arbeitern  zur 
Einsicht  vorzulegen.  Durch  letzteres  würde  manchem  falschen 
Verdacht  und  manchem  Mifsverständnis  vorgebeugt,  wie  die  In- 
spektoren schon  oft  zu  beobachten  Gelegenheit  hatten.  Da  ja  all- 
gemein anerkannt  wird,  dafs  die  Bufsen  Eigentum  der  Arbeiterschaft 
seien,  kann  darin  auch  nichts  Beleidigendes  für  die  Prinzipale  ge- 
legen sein,  so  wenig,  wie  in  der  Ueberlassung  der  Entscheidung 
über  die  Verwendungsweise  der  Bufsengelder  an  die  Arbeiter,  die 
in  so  zahlreichen  Betrieben  längst  üblich  ist.  Auch  diese  Be- 
stimmung könnte  unter  Beibehaltung  der  Vorschrift,  dafs  sie 
namentlich  für  Unterstützungskassen  Verwendung  finden  sollen,  un- 
bedenklich im  Gesetz  Aufnahme  finden. 

Zu  weit  mehr  Bedenken,  als  die  Bufsen,  geben  die  Lohn- 
abzüge Veranlassung.  Ihre  rechtliche  Zulässigkeit  wird 
bestritten  in  allen  denjenigen  Fällen,  wo  der  Abzug  von  nicht 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


47 


pfändbaren  Lohnguthaben  gemacht  werden  soll.  Nicht  pfändbar 
sind  aber  diejenigen  Lohnbeträge,  welche  nach  dem  Entscheid  des 
Betreibungsbeamten  dem  Schuldner  und  seiner  Familie  zum  Lebens- 
unterhalt unumgänglich  nötig  sind.  Dies  trifft,  wird  behauptet,  in 
vielen  Industrieen  fast  regelmäfsig  zu.  Die  Verrechnung  der  Schaden- 
ersatzforderung des  Arbeitgebers,  resp.  der  Lohnabzug  soll  daher  in 
allen  diesen  Fällen  verunmöglicht  werden  und  dies  „kann  wirksam 
nur  durch  ein  Verbot  der  Lohnabzüge  geschehen.“ 

Selbstverständlich  müfste  aber  nicht  nur  dem  Arbeitgeber 
untersagt  werden,  durch  Lohnabzüge  sich  für  den  erlittenen  Schaden 
Ersatz  zu  schaffen,  sondern  es  müfste  auch  angenommen  werden, 
dafs  die  Bedürftigkeit  der  Arbeiter  im  ganzen  eine  so  grofse  sei, 
dafs  seine  übrigen  Kreditoren  aller  Art  gar  nicht  daran  denken 
dürften,  sich  durch  Pfändung  eines  Teils  seines  Lohnes,  seiner  ein- 
zigen Einnahmequelle,  bezahlt  zu  machen.  Wie  es,  die  Richtigkeit 
dieser  Annahmen  vorausgesetzt,  um  den  Kredit  der  Fabrikarbeiter- 
schaft  stehen  müfste,  liegt  auf  der  Hand. 

Vermutlich  würden  sich  aber  die  Arbeitgeber  zu  helfen  wissen. 
Sie  würden  sich  durch  Verträge,  Lohnabtretungen  sichern,  die 
nirgends  untersagt  sind,  wenigstens  für  Leute,  die  eigenen  Rechtes 
sind.  Sie  könnten  sich  auch  durch  die  Forderung  eines  Depositums 
schützen,  das  der  Arbeiter  vor  Erlangung  irgend  welcher  Arbeit  zu 
leisten  hätte;  sie  könnten  den  I.ohnbetrag  heruntersetzen  und  in 
Form  regelmäfsig  gezahlter  Prämien  für  richtig  erstellte  Arbeit  doch 
wieder  das  frühere  Lohnverhältnis  herstellen.  Es  mag  damit  nur 
angedeutet  sein,  wie  auf  verschiedenste  Weise  der  Erfolg  eines 
Lohnabzugverbotes  zu  nichte  gemacht  werden  könnte. 

Wenn  also  auch  die  juridischen  Ausführungen,  die  oben  er- 
wähnt wurden,  richtig  sind,  was  in  Betracht  der  Bedeutung  der 
gestellten  Forderungen  Juristen  vom  Fach  beurteilen  mögen,  wäre 
der  Effekt  eines  Verbotes  der  Lohnabzüge  nicht  der  erwartete, 
sondern  weit  eher  der  entgegengesetzte. 

Sind  denn  aber  die  Uebelslände,  welche  dem  Lohnabzugswesen 
anhaften,  wirklich  so  grofs  und  auf  keinem  anderen,  als  dem  vor- 
geschlagenen Weg  zu  beseitigen?  Dringen  die  Arbeiter  wirklich 
auf  völlige  Abschaffung  der  Abzüge?  Die  Frage  mufs  nach  meinen 
Erfahrungen  mit  „Nein"  beantwortet  werden.  Die  zahlreichen 
Klagen  über  Lohnabzüge,  welche  im  I.auf  der  Jahre  beim  Fabrik- 
inspektorat  eingingen,  beanstandeten  nur  den  Betrag  der  Abzüge, 
selten  die  Begründetheit  derselben;  das  Recht  zu  Abzügen 


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F.  Schüler, 


wurde  nicht  in  Frage  gestellt.  Am  meisten  Streit  entstand  über  Ab- 
züge für  schlechte  Arbeit.  Von  den  Schädigungen  des  Arbeit- 
gebers durch  fahrlässige  oder  mutwillige  Beschädigung  von  Werk- 
zeugen, Maschinen,  Rohmaterial  etc.  wurde  allgemein  zugegeben, 
dafs  der  Abzug  fast  nie  den  ganzen  Betrag  des  Schadens  ausmache, 
oft  aber  nur  einen  kleinen  Bruchteil  davon.  Es  giebt  grofse  Ge- 
schäfte, welche  besondere  Listen  aufgestellt  haben,  aus  denen  der 
Arbeiter  selbst  die  an  ihn  zu  erhebende  Schadenersatzforderung 
berechnen  kann.  Die  Ansätze  machen  durchschnittlich  etwa  20  Pro- 
zent des  wirklichen  Schadens  aus.  Selbst  Arbeitervereine  gaben  den 
üblichen  Abzug  auf  blofs  5 Prozent  des  Schadens  an.  Eine  Ver- 
trauenskommission der  Arbeiter  meldet  bei  Anlafs  einer  umfassenden 
amtlichen  Enquete,  dafs  die  Abzüge  „bis  2 Fr.“  ansteigen.  Geradezu 
empörende  gegenteilige  Thatsachen  vernahm  man  freilich  aus  dem 
Stickereigebiet.  Aber  auch  hier  suchte  man  bekanntlich  die  Abhilfe 
im  stickereireichsten  Kanton  nicht  in  der  Abschaffung  der  Abzüge, 
sondern  in  der  Einführung  von  Schiedsgerichten,  die 
aus  Sachverständigen  zusammengesetzt  rasch  und  ohne  Verur- 
sachung grofser  Kosten  oder  langer  Zeitversäumnisse  urteilen  und 
somit  dem  ungerecht  beanspruchten  Arbeiter  einen  leicht  erreich- 
baren Schutz  bieten.  Die  Erfahrungen , welche  man  bisher  mit 
diesen  Gerichten  gemacht  hat,  sind  vortreffliche.  Um  ihre  allge- 
meine Einführung  sich  zu  bemühen,  läge  weit  mehr  im  Interesse 
der  Arbeiterschaft,  als  die  Untersagung  aller  Abzüge.  Denn  es  ist 
nicht  zu  übersehen,  dafs  eine  solche  Mafsregel  bedenkliche  Folgen 
für  unsere  Industrie  haben  müfste.  Entweder  würden  sich  unsere 
Industriellen  einen  anderen  Schutz  vor  Schädigungen  irgend  welcher 
Art  zu  schaffen  wissen,  der  die  Arbeiter  in  ein  noch  ungünstigeres 
Verhältnis  zu  ihren  Arbeitgebern  brächte,  sie  würden  z.  B.  die 
Akkordlöhne  reduzieren,  oder  wenn  dies  nicht  gelänge,  würde  die 
Produktion  so  sehr  verschlechtert,  dafs  hieraus  die  gröfste  Gefahr 
für  unsere  Industrie  erwüchse.  Denn  das  ist  ja  klar,  dafs  mit  der 
Gefahr,  einen  Lohnabzug  zu  erleiden,  auch  der  Eifer  sich  ver- 
mindern würde,  untadelhafte  Arbeit  zu  liefern  und  mit  den  anver- 
trauten Gegenständen  sorgfältig  umzugehen. 

1 

VIII.  Fabrikordnungen  und  ihre  Genehmigung. 

Den  Fabrikordnungen  wird  nicht  selten  eine  Bedeutung 
beigemessen,  welche  sie  gar  nicht  besitzen.  Sie  werden  als  ein 
zwischen  Arbeiter  und  Arbeitgeber  abgeschlossener  Vertrag  an- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


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gesenen,  erfüllen  aber  in  keiner  Weise  die  Requisite  eines  solchen. 
Zu  einem  Vertrag  ist  doch  Willensübereinstimmung  der  Kontra- 
henten erforderlich,  während  der  Arbeiter  sich  zuweilen  nur  wider- 
willig den  Bestimmungen  der  Fabrikordnung  unterzieht,  die  nicht 
er  aufgestellt,  ja  sogar  ohne  Erfolg  bei  den  Behörden  beanstandet 
hat.  Der  Kommentar  zum  Fabrikgesetz  enthält  wiederholte  Ent- 
scheide des  Bundesrats,  welche  den  Fabrikordnungen  die  Eigen- 
schaft eines  Vertrags  absprechen;  es  würde  aber  zweckmäfsig  im 
■Gesetz  ausdrücklich  gesagt. 

Jede  Fabrikordnung  bedarf  der  Genehmigung,  aber  nicht 
nur  bei  ihrem  ersten  Erlafs,  sondern  auch  bei  jeder  Abänderung. 
Denn  auf  diese  Weise  ist  schon  wiederholt  dem  Gesetz  wider- 
sprechendes in  das  Reglement  hineinzubringen  versucht  worden. 
Es  kam  aber  auch  vor,  dafs  dieser  Versuch  durch  Aufstellung  von 
„Spezialreglemcnten",  „Hausordnungen"  und  wie  diese  Erlasse  alle 
hiefsen,  gemacht  wurde.  Solche  Erfahrungen  haben  dazu  geführt, 
dafs  die  Genehmigung  auch  für  diese  Spczialvorschriften  ver- 
langt wurde.  Auch  dies  dürfte  im  Gesetz  ausdrücklich  erwähnt  werden. 

Der  Genehmigung,  %velche  der  Kantonsregierung  zusteht,  mufs 
selbstverständlich  eine  Prüfung  vorausgehen.  Sie  kann  nur  erteilt 
werden,  wenn  die  Fabrikordnung  nichts  dem  Gesetz  wider- 
sprechendes enthält.  Es  können  aber  Bestimmungen  in  ein  Regle- 
ment hinein  gebracht  werden,  welche  schlimmer  sind,  als  manche 
Verstöfsc  gegen  das  Gesetz.  Schon  öfter  haben  Dinge  Aufnahme 
gefunden,  welche  jeder  mit  den  Verhältnissen  vertraute  als  grobe 
Unbill  betrachten  mufste.  Verschiedene  Regierungen  haben  auch 
das  Vorhandensein  solch'  grober  Unbill  als  Grund  anerkannt,  einem 
Reglement  ihre  Genehmigung  zu  versagen.  Besser  wäre  aber, 
wenn  das  Gesetz  sagen  würde,  das  die  Genehmigung  wegen  Un- 
gesetzlichkeiten versagt  werden  m u fs , wegen  offenbarer  U n - 
bill  aber  verweigert  werden  kann.  Eine  solche  Bestimmung 
würde  manche  später  entstehende  Konflikte  verhüten. 

Es  bedarf  einer  ziemlichen  Vertrautheit  mit  den  Verhältnissen 
eines  Betriebs,  wenigstens  in  manchen  Fällen,  um  über  die  Zu- 
lässigkeit und  den  Effekt  gewisser  Bestimmungen  ein  richtiges  Ur- 
teil zu  fällen.  Daher  haben  sehr  viele  Kantonsregierungen  seit 
Jahren  die  zu  genehmigenden  Regiemente  den  Fabrikinspek- 
toren mitgeteilt  und  ihr  Gutachten  eingeholt.  Es  würde  kaum 
auf  Widerspruch  stofsen,  wenn  man  dies  ausdrücklich  im  Gesetz 
vorschreiben  würde. 

Archiv  für  toz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  4 


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F.  Schüler 


Schon  das  Fabrikgesetz  von  1877  bezweckte  durch  Aufnahme 
einer  entsprechenden  Bestimmung  der  Arbeiterschaft  die  Mög- 
lichkeit zu  gewähren,  sich  über  die  Fabrikordnungen  auszusprechen, 
resp.  Einsprache  gegen  gewisse  Bestimmungen  zu  erheben.  Da 
deren  Gesetzwidrigkeit  auch  von  einem  blofsen  Theoretiker  oder 
sonst  von  einem  mit  dem  Fabrikwesen  nicht  vertrauten  Mann  meist 
leicht  erkannt  werden  könnte,  ist  anzunehmen,  dafe  der  Gesetzgeber 
namentlich  solche  grofse  Unbilligkeiten  im  Auge  hatte,  wie  sie  oft 
nur  durch  die  zunächst  beteiligten  aufgedeckt  werden  können. 
Die  Art  und  Weise,  wie  in  der  Regel  die  Meinungsäufserung  der 
Arbeiter  eingeholt  wird,  ist  aber  nicht  geeignet,  in  Etablissementen, 
wo  die  Verhältnisse  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter  gespannte 
sind,  dieselbe  zum  Ausdruck  gelangen  zu  lassen.  Es  wird  an 
solchen  Orten  nicht  selten  — ob  mit  oder  ohne  Grund,  ist  jeweilen 
schwer  zu  entscheiden  — geklagt,  dafs  schon  die  blofse  Einsicht- 
nahme in  den  im  Bureau  aufgelegten  oder  in  der  Fabrik  ange- 
schlagenen Reglementsentwurf  als  eine  Anmalsung  scheel  angesehen 
werde.  Jedenfalls  ist  an  eine  ungescheute  Besprechung  desselben 
nicht  zu  denken.  Es  dürfte  deshalb  eher  dem  Zweck  entsprechen, 
wenn  die  Entwürfe  an  neutralem  Ort,  z.  B.  auf  der  Gemeinde- 
kanzlei, nach  vorgängiger  Anzeige  des  Vorhabens,  aufgelegt  und 
die  Einsendung  allfälliger  Einsprachen  oder  Abänderungsvorschläge 
direkt  an  die  Regierung  verlangt  würde.  Für  Anbringung 
derselben  wäre  eine  bestimmte  kurze  Frist  anzusetzen. 

Das  dritte  Alinea  des  Fabrikgesetzes  erklärt  die  Fabrikordnung  ver- 
bindlich für  den  Fabrikbesitzer  und  den  Arbeiter.  Zuwiderhandlungen 
sollen  aber  nur  bestraft  werden,  wenn  sie  vom  ersteren  be- 
gangen werden.  Diese  Ungleichheit  vor  dem  Gesetz  wird  dadurch 
zu  erklären  versucht,  dafs  dem  Arbeitgeber  Zwangsmittel  zu  Ge- 
bote stehen,  um  den  Arbeiter  zur  Beobachtung  der  Reglements- 
vorschriften anzuhalten.  Man  verweist  darauf,  dafs  der  Arbeiter 
sonst  in  die  I-age  kommen  könnte,  für  die  gleiche  Uebertretung 
doppelt  bestraft  zu  werden.  Das  ist  richtig,  wo  Bufsen  bestehen 
und  zwar  in  einem  Betrag,  der  die  Uebertretung  für  Arbeiter  nicht 
mehr  vorteilhaft  erscheinen  läfet.  Dies  ist  aber  sehr  oft  nicht  der 
Fall.  Die  Wöchnerin  z.  B.,  die  gestützt  auf  lügenhafte  Angaben 
sich  einige  Wochen  zu  früh  wieder  in  die  Fabrik  einschmuggelt 
oder  in  eine  andere  Fabrik,  wo  ihre  Schwangerschaft  nicht  be- 
kannt war,  zu  früh  eintritt,  wird  sich  aus  der  zulässigen  maximalen 
Bufsc  von  einem  halben  Tagesverdienst  nichts  machen,  wenn  sie 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  5 j 

durch  ihre  Uebertretung  ein  oder  anderthalb  Dutzend  Tagelöhne 
gewinnt.  Der  Arbeitgeber  wird  freilich  auch  nicht  bestraft  werden, 
wenn  er  beweist,  dafs  er  betrogen  worden  ist.  Durch  diese  all- 
seitige  Straflosigkeit,  ein  nicht  seltenes  Vorkommnis,  ge- 
langt man  aber  dazu,  den  Wöchnerinnenausschlufs  ganz  illusorisch 
zu  machen.  Der  gleichen  Straflosigkeit  erfreut  sich  auch  der  Ar- 
beiter , welcher  durch  Nichtverwendung  oder  Beseitigung  einer 
Schutzvorrichtung  zahlreiche  Nebenarbeiter  aufs  höchste  gefährdet. 
Er  kann  für  seinen  Leichtsinn  höchstens  mit  einem  halben  Tag- 
lohn gebüfst  werden,  der  Prinzipal  aber,  der  seiner  Renitenz  hilflos 
gegenübersteht,  unterliegt  möglicherweise  wegen  Nichtgebrauch 
der  vorgeschriebenen  Schutzvorrichtungen  der  Bestrafung.  Darauf 
beruht  zum  nicht  geringsten  Teil  die  aufserordentliche  Nachlässig- 
keit im  Gebrauch  von  Schutzvorrichtungen,  über  welche  jeder  Amts- 
bericht der  Inspektoren  zu  klagen  hat,  denn  selten  wird  sich  ein 
Richter  entschliefsen,  einen  Arbeitgeber  dafür  zu  strafen,  der  gegen- 
über dem  Arbeiter  machtlos  war.  Wohl  könnte  er  auch  vom 
zweiten  seiner  Zwangsmittel  Gebrauch  machen  und  den  Arbeiter 
entlassen,  aber  es  wurde  früher  schon  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dafs  dies  in  manchen  Fällen  gleichbedeutend  wäre  mit  der  schwer« 
sten  Schädigung  des  Geschäfts. 

Nach  meinem  Dafürhalten  ist  es  nun  freilich  eine  falsche 
Auslegung  des  Gesetzes,  wenn  angenommen  wird,  Alinea  3 des 
Art.  VIII  beziehe  sich  auf  alle  Uebertretungen  des  Fabrikgesetzes 
durch  die  Arbeiter.  Es  hat  dem  genauen  Wortlaut  nach  nur  die-' 
jenigen  im  Auge,  denen  gegenüber  die  Fabrikordnung  dem  Arbeit- 
geber eine  Strafgewalt  verleiht.  In  Wirklichkeit  aber  wird  von 
den  Gerichten  gewöhnlich  Straflosigkeit  des  Arbeiters  bei  Fabrik- 
gesetzübertretungen aller  Art  angenommen.  Eine  Aenderung  des 
2.  Satzes  Alinea  3 schiene  daher  gerechtfertigt,  wonach  es  heifsen 
würde:  Zuwiderhandlungen  fallen  unter  Art.  19  des  Gesetzes,  für 
die  Arbeiter  jedoch  nur  dann,  wenn  der  Arbeitgeber  die  Unmög- 
lichkeit nachzuweisen  vermag,  die  Arbeiter  an  denselben  zu  ver- 
hindern. 

IX.  Die  Auflösung  des  Dienstverhältnisses. 

Nach  Art.  349  des  Obligationenrechts  bleiben  die  von  den 
Vorschriften  desselben  abweichenden  Bestimmungen  des  Fabrik- 
gesetzes in  Kraft,  soweit  es  sich  um  den  Dienst  vertrag  handelt, 

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F.  Schüler, 


Zur  Auflösung  desselben  verlangt  das  Fabrikgesetz  eine  mindestens 
14  Tage  vorher  erklärte  Kündigung.  Nach  der  Gesetzesinter- 
pretation des  Bundesrates  ist  dies  so  zu  verstehen,  dafs  ausschliefs- 
lich  eine  14 tägige  Frist  durch  die  Fabrikordnung  bedungen 
werden  kann,  dafs  aber  jede  Verkürzung  oder  Verlängerung  dieses 
Termins  nur  auf  dein  Weg  des  Vertrags  festgestellt  werden 
kann.  Dies  sollte  jedenfalls  in  deutlicherer  Weise  gesagt  werden, 
als  Art.  IX.  es  thut,  denn  die  Auffassung,  es  sei  eine  mehr  als 
14 tägige  Frist  durch  das  Reglement  festzusetzen  gestattet,  war 
sehr  verbreitet.  Dafs  vertraglich  vereinbarte  Abweichungen  von 
der  14  tägigen  Frist  möglich  gemacht  werden,  ist  sehr  notwendig. 
Versetze  man  sich  nur  in  die  I-age  einer  neu  einzuführenden  In- 
dustrie, deren  Aufkommen  oft  so  sehr  davon  abhängt,  dafs  ihr  aus 
dem  Ausland  herbeigezogenes,  geschultes  Arbeits-  oder  Aufsichts- 
personal für  eine  gewisse  Zeitdauer  gesichert  bleibt.  Auch  gewisse 
Arbeiter,  Spezialisten,  welche  nur  in  sehr  kleiner  Zahl  Verwendung 
finden  können,  wären  sehr  übel  daran,  wenn  sie  sich  ihre  Stellen 
nicht  auf  längere  Zeit  sichern  könnten.  Arbeiter,  wie  Arbeitgeber 
haben  also  ein  Interesse  an  der  Ermöglichung  von  Ausnahmen. 
Es  kommt  aber  vor,  dafs  solche  Verträge  ganz  einseitig  zu 
Gunsten  der  einen  Partei,  meist  des  Arbeitgebers,  abgeschlossen 
werden.  Es  ist  nicht  einzusehen,  warum  eine  solche  Rechts- 
ungleichheit zugestanden  werden  soll,  denn  beiden  Kontrahenten 
ist  ja  durch  das  Gesetz  die  Möglichkeit  gewährt,  das  Verhältnis  zu 
lösen,  wenn  von  der  einen  oder  anderen  Seite  die  eingegangenen 
Verpflichtungen  nicht  inne  gehalten  werden  oder  die  bedungenen 
Leistungen  nicht  gemacht  werden  können.  Daher  erscheint  der 
Wunsch  gerechtfertigt,  dafs  gesetzlich  gleiche  Rechte  für 
beide  Kontrahenten  gefordert  werden. 

Ob  eine  Ausnahmsbestimmung  auch  für  neueintretende  Arbeiter 
in  der  Weise  aufgenommen  werden  sollte,  dafs  eine  Probezeit  fest- 
gesetzt wird,  während  der  Austritt  oder  die  Entlassung  jeden  Augen- 
blick oder  doch  in  ganz  kurzer  Frist  stattfinden  kann,  dürfte  sehr 
verschiedene  Beantwortung  finden.  Es  giebt  Fabrikgesetze,  z.  B. 
das  österreichische,  welche  eine  solche  Probezeit  und  zwar  in  der 
Dauer  von  vier  Wochen,  ausdrücklich  verlangen.  Manches  spricht 
dafür.  Setzen  wir  z.  B.  den  Fall,  dafs  ein  Etablissement  Arbeiter- 
familien aus  weiter  Ferne  herbeizieht,  weil  es  sie,  was  bekanntlich 
öfter  vorkommt,  in  der  Nähe  nicht  mehr  findet,  mufs  man  es  doch 
mehr  als  bedenklich  finden,  diese  Leute  Wochen  lang  der  willkür- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


53 


liehen  Entlassung  auszusetzen,  die  sie  arbeitslos  in  fremder  Gegend 
machen  und  dem  Elend  preis  geben  würde.  Ist  ein  einzelner  absolut 
unbrauchbar,  giebt  ja  Art.  IX  ohnehin  das  Recht  zu  sofortiger  Ent- 
lassung. Von  einer  dringenden  Notwendigkeit  einer  Probezeit  kann 
also,  so  lange  dieser  Schutz  für  den  Arbeitgeber  besteht,  nicht  ge- 
sprochen werden.  Es  dürfte  somit  genügen,  das  Recht  zu  einer 
vertraglichen  Feststellung  einer  Probezeit  zuzuge- 
stehen. Durch  diese  Formalität  werden  beide  Kontrahenten  zum 
voraus  auf  die  Folgen  einer  solchen  Bestimmung  aufmerksam  ge- 
macht, was  durch  blofse  Aufnahme  eines  bezüglichen  Passus  ins 
Gesetz  nicht  erreicht  würde. 

Die  Kündigung  des  Dienstvertrags  kann  nicht  jeden  Augen- 
blick stattfinden,  sondern  nur  am  Samstag  oder  Zahltag.  Dies 
wurde  öfter  so  verstanden , dafs  nach  freier  Wahl  der  eine  oder 
andere  dieser  Tage  als  Kündigungstag  durch  die  Fabrikordnung 
bezeichnet  tverden  könne.  Solche  Irrtümer  würden  vermieden,  in- 
dem gesagt  würde:  >an  jedem  Samstage  sowie  auch  an  jedem 
Zahltag.  < 

Entlassung  oder  Austritt  kann  aber  auch  ohne  Kündigung 
erfolgen , wenn  bestimmte  Gründe  vorliegen , die  im  Art.  IX  auf- 
gezählt werden.  Eis  hat  sich  im  Lauf  der  Jahre  herausgestellt,  dafs 
diese  Bestimmungen  ergänzungsbedürftig  sind. 

Es  ist  in  verschiedenen  Industrieen  eine  vielfach  befolgte  Praxis, 
bei  Arbeitsmangel  wenigstens  einen  Teil  der  Arbeiter  ohne 
weiteres  zu  entlassen,  sei  es  für  kürzere  oder  längere  Zeit.  Es  mag 
nun  Industriezweige  geben,  wo  Arbeit  nur  von  Zeit  zu  Zeit  vor- 
handen ist  und  wo  diese  Schwankungen  vom  Arbeitgeber  weder 
vorausgesehen , noch  vermieden  werden  können.  Das  ist  aber  die 
grofse  Minderzahl.  Sie  werden  am  besten  thun,  mit  ihren  Arbeitern 
von  Anfang  an  eine  möglichst  kurze  Kündigungsfrist  zu  vereinbaren, 
damit  diese  vom  Tag  der  Anstellung  an  wissen,  dafs  sie  von  einem 
Tag  auf  den  anderen  arbeitlos  werden  können.  Die  meisten  In- 
dustrieen sehen  aber  den  Arbcitsmangel  voraus  und  können  recht- 
zeitig denjenigen  Arbeitern  kündigen , für  welche  voraussichtlich 
keine  Arbeit  mehr  vorhanden  sein  wird.  Das  Recht  der  Entlassung 
ohne  Kündigung  bei  Arbeitsmangel  braucht  somit  gar  nicht  zuge- 
standen zu  werden.  Weit  schwieriger  ist  die  oft  ventilierte  Frage 
zu  beantworten,  ob  einem  Arbeiter  wegen  andauernder  Verun- 
möglichung  der  Arbeitsleistung  durch  Krankheit,  Unfall  oder 
Militärdienst  gekündigt  werden  kann.  So  sehr  der  Gedanke 


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54 


K.  Schulrr, 


jedem  Billigdenkenden  widerstrebt,  dafs  derjenige,  welcher  seine 
Bürgerpflicht  erfüllt,  deshalb  erwerbslos  werden  oder  der  Kranke 
durch  den  Verlust  seiner  Stellung  noch  unglücklicher  werden  soll, 
darf  doch  auch  nicht  aufser  acht  gelassen  werden,  in  welche  fatale 
I.age  ein  Geschäft  versetzt  werden  kann,  welches  viele  Monate  lang 
die  Dienste  eines  schwer  ersetzbaren  Arbeiters  entbehren  mufc. 
Mufs  die  Stelle  dem  bisherigen  Inhaber  offen  gehalten  werden,  wird 
kaum  ein  tüchtiger  Ersatzmann  zu  ihrer  Uebernahme  sich  entschliefsen. 
Was  ist  in  solchen  Fällen  gerecht?  Bei  der  Entscheidung  dürfte 
wohl  auseinander  zu  halten  sein  , ob  Militärdienst  oder  Krankheit 
die  Möglichkeit  der  Dienstleistung  zeitweise  aufhebt.  Im  erstem 
Fall  kann  der  Arbeitgeber  schon  bei  der  Anstellung  eines  Arbeiters 
in  Erfahrung  bringen,  auf  welche  Unterbrechungen  der  Arbeit  durch 
Militärdienst  er  zu  rechnen  habe.  Es  wird  selten  genug  Vor- 
kommen, dafs  er  einen  militärdienstfähigen,  also  körperlich  und 
geistig  leistungsfähigen  jungen  Mann  wegen  dessen  Dienstpflicht 
nicht  anstellt.  Bestehen  aber  besondere  Verhältnisse,  welche  er- 
schwerend einer  solchen  Unterbrechung  der  Arbeit  entgegenstehen, 
kann  er  sich  vertraglich  das  Nötige  sichern.  Anders  verhält  es 
sich  bei  Erkranku  ngen.  Sie  sind  weder  vorauszusehen,  noch  ist 
der  Zeitpunkt  des  Wiedereintritts  der  Arbeitsfähigkeit  zu  bestimmen. 
Vielleicht  folgt  sogar  jahrelanges  Siechtum.  Es  ist  daher  gar  nicht 
gedenkbar,  dafs  einem  Arbeitgeber  verboten  werden  dürfe,  einem 
Kranken  zu  kündigen.  Aber  es  sollte  ein  bestimmter  Termin  fest- 
gesetzt werden,  nach  dessen  Ablauf  die  Kündigung  erst  zulässig 
ist,  sofern  nicht  vertraglich  etwas  anderes  ausgemacht  worden  ist. 
Solche  Bestimmungen  enthalten  auch  ausländische  Fabrikgesetze, 
wie  denn  z.  B.  das  österreichische  sofortige  Entlassung  zulässig  er- 
klärt, wenn  ein  Arbeiter  über  vier  Wochen  krank  oder  arbeitsun- 
fähig ist.  Wenn  auch  unser  Gesetz  künftig  eine,  wenn  auch  weniger 
strenge,  Bestimmung  darüber  aufstellt,  dürfte  es  gerathen  sein,  den 
ausdrücklichen  Vorbehalt  zu  machen,  dafs  dadurch  der  Fortbezug 
einer  Haftpflichtentschädigung  oder  der  Beiträge 
einer  Krankenkasse  bis  zur  Heilung  in  keiner  Weise  be- 
einflufst  werde.  Sehr  bemühende  Thatsachen  mahnen  an  die  Notli- 
■wendigkeit  einer  solchen  Vorsichtsmafsregel , obschon  anerkannt 
werden  muls,  dafs  Kranke  meist  sehr  human  behandelt  und  nach 
ihrer,  selbst  unvollständigen  Genesung,  wenn  irgend  möglich  in 
gleicher  Weise  wieder  angestellt  werden. 

Das  in  sehr  allgemein  gehaltener  Formulierung  den  Arbeitern 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgeselzes. 


55 


zugestandene  Recht  zum  Austritt  ohne  vorausgegangene 
Kündigung  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Bestimmungen.  Ent- 
stehen Differenzen,  die  sogar  zu  Strikes  fuhren,  oder  auch  zu  Aus- 
sperrungen, kann  deren  Berechtigung  nicht  durch  allgemeine  Regeln, 
sondern  nur  durch  sorgfältige  Prüfung  der  Verhältnisse  von  Fall  zu 
Fall , durch  die  gewöhnlichen  oder  besser  durch  Schiedsgerichte 
festgestellt  werden.  Dafs  die  blofse  Teilnahme  an  einem  in  ge- 
setzlicher Weise  durchgeführten  Strike  nicht  strafbar  sein  könne, 
also  auch  nicht  durch  Entlassung  ohne  Kündigung  geahndet  werden 
dürfe,  ist  wohl  heute  allgemein,  wenigstens  in  unserem  I.and,  aner- 
kannt. Wie  ein  oft  verlangter,  weiterer  Schutz  gegen  Mafsregelungen 
wegen  Strike  gewährt  werden  könne,  ist  nicht  wohl  einzusehen, 
denn  wer  will  dem  Arbeitgeber,  der  es  nicht  ausdrücklich  selbst 
sagt,  den  Beweis  leisten,  dafs  er  von  dem  Arbeitern  und  Arbeit- 
gebern in  gleicher  Weise  zustehenden  Kündigungsrecht  nicht  aus  ganz 
anderen  Gründen,  als  wegen  der  Teilnahme  am  Strike  Gebrauch 
gemacht  habe?  Uebrigens  wird  auch  hier  dem  Richter  das  ent- 
scheidende Wort  zustehen,  wenn  gesetzlich  unzulässige  Gründe 
nachgewiesen  werden  können.  Doch  mag  ein  Punkt  hier  Er- 
wähnung finden , der  wiederholt  die  Behörden  beschäftigt  hat : das 
Recht  des  Arbeiters  zum  Austritt  ohne  zu  kündigen,  wenn  sein 
Lohn  eine  Verkürzung  erfahren  soll,  die  eintreten  wird, 
bevor  er  Zeit  hatte,  sich  um  eine  bessere  Stellung  umzusehen  oder 
wo  eine  solche  Lohnverkürzung  dadurch  herbeigeführt  wird , dafs 
der  Arbeitgeber  durch  offenbares  Selbstverschulden  eine  Betriebs-  • 
Störung  hat  eintreten  lassen,  welche  dem  Arbeiter  verunmöglicht, 
sich  den  vollen  Tageslohn  zu  erwerben.  So  kommt  cs  beispiels- 
weise vor,  dafs  in  einem  Betrieb  alljährlich  Wassermangel  eintritt. 
Derselbe  könnte  durch  Anschaffung  eines  Hilfsmotors  leicht  kompen- 
siert werden,  der  Prinzipal  zieht  aber  vor,  ohne  den  Arbeiter  im 
voraus  hiervon  in  Kenntnis  zu  setzen,  schichtenweise  Halbtagsarbeit 
einzuflihren.  Leider  sagt  das  Gesetz  nirgends  mit  genügender 
Deutlichkeit,  dafs  auch  in  diesem  Fall  dem  Arbeiter  das  Recht  zu- 
kommt, eine  Arbeit  zu  verlassen,  welche  ihm  nicht  mehr  den  in 
Aussicht  stehenden  Erwerb  und  damit  nicht  mehr  die  Möglichkeit 
der  bisherigen  Lebenshaltung  gewährt. 

Die  sofortige  Lösung  des  Dienstverhältnisses  in- 
volviert in  der  Regel  die  Schädigung  der  einen  oder  anderen  Partei. 

Ist  sie  ungesetzlich,  ist  der  Unrechthabende  zum  Schadenersatz 
verpflichtet.  Ein  Mafs  hierfür  setzt  das  Gesetz  nicht  fest.  Da- 


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56 


F.  Schüler, 


gegen  sucht  es  die  Leistung  dieser  Entschädigung  zu  sichern,  aber 
nur  für  die  eine  Partei  und  zwar  durch  die  Festsetzung  eines 
Decompte.  Es  setzt  voraus,  dafs  der  geschädigte  Arbeiter  beim 
Arbeitgeber  immer  so  viel  finden  werde,  dafs  er  für  seine  Ansprüche 
gedeckt  sei.  Es  ist  dies  auch  aufserordentlich  selten  nicht  der  Fall, 
während  allerdings  bei  den  Arbeitern  in  einem  grofsen  Teil  der 
Fälle  nichts  erhältlich  wäre.  In  der  erwähnten  Bestimmung  liegt  aber 
doch  eine  Rechtsungleichheit.  Aber  sie  wird  in  der  Praxis  dadurch  gut 
gemacht,  dafs  bei  ungesetzlichem  Austritt  vom  Arbeiter  nur  der 
Betrag  dieses  Decompte,  d.  h.  im  Maximum  des  Lohnes  von  sechs 
Tagen  verlangt  wird,  während  die  vom  Arbeitgeber  zu  leistende 
Entschädigung  in  der  Regel  auf  den  Lohnbetrag  angesetzt  wird, 
welchen  der  Arbeiter  sich  in  der  gesetzlichen  Kündigungs- 
fr  st  hätte  erwerben  können.  Seine  Entschädigung  beträgt  also 
gewöhnlich  das  doppelte,  was  er  für  die  gleiche  Rechtsverletzung  zu 
leisten  hat.  Mit  diesem  Ausgleich  hat  sich  bisher  die  Arbeiterschaft 
begnügt,  ohne  Wiederspruch  zu  erheben.  Vielleicht  würde  er  am 
besten  gesetzlich  in  dieser  Weise  fixiert.  Es  ist  aber  noch  ein  weiterer, 
den  Decompte  betreffender  Punkt  oft  streitig  gewesen.  Die  Fabrik- 
ordnungen  zählen  oft  gewisse  Vergehen  auf,  welche  den  Arbeit- 
geber zu  sofortiger  Entlassung  berechtigen.  Manche  beanspruchen  nun 
das  Recht,  in  solchen  Fällen  auch  den  Decompte  zurückzu- 
behalten. Sie  gehen  dabei  von  dem  Gedanken  aus,  dafs  es  nicht 
eine  von  ihnen  gewollte  Entlassung  sei,  sondern  eine  solche,  zu 
denen  sie  das  Vergehen  des  Arbeiters  gezwungen  habe;  sie  glauben 
deshalb  Anspruch  auf  Schadenersatz  zu  haben.  Dann  ist  es  aber 
wohl  nicht  ihre  Sache,  sondern  die  des  Richters,  zu  entscheiden,  ob 
dem  Fehlbaren  nicht  nur  die  oft  recht  empfindliche  Strafe  sofortiger 
Entlassung,  sondern  auch  die  des  Verlustes  des  Decompte  zudiktiert 
werden  dürfe.  Dies  im  Fabrikgesetz  zu  erwähnen,  würde  ziemlich 
oft  zur  Vermeidung  von  Streitigkeiten  von  grofsem  Nutzen  sein. 

Es  kommt  auch  vor,  dafs  in  Fällen,  wo  unter  dem  Fabrikgesetz 
stehende  Angestellte  durch  Fahrlässigkeit  grofsen  Schaden  verursachen 
oder  durch  die  plötzliche  Versagung  ihrer  Mitwirkung  den  ganzen 
Betrieb  in  hohem  Mafs  beeinträchtigen  oder  gar  verunmöglichen 
könnten,  diese  nur  unter  der  Bedingung  einer  Kautionsleistung,  sei 
es  in  bar,  durch  Bürgschaft  oder  irgendwie  sonst,  beschäftigt  werden. 
Gegen  eine  solche  Vereinbarung  dürften  wohl  keine  gesetzlichen  Ein- 
wendungen zu  erheben  sein,  wenn  sie  durch  förmlichen  Vertrag  er- 
folgt, wohl  aber,  wenn  sich  der  Arbeitgeber  — wie  es  hie  und  da  vor- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Kabrikgesctzes. 


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gekommen  ist  • — ohne  weiteres  das  Recht  eines  Lohnrückhalts  bis 
zur  Ansammlung  einer  gewissen  Kaution  anmafst.  Eine  schützende 
Bestimmung,  wie  das  Verlangen  einer  schriftlichen  Vereinbarung, 
wäre  in  solchen  Fällen  nicht  überflüssig. 

\ 

X.  Die  Lohnzahlung. 

Ueber  die  richtige  Lohnzahlung  in  den  Fabriken  haben  die 
Fabrikaufsichtsorgane  ebensowohl  zu  wachen,  wie  über  die  Aus- 
führung jedes  anderen  Artikels  des  Fabrikgesetzes.  Sie  können  aber 
diese  Pflicht  nur  erfüllen,  wenn  sie  Einsicht  in  die  Zahltagbücher 
des  Arbeitgebers,  wie  in  die  Lohnbüchlein  des  Arbeiters  nehmen 
können.  Da  es,  obwohl  sehr  selten,  vorkommt,  dafs  ihnen  dieser 
Einblick  verweigert  wird,  würde  diese  Befugnis  am  besten  durch 
das  Gesetz  gewährt 

Die  Frage,  was  der  Arbeiter  zu  fordern  berechtigt  sei,  wird 
durchaus  nicht  von  jedermann  gleich  beantwortet.  Bis  zur  Stunde 
hat  die  Regel  allgemein  gegolten,  dafs  dem  Arbeiter  gemachte  Vor- 
schüsse, Lohnbeträge,  welche  der  Arbeiter  einem  Gehilfen  zu  ent- 
richten hatte,  die  aber  der  Arbeitgeber  für  ihn  ausgelegt  hatte, 
Mietbeträge  für  gewährte  Wohnung,  die  Rechnungen  für  gelieferte 
Lebensbedürfnisse,  für  Fournituren,  die  der  Arbeiter  zur  Herstellung 
seines  Fabrikates  bedurfte,  als  zum  voraus  geleistete  An- 
zahlungen an  den  Arbeitslohn  betrachtet  und  demgemäfs 
vom  Lohnbetrag  in  Abrechnung  gebracht  werden  dürfen.  Zudem 
verleiht  das  Gesetz  dem  Prinzipal  als  weitern  Schutz  das  Recht  zum 
Rückhalt  eines  Decompte.  Einzelne  Arbeitgeber  sind  aber  noch 
weiter  gegangen,  wie  früher  schon  erwähnt  wurde  und  haben  sich 
das  Recht  vindiziert,  für  Heizung,  Beleuchtung,  Reinlichkeitspflege 
Abstriche  vom  Lohnguthaben  zu  machen.  Endlich  kamen  dazu  die 
Beträge  für  Versicherungen  und  andere  sogen.  Wohlfahrts- 
einrichtungen, von  denen  allerdings  schon  das  bestehende  Ge- 
setz sagt,  dafs  sie  nur  im  gegenseitigen  Einverständnis  zulässig  seien. 

Alle  diese  Verrechnungen  haben  sehr  ungleiche  Ansprüche  auf 
Duldung.  So  sind  an  anderer  Stelle  bereits  ernste  Bedenken  gegen 
die  Zulässigkeit  der  Abzüge  für  Heizung,  Beleuchtung  etc.  geäufsert 
worden.  Am  wenigsten  sind  selbstverständlich  die  Vorschüsse  auf 
den  verdienten  Lohn  beanstandet  worden.  Sind  sie  doch  im  Grund 
nichts  anderes,  als  eine  freiwillig  geleistete  teilweise  frühere  Be- 
zahlung des  Lohnes,  sofern  sie  nicht,  was  äufserst  selten  oder  nie 


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F.  Schüler, 


Vorkommen  dürfte,  nur  gegen  Berechnung  von  Zins  oder  Skonto 
gewährt  werden.  Die  englische  Gesetzgebung  hat  es  aber  doch 
nötig  gefunden,  Forderungen  letzterer  Art  ganz  einfach  zu  verbieten. 
Auch  die  an  den  Gehilfen  eines  Arbeiters  geleistete  Lohnzahlung 
ist  dem  letzteren  wohl  noch  immer  ohne  Widerspruch  verrechnet 
worden,  obwohl  allgemein  anerkannt  ist,  dafs  der  Arbeitgeber  für 
die  richtige  Ausbezahlung  dieser  Hilfsarbeiter  verantwortlich  sei 
und  es  eigentlich  in  seinem  Interesse  läge,  durch  direkte  Zahlung 
an  die  Gehilfen  vor  Unannehmlichkeiten  sich  zu  schützen.  Ganz 
anders  verhält  es  sich  mit  einer  anderen  Art  von  „Vorschüssen“ 
welche  nicht  selten  Arbeitern  gemacht  werden,  welche  z.  B.  in 
entfernter  Gegend  für  eine  Fabrik  angeworben  worden  oder  die 
in  finanzielle  Verlegenheiten  gerathen  sind  und  denen  der  Arbeit- 
geber durch  ein  Anleihen  beigestanden  ist.  Hier  läfst  sich  der 
Arbeitgeber  eine  Anweisung  auf  den  Lohn  ausstellen,  der  erst 
verdient  werden  soll  und  es  ist  nicht  abzusehen,  warum  er 
mit  so  entstandenen  Forderungen  günstiger  gestellt  sein  soll , als 
irgend  ein  Dritter,  der  einem  Arbeiter  aus  blofsem  Wohlwollen 
durch  ein  Anlehen  hilfreich  beisprang.  Ein  Vorzugsrecht  wäre  hier 
um  so  weniger  gerechtfertigt,  als  das  Anlehen  vom  Arbeitgeber  oft 
nur  in  der  ausgesprochenen  Absicht  gewährt  wird,  den  zur  Rück- 
zahlung lange  nicht  oder  gar  nie  befähigten  Arbeiter  ans  Geschäft 
zu  fesseln.  Dieser  gerät  so  oft  mit  seiner  ganzen  Familie  in  ein 
Abhängigkeitsverhältnis,  dem  das  Gesetz  nicht  noch  besonderen 
Vorschub  leisten  sollte. 

Manche  Unternehmer  bieten  bekanntlich  ihren  Arbeitern 
Wohnungen  zur  Benutzung  an.  Ueber  deren  Beschaffenheit  ist 
schon  wiederholt  und  von  den  verschiedensten  Beobachtern  berichtet 
worden.  Es  hat  sich  ergeben,  dafe  diese  Wohnungen  durchschnitt- 
lich mindestens  ebensogut,  meist  besser  sind,  als  die,  welche  von 
Privatleuten  gewöhnlich  gemietet  werden.  Der  Mietpreis  ist  ge- 
wöhnlich ganz  erheblich  niedriger , als  der  gleichwertiger  Privat- 
wohnungen, ja  es  kommt  vor,  dafs  er  nur  die  Hälfte,  sogar  ein 
Drittel  der  letzteren  beträgt.  Es  soll  nun  nicht  behauptet  werden, 
dafs  diese  Wohnungen,  wovon  die  in  den  letzten  Jahrzehnten  er- 
bauten immer  besser  den  Anforderungen  der  Hygieine  entsprechen 
und  oft  einen  recht  bedeutenden  Komfort  darbieten,  aus  blofsem 
Wohlwollen  für  die  Arbeiter  erbaut  worden  seien.  Die  Not  zwang 
dazu,  wenn  man  Arbeiter  haben  wollte  und  die  guten  Wohnungen 
trugen  viel  dazu  bei , die  Arbeiter  im  Geschäft  festzuhalten.  Sei 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Kabrikgesetzes. 


59 


dem  aber,  wie  ihm  wolle,  so  viel  ist  sicher,  dals  die  Prinzipale  durch 
die  Erstellung  von  Arbeiterwohnungen  meist  eine  pecuniäre  Ein- 
bulse  erleiden.  Zu  dieser  würden  sie  sich  aber  kaum  verstehen, 
wenn  sie  nicht  mindestens  die  Sicherheit  hätten,  den  Mietzins 
richtig  zu  erhalten.  Diese  Sicherheit  zu  gewähren , liegt  also  im 
wohlverstandenen  Interesse  der  Arbeiterschaft.  In  anderen  Fabriken 
wird  den  Arbeitern  zu  billigen  Preisen,  z.  B.  durch  gemeinschaftlichen 
Ankauf,  selbst  durch  besondere  Konsumanstalten,  allerlei  Lebens- 
bedarf verschafft.  Oder  es  wird  dafür  gesorgt , dals  gewisse 
wichtige  Nahrungsmittel,  wie  etwa  Milch,  in  bester  Qualität  zu  be- 
scheidenem Preis  erhältlich  sind.  In  zahlreichen  Betrieben  wird  den 
Arbeitern  auch  zu  äufserst  mäfsigen  Preisen  sonstige  gesunde  Nahrung 
geboten.  Aus  den  Berichten  der  Fabrikinspektoren  geht  hervor,  dals 
d ese  Bestrebungen  der  Fabrikbesitzer  oft  mit  bedeutenden  finan- 
ziellen O 'ern  verbunden  sind,  dafs  sie  aber  eine  grofse  Wohlthat 
für  die  Arbeiterschaft  bedeuten.  Weniger  häufig,  aber  mit  dem 
Ueberhandnehmen  der  fremden  Arbeiter  immer  öfter,  kommt  es 
vor,  dafs  eigentliche  Pensionatc  gegründet  werden,  worin  die 
Leute  nicht  nur  Kost,  I x>gis , Wäsche,  sondern  zum  Teil  auch 
theoretischen  oder  praktischen  Unterricht  finden.  Aus  amtlichen 
Untersuchungen  hat  sich  ergeben,  wie  erspriefslich  solche  Anstalten, 
richtig  geführt,  nicht  nur  für  das  körperliche  Gedeihen , sondern 
auch  für  das  moralische,  namentlich  für  die  aus  ihren  Familien  heraus- 
gerissenen, den  bedenklichsten  Einflüssen  preis  gegebenen  fremden 
jugendlichen  Arbeiterinnen  sind. 

Alle  diese  Veranstaltungen  haben  keinen  Anspruch  auf  den 
Namen  von  Wohlfahrtseinrichtungen,  wenn  sie  auf  Gewinnst 
ab  zielen.  Das  dürfte  aber  nicht  häufig  Vorkommen.  Uebrigens 
wäre  es  leicht,  dies  zu  ermitteln,  da  ja  über  solche  Unternehmungen 
immer  spezielle  Rechnung  geführt  wird.  Solche  Rechnungen  sind 
auch  bisanhin  mit  aller  Bereitwilligkeit  den  Inspektoren  zur  Ver- 
fügung gestellt  worden,  wo  irgend  ein  Umstand  zu  diesem  Begehren 
Veranlassung  gab.  Dafs  sogar  das  Recht  zu  dieser  Einsichtnahme 
ohne  bedeutenden  Widerstand  im  Gesetz  Aufnahme  finden  könnte, 
wurde  schon  früher  erwähnt.  Wo  nun  aber  dieser  Ausweis  — sei 
es  nur  auf  spezielles  Verlangen,  sei  es  nach  allgemeiner  amtlicher 
Vorschrift  — geleistet  werden  kann  und  will,  sollte  das  Recht 
der  Verrechnung  am  Lohn  ohne  weiteres  zugestanden  werden, 
denn  auch  hier  ist  es  eine  Art  der  Bezahlung  des  verdienten  Lohnes 
durch  Naturalleistungen,  gerade  wie  die  Gewährung  von  Wohnungen, 


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F.  Schüler 


(ur  deren  Mietverrechnung  ja  auch  die  Bedingung  aufgcstellt  werden 
könnte,  dafs  sie  die  für  gleiche  Räume  üblichen  Mietpreise  nicht 
übersteigen  dürfen. 

Eine  Ausnahme  dürfte  von  den  verschiedensten  Seiten  und 
nicht  mit  Unrecht,  für  die  da  und  dort  eingerichteten  Verkaufs- 
stellen für  geistige  Getränke  gemacht  werden.  Diese  geben 
freilich  öfter  ihre  Ware  zu  Ankaufspreisen  oder  mit  geringem  Zu- 
schlag ab,  der,  soweit  er  nicht  die  Verwaltungskosten  zu  decken 
hat,  in  die  Kasse  irgend  einer  Wohlfahrtsanstalt  fällt  oder  zur 
Herabsetzung  des  Lebensmittelpreises  verwendet  wird.  Ob  diese 
Verwendung  des  Gewinnsts  eine  Bevorzugung  solcher  Verkaufs- 
stellen rechtfertigt  oder  ob  nicht  Barzahlung  der  Getränke  ver- 
langt werden  sollte,  müfste  ernstlich  erörtert  werden. 

Am  meisten  Anfechtung  von  allen  Verrechnungen  haben  schon 
längst  die  der  sogenannten  Fournituren  erfahren , d.  h.  des 
Materials,  welches  der  Arbeiter  bei  der  Herstellung  seines  Produktes 
selbst  zu  liefern  hat.  Diese  hat  er  sehr  gewöhnlich  vom  Arbeit- 
geber zu  beziehen.  Es  scheint  auf  den  ersten  Blick  befremdlich, 
warum  ihm  die  Bezugsquelle  nicht  freigestellt  ist  oder  warum  über- 
haupt der  Arbeitgeber  nicht  alles  erforderliche  selbst  liefert.  Für 
das  erstere  wird  als  Grund  angegeben,  dafs  der  Arbeiter  um  der 
gröfseren  Billigkeit  willen  oft  allzugeringes  Material  anschafien  und 
durch  dessen  Verwendung  die  Ware  diskreditieren  würde;  für  das 
zweite  aber  wird  angeführt,  dafs  das  vom  Arbeitgeber  selbst  ge- 
lieferte Material  sehr  häufig  eigentlich  vergeudet,  jedenfalls  nicht  ge- 
spart und,  weil  eine  Kontrolle  über  den  notwendigen  Verbrauch 
kaum  möglich  ist,  nicht  gar  selten  zum  eigenen  Nutzen  verwendet 
wird.  Für  die  Richtigkeit  dieser  Behauptungen  sind  schon  oft  Be- 
lege vorgebracht  worden;  aber  gleichzeitig  hat  sich  ergeben,  dafs 
in  vereinzelten  Fällen  diese  Fournituren  zu  beträchtlich  höherem 
als  dem  Ankaufspreis  verrechnet  werden.  Der  Prinzipal  qualifiziert 
auf  diese  Weise  seine  Fourniturenlieferung  als  ein  Handelsgeschäft, 
für  das  ihm  nicht  die  mindeste  Begünstigung  zuzukommen  braucht. 
Führt  er  aber  besondere  Rechnung  darüber  und  überläfst  er  den 
allfallig  bei*  der  Detailabgabe  der  Waren  gemachten  Gewinnst  der 
Arbeiterschaft,  ist  nicht  einzusehen,  warum  seine  Lieferung  nicht 
als  eine  Anzahlung  an  den  Lohn  angesehen  werden  soll. 

Schlimmer,  als  alle  anfechtbaren  Lohnverrechnungen,  beein- 
flussen die  Oekonomie  des  Arbeiters  die  Fälle,  wo  dem  Aufsichts- 
personal einer  Fabrik  das  Recht,  allerdings  in  ganz  gesetzwidriger 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Kabrikgesetzes.  6l 

Weise,  zugestanden  wird,  die  Beträge  vom  Lohn  des  Arbeiters 
zurück  zu  behalten,  welche  ihm  dieser  durch  Bezüge  aus  dem 
Laden  des  Aufsehers  schuldig  geworden  ist.  Wie  oft  dies  vor- 
kommt, entzieht  sich  aus  naheliegenden  Gründen  zum  mindesten 
der  amtlichen  Kenntnis,  also  ist  auch  ein  sicheres  Urteil  über  die 
Notwendigkeit  besonderer  schützender  Bestimmungen  für  die  Ar- 
beiter nicht  möglich.  Dagegen  ist  allgemein  bekannt,  wie  oft  die 
Aufseherstellung  ausgebeutet  wird,  um  einen  Zwang  auf  die  Arbeiter 
auszuüben,  Kunden  eines  Aufsehers  zu  werden,  mag  derselbe  auch 
noch  so  teure  oder  schlechte  Ware  liefern.  Häufig  sind  Stimmen 
aus  der  Arbeiterschaft  laut  geworden,  welche  ein  Verbot  des 
Betreibens  von  Läden  für  Fabrikleiter  und  Aufseher 
und  deren  Familien  verlangten.  Ob  dies  zulässig  sei,  ist  mir 
sehr  unwahrscheinlich,  obwohl  ein  solches  Verhältnis  als  ein  die 
Arbeiterschaft  oft  schwer  schädigendes,  seine  Untersagung  als  etwas 
sehr  Wünschbares  zugegeben  werden  mufs. 

Es  mögen  endlich  noch  die  Lohnrückhalte  erwähnt  werden, 
welche  das  bestehende  Fabrikgesetz  zugiebt.  Einer  derselben,  der 
Decompte,  ist  bereits  besprochen  worden  und  cs  bleibt  hier  nur 
beizufügen,  dafs  der  wiederholt  aus  Arbeiterkreisen  geäufserte  Wunsch, 
dafs  dieser  Rückhalt  auf  zwei  Zahltage  verteilt  werde,  Be- 
rücksichtigung finden  sollte,  wie  dies  übrigens  schon  in  vielen  Ge- 
schäften geschehen  ist. 

Nur  wenn  der  Arbeiter  einverstanden  ist,  gestattet 
das  Fabrikgesetz  einen  Lohnrückhalt  für  Spezialzwecke.  Ob 
dieses  Einverständnis  schriftlich  erklärt  werden  müsse,  ist  nirgends 
gesagt,  wohl  aber  erklärt  der  Bundesrat  die  blofse  Anerkennung  eines 
solchen  Abzugsrechts  durch  einen  Paragraphen  der  Fabrikordnung  als 
unzureichend.  Als  „Spezialzwecke“  bezeichnet  eine  Interpretation  des 
Bundesrats  vom  6.  Dezember  1875  zum  Fabrikgesetzentwurf,  Fabriks- 
kranken-, Unterstützungs-,  Unfalls-,  Versicherungs-Sparkassen  und  dgl. 
Es  ist  sehr  fraglich,  ob  diese  Bestimmung  heute  noch  im  vollen  Um- 
fang in  das  Gesetz  aufgenommen  würde.  Ihre  Formulierung  er- 
folgte zu  einer  Zeit,  wo  allerlei  Zwang  in  den  meisten  grofsen 
Fabriken  geübt  wurde,  um  alle  Arbeiter  zum  Beitritt  zu  Versiche- 
rungen gegen  Krankheit  oder  Alter,  auch  zur  Teilnahme  an  Spar- 
kassen zu  vermögen.  Durch  diese  Kassen  mit  zweckentsprechend 
abgefafsten  Statuten  sollten  die  Arbeiter  an  das  Geschäft  gefesselt 
werden.  Diese  Tendenz  zeigt  sich  immer  seltener.  Die  Verwaltung 
der  Krankenkassen  namentlich,  das  Verfügungsrecht  über  ihr  Ver- 


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F.  Schüler, 


mögen , liegt  heutzutage  meist  in  der  Hand  der  Mitglieder.  Wo  den 
Fabrikbesitzern  noch  ein  bestimmter  Anspruch  auf  die  Vertretung 
in  den  Verwaltungskommissionen  Vorbehalten  ist,  sind  sie  doch 
selten  mehr  die  allein  mafsgebenden  Personen.  Nur  ein  Uebelstand 
ist  in  den  meisten  Kassen  geblieben : mit  der  Entlassung  aus  der 
Fabrik  hört  auch  die  Mitgliedschaft  der  Fabrikkrankenkasse  und 
damit  jedes  Anspruchsrecht  an  deren  Vermögen  auf.  Wer  entlassen 
wird,  kann  aber  nicht  mehr  in  eine  andere  Kasse  eintreten,  wenn 
er  ein  gewisses  Alter  überschritten  hat.  Er  ist  im  Krankheitsfall 
hilflos  geworden.  Um  dies  zu  vermeiden,  wird  er  sich  manches 
gefallen  lassen,  damit  er  der  Wohlthat  der  Kasse,  zu  der  er  viel- 
leicht Jahrzehnte  seine  Beiträge  gezahlt  hat,  teilhaft  bleibe.  Diese 
Gebundenheit  war  das  Hauptmotiv,  warum  in  den  70  er  Jahren  die 
Fabrikkrankenkassen  so  verhafst  waren  und  es  an  manchen  Orten 
noch  heute  sind,  warum  auch  der  Zwang  zum  Beitritt  aufgehoben 
wurde.  Wo  aber  heute  die  Regierung  die  Kassenstatuten  zu  ge- 
nehmigen hat,  zur  Ueberwachung  der  Kassenverwaltung  berechtigt 
und  berufen  ist , wo  ein  austretender  Arbeiter  doch  Mitglied  der 
Krankenkasse  bleiben  oder  infolge  von  Freizügigkeit  in  eine 
andere  eintreten  oder  endlich  eine  Auskaufssumme  behufs  Ein- 
kaufs in  eine  andere  Kasse  verlangen  kann,  ist  kein  stichhaltiger 
Grund  vorhanden,  warum  eine  F'abrikkrankenkasse  zum  mindesten 
für  die,  welche  nicht  anderwärts  versichert  sind,  obligatorisch 
erklärt  werden  sollte.  Jedenfalls  dürfte  aber  in  einem  revidierten 
Fabrikgesetz  die  Möglichkeit  vorgesehen  werden,  dafs  ein  Ver- 
sicherungsgesetz dieses  Obligatorium  einführe  und  damit  zugleich 
eventuell  die  Berechtigung  schaffe,  die  zu  zahlende  Prämie  oder 
einen  Teil  derselben  vom  Lohn  zurück  zu  behalten.  Dafs  auch 
die  Unfallversicherung  in  nächster  Zeit  vom  Bund  aus  ein- 
geführt und  die  allfälligen  Beiträge  der  Arbeiter  an  die  Prämien 
geregelt  werden , darf  hoffentlich  als  sicher  vorausgesetzt  werden. 
In  dieser  Voraussetzung  mag  die  Frage  der  Beteiligung  des  Arbeiters 
an  der  Unfallversicherung  hier  unberührt  bleiben. 

Die  Fabriksparkassen  mit  obligatorischen  Beiträgen,^ sowie 
andere  Versicherungen , zu  . denen  der  Arbeiter  verpflichtet  wird, 
sind  so  zu  sagen  ganz  verschwunden,  das  wenige,  was  noch  existiert, 
beruht  auf  F'reiwilligkeit,  so  dafs  eine  gesetzliche  Bestimmung  da- 
rüber kaum  mehr  erforderlich  ist. 

Inbezug  auf  alle  die  erwähnten  Arten  von  Kassen  darf  wohl 
der  Wunsch  ausgesprochen  werden , dafs  die  Kantonsregierungen 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


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verpflichtet  werden  sollen,  dieRechnungen  aller  derKassen 
einzufordern,  zu  denen  die  Arbeiter  Beiträge,  wenn  auch  nur  frei- 
willige, zu  zahlen  haben,  sie  zu  prüfen  und  alle  Mafsregcln  zum 
Schutz  vor  Schädigungen  der  Kassen  zu  ergreifen.  Wie  notwendig 
diese  Oberaufsicht  ist,  haben  die  Erfahrungen  der  letzten  Jahre 
gezeigt,  wo  angesammelte  Kapitalien  selbst  da  verloren  gingen, 
wo  die  Ortsbehörden  mit  dieser  Absorge  betraut  waren , aber 
wegen  zu  nahen  Beziehungen  zu  den  Schuldnern  der  Kasse  nicht 
einzuschreiten  wagten. 

Ucber  die  Art  und  Weise  der  Lohnzahlung  giebt  das 
Gesetz  einige  Vorschriften.  Sie  soll  in  der  Fabrik  selbst,  in  bar 
und  in  gesetzlichen  Münzsorten  gemacht  werden.  Daran  dürfte 
wohl  kaum  gerüttelt  werden.  Dagegen  erweist  sich  der  Zusatz  mit 
jedem  Jahr  als  notwendiger,  dafs  dem  Arbeiter  ein  Mittel  an  die 
Hand  gegeben  werden  müsse,  die  Richtigkeit  der  Lohnbe- 
rechnung nachzuprüfen  und  im  Fall  entstehender  Lohnstreitig- 
keiten einen  Ausweis  über  den  erhaltenen  Betrag  zu  besitzen.  Dazu 
dienen  Lohntarife,  wo  Akkordlohn  gezahlt  wird  und  vor  allem 
aus  die  in  zahlreichen  Fabriken  längst  eingeführten  Zahltagzettel 
oder  Zahltagbüchlein.  Diese  obligatorisch  zu  erklären,  wäre  für  beide 
Teile  gleich  empfehlenswert. 

Wem  der  Lohn  auszubezahlen  sei,  sagt  Art.  X nicht. 
Man  setzte  vermutlich  als  selbstverständlich  voraus,  demjenigen, 
welcher  ihn  verdient  habe.  Wird  aber  dieser  Grundsatz  auf  die 
Entlohnung  der  jugendlichen  Arbeiter  angewendet,  entstehen  da- 
raus oft  sehr  fatale  Folgen.  Kinder,  die  das  Geld  in  die  Hände 
bekommen,  fühlen  sich  ökonomisch  selbständig,  ihren  Eltern  gegen- 
über unabhängig  und  so  kommt  die  bedauerliche  Erscheinung  zu- 
stande, dafs  sie  sich  von  der  Familie  loslösen.  Eine  Bestimmung, 
dafs  Jugendliche,  allermindestens  bis  zum  erfüllten  16. Jahr,  besser 
aber  alle  Minorennen  denLohnbetrag  nicht  erhalten  dürfen, 
sondern  dafs  er  an  die  Eltern,  soferne  diese  nicht  anders  verfügen, 
oder  an  den  Vormund  gezahlt  werden  müsse,  wäre  empfehlensweit. 
Eine  solche  Vorschrift  dürfte  übrigens  allen,  auch  Erwachsenen  gegen- 
über am  Platz  sein,  die  unter  Vormundschaft  stehen.  Indirekte 
Bezahlung  ist  allgemein  üblich , wo  ein  Arbeiter  Gehilfen  be- 
schäftigt, die  er  anstellt,  und  bezahlt,  ein  Verhältnis,  wie  es  zwischen 
Sticker  und  Fädlerin,  Zigarren-  und  Wickelmacher,  Gruppenchefs 
und  Gehilfen  so  oft  vorkommt.  Die  häufigen  Klagen  über  mangel- 
hafte oder  ganz  ausbleibendc  Zahlung  lassen  es  wünschbar  er- 


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64 


F.  Schüler, 


scheinen,  dal's  der  Arbeitgeber  nicht  nur  verantwortlich  für  die 
richtige  Zahlung  erklärt,  sondern  angehalten  werde,  auf  Rechnung 
des  zur  Zahlung  verpflichteten  Arbeiters  seine  Gehilfen  aus- 
zubezahlen. Bei  Akkordarbeit  gelangt  der  Arbeiter  so  auch  eher 
zu  seinem  richtigen  und  billigen  Lohntreffhis. 

Die  Ansichten  darüber,  wann,  in  welchen  Zwischenräumen  und 
an  welchen  Tagen  der  Arbeitslohn  auszuzahlen  sei,  gehen  sehr 
auseinander.  Prinzipale  und  Arbeiter  fuhren  die  verschiedensten 
Gründe  für  ihre  Meinungen  an.  Während  die  letzteren  meist  kurze 
Fristen  wünschen,  um  langedauerndes  Kreditieren  entbehrlich  zu 
machen , behaupten  die  ersteren , dafs  gerade  durch  die  kurzen 
Zahltagsperioden  der  Kredit  bei  den  Lieferanten  gefährdet 
werde,  die  nicht  alle  8 bis  14  Tage  mit  Abschlagszahlungen  und 
Bemühungen , überhaupt  Zahlung  zu  erlangen , sich  plagen  wollen. 
Sogar  die  Hausfrauen  wünschen  bald  kurze  Fristen,  bald  scheuen 
sie  dieselben  wegen  den  Jubeltagen,  die  in  der  Regel  auf  die  Zahl- 
tage folgen.  Die  Prinzipale  scheuen  vor  allem  die  vermehrte  Mühe 
mit  der  Abrechnung,  welche  durch  die  kürzeren  Zahlungsperioden 
bedingt  ist.  Wägt  man  alle  für  und  wider  angeführten  Gründe 
sorgfältig  ab,  gelangt  man  zum  Schlufs,  dafs  ein  allgemein  auf 
14  Tage  festgesetzter  Zahlungstermin  am  besten  allen  berechtigten 
Wünschen  entsprechen  dürfte.  Sollten  längere  Fristen  zugestanden 
werden,  was  in  einzelnen  Fällen,  namentlich  aber  bei  viel  Zeit  be- 
anspruchenden Akkordarbeiten,  wünschbar  sein  kann,  wäre  doch  die 
Bedingung  daran  zu  knüpfen,  dafs  auf  Verlangen  des  Arbeiters  dem- 
selben den  Fortschritten  der  Arbeit  entsprechende  Abschlags- 
zahlungen zu  machen  seien. 

Als  Zahltag  war  früher  allgemein  der  Samstag  üblich. 
Man  erkannte  aber  immer  allgemeiner,  wie  die  Verlegung  der 
Zahlung  auf  diesen  Tag  die  unbedachte  Verschleuderung  des  Er- 
werbs für  allerlei  Sonntagsvergnügungen  fördere.  Der  Wunsch,  dafs 
die  Wahl  eines  anderen  Wochentags  ausdrücklich  vorge- 
schrieben werde,  ist  daher  sehr  verbreitet.  Noch  mehr  aber  werden 
gesetzliche  Bestimmungen  gewünscht,  die  Verspätungen  der 
Lohnzahlung  mit  empfindlicher  Bufse  belegen , wenn  sie  einen 
gewissen  sehr  kurzen  Termin,  z.  B.  von  2 — 3 Tagen,  überschreiten. 
Solche  Verspätungen  kommen  zwar  seltener  aus  Gewinnsucht  vor, 
als  in  Folge  schlechter  Ordnung  im  Geschäft  oder  chronischem 
oder  zufälligem  Geldmangel.  Immerhin  gefährden  sie  den  Arbeiter 
einigermafsen , bringen  ihn  in  ökonomische  Verlegenheiten  und 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


65 


schädigen  seinen  Kredit  bei  den  Lieferanten  seines  Lebensbedarfs. 
Ein  empfindlicher  Verzugszins  wäre  eine  sehr  gerechtfertigte 
Strafe. 

Nicht  selten  vernimmt  man  aber  bei  den  Arbeitern  noch  weiter 
gehende  Wünsche.  Manche  glauben  Auszahlung  des  Lohnes 
bis  auf  den  letzten  Arbeitstag  fordern  zu  sollen.  Diesem 
Verlangen  könnte  in  einzelnen  Industriezweigen  entsprochen  werden; 
wo  aber  eine  komplizierte  Berechnung  der  Zahlung,  wo  eine  Prüfung 
der  gelieferten  Arbeitsprodukte  auf  ihre  Brauchbarkeit  und  Fehler- 
losigkeit  vorausgehen  muls,  zeugt  ein  solcher  Wunsch  von  totaler 
Unkenntnis  des  Geschäftsbetriebs.  Die  erforderlichen  Fristen  sind 
sehr  ungleich  lang;  es  können  mehrere  Tage  notwendig  sein.  Eine 
längere  Dauer  als  eine  Woche  kann  aber  überall  vermieden  werden. 
Behält  man  daher  den  Decompte  von  6 Arbeitstagen  bei,  kann 
man  unbedenklich  mit  aller  Strenge  daran  festhalten , dafs  immer 
der  volle  verdiente  Lohn,  mit  Ausnahme  dessen  für  die  sechs 
letzten  Arbeitstage,  ausbezahlt  werden  mufs. 

Ein  anderer  Wunsch  geht  dahin,  dafs  der  Lohn  innerhalb 
der  normalen  Arbeitsstunden  ausbezahlt  werden  müsse. 
Wer  schon  gesehen  hat,  wie  infolge  unpraktischer  Einrichtungen 
bei  der  Auszahlung  die  Arbeiter,  die  sich  nach  Hause  sehnten,  noch 
eine  oder  zwei  Stunden  auf  das  Verabfolgen  ihres  Lohnes  warten 
mufsten,  wird  diesen  Wunsch  begreiflich  finden  und  es  könnte  ihm 
bei  besserer  Organisation  der  Entlohnung  wohl  ohne  Schwierigkeit 
entsprochen  werden. 

[Fortsetzung  folgt.j 


Archiv  für  s«z.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  5 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 

Von 

Prof.  Dr.  EMIL  VANDER VELDE, 

Mitglied  der  Deputiertenkammer  in  Brüssel, 

Seit  dem  Ausbruch  der  landwirtschaftlichen  Krise  ist  die  Land- 
flucht, die  Wanderung  der  bäuerlichen  Bevölkerung  nach  den  Städten, 
ein  Lieblingsthema  unserer  zeitgenössischen  Litteratur  geworden. 

Man  kann  kaum  eine  landwirtschaftliche  Zeitschrift  in  die 
Hand  nehmen,  ohne  darin  bittere  Klagen  über  Arbeitcrmangel  und 
hohe  Arbeitslöhne  zu  finden.  Die  Demographen  ergehen  sich  — 
besonders  in  einem  Lande  mit  fast  gleich  bleibender  Bevölkerungs- 
Ziffer,  wie  es  Frankreich  ist  — in  Klagen  über  die  Entvölkerung 
der  Dörfer  zu  Gunsten  der  grofsstädtischen  Zentren.  Die  Hygieniker 
beunruhigt  die  Gefahr,  die  durch  die  Ansammlung  der  Menschen 
zu  Hunderttausenden,  ja  zu  Millionen  hervorgerufen  wird  mit  Rück- 
sicht auf  die  Entwicklung  der  Tuberkulose,  der  Syphilis  und  des 
Alkoholismus,  dieser  drei  gewaltigen  Grundursachen  der  überaus 
hohen  Krankheits-  und  Sterblichkeitsziffern,  die  von  den  Städten 
geliefert  werden.  Die  Konservativen  schliefslich  sehen  mit  Schrecken, 
wie  die  Herde  der  sozialistischen  Propaganda  von  Jahr  zu  Jahr  an 
Umfang  gewinnen. 

Diese  verschiedenen  vorgefafsten  Meinungen  sind  in  so  hohem 
Mafse  geistiges  Gemeingut  geworden,  dafs  sie  sich  nun  auch  in 
verschwenderischer  Fülle  über  die  Tagespresse  ergiefsen,  nachdem 
sie  erst  alle  Fachschriften  erfüllt  hatten,  ja  sie  finden  immer  häu- 
figer auch  in  den  Werken  der  schöngeistigen  Litteratur  ihre  Spie- 
gelung. 

So  schildert  der  belgische  Dichter  Emile  Vertweren  in  einer 
wunderbaren  Trilogie,  die  voll  ist  von  tiefsinnigen  Erkenntnissen  und 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


67 


hellsichtigen  Bildern  der  Zukunft , wie  sich  das  sinnlos  bethörte 
Land  nach  den  grofsen  Ansiedelungen  hin  entvölkert,  wie  die  ver- 
führerischen Städte,  allgewaltig  und  allverschlingend  ihre  Herrschaft 
über  das  flache  Land  ausdehnen , wie  dann  schliefslich  die  Sonne 
der  grofsen  siegreichen  sozialen  Revolution  aufgeht,  die  Einheimische 
und  Fremde,  Bürger  und  Bauer  zu  einem  einzigen  Volk  der  Arbeit 
versöhnend  vereint. 

Wenn  das  Phänomen  der  Landflucht  auf  so  verschiedenen  Ge- 
bieten einen  so  starken  Eindruck  hervorruft,  so  ist  klar,  dafs  es 

» 

während  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  eine 
ganz  aufserordentliche  Bedeutung  erlangt  haben  mufs.  Dennoch 
wäre  es  ein  Trugschlufs,  wollte  man  annchmen,  die  Wandemng  der 
Landbevölkerung  nach  den  Städten  sei  eine  durchaus  neue  Er- 
scheinung und  nicht  blofs  ein  schärferes  Hervortreten  einer  Be- 
wegung, die  sich  seit  jeher  vollzogen  hat,  solange  es  städtische  An- 
siedelungen giebt. 

Es  soll  hier  nicht  von  den  analogen  Tendenzen  gesprochen 
werden,  die  für  den  Ausgang  des  Altertums  und,  wie  Bücher1) 
gezeigt  hat,  auch  für  das  Ende  des  Mittelalters  einen  Markstein 
bilden.  Auch  sonst  beweisen  zahlreiche  Zeugnisse,  dafs  man  sich 
lange  vor  dem  Beginn  des  neunzehnten  Jahrhunderts  mit  der  Ent- 
völkerung des  Landes  und  dem  Zustrom  der  Landleute  nach  den 
grofsen  Bevölkerungszentren  beschäftigt  hat. 

So  bemerkt  Weber  in  seinem  wichtigen  Werke,  The  growth 
of  cities  in  the  nine-teenth  Century,  die  Klagen  der  Physiokraten 
über  den  Mangel  an  Landarbeitern  seien  aller  Welt  geläufig  ge- 
worden. *)  In  seinem  berühmten  Encyklopädieartikel  „Fermiers“ 
stellt  Quesnay  fest,  dafs  die  Klügsten  und  Willensstärksten  aus 
dem  I .and volke  nach  den  Städten  abwanderten,  und  er  führt  diese 
Erscheinung  auf  die  grofsen  Geldausgaben  zurück,  die  in  Paris  und 
den  anderen  grofsen  Städten  von  Hof  und  Adel  gemacht  wurden. 
Kurzum,  die  Physiokraten  waren  darüber  einig,  dafs  eine  Abwan- 
derung nach  den  Städten  stattfände;  sie  sprachen  von  einer  Ent- 

’)  Karl  Bilcher,  Die  inneren  Wanderungen  und  das  Städtewesen  in  ihrer 
entwicklungsgeschichtlichen  Bedeutung.  In  „Entstehung  der  Volkswirtschaft“,  Tü- 
bingen 1893. 

*)  A.  H.  Weber,  The  growth  of  cities  in  the  nine-teenth  Century  p.  230 u.  f. 
London.  P.  S.  King  and  Son  1899.  — Siehe  auch  Levasscur.  La  population 
frangaisc  I p.  207  et  s.  Paris,  Rousseau  1891  und  Kar  eie  w.  Les  paysans  et  la 
question  paysannc  en  France  p.  240. 


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68 


Emil  Va n der» el de, 


völkerung  der  ländlichen  Gebiete  und  erklärten,  dal’s  eine  solche 
in  Frankreich  schon  seit  langem  bestände. 

In  den  „Ephömörides  du  citoyen“,  die  im  Jahre  1765  erschienen 
waren,  konnte  man  folgendes  lesen: 

„Welche  Ursachen  stimmen  hierzulande  zusammen,  um  die 
Zahl  unserer  Bauern  zu  vermindern?  Oder  besser  gesagt,  was 
stimmt  hier  nicht  zusammen  ? Das  Kriegswesen,  die  Marine,  die 
Finanz,  die  Rechtsverwaltung,  der  Handel,  die  Künste,  ja  selbst  die 
Kirchen,  reifsen  eines  nach  dem  anderen  die  Bauernkinder  aus  dem 
Erdenwinkel,  in  dem  sie  geboren  sind.“ 

In  England  traten  die  gleichen  Wanderbewegungen  mit  einer 
noch  viel  gröfseren  Gewalt  zu  Tage.  Nur  dafs  hier  die  Landlords, 
statt  solche  Erscheinungen  zu  bedauern  und  ihnen  entgegenzu- 
arbeiten, einzig  darauf  bedacht  waren,  eine  Umwälzung  der  land- 
wirtschaftlichen Verhältnisse  zu  ihrem  Vorteil  herbeizuführen  und 
dafs  sie  zu  den  gewaltthätigsten  und  schwindelhaftesten  Mitteln 
griffen,  um  die  Bauern  zu  expropriieren,  die  kleinen  Lehenhöfe 
durch  grofse  Pachtgüter  zu  ersetzen  und  das  arbeitende  I^ndvolk 
der  städtischen  Industrie  in  die  Arme  zu  treiben. 

So  bedeutend  aber  auch  zu  jener  Zeit  die  bäuerliche  Zuwan- 
derung nach  den  städtischen  Ansiedelungen  war,  so  diente  sie  doch 
viel  eher  dazu,  die  durch  eine  aufserordentliche  Sterblichkeit  verur- 
sachte Entvölkerung  wieder  auszugleichen,  als  dafs  sie  die  städtische 
Bevölkerungsziffer  (etwa  gar  mit  der  Schnelligkeit,  die  wir  heutzu- 
tage  gewohnt  sind)  erhöht  hätte. 

Thatsächlich  waren  die  hygienischen  und  gesundheitlichen  Ver- 
hältnisse, unter  denen  die  Städte  lebten,  fast  überall  so  kläglich, 
dafs  die  Sterbiichkeitsziffer  die  Geburtenziffer  überstieg. 

Im  Jahre  1761  schrieb  Süfsmilch  '):  „In  Städten,  besonders  in 
volkreichen  Städten,  ist  mehrentheils  die  Zahl  der  Todten  gröfser. 
als  der  Geborenen.  Wenn  auch  zuweilen  aufserordentlich  gesunde 
Jahre  vorfallen,  da  die  Zahl  der  Gebornen  etwas  gröfser  ist;  so 
verschwindet  doch  der  Ueberschufs  der  Gebornen,  wenn  man  die 
Listen  einiger  Jahre  in  eine  Summe  bringet." 

Als  einzige  unter  den  Hauptstädten  der  damaligen  Zeit  wies 
Paris  eine  schwache  natürliche  Vermehrung  auf.  London  brachte 
es  erst  vom  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  an  soweit.  Berlin  er- 


*)  Sülsmilch,  Die  göttliche  Ordnung  in  den  Veränderungen  des  mensch- 
lichen Geschlechts.  Berlin  1761. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


69 


reichte  diesen  Zustand  dauernd  erst  im  Jahre  1810,  Leipzig  im 
Jahrzehnt  zwischen  1821  und  1830,  Frankfurt  im  Jahre  1841,  Stock- 
holm erst  nach  dem  Jahre  1860.  “) 

Gegenwärtig  sind  es  in  Westeuropa  nur  mehr  einige  Städte 
Italiens  und  — das  verdient  festgehalten  zu  werden  — die  Hälfte  • 

der  grofsen  Städte  Frankreichs,  wo  die  Sterbeziffer  gröfser  als  die 
Geburtenziffer  geblieben  ist,  und  wo  sich  infolgedessen  die  Be- 
völkerung nur  durch  Zuwanderung  vermehrt.  *) 

Was  heute  Ausnahme  ist,  war  vordem  Regel,  und  J.  J.  Rousseau 
konnte  sich  auf  unbestreitbare  Thatsachen  stützen,  wenn  er  die 
Rückkehr  zur  Natur  predigte  und  gegen  die  Städte  als  die  Herde 
der  Volks  Vernichtung  seine  Anklage  erhob. 

Jeder  kennt  die  berühmte  Stelle  im  Emile  *) : „Die  Menschen 
sind  nicht  dazu  geboren,  sich  zu  Ameisenhaufen  anzusammeln, 
sondern  verstreut  zu  leben  auf  dem  Lande,  das  sie  bebauen  müssen. 

Je  dichter  sie  sich  vereinigen,  desto  verderbter  werden  sie.  Die 
Schwäche  des  Körpers  sowohl  wie  die  Mängel  des  Gemütes  sind 
unausreichliche  Folgen  zu  starker  Ansammlungen.  Unter  allen 
lebenden  Wesen  ist  der  Mensch  am  wenigsten  dazu  geeignet,  als 
Herdentier  zu  leben.  Menschen,  die  man  wie  die  Schafe  zusammen- 
pfercht , werden  allesamt  rasch  zu  Grunde  gehen.  Des  Menschen 
Hauch  wirkt  tödlich  auf  seinesgleichen ; das  ist  im  wörtlichen  Sinne 
nicht  weniger  wahr  als  im  figürlichen. 

Das  Städtewesen  ist  der  gefräfsige  Rachen,  der  das  mensch- 
liche Geschlecht  verschlingt.  Nach  wenigen  Generationen  stirbt 
die  Rasse  aus,  oder  sie  degeneriert;  sie  bedarf  der  Erneuerung  und 
immer  ist  es  wieder  das  Umd,  das  den  Stoff  zu  dieser  Erneuerung 
hergiebt.“ 

Zur  Zeit,  da  Rousseau  diese  Worte  schrieb,  hatte  sich  die 
industrielle  Revolution  noch  nicht  vollzogen,  und  die  verheerenden 
Folgen,  die  aus  ihr,  zumal  in  ihrem  Anfänge  für  jene  Bevölkerung 
erwachsen  sind,  die  sich  in  den  Städten  mit  ihrem  Manufaktur- 
betrieb anhäufte,  waren  noch  nicht  eingetreten.  Da  diese  Revo- 
lution in  ihrer  Entwicklung  tausende  landflüchtiger  Arbeiter  in  Orte 
zusammenwarf,  in  denen  nichts  vorgekehrt  war,  um  den  Gefahren 

*)  Weber,  The  growth  of  cities  in  the  nine-teenth  Century  p.  258.  New  York. 

Macmillan  Ö*  1899.  . 

r)  Idem  p.  246. 

*)  ).  J.  Rousseau.  Emile.  Livie  I p.  36. 


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7° 


Emil  Vandervelde, 


einer  solchen  Menschenanhäufung  zu  begegnen,  ist  es  weiter  nicht 
verwunderlich,  dafs  sich  der  Hafs  gegen  die  Städte  in  alle  jene 
Herzen,  die  ohnehin  von  Zorn  über  die  Knechtschaft  und  das 
Elend  des  Proletariats  erfüllt  waren,  noch  tiefer  eingrub, 
v Besonders  sind  die  Schriften  der  meisten  Sozialisten  voll  der 

beredtesten  und  bittersten  Urteile  über  die  Entfremdung  des  Ge- 
werbes vom  Ackerbau  als  eine  Hauptursache  der  Landverödung 
und  der  Hypertrophie  des  Städtewesens. 

Robert  Owen  z.  B.  schrieb: 

„Prinzip  ist  es  — sofern  bei  dem  gegenwärtigen  Zustande 
der  Unordnung  und  der  sozialen  Anarchie  von  einem  Prinzip  noch 
die  Rede  sein  kann  — Prinzip  ist  es,  den  Ackerbau  von  der  In- 
dustrie, dem  Handel  und  den  anderen  Berufen  loszulösen,  ihm  in 
seiner  ganzen  Stellung  und  seinen  Gewohnheiten  jeden  Zusammen- 
hang, jede  unmittelbare  Berührung  mit  den  anderen  Berufszweigen 
zu  nehmen,  diese  wieder  in  Strafsen,  Gassen,  Plätze  zu  sperren,  die 
Städte  und  Altstädte  bilden  und  denen  der  Ackerbau  die  Früchte 
des  Landes  liefert;  diesem  Ackerbau  wieder  innerhalb  der  unend- 
lichen Teilung  der  Berufe  in  Industrie,  Handel  und  Manufakturen 
besondere  Interessen  zuzuweisen  und  obendrein  in  jedem  dieser 
Berufszweige,  das  persönliche  Interesse  allen  anderen  Interessen 
entgcgenzustellen  ')." 

Im  Gegensatz  zu  dieser  Erscheinung  ging  der  grolse  englische 
Utopist  in  seinen  Plänen  zur  Erneuerung  der  Gesellschaft  von  dem 
Grundsätze  der  Vereinigung  und  der  gegenseitigen  Kooperation 
aus,  er  predigte  die  Versöhnung  der  Industrie  mit  der  Landwirt- 
schaft und  schlug  zur  Heilung  der  Schäden,  die  die  städtische  Kon- 
zentration verursacht  hatte,  die  Verteilung  der  Bevölkerung  in 
Gruppen  von  durchschnittlich  zwölfhundert  Personen  vor.  Diese 
sollten  quadratische  Städte  bewohnen  — die  berühmten  Parallelo- 
gramme — und  sich  nach  einem  System  gemeinschaftlicher  Pro- 
duktion und  gemeinschaftlichen  Konsums  dem  Ackerbau  oder  der 
Industrie  zuwenden  *). 

In  gleicher  Weise  verschwinden  in  F o u r i e rs  sozialer  Oekonomie 
die  grofsen  Bevölkerungszentren , um  den  Phalansteren  Platz  zu 
machen,  die  nur  mit  einigen  Hundert  Bewohnern  besiedelt  sein 
sollten. 

')  Book  of  the  new  moral  world.  II  p.  16. 

’)  Siehe  dazu  die  sehr  ausführliche  Analyse  der  einschlägigen  Schriften.  Owen 
bei  Quack,  „De  socialistcn“  tweede  deel  p.  307 — 325.  Amsterdam,  van  Kämpen  1900. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


7 


Schon  in  der  Uebergangszeit  des  Garantismus  waren  die  Städte 
Gegenstand  systematischer  Mafsregeln.  Eine  garantistische  Stadt 
setzt  sich  aus  drei  Gürteln  zusammen : der  erste  enthält  die  City 
oder  die  innere  Stadt,  der  zweite  die  Faubourgs  und  die  grofsen 
Werkstätten,  der  dritte  die  Avenuen  und  die  Bannmeile.  Diese 
drei  Gürtel  sind  durch  Pallissaden  voneinander  getrennt.  Rasen 
und  Anpflanzungen,  die  die  Aussicht  nicht  behindern  dürfen.  Jedes 
Haus  der  inneren  Stadt  mufs  anschliefsend  als  Hof  und  Garten 
einen  freien  Raum  von  zum  mindesten  gleicher  Ausdehnung  wie 
die  eigene  Baufläche  besitzen.  Dieser  freie  Raum  soll  doppelt  so 
grofs  sein  im  zweiten  Gürtel,  den  Faubourgs,  und  dreimal  so 
grofs  im  dritten  Gürtel,  der  Bannmeile  *). 

Das  aber  sind  nur  die  Vorbereitungen  zu  einer  noch  viel 
tiefer  einschneidenden  Reform  der  Arbeits-  und  Wohnverhältnisse. 
In  der  Harmonie  „hat  das  Haus,  das  eine  Phalange  bewohnt, 
keinerlei  Aehnlichkeit  mit  unseren  städtischen  oder  ländlichen  Bau- 
lichkeiten; wenn  man  eine  grofse  Harmonie  von  1600  Personen 
gründen  will,  kann  man  keines  unserer  Gebäude  dazu  gebrauchen, 
weder  ein  grofses  Schlofe  wie  das  von  Versailles,  noch  ein  grofses 
Kloster  wie  den  Escorial  *).“  Und  unter  den  Bewohnern  des  I’halan- 
steres  verteilt  der  Kreislauf  der  Arbeit,  in  kurze  Abschnitte  geteilt, 
die  einzelnen  Verrichtungen  so,  dafs  allmählich  und  abwechselnd 
alle  an  den  Arbeiten  des  Haushalts,  der  Landwirtschaft  und  der 
Industrie  teil  haben. 

An  Stelle  der  jetzigen  Felder  und  Fabriken,  die  dem  gerecht 
Denkenden  nur  ein  Schauspiel  der  Betrübnis  bieten,  wird  der  Philo- 
soph, wenn  er  einen  Kanton  der  Harmonie  durchreist,  „von  seinem 
Gefährte  herab  das  entzückende  Schauspiel  betrachten,  das  ihm  die 
wahren  Freunde  des  Gemüsebaues  und  der  Rübenkultur  bieten  wer- 
den, die  Erben  von  Phokions  und  Dentatus'  Tugenden,  die  mit  Stolz 
ihre  Fahnen  wehen  lassen,  ihre  Zelte  errichten  und  ihre  Scharen 
ausbreiten  werden  auf  den  Höhen  und  in  den  Thälern.  Diese  aber 
sind  weithin  überstreut  mit  glanzvollen  Gebäuden,  in  deren  Mitte 
sich  das  Phalanstere  erheben  wird,  die  allgemeine  Behausung,  die 
majestätisch  den  Kanton  beherscht  *). 


')  L'barmonic  universelle  et  le  phalanstere,  exposes  par  Fourier,  Tome  1 cr 
p.  179.  Paris,  Librairie  phalanstcrienne  1849. 

*)  Ibid.  p.  254. 

*)  Ibid.  p.  284. 


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72 


Emil  Vandervelde, 


In  diesem  verführerischen  Gemälde,  wie  in  all  den  anderen,  die 
das  Werk  Fouriers  schmücken,  finden  wir  nur  ländliche  Gesichts- 
punkte vertreten.  Die  Industrie  spielt  im  System  des  Phalansteres 
nur  eine  nebensächliche  Rolle. 

Der  Haushalt,  der  Gartenbau,  die  Baumzucht  verbrauchen  der 
Thätigkeiten  gröfsten  Teil.  Wie  es  immer  geht:  die  Utopie  leidet 
unter  den  Nach  wehen  der  sozialen  Verhältnisse,  aus  denen  sie  ge- 
boren ist.  Als  Zeitgenosse  der  wirtschaftlichen  Umwälzung,  die 
sich  in  England  vollzog,  aber  in  einem  Lande  lebend,  wo  die 
Grofsindustrie  noch  nicht  zur  Herrschaft  gelangt  war,  hatte  der  be- 
rühmte Verfasser  des  „Traite  de  l’association  domestique  agricole" 
(1822)  scheinbar  noch  nicht  die  Gesamtentwicklung  vorausgesehen, 
welche  die  industrielle  Industrie  bald  unter  dem  Einflüsse  der  Er- 
findungen auf  dem  Gebiete  der  Mechanik,  Physik  und  Chemie  vor 
allem  aber  durch  die  Vervollkommnung  der  Verkehrsmittel  nehmen 
sollte. 

Erst  später,  als  die  ersten  Eisenbahnen  auf  dem  Kontinent  ent- 
standen waren,  begann  der  französische  Sozialismus  das  Problem 
des  Verhältnisses  zwischen  Industrie  und  Agrikultur,  Stadt  und  Land 
unter  den  gleichen  Bedingungen  ins  Auge  zu  fassen,  unter  denen 
er  sich  uns  heutzutage  darstellt. 

Im  Jahre  1838,  damals  also,  da  die  französische  Regierung  in 
den  Kammern  eine  riesige  Eisenbahnvorlage  einbrachte,  (nach  deren 
Plan  Paris  mit  der  belgischen  Grenze,  dem  Rhein  und  den  grofsen 
Häfen  von  Havre,  Bordeaux  und  Marseille  verbunden  werden  sollte) 
stellte  die  Academie  des  Sciences  morales  et  politiques  folgende 
Preisfrage : 

Welchen  Einflufs  können  die  motorischen  Kräfte  und  Verkehrs- 
mittel, die  sich  gegenwärtig  über  beide  Erdhälften  verbreiten,  auf 
den  materiellen  Wohlstand,  das  bürgerliche  Leben,  die  sozialen  Zu- 
stände und  die  nationalen  Machtverhältnisse  gewinnen? 

Der  preisgekrönte  Aufsatz  war  das  Werk  eines  Sozialisten 
C.  Pequeur  und  wurde  im  Jahre  1 839  in  Paris  veröffentlicht. 
Es  führte  den  Titel : „Des  intercts  du  commerce,  de  l’industrie  et 
de  l’agriculture  et  de  la  civilisation,  en  general,  dans  l'influence  des 
applications  de  la  vapeur.“ 

Von  den  vielen  interessanten  Kapiteln  dieses  Buches,  das 
nach  mehr  als  einer  Richtung  hin  erwähnenswert  ist,  verdienen  jene 
hervorgehoben  zu  werden,  in  denen  sich  der  Autor  beschäftigt : mit 
der  Zukunft  der  landwirtschaftlichen  und  der  der  gewerblichen  Er- 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


73 


werbsthätigkeit ; mit  der  gleichzeitigen  Ausübung  beider;  mit  der 
künftigen  Verteilung  der  Bevölkerung,  mit  dem  Bebauungsplan 
und  der  baulichen  Hinrichtung  von  Städten  und  Dörfern. 

Genau  so  wie  Rousseau,  Robert  Owen  und  Fourier 
beklagt  Pequeur  die  Trennung  von  Landwirtschaft  und  Industrie, 
die  Verödung  der  Felder,  die  Ansammlung  der  handarbeitenden  Be- 
völkerung in  den  grofsen  Städten.  Aber  im  Gegensatz  zu  seinen 
Vorläufern,  erwartet  er  eine  rückläufige  Entwicklung  nicht  von  der 
Einkehr  zu  vernünftigeren  Anschauungen,  nicht  von  einer  klareren 
Erkenntnis  dessen,  was  den  sozialen  Interessen  entspricht,  sondern 
als  Folge  jener  rein  materiellen  Wirkungen,  welche  von  Eisenbahn 
und  Dampfschiffahrt  ausgeübt  werden. 

„In  vielen  Beziehungen“  — so  schreibt  er  u.  a.  — „findet  sich 
die  Grundlage  der  Zivilisation  sonst  nirgends  noch  als  in  den 
Städten.  In  den  Städten  herrscht  Höflichkeit  und  guter  Ton, 
herrscht  Leben  und  Bewegung,  Wohlstand  und  Luxus.  Hier  ist 
licht  und  Pracht  und  Glanz  der  Künste,  hier  giebt  es  breite  Wege, 
grofsartige  öffentliche  Gebäude,  Wohnhäuser,  elegant,  bequem  und 
gesund,  und  gepflasterte  Strafsen  1 Auf  dem  Lande  aber  herrschen 
Elend  oder  mittlerer  Wohlstand ; Unwissenheit  und  grobe  Freuden 
roher  Sinnlichkeit;  die  Hütten  sind  strohgedeckt,  modrig,  finster, 
häfslich  und  stinkend,  und  die  Wege  sind  in  einem  Zustande  bar- 
barischer Verwahrlosung.  In  den  Städten  finden  sich  grofse  Werk- 
stätten, die  Geschäftigkeit  des  Handels  in  allen  Formen.  Auf  dem 
I-ande  die  Landwirtschaft  allein,  vereinzelt,  wie  in  der  Verbannung, 
der  Schlaf  der  Geister,  die  Unterdrückung  der  Fähigkeiten  — die 
Trägheit!“ 

Die  neuen  Verkehrswege  werden  den  so  natürlichen  und  frucht- 
baren Bund  der  verschiedenen  Berufszweige  wieder  herstellen.  Das 
Land  wird  ein  wenig  zur  Stadt  und  die’ Stadt  zum  Lande  werden. 
Eisenbahn,  Kanäle  und  Dampfschiffahrt,  die  durch  ihre  aufser- 
ordentliche  Schnelligkeit  die  natürlichen  Entfernungen  des  Raumes 
zwischen  Stadt  und  Dorf  verringern,  werden  unfehlbar  auch  die 
Gegensätze  verringern,  die  beide  voneinander  trennen  *). 

Dadurch  aber,  dafs  die  Transportwege  das  flache  Land  durch- 
ziehen werden,  wird  sich  eine  ungeheure  und  gerechte  Verteilung 
der  Erwerbszweige  über  das  ganze  Gebiet  des  Staates  und  in  wei- 
ter F'olge  über  die  ganze  Erde  hin  anbahnen.  Die  Industrieen, 

*)  Les  intercts  du  Commerce  I p.  121.  Paris  1839. 


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74 


Emil  V ander vclde, 


denen  Eisen  und  Steinkohle,  Eisenbahnen  und  Kanäle  zur  Verfü- 
gung stehen,  werden  sich  auf  dem  Lande  niederlassen  und  sich 
gegenseitig  ihre  Hilfskräfte  leihen.  Nach  allen  Seiten  werden  sich 
die  Unternehmungen  über  das  I .andgebiet  verstreuen,  entsprechend 
den  Bedürfnissen  jedes  Industriezweigs;  und  auf  diese  Weise  wird 
sich  eine  glückliche  Verteilung  der  Bevölkerung  von  selbst  voll- 
ziehen. 

Gewiss  werden  die  Städte  nicht  verschwinden;  sie  werden 
sogar  noch  weiter  hin  an  Ausdehnung  zunehmen.  Die  Zivili- 
sation scheint  ein  Bedürfnis  nach  solchen  mächtigen  Zentren 
zu  haben,  in  deren  Gedränge  und  deren  Freiheit  die  Ideen  und  Ge- 
fühle ausgähren,  in  denen  sich  Geist,  Macht  und  Wissen  jeder  Art 
ihr  Stelldichein  geben,  gleichsam  um  hier  durch  ihre  Zahl  zur 
moralischen  Autorität  zu  werden  und  sich  gegenseitig  in  dem  Ab- 
glanz des  Lichtes,  das  jeder  ausstrahlt,  neuen  Glanz  zu  holen,  von 
welchen  schliefslich,  in  fruchtbaren  Wellen,  Vorahnung,  Vorberei- 
tung und  Anstofs  jener  gemeinsamen  Bewegung  ausstrahlen,  die 
die  Massen  auf  die  Ziele  der  Zukunft  weisen  und  ihnen  die  Kraft 
verleihen,  sie  zu  erreichen. 

Aber  die  Wohlthaten  dieser  städtischen  Zivilisation  werden 
sich  — dank  der  wachsenden  Vervollkommung  der  Transport- 
mittel — reichlich  über  das  verstadtlichte  Land  verbreiten,  so  dafs 
das  Dorf  der  Zukunft  eine  regelmäfsige  Zusammensetzung  von 
grofsen  Landgütern,  schmucken  Fabriken,  bequemen  Stadthäusern 
sein  wird.  Umgekehrt  werden  die  Städte  aus  lauter  Villen  bestehen 
anstatt  wie  bisher  Orte  zu  sein  voll  von  Stickluft,  Kloaken,  Traufen 
und  Winkelwerk,  ohne  ein  grünes  Fleckchen,  ohne  jede  Spur,  die 
an  die  Wiege  des  Menschengeschlechts  erinnerte:  an  die  Erde  mit 
ihren  'Wäldern  und  des  Himmels  klaren  frischen  Hauch  . . . *) 

Dies  ist  in  Kürze  und 'in  des  Autors  eigener  ein  wenig  dekla- 
matorischen Art  die  Vorstellung,  die  sich  Pequeur  von  der  Stadt 
und  dem  Lande  der  Zukunft  machte.  Dieses  sollte  alle  Vorteile 
unserer  Grofsstädte  geniefsen,  wie  jene  alle  Annehmlichkeiten  des 
Dorfes,  ohne  dafs  eine  der  anderen  Mängel  mitzutragen  hätte. 

Was  Pequeur  im  Jahre  1858  prophezeite,  verkündete  auch  noch 
dreifsig  Jahre  später  Proudhon  in  den  „Rcformes  ä operer  dans 
l’exploitation  des  chemins  de  fer"  (1868),  einem  Buche,  das  tiefe 
echte  Wahrheit  mit  fast  unbegreiflichen  Irrtümern  verbindet. 


*)  Les  inter£ts  du  Commerce.  Siehe  besonders  p.  122  u.  172. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


75 


Nachdem  er  beispielsweise  die  seltsame  Ansicht  vertreten  hat, 
dass  der  Reiseverkehr  voraussichtlich  nach  einer  kurzen  Periode  das 
Anschwellen  wieder  zurückgehen  und  auf  jenen  Punkt  sinken  würde, 
den  er  sein  „normales  Minimum“  nennt,  findet  man  bei  ihm  wieder 
ein  sehr  bemerkenswertes  Kapitel  über  die  Verschiebung  des  poli- 
tischen Schwerpunkts  durch  die  Eisenbahnen. 

Durch  die  Schnelligkeit  des  Verkehrs  hat  nach  dem  Verfasser 
die  Anhäufung  der  Bevölkerung  in  den  Städten  ihre  Daseinberech- 
tigung verloren: 

„Seit  der  Privatmann  ohne  Unzuträglichkeit  jeden  Tag  in  Paris 
seine  Geschäfte  erledigen  und  dabei  etwa  in  Versailles,  in  St.  Denis, 
St.  Germain,  Sccaux  oder  Pontoise  wohnen  kann,  fünfzehn,  zwanzig, 
ja  fünfundzwanzig  Kilometer  vor  dem  Schlagbaum,  giebt  es  für  ihn 
keinen  Grund  mehr,  den  Aufenthalt  in  der  Stadt  dem  auf  dem 
Lande  vorzuziehen.  Ebenso  hat  auch  der  Arbeiter,  seit  ihm  die 
Bequemlichkeit  des  Verkehrs  und  das  Interesse  der  Unternehmer 
gestatten,  Wolle,  Leinen,  Seide  wie  Metall  in  seinem  eigenen  Hei- 
matsdorfe zu  verarbeiten  und  so  den  Lohn  der  Industrie  mit  den 
kleinen  Erträgnissen  der  eigenen  Landwirtschaft  zu  vereinigen,  mehr 
Interesse  daran,  sein  väterliches  Heim  zu  erhalten  als  nach  jenen 
Städten  abzuwandern,  die  wir  schönrednerisch  die  Zentren  der 
Bevölkerung  nennen  und  die  doch  nichts  anderes  sind  als  Abgründe, 
die  sie  verschlingen '). 

So  darf  man  denn  erwarten,  dafs  sich  unter  der  Herrschaft  des 
Grundsatzes:  „Schnell  und  sicher“,  dessen  thatkräftige  Vertreter 
die  Eisenbahnen  sind,  die  Bevölkerung  über  das  ganze  Land  ver- 
streuen, und  infolgedessen  die  politische  Bedeutung  der  Städte 
zu  Gunsten  der  der  Landbevölkerung  abflauen  werde. 

„Wenn  nur  die  Preise  herabgehen,  wenn  sich  der  Verkehr 
regelt,  die  Umgestaltung  der  Gesellschaft  sich  vollzieht,  wenn 
Paris  sich  entvölkert,  dann  sollt  ihr  sehen,  wie  wesentlich  falsch 
die  Rechnung  jener  gewesen  ist,  die  im  Jahre  1842  das  grofse 
Eisenbahnnetz  zu  legen  beschlossen  haben,  wie  gering  die  Bedeu- 
tung der  französischen  Hauptstadt  für  die  Entwicklung  der  vater- 
ländischen Geschichte  werden  wird.“ 

Diese  Voraussicht  war  gewiss  sehr  verständig,  und  dennoch  ist 


*)  Proudhon,  Reformcs  ä operer  dans  l'exploitation  des  fhemins  de  fer. 
Oeuvres  completcs  t.  XII.  p.  295.  Paris,  Librairic  internationale  1868. 


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76 


Emil  Vandcrvelde, 


sie  von  den  Thatsachen  — so  scheint  es  wenigstens  auf  den  ersten 
Blick  — mit  denkbarster  Deutlichkeit  widerlegt  worden. 

Gerade  um  die  Zeit,  da  Proudhon  sein  Buch  veröffentlichte, 
geschah  es , dafs  sich  die  Eisenbahnen  neue  und  zurückgebliebene 
Gebiete  erschlossen,  dafs  sich  der  überseeische  Verkehr  mächtig 
entwickelte,  dafs  der  Wettbewerb  russischen,  indischen  und 
amerikanischen  Getreides  die  landwirtschaftliche  Krise  herbeiführte 
und  die  Landbevölkerung  durch  das  Sinken  der  Preise  und  der 
Löhne  sich  mehr  denn  je  gezwungen  sah,  nach  den  Städten  zu 
wandern  und  die  industrielle  Reservearmee  zu  vermehren. 

So  scheinen  am  Ende  des  XIX.  Jahrhunderts  in  dieser  Periode 
wachsenden  Städtewesens  und  steigenden  Zentralisation,  Sozialisten 
und  Sozialreformer  wie  Tolstoi,  Ruskin  und  W i 1 1 i a m M o r r i s '), 
die  unaufhörlich  die  Rückkehr  nach  dem  I.ande  predigen,  nichts  als 
Utopisten  zu  sein,  die  sich  über  die  Wirklichkeitswelt  keine  Rechen- 
schaft geben  und  den  Flufs  der  gesellschaftlichen  Entwicklung  strom- 
auf zu  schwimmen  suchen. 

Aber  andererseits  wieder  beschäftigt  sich  alle  Welt  mit  dem  un- 
heilvollen Ausgang,  den  diese  Entwicklung  nehmen  mufs,  und  seit 
einigen  Jahren  besonders  wiederholt  sich  die  besorgte  Frage,  wel- 
che Folgen  für  die  Gesellschaft  des  XX.  Jahrhunderts  entstehen 
würden , wenn  die  Vermehrung  der  städtischen  Bevölkerung  in 
demselben  Grade  fortschritte,  wie  es  ihm  neunzehnten  geschah. 

„Wenn  das  ganze  Gebiet  des  Königreiches“,  so  sagte  M.  Bal- 
four  am  8.  Februar  1895  im  Hause  der  Gemeinen,  „zu  Oedland 
verwandelt  wäre,  so  dafs  es  nur  mehr  zum  Jagdterrain  dienen 
könnte  — und  diese  Hypothese  hat  sich  in  bestimmten  Gegenden 
deren  Beispiel  die  übrigen  Landesteile  hoffentlich  nicht  folgen 
werden,  bereits  verwirklicht  — wenn  die  Umwälzung  von  Acker- 
bau und  Industrie  die  landwirtschaftlichen  Gegenden  verschwinden 
liefse,  dann  müsste  ich  mich  fragen,  ob  eine  Gesellschaft,  die,  ein- 
gepresst in  den  Mauern  ungeheurer  Städte  und  nur  mit  Industrie- 
arbeit beschäftigt  dahinlebt,  noch  gesund  und  glücklich  genannt 
werden  dürfte.  Ich  für  meinen  Teil  kann  mir  einen  solchen  Zustand 
nicht  denken,  ohne  dafs  mich  Sorge  und  Angst  erfafsten." 

*)  Tolstoi,  Was  thun? 

Ruskin,  General  Statements  explaining  the  naturc  and  purposes  of  St.  Georges 
Guild  H.  Allen  1882. 

Morris,  News  frorn  Nowherc  or  an  epoche  of  rest  Londrcs  1891. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


77 


Ein  solcher  Ausblick  in  die  Zukunft,  der  sich  einem  in  Eng- 
land — einem  Lande,  wo  zwei  Drittel  der  Gesamtbevölkerung  in 
Städten  mit  mehr  als  10000  Einwohnern  leben  — allerdings  auf- 
drängt, hat  wahrhaftig  wenig  Erfreuliches  an  sich.  Wenn  wir  aber 
auch  bemerken,  dafs  sich  überall,  selbst  in  Ländern  mit  fast  statio- 
närer Bevölkerung  wie  Frankreich  oder  gar  zurückgehender  wie 
Irland,  die  Städte  auf  Kosten  des  lindes  vergröfsern,  so  läfst  doch 
andererseits  ein  aufmerksames  Studium  der  inneren  Wanderungen 
Anzeichen  dafür  erkennen , dals  sich  das  Wachstum  der  grofs- 
städtischen  Ansiedlungen  verlangsamt.  Ja,  in  gewissen  Gegenden 
_ macht  sich,  wie  längst  bemerkt  worden  ist,  sogar  eine  rückläufige 
Bewegung  nach  dem  Lande  bemerkbar.  Es  ist  eine  allbekannte 
Thatsache,  dafs  sich  in  den  meisten  grofsen  Städten  seit  langem 
schon  die  Bevölkerung  ihrer  inneren  Bezirke  vermindert. 

Das  gilt  besonders  für  die  innere  Stadt  von  Wien,  für  das  erste, 
zweite,  dritte  und  vierte  Arrondissement  von  Paris  (Louvre,  Bourse, 
Temple,  Hotel  de  Ville)  für  die  Wards  I bis  6 und  8 bis  14  von 
New  York,  die  die  Handels-  und  Bankzentrale  der  Stadt  sind  für 
die  beiden  Bezirke  Kölln  und  Friedrichstadt,  die  das  Herz  von 
Berlin  darstellen,  und  schliefslich  — ein  geradezu  klassisches  Bei- 
spiel! — für  die  elf  Distrikte,  die  den  ältesten  und  innersten  Teil 
von  London  bilden.1) 

Man  urteile  nach  dem  folgenden  Zahlenbilde,  das  die  Be- 
völkerungsbewegung der  elf  Bezirke  im  Laufe  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  darstellt. 


Absolute 

Prozente  d.  Gesamt- 

Zahlen 

bevölkerung  Londons 

1801 

588  264  . . 

....  61,3 

1851 

I 129599  . . 

. . . . 48,0 

1861 

1 187687  . . 

• • • • 4*,3 

1871 

I 1 55  462  . . 

• • • ■ 35.5 

1881 

I 101 994  . . 

....  28,8 

iSgi 

1 022951  . . 

....  24.3 

Eine  relative  Abnahme  ist  aber  seit  1801  festzustellen;  eine 
absolute  seit  1861.  Diese  absolute  Abnahme  hatte  in  vier  oder 


*)  Meuriot,  La  poputation  de  Berlin  et  de  Vienne,  d'apres  les  denorabre- 
ments  rcccnts.  — Journal  de  la  societe  de  statistique  de  Paris  1901  p.  347  u.  f. 
— Weber,  The  growth  of  cities  p.  461,  463  u.  f.  — Lcvasseur,  — La  popu- 
lation  frangaisc.  Livre  II  p.  364.  Paris,  Rousseau  1871. 


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7« 


Emil  Vandervelde, 


fünf  Distrikten  ihren  Anfang  genommen,  besonders  am  Strand  und 


City 

Strand 

1841 

124717 

. 52209 

1851 

129128 

• 51765 

1861 

» *3387 

. 48  242 

1871 

75983 

• 4'  339 

1S81 

5‘  439  

. 33682 

1891 

38320 

• 27516 

1901 

26908 

. — 

Man  kann  also  deutlich  erkennen,  dafs  in  absehbarer  Zeit  in 
London,  wie  in  den  anderen  Hauptstädten,  die  inneren  Bezirke  von 
Bureaux,  grofsen  Verkaufsmagazinen,  Theatern  und  Monumentalge- 
bäuden aller  Art  so  erfüllt  sein  werden,  dafs  als  ihre  fast  einzigen  Be- 
wohner die  Portiers,  die  Schliefser  und  das  Aufsichtspersonal  öffent- 
licher und  privater  Baulichkeiten  Zurückbleiben  werden. 

Allerdings  nimmt,  ungeachtet  dieser  zentrifugalen  Bewegung, 
das  Wachstum  der  hauptstädtischen  Bevölkerungen,  als  Ganzes  ge- 
nommen, noch  immer  zu.  Nur  zeigt  sich  dabei  — und  das  ist 
der  zweite  Punkt,  auf  den  die  Aufmerksamkeit  gelenkt  werden 
mufs  — dafs  die  Progression  dieser  Zunahme  eine  rückläufige  Be- 
wegung aufweist. 

Die  Ergebnisse  der  letzten  fünfjährigen  Zählperioden  in  Berlin 
und  London  sind  nach  dieser  Richtung  hin  durchaus  beweiskräftig. 
Die  Gesamtziffer  der  Bevölkerungszunahme  für  Berlin  beträgt  in 
derZeit  von  1872—1880  293  000  (Jahresmittel  32  555) ; von  1881 — 
1890  beträgt  sie  457000  (Jahresmittel  45700);  von  1891  — 1900 
sinkt  sie  auf  309  000  (Jahresmittel  30  900).  Im  letzten  Jahrzehnt  also 
ist  die  Zunahme  am  geringsten;  und  die  bezüglichen  Zählungen  der 
beiden  Nachbarkreise  Teltow  und  Niederbarnim  beweisen,  dafs 
diese  Herabminderung  auf  den  ungeheuren  Aufschwung  zurück- 
zuführen ist,  den  inzwischen  die  Umgebung  genommen  hat. 

Wir  lassen  die  Angaben  bezüglich  Londons  folgen.  Wir  ent- 
nehmen sie  einem  Artikel  der  Daily  News  vom  4.  Mai  1901,  der 
die  Ergebnisse  der  letzten  Zählung  bespricht. 

„Nach  der  Zählung  d.  J.  1896  hatte  das  Territorium  von  Lon- 
don, das  mit  dem  ven  1891  gleiche  Gröfse  hatte,  441 1710  Einwohner. 
Im  Jahre  1881  hatte  es  3815544.  Im  laufenden  Jahre  hatte  das- 
selbe Territorium,  das  inzwischen  durch  den  Borougths-Act  nur 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


* 79 

wenig  vergröfsert  worden  war,  eine  Bevölkerung  von  4536034  Ein- 
wohner. Unter  Vernachlässigung  der  geringsfiigigen  Gebietsver- 
schiebung erhalten  wir  das  folgende  Zahlenbild: 


1881 3815544 

1891 4211743 

1896 4411710 

1901 4536034 


Dieses  Bild  zeigt  eine  fortschreitende  Verringerung  der  Pro- 
gression in  der  Bevölkerungszunahme,  soweit  sie  den  Boden  des 
eigentlichen  London  betrifft.  Die  Verhältniszahl  der  Zunahme  be- 
trug im  Zeitraum  von  1881 — 1891  10,4  Proz.,  in  dem  folgenden 
Jahrzehnt  übersteigt  sie  nicht  5,8  Proz.  Dazu  mufs  noch  festgestellt 
werden,  dafs  die  Vermehrungszahl  für  1896 — 1901  geringer  war  als 
die  für  1891  — 1896.  In  der  ersten  dieser  beiden  fünfjährigen 

Perioden  bezifferte  sich  die  Vermehrung  auf  200000,  in  der  zweiten 
nur  auf  124  000  Personen.“ 

Um  aber  die  wirkliche  Bedeutung  dieser  Zahlen  genauer  fest- 
zustellen, darf  man  ihre  Beziehungen  zu  der  bedeutenden  Entwick- 
lung der  Vororte  nicht  aufcer  Acht  lassen. 

Wenn  sich  die  Kurve  der  grofsstädtischen  Bevölkerungszunahme 
senkt , wenn  in  vielen  Städten  — Cannan  exemplifiziert  auf 
Manchester  und  Liverpool  ’)  — diese  Bevölkerungszunahmc,  wie  sie 
die  Statistik  ergiebt,  hinter  der  natürlichen  Vermehrung,  dem  Ge- 
burtenüberschufs,  zurückbleibt,  so  geschieht  das  zum  grofsen  Teile 
deshalb,  weil  viele  Städter  das  städtische  Verwaltungsgebiet  ver- 
lassen, um  in  der  Umgebung  eine  gesündere  oder  minder  hoch- 
gelegene Wohnung  zu  mieten.  Diese  Wegzugsbewegung  ist  natür- 
lich um  so  intensiver,  je  mehr  Bequemlichkeit  die  Verkehrsmittel 
bieten  und  je  besser  sie  sich  auch  bescheidenen  Einkommensver- 
hältnissen anzupassen  verstehen. 

In  I-ändern,  in  denen  die  Mittel  des  Schnellverkehrs  noch 
wenig  entwickelt  sind,  oder  wo  der  kapitalistische  Betrieb  der 
Eisenbahnen  und  Strafsenbahnen  sich  der  Verbilligung  der  Tarife 
widersetzt,  wo  den  Arbeitern  eine  vom  Arbeitsorte  entfernte  Woh- 
nung beträchtliche  Kosten  verursacht  oder  Strapazen  auferlegt,  die 
um  so  schwerer  empfunden  werden,  je  länger  ihre  Arbeitszeit  ist, 

')  Cannan,  Growth  of  Manchester  and  Liverpool.  Economic  Journal  IV 
p.  111  bis  1 14 


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So 


Emil  V ander vclde, 


in  solchen  Ländern  überschreitet  die  innere  Wanderung  kaum  die 
Vorstädte,  die  dann  eine  wachsende  Uebervölkerung  aufweisen. 

In  jenen  lündern  dagegen,  wo  der  Betrieb  der  Eisenbahnen 
und  Strafsenbahnen  durch  die  öffentlichen  Gewalten  ins  Werk  ge- 
setzt wird,  oder  wo  wenigstens  eine  den  konzessionierten  Gesell- 
schaften auferlegte  Tarifreduktion  die  städtische  Dezentralisation 
begünstigt,  nimmt  der  Wegzug  nach  der  entfernteren  Umgebung 
von  Jahr  zu  Jahr  an  Ausdehnung  zu. 

Während  viele  Landbewohner,  die  in  der  Stadt  Arbeit  haben, 
dank  der  Arbeiterzüge  ihre  Wohnung  auf  dem  umgebenden  Lande 
behalten  ’),  nimmt  eine  grofse  Zahl  von  Beamten,  Angestellten, 
Kaufleuten  und  Industriellen  auf  dem  Lande  Wohnsitz  und  behält 
dabei  seine  Beschäftigung  in  der  Stadt. 

Andererseits  kehren  ebenfalls  infolge  der  Verkehrserleichterung 
viele  Industrieen,  die  sich  in  den  Städten  zentralisiert  hatten,  jetzt 
nach  dem  l^ande  zurück,  wo  sie  ein  zahlreiches  Personal  teils  fest- 
halten,  teils  neu  ansiedeln. 

Schliefslich  nehmen  gewisse  landwirtschaftliche  Berufszweige, 
die  eine  grofse  Zahl  von  Händen  beschäftigen  und  die  sich  früher 
durch  die  Beschränktheit  des  Marktes  und  die  unzureichende  Aus- 
bildung der  Verkehrsmittel  beengt  fühlten,  eine  immer  gröfserc 
Ausdehnung  an. 

Kurzum:  die  Entwicklung  der  Verkehrs-  und  Transportmittel 
hat  sich  vorerst  als  eine  Hauptursache,  wenn  nicht  schlechthin  als 
die  Grundursache  der  Landverödung  bewiesen.  Sie  hat  die  Industrie 
von  der  Landwirtschaft  gerissen,  sie  hat  die  Agrarkrise  ins  Rollen 
gebracht  und  die  Abwanderung  vom  Lande  erleichtert.  Nun  aber 
beginnt  sic  — wie  P e q u e u r und  Proudhon  prophezeit  hatten  — 
die  umgekehrten  Wirkungen  hervorzubringen.  Sie  begünstigt  die 
Industrialisierung  der  Landwirtschaft,  die  Gründung  industrieller 
Etablissements  auf  ländlichem  Gebiet,  sie  fördert  den  zeitweiligen 
oder  dauernden  Wegzug  der  Städter  nach  dem  flachen  Lande. 


l)  In  Belgien,  wo  dank  des  staatlichen  Eisenbahnbetriebs,  der  Verkehr  auch 
für  Arbeiter  ganz  außerordentlich  ermäßigt  ist,  betrug  die  Zahl  der  im  Jahre  1901 
ausgegebenen  Wochenkarten  4412723;  daraus  ergiebt  sich,  dass  mehr  als  hundert- 
tausend Arbeiter  auf  dem  Lande  wohnen  und  täglich  die  Eisenbahnen  benutzen,  um 
nach  der  Stadt  zu  fahren. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


81 


x.  Die  Industrialisierung  der  Landwirtschaft. 


Die  Agrarkrise  hat  nicht  blofs  die  Wirkung  gehabt,  die  land- 
wirtschaftlich bebaute  Fläche  zu  verringern,  in  vielen  Gegenden  die 
Aecker  durch  Aufforstungen  und  Weideland  zu  ersetzen,  die  Ein- 
führung des  Maschinenwesens  in  den  landwirtschaftlichen  Betrieb 
zu  fordern  und  in  weiterer  Folge  das  Arbeitsangebot  für  landwirt- 
schaftliche Beschäftigungen  herabzudrücken. 

Es  giebt  im  Gegensatz  dazu  auch  gewisse  Gegenden,  wo  sich, 
wie  im  Süden  seit  dem  Auftreten  der  Reblaus  oder  in  Westeuropa 
seit  dem  Preissturz  des  Getreides,  gewisse  Kulturzweige  entfalten 
die  wieder  einen  ebenso  bedeutenden  Aufwand  von  Arbeit,  ja  so- 


* 


gar  einen  noch  gröfseren  erfordern , und  die  infolgedessen  eine 


zahlreiche  Bevölkerung  festhalten. 


So  stellt  Graham  in  seinem  Buche  über  die  Landflucht  in 


England  fest,  dafs  sich  diese  nirgends  bemerkbar  macht,  wo  der 
intensive  Anbau  von  Gemüsen  oder  Obstbau  getrieben  wird  oder 
wo  Milchwirtschaften  für  den  städtischen  Absatz  errichtet  wurden.  ’) 
Die  Zunahme  der  Bevölkerung  und  der  Kaufkraft  in  den 
Städten,  die  die  wichtigsten  Konsumentinnen  dieser  Erzeugnisse 
sind,  macht  eine  weitere  Ausdehnung  der  Milchproduktion,  des 
Gemüse-  und  Obstbaues  zur  Notwendigkeit.  Vor  allem  gestattet 
in  den  Ländern  mit  staatlichem  Eisenbahnbetrieb,  die  der  Land- 


wirtschaft günstige  Frachttarife  gewähren,  die  wachsende  Bequem- 
lichkeit des  Transportes  eine  viel  weitere  Entfernung  solcher  Pro- 
duktionsstätten von  der  Zentrale  des  Verbrauches  als  je  zuvor. 

So  zum  Beispiel  waren  es  bis  vor  ein  paar  Jahren  nur  die 
Landleute  aus  der  unmittelbaren  Umgebung  von  Brüssel,  die  in 
ihren  grünen  mit  Hunden  bespannten  Wägelchen  der  Stadt  die 
Milch  zufuhrten ; der  Tagesverbrauch  überschritt  kaum  hundert- 
tausend Liter.  s)  Heutzutage  schaffen  die  Eisenbahnen  mit  ihren 
Vicinalstrecken  die  gleiche  Masse  aus  enfernteren  Gegenden  herbei, 
wo  man  Molkereien  mit  Zentrifugenbetrieb  errichtet  hat,  die  die 
abgerahmte  Milch  an  den  Markt  liefern.  Wohl  kommen  noch  die 
Milchweiber  in  kleinen  Scharen  mit  ihren  Blechkrügen  nach  der 
Stadt,  aber  die  Wagen  der  grofsen  Molkereien  machen  ihnen  scharfe 


*)  Graham,  The  rural  exodus.  London.  Mcthuen  1892. 

*)  Rolin,  La  vente  des  produits  laitiers  a Hnterieur  et  a l'extericur.  CongTi*s 
National  d’agriculturc  l«r  fasciculc  p.  121  u.  f.  Namur  1901. 

Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  6 


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82 


Emil  Vandervelde, 


Konkurrenz,  und  mehr  und  mehr  sieht  man  im  Transport  und 
im  Verkauf  sich  jenes  Verfahren  entwickeln,  das  schon  in  Paris  und 
in  anderen  Grofsstädten  vorherrscht.  Es  ist  bekannt,  dafs  die 
gröfste  Menge  der  Milch,  die  Paris  verbraucht,  direkt  von  den  Milch- 
wirtschaften der  drei  aneinanderstofsenden  Departements  von  Oise, 
Seine  et  Marne,  und  Seine  et  Oise  bezogen  wird. 

„In  gewissen  Gegenden  nahe  den  Bahnhöfen,“  so  berichtet 
Vimeux,  „haben  die  Geschäftsleute  ihre  Depots  errichtet.  Zwei- 
mal des  Tages  im  Sommer,  einmal  im  Winter  bringen  die  Milch- 
jungen auf  schweren  Wagen  die  Milch  der  einzelnen  landwirtschaft- 
lichen Betriebe  dahin,  die  sie  in  einem  Umkreis  von  15 — 20  Kilo- 
meter aufgesammelt  haben.  Diese  Milch  wird  in  Kannen,  20  Liter 
lassend,  eingefüllt,  abgekocht  und  am  Abend  nach  Paris  geschafft, 
wo  sie  des  Nachts  ankommt,  um  des  Morgens  darauf  von  Krämern 
und  Molkereigeschäften  weiter  vertrieben  zu  werden." ') 

Allerdings  ist  die  Lage  der  Milchwirtschaft  treibenden  Land- 
bevölkerung nichts  weniger  als  zufriedenstellend.  Der  Verfasser  der 
angezogenen  Monographie  stellt  fest,  dafs  sich  der  Milchzüchter 
mit  einer  lächerlich  geringen  Bezahlung  zufrieden  geben  mufs:  IO 
bis  12  Centimes  für  den  Liter,  während  der  Detailpreis  60 — 75 
Centimes  beträgt.  Ueberdies  müssen  sie  sich  dem  Diktate  der 
Milchhändler  willenlos  fügen,  denn  unter  diesen  besteht  kaum  irgend 
welche  Konkurrenz.  Wenn  zufällig  zwei  Händler  nach  demselben 
Orte  kommen,  so  halten  sie  zusammen  und  keiner  nimmt  einen 
Lieferanten  an,  den  der  andere  abgewiesen  hat.  Oft  sogar  wird 
dem  Züchter  aufgetragen,  seinen  Stall  mit  Vieh  von  bestimmten 
Rassen  zu  versehen : Er  soll  vor  allem  zwei  normannische  Kühe 
besitzen,  deren  Milch  sehr  fetthaltig  ist,  und  nicht  nur  vlämische 
und  holländische,  deren  reichere  Quantität  ihm  doch  einen  etwas 
höheren  Gewinn  bringen  könnte. 

Trotz  derlei  Unzukömmlichkeiten  bleibt  es  darum  doch  nicht 
weniger  wahr,  dafs  diese  Verkaufsorganisation  der  Molkerei- 
produkte, so  mangelhaft  sie  auch  sein  möge,  einer  Anzahl  kleiner 
Züchter  in  der  Aufzucht  von  Milchkühen  eine  Existenzquelle  ver- 
schafft hat,  die  sie  entbehren  müfsten,  wenn  sie  keine  anderen  Ab- 
nehmer hätten  als  den  lokalen  Markt,  und  wenn  nicht  die  „Milch- 


*)  Vimeux,  I.a  ventc  du  lait  dans  le  departement  de  l'Oise.  Journal 
d’agriculture  pratique,  io.  Mai  1900. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande.  83 

züge“  sie  in  Verbindung  setzten  mit  Verbrauchern,  die  weit  entfernt 
von  dem  Produktionsorte  leben. 

Es  ist  klar,  dafs  in  diesem  Falle  der  Fortschritt  des  Transport- 
wesens ein  mehr  oder  minder  wirksamer  Hemmschuh  der  Land- 
flucht wird. 

Aehnliche  Beobachtungen  drängen  sich  beim  Gemüsebau  auf, 
der  auf  engen  Gebieten  eine  grofsc  Zahl  von  Arbeitskräften  er- 
fordert; bei  Paris  zum  Beispiel  arbeiten  fünftausend  Gemüsebauer 
auf  nur  neunhundert  Hektar  Landes;  diese  Ziffer  giebt  wenigstens 
Kropotkin  in  jenen  interessanten  Kapiteln,  mit  denen  er  seine 
Untersuchung  über  die  Brotfrage  zum  Abschluß  bringt. 

So  hat  jede  Ausbreitung  dieser  Betriebszweige  eine  steigende 
Dichtigkeit  der  Landbevölkerung  zur  notwendigen  Folge. 

Bis  in  die  letzten  Jahre  aber  war  die  Zone  des  Gemüsebaues 
durch  das  mangelhafte  Transportwesen  streng  auf  die  nächste  Um- 
gebung der  Stadt  beschränkt. 

Als  eine  ganz  aufserordentliche  Ausnahme  pflegte  man  die 
Gemüsegärten  von  Roscoff  in  der  Bretagne  anzuführen,  die  für  den 
Pariser  Markt  die  Erstlinge  zogen.  In  seinem  Werke  über  die 
landwirtschaftliche  Bevölkerung  Frankreichs  erzählt  Bau  drillart 
interessante  Einzelheiten  über  diese  kleinen  Landleute,  die  lange 
Zeit  hindurch  als  die  einzigen  unter  den  brctonischen  Bauern  sich 
der  Bekanntschaft  mit  der  Grofsstadt  rühmen  durften.  Die  Unter- 
nehmungslustigsten von  ihnen  drangen  mit  ihrer  zweirädrigen  Karre 
bis  zur  Hauptstadt  vor  und  legten  mit  diesem  Fuhrwerk  die  hundert- 
fünfzig Meilen  zwischen  Roscoff  und  Paris  in  kleinen  Tagereisen 
zurück.  Es  war,  wie  es  heifst,  etwa  im  Jahre  1850,  da  zum  ersten 
Mal  ein  Bauer  von  Roscoff  diese  Gewalttour  unternahm.  Der 
Roscovite  kam  auf  demselben  Wege  wieder,  nicht  ohne  in  Paris 
verlängerten  Aufenthalt  zu  nehmen.  Die  kleine  Kolonie  setzte  sich 
in  der  Nähe  der  Halle  fest,  wo  sie  bald  kaum  weniger  bekannt  war 
als  ihr  Gemüse.  Der  Aufenthalt  in  der  Hauptstadt  erwies  sich  als 
nutzbringend.  Der  mächtige  Antrieb,  den  das  städtische  Leben 
auch  minder  entwickelten  Fähigkeiten  giebt,  hat  in  dieser  Bevölkerung 
Unternehmungsgeist  und  kaufmännisches  Geschick  gefördert.  — 
Nicht  immer  ist  der  städtische  Einflufs  auf  Sitten  und  Gewohnheiten 
so  wohlthätig  gewesen! 

Auch  die  Wirtschaften  von  Roscoff  haben  sich  willig  den  Ver- 
änderungen der  Handelsvcrhältnissc  angepafst,  die  es  ermöglichen, 
mit  Hilfe  der  Bahn  den  Verkauf  der  Produkte  dem  Zwischenhandel 

6* 


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84 


Emil  Vanderveldet 


zu  überlassen.  Das  Land  fahrt  fort,  an  der  regelmäfsigen  Entwick- 
lung des  Güterverkehrs  Anteil  zu  nehmen,  und  findet  seinen  Vorteil 
dabei;  in  reichem  Ueberflufs  verbreitet  sich  der  Gemüsebau  indem 
meerbespülten  Lande,  dem  „goldenen  Gürtel"  der  Bretagne.  Dank 
dem  milden  Klima,  dem  Geschenk  des  Golfstroms,  sind  die  Ge- 
müsegärtner von  Leonnais  um  mehr  als  einen  Monat  denen  des 
inneren  und  nördlichen  Frankreich  voraus  und  versorgen  mit  ihren 
Frühgemüsen  die  Märkte  von  Paris,  London  und  Rotterdam. ') 

Nur  ist  durch  die  Verallgemeinerung  des  Verkehrs  und  die 
Verbilligung  der  Frachten  Regel  geworden,  was  zuvor  Ausnahme 
gewesen  ist. 

In  allen  Gegenden  Frankreichs,  und  besonders  in  denen  mit 
intensivem  landwirtschaftlichen  Betrieb,  findet  man  heute  Gemüse- 
gärten, deren  Erzeugnisse  fern  von  den  Betriebsstätten  ihren  Ab- 
satz finden. 

„Der  Stadtbewohner,"  so  liest  man  im  Journal  d'agriculture 
prati(]ue,  „ifst  weniger  Brot  als  der  Landbewohner,  er  ifst  aber  da- 
für mehr  Fleisch  und  feines  frisches  Gemüse.  Um  diesem  steigen- 
den Bedarf  zu  genügen,  haben  sich  naturgemäfs  in  der  Nähe  der 
Städte  oder  auch,  dank  der  schnellen  und  bequemen  Transport- 
gelegenheit, überall  wo  die  Verhältnisse  des  Bodens  und  des  Klimas 
einer  solchen  Entwicklung  günstig  sind,  Grofsbetriebe  für  den 
Gemüsebau  gebildet,  die  ihre  Erzeugnisse  nach  den  wichtigsten 
Märkten  exportieren.  Im  Süden  mit  seinen  milden  Wintertempera- 
turen ist  der  Gemüsebau  auch  zu  Jahreszeiten  möglich,  in  denen 
die  Produktion  des  Nordens  nicht  einmal  noch  den  Bedarf  der 
nächsten  Märkte  decken  kann.  So  entstand  dort  die  Kultur  der 
Frühgemüse.  Der  verhältnisxnäfsig  hohe  Preis,  den  diese  Früh- 
gemüse erzielen,  deckt  auch  die  Kosten,  die  ihr  Transport  verur- 
sacht. Aber  die  Frühgemüse  Südfrankreichs  haben  wieder  den 
algerischen  Wettbewerb  auszuhalten,  der  durch  das  noch  wärmere 
Klima  seines  Landes  die  Märkte  von  Paris,  Marseille  und  Lyon  um 
ein  paar  Wochen  früher  beschicken  kann.“  *) 


*)  Baudrillart,  Lcs  populations  agricoles  de  ia  France.  I«r  Partie.  Nor- 
mandie et  Bretagne  p.  508. 

Lentheric  Cotcs  et  ports  frangais  de  la  Manche.  Revue  de  deux  Mondes 
15.  Juillct  1901  p.  412. 

*)  Hitter,  La  culture  et  l’exploitation  des  primeurs  en  Algerie.  — Journal 
d’agriculture  pratique,  26.  Septembre  1901  p.  324. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


85 


Man  bemerkt  also,  dafs  der  Einflufs  des  Städtewesens  auf  die 
Dichtigkeit  der  Landbevölkerung  in  verschiedenen  Gegenden  ver- 
schiedene, ja  geradezu  entgegengesetzte  Wirkungen  hervorbringt. 

Einerseits  — und  das  ist  heutzutage  die  weitest  verbreitete 
Ansicht  — verringern  die  Städte  durch  ihre  Anziehungskraft  und 
die  Krisen,  die  sie  hervorrufen,  die  Masse  der  arbeitenden  Land- 
bevölkerung; andererseits  befördern  sie  wieder  im  geraden  Gegen- 
sätze dazu  die  Entstehung  oder  die  Vergröfserung  von  landwirt- 
schaftlichen Betrieben,  die  einen  grotsen  Arbeiteraufwand  erfordern. 
Das  letztere  gilt  nicht  blofs  für  die  Kultur  von  Küchengewächsen, 
sondern  auch  für  einzelne  Zweige  des  Obstbaues,  die  im  Freien, 
auf  Beeten  oder  in  Treibhäusern  betrieben  werden. 

Die  wachsende  Entwicklung  des  Eisenbahnnetzes  und  der  Schiff- 
fahrt macht  es  diesen  Betrieben  möglich,  ihr  Absatzgebiet  in  immer 
gröfsere  Fernen  zu  erweitern. 

Die  Erdbeerzüchter  von  Brest  z.  B.  und  vom  Comtat,  das  heifst 
aus  der  ganzen  Umgebung  von  Carpentras,  exportieren  alljährlich 
mehrere  tausend  Zentner  ihrer  Erzeugnisse  nach  England. 

Die  Rhonegegend  um  Vienne  in  einem  Umkreis  von  zwei- 
hundert Kilometern  hat  sich  seit  der  Vernichtung  der  Weinberge 
durch  die  Reblaus  in  einen  wahren  Garten  verwandelt,  der  bei 
starkem  Verbrauch  menschlicher  Arbeitskräfte  ungeheure  Massen 
von  Obst  und  Gemüse  hervorbringt.  Alle  Strafsen  sind  mit  Apri- 
kosen- und  Kirschbaumalleen  bepflanzt.  In  den  Zwischenräumen 
zieht  man  für  den  städtischen  Markt  Bohnen,  Erdbeeren  und  Früh- 
gemüse. Im  Frühling  füllt  das  Flufsthal  der  köstliche  Duft  der 
Aprikosenblüte;  Kirschen,  Pfirsiche,  Trauben  lösen  einander  in  der 
Reihe  ab  und  rollen  mit  Bohnen,  Salat,  Kohl  und  Lauch  auf  kleinen 
Wagen  nach  den  Industriestätten  der  Gegend. ') 

Es  ist  allgemein  bekannt,  dafs  sich  dieselbe  Vereinigung  von 
Gemüsebau  und  Obstbau  auf  den  Inseln  des  Kanals  findet.  Ob- 
wohl diese  Inseln  aufserordentlich  dicht  bevölkert  sind,  denkt  dort 
kein  Mensch  daran,  nach  der  Stadt  auszuwandern.  Sie  liefern 
enorme  Mengen  von  Frühgemüse  nach  London,  Liverpool,  South- 
ampton, Newcastle  und  Glasgow.  *) 

Die  kleine  Insel  Jersey  — sie  ist  acht  Meilen  lang  und  sechs 

- *)  Kropotkine.  Fields,  factories  and  workshops.  p.  109  u 88.  London, 

Swan  Sonnenschein  1901. 

*)  Ibid.  p.  109  u.  88. 


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86 


Emil  Vandcrvclde, 


Meilen  breit  — ist  noch  ein  Land  mit  offenem  Gartenbau.  Ihre 
Fläche  ist  nicht  gröfser  als  28707  Acre  (1  Acre  = 40  Ar)  die 
Felsen  mit  einbegriffen.  Trotzdem  ernährt  sie  auf  einem  Acre  un- 
gefähr zwei  Einwohner,  das  sind  1300  Einwohner  auf  die  Quadrat- 
meile. Jeder  Fachkundige,  der  von  einem  Besuche  dieser  kleinen 
Insel  zurückkehrt,  ist  voll  des  Lobes  über  den  Wohlstand  der  Be- 
völkerung und  die  bewundernswerten  Resultate,  die  diese  kleinen 
Wirtschaften  von  5 — 20  Acres,  ja  sogar  noch  kleinere,  durch  ihre 
intensive  und  rationelle  Betriebsweise  erzielt  haben. 

Auch  sei  daran  erinnert,  dafs  in  gewissen  Gegenden  von  Eng- 
land die  Treibhauskultur  von  Tomaten,  Erdbeeren  und  Weintrauben 
ein  stattliches  Arbeiterheer  beschäftigt.  Am  bedeutendsten  ist  die 
Kultur  von  Weintrauben,  die  für  die  Tafeln  von  Brüssel,  London, 
Berlin  und  Petersburg  bestimmt  sind.  Auch  diese  Betriebe  bilden 
einen  starken  Damm,  der  den  Abflufs  der  ländlichen  Bevölkerung 
aufhält. 

In  Hoeylaert  ist  fast  die  ganze  arbeitende  Bevölkerung  in  den 
Treibhäusern  beschäftigt.  Während  die  Nachbardörfer,  in  denen 
die  Traubenkultur  noch  nicht  so  weit  entwickelt  ist,  der  Stadt 
Brüssel  ein  starkes  Kontingent  von  Bauarbeitern  liefern,  sind  es  hier 
höchstens  die  Frauen,  die  nach  der  Stadt  gehen,  um  Eier  und 
Butter  zu  verkaufen  oder  am  Markte  von  St.  Gery  eine  Fleischbank 
zu  errichten. 

Resümieren  wir:  Die  Vervollkommnung  des  Frachtverkehrs 
fördert  die  Ausbreitung  intensiver  Betriebsweisen.  Sie  schafft  Zen* 
tralproduktionsstätten J)  des  Gemüsebaues,  der  Obstkultur,  der 
Molkereiproduktion,  die  alle  auf  einem  engen  Gebiete  grofse  Arbeiter- 
mengen beschäftigen. 

Gewifs  hat  die  Ausdehnung  dieser  Kulturzweige  — von  be- 
sonderen Ausnahmefällen,  wie  denen  der  englischen  Vegetarier- 
kolonieen  abgesehen  — keinen  Rückflufs  der  Stadtbevölkerung  nach 
dem  Lande  bewirkt.  Sie  nehmen  auch  bis  jetzt  nur  einen  sehr 
geringen  Teil  der  landwirtschaftlich  benutzten  Fläche  ein.  Ihr 
Einflufs  reicht  lange  nicht  hin,  die  Verminderung  der  Arbeitsge- 
legenheit, die  durch  den  maschinellen  Betrieb  und  die  Verwandlung 
der  Felder  zur  Weide  hervorgerufen  worden  ist,  wieder  wett  zu 


*)  Im  Original  des  Verfassers  beifst  cs  „fabrique“.  Das  Wort  ist  nicht  gleich« 
bedeutend  mit  unserer  „Fabrik“,  und  läfst  sich  nur  annähernd  durch  den  gewählten 
etwas  schwerfälligen  Ausdruck  wiedergeben.  D.  Ucbcrs. 


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«7 


Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 

machen.  Auch  beginnt  sich  auf  diesen  Spezialgebieten  der  Land- 
wirtschaft infolge  der  Verbesserung  der  Konservierungsmethoden 
die  überseeische  Konkurrenz  fühlbar  zu  machen.  Es  wäre  darum 
nur  ein  schöner  Wahn,  wollte  man  annehmen,  dafs  sich  ungeheure 
Flächen,  auf  denen  jetzt  Brotfrucht  gebaut  wird,  zu  Gemüsegärten 
und  Obstkulturen  verwandeln  würden. 

Deshalb  aber  bleibt  es  doch  nicht  weniger  wahr,  dafs  die  Be- 
triebe solcher  Art  überall,  wo  sie  eine  gröfsere  Ausdehnung  ge- 
wonnen haben,  eine  Verminderung  der  Abwanderung  nach  den 
Städten  bewirkten,  und  überdies:  dafs  die  Durchschnitte  des  Ge- 
müsebaues, der  Obstzucht  und  des  Anbaues  von  Industriepflanzen, 
besonders  der  von  Zuckerrüben,  die  Gründung  industrieller  Eta- 
blissements mitten  auf  dem  Lande  zur  notwendigen  Folge  haben. 

„In  manchen  Gegenden",  sagte  A.  Melot  in  einem  Bericht  an 
die  belgische  Landwirtschaftsversammlung  vom  Jahre  1901,  „sind 
die  schädlichen  Folgen  der  verminderten  landwirtschaftlichen  Arbeits- 
gelegenheit durch  die  Errichtung  industrieller  Etablissements  auf- 
gewogen worden,  die  direkt  von  der  I Landwirtschaft  abhängig  sind, 
also  durch  die  Errichtung  von  Zuckerfabriken  und  landwirtschaft- 
lichen Brennereien.  Diese  beschäftigen  während  des  Winters  eine 
grofse  Menge  jener  Arbeiter,  die  während  des  Sommers  auf  den 
Feldern  thätig  sind.  Bei  Löwen  stellt  eine  Fabrik  Lebensmittel- 
konserven her.  Sie  kauft  die  Gemüse  zwei  Meilen  in  der  Runde 
zusammen.  Die  landwirtschaftliche  Bevölkerung  findet  hier  Absatz 
für  die  Erzeugnisse  ihrer  entlegenen  Gegend  und  lohnend  Be- 
schäftigung während  des  Winters." ') 

Von  dem  Gesichtspunkte  aus,  der  uns  interessiert,  ist  unter 
diesen  Winterindustrieen  die  Rübenzuckerfabrikation  zweifellos  die 
wichtigste. 

Nach  der  ersten  belgischen  Berufszählung  vom  31.  Oktober  1896 
sind  rund  25000  Arbeiter,  von  denen  der  gröfste  Teil  auf  dem 
Lande  wohnt,  während  der  Wintermonate  in  Zuckerfabriken  be- 
schäftigt gewesen.  Sie  konnten  so  den  Wiederbeginn  der  land- 
wirtschaftlichen Arbeiten  abwarten,  ohne,  wie  früher,  zu  fast  voll- 
ständigem Feiern  verurteilt  zu  sein. 

Es  herrscht  kein  Zweifel  darüber,  dafs  die  Folgen  der  Agrar- 
krise, wenigstens  soweit  sie  die  Landflucht  betreffen,  merklich  ge- 
mindert, schlielslich  oft  aufgewogen  worden  sind  durch  die  Ent- 


*)  Congrcs  national  beige  agricolc  de  Namur.  3e  fasciculc  p.  723. 


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88 


* 


Emil  Vcndervelde,  . 

Wicklung  der  Zuckerfabrikation,  sowie  der  übrigen  Industrieen,  die 
mit  der  Landwirtschaft  in  unmittelbarem  Zusammenhänge  stehen. 

Allerdings  bestehen  solche  Industrieen  nur  in  bestimmten 
Gegenden;  ihre  Entwicklung  wird  oft  aufgehalten  durch  ein  schäd- 
liches Steuersystem  sowohl  wie  noch  mehr  durch  die  geringe  Kauf- 
kraft der  arbeitenden  Klassen. 

Soll  die  Industrialisierung  der  Landwirtschaft  fortschreiten,  soll 
die  intensive  Produktion  von  Zucker,  Butter,  Milch,  Fleisch,  Obst 
und  Gemüse  grofse  Arbeitermassen  auf  dem  Lande  zurückhalten 
oder  gar  dahin  zurückführen,  dann  mufs  auch  eine  tiefgreifende 
soziale  Umbildung  die  Lebenshaltung  der  Arbeiterschaft  erhöhen, 
sie  mufs  es  ihnen  möglich  machen,  ihren  Verbrauch  jener  Erzeug- 
nisse nicht  nach  dem  Mafsstabe  ihres  Einkommens,  sondern  nach 
dem  ihrer  Bedürfnisse  einzurichten. 

2.  Die  Verlegung  der  Industriebetriebe  nach  dem  Lande. 

Die  Entfaltung  der  kapitalistischen  Produktion  hat  die  wich- 
tigsten Industrieen  in  den  Städten  und  den  Kohlenbecken  zusammen- 
gedrängt. Sie  hat  eine  Menge  ländlicher  Gewerbe  verschlungen, 
die  für  eine  Armee  "von  Handwerkern  und  kleinen  Bauern  Haupt- 
oder Nebenlauf  gewesen  waren. 

Ueberall,  wo  sich  nicht  etwa  ein  Ersatz  oder  eine  Umwandlung 
dieser  Kleingewerbe  durch  kapitalistische  Industrieen  vollzogen  hatte, 
besonders  aber  in  jenen  Gegenden,  in  denen  vordem  Spinnerei  und 
Handweberei  im  Schwünge  waren,  sah  sich  die  Bevölkerung  ge- 
nötigt, nach  auswärts  auf  Arbeitsuche  zu  gehen.  Sie  wanderte  aus, 
ging  auf  Saisonarbeit,  oder  wanderte  täglich  nach  den  Industriezentren 
zur  Arbeit. 

Dafür  sind  in  anderen  Gegenden  neue  Industrieen  entstanden, 
und  seit  einigen  Jahren  zeigt  sich  bei  den  Unternehmern  die  un- 
verkennbare Neigung,  ihre  Betriebe  womöglich  aufs  I^md  zu  ver- 
legen. 

Das  Ziel,  das  ihnen  vor  Augen  steht,  ist  die  Verbilligung  der 
Produktion  durch  Herabdrückung  der  Löhne,  der  Materialpreise 
und  der  Kosten  des  Grund  und  Bodens,  oder  auch  in  Gebirgs- 
ländern  mit  Wasserkraft,  durch  den  Ersatz  der  schwarzen  Kohle 
mit  der  „hellen". 

Die  Dampfmaschine  hatte  mit  ihrem  Kohlenhungcr  die  Fabriken 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lan^dc.  ge) 

von  den  Flufsläufen  fortgetrieben;  die  Elektrizität  führt  sie  wieder 
dahin  zurück. 

Diese  Revolution  der  Technik  beginnt  sich  in  Deutschland, 
Oesterreich  und  Norditalien,  in  den  Hochthälern  der  Pyrenäen  und 
im  Osten  Frankreichs  deutlich  bemerkbar  zu  machen.  Ihre  Wirkung 
in  der  letztgenannten  Gegend  beschreibt  P.  Hanotaux  also : 

„Im  ganzen  Bergland  der  Dauphine,  dem  ganzen  alpinen  Ge- 
birgsstock,  sieht  man  jetzt  ansehnliche  Betriebe.  Sie  stecken  in 
Winkeln  und  Winkelchen  einer  Gegend,  die  bis  vor  wenigen  Jahren 
ein  armseliges  Dasein  fristete.  Jetzt  vollzieht  sich  sichtbar  eine 
grofse  Veränderung.  Die  Dörfer  gewinnen  an  Wohlstand;  aus 
Hütten  werden  Häuser;  die  kleinsten  Flecken  sind  elektrisch  be- 
leuchtet, Masten  mit  den  stromleitenden  Drähten  schiefsen  aus  dem 
Boden;  elektrische  Strafsenwagen  sausen  die  Thäler  entlang  und 
bezwingen  jetzt  gar  auch  die  Berge.“ 

Nach  einer  offiziellen  Statistik,  die  bis  zum  I.  Januar  1899 
reicht,  sind  seit  1890  zu  damals  8961  Betrieben  und  kleinen  Eta- 
blissements mit  durchschnittlich  I21/»  Pferdekräften  58  neue  ge- 
treten mit  zusammen  250000  Pferdekräften,  d.  h.  mit  mehr  als 
4000  Pferdekräften  für  jeden  Betrieb. 

In  den  letzten  drei  Jahren  mufs  sich  die  *Zahl  dieser  Betriebe 
bedeutend  vergrößert  haben. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  nicht  erstaunlich,  dafs  man  sich 
mit  de  Vorbedingungen  beschäftigt,  unter  welchen  zukünftig  Eta- 
blissements solcher  Art  würden  errichtet  werden  können. 

Diese  Frage  wird  gegenwärtig  im  französischen  Handelsminis- 
terium studiert.  Schon  am  I.  Juli  1900  brachten  Loubet,  Baudin 
und  Dupuy  einen  Gesetzentwurf  ein,  der  dem  Staate  das  aus- 
schliefsliche  Recht  zuerkennt,  für  Betriebe  mit  mehr  als  100  Pferde- 
kräften die  Wasserkraft  zu  vergeben. 

Der  Entwurf  fand  in  manchen  Kreisen  eine  sehr  abträgliche 
Beurteilung  und  manche  Rechtsgelehrte  warfen  ihm  vor,  er  bedeute 
für  die  Flufsanwohner  eine  Enteignung  ohne  Entschädigung.  ’) 

Wie  dem  auch  immer  sei,  jedenfalls  erblicken  wir  überall  wo 
sich  die  Herrschaft  der  Wasserkräfte  vorbereitet,  eine  Ortsver- 
änderung der  Industrie,  die  sich  infolge  der  Kraftübertragung  noch 
verallgemeinern  wird,  und  deren  viele  einschneidende  Folgen  wir 

*)  Brun,  Projet  de  main  mise  de  l’Ktat  sur  les  chutcs  d’eau.  Revue  catholique 
des  institutions  et  du  droit.  Fevrier  1902. 


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Emil  Vandcrveldc, 


nicht  absehen  können.  Das  aber  steht  auf  alle  Fälle  heute  schon 
fest,  dafs  die  Ansiedlung  oder  Gründung  grofser  Industrieunter- 
nehmungen im  Gebirgslande,  welches  bis  dahin  wegen  der  dort 
herrschenden  Armut  einen  Herd  der  Auswanderung  bildete,  einen 
grofsen  Teil  seiner  Bewohner  der  Arbeitssuche  in  der  Fremde  ent- 
hebt und  überdies  einen  Stamm  qualifizierter  Arbeiter  heranzieht, 
der  am  Orte  selbst  nicht  gewonnen  werden  kann. 

So  wichtig  nun  auch  diese  durch  die  Anwendung  der  natür- 
lichen Triebkräfte  hervorgerufene  Dezentralisation  sein  mag,  und 
so  wichtig  sie  noch  für  die  Zukunft  werden  kann,  so  kommt  ihr 
doch  vorläufig  noch  nicht  jener  Charakter  der  Allgemeinheit  zu, 
der  eine  andere  Erscheinung  der  kapitalistischen  Entwicklung  zu 
eigen  ist.  Wir  meinen  die  Verlegung  der  Industriebetriebe  nach 
dem  Lande,  die  mit  Rücksicht  auf  die  geringe  aufzuwendende 
Grundrente  und  auf  die  geringeren  Löhne  erfolgt. 

In  den  Vereinigten  Staaten  wie  in  Europa  läfst  sich  feststellen, 
dafs  das  Fabrikwesen  immer  mehr  nach  dem  flachen  Lande 
wandert  und  dafs  infolge  dessen  trotz  des  allgemeinen  Herab- 
sinkens der  heimischen  Landwirtschaften  ein  Teil  der  Ansässigen 
nicht  nur  seine  wirtschaftliche  Position  erhält,  sondern  sich  sogar 
eine  solche  neu  erwirbt. 

In  Belgien  hat  sich  von  1846 — 1896  also  in  einem  Zeitraum 
eines  halben  Jahrhunderts  die  Zahl  der  Heimarbeiter  beiderlei  Ge- 
schlechts von  200000  auf  120000  vermindert.  Der  Grund  dieser 
Erscheinung  liegt  nicht  in  einem  allgemeinen  Rückgang  der  Haus- 
industrie, sondern  in  dem  LJmstande,  dafs  mehr  als  hunderttausend 
Spinner  und  Spinnerinnen  Flanderns ')  aus  ihr  verschwunden  sind. 
Aber  während  die  alten  Industrieen,  die  Leinewebereien,  Nagel- 
und Messerschmieden,  in  ihren  Beständen  herabsanken,  oder  sich 
in  städtische  Betriebe  verwandelten,  haben  im  Gegensätze  dazu 
andere,  wie  die  Spitzenklöppelei,  Handschuh näherei  und  Zigarren  - 
fabrikation  sich  erhalten  oder  in  den  Dörfern  neu  angesiedelt. 

Allerdings  beschäftigen  diese  erbärmlich  bezahlten  Berufe  fast 
ausschliefslich  Frauen  und  Kinder,  aber  es  giebt  auch  andere,  die 
männliche  und  erwachsene  Arbeiter  beschäftigen,  und  reichlich 
dazu  beitragen,  die  Landflucht  aufzuhalten. 

*)  Ministerc  de  l’industrie  ct  du  travail.  — Rccenscmcnt  general  des  industries 
et  des  metiers.  (31.  Oetobrc)  Analyse  des  volumes.  1 et  II  p.  42.  Bruxelles. 
Ilayez  1900. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


9* 


Dahin  gehören  die  Erzeugung  von  Schildkrotkämmen  im  Jura, 
die  Diamantschleifereien  von  Oyonax  und  die  Holzpfcifenerzeugung 
in  der  Umgebung  von  St.  Claude. 

Auf  einer  Fufswanderung  durch  die  letztgenannte  Gegend 
konnten  wir  uns  von  der  Genauigkeit  jener  Schilderungen  über- 
zeugen, die  Kropotkine*)  in  seinem  schon  angezogenen  Buche 
„Fields,  factories  and  workshops“  gegeben  hat: 

„In  St.  Claude,  einem  Hauptmittelpunkt  der  Erzeugung  von 
Pfeifen  aus  Ginster  (man  verkauft  diese  Pfeifen  mit  englischer 
Marke  in  grofsen  Mengen  nach  London,  wo  sie  deswegen  von 
Franzosen,  die  ein  Andenken  von  jenseits  des  Kanals  mitbringen 
wollen,  gekauft  werden)  blühen,  von  der  Wasserkraft  des  Tacon 
getrieben,  grofse  und  kleine  Werkstätten  dicht  nebeneinander  auf. 
Mehr  als  4000  Männer  und  Frauen  sind  in  diesem  Berufe  be- 
schäftigt, während  neben  ihnen  alle  Arten  der  Hilfsproduktion  (Er- 
zeugung von  Futteralen,  Bernstein-  und  Hornmundstücken)  auf- 
schossen. Unzählige  kleine  Werkstätten  an  den  Ufern  beschäftigen 
sich  mit  der  Erzeugung  verschiedener  Gegenstände  von  Holz, 
Streichholzschachteln,  Opernglasgestellen,  Rosenkränzen,  oder  von 
Horn,  ganz  zu  geschweigen  von  der  Erzeugung  von  Meterstäben 
für  den  gesamten  Weltmarkt,  die  etwa  1200  Arbeiter  beschäftigt. 

Zu  gleicher  Zeit  sind  Tausende  von  Leuten  aus  St.  Claude  in 
den  umliegenden  Flecken  und  Gebirgsdörfern  mit  der  Diamant- 
schleiferei beschäftigt  (eine  Industrie  die  erst  seit  etwa  1 5 Jahren 
besteht)  und  andere  Tausende  finden  in  den  Schleifereien  geringerer 
Edelsteine  Arbeit.  Alles  das  wird  in  kleinen  Werkstätten  hergestellt, 
die  von  Wasserkräften  getrieben  werden.  Die  Eisgewinnung  auf 
bestimmten  Seeen  und  die  Entrindung  der  Eichen  für  Gerbereien 
vervollständigen  das  Bild  dieser  Arbeitsdörfer,  in  denen  sich  Land- 
wirtschaft  und  Industrie  vereinen  und  Maschinenwesen  und  moderne 
Produktionstechnik  in  efen  Dienst  der  kleinen  Werkstatt  gestellt 
sind." 

Es  mufs  bemerkt  werden,  dafs  sich  diese  beträchtliche  Ent- 
wicklung der  ländlichen  Industrieen  in  dieser  Gebirgsgegend  aus  der 
langen  Dauer  des  Winters  erklärt,  die  die  Jurabauern,  ebensogut 
wie  die  Bauern  Rufslands,  zwingt,  ihre  Landarbeit  durch  eine 
andere  Beschäftigung  zu  ergänzen.  Was  diese  andererseits  ertrag- 


*)  Kropotkine  Fields,  factories  and  workshops,  p.  153  u.  t.  London,  Swan 
Sonnenschein  190I. 


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Emil  Vandcrvelde, 


reich  macht,  ist  der  Umstand,  dafs  dank  der  Wasserkraft  der  Sturz- 
bäche den  kleinen  Unternehmungen  die  Möglichkeit  gegeben  ist, 
sich  alle  Vorteile  der  Maschinen  technisch  zunutze  zu  machen. 

Ueberall  dort,  wo  diese  Vorbedingungen  fehlen,  sind  die  länd- 
lichen Hausindustrieen  verschwunden  oder  im  Verfall;  oder  aber 
sic  können  sich  nur  mehr  durch  jenes  schändliche  Ausbeutungs- 
system aufrecht  erhalten,  das  die  Arbeiter  infolge  ihrer  Isolierung 
ohne  Gegenwehr  dem  Herrenwillen  des  Unternehmers  über- 
antwortet. 

Aber  neben  jenen  Industriezweigen,  die  ihre  technische  Rück- 
ständigkeit durch  die  Verwendung  billiger  ländlicher  Arbeitskräfte 
wett  machen  wollen,  giebt  es  auch  solche,  die  mit  den  Vorzügen  der 
Maschinentechnik  und  der  kapitalistischen  Konzentration  auch  solche 
Vorteile  zu  verbinden  suchen,  die  das  Unternehmertum  aus  der 
Billigkeit  der  ländlichen  Löhne  zu  ziehen  hofft. 

Vor  allem  aus  diesem  Grunde  kehrt  die  Textilindustrie,  nach- 
dem sic  vom  Lande  nach  der  Stadt  gewandert  war,  wieder  von 
der  Stadt  nach  dem  Lande  zurück. 

Dieser  Auszug  der  Industrieen  beginnt  mit  dem  Augenblicke, 
in  dem  die  Kosten  der  Arbeitskraft  für  die  Preisbildung  ein  wich- 
tigerer Faktor  werden  als  die  Kosten  des  Transports. 

Schon  vor  vielen  Jahren  — bei  der  Enquete  über  die  Baum- 
wollindustrie, die  im  Jahre  1885  zu  Brüssel  abgehalten  wurde  — 
sprach  sich  einer  der  gröfsten  Industriellen  von  Gent,  M.  de  Hemp- 
tinne,  über  die  Gründe  der  Verlegung  der  Webereien  auf  das 
Land  folgendcrmafscn  aus: 

„In  Gent  ist  die  Lage  so,  dafs  wir  nicht  mehr  Herren  unserer 
Arbeiter  sind.  Eine  gewaltige  weit  ausgedehnte  Organisation,  die 
von  sozialistischen  Händen  geleitet  wird,  steht  uns  gegenüber  . . ." 

„Wir  haben  uns  die  Frage  vorgelegt:  ist  es  möglich,  ist  es  ver- 
nünftig, die  Stadt  mit  Brand  und  Mord  zu  erfüllen,  um  die  Löhne 
um  40 — 50  Prozent  herabzusetzen?  Wir  haben  uns  antworten 
müssen : Nein,  es  ist  unmöglich.  Ich  frage,  ob  einer  von  den  An- 
wesenden es  wagen  würde,  sich  in  ein  solches  Abenteuer  zu 
stürzen.“ 

M.  Verbecke:  Allerdings ; das  ist  unmöglich.  So  viel  ist  klar ! 

M.  de  Hemptinne:  Wäre  es  mit  Eurer  Hilfe  möglich? 

M.  Verb  ecke:  Mit  Hilfe  aller  gewifs.  Die  freie  Garneinfuhr 
wird  Ihnen  das  beweisen. 

M.  de  Hemptinne:  „Wie  das  nun  auch  liegen  mag,  unser 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


93 


Verwaltungsrat  ist  vor  einer  solchen  Möglichkeit  zurückgeschreckt. 
Hören  Sie,  was  er  gethan  hat.  Er  hat  das  Beispiel  befolgt,  das  man 
ihm  in  Manchester  gab,  wo  man  sich  in  einer  ganz  ähnlichen  Lage 
befand.  Die  Löhne  sind,  ich  will  nicht  sagen  lächerlich,  aber  doch 
excessiv  hoch  gestiegen.  Bei  uns  haben  sie  sich  seit  1853  ver- 
doppelt. In  Manchester  giebt  es  heute  nicht  mehr  viel  Webereien 
und  Spinnereien;  die  Textilindustrie  ist  aufs  I_and  gewandert.  Man 
hat  sie  vorerst  nach  Stockfort  bei  Manchester  verlegt,  wo  man  be- 
deutende Lohnreduktionen  vorgenommen  hat.  Als  Stockfort  ein 
grofses  Industriezentrum  geworden  war,  hat  man  sie  weiter  hinaus 
verlegt  und  die  Löhne  sind  noch  niedriger  geworden  . . .“ 

„Man  thut  am  besten,  wenn  man  diesem  Beispiele  folgt.  . . . 
Ich  verlege  meine  Weberei  nach  Waerschoot.  Augenblicklich  habe 
dort  40  Stühle  und  stelle  eine  Maschine  mit  400  Pferdekräften  auf. 
Ueber  kurz  oder  lang  wird  alles  dahin  hinüber  wandern.  . . .“ 

Seit  1855  hat  sich  diese  Dezentralisationsbewegung  nur  noch 
verschärft,  ln  der  Gemeinde  Waerschoot  allein  gab  es  am  31.  Ok- 
tober 1896  fünf  mechanische  Webereien,  die  624  Arbeiter  beschäf- 
tigten. Andere  wurden  in  Gentbrugge,  Sleydinge  und  Somergem 
errichtet.  Die  nämliche  Tendenz,  aus  denselben  Erwägungen  ent- 
springend, macht  sich,  wie  S c h m o 1 1 e r feststellt,  in  allen  Industrie- 
ländern bemerkbar. 

„ Bei  der  steigenden  Erleichterung  des  Güterverkehrs  und  den 
Fortschritten  der  Arbeitsteilung,  kann  der  Ort  der  Erzeugung  von 
dem  des  Verbrauches  unendlich  weit  entfernt  sein,  wenn  diese  Ent- 
fernung eine  Verringerung  der  Produktionskosten  oder  eine  Ver- 
besserung der  Ware  zur  Folge  hat.  Das  ist  das  Losungswort 
unserer  Zeit." 

Natürlich  wird  dieses  Losungswort  desto  sicherer  wirken,  je 
mehr  man  im  Güterverkehr  jener  Tarifgemeinschaft  nahekommt, 
die  heute  schon  für  die  Postverbindungen  besteht. 

„Wenn  jemals  ein  solcher  Einheitstarif  zur  Durchführung  ge- 
langt, sagt  Weber  (und  es  ist  bekannt,  dafs  ein  solcher  heute 
schon  bis  zu  einem  gewissen  Grade  für  die  Industrie  des  amerika- 
nischen N'eu-England  besteht),  so  wird  sich  seine  Wirkung  nach  der 
Richtung  geltend  machen,  dafs  die  Verbilligung  der  Fracht  Gunst 
und  Ungunst  der  örtlichen  Produktionsverhältnisse  ausgleichcn  wird. 
Die  grofse  Stadt  wird  (ur  ihre  V\rare  keinen  besseren  Markt  haben, 
als  ihn  die  kleinen  Flecken  finden.  Inbezug  auf  alle  anderen 
Produktionsverhältnisse  haben  aber  die  grofsen  Mittelpunkte  des 


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Emil  Vanderveldc 


Wirtschaftslebens  keinen  Vorsprung.  Kauf  und  Verkauf,  Kapitals- 
und Kreditvennittlung,  die  bisher  viele  Unternehmungen  an  die 
Wirtschaftszentren  fesselte,  können  heute  mit  Hilfe  eines  kleinen, 
in  der  Stadt  gelegenen  Kontors  besorgt  werden;  die  Fabrik  selbst 
braucht  gar  nicht  dort  zu  liegen.  Andererseits  bieten  die  kleinen 
Orte  den  grofsen  Vorzug  billiger  Bodenpreise  und  geringer  Steuern, 
zumal  wenn  sie  die  Industriellen  durch  Steuerfreiheit  und  kostenlose 
Ueberlassung  von  Grund  und  Boden  ins  Land  zu  ziehen  suchen, 
wie  das  in  vielen  kleinen  Städten  von  Michigan,  New  Jersey  und 
anderen  Staaten  geschehen  ist  ,).“ 

Kurz  und  gut,  eine  Menge  ernsthafter  Gründe  spricht  dafür, 
dafs  zahlreiche  industrielle  Unternehmungen  die  städtischen  Massen- 
ansiedlungen  verlassen,  nach  der  Umgebung  oder  dem  flachen  Lande 
auswandern  und  so  dazu  beitragen,  die  Abwanderung  der  ländlichen 
Arbeitskräfte  aufzuhalten.  Ja  man  sicht  sogar,  wie  sie  zur  Ab- 
richtung des  an  Ort  und  Stelle  gewonnenen  Personals  in  ihrem 
Gefolge  eine  ziemliche  Menge  städtischer  Arbeiter  auf  das  Land 
hinausziehen. 

So  kommt  es,  dafs  in  manchen  Gegenden  die  Zahl  der  I.and- 
bewohner  wächst,  indes  sich  die  Masse  der  landwirtschaftlich 
thätigen  Bevölkerung  verringert. 


3.  Die  Wanderung  der  städtischen  Bevölkerung  nach 
dem  Lande. 

Die  Arbeiter,  die  die  grofse  Wanderbewegung  vom  Lande  zur 
Stadt  bewerkstelligen,  und  umgekehrt  wieder  jene,  die  zeitweilig 
oder  dauernd  von  den  Städten  nach  dem  Lande  abwandern,  bilden 
zwei  Kategorieen,  die  von  einander  wohl  unterschieden  werden 
wollen.  Die  einen  sind  echte  Städter,  die  sich  aus  verschiedenen 
Gründen  zu  einer  Verlegung  ihrer  Wohnungen  oder  Arbeitsplatzes 
„extra  muros“  entschlossen  haben;  die  andern  aber  bilden  jene 
fluktuierenden  Bevölkerungselemente,  die  weder  ganz  der  Industrie 
noch  ganz  der  Landwirtschaft  angehören.  Sie  sind  zur  Zeit  des 
Aufschwungs  von  den  grofsen  Plätzen  angezogen  worden  und 
zeigen  Neigung,  zu  Krisenzeiten  wieder  aufs  flache  Land  zurück- 
zuströmen. 


*)  Weber,  The  growth  of  citics.  p.  205. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


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I.  Die  Industriekrise. 

Neben  jenen  Betrieben,  welche  dauernde  Beschäftigung  ge- 
währen, giebt  es  auch  eine  grofse  Anzahl  solcher,  deren  Besetzung 
der  Zahl  nach  fortwährend  schwankt,  und  — je  nach  Gunst  und 
Ungunst  der  wirtschaftlichen  Konjunktur  — mehr  oder  weniger 
leicht  von  einem  Erwerbszweig  zu  einem  anderen  übergeht. 

So  haben  sich  zur  Zeit  des  Aufschwungs  am  Ende  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  Tausende  von  Landleute,  durch  hohe  Löhne 
angelockt,  zu  öffentlichen  Arbeiten  anwerben  lassen.  Andere  sind 
in  der  Kohlcnindustrie,  im  Baugewerbe  und  anderen  Betrieben 
untergebracht  worden,  die  einen  aufserordentlichen  Aufwand  mensch- 
licher Arbeitskraft  erforderten. 

So  kam  es,  dafs  die  Landwirte  mit  ihrem  Arbeiterbedarf  in 
grofse  Verlegenheit  gerieten.  Sie  schafften  sich  Hilfe,  indem  sie 
ihre  Betriebsweise  von  Grund  aus  umänderten,  Weideflächen  schufen, 
ihren  Maschinenbestand  entwickelten,  und  zu  den  „Gangs“  zuge- 
wanderter  fremder  Arbeiter  ihre  Zuflucht  nahmen. 

Jetzt  aber  verläuft  sich  die  Flut.  Die  Kohlenindustrie  ver- 
ringert ihr  Arbeitspersonal ; die  Bauthätigkeit  nimmt  ab ; die  Ver- 
kehrsunternehmungen und  die  öffentlichen  Arbeiten  vermögen  nicht 
mehr  die  Massen  der  disponiblen  Arbeitskräfte  aufzunehmen.  In 
allen  Ländern  ist  die  Zahl  der  feiernden  Hände  sehr  beträchtlich. 

Welche  Folgen  werden  der  Landwirtschaft  aus  dieser  wirt- 
schaftlichen Depression  erwachsen?  Wird  die  Landarbeiterfrage  eine 
Lösung  finden,  die  den  Interessen  der  Landwirte  wie  der  Arbeits- 
losen gleichmäfsig  entspricht? 

Das  Problem  läuft  auf  die  Fragen  hinaus:  ob  die  Arbeiter,  die 
die  Industrie  zurückweist,  zur  Landwirtschaft  zurückkehren  werden 
ob  die  Landwirte  in  der  läge  sind,  sie  wieder  aufzunehmen;  ob 
schliefslich  nicht  die  Industriekrise  ihre  verderblichen  Wirkungen 
auf  den  Markt  der  landwirtschaftlichen  Produkte  ausdehnen  wird. 

Vor  allem  ist  soviel  gewifs,  dafs  viele  Arbeiter  der  Landarbeit 
endgültig  den  Rücken  gekehrt  haben  und  es  verschmähen, 
sie  wieder  aufzunehmen , so  traurig  die  Lage  der  Industrie  auch 
sein  möchte. 

„Es  mufs  bemerkt  werden“,  so  äufsert  sich  ein  Korrespondent 
der  Revue  du  travail  im  Januar  1901,  „dafs  ländliche  Arbeiter,  die 
einmal  industriell  thätig  gewesen  sind,  zu  den  landwirtschaftlichen 


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Emil  Vandcr velde, 


Arbeitgebern  nicht  mehr  zurückkehren.  Auch  dann  nicht,  wenn  sie 
ohne  Arbeit  sind 

Dennoch  wäre  es  falsch,  diese  Beobachtung  zu  generalisieren. 
Denn  aus  anderen  Wahrnehmungen,  die  wir  in  derselben  Zeitschrift 
gefunden  oder  aus  eigenem  gesammelt  haben , geht  hervor , dafs 
seit  dem  Ausbruche  der  Krise  zahlreiche  Arbeiter  auf  den  Gütern 
und  in  Zuckerfabriken  Beschäftigung  suchen. 

So  bekommen  z.  B.  die  Landwirte  von  du  Hesbaye  oder  vom 
Condroz,  die  während  der  fetten  Jahre  für  50  Frc.  Lohn  kein 
Gesinde  bekamen,  jetzt  für  30  Frc.  Leute  im  Ueberflufs. 

Die  nämliche  Erscheinung  wird  in  Deutschland  beobachtet. 
Die  Rückkehr  zur  Landwirtschaft  ist  auch  hier  nur  für  gewisse 
Arbeiterkategorieen  durchführbar. 

Kurzum,  es  scheint,  dafs  sich  für  gewisse  Gegenden  und  für 
die  Dauer  des  wirtschaftlichen  Niederganges  eine  Lösung  der  Land- 
arbeiterfrage anbahnt,  infolge  des  Rückstroms  der  Arbeiter,  die 
während  der  fetten  Jahre  den  Pflug  verlassen  haben,  um  industrielle 
Beschäftigungen  zu  ergreifen. 

Trotzdem  wäre  es  falsch  zu  glauben,  dafs  diese  Arbeiter  — 
das  weitere  Anschwellen  ihrer  Masse  vorausgesetzt  — alle  auf  dem 
Lande  Käufer  finden  könnten,  für  die  Arbeitskraft,  die  in  der  Stadt 
überschüssig  geworden  ist. 

Seit  einigen  Jahren  hat  sich  in  den  Produktionsverhältnissen 
vieler  landwirtschaftlicher  Betriebe  eine  tiefeingreifende  Umwälzung 
vollzogen ; der  Landwirt  hat  durch  Anlage  von  Weideland  oder 
durch  Aufforstungen  sein  Arbeitsfeld  verringert ; er  hat  sein  ständiges 
Personal  herabgesetzt  und  sich  an  die  Beschäftigung  von  Wander- 
arbeitern gewöhnt;  schliefslich  hat  er,  um  das  wachsende  Defizit 
menchlicher  Arbeitskraft  zu  decken,  seinen  Maschinenbestand  ver- 
mehrt. 

So  kommt  cs,  dafs  die  Fabriken  zur  F.rzeugung  landwirtschaft- 
licher Maschinen  in  einer  Zeit,  da  sich  die  übrige  Metallindustrie 
mitten  in  der  Krise  befand,  ihre  Thätigkeit  unausgesetzt  steigerten. 

Im  Februar  1901  beschreibt  der  Correspondcnt  der  Revue 
du  Travail  in  Mons  die  Lage  dieses  Industriezweiges  folgender 
mafsen : 

„Die  Aufträge  sind  sehr  zahlreich.  So  ziemlich  alle  Landwirte 


*)  Revue  du  travail,  public  par  l’Olticc  du  Travail  en  Bclgique.  6'  annee 

1 p.  46. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


97 


scheinen  gewillt,  sich  zukünftig  in  ihrem  Betriebe  landwirtschaft- 
licher Maschinen  zu  bedienen.  Sie  hoffen,  sie  würden  für  die 
Zukunft  nichts  mehr  zu  fürchten  haben,  wenn  sie  sich  einmal  zu 
diesem  Aufwande  entschlossen  hätten.  Manchmal  vereinigen  sich 
auch  mehrere  zum  Ankauf  der  wichtigsten  Maschinen.“ 

Einen  Monat  später  schreibt  er,  und  andere  Korrespondenten 
bestätigen  seine  Beobachtungen : 

„Die  Lage  ist  verhältnismäfsig  gut.  Die  Aufträge  werden  von 
Jahr  zu  Jahr  bedeutender.  Die  Schwierigkeiten , mit  denen  die 
Landwirte  im  Vorjahre  bei  der  Beschaffung  des  nötigen  Personals 
zu  kämpfen  hatten  und  die  schweren  Bedingungen,  die  ihnen  da- 
bei gestellt  wurden,  haben  sie  zu  dem  Entschlufs  gebracht,  in  der 
Anwendung  von  Maschinen  Ersatz  zu  suchen.“ 

So  ist  es  nicht  weiter  verwunderlich,  dafs,  infolge  der  Ver- 
minderung der  notwendigen  menschlichen  Arbeit,  in  manchen 
Gegenden  das  Arbeitsangebot,  jetzt  gar  die  Nachfrage  übersteigt. 

„Zahlreiche  Arbeiter,  die  als  Schnitter  nach  Frankreich  gezogen 
sind,  sind  im  August  zurückgekehrt.  Die  meisten  hatten  nur 
schwer  Arbeit  gefunden.  Eine  Folge  der  zahlreichen  landwirt- 
schaftlichen Maschinen,  die  die  französischen  Landwirte  neuerdings 
angeschafft  haben !“ 

Solche  Erscheinungen  mögen  vorläufig  noch  vereinzelt  bleiben; 
dennoch  geben  sie  einen  Vorgeschmack  dessen,  was  weiter  wird, 
wenn  die  Krise  an  Umfang  der  Schärfe  zunimmt.  Selbst  jener 
Teil  der  überschüssigen  Industriearbeiterschaft,  der  sich  den  Be- 
dingungen der  landwirtschaftlichen  Thätigkeit  anzupassen  resp. 
wieder  anzupassen  vermag,  wird  auf  dem  Lande  nicht  mehr  voll 
beschäftigt  werden  körtnen.  Das  wird  umsomehr  der  Fall  sein,  als 
die  Industriekrise  sicher  einen  ungünstigen  Einflufs  auf  den  land- 
wirtschaftlichen Markt  ausüben  wird.  Der  schlechte  Geschäftsgang 
hat  nicht  nur  die  Folge,  dafs  er  das  Angebot  der  Arbeit  vermehrt,  und 
auf  diese  Weise  auch  die  Löhne  der  landwirtschaftlichen  Gegenden 
verringert,  er  wird  notwendig  auch  die  Kaufkraft  der  ganzen  Be- 
völkerung herabsetzen.  Zweifellos  wird  dieser  Rückgang  auf  dem 
Nahrungsmittelmarkte  vor  allem  die  gesuchtesten  Produkte  treffen : 
Fleisch,  Butter,  Milch,  Eier,  gewisse  Käsesorten,  Zucker,  Bier  und 
— Glück  im  Unglück!  — Branntwein.  Vor  allem  darf  man  sich 
auf  einen  Preisrückgang  von  Fleisch  und  Butter,  hervorgerufen 
durch  den  geringeren  Verbrauch,  gefafst  machen.  Die  Landwirt- 
schaft wird  an  diesem  Preisrückgang  schwer  zu  tragen  haben. 

Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  7 


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98 


Emil  Vandervclde, 


Denn  viele  Besitzer  haben  ihren  Viehstand  in  den  letzten  Jahren 
vermehrt,  weil  sie  von  der  Viehhaltung  und  ihren  Produkten  sich 
Erfolge  versprachen,  die  ihnen  der  Körnerbau  nicht  mehr  zu  bieten 
vermochte.  Und  schliefslich  werden  die  Landwirte,  wenn  die  Krise 
noch  lange  anhält,  ihr  Arbeitspersonal,  das  durch  die  geänderte 
Betriebsweise  schon  stark  herabgesetzt  worden  ist,  noch  mehr  redu- 
zieren müssen. 

Von  den  zeitweiligen  Bewegungen  des  Arbeitsmarktes,  dem 
Rückstrom  der  Arbeitslosen  auf  das  Land , den  wirtschaftlichen 
Zuckungen  der  Industriekrise  wird  man  also  für  das  Problem  der 
Landflucht  eine  Lösung  nicht  erwarten  dürfen.  Und  das  umso- 
weniger, da  ja  die  Arbeitslosen,  die  sich  heute  infolge  des  Ge- 
schäftsrückganges nach  den  Dörfern  wenden,  zur  städtischen  Ar- 
beit zurückkehren  werden,  sobald  nur  die  Industrie  sie  wieder  auf- 
nimmt. 

Andererseits  aber  giebt  es  wieder  einzelne  Kategorieen  von 
Hand-  und  Kopfarbeitern,  die  von  den  verschiedenen  Wirkungen 
der  Wirtschaftskreise  bceinflufst,  ihren  Wohnort  oder  ihren  Arbeits- 
ort auf  das  Land  verlegen. 

II.  Der  Wegzug  aus  der  Stadt. 

Ebenso  gut  wie  die  Landbevölkerung,  die,  um  ihren  Lebens- 
unterhalt zu  gewinnen,  ihre  Dörfer  verläfst,  in  drei  Hauptkategorieen 
zerfällt  — diejenigen,  die  sich  täglich  oder  wöchentlich  nach  der 
Stadt  begeben,  die,  welche  sich  dauernd  in  der  Nähe  ihres  Arbeits- 
ortes niederlassen,  schliefslich  jene,  welche  nur  lur  einen  Teil  des 
Jahres  ihren  Wohnsitz  verändern  — weist  auch  die  Stadtbevölke- 
rung, die  nach  dem  Lande  zurückkehrt,  die  dreifache  Erscheinung 
der  täglichen,  der  endgültigen  und  der  saisonmäfsigen  Abwanderung 
auf.  Manche  behalten  ihren  Hauptwohnsitz  in  der  Stadt  und  leben 
nur  kurze  Zeit  auf  dem  Lande;  andere  lassen  sich  aus  Gründen 
der  Gesundheit  oder  der  Wirtschaftlichkeit  draufsen  dauernd  nieder, 
die  dritten  endlich  behalten  ihre  Wohnung  in  der  Stadt  und  gehen 
täglich  auf  das  I^ind  zur  Arbeit. 

Wir  wollen  diese  verschiedenen  Formen  der  Wanderung  der 
Reihe  nach  Revue  passieren  lassen. 

I.  Die  täglichen  Wanderungen. 

Von  allen  Möglichkeiten,  die  die  Trennung  des  Wohnorts  vom 
Arbeitsorte  in  sich  birgt,  ist  keine  unvernünftiger  als  das  Wohnen 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


99 

in  schlechter  Stadtluft , indes  einen  die  tägliche  Arbeit  auf  das 
Land  hinausruft. 

Solche  Verhältnisse  finden  sich  denn  auch  nur  ganz  ausnahms- 
weise, und  fast  immer  erweisen  sie  sich  als  die  Ueberreste  einer 
älteren  Wirtschaftsform. 

In  den  Mittelmeerländern  z.  B.,  wo  sich  noch  aus  der  Zeit  des 
antiken  Städtewesens  eine  Vorliebe  für  städtisches  Leben  von  Ge- 
schlecht zu  Geschlecht  fortzuerben  scheint,  giebt  es  noch  zahlreiche 
Völkerschaften,  die,  obgleich  sie  landwirtschaftlich  thätig  sind,  denn- 
noch  nicht  auf  dem  Lande  ihren  Wohnsitz  haben. 

So  wohnen  in  Montpellier  viele  Arbeiter,  die  sich  täglich  zur 
Arbeit  nach  den  einsam  gelegenen  Weinbergen  begeben,  in  den 
Proletariervierteln  der  Stadt. 

In  Corsika  drängen  sich  die  Bauern  zu  ihrem  Schutze  (einst 
gegen  die  Türken,  jetzt  gegen  die  Malaria)  in  Städtchen  zusammen, 
die  sie  auf  steilen  Höhen  erbaut  haben,  weit  entfernt  von  ihren 
Feldern,  die  in  tieferen  Gegenden  liegen. 

In  Sicilicn  mit  seiner  geringen  Industrie  ist  der  Anteil  der  Stadt 
an  der  Gesamtbevölkerung  gröfser  als  in  unseren  industriell  höchst 
entwickelten  Ländern.  Nach  Schmoller1)  beträgt  er  68  Proz., 
während  er  1875  für  Belgien  67  Proz.,  für  Sachsen  62  Proz.,  für 
Frankreich  42  Proz.  betrug. 

„Wenn  man  die  sicilische  Landschaft  durchstreift,“  erzählt 
Reel  us,  „gerät  man  über  das  vollständige  Fehlen  der  Häuser  in 
Verwunderung.  Eis  giebt  nur  wenige  Dörfer,  dafür  aber  weit  von 
einander  entfernt,  einzelne  volkreiche  Städte.  Alle  Landwirte  sind 
Stadtbewohner,  die  nach  der  Gewohnheit  der  klassischen  Zeit  all- 
abendlich in  die  Stadt  zurückkehren.  Darunter  giebt  es  solche,  die 
täglich  zweimal  einen  zehn  Kilometer  weiten  Weg  zurückzulegen 
haben,  um  auf  ihre  Felder  zu  kommen  und  wieder  zu  ihrem  Nacht- 
lager zu  gelangen.  Manchmal  aber  kommt  es  auch  vor,  dafs  sie 
um  den  Rückweg  zu  ersparen,  in  einem  Keller  oder  einem  mit 
I-aubwerk  überdachten  Graben  die  Nacht  verbringen.  Zur  Zeit  der 
Ernte  und  der  Weinlese  bieten  in  Eile  errichtete  Schuppen  den 
Arbeitern  Unterkunft.  Den  ungeheuren  Getreidefeldern,  die  die 
Thäler  erfüllen  und  die  Hänge  bedecken,  verleiht  dieser  Mangel 
jeder  menschlichen  Behausung  die  Stimmung  stummer  feierlicher 


*)  Schmoller, 
Leipiig. 


Grundrifs  der  allgemeinen  Volkswirtschaftslehre  p.  258. 

7* 


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IOO 


Emil  V»nd ervc  1 d c , 


Trauer.  Man  möchte  Sicilien  ein  verlassenes  Land  nennen  und  sich 
fragen,  für  wen  diese  Aehren  reifen.“ ') 

Diese  Schilderung  spricht  für  sich  selbst.  Sie  beweist,  dafs  ein 
so  völlig  abnormer  Zustand  nur  unter  Verhältnissen  bestehen  und 
sich  erhalten  kann,  die  von  denen  der  meisten  I .ander  vollständig 
verschieden  sind. 

Aber  auch  in  durchaus  modernen  Gebieten  kommt  es  — wohl- 
gemerkt, immer  nur  als  Seltenheit  — vor,  dafs  die  Vervollkomm- 
nung der  Verkehrsmittel  und  die  Verlegung  der  Industrie  nach  dem 
Lande  Wirkungen  hervorbringt,  die  einen  Vergleich  mit  den  täg- 
lichen Wanderungen  sicilischer  und  südfranzösischer  Landbürger 
wohl  zulassen. 

Vor  einiger  Zeit  z.  B.  haben  bestimmte  Brüsseler  Fabrikanten 
auf  ihrer  Jagd  nach  billigen  Arbeitskräften  den  Entschlufs  gefafst, 
ihre  Betriebe  in  die  ländlichen  Teile  des  Brüsseler  Arrondissements 
zu  verlegen,  resp.  solche  dort  neu  zu  errichten. 

Einer  von  ihnen  hat  im  Jahre  1901  eine  grofsc  Hutfabrik,  die 
er  im  Faubourg  de  Cureghem  betrieb,  nach  der  Landgemeinde 
Ruysbroeck  verlegt,  die  an  der  Eisenbahnlinie  Brüssel-Hai  gelegen 
ist.  Etwa  tausendfünfhundert  Arbeiter,  zum  grofsen  Teile  Frauen, 
sind  in  diesem  Betriebe  beschäftigt.  Die  meisten  von  ihnen  wohnen 
noch  immer  in  Brüssel  und  fahren  täglich  mit  der  Bahn  zur  Arbeit. 
So  kommt  es,  dafs  man  auf  dem  Bahnhof  von  Brüssel-Midi  täglich 
hunderte  von  Arbeitern  aus  der  Umgebung,  besonders  aus  Ruys- 
broeck ankommen  sieht,  während  zur  gleichen  Stunde  andere  (die 
Hutfabrik  allein  zahlt  für  ihr  Personal  sechshundertfünfzig  Wochen- 
fahrkarten 1)  von  Brüssel  abfahren,  um  nach  Ruysbroeck  zu  gelangen. 

Es  ist  recht  wahrscheinlich,  dafs  dieses  seltsame  Chasse-croise 
nur  eine  vorübergehende  Erscheinung  ist.  Schon  jetzt  zeigt  die 
Betriebsleitung  in  Ruysbroeck  das  Bestreben,  die  Bezahlung  der 
Wochenfahrkarten  für  ihre  Arbeiter  abzuschaffen,  und  bemüht  sich 
andererseits,  ländliche  Arbeiterinnen  einzustellen,  die  sich  mit  täg- 
lich 1,25  bis  1,50  Frcs.  zufrieden  geben,  während  die  städtischen 
Hutarbeiterinnen  bei  tostündiger  Arbeitszeit  2 ja  2,50  Frcs. 
Lohn  bekommen.  Schliefslich  auch  wird  ein  gewisser  Stamm  von 
Arbeitern  Brüssel  verlassen,  um  sich  in  der  Nähe  der  Fabrik  an- 
zusiedeln. 

Dieser  Wohnungsverlegung  nach  dem  Lande  stehen  aber  bis 

*)  Reel  us,-  Geographie  universelle.  Itaüe  meridionalc.  p.  548. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande.  jqI 

jetzt  zahlreiche  Hemmnisse  entgegen ; sei  es,  dafs  die  Leute  ihren 
Kindern  den  fortgesetzten  Besuch  der  städtischen  Schule  ermög- 
lichen wollen,  sei  es,  dafs  andere  Familienglieder,  Frauen  und  Töchter, 
oder,  wo  es  sich  um  Arbeiterinnen  handelt,  Väter  oder  Gatten  in 
Brüssel  arbeiten;  sei  es  auch  nur  — und  das  trifft  fast  in  allen 
Fällen  zu  — , dafs  sie  es  als  Unmöglichkeit  empfinden,  sich  länd- 
lichen Lebensverhältnissen  anzupassen. 

Auf  einer  Wanderung  durch  die  Brüsseler  Arbeiterquartiere 
fanden  wir  — in  einer  jener  traurigen  Sackgassen  der  inneren  Stadt, 
die  hinter  bürgerlich-behäbigen  Fagaden  ihre  halsbrecherischen  Stiegen 
und  ihre  abscheulichen  Dachkammern  verbergen,  Gelegenheit,  die 
Familie  eines  Hutarbeiters  kennen  zu  lernen,  der  in  Ruysbroeck 
arbeitet.  Einer  von  uns  fragte  die  Frau,  warum  sie  und  die  Ihren 
nicht  auf  das  Land  zögen,  wo  sie  für  dasselbe  Geld  statt  ihres 
schmutzigen  Zimmers  eine  angenehme  Wohnung  haben  könnten. 
Und  diese  Armut,  von  deren  Elend  jedes  Stück  ihrer  engen  Be- 
hausung erzählte,  antwortete  mit  dem  ganzen  Stolze  einer  aristo- 
kratischen Kaste:  „Wir  danken  schön!  Bei  den  Bauern  zu  wohnen!“ 

Dazu  mufs  übrigens  bemerkt  werden,  dafs  nach  unseren  Be- 
obachtungen in  Ruysbroeck  Not  an  Arbeiterwohnungen  besteht, 
und  dafs  unter  diesen  Umständen  die  Kosten  der  Lebenshaltung 
beinahe  ebenso  hoch  sind  wie  in  Brüssel. 

Unter  anderen  Umständen  würde  die  Abneigung  der  Arbeiter- 
familien gegen  den  Wegzug  aus  ihren  Gäfschen  und  Sackgäfschen 
viel  von  ihrer  Schärfe  verlieren. 

Ueberdies  macht  sich  — das  gilt  besonders  von  anderen  Klassen, 
Angestellten,  Rentnern  und  kleinen  Beamten  — mit  wachsender 
Deutlichkeit  die  Neigung  bemerkbar,  sich  auf  dem  Lande  anzu- 
siedeln, ohne  deshalb  die  vielfachen  Verbindungen  mit  der  Stadt 
aufzugeben. 

2.  Die  dauernde  Uebersiedlung. 

Vor  zehn  Jahren  etwa  hat  Professor  H a s b a c h in  einem  Buche 
über  „Die  englischen  Landarbeiter"  jene  ursprünglich  städtische 
Bevölkerung,  der  man  in  immer  gröfseren  Massen  in  den  Dörfern 
begegnet,  auf  die  folgende  Weise  beschrieben: 

„Der  Deutsche,  welcher  sich  in  einer  Entfernung  von  25  eng- 
lischen Meilen  von  London  niederläfst  und  glaubt,  nun  alle  Be- 
ziehungen zur  Stadt  abgebrochen  zu  haben,  wird  über  die  ver- 
schiedenen Schichten  der  Dorfgesellschaft,  welche  er  allmählich 
kennen  lernt,  nicht  wenig  verwundert  sein.  Er  macht  die  Bekannt- 


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102 


Emil  Vanderveldc, 


Schaft  des  Dorfgeistlichen,  welcher  den  Titel  Rektor  oder  Vikar 
führt,  vielleicht  auch  die  eines  Hilfsgeistlichen,  verabschiedeter  und 
beurlaubter  Land-  und  Seeoffiziere,  ostindischer  Beamten  und  Offi- 
ziere, welche  zur  Wiederherstellung  ihrer  Gesundheit  auf  längere 
Zeit  nach  Europa  zurückgekehrt  sind,  er  lernt  Kaufleute  und  In- 
dustrielle kennen,  die  sich  vom  Geschäft  zurückgezogen  haben,  oder 
noch  jeden  Morgen  zur  Stadt  ins  Kontor  fahren,  er  findet  einen 
oder  mehrere  Rentner  vor  u.  s.  w.  . . 

Kurz,  während  die  wirklich  landwirtschaftliche  Bevölkerung 
selten  wird,  wird  das  städtisch  beeinflufste  Land  dank  der  Eisen- 
bahn der  Wohnort  vieler  Leute  aus  den  mittleren  Bevölkerungs- 
klassen, die  den  Aufenthalt  in  der  Stadt  darum  aufgeben,  weil  er 
ihnen  zu  teuer  ist. 

Bis  vor  wenigen  Jahren  schienen  solche  Verhältnisse  eine  be- 
sondere Eigentümlichkeit  Englands.  Heute  findet  man  sie  in  der 
Umgebung  aller  grolsen  Städte  wieder. 

Erst  jüngst  hat  I.eroy-Beaulieu  anläfslich  einer  Kritik  der 
neuen  Grundsteuer  in  Paris  festgestellt,  wie  sehr  sich  für  diese  Steuer  - 
<]uelle  die  Bequemlichkeiten  des  Bahn-  und  Tramway  Verkehrs,  der 
seit  1899  und  besonders  seit  dem  Sommer  1900  einen  so  grofeen 
Aufschwung  genommen  hat,  fühlbar  gemacht  haben. 

„Bis  dahin,“  schreibt  er,  „gab  es  seit  drei  Jahrzehnten  eine 
zentrifugale  Wanderung,  die  die  Bewohner  der  inneren  Stadt  nach 
den  Wohnhäusern  der  peripher  gelegenen  Arrondissements  führte, 
besonders  nach  jenen  des  Westens;  diese  Bevölkerungsbewegung 
folgte  im  ganzen  dem  Laufe  der  Seine.  Seit  zehn  Jahren  ist  sozu- 
sagen dieser  ersten  Welle  die  zweite  gefolgt,  die  nach  der  Um- 
gebung der  Stadt  verläuft.  *) 

Selbstverständlich  bedeutet  diese  Rückkehr  nach  dem  Lande 
durchaus  keine  Rückkehr  zur  Landwirtschaft.  Die  Angestellten  und 
Handwerksleute,  die  sich  in  der  Umgebung  ansiedeln,  um  die  hohen 
Wohnungsmieten  zu  ersparen,  dabei  aber  an  ihrer  städtischen  Be- 
schäftigung festhalten,  tragen  nicht  das  geringste  Verlangen  dar- 
nach, Pflug  und  Spaten  zu  führen." 

Nichts  destoweniger  hat  ihre  Anwesenheit  für  die  Landleute 
wirtschaftliche  Bedeutung.  Denn  einerseits  verschafft  sie  ihnen  eine 
Kundschaft  im  Orte  selbst ; andererseits  giebt  es  al>er  neben  jenen 
Städtern,  die  sich  aus  Ersparungs-  oder  Gesundheitsrücksichten  in 

*)  L'Econoniistc  franoiis.  16  fevrier  1901. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


103 


Landgemeinden  niederlassen,  auch  andere,  allerdings  weit  minder 
zahlreiche,  die  sich  auf  dem  I.ande  ansiedeln,  um  sich  der  landwirt- 
schaftlichen Thätigkeit  zu  ergeben. 

Dahin  gehören  beispielsweise  die  Mitglieder  der  Kolonicen 
Bussum  und  Blaricum  in  Holland,  die  Landgenossenschaften  von 
Norfolk  und  VVarwick-shire,  und  die  vielen  von  Nordhoff  beschrie- 
benen sozialistischen  Kolonieen  in  Nordamerika. 

Dahin  gehören  auch  die  Vegetarierkolonieen,  von  denen 
Graham  in  seinem  Buche  „The  rural  exodus“  erzählt: 

„Es  ist  wunderbar,  wie  viele  kleine  Geschäftsleute,  die  sich  ein 
bischen  Geld  erwirtschaftet  haben,  voll  Ungeduld  nach  dem  Lande 
zurückzukehren  trachten.  Die  Vegetarier,  die  kleine  Obstwirt- 
schaften (fruits  farms)  von  2 Acres  eingerichtet  haben  — in  ver- 
schiedenen Distrikten,  Kent,  Norfolk,  Northumberland  zum  Beispiel 
— haben  es  nicht  schwer,  Leute  zu  finden,  die  ersparte  Beträge 
von  etwa  400  Frcs.  gerne  darin  anlegen,  um  auf  diese  Weise  das 
Landleben  geniefsen  zu  können." 

So  interessant  nun  auch  solche  Experimente  sind,  und  wie  be- 
deutsame Keime  einer  künftigen  Entwicklung  sie  in  sich  tragen 
mögen,  sie  sind  doch  zu  dünn  gesäet,  und  erstrecken  sich  auf  eine 
zu  geringe  Anzahl  von  Personen,  als  dafs  sie  auf  die  Bewegung  von 
der  Stadt  zum  Lande  einen  merkbaren  Einfiufs  ausüben  könnten. 
Annähernd  dasselbe  gilt  von  den  Versuchen,  die  die  Regierung  der 
anglo-australischen  Kolonieen  auf  ungeheueren  I^andstrecken  unter- 
nommen hat,  um  Arbeitslosen  Beschäftigung  zu  geben  und  dem 
Ueberwuchern  der  städtischen  Elemente  zu  begegnen. 

Sicherlich  berechtigen  die  Resultate,  die  in  den  Kooperativ- 
gemeinden von  Süd-Australien  und  Victoria  erzielt  worden  sind, 
nicht  zu  jenen  übereilten  pessimistischen  Folgerungen,  die  Pierre 
Leroy-Beaulieu  in  seinem  Buche  „Les  nouvelles  societes  Anglo- 
Saxonnes"  aus  ihnen  ziehen  zu  müssen  glaubt ; aber  nicht  minder 
wahr  ist  es,  dafs  die  bisher  gemachten  Erfahrungen  auch  durchaus 
nicht  in  günstigem  Sinne  entscheidend  sind.  Met  ins  gewissenhafte 
Studie  über  die  Arbeiter-  und  Sozialgesetzgebung  Australiens  und 
Ncu-Seelands  kommt  zu  dem  Schlufsergebnis:  „Das  Beispiel  dieser 
Gemeinden  hat  wieder  einmal  bewiesen,  wie  gewagt  es  ist,  das  Land 
dadurch  bevölkern  zu  wollen,  dafs  man  auf  einmal  grofse  Massen 
städtischer  Arbeiter  dahinwirft.“ 

3.  Die  Saisonwanderungen. 

Dieselben  Gründe,  die  den  an  städtisches  Leben  gewohnten 


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Emil  V ander veldc, 


Arbeiter  daran  hindern,  in  Krisenzeiten  seine  landwirtschaftliche 
Thätigkeit  wieder  aufzunehmen,  hindern  ihn  auch,  sich  während 
der  Saison  der  Landarbeit  eine  schwerere  Arbeit  aufzuerlegen,  als 
er  gewohnt  ist. 

In  England  war  es  am  Ende  des  achzehnten  Jahrhunderts  bei 
vielen  städtischen  Arbeitern  Brauch,  bei  Beginn  des  Herbstes  in 
die  umliegenden  Dorfschaften  zu  wandern  und  an  den  Erntearbeiten 
teil  zu  nehmen  l). 

Noch  heutzutage  begiebt  sich  alljährlich  ein  Teil  jener  Be- 
völkerung, die  sich  in  den  Londoner  Slums  zusammendrängt,  zur 
Heumahd  nach  den  grazing  counties  der  Umgebung,  um  später  die 
Hopfenernte  in  Kcnt  besorgen  zu  helfen. 

Auch  in  Petersburg  giebt  es  Tausende  von  Wollwebern  und 
Arbeitern  der  Baumwollindustrie,  die  für  die  drei  Sommermonate 
in  ihre  Geburtsdörfer  zurückkehren,  um  dort  das-  Land  zu  bewirt- 
schaften -). 

Aber  das  sind  Ausnahmen,  die  immer  seltener  werden,  je  mehr 
sich  die  Teilung  und  besonders  die  Kontinuierlichkeit  der  Industrie- 
arbeit entwickelt. 

Wenn  aber  die  Städter  immer  seltener  im  Sommer  aufs  Land 
gehen,  um  dort  zu  arbeiten,  thun  sie  es  desto  öfter,  um  sich  dort 
zu  erholen ; und  diese  Saisonwanderungen  sind  für  verschiedene 
Volksschichten  von  grofser  Bedeutung. 

„Zur  Zeit  Karl  II.,“  schreibt  Macaula y,  „hatte  das  wohlhabende 
Bürgertum  noch  nicht  die  Gewohnheit  angenommen,  im  Sommer 
hinauszuziehen,  um  freie  Wald-  und  Feldluft  zu  geniefsen.  Ein 
Londoner  Stutzer  erregte  auf  dem  Dorfe  ungefähr  dasselbe  Auf- 
sehen wie  in  einem  Hottentottenkraal." 

Heutzutage  hat  das  Bedürfnis  nach  Zerstreuung,  die  Sehnsucht 
nach  Ruhe,  hat  ein  mehr  oder  weniger  reines  Naturgefühl  das  Land 
für  einen  Teil  des  Jahres  neu  bevölkert.  Die  Orte  für  Trink-  und 
Badekuren  vermehren  sich  verblüffend  rasch;  Räder  und  Auto- 
mobile verhelfen  alten  Gastwirtschaften  zu  neuer  Blüte,  alten 
Schänken,  denen  der  Bahnbau  ihre  Kundschaft  entzogen  hatte;  im 
Oberlande  und  an  der  Corniche  gewährt  der  Fremdenverkehr 
breiten  Volksschichten  ihre  Exislenzmittel,  sodafs  die  Auswanderung 
für  sie  unnötig  wird. 


*)  ilush ach  a.  a.  O.  78. 

*)  Kropotkine,  Autour  d’unc  vic  p.  335.  Paris,  Stock  1902. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


105 


Wenn  man  den  Weg  der  Entwicklung  ermessen  will,  der  in 
dieser  Richtung  in  weniger  als  zwei  Jahrhunderten  zurückgelegt 
worden  ist,  mag  man  in  der  neuen  Heloise  die  folgenden  Stellen 
lesen,  die  sich  in  einem  Briefe  Saint  Preux  an  Julia  vorfinden: 

„Wenn  ich  des  abends  in  ein  Dörfchen  (des  Ober -Wallis)  kam 
eilten  alle  so  geschäftig  herbei,  mir  ihr  Haus  anzubieten,  dafs  mir 
die  Wahl  schwer  ward ; und  der,  der  den  Vorzug  erhielt,  schien  so 
erfreut,  dafs  ich  seinen  Eifer  anfangs  für  Habsucht  hielt.  Zu  meinem 
höchlichstcn  Erstaunen  aber  weigerte  sich  mein  Wirt,  dem  gegen- 
über ich  ungefähr  einen  Ton  angeschlagen  hatte,  als  ob  ich  mich 
im  Gasthofe  befände,  Bezahlung  anzunehmen.  Ja  er  fühlte  sich 
sogar  durch  meine  Zumutung  beleidigt  . . . Trotzdem  ist  im  Ober- 
Wallis  das  Geld  sehr  rar;  aber  deswegen  gerade  geht  es  den  Be- 
wohnern gut;  denn  Lebensmittel  giebt  es  in  Ueberflufs,  während 
es  nach  aufsen  für  sie  an  Absatzwegen  fehlt  und  im  Innern  ein 
Bedürfnis  nach  Luxusartikeln  nicht  besteht  . . . Zuerst  war  ich 
über  den  Gegensatz  sehr  überrascht,  dem  diese  Gewohnheiten  zu 
jenen  von  Nieder -Wallis  bilden,  wo  man  die  Reisenden  nur  allzu- 
sehr prellt,  und  es  wurde  mir  schwer,  die  Ursache  heraus  zu  finden, 
aus  welcher  sich  bei  einem  und  demselben  Volke  so  verschiedene 
Handlungsweisen  herausgebildet  haben  konnten.  Ein  Walliser  er- 
klärte sie  mir.  Die  Fremden,  sagte  er,  die  das  Thal  durchreisen, 
sind  Kaufleute  und  andere  Leute  von  ähnlicher  Lebensstellung,  die 
einzig  und  allein  an  ihr  Geschäft  denken  und  auf  Gewinn  erpicht 
sind.  Es  ist  billig,  dafs  sie  uns  einen  Teil  ihres  Nutzens  lassen, 
und  wir  behandeln  sie,  wie  sie  andere  behandeln.  Aber  hier, 
wohin  die  Fremden  kein  Geschäft  ruft,  sind  wir  sicher,  dafs  ihre 
Reise  keinem  eigennützigen  Zwecke  dient;  dem  entspricht  die  Auf- 
nahme, die  man  ihnen  hier  bereitet.  Es  sind  Gäste,  die  uns  be- 
suchen, weil  sie  uns  lieben,  und  wir  nehmen  sie  mit  Freundschaft 
auf.  Uebrigens,  fügte  er  lächelnd  hinzu,  ist  diese  Gastfreundschaft 
nicht  kostspielig,  und  nur  wenige  Leute  kommen  darauf,  von  ihr 
Gebrauch  zu  machen.“ 

Vielleicht  sind  die  Nachkommen  derselben  Walliser  in  dem- 
selben Dörfchen,  das  inzwischen  ein  grofscr  Ort  geworden  ist, 
die  Manager  eines  Riesenunternehmens,  dessen  Gastfreundschaft, 
obwohl  sie  weniger  billig  geworden  ist,  keine  geringere  Anziehungs- 
kraft auf  die  Fremden  ausüben  mag. 

Und  damit  mufs  man  sich  freuen,  wie  sehr  man  auch  den  Reiz 
einer  urwüchsigen  Gastfreundschaft  vermissen  mag.  Denn  das 


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io6 


Emil  Vandcrvcldc, 


Vergnügen  am  Reisen,  oder,  besser  gesagt,  das  Bedürfnis  nach 
Reisen  und  Sommerfrischen  bildet  das  einzige  Korrektiv  der  modernen 
Ueberanstrengung  und  des  ungesunden  Lebens,  das  die  meisten 
Städter  den  gröfseren  Teil  des  Jahres  über  zu  fuhren  gewohnt  sind. 

Leider  ist  dieses  Heilmittel  bisher  das  Privilegium  einer  Klasse 
geblieben,  und  erst  seit  einigen  Jahren  werden  Versuche  gemacht, 
den  Handarbeitern  oder  ihren  Kindern  ein  paar  Wochen  Erholung 
in  freier  Luft  zu  verschaffen,  deren  sie  ebenso  sehr  wie  die  Kopf- 
arbeiter bedürftig  sind. 

In  dieser  Richtung  sind  die  Schülerkolonicen  zu  erwähnen 
und  für  die  Erwachsenen  — so  unvollkommen  diese  Einrichtung 
auch  noch  sein  mag  — die  Ferienkolonie  von  Ploubazlanec  an  der 
bretonischen  Küste,  die  von  der  Pariser  Gesellschaft,  I.a  Cooperative 
des  idees  eröffnet  worden  ist. 

Die  Organisatoren  dieser  Kolonie  haben  für  hundert  Francs 
jährlich  ein  grofses  altes  Haus  gemietet,  das  auf  dem  Plateau  von 
Arconest  gegenüber  der  Insel  Brehat  gelegen  ist.  Die  Zimmer  im 
Geschofs  wurden  einfach  hergerichtet.  Die  bisher  noch  wenig 
zahlreichen  Kolonisten  besorgen  ihre  bescheidene  Küche  selbst  und 
können  so,  trotz  der  Kosten  der  Hin-  und  Rückfahrt,  ebenso  sparsam 
leben,  als  wenn  sie  in  Paris  geblieben  wären. 

Das  gröfste  Hindernis  für  die  Entwicklung  solcher  Arbeiter- 
Sommerfrischen  ist  freilich  nicht  die  Geldfrage,  sondern  der  Mangel 
an  freier  Zeit. 

Was  für  manche  Handwerker  der  Pariser  Feinindustrie  ver- 
hältnismäl'sig  leicht  ist,  wird  schon  viel  schwieriger,  wenn  es  sich 
um  Fabrikarbeiter  handelt.  Nichtsdestoweniger  hat  die  Erfahrung 
auch  hier  gezeigt,  dafs  bei  einem  entsprechenden  Stande  der 
Arbeiterorganisation,  die  Schwierigkeiten  nicht  unüberwindlich  sind. 

Seit  langem  schon  z.  B.  wird  in  den  meisten  Industrieorten 
von  Lancashire  eine  Woche  im  Juli,  August  oder  September  ge- 
feiert; man  nennt  diese  Ferien  „wakes“.  Viele  Arbeiter  der  Baum- 
woll-  und  der  Maschinenindustrie  benutzen  diese  Woche  zu  Er- 
holungsreisen. Die  einen  durchstreifen  das  Hügelland  von  Derbyshire 
und  die  Gestade  der  englischen  Seeen;  die  anderen  gehen  nach 
London,  manche  gar  nach  dem  Kontinent;  aber  was  die  meisten 
allem  andern  vorziehen , das  ist  das  Meer : die  Insel  Man  und  die 
Bäder  von  Blackpool  (Lancashire)  sind  während  der  wakes  von 
Arbeitertouristen  überschwemmt. 

Schulze  - Gaevernitz,  dem  wir  diese  Thatsachen  entnehmen, 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


107 


berichtet,  dafs  in  Oldham  allein  die  Spezialkassen  für  Ausflüge  oder 
Erholungsreisen  (going  of  club)  jährlich  65  000  Pfund  auszahlen, 
wovon  45  000  auf  die  Arbeiter  der  Baumwollbranche  und  etwa 
20000  auf  die  Maschinenbauer  entfallen. 

„Glückliches  Lancashire!“  ruft  unser  Gewährsmann.  Gewifs! 
Aber  wie  viel  Zeit,  Mühe  und  Kampf  wird  es  kosten,  bis  dieser 
Stand  der  Dinge  ein  allgemeiner  wird  und  das  Recht  auf  Ferien 
für  alle  besteht,  statt  wie  jetzt  das  Vorrecht  von  wenigen  zu  sein ! 

Das  Gemeinsame  aller  jener  Erscheinungen,  die  wir  untersucht 
haben  — tägliche,  endgiltige  und  saisonmäfsige  Wanderungen,  die 
Industriealisierung  der  Landwirtschaft,  die  Verlegung  der  Industrie 
nach  dem  flachen  Lande,  der  Zustrom  der  Landbevölkerung  nach 
der  Stadt  und  der  Rückstrom  der  Stadtbevölkerung  nach  deren 
Umgebung  oder  dem  platten  Lande  — ist  die  Thatsache,  dafs  die 
Arbeiter,  dank  der  Verbesserung  des  Güter-  und  Personenverkehrs, 
ihren  Wohnsitz  weit  entfernt  von  ihrem  Arbeitsorte  nehmen  dürfen, 
und  dafe  die  Industrieen  ihre  Produktionsstätte  auf  noch  viel  gröfsere 
Entfernungen  von  den  Verbrauchszentren  entfernen  können. 

Im  Laufe  des  neunzehnten  Jahrhunderts  hat  diese  Trennung 
von  Arbeits-  und  Wohnort  im  allgemeinen  zu  einer  Verödung  des 
flachen  Landes  und  zu  einer  Vereinigung  der  gewerblichen  Thätig- 
keit  in  den  Städten  geführt;  so  konnten  sich  jene  ungeheuren 
Menschenansammlungen  bilden,  deren  bewundernswerte  Entwick- 
lung eine  Hauptursache  des  geistigen  und  politischen  Fortschritts 
ist.  Aber  die  Vorzüge  dieser  städtischen  Zentralisation,  die  im 
ganzen  nichts  anderes  ist,  als  eine  der  äufseren  Erscheinungsformen 
der  kapitalistischen  Zentralisation  darf  uns  nicht  blind  machen  für 
die  Unbill  und  das  Elend,  das  sie  mit  einschliefst. 

Wenn  wir  auch  lebhaft  bestreiten  müssen  — trotzdem  der 
Schein  der  Statistik  gegen  uns  spricht  — dafs  die  Stadtbewohner 
den  Landbewohnern  in  sittlicher  Beziehung  nachstehen,  so  kann 
doch  nicht  geleugnet  werden,  dafs  unter  Gleichstellung  aller  andern 
bezüglichen  Verhältnisse  die  Sterblichkeit  in  der  Stadt  für  dieselben 
Altersklassen  weit  stärker  ist  als  auf  dem  Lande. 

Sicher  ist  auch  nach  dieser  Richtung  hin  schon  viel  gebessert 
worden,  aber,  wenn  es  auch  nicht  mehr  richtig  ist,  die  Stadt  als 
den  gefräfsigen  Rachen  zu  betrachten,  der  das  menschliche  Ge- 
schlecht verschlingt,  wenn  auch  die  Uebertreibungen  eines  Nordau 
zurückgewiesen  werden  müssen,  der  in  ihrem  Wachstum  die  Haupt- 
ursache wachsender  Entartung  im  letzten  Halbjahrhundert  sieht,  so 


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1 08  Emil  V ander  velde, 

kann  man  sich  doch  dem  wissenschaftlich  viel  beträchtlicheren 
Zeugnis  Dr.  J.  B.  Longstaffs,  eines  der  vorzüglichsten  Statistiker 
Englands  nicht  verschliefsen : 

„Die  Behauptung,  dafs  das  Stadtleben  der  Gesundheit  minder 
günstig  sei  als  das  Landleben,  ist  unbestritten  . . . Die  Eng- 
brüstigkeit, das  blasse  Aussehen,  die  schwächliche  Erscheinung  und 
die  schlechten  Zähne  der  in  der  Stadt  aufgezogenen  Kinder,  bieten 
zu  deutliche  Anzeichen  dafür.  Gewifs,  man  kann  alles  leicht  über- 
treiben : hier  aber  ist  die  Sprache  der  Thatsachen  selbst  eindring- 
lich genug.  Langer  Aufenthalt  in  der  Stadt  wird  immer  in  höherem 
oder  geringerem  Grade  von  einer  Entartung  der  Rasse  begleitet. 
Die  grofsen  Militärmächte  des  Kontinents  wissen  das  genau  und 
man  darf  annehmen,  dafs  ihre  Bemühungen  zum  Schutze  der  Land- 
wirtschaft nur  Mittel  sind,  die  Zahl  der  ländlichen  Rekruten  zu 
vermehren  *).“ 

Wir  stehen  so  vor  einem  Konflikt  zwischen  den  Interessen  der 
industriellen,  geistigen  und  künstlerischen  Produktion,  die  die  Ver- 
einigung grofser  Menschenmengen  in  den  Städten  verlangt,  und 
den  Forderungen  der  Volksgcsundheit,  die  gegen  solche  Ansamm- 
lungen Einspruch  erheben. 

Welche  Lösung,  oder  besser  gesagt,  welche  Lösungen  dieses 
Konfliktes  wird  die  Zukunft  bringen? 

Die  Entwicklungstendenzen,  die  sich  jetzt  schon  geltend  machen, 
geben  uns  eine  Vorahnung  davon. 

Wir  haben  gezeigt,  wie  sich  überall  die  Gesundheitspflege  in 
den  Städten  verbessert ; die  Vororte  gewinnen  an  Ausdehnung  und 
ihre  Bevölkerung  wächst ; die  Industrie  wandert  aufs  Land ; und 
der  Sommeraufenthalt  wird  zur  ständigen  Gewohnheit. 

Aber  die  Verstärkung  dieser  Tendenzen  zur  Erreichung  eines 
annähernd  normalen  Zustandes  begreift  eine  Reihe  von  Veränderungen 
der  Arbcits-  und  Eigentumsverhältnisse  in  sich. 

Sollen  z.  B.  die  Ferien  für  die  Arbeiter  nicht  mehr  blol's  eine 
seltene  Ausnahme  sein,  dann  dürfen  auch  die  Industriearbeiter  nicht 
mehr  durch  die  Tyrannei  des  Produktionsprozesses  an  eine  rastlose 
Thätigkeit  gefesselt  werden,  die  höchstens  durch  unfreiwillige  Mufsc 
unterbrochen  wird. 

Soll  den  städtischen  Arbeitern  das  Wohnen  auf  dem  Lande 
ermöglicht  werden,  dann  mufs  ihr  Wegzug  durch  eine  durchgängige 

*)  Journal  of  the  Statistical  Society.  1893,  p,  416. 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande.  I09 

Sozialisierung  der  Verkehrsmittel  erleichtert  werden.  Diese  wird 
die  Tarife  hcrabsetzen,  indem  sie  die  Dampfkraft  durch  die  Elek- 
trizität ersetzt,  und  sie  wird  raschere  Verbindungen  herstellcn.  Aber 
vor  allem  mufs  zu  diesem  Zwecke  die  Arbeitszeit  auf  dem  Wege 
der  Gesetzgebung  oder  des  Uebercinkommens  so  verkürzt  werden, 
dafs  der  Arbeiter  ohne  Uebermüdung  den  längeren  Weg  vom  Ar- 
beitsorte zur  Wohnung  zurücklegen  kann. 

Sollen  die  Industrieen  übersiedeln  und  sich  für  die  Regel 
auf  dem  Lande  niederlassen,  so  müssen  die  Transportkosten  auf- 
hören ein  beträchtlicher  Faktor  der  allgemeinen  Herstellungskosten 
zu  sein. 

Soll  schliefclich  die  städtische  Gesundheitspflege  tiefgreifender 
Verbesserungen  unterzogen  werden,  dann  werden  die  städtischenSelbst- 
verwaltungen  ihre  Anstrengungen  nach  dieser  Richtung  noch  ver- 
doppeln müssen.  Sie  müssen  den  Einwohnern  Licht,  frische  Luft 
und  den  Ausblick  auf  Wiesen  und  Bäume  verschaffen,  sie  müssen 
geräumige  Arbeiterstädte  bauen,  und  breite  Durchbrüche  durch  den 
Wirrwarr  der  Gassen  und  Sackgassen  vornehmen  lassen.  Sie  müssen 
in  gröfsercr  Menge  Parks  und  Gärten  anlegen,  wie  sie  schon  heute 
zum  Beispiel  im  Häusermeere  Londons  grünende  und  blühende 
Inseln  bilden. 

In  seinen  „Principles  of  Economy"  schlägt  M a r s h a 1 1 eine  Reihe 
von  Verbesserungen  vor,  die  in  grofsem  Mafsstabc  den  jetzigen 
Unzukömmlichkeiten  des  Stadtlebens  begegnen  könnten: 

„Das  Erste  ist“,  schreibt  er,  „dafs  man  unter  allen  Strafsen  ge- 
räumige Tunnels  anlegt,  in  denen  zahlreiche  Rohre  (pipes)  und 
Drähte  nebeneinander  angebracht  und  im  Fall  eines  Schadens  ohne 
Störung  des  Gesamtbetriebes  und  ohne  zu  grofse  Kosten  repariert 
werden  könnten.  So  könnten  motorische  Kräfte  und  vielleicht  auch 
Wärme  auf  grofse  Entfernungen  vom  Lande  (in  besonderen  Fällen 
von  Kohlcnwerken)  übertragen  und  überall  hingeleitet  werden,  wo 
man  sie  braucht.  Weiches  und  Quellwasscr,  vielleicht  gar  auch 
Meerwasser  und  sauerstoflreiche  Luft  könnte  man  durch  besondere 
Röhren  in  jedes  Haus  leiten,  während  die  „steam pipes“  zur  Liefe- 
rung von  Wärme  im  Winter  und  von  komprimierter  Luft  zur  Ab- 
kühlung im  Sommer  benutzt  werden  könnten.  Oder  noch  besser, 
die  Wärme  könnte  durch  eigenes  zugeleitetes  Gas  mit  grofser 
Heizkraft  geliefert  werden ; während  das  Licht  von  anderem  eigens 
zu  Beleuchtungszwecken  hergcstelltem  Gase  oder  durch  Elektrizität 
zu  liefern  wäre.  Jedes  Haus  könnte  mit  der  ganzen  übrigen  Stadt 


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I IO 


Emil  Vandervclde, 


I 


durch  elektrische  Leitungen  verbunden  sein.  Alle  schädlichen 
Dünste,  die  durch  Heizung  verursachten  mit  eingeschlossen, 
könnten  durch  breite  in  Längsrichtung  geführte  Luftschächte  ver- 
jagt, im  Vorbeistreichen  durch  starke  Flammen  gereinigt  und  durch 
hohe  Kamine  nach  höheren  Luftschichten  geleitet  werden.“ 

Wenn  einmal  diese  Verbesserungsvorschläge  verwirklicht  sind, 
so  wird  wahrscheinlich  das  Wohnen  in  der  Stadt  nicht  mehr  mit 
so  grofsen  Gefahren  für  die  Gesundheit  verbunden  sein,  vor  allem 
dann  nicht,  wenn  es  überdies  noch  durch  häufige  Ausflüge  und 
zeitweiligen  Landaufenthalt  unterbrochen  wird. 

Andererseits  wird  das  Land  nicht  geringeren  Aendcrungen  unter- 
worfen. Es  bedeckt  sich  mit  Wohnhäusern  und  Werkstätten,  Obst- 
kulturen und  Ziergärten,  Weideflächen  und  industrieartig  betriebenen 
Landwirtschaften.  Es  wird  von  Bahnen,  Telegraphen-  und  Telephon- 
leitungen durchzogen  und  von  Rädern  und  Kraftfahrzeugen  durch- 
eilt. So  gewinnt  es  mehr  und  mehr  städtisches  Ansehen. 

Dank  den  Verkehrsmitteln  und  der  steigenden  Zahl  der  gegen- 
seitigen Berührungspunkte  wird  die  Welt  nach  Kingsleys  Prophe- 
zeiung Zeuge  werden  „einer  vollständigen  gegenseitigen  Durch- 
dringung von  Stadt  und  Land , einer  Fusion  ihrer  verschiedenen 
Lebensgewohnheiten,  einer  Vereinigung  der  Vorzüge  beider  Teile, 
wie  kein  Land  der  Erde  sie  jemals  noch  gesehen  hat“ 

Und  wahrhaftig!  In  der  alten  Zeit  lebte  die  städtische  Be- 
völkerung, mit  Handel  und  Gewerbe  beschäftigt,  mit  ständischen 
Privilegien  ausgestattet  und  durch  wirtschaftliche  Schranken  ge- 
schützt, eng  zusammengedrängt  im  Kreise  der  Schutzmauern.  Die 
Landbevölkerung  dagegen  kannte  kaum  einen  anderen  Erwerb  als 
die  Landwirtschaft  und  das  Dorfhandwerk,  das  sich  ihr  angliedert. 
In  politischer  und  sozialer  Beziehung  befand  sie  sich  in  einem 
Zustande,  über  den  die  Städte  schon  längst  hinaus  waren.  Haupt- 
sächlich für  den  eigenen  Verbrauch  arbeitend,  durch  ihre  Hörigkeit 
und  die  Unablösbarkeit  ihrer  Lchenspflichten  an  die  Scholle  ge- 
fesselt, lebte  sie  isoliert,  auf  sich  selbst  zurückgezogen,  ohne  jede 
Verbindung  mit  der  Aufsenwelt  dahin. 

Aber  mit  dem  Fortschritt  des  Verkehrswesens  ändert  sich  das 
Bild : Die  Grenzlinie  zwischen  städtischen  und  ländlichen  Wesens 
verliert  an  Schärfe.  Bürger  und  Bauern  werden,  wenn  nicht  that- 
sächlich  so  doch  rechtlich,  in  wirtschaftlicher  und  politischer  Be- 
ziehung einander  gleichgestellt.  Die  Stadtmauern  sind  niederge- 
rissen und  die  Schlagbäume  des  Octroi  beginnen  zu  fallen.  Die 


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Die  Rückkehr  nach  dem  Lande. 


1 1 1 


Beziehungen  zwischen  beiden  Bevölkerungsschichten  vermehren  sich 
und  so  ist  es  heute  wahrscheinlich  geworden,  dafs  die  Städte  der 
Zukunft  weniger  Mittelpunkte  der  Ansiedlung  sein  werden,  als  eine 
Anhäufung  von  Monumentalgebäuden,  Orte  der  Geselligkeit, 
Mittelpunkte  des  Geschäftslebens,  des  Unterrichts  und  der  Unter- 
haltung. 

So  wird  sich  mehr  oder  minder  vollständig  der  Traum  ver- 
wirklichen, den  Morris  in  seinen  „News  from  nowhere“  träumt:  „Mit 
London  war  reiner  Tisch  gemacht  worden.  Mit  dem  Winkelwerk 
ward  aufgeräumt.  St.  Paul  ist  eine  Ruine.  Das  Parlamentshaus 
dient  als  Viehstall.  Trafalgar  Square  ist  ein  grofser  Obstgarten. 
Kein  Dampf  der  Schlote  verdunkelt  mehr  den  Himmel.  Nimmer- 
mehr führt  die  Themse  in  schmutzigen  Wellen  die  Ausscheidungen 
einer  ungeheuren  Massenmasse  mit  sich.  Das  flache  Land  ist  mit 
Landhäusern  bedeckt;  man  trifft  sich  in  der  Stadt,  aber  man  wohnt 
auf  dem  Lande." 

Allerdings  gleicht  das  Land,  von  dem  Morris  träumt,  und 
das  zweifellos  auch  wirklich  das  I^and  der  Zukunft  ist,  durchaus 
nicht  dem  Lande  der  „guten  alten  Zeit“.  Die  es  bewohnen,  haben 
nichts  gemein  mit  den  Bauern  Labruyeres;  sie  haben  sich  in 
der  Stadt  aufgehaltcn  und  bleiben  mit  ihr  in  ständiger  Verbindung; 
sie  sind  aufs  Land  zurückgekehrt,  aber  sie  bringen  die  Vorteile 
einer  sozialen  Umwälzung  dahin,  für  deren  Werden  die  städtische 
Zentralisation  Vorbedingung  und  entscheidender  Faktor  gewesen  ist. 

Anders  konnte  es  nicht  sein.  Ehe  der  Sonnenaufgang  kommt, 
mufe  die  verführerische  Stadt  dem  bethörten  Lande  seine  Men- 
schen nehmen. 


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Ein  Reformprogramm  für  die  Wohnungs-  und 
Ansiedlungsfrage  in  Deutschland. ') 

Von 

Dr.  K.  v.  MANGOLDT 

in  Dresden. 

A.  Vorbemerkungen. 

i.  Notwendigkeit  einer  allgemeinen  und  durchgreifenden  grofsen 
Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform. 

Eine  durchgreifende  Verbesserung  der  Wohnungs-  und  An- 
siedlungsverhältnisse  ist  in  Deutschland  für  grofse  Massen  der  Be- 
völkerung, sowohl  in  den  wohlhabenden,  wie  in  den  ärmeren 
Klassen,  insbesondere  aber  in  den  letzteren,  ein  dringendes  Be- 

')  Der  „Verein  Rcichsvohnuxigsgcsctz“  beabsichtigt  in  absehbarer  Zeit  auf 
Grund  seiner  langwierigen  Vorarbeiten  das  längst  geplante  umfassende  Reform- 
programm  für  die  gesamte  Wohnungs-  und  Ansiedlungsfrage  aufzustcllen  und  sich 
zu  diesem  Zwecke  den  Rat  und  die  Mitarbeit  der  besten  Sachkundigen  zu  erbitten. 
Der  Unterzeichnete  ist  beauftragt  worden,  als  Unterlage  für  dieses  ganze  Vorgehen 
einen  vorläufigen  Programmentwurf  auszuarbeiten  und  zu  veröffentlichen,  und  er 
legt  demgemäß»  den  nachfolgenden  vorläufigen  Entwurf  vor.  Dieser  Entwurf,  wenn- 
schon im  Aufträge  des  Vereins  Reichswohnungsgesetz  ausgearbeitet,  stellt  zunächst 
nur  eine  Privatarbeit  des  Unterzeichneten  dar,  zu  der  die  Organe  des  Vereins  noch 
weiter  keine  Stellung  genommen  haben.  Zum  Schluls  erlaubt  sich  der  Unterzeichnete 
noch  besonders  auf  die  seines  Wissens  in  dem  nachfolgenden  Entwürfe  zum  ersten 
Male  systematisch  durchgeführte,  durchaus  notwendige,  grundsätzliche  Unterscheidung 
zwischen  „gewerblicher“  und  „landwirtschaftlicher“  Wohnungs-  und  Ansiedlungs- 
reform, sowie  auf  die  in  dem  Abschnitte  über  Bodenpolitik  enthaltenen  Vorschläge 
über  „Stadtverjüngung“  aufmerksam  zu  machen. 

Dr.  K.  v.  Mangoldt, 

Geschäftsführer  des  „Vereins  Rcichs-Wohnungsgesetz“.  (E.V.) 


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Ein  Reformprogramm  für  die  Wohnungs-  und  Ansicdlungsfrage  in  Deutschland.  f j 3 

dürfnLs.  Dieses  Bedürfnis  besteht  nicht  nur  für  die  städtische, 
sondern  auch  für  die  auf  dem  Lande  lebende  Bevölkerung,  und 
nicht  nur  für  die  in  Industrie,  Handel  und  verwandten  Berufen,  son- 
dern auch  für  die  in  der  Landwirtschaft,  Forstwirtschaft  und  ver- 
wandten Berufszweigen  thätigen  Klassen. 

Auch  handelt  es  sich  nicht  blofs  um  eine  Verbesserung  nur 
der  Wohnungen,  sondern  vielfach  auch  um  eine  Verbesserung  der 
ganzen  Ansiedlungsweise. 

Die  bisherigen  zahlreichen  Reformen  sind  als  Vorarbeiten  und 
Anfänge  im  kleinen  dankbar  zu  begrüfeen,  aber  sie  genügen  dem 
Umfange  und  dem  Grade  der  Uebclstände  gegenüber  in  keiner 
Weise.  Es  bedarf  vielmehr  einer  ganz  anders  einheitlichen,  um- 
fassenden und  durchgreifenden  Gesamtreform  grofsen  Stils.  Diese 
Gesamtreform  hat  alle  wesentlichen,  überhaupt  auf  dem  Gebiete 
der  Wohnungs-  und  Ansiedlungspolitik  liegenden  Ursachen  der  Mifs- 
stände  zu  treffen  und  zwar  nicht  nur  an  diesem  oder  jenem  ein- 
zelnen Orte,  sondern  überall.  Sie  hat  somit,  entsprechend  der 
grofsen  Mannigfaltigkeit  der  Mifsstände  und  ihrer  Ursachen,  eine 
grofse  Fülle  verschiedener  Mafsregeln  anzuwenden,  und  sie  stellt 
sich  nach  alledem  dar  als  ein  grofses,  aus  sehr  verschiedenen 
Stücken  bestehendes,  aber  innerlich  zusammenhängendes  Ganzes. 

II.  Zusammenwirken  aller  Faktoren  unter  oberster  Führung  und  Leitung 

des  Reiches. 

Die  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  ist  zustande  zu  bringen 
durch  das  Zusammenwirken  des  Reiches,  der  Einzelstaaten,  der  Ge- 
meinden, Kreise,  Provinzen  u.  dgl.,  der  kirchlichen  Körperschaften, 
der  organisierten  Selbsthilfe  und  Gemeinnützigkeit  und  aller  sonstigen 
geeigneten  gesellschaftlichen  und  individuellen  Kräfte,  die  ehrlich 
an  diesem  grofsen  Werke  mithelfen  wollen.  Dabei  ist  es  Aufgabe 
des  Reiches  als  der  obersten  und  umfassendsten  Stelle,  nicht  nur 
eine  erhebliche  direkte  Reformthätigkeit  zu  entfalten,  sondern  vor 
allem  die  oberste  Führung  und  Leitung  des  ganzen  Reformwerkes 
zu  übernehmen  und  in  Verfolg  dieser  Thätigkeit  namentlich  dafür 
zu  sorgen:  erstens  dafs  überall  eingegriffen  wird,  wo  es  notwendig 
ist;  zweitens  dafs  alle  notwendigen  Abhilfsmafsregeln  überall  er- 
griffen werden ; drittens  dafs  dementsprechend  eine  systematische 
Verteilung  der  Aufgaben  auf  die  verschiedenen  Kräfte  stattfindet. 

Zur  Durchführung  dieser  Aufgabe  des  Reiches  ist  zunächst  eine 
Reichskommission  einzuberufen  zur  Ausgestaltung  eines  ein- 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  S 


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1 14  K.  v.  Mangoldt, 

heitlichen  und  umfassenden  Reformprogramms  und  zur  Verteilung 
der  Aufgaben  auf  die  verschiedenen  Stellen. 

III.  Gewerbliche  und  landwirtschaftliche  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform. 

Die  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  wird  verschiedene  Ziele 
zu  verfolgen  und  verschiedene  Mittel  anzuwenden  haben,  je  nach- 
dem ob  es  sich  um  die  im  Hauptberufe  in  Land-  und  Forstwirt- 
schaft, Gärtnerei  und  Tierzucht,  oder  ob  es  sich  um  die  im  Haupt- 
berufe in  Industrie  und  Bergbau,  Hütten-  und  Bauwesen,  Handel 
und  Verkehr,  Beamtenstellungen  und  freien  Berufen  thätige  Be- 
völkerung nebst  ihren  Angehörigen  u.  s.  w.  handelt,  wobei  dann 
jeder  dieser  beiden  Gruppen  noch  gewisse  andere,  innerlich  ihr  zu- 
gehörende Bevölkerungsteile  zuzufugen  sind.  Und  dieser  inneren, 
aus  der  Natur  der  Sache  entpringenden  Verschiedenheit  wird  wenig- 
stens bis  zu  einem  gewissen  Grade  eine  äufsere  Verschiedenheit  in 
den  zu  ergreifenden  Mal'srcgeln  und  den  ausfuhrenden  Organen  zu 
entsprechen  haben.  Es  sind  daher  in  der  Wohnungs-  und  Ansied- 
lungsreform zwei  grofse  Gruppen  von  Mafsregeln  zu  unterscheiden 
und  praktisch  voneinander  zu  trennen , welche  man  nach  ihren 
Hauptobjekten  passend  die  gewerbliche  und  die  landwirt- 
schaftliche Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  benennt. 
Diese  Unterscheidung  schliefst  indes  eine  teilweise  Gemeinsamkeit 
und  Vereinigung  beider  Reformgruppen  miteinander  nicht  aus  wie 
z.  B.  die  Gemeinsamkeit  verschiedener  Organe,  die  Uebernahme  der 
Versorgung  der  Angehörigen  der  einen  Reformgruppe  durch  die 
andere  Reformgruppe  in  zahlreichen  Einzelfallen  oder  allgemein  in 
gewissen  Beziehungen.  Insbesondere  wird  die  gewerbliche  Woh- 
nungs- und  Ansiedlungsreform  nicht  selten  für  die  landwirtschaft- 
liche einzutreten  haben. 

IV.  Wohnung«-  und  Ansiedlungsreform  und  Agrarreform. 

Die  Durchführung  der  gewerblichen  Wohnungs-  und  Ansied- 
lungsreform erfordert  absolut  und  relativ  von  Staat  und  Gesell- 
schaft einen  sehr  viel  gröfseren  Aufwand  von  Arbeit  und  Kosten 
als  die  der  landwirtschaftlichen,  sofern,  diese  nicht  mit  weiter- 
gehenden landwirtschaftlichen  Reformmafsregeln  verbunden  wird. 
Eine  durchgreifende  gewerbliche  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform 
würde  ferner  die  Anziehungskraft  des  gewerblichen,  städtischen  und 
ähnlichen  Lebens  gegenüber  dem  landwirtschaftlichen  u.  dgl.  Leben 
und  damit  die  Landflucht  voraussichtlich  sehr  viel  mehr  verstärken, 


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F.in  Rcformprogramni  für  die  Wohnungs-  und  Ansicdlungsfragc  in  Deutschland.  j j ij 

als  diesen  Erscheinungen  die  landwirtschaftliche  Wohnungs-  und 
Ansiedlungsreform  für  sich  allein,  ohne  weitere  agrarische  Rcform- 
mafsregein,  Einhalt  zu  thun  vermöchte.  Endlich  wird  aus  inneren, 
in  der  Natur  der  Sache  liegenden  Gründen  die  landwirtschaftliche 
Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  praktisch  am  besten  als  Stück 
einer  gröfseren,  umfassenden  Agrarreform,  insbesondere  einer  inneren 
Kolonisation,  vorgenommen.  Diese  Gründe  der  Gerechtigkeit,  der 
volkswirtschaftlichen  und  sozialen  Wohlfahrt  und  der  praktischen 
Durchführbarkeit  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  auch  in 
der  Landwirtschaft  und  ihr  nahestehenden  Berufen  legen  es  den 
Anhängern  einer  grofsen  Wohnungs-  und  Ansiedlungreform  nahe, 
nicht  nur  für  die  landwirtschaftliche  Wohnungs-  und  Ansiedlungs- 
reform rein  an  sich,  sondern  darüber  hinaus  für  eine  Agrarreform 
überhaupt  einzutreten. 

Auf  der  anderen  Seite  ist  die  Durchführung  der  gewerblichen 
Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  jedenfalls  nicht  abhängig  zn 
machen  von  der  gleichzeitigen  oder  vorgängigen  Durchführung 
einer  grofsen  Agrarreform  oder  auch  nur  einer  selbständigen  land- 
wirtschaftlichen Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform. 

V.  Wohnfrage  und  Lohnfrage. 

Die  Verbesserung  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsverhältnisse 
darf  nicht  von  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  allein  er- 
wartet werden,  sondern  es  bedarf  dazu  aufserdem  vielfach  einer 
allgemeinen  Hebung  der  in  Frage  kommenden  Schichten,  insbe- 
sondere für  weite  Kreise  von  ihnen  einer  Verbesserung  ihres  Ein- 
kommens. Aber  die  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  hat  die 
grofse  Aufgabe,  eine  Reihe  wichtiger  Ursachen  der  Mifsstände,  die 
von  der  allgemeinen  Hebung  der  betr.  Schichten  nur  ganz  indirekt 
und  ungenügend  getroffen  werden,  zu  beseitigen  und  überhaupt  die 
direkte  und  spezielle  Bekämpfung  dieser  Ursachen  in  die  Wege 
zu  leiten.  Auf  diese  Weise  wird  sie  auf  jeden  Pall  zu  wesentlich 
besseren  Wohnungs-  und  Ansiedlungsverhältnissen  führen,  als  ohne 
sie  erreichbar  sind,  und  sie  bildet  dergestalt  eine  notwendige  Er- 
gänzung der  allgemeinen  Wirtschafts-  und  Sozialpolitik. 

VI.  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  und  Bevölkerungsvermehrung. 

Die  Vorschläge  dieses  Reformprogramms  sind  gemacht  unter 
der  Voraussetzung,  dafs  die  Bevölkerung  Deutschlands  auf  dem 
Gebiete  der  gewerblichen  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  nach 

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wie  vor  schnell  wächst,  während  auf  dem  Gebiete  der  landwirt- 
schaftlichen Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  kein  oder  nur  ein 
langsames  Wachstum  stattfindet.  Sollten  diese  Voraussetzungen 
mit  der  Zeit  hinfällig  werden,  so  müfste  auch  die  Wohnungs-  und 
Ansiedlungsrcform  sich  vermutlich  wesentlich  ändern. 

VII.  Entschädigungsfonds. 

Ein  durchgreifende  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  würde 
vermutlich  in  einer  Anzahl  von  Fällen,  namentlich  in  bestimmten 
Bevölkerungskreisen,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  Schädi- 
gungen gegenüber  dem  jetzigen  Zustande  herbeiführen.  Wenn  nun 
auch  derartige  Opfer  als  unvenneidlich  im  öffentlichen  Interesse 
hingenommen  werden  müssen,  so  ist  es  doch  wünschenswert,  be- 
sondere Härten  dabei  nach  Möglichkeit  zu  vermeiden.  Es  wäre 
daher  zu  erwägen,  ob  nicht  ein  mäfsiger  Bruchteil  der  sich  aus 
gewissen  Abteilungen  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  (Zu- 
wachssteuer, Bodenpolitik)  ergebenden  Einnahmen  zur  Bildung  eines 
Fonds  verwendet  werden  sollte,  aus  dem  in  besonders  schweren 
Fällen  ganze  oder  teilweise  Vergütungen  erfolgen,  jedoch  so,  dafs 
die  Betroffenen  keinerlei  Rechtsanspruch  auf  derartige  Ver- 
gütungen haben. 

B.  Die  gewerbliche  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform. 

Die  gewerbliche  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  erstreckt 
sich  grundsätzlich  auf  die  im  Hauptberufe  in  Industrie  und  Bergbau, 
Hütten-  und  Bauwesen,  Handel  und  Verkehr,  Beamtenstellungen  und 
freien  Berufen  thätige  Bevölkerung  nebst  ihren  Angehörigen  u.  s.  w., 
sowie  auf  alle  diesem  Teile  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform 
sonst  noch  innerlich  zugehörigen  oder  ihm  besonders  zugewiesenen 
Bevölkerungsteile  und  -Gruppen. 

Die  gewerbliche  Wohnungsreform  hat  folgende  Punkte  zu  ver- 
wirklichen. 

i.  Der  eigentliche  Inhalt  der  gewerblichen  Wohnungs-  und 
Ansiedlungsreform. 

I.  Wohnungsinspektion  u.  s.  w. 

Allgemeine  Einführung  der  Wohnungsinspektion  für  die  kleineren 
Wohnungen  und  der  Zonenenteignung  für  bebautes  Gelände  (letztere 


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Ein  Reformprogramm  für  die  Wohnungs-  und  Ansiedlungsfrage  in  Deutschland.  ny 

gemeint  als  Mafsregel  zur  Beseitigung  und  Ersetzung  ganzer  unge- 
sunder Häuserblocks,  Strafsen  und  Quartiere). 

Zweck:  — allmähliche  Beseitigung  der  allerschlechtesten  Woh- 
nungen und  Viertel,  Verbesserung  der  übrigen,  Hebung  des  ganzen 
VVohnungsstandes,  Schaffung  einer  grofsen  Zahl  dauernder  Träger 
der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  in  den  Organen  der  Woh- 
nungsinspektion und  Nötigung  für  Publikum  und  Behörden,  sich 
dauernd  mit  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsfragc  zu  beschäftigen. 

II.  Bauordnungen  u.  s.  w. 

Allgemeine  Revision  der  Bauordnungen  und  Bebauungspläne. 

Zweck:  — in  das  bestehende  System  der  Bauordnungen  und 
Bebauungspläne  weit  stärker  als  hisher  einige  neuere  Gesichtspunkte 
einzufügen , insbesondere : Bekämpfung  des  Mietkasernensystems, 
Herbeiführung  einer  weiträumigen  Bebauung,  Begünstigung  des 
Baues  von  Kleinhäusern  durch  erleichterte  Bauvorschriften  gegen- 
über den  gröfseren  Häusern  und  durch  das  alles  indirekt  auch  Er- 
leichterung der  Erstellung  kleiner  Wohnungen;  zweckmäßige  Ab- 
stufung der  Anforderungen  an  die  Strafsen  (Wohnstraßen,  Verkehrs- 
strafsen),  mäßigender  Einfluß  auf  die  Bodenpreise  und  überhaupt 
Mitwirkung  bei  der  Lösung  der  Bodenfräge,  endlich  namentlich 
Vorbereitung  dezentralisierter  gartenmäfsiger  Ansiedlung  in  den 
Außenbezirken  der  kleinen,  in  der  Umgebung  der  grofsen  Orte. 

III.  Baupolitik. 

Umfassende  Förderung  der  Erstellung ')  gesunder,  guter  und 
billiger  Wohnungen  durch  öffentliches  Eingreifen  sowie  durch  ge- 
nossenschaftliche und  gemeinnützige  Bestrebungen  und  zu  diesem 
Zweck  insbesondere: 

1.  Gründung  von  öffentlichen  Wohnungsbanken,  je 
etwa  für  den  Umfang  einer  Provinz,  als  Zentralstellen  der  Geld- 
gewährung, Beratung  und  Beeinflussung  für  die  sozialpolitische 
Regelung  der  Wohnungserstellung. 

Eventuell  als  Vorstufe  dieser  Banken:  Entwicklung  der  Landes- 
versicherungsanstalten  in  dieser  Richtung. 

2.  Besondere  öffentliche,  insbesondere  staatliche  Einrichtungen 
zur  Gewährung  des  letzten  notwendigen,  von  dritter  Seite 

')  Unter  „Erstellung“,  „erstellen"  wird  nicht  nur  der  einmalige  Vorgang  der 
Produktion  verstanden,  sondern  auch  die  dauernde  Zuführung  der  neu  produzierten 
Wohnungen  an  den  ursprünglich  gewollten  Zweck. 


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K.  v.  Mangoldt, 


zu  gewährenden  Teiles  des  Baugeldes  bez.  der  Hypotheken 
für  die  zur  Durchführung  der  Reform  bestimmten  Bauten. 

3.  Errichtung  öffentlicher,  insbesondere  kommunaler  Lo- 
gierhäuser zur  Verbesserung  des  Schlafstellenwesens. 

4.  Umfassende  Entwicklung  und  Förderung  der  Baugenossen- 
schaften und  gemeinnützigen  Baugesellschaften  durch 
alle  hierbei  irgendwie  in  Betracht  kommenden,  insbesondere  auch 
die  öffentlichen  Stellen  und  mit  Hilfe  öffentlicher  Mittel. 

Zweck:  — die  grofsen  Mängel,  welche  die  gegenwärtige,  auf 
der  Grundlage  des  jetzigen  privaten  Realkreditwesens,  des  privaten 
Bauunternehmertums  und  des  privaten  Hausbesitzes  ruhende  Neu- 
erstellung von  Wohnungen  zeigt,  zu  beseitigen,  ein  reichliches  An- 
gebot von  dauernd  billigen  und  guten  Wohnungen  zu  erzielen  und 
auch  auf  diesem  Gebiete  die  Grundlagen  für  eine  dezentralisierte 
Ansiedlung  der  Bevölkerung  zu  schaffen. 

IV.  Bodenpolitik. 

Lösung  der  Bodenfrage  durch  eine  planmäfsige  und  tief- 
greifende Bodenpolitik  von  Reich,  Einzelstaaten,  Ge- 
meinden u.  s.  w.,  welche  ausgeht  statt  von  den  Interessen  der 
Bodeneigentümer  von  denen  der  anzusiedelnden  Bevölkerung,  und 
welche  verfahrt  nach  dem  Grundsätze  weitgehender  Behandlung  der 
Stadterweitcrung  als  eines  öffentlichen  Geschäftes  und  weiter  nach 
dem  Grundsätze  der  Stadtverjüngung.  (Kleine  Dezentralisation.) 

Dabei  wird  unter  „Stadt Verjüngung"  (oder  „kleiner  De- 
zentralisation“) verstanden  die  durch  die  öffentliche  Bodenpolitik 
teils  direkt  erfolgende,  teils  wenigstens  vorbereitete,  regulierte  und 
indirekt  herbeigeführte  weitgehende  Heranziehung  der  Umgebung 
oder  der  äufseren  Bezirke  der  betr.  Orte  zur  Unterbringung  nicht 
nur  der  neu  zuwachsenden,  sondern  auch  der  schon  vorhandenen 
Bevölkerung  dieser  Orte  und  ihrer  Arbeitsstätten,  und  zwar  zu  einer 
Unterbringung,  welche  durchaus  gartenmäfsig  gestaltet  ist,  so  dafs 
auf  jeden  Haushalt  durchschnittlich  eine  Mindestbodenfläche  entfällt, 
welcher  aufser  zur  Wohnung  zu  einem  kleinen  für  den  eigenen  Be- 
darf hinreichenden  Nutzgarten  genügt. 

Im  einzelnen  hat  diese  Bodenpolitik  insbesondere  durchzu- 
führen : 

1.  Kommunale  Bodenpolitik,  bestehend  in  deinHinwirken 
auf  ein  reichliches  Angebot  an  Baustellen  und  auf  billige  Bodenpreise 
(s.  hier  unter  Nr.  2) ; ferner  in  geeigneter  Gestaltung  der  Bauordnungen 


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Ein  Rcfortnprogramm  fiir  die  Wohnungs-  und  Ansiedlungsfrage  in  Deutschland. 


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und  Bebauungspläne,  möglichster  Festhaltung  des  vorhandenen  kom- 
munalen Grundbesitzes  und  möglichst  umfangreichem  Erwerb  neuen 
billigen  Bodens  sowie  Verwendung  des  kommunalen  Grundbesitzes 
zur  Förderung  billiger  Bodenpreise  und  Mieten  und  gartenmäfsiger 
Ansiedlung;  Hergabe  des  kommunalen  Bodens  nach  Möglichkeit  in 
Erbbaurecht.  U.  a.  m. 

2.  Beschaffung  eines  reichlicheren  und  billigeren  An- 
gebotes an  Baustellen  durch  die  private  Aufschliefs- 
ungsthätigkeit  und  zu  diesem  Ende  Beseitigung  derjenigen 
Hindernisse  in  Gesetzgebung  und  Ver-waltung,  die  jetzt  eine  wirk- 
same Konkurrenz  der  Baustellenverkäufer  untereinander  nicht  recht 
aufkommen  lassen.  (Deshalb  gröfsere  Strafsenbaufreiheit : Ein- 
schränkung des  kommunalen  Genehmigungsrechtes  für  Strafsenneu- 
bauten;  besonderes  Vorgehen  gegen  die  „Zwangsstücke“,  Erlaubnis 
auch  an  nur  provisorisch  hergestellten  Strafsen  zu  bauen  u.  dgl.  m.) 

3.  Stadtverjüngung, 

a)  Erlafs  solcher  Bauordnungs-  und  Bebauungsvorschriften  für 
die  Umgebung  bez.  die  äufseren  Bezirke  der  der  Stadtverjüngung 
bedürfenden  Orte,  welche  daselbst  eine  gartenmäfeige  Besiedlung 
in  dem  oben  dargelegten  Sinne  sichern. 

b)  Im  allgemeinen  Festhaltung  des  vorhandenen  fiskalischen 
Grundbesitzes  (namentlich  auch  der  Wälder)  und  Ueberfiihrung 
weiter  Gebiete  in  der  Umgebung  oder  in  den  äufseren  Bezirken 
der  der  Stadtverjüngung  bedürfenden  Orte  zu  billigen  Preisen  in  die 
Hand  des  Staates. 

c)  Planmäfsige  Hinausziehung  der  gewerblichen  und  dergleichen 
Unternehmungen , sowie  der  eine  solche  Verlegung  vertragenden 
Staats-  und  ähnlichen  Anstalten  aus  den  der  Stadtverjüngung  be- 
dürfenden Orten  heraus  in  deren  Umgebung  oder  äufsere  Bezirke, 
nachdem  hier  die  eben  unter  a und  b angeführten  Mafsrcgeln  ge- 
troffen worden  sind. 

d)  Aufschlicfsung  des  staatlichen  Besitzes  in  der  Umgebung 
oder  den  äufseren  Bezirken  der  der  Stadtverjüngung  bedürfenden 
Orte  durch  den  Staat  selber  und  Darbietung  dieses  Besitzes  zu 
billigen  Preisen  für  die  Hinausverlegung  der  Industrie  u.  dgl.  und 
für  die  Herbeiführung  gartenmäfsiger  Besiedlung  in  dem  hier  unter 
IV.  eingangs  dargelegten  Sinne. 

Hergabe  des  lindes,  soweit  möglich,  in  Erbbaurecht  oder  einer 
entsprechenden  Rechtsform. 

e)  Einsetzung  von  besonderen  Staatskommissaren  als  Organen 


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K.  v.  M a n g o 1 d t , 


zur  Entwicklung  der  Umgebung  bez.  der  äufseren  Bezirke  der  der 
Stadtverjüngung  bedürfenden  Orte  in  dem  eben  dargelegtcn  Sinne  und 
dementsprechend  zur  Erledigung  der  vorstehend  unter  a — d ange- 
führten Aufgaben.  Dabei  findet  in  gröfseren  Orten  der  Amtsbezirk 
der  Staatskommissare  bezüglich  der  Bebauungsbestimmungen  und 
der  I^mderwerbungen  an  der  städtischen  Gemarkung  seine  Grenze. 

f)  Zur  Unterstützung  der  Stadtverjüngung  möglichste  Aus- 
dehnung der  städtischen  Vorteile  der  der  Stadtverjüngung  bedürfenden 
Orte;  bessere  Armenpflege;  Wohlthätigkeit;  Gemeinnützigkeit;  Vor- 
träge; Bibliotheken;  Vergnügungen  u.  s.  w.  auch  auf  ihre  Umgebung. 
(Kulturausgleichung.) 

4.  Staatliche  Einwirkung  auf  die  Gemeinden  zwecks 
Förderung  der  kommunalen  und  der  staatlichen  Bodenpolitik. 

5.  Reform  des  Enteignungsrechts,  vor  allem  Einführung  des 
Enteignungsrechtes  für  die  Beschaffung  von  Baugelände  für  Wohn- 
stätten und  gewerbliche  Unternehmungen;  Einführung  der  Um- 
legung und  Zonenenteignung,  letztere  für  bebautes  wie 
unbebautes  Gelände. 

6.  Ausbildung  des  Erbbaurechts. 

7.  Einführung  einer  starken  Wert  zu  wachssteuer  für  den 
im  Werte  steigenden  Grundbesitz  und  der  Besteuerung  des 
städtischen  Haus-  und  Grundbesitzes  nach  dem  gemeinen 
Werte  statt  nach  dem  Ertrage. 

8.  Einige  weitere  Mafsregeln  verschiedenen  Cha- 
rakters z.  B.  bessere  Regelung  des  Taxationswesens  beim  Grund- 
besitz, richtige  Verwendung  des  freiwerdenden  Geländes  bei  Festungs- 
städten,  die  entfestigt  werden  u.  dgl.  m. 

Zweck  der  ganzen  Bodenpolitik : — Die  tiefgreifenden  Schä- 
digungen nach  Möglichkeit  zu  beseitigen  und  für  die  Zukunft  zu 
vermeiden , welche  das  gegenwärtige  privatrechtliche  und  privat- 
kapitalistische System  der  Stadterweiterung  und  seine  Hand- 
habung ausüben  auf  die  Wohnungs-  und  Ansiedlungsverhältnisse, 
die  Gesundheit,  die  Sittlichkeit,  die  moralischen  Verhältnisse,  die 
Einkommensverteilung,  die  Staats-  und  Gemeindefinanzen  u.  dgl.  m., 
und  statt  dessen  herbeizuführen  eine  durchgreifende  Verbesserung 
der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsverhältnisse,  eine  gerechtere  Ver- 
teilung der  Wertsteigerung  des  Grund  und  Bodens  in  anwachsenden 
Orten  u.  dgl.  m. 


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Ein  Reformprogramm  für  die  Wohnungs-  und  Ansiedlungsfrage  in  Deutschland.  j 2 1 


V.  Lokal-  und  Vorortverkehr. 

Umfassende  Entwicklung  und  Förderung  eines  ausgedehnten, 
häufigen,  schnellen  und  billigen  Lokal-  und  Vorort- 
verkehrs, insbesondere  durch  alle  hierfür  in  Betracht  kommenden 
öffentlichen  Stellen  und  zwar  da,  wo  nötig,  auch  nach  dem  Grund- 
sätze, dafs  das  Verkehrsmittel  dem  Verkehr  voranzugehen  habe. 
Jedoch  alle  Entwicklung  und  Förderung  von  Lokal-  und  Vorort- 
verkehr erst,  nachdem  durch  eine  durchgreifende  Bauordnungs-  und 
Bodenpolitik  in  den  betr.  Orten  und  Gegenden  gegen  die  sonst  im 
Gefolge  gesteigerten  Verkehrs  leicht  eintretenden  schweren  Mife- 
stände  auf  dem  Gebiete  der  Bodenfrage  Vorkehrung  getroffen 
worden  ist. 

Soweit  die  Rücksichtnahme  auf  Güte  und  Leistungsfähigkeit 
des  Betriebes  es  gestatten,  möglichst  weitgehende  U eber- 
nah  me  des  Lokal-  und  Vorortverkehrs  in  öffentlichen  Besitz, 
oder  wenigstens  starke  finanzielle  und  anderweitige  Einflufsnahme 
der  öffentlichen  Körperschaften  auf  ihn. 

Zweck  — die  Dezentralisation  möglichst  zu  fördern  und  da- 
durch einerseits  zur  Entstehung  mustergültiger  Viertel  in  den 
Aufsenorten  bez.  Aufsenteilen  unserer  städtischen  Niederlassungen 
. und  andererseits  zur  Entlastung  und  Verbesserung  der  Verhältnisse 
in  den  Innenorten  bez.  Innenteilen  beizutragen ; endlich  der  in 
gröfseren  Orten  lebenden  Bevölkerung  die  Vorteile  des  Landes, 
der  in  kleineren  Orten  lebenden  die  der  Stadt  möglichst  zu  ver- 
mitteln. 

Vl.  Hygienische  Einrichtungen;  Parks  und  Spielplätze. 

Schaffung  der  öffentlichen  hygienischen  Einrichtungen , wie 
Wasserleitung  und  Kanalisation,  wo  sie  notwendig  sind  und  noch 
fehlen;  und  reichliche  Schaffung  von  öffentlichen  Parks  und  nament- 
lich von  öffentlichen  Spiel-  und  Tummelplätzen. 

VII.  Wohnungsnachweis  und  Auskunftserteilung. 

Oeffentlicher  Wohnungsnachwcis  und  Erteilung  von  Auskunft 
in  Miet-  und  Wohnungsangelegenheiten  durch  kommunale  Wohnungs- 
ämter nach  Stuttgarter  Muster. 

VIII.  Mietrecht,  Mietprozefs  und  Zwangsvollstreckung. 

Reform  des  Mietrechtes,  des  Mietprozesses  und  der  Zwangs- 
vollstreckung und  zu  diesem  Zweck  insbesondere  Umwandlung 


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K.  v.  M a n g o 1 d t , 


einer  Anzahl  dispositiver  Vorschriften  des  Bürgerlichen  Gesetzbuchs 
in  zwingende. 

Zweck  — den  Mieter  vor  Unbilligkeiten  des  Mietvertrags  zu 
schützen,  der  Wohnung  und  ihrem  Inhaber  unter  allen  Umständen 
ein  solches  Mafs  von  Hausrat  u.  dgl.  zu  sichern,  dafs  die  Wohnung 
überhaupt  als  bewohnbar  gelten  kann,  endlich  den  Mietprozefs  zum 
Vorteile  sowohl  des  Hausbesitzers  wie  des  Mieters  zu  vereinfachen, 
zu  beschleunigen  und  zu  verbilligen. 

IX.  Wissenschaftliche  Aufgaben. 

Vertiefung  und  Verbreiterung  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
sowohl  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsverhältnisse  selber,  wie 
namentlich  der  sie  bedingenden  Ursachen  und  Kräfte  (wie  z.  B. 
des  gegenwärtigen  Systems  der  Stadterweiterung,  der  Thätigkeit 
des  Baugewerbes  und  der  dabei  mafsgebenden  Einflüsse  u.  dgl.  m.), 
sowie  der  geeigneten  Abhilfsmittel  gegen  die  Mifsstände. 

Andauernde  systematische  wissenschaftliche  Verfolgung,  Zu- 
sammenstellung und  Veröffentlichung  des  Standes  und  der  Ver- 
änderung der  wichtigsten  dieser  Dinge. 

X.  Erziehung  der  Bevölkerung. 

Erziehung  der  Bevölkerung  zur  richtigen  Wertschätzung  einer 
guten  Wohnung  und  zur  richtigen  Verwendung,  Pflege  und  Be- 
handlung der  Wohnungen  und  Grundstücke. 

Zu  diesem  Zweck  insbesondere: 

1.  Wohnungsinspektion  (s.  oben  unter  I.)  und  Förderung  der 
Baugenossenschaften  (siehe  oben  unter  111.);  ferner  entsprechende 
Mafsregcln  der  öffentlichen  Baupolitik  (siehe  oben  III.);  Anlage  von 
Schrebergärten  und  ähnliche  Mafsregeln. 

2.  Erziehliche  und  belehrende  Einwirkungen  (mittels  persön- 
lichen Verkehrs,  Vorträge,  Presse)  durch  gemeinnützig  gesinnte 
Einzelne,  Selbsthilfe  — , und  gemeinnützige  Vereinigungen,  Wohnungs- 
reformvereine, die  Organe  der  Arbeiterversicherung,  der  öffentlichen 
Verwaltung  u.  dgl.  m. 

3.  Da , wo  gartenmäfsige  Verhältnisse  in  Betracht  kommen, 
Anleitung  zum  Gartenbau  u.  dgl. 

XI.  Verschiedenes. 

Endlich  gehören  zur  gewerblichen  Wohnungs-  und  Ansiedlungs- 
reform einige  Mafsregeln  verschiedenen  Charakters,  von  denen  die 
folgenden  besonders  aufgeführt  seien : 


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Ein  Reformprogramm  für  die  Wohnungs-  und  Ansicdlungsfrage  in  Deutschland.  j 23 


a)  Einwirkungen  zwecks  Verbreitung  der  praktischsten  und 
besten  Baumaterialien  und  zwecks  technisch  und  künst- 
lerisch richtiger  Ausgestaltung  der  Häuser-  undWoh- 
n u n g e n , vielleicht  am  besten  erfolgend  durch  die  öffentlichen 
VVohnungsbanken  und  die  Baugenossenschaften  und  gemeinnützigen 
Baugesellschaften  (s.  oben  unter  III.). 

b)  Entwicklung  des  Baugenossenschaftsrechts,  unter 
anderem  Erklärung  eines  kleinen  Betrages  an  Baugenossenschafts- 
anteilen für  unpfandbar. 

c)  Bekämpfung  des  Bauschwindels  als  einer  Hauptursache 
der  technischen  Unsolidität  der  Häuser  und  Wohnungen  und  unge- 
sunder Bodenpreise. 


XII.  Ergänzung. 

Anregung  und  Betreibung  aller  sonst  noch  etwa  in  Betracht 
kommenden  Reformen  und  dadurch  Ergänzung  und  Vervollstän- 
digung  der  vorstehend  .unter  I — XI  angeführten  Mafsregeln  durch 
alle  überhaupt  zur  Herbeiführung  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungs- 
reform berufenen  Kräfte,  insbesondere  jedoch  durch  die  im  nach- 
stehenden Abschnitte  besonders  aufgeführten  Organe. 

2.  Organe  zur  Durchführung  der  gewerblichen  Wohnungs- 
und Ansiedlungsreform. 

Als  Organe  zur  Durchführung  der  gewerblichen  Wohnungs-  und 
Ansiedlungsreform  haben  alle  bestehenden  berufenen  Kräfte  und 
Stellen  überhaupt  zu  wirken,  also  namentlich  ein  grofser  Teil  der 
Organe  der  inneren  Staatsverwaltung  und  der  Konimunalverwaltung, 
zahlreiche  Organe  der  Selbsthilfe  und  Gemeinnützigkeit,  wie  z.  B. 
die  Baugenossenschaften  und  die  gemeinnützigen  Baugesellschaften, 
viele  Einzelpersonen  u.  dgl.  m.  Aufser  diesen  bestehenden  Kräften 
sind  jedoch  eine  Reihe  Organe  teils  ganz  neu  zu  schaffen,  teils 
nach  vorhandenen  Vorbildern  zu  vermehren  und  auszudehnen.  Es 
sind  dies  namentlich  die  nachstehend  unter  I.  und  II.  angeführten 
Organe.  Uebrigens  werden  diese  Organe  zum  grofsen  Teil  aufser 
der  gewerblichen  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  auch  der 
landwirtschaftlichen  zu  dienen  haben,  besonders  dann,  wenn  diese 
letztere  selbständig  und  nicht  als  Stück  einer  grofsen  Agrarreform 
durchgeführt  wird. 


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K.  v.  M a n g o 1 d t , 


I.  Organe  der  staatlichen  und  kommunalen  Verwaltung. 

1.  Ein  Reichs  Wohnungsamt,  eventuell  durch  Zusammen- 
fassung der  bereits  jetzt  in  dieser  Richtung  vorhandenen  Ansätze, 
nämlich  der  Abteilung  für  YVohnungshygiene  beim  Reichsgesund- 
heitsratc,  der  Untersuchungen  der  YVohnungsverhältnisse  durch  das 
ncugeschaffene  Kaiserliche  Sozialstatistische  Amt,  der  Abteilung  für 
Wohnungswesen  im  Reichsamte  des  Innern. 

2.  Besondere  einzelstaatliche  Ministcrialabteilungen  als  Landes- 
zentralstellen für  das  Wohnungs-  und  Ansiedlungswesen, 
namentlich  mit  der  Aufgabe,  die  ganze  Reform  zu  beleben  und  zu 
betreiben,  und  in  verschiedenen  Richtungen  als  Oberbehörde  für  sie 
zu  dienen. 

Ferner  Durchsetzung  der  inneren  Verwaltung  in  ihren 
verschiedenen  Stufen  (insbes.  auch  der  Verwaltung  der  Domänen  und 
Forsten)  mit  Beamten,  denen  die  Förderung  der  Wohnungs-  und 
Ansiedlungsreform  als  besondere  Aufgabe  gestellt  ist,  und  die 
hierauf  besonders  eingearbeitet  sind.  Besondere  Thätigkeit  der 
Kreisärzte  und  Gesundheitskommissionen  in  dieser  Richtung. 

3.  V\' o h n u n g s i n s p e k t o r e n , Wo  h n u n g s k o m m i ssi o n e n 
u.  dgl.  zur  Durchführung  der  Wohnungsinspektion. 

4.  Kommunale  Wohnungsämter  und  zwar  mit  folgenden 
Aufgaben : 

a)  W?ohnungsinspektion, 

b)  Wohnungsvermittlung, 

c)  Auskunfterteilung  in  Miet-  und  Wohnungsangelegenheiten. 

d)  Wissenschaftliche  Bearbeitung  der  die  Wohnungs-  und  An- 
siedlungsverhältnisse betr.  Fragen,  (da,  wo  ein  statistisches  Amt 
vorhanden  ist,  unter  besonderer  Beziehung  zu  diesem)  und  Thätig- 
keit als  Zentralstelle  der  kommunalen  Wohnungs-  und  Ansiedlungs- 
reform. 

5.  O e f f e n 1 1 i c h e W o h n u n g s b a n k e n je  etwa  für  den  Um- 
fang einer  Provinz,  als  Zentralstellen  der  Geldgewährung,  Beratung 
und  Beeinflussung  für  die  sozialpolitische  Regelung  der  Wohnungs- 
erstellung. 

Eventuell  als  Vorstufen  dieser  Banken : Entwicklung  der  Landes- 
Versicherungsanstalten  in  dieser  Richtung. 

6.  Staatskommissare  zur  Durchführung  der  Stadtver- 
jüngung (s.  oben  unter  „Bodenpolitik“). 

7 . Mietschiedsgerichte. 


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Ein  Kcformprogramni  für  die  Wohnungs-  und  Ansiedlungsfragc  in  Deutschland.  125 

II.  Organe  der  Selbsthilfe  und  Gemeinnützigkeit. 

Vorbemerkung:  Im  Nachfolgenden  sind  die  zur  Abhilfe 
gegenüber  den  Mifsständen  auf  dem  Arbeitsfelde  der  gewerblichen 
Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  berufenen  Organe  der  Selbst- 
hilfe und  der  Gemeinnützigkeit  nicht  entfernt  erschöpft.  Es  soll 
vielmehr  nur  eine  Aufzählung  der  wichtigsten  neu  zu  schaffenden 
oder  durch  neue  Angliederung  zu  vermehrenden  Organe  dieser  Art 
gegeben  werden. 

1.  Baugenossenschaften,  gemeinnützige  Baugesell- 
schaften u.  dgl.  nicht  nur  zur  Mitwirkung  bei  der  sozialpolitischen 
Regelung  der  Wohnungserstellung,  sondern  auch  als  Muster,  Vorbilder 
und  Bundesgenossen  bei  der  Durchführung  eines  grofsen  Teils  der 
sonstigen  Mafsregcln  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform,  insbes. 
auf  bautechnisehem  und  künstlerischem  Gebiete  und  bei  der  Er- 
ziehung der  Bevölkerung. 

2.  Nach  dem  Muster  des  „Rheinischen  Vereins  zur  Förderung 
des  Arbciterwohnungswesens"  und  unter  starker  Anteilnahme  der 
Behörden  freie  Vereinigungen  der  in  derWohnungs-  und  An- 
siedlungsreform Thätigen  und  sonstiger  Interessenten  für  gröfsere 
Bezirke  (etwa  Provinzen,  in  kleineren  Bundesstaaten  das  Gebiet 
eines  oder  mehrerer  Staaten)  zur  Förderung  des  gesamten  Wohnungs- 
und Ansiedlungswesens  durch  theoretische  und  praktische  Thätigkeit. 

3.  Oertliche  Vereine  zur  Betreibung  der  ganzen  Wohnungs- 
und Ansiedlungsreform , insbes.  nach  der  agitatorischen  und  nach 
der  lokalen  Seite  hin. 

4.  Ein  Zentral  verein  für  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  : 
Uebernahme  dieser  Thätigkeit  durch  den  „Verein  Reichs- Wohnungs- 
gesetz". 

5.  In  Zwischenräumen  von  mehreren  Jahren  jeweils  ein  all- 
gemeiner deutscher  Wohnungskongrefs. 

6.  Eine  vermehrte  Zahl  von  Einzelpersonen  als  Träger  der 
Wohnungs-  und  Ansicdlnngsreforni,  insbes.  aus  den  Ständen,  denen 
ihr  Beruf  die  Förderung  der  Wohnungs-  und  Ansiedlungsrcform 
besonders  nahe  legt,  wie  Geistliche,  Arbeitgeber  u.  dgl. 


C.  Die  landwirtschaftliche  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform. 

Die  landwirtschaftliche  Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  er- 
streckt sich  grundsätzlich  auf  die  im  Hauptberufe  in  [.and-  und 


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126  K.  v.  Mangold t,  F.in  Reformprogramm  für  die  Wohnungsfrage  etc. 


Forstwirtschaft,  Gärtnerei  und  Tierzucht  thätige  Bevölkerung  nebst 
ihren  Angehörigen  u.  s.  w.,  sowie  auf  alle  diesem  Teil  der  Wohnungs- 
und Ansiedlungsreform  etwa  sonst  noch  innerlich  zugehörigen  oder 
ihm  besonders  zugewiesenen  Bevölkerungsgruppen  und  -teile.  Sie 
ist  in  erster  Linie  zu  erstreben  als  Stück  einer  grofsen  Agrarreform. 
In  Ermangelung  einer  solchen  ist  indes  eine  selbständige  landwirt- 
schaftliche Wohnungs-  und  Ansiedlungsreform  durchzuführen  mit 
einer  Reihe  verschiedener  Malsregeln,  von  denen  nur  ganz  kurz  die 
folgenden  genannt  seien: 

1.  Wohnungsinspektion. 

2.  Allgemeine  Revision  der  Bauordnungen  und  Bebauungspläne 
namentlich  unter  hygienischen  Gesichtspunkten. 

3.  Förderung  der  Erstellung  besserer  Wohnungen  durch  die 
öffentlichen  Wohnungsbanken  der  gewerblichen  Wohnungs-  und 
Ansiedlungsreform  oder  durch  entsprechende  landwirtschaftliche 
Einrichtungen,  namentlich  mittels  weitgehender  Kreditgewährung. 
In  diesem  Zusammenhänge  Bereitstellung  besonderer  öffentlicher 
Mittel  für  die  Gewährung  des  letzten  notwendigen  Teiles  des  Bau- 
geldes bez.  der  Hypotheken,  in  geeigneten  Fällen. 

Event.  Entwicklung  der  Landesvcrsicherungsanstalten  in  der 
Richtung  des  vorstehenden  Absatzes  hier  unter  3. 

4.  Verbesserung  der  öffentlichen  hygienischen  Einrichtungen. 

5.  Einwirkungen  behufs  Verbreitung  der  praktischsten  und 
besten  Baumaterialien  und  behufs  technisch  und  künstlerisch  richtiger 
Ausgestaltung  der  Häuser  und  Wohnungen. 

6.  Vermehrung  und  Vertiefung  der  wissenschaftlichen  Erkennt- 
nis der  landwirtschaftlichen  Wohnungs-  und  Ansiedlungsverhältnisse 
selber  und  der  sie  bedingenden  Ursachen  und  Kräfte,  sowie  der 
geeigneten  Abhilfsmittel  gegen  die  Mifsstände.  Andauernde  systema- 
tische wissenschaftliche  Verfolgung,  Zusammenstellung  und  Ver- 
öffentlichung des  Standes  und  der  Veränderung  der  wichtigsten 
dieser  Dinge. 

7.  Erziehung  der  Bevölkerung  zur  richtigen  Wertschätzung  einer 
guten  Wohnung  und  zur  richtigen  sorgsamen  Pflege  und  Behand- 
lung der  Wohnungen  und  Grundstücke. 


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Der  Gesetzentwurf  betreffend  Kaufmannsgerichte. 

Von 

Dr.  k.  flesch, 

Stadtrat  in  Frankfurt  a.  M. 

Vor  kurzem  ist  der  Gesetzentwurf  betreffend  Kaufmanns- 
gerichte veröffentlicht  worden . der  zur  Zeit  dem  Bundesrat 
zur  Beschluisfassung  vorliegt,  um  demnächst,  hoffentlich  noch  in 
der  laufenden  Tagung  an  den  Reichstag  zu  gelangen.  Der  Gesetz- 
entwurf sieht  in  § I Abs.  I vor,  dafs  Gemeinden  von  mehr  als 
20000  Einwohnern  gehalten  sein  sollen,  zur  Entscheidung  von 
Streitigkeiten  aus  dem  kaufmännischen  Dienst-  und  Lehrverhältnis 
Kaufmannsgerichte  zu  errichten.  Für  den  Vorgang  bei  der  Er- 
richtung (§  i Abs.  2 — 8),  sowie  demnächst  für  die  Zuständigkeit 
der  neuen  Gerichte  (§  3),  ferner  für  das  Verfahren  vor  denselben 
(§  13)  und  endlich  auch  für  die  Tragung  der  Kosten  der  Ein- 
richtung und  Unterhaltung  des  Gerichts  gelten  genau  die  gleichen 
Bestimmungen  wie  für  die  Gewerbegerichte.  Ebenso  sind  auch 
die  Vorschriften  über  die  aktive  und  passive  Wahifähigkeit  fast 
analog  denjenigen,  die  bei  den  G.G.  gelten  (§§  4 — 11);  die  über 
die  Wahl  der  Beisitzer  (§  12)  sind  die  gleichen,  und  es  haben  die 
neuen  Kaufmannsgerichte  bezüglich  der  Erteilung  von  Gutachten 
und  der  Stellung  von  Anträgen  genau  die  analoge  Stellung  wie 
die  Gewerbegerichte  (8  14).  Endlich  ist  auch  noch  vorgesehen, 
dafs  da,  wo  ein  zuständiges  Kaufmannsgericht  nicht  vorhanden  ist, 
ein  dem  § 76  G.G.G.  nachgebildetes  Verfahren  vor  dem  Gemeinde- 
vorsteher cingefuhrt  werden  soll  (§  1 5).  — Was  der  Entwurf  bringt, 
ist  also  nicht  etwa  eine  Kompetenzcrweitcrung  der  Gewerbe- 
gerichte, sondern  die  Einführung  einer  neuen  Art  Gerichte,  die 
allerdings  bis  ins  einzelne  den  Gewerbegerichten  nachgebildet  sind. 


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1 28 


K.  Fl  esc h, 


und  die  sogar  in  der  Regel  äufserlich,  gewissermafsen  durch  Per- 
sonalunion mit  den  Gewerbegerichten  verbunden  sein  sollen,  t;  7 
Abs.  3 verordnet: 

„Besteht  am  Sitze  des  Kaufmannsgerichts  ein  auf  Grund 
des  § 1 oder  des  § 2 des  G.G.G.  errichtetes  G.G.,  so  sind 
in  der  Regel  dessen  Vorsitzender  und  sein  Stellvertreter 
zum  Vorsitzenden  und  zu  stellvertretenden  Vorsitzenden  des 
Kaufmannsgerichts  zu  bestellen,  auch  gemeinsame  Einrich- 
tungen für  die  Gerichtsschreiberei,  den  Bureaudienst,  die 
Sitzungs-  und  Bureauräumlichkeiten  u.  dergl.  zu  treffen.'- 

Lediglich  in  einer  Beziehung  sollen  die  Kaufmannsgerichte 
hinter  den  G.G.  zurückstehen;  die  Thätigkeit  als  Einigungsamt 
(§§  62  ff.  G.G.G.)  ist  ihnen  nach  dem  Entwurf  nicht  zugeteilt, 
vielleicht  weil  man  die  Möglichkeit  von  Kollektivstreitigkeiten 
zwischen  Handlungsgehilfen  und  Kaufleuten  für  weniger  nahe- 
liegend hält.  Dagegen  ist  ihre  Thätigkeit  in  so  fern  ausgedehnter, 
als  die  Gewerbegerichte,  als  die  Handlungsgehilfen  bis  zu  einem 
Gehalt  von  3000  Mk.  ihnen  unterstellt  sind  (§  2). 

Versucht  man  eine  Kritik  dieses  Entwurfs,  so  wird  sich  die- 
selbe relativ  wenig  auf  einzelne  Bestimmungen  zu  richten  haben 
denn  diese  sind,  wie  wir  gesehen  haben,  fast  durchweg  dieselben 
wie  bei  dem  G.G.G.  Es  wird  sich  vielmehr  zunächst  vom  prinzi- 
piellen Standpunkt  aus  wesentlich  fragen,  ob  es  richtig  ist,  wenn 
hier  in  die  bunte  Karte  unserer  Gerichtsverfassung  wiederum  eine 
neue  Earbe  eingetragen  wird:  und  sodann  vom  Standpunkt  der 
Praxis  und  der  Erfahrungen,  die,  sei  es  bei  Amtsgerichten,  sei  es 
bei  Gewerbegerichten  gewonnen  sind,  ob  anzunehmen  ist,  dafs  der 
Entwurf  dem  praktischen  Bedürfnis  der  Rechtsuchenden  entsprechen 
wird  ? 

Was  nun  zunächst  die  prinzipielle  Frage  angeht,  so  ist  es  er- 
sichtlich, dafs  der  Entwurf  einen  Zustand  schafft,  der  sich  den 
Wünschen  der  Freunde  der  Gewerbegerichte  und  den  Forderungen 
der  Mehrzahl  der  Handlungsgehilfen1)  jedenfalls  bis  zu  einem 
gewissen  Grad  annähert.  Die  Zentrumsabgeordneten  Hitze  und 
Trimborn,  die  bereits  in  der  Sitzung  des  Reichstags  vom  29.  Januar 

In  Band  7 der  Schriften  des  deutsch-nationalen  Handlungsgehilfen  Verbundes : 
„Kaufmännische  Schiedsgerichte“  wird  p.  49  berichtet,  dafs  nun  zwar  456 
kaufmännische  Vereine  mit  103118  Gehilfen  sich  für  den  Anschlufs  an  die  Amts- 
gerichte, dagegen  1603  Vereine  mit  121  424  Gehilfen  die  Bildung  völlig  selbständiger 
Gerichte  oder  Anschlufs  an  die  G.G.  vorgezogen  hätten. 


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Der  Gesetzentwurf  betreffend  Kaufmannsgerichte.  \2Q 

gewissen  Grad  annähert.  Die  Zentrumsabgeordneten  Hitze  und 
Trimborn,  die  bereits  in  der  Sitzung  des  Reichstags  vom  29.  Januar 
1902  sich  für  den  Anschlufs  der  kaufmännischen  Schiedsgerichte 
an  die  Gewerbegerichte  erklärt  haben,  werden  durch  denselben 
eher  befriedigt  sein,  als  diejenigen , die  höchstens  die  Errichtung 
kaufmännischer  Schiedsgerichte  bei  den  Amtsgerichten  zugeben 
wollten.  Andererseits  schafft  aber  der  Entwurf  auch  nicht  die 
kaufmännischen  Gewerbegerichte,  wie  sie  z.  B.  der  Zentralverband 
der  Handlungsgehilfen  und  -gehilfinnen  Deutschlands  gefordert 
hatten.  ’)  Er  stellt  also  eine  Art  Kompromifs  dar,  aber  ein  Kom- 
promifs,  das  den  Kaufleuten  — abgesehen  von  der  Funktion  des 
G.G.  als  Einigungsamt  — die  wesentlichsten  Errungenschaften 
bringt,  welche  die  Gewerbegerichte  so  populär  gemacht  haben, 
und  das  also  von  allen  Freunden  der  Gewerbegerichte  unbedingt 
als  ein  Fortschritt  anerkannt  werden  mufs.  Die  Punkte,  durch 
welche  das  Gewerbegericht  sozialpolitisch  einen  Vorzug  vor  dem 
Amtsgericht  bedeutet,  sind  ja  nicht  etwa  in  erster  Linie  die  Billig- 
keit und  Schnelligkeit  des  Verfahrens,  die  schliefslich  nur  eine 
Geldfrage  darstellen  und  bei  den  Amtsgerichten  sofort  zu  erreichen 
w’ären,  wenn  der  Staat  auf  einen  Anteil  der  Gerichtsgebühren  ver- 
zichten und  die  Anzahl  der  Richterstellen  entsprechend  vermehren 
wollte.  Auch  die  Teilnahme  der  I^iien  an  der  Rechtsprechung,  die 
sowohl  bei  den  Handelsgerichten  als  auch  bei  den  Schöffengerichten 
und  Schwurgerichten  bereits  in  den  verschiedensten  Formen  er- 
reicht ist,  bildet  nicht  das  wesentliche  Moment;  ganz  abgesehen 
davon,  dafs  die  „Iaien",  die  an  diesen  Gerichten  teilnehmcn,  in 
der  Heranziehung  weit  mehr  eine  Last,  als  ein  wertvolles  politisches 
Recht  erblicken.  Ich  kann  in  dieser  Beziehung  statt  weiterer  Aus- 
führungen vielleicht  an  die  Darlegungen  erinnern,  die  ich  seiner 
Zeit  hierüber  an  anderer  Stelle  -)  gemacht  habe : 

Während  aber  die  Forderung  der  „Zulassung  der  Laien“  — richtiger 
wäre  wohl  der  Besitzenden,  da  ja  Schöffen,  Geschworene.  Handelsrichter 
keinerlei  Entschädigung  erhalten,  Unbemittelte  also  gar  nicht  teilnehmen 
können  — nur  der  Ausdruck  eines  ganz  allgemeinen  politischen  Postulats, 
der  Selbstverwaltung,  war,  besteht  für  die  durch  die  G.G.  zuerst  aufge- 
rolltc  Frage  der  Teilnahme  der  Nichtbesitzenden  an  der  Recht- 
sprechung ein  inneres,  juristisch  und  volkswirtschaftlich  genau  definierbares 

*)  Vgl.  den  Entwurf  im  Handlungsgchilfenblatt  vom  I.  Dezember  1902. 

*)  Das  Gewerbegericht,  Jahrgang  VU  p.  170  fr.  „Gewerbegerichte  und  Amts- 
gerichte.“ 

Archiv  für  *or.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  9 


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30 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


Prinzip.  Sic  müssen  beteiligt  werden  an  der  Rechtsprechung  über  die- 
jenigen Verhältnisse,  welche  für  ihre  Lebenshaltung  grundlegend  sind,  und 
bei  denen  sich  zugleich  die  Unterschiede  der  wirtschaftlichen  Lage  am 
schroffsten  und  häufigsten  zeigen,  d.  h.  bei  der  Rechtsprechung  aus  dem 
Arbeitsvertrag.  Die  Zuziehung  der  Arbeitgeber  ist  gewissermafsen  nur  die 
Folge  davon,  dafs  man  die  Arbeiter  heranzicht ; jene  selbst  haben  die 
Teilnahme  nie  gesucht.  Selbstverständlich  erschöpft  sich  hiernach  das 
Prinzip  der  G.G.  nicht  mit  dem  engen,  rein  zufällig  und  formalistisch  ab- 
gegrenzten  Umfang  des  Titels  7 der  G.O.  Die  Dienstbotenstreitigkeiten, 
die  Streitigkeiten  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter,  der  kaufmännischen 
Gehilfen  mit  den  Herrschaften,  Dienstherren,  Prinzipalen  stehen  genau 
auf  der  gleichen  Linie. 

Eine  Gerichtsverfassung,  welche  die  aus  dem  gleichen  Rechtsverhältnis 
entspringenden  und  unter  denselben  wirtschaftlichen  Klassen  sich  ab- 
spielcnden  Rechtsstreitigkeiten  trennt  und  verschiedenen  Gerichten  zuweist, 
ist  widersinnig,  — während  andererseits  die  Frage,  wer  den  Gehalt  der 
Richter,  die  Gebühren  der  Beisitzer,  die  sachlichen  Kosten  zu  bezahlen 
hat,  ob  der  Staat  oder  die  Gemeinde,  vom  Standpunkt  der  Rcchtspolitik 
aus  ziemlich  gleichgültig  ist.  Die  G.G.  sind  also  nur  ein  Anfang.  Sie 
verlangen  die  Ergänzung  zu  Arbeitsgerichten.  Und  wenn  der  Arbeits- 
vertrag nach  der  Organisation  unserer  Volkswirtschaft  eine  besondere 
Stellung  neben  allen  anderen  Verträgen  einnimmt,  so  ist  die  Forderung, 
dafs  für  ihn  eigene  Gerichte  bestehen,  gewifs  keine  unberechtigte.“ 

Die  Forderung,  die  hiernach  zu  erheben  wäre,  dafs  nämlich 
nicht  Kaufmannsgerichte  neben  Gewerbegerichte  gestellt,  sondern 
dafs  statt  beider,  und  statt  der,  der  Analogie  nach  gleichfalls  noch 
notwendiger,  weiterer  Sondergerichte  für  Dienstboten,  landwirtschaft- 
lichen Arbeiter  u.  s.  w.  Arbeitsgerichte  gebildet  würden,  kann 
sich  sogar  anscheinend  auch  auf  die  gewifs  nicht  verächtliche  Au- 
torität des  Herrn  Staatssekretär  von  Posadowsky  stützen,  der  bei 
der  Debatte  über  die  Ausdehnung  der  Gewerbegerichte,  die  gelegent- 
lich der  Beratung  der  Seemannsordnung  (Sitzung  des  Reichstags 
vom  14.  April  1908)  angeregt  ward,  sich  wie  folgt  äufserte: 

Wenn  ich  meine  persönliche  Meinung  aussprechen  darf,  so  wäre  viel- 
leicht bei  dieser  Sachlage  ein  geeigneter  Weg,  um  das  Ziel  zu  erreichen, 
was  der  vorliegende  Antrag  erreichen  will,  in  Zukunft  ganz  allgemein 
für  Ansprüche  aus  Vertragsverhältnissen  zwischen  Arbeit- 
gebern und  Arbeitnehmern  für  alle  Lohnansprüchc,  und 
was  mit  diesen  zusammenhängt,  bei  den  Amtsgerichten  ein  besonders  be- 
schleunigtes und  wesentlich  billigeres  Verfahren  für  alle  Lohnansprüche 
aus  dem  Arbeitsverhältnis  einführen,  mit  Ausnahme  selbstverständlich  derer, 
die  vor  den  jetzt  schon  bestehenden  G.G.  ihre  Erledigung  finden.  Ich 


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K.  Fl c sch,  Der  Gesetzentwurf  betreffend  Kaufmannsgerichte.  I^I 

glaube,  wenn  es  möglich  wäre,  die  Frage  auf  diese  brei- 
tere Grundlage  zu  stellen,  so  würde  man  vielleicht  that- 
sächlich  mehr  erreichen  können. 

Der  Herr  Staatssekretär  erklärt  also,  ganz  wie  ich  es  ge- 
than  habe,  die  Bildung  besonderer  Arbeitsgerichte  für  wünschens- 
wert : allerdings  hätte  ich,  um  der  Meinungsübereinstimmung  mit 
einer  so  mafsgebenden  Persönlichkeit  froh  sein  zu  können,  ge- 
wünscht. dafs  er  sich  klar  darüber  ausgesprochen  hätte,  dafs  die 
Amtsgerichte,  die  er  zu  Arbeitsgerichten  machen  will,  ebenso  mit 
freigewählten  Beisitzern  aus  den  beiden  Interessentenkreisen,  den 
Arbeitgebern  und  Arbeitern  versehen  sein,  dieselben  Befugnisse  zur 
Erteilung  von  Gutachten  und  zur  Stellung  von  Anträgen  haben, 
und  dasselbe  schleunige  und  billige  Verfahren  geniefsen  müssen, 
wie  es  jetzt  allein  die  Gewerbegerichte,  und  nicht  die  Amtsgerichte 
aufweisen  können;  m.  a.  W.:  ich  hätte  nichts  dagegen  einzuwenden, 
wenn  zu  Vorsitzenden  der  erweiterten  Gewerbegeriche  staatliche, 
unabsetzbare  Richter  ernannt,  und  wenn  die  Kosten  des  Gerichts 
anstatt  von  der  Gemeinde  vom  Staat  getragen  würden. 

Die  Folgerungen,  zu  denen  man  von  diesem  Standpunkt  aus 
in  Ansehung  des  Entwurfs  gelangt,  sind  klar. 

Der  Entwurf  schafft  keine  Arbeitsgerichte,  und  er  ändert  nichts 
an  der  jetzigen,  meines  Erachtens  zu  engen  Kompetenz  der  Ge- 
werbegerichte. Er  stellt  nur  neben  die  Gewerbegerichte  andere, 
formell  von  ihnen  unabhängige  Gerichte  für  eine  weitere  Kate- 
gorie von  Arbeitsstreitigkeiten.  Immerhin  aber  haben  die  neuen 
„Kaufmannsgerichte"  den  wesentlichen  und  charakteristischen  Vorzug 
der  Gewerbegerichte:  sie  beteiligen  die  Arbeiter  und  Arbeitgeber 
bei  der  Rechtsprechung  an  dem  für  sie  wichtigsten  Vertrag;  sie 
enthalten,  wie  die  Gewerbegerichte,  den  Anfang  zu  einer  Arbeits- 
kammer, zu  einer  gesetzlich  autorisierten  Stelle  für  die  Geltend- 
machung von  Wünschen  und  Forderungen  der  kaufmännischen 
Kreise.  Nach  beiden  Richtungen  schafft  der  Entwurf  einen  prin- 
zipiellen Fortschritt;  und  gerade  der  enge  Anschlufs  an  das  Vorbild 
der  Gewerbegerichte  stellt  aufser  Zweifel , dafs  dieser  prinzipielle 
Fortschritt  in  der  Praxis  sich  bewähren,  die  Rechtssicherheit  fördern 
und  für  unsere  wirtschaftliche  Entwicklung  von  Vorteil  sein  wird. 

Diesem  Resultat  gegenüber  sind  einige  andere  Fragen  von 
relativ  untergeordneter  Bedeutung,  die  noch  zu  erörtern  sind,  und 
die  sich  namentlich  beziehen  auf  das  Verhältnis  der  Kaufmanns- 
gerichte zu  dem  am  gleichen  Ort  bestehenden  Gewerbegerichte. 

9* 


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132 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich  : 


I.  Es  ward  bereits  gesagt,  dafs  die  Kalifmannsgerichte  und 
Gewerbegerichte  in  der  Regel  die  Vorsitzenden,  die  Gerichts- 
schreiberei und  Sitzungsräume  gemeinsam  haben  werden. 

In  grofsen  Städten  wird  dadurch  ein  Zustand  geschaffen,  der 
ganz  ähnlich  demjenigen  ist,  der  schon  jetzt  entsteht,  wenn  ein 
Gewerbegericht,  wie  dasjenige  in  Berlin,  in  nach  Berufsgruppen  ge- 
bildete Kammern  geteilt  ist.  Aehnlich;  aber  nicht  gleich;  denn 
ausgeschlossen  wäre  nach  dem  Entwurf  die  Verhandlung  eines 
kaufmännischen  Rechtsstreites  vor  dem  Gewerbegericht  oder  um- 
gekehrt; selbst  dann  wenn  der  vor  dem  einen  Gericht  geltend  ge- 
machte Anspruch  im  engsten  Zusammenhang  steht  mit  dem  vor 
dem  anderen  anhängigen  oder  anhängig  zu  machenden.  Man 
denke  an  den  Fall,  dafs  A.  gegen  einen  Kommis  und  einen  Ar- 
beiter wegen  Kontraktbruchs  klagt;  oder  dafs  umgekehrt  er  von 
beiden  auf  Entschädigung  wegen  vorzeitiger  Entlassung  verklagt 
wird,  nachdem  er  beide  gemeinschaftlich  beleidigt,  oder  zur  so- 
fortigen Auflösung  des  Arbeitsverhältnisses  gezwungen  haben  soll. 
Die  blofse  Thatsachc,  dafs  das  materielle  Recht  für  den  Kommis 
und  für  den  Arbeiter  nicht  dasselbe  ist,  rechtfertigt  es  doch  kaum, 
dafs  die  sonst  — vgl.  § 147  C.P.O.  — vorhandene  Möglichkeit  fehlt, 
die  Verbindung  von  Prozessen  derselben  oder  verschiedener 
Parteien  zum  Zweck  der  gleichzeitigen  Verhandlung  und 
Entscheidung  anzuordnen,  wenn  die  Ansprüche,  welche 
den  Gegenstand  dieser  Prozesse  bilden,  in  rechtlichem  Zu- 
sammenhang stehen. 

Es  wird  zu  erwägen  sein,  ob  nicht  diese  Möglichkeit  gegeben 
werden  soll;  wenngleich  sich  nicht  verkennen  läfst,  dafs,  solange 
Kaufmannsgericht  und  Gewerbegericht  formell  getrennte,  nur  in 
Personalunion  stehende  Behörden  sind,  die  Hilfe  nicht  eben  leicht 
zu  bringen  ist.-  Vielleicht  wäre  zu  sagen,  dafs  die  Verbindung  nur 
ausgesprochen  werden  darf  (nicht:  mufs) 

wenn  in  zwei  oder  mehreren  miteinander  in  rechtlichem 
Zusammenhang  stehenden  Prozessen,  von  denen  einer  vor 
das  Kaufmannsgericht,  ein  anderer  vor  das  Gewerbegericht 
gehört,  die  gleichzeitige  Verhandlung  vor  dem  einen  oder 
anderen  Gericht  von  allen  Parteien  verlangt  wird; 
und  dals  die  gleichzeitige  Verhandlung  nur  zulässig  ist, 

wenn  der  Antrag  auf  Verbindung  der  Verhandlung  spätestens 
im  ersten  Verhandlungstermin  jeder  der  zu  verbindenden 
Klagen  gestellt  ward, 


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K.  Liesch,  Der  Gesetzentwurf  betreffend  Kaufmansgerichte. 

und  dafs  endlich  das  Gericht,  das  auf  diese  Art  mit  einer  Sache 
befafst  ward,  für  die  es  an  sich  nicht  zuständig  ist, 

befugt  ist,  die  Trennung  der  ihm  zugewiesenen  Sache  von 
dem  bei  ihm  anhängigen  Rechtsstreit  jederzeit  anzuordnen, 
dafs  aber  im  übrigen  eine  Anfechtung  sowohl  dieses  Be- 
schlusses als  desjenigen,  durch  welchen  die  gleichzeitige 
Verhandlung  ausgesprochen  wird,  nicht  stattfindet;  der 
Rechtsstreit  vielmehr  mit  Verkündung  des  Beschlusses  als 
bei  dem  Gericht,  an  das  er  verwiesen  wird,  anhängig 
gilt. ') 

2.  Ebenso  nützlich  und  weniger  durch  zivilprozessuale  Bedenken 
erschwert  wäre  ferner  eine  Bestimmung,  nach  welcher  dem  Vor- 
sitzenden eines  Kaufmanns-  und  Gewerbegerichts  die  Möglichkeit 
gegeben  wurde, 

bei  Beratung  der  seitens  eines  dieser  Gerichte  zu  erstattenden 
Gutachten  eine  Vereinigung  der  beiden  Gerichte  zu  gemein- 
schaftlicher Beratung  eintreten  zu  lassen,  wenn  dies  nach 
dem  Inhalt  der  zur  gutachtlichen  Aeufserung  vorgelegten 
Frage  zwcckmäfsig  erscheint. 

3.  Etwas  einfacher,  als  in  Grofsstädten  wird  sich  das  Neben- 
einander von  Kaufmanns-  und  Gewerbegerichten  in  kleinen  Städten 
vollziehen.  Namentlich  werden  sich  die  Schwierigkeiten,  welche 
nach  dem  Entwurf  aus  der  Unmöglichkeit  der  Verbindung  von 
kaufmännischen  und  Gewerbestreitigkeiten  erwachsen,  sich  glatter 
erledigen,  wo  der  Vorsitzende  und  der  Gerichtsschreiber  in  den 
Verhandlungen  vor  beiden  Gerichten  dieselben  Personen  sind,  und 
die  Sitzungen  stets  am  selben  Tag,  im  selben  Lokal  und  unmittel- 
bar hintereinander  stattfinden ; und  wo  voraussichtlich  die  Arbeit- 
getftrrbeisitzer  fast  immer  dieselben  Personen  sein,  und  lediglich  in 
den  Personen  der  Arbeiterbeisitzer  ein  Wechsel  eintreten  wird, 
wenn  von  den  kaufmännischen  zu  gewerbegerichtlichen  Sachen  über- 
gegangen wird.  Die  Neuschaffung  der  Kaufmannsgerichte  wird 
sogar  die  Thätigkeit  dieser  kleinen  Gcwcrbegerichtc  günstig  beein- 
flussen, die  Zahl  der  im  ganzen  zu  verhandelnden  Sachen  wird  sich 
mehren,  und  die  Möglichkeit  zu  häufigeren  Sitzungen  und  zu 
schnellerer  Erledigung  der  Streitsachen  gegeben  sein.  Den  Nachteil 


*)  Die  letztere  Bestimmung  hätte  ihre  Analogie  in  dem,  ein  ähnliches  Ver- 
hältnis (Verweisung  einer  Klage  vom  Amtsgericht  an  das  Landgericht)  behandelnden 
§ 506  C.P.O. 


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'34 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


haben  höchstens  diejenigen  Beisitzer,  die  nur  dem  einen  oder  dem 
anderen  Gerichte  angehören;  denen  es  leicht  geschehen  kann,  dafs 
sie  wegen  einer  oder  zwei  Sachen  ihren  Vormittag  verlieren  müssen. 

Die  Frage  drängt  sich  unwillkürlich  auf,  ob  es  denn  notwendig 
ist,  die  formale  Trennung  der  beiden  Gerichte  auch  unter  solchen 
Umständen  beizubehalten.  Konnte  nicht,  wenn  man  auch  in  grofsen 
Städten  besondere  Kaufmannsgerichte  neben  den  Gewerbegerichten 
behalten  will,  doch  bestimmt  werden,  dafs 

„in  Städten,  welche  nach  der  jeweiligen  letzten  Volks- 
zählung weniger  als  50000  F.inwohner  hatten,  anstatt  ge- 
trennter Kaufmannsgerichte  und  Gewerbegerichte  ein  Kauf- 
manns- und  Gewerbegericht  errichtet  werden  kann? 
„Und  dafs  für  die  Wahlen  der  Arbeitgeberbeisitzer  zu  diesen  Ge- 
richten aufser  den  Kaufleuten  auch  die  selbständigen  Gewerbe- 
treibenden nach  Mafsnahme  des  § 9 des  Entwurfs  und  § 16  G.G.G. 
stimmberechtigt  sind , während  von  den  Beisitzern  der  Arbeiter  je 
die  Hälfte  aus  den  nach  Mafsnahme  des  Entwurfs  wahlberech- 
tigten Handlungsgehilfen  und  je  die  Hälfte  aus  den  nach  Mafsgabe 
des  G.G.G.  zuständigen  Arbeitern  gewählt  werden  mufs.“  Würde 
dann  noch  bestimmt,  dafs  die  als  Kläger  oder  Beklagten  auftretenden 
Arbeitnehmer  berechtigt  seien,  zu  verlangen,  dafs  mindestens  einer 
der  Arbeitnehmerbeisitzer  wie  sie  selbst  Kaufmann,  bezw.  gewerb- 
licher Arbeiter  sei , so  wäre  ein  Zustand  hergestellt , der  vielleicht 
gleichmäfsig  sowohl  die  Schwierigkeiten  vermiede,  welche  von  der 
blofsen  Ausdehnung  der  Kompetenz  der  Gewerbegerichte  be- 
fürchtet werden,  als  auch  diejenigen,  welche  sich  aus  dem  Neben- 
einanderbestehen von  Kaufmannsgerichten  und  Gewerbegerichten 
mit  Sicherheit  ergeben  müssen. 

4.  Wir  haben  bisher  einige  Konsequenzen  des  Grundprinzips 
des  Entwurfs,  (Trennung  der  Kaufmanns-  und  Gewerbegerichte)  be- 
trachtet. Wir  kommen  nunmehr  noch  zu  einigen  Einzelheiten,  von 
denen  eine  allerdings  gleichfalls  eine  Folge  dieser  Trennung  ist. 
Der  Vorsitzende  des  Kaufmannsgerichtes  darf  nach  § 8 des  Ent- 
wurfs kein  selbständiger  Kaufmann  sein.  Den  selbständigen  Kauf- 
leuten stehen  aber  gleich  nach  § 11  die  Mitglieder  des  Vorstands 
einer  Aktiengesellschaft,  einer  eingetragenen  Genossenschaft  oder 
einer  als  Kaufmann  geltenden  juristischen  Person,  sowie  die  Ge- 
schäftsführer einer  Gesellschaft  m.  b.  H.  Für  die  Vorsitzenden  der 
Gewerbegerichte  besteht  die  letztere  Vorschrift  nicht;  lediglich 
dürfen  sie  nach  § 12  G.G.G.  weder  Arbeitnehmer  noch  Arbeit- 


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K.  Flesch,  Oer  Gesetzentwurf  betreffend  Kaufmannsgerichte.  [jj 

geber  sein.  Nun  sollen  die  Vorsitzenden  des  Gewerbegerichts  nach 
§ 7 Abs.  3 auch  Vorsitzende  des  Kaufmannsgerichts  sein.  Die- 
jenigen unter  ihnen,  die  im  Vorstand  einer  der  unter  § 1 1 ge- 
nannten Korporationen  sind,  können  dies  aber  nicht.  Sie  werden  also, 
wenn  die  Einheit  des  Vorsitzenden  gewahrt  werden  soll,  auch  den 
Vorsitz  im  Gewerbegericht  nicht  mehr  ausüben  können.  Hierdurch 
werden  ausgeschlossen  alle  diejenigen,  die  ohne  eigenes  pekuniäres 
Interesse  die  Leitung  einer  Baugenossenschaft,  eines  Konsumvereins, 
einer  gemeinnützigen  Aktiengesellschaft  für  Wohnungen  u.  s.  w.  über- 
nommen haben.  — Ist  dies  notwendig  oder  beabsichtigt?  Genügte 
nicht  die  Vorschrift  des  § 8 für  sich  allein  vollständig,  soweit  die 
Vorsitzenden  in  Betracht  kommen  ? Oder  müfste  nicht  der  § 1 1 
einen  Zusatz  haben,  etwa  des  Inhalts,  dafs  er  sich  nicht  bezieht 

auf  diejenigen  zu  Vorsitzenden  von  Gewerbegerichten  oder 
Kaufmannsgerichten  gewählten  Personen,  welche  lediglich 
ehrenamtlich  eine  der  vorgenannten  Stellen  übernommen 
haben  ? 

Namentlich  in  kleineren  Orten  möchte  es  sich  leicht  ereignen, 
dals  gerade  diejenigen  Magistratsmitglieder  oder  der  Rechtsanwalt 
oder  Richter,  den  man  gern  um  die  Uebernahme  des  Vorsitzes  be- 
grüfsen  möchte,  zugleich  auch  bei  der  Leitung  einer  gemeinnützigen 
Korporation  der  gedachten  Art  beteiligt  ist. 

5.  Gleichfalls  zu  der  Frage  der  Besetzung  des  Gerichts  gehört 
die  bereits  erwähnte  Bestimmung,  welche  Handlungsgehilfen  von 
mehr  als  Mk.  3000  Gehalt  vom  Kaufmannsgericht  ausschliefst  (§  2 
des  Entwurfs),  während  im  übrigen  die  Voraussetzungen  der  Wähl- 
barkeit dieselben  sind,  wie  beim  G.G.  (§  7 Abs.  1 des  Entwurfs). 
Handlungsgehilfen  unter  30  Jahren  sind  also  überhaupt  nicht  wähl- 
bar (vgl.  G.G.G.  § 11),  und  solche  über  30  Jahre  — nur  wenn 
sie  weniger  als  Mk.  3000  Gehalt  haben ! Es  werden  also  gerade 
von  den  tüchtigeren  Handlungsgehilfen  recht  viele  von  der  Teil- 
nahme am  Kaufmannsgericht  ausgeschlossen;  die  einen  wegen  zu 
grofeer  Jugend,  die  anderen  wegen  zu  grofsen  Einkommens.  Die 
Analogie  mit  den  Arbeitern  und  mit  den  G.G.  stimmt  gerade  hier 
nicht,  ganz  abgesehen  davon,  dafs  auch  recht  tüchtige  Arbeiter  die 
im  G.G.G.  für  Betriebsbeamte,  Werkmeister  u.  s.  w.  gesetzte  Gehalts- 
grenze  von  Mk.  2000  selten  erreichen. 

6.  Weitere  Einzelheiten,  an  denen  eine  Besprechung  des  Entwurfs 
nicht  Vorbeigehen  darf,  sind  insbesondere  der  Ausschlufs  der  Zu- 
ständigkeit der  Kaufmannsgerichte  bei  Streitigkeiten  aus  der  soge- 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


nannten  Konkurrenzklausel  (§  3 Abs.  2 des  Entwurfs;  entsprechend 
§ 4 Abs.  2 G.G.G.)  und  die  Höhe  der  Berufungssumme,  die  mangels 
einer  anderen  abweichenden  Vorschrift  bei  den  Kaufmannsgerichten, 
wie  bei  dem  Gewerbegericht  (§  13  des  Entwurfs,  § 55  G.G.G.)  auf 
Mk.  100  anzunehmen  ist. 

Eis  wäre  vielleicht  richtiger  gewesen,  nachdem  doch  einmal 
die  Kaufmannsgerichte  formell  von  den  Gewerbegerichten  getrennt 
sind,  auch  in  diesen  beiden  Punkten,  ebenso  wie  bezüglich  des 
oben  erwähnten  Punktes  (Gehaltsgrenze  der  dem  Gericht  unter- 
worfenen Handlungsgehilfen)  nicht  einfach  die  Vorschriften,  die  für 
das  Gewerbegericht  bestehen,  zu  übernehmen. 

Vereinbarungen , welche  den  Arbeitnehmer  noch  über  das 
Dienstverhältnis  hinaus  beschränken,  werden  an  den  kaufmänni- 
schen Arbeitsvertrag  häufiger  angehängt,  als  an  die  Arbeitsverträge, 
die  mit  gewerblichen  Arbeitern  abgeschlossen  werden.  Die  für  ihre 
Rechtsgültigkeit  (nach  § 74  H.G.B.)  mafsgebend  Frage : 

ob  die  Beschränkung  nicht  nach  Zeit,  Ort  und  Gegenstand 
die  Grenzen  überschreitet,  durch  welche  eine  unbillige  Er- 
schwerung des  Fortkommens  des  Handlungsgehilfen  aus- 
geschlossen wird 

ist  sogar  vorzugsweise  geeignet,  den  Gegenstand  von  Streitfragen 
zu  bilden,  welche  die  Prinzipale  und  Gehilfen  verschieden  beurteilen. 
Ist  es  gerechtfertigt,  dal’s  diese  Streitfragen  jetzt,  wenn  es  sich  um 
mehr  als  Mk.  300  handelt,  von  den  Handelsgerichten,  d.  h.  unter 
Mitwirkung  von  kaufmännischen  Arbeitgebern  abgeurteilt  werden 
(§  101  e,  § 113  Gerichtsverfassungsgesetz);  und  dafs  für  Streitig- 
keiten der  gleichen  Art  aber  geringeren  Betrages  die  Mitwirkung 
von  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  völlig  ausgeschlossen  bleiben 
soll,  auch  nachdem  man  diese  Mitwirkung  für  andere  kauf- 
männischeArbeitsstreitigkeitenals  notwendig  erkannt  hat  ? 

Was  ferner  die  Berufungssumme  angeht,  so  bewegt  sich  bei 
den  Gewerbegerichten  die  Mehrzahl  der  Streitigkeiten  in  den  Grenzen 
von  etwa  20 — 60  Mk.,  als  den  Betrag  eines  zweiwöchentlichen 
Arbeitslohnes.  Für  Handlungsgehilfen  darf  die  vertragsmäfsige 
Kündigungsfrist  nicht  unter  einem  Monat  betragen  (§  67  H.G.B.) ; 
der  Schlufs  liegt  nahe,  dafs  mithin  die  I.ohnstreitigkeitcn  meistens 
einen  Monatslohn,  wenn  nicht  den  für  die  regelmäfsige  Kündigungs- 
frist (6  Wochen  § 66  H.G.B.)  erwachsenden  Betrag  zum  Gegen- 
stand haben  werden.  Hieraus  würde  aber  folgen,  dafs  die  — doch 
nicht  für  die  regelmäfsigen  Fälle  berechnete  — Berufungssumme 


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K.  Fl  c sch,  Der  Gesetzentwurf  betreffend  Kaufmannsgerichte. 


137 


mindestens  etwa  Mk.  300  betragen  sollte,  wenn  die  Kaufmanns- 
gerichte den  wirtschaftlichen  Verhältnissen  der  Handlungsgehilfen 
sich  ebenso  anpassen  sollen,  wie  die  Gewerbegerichte  denen  der 
Arbeiter  entsprechen. 

Immerhin  aber,  und  trotz  all  dieser  Erwägungen,  bleibt  das 
Gesamturteil  bestehen , dafs  nämlich  der  Entwurf,  selbst  wenn  er 
unverändert  angenommen  würde,  einen  wesentlichen  Fortschritt  dar- 
stellt. Möge  er  die  verschiedenen  Stadien,  die  ihn  zum  Gesetz 
umgestalten,  rasch  und  glücklich  durchlaufen,  und  möge  sich  hierbei 
Gelegenheit  finden,  auch  einige  der  hier  berührten  Punkte  zu  be- 
rücksichtigen. 


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Gesetzgeberisiche  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  des 
Wohnungswesens. 

Von 

Dr.  HUGO  LINDEMANN, 

in  Stuttgart-Degerloch. 

Wie  Hessen  der  erste  deutsche  Hundesstaat  gewesen  ist,  der 
die  Wohnungsinspektion  auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung  (durch 
das  Gesetz  vom  I.  Juli  1893)  geregelt  hat,  so  gebührt  ihm  auch 
das  Verdienst,  auf  dem  Gebiete  der  konstruktiven  Wohnungs- 
fürsorge als  erster  gesetzgeberisch  vorgegangen  zu  sein.  Die 
preufsische  Regierung  hat  sich  in  ihrem  bekannten  Erlasse  vom 
Jahre  1900  darauf  beschränkt,  ihren  nachgeordneten  Behörden 
und  den  Gemeinden  gute  Ratschläge  zu  geben,  zu  einer  wohnungs- 
reformerischen  Aktion  hat  sie  es  indes  mit  Ausnahme  des  Baues 
von  Wohnungen  für  ihre  Unterbeamten  bis  jetzt  noch  nicht  ge- 
bracht. Das  ist  vielleicht  bei  dem  Geiste,  der  in  den  preufsischen 
Ministerien  und  nicht  minder  im  preufsischen  Abgeordnetenhause 
herrscht,  kein  grofser  Fehler,  da  den  fortgeschrittenen  Elementen 
in  den  Regierungsbehörden  und  vor  allem  in  der  Kommunalver- 
waltung ein  viel  gröfserer  Spielraum  zur  Bethätigung  bleibt , als 
wenn  ihnen  durch  ein  reaktionäres  Gesetz  die  engsten  Grenzen 
gesteckt  wären.  In  den  preufsischen  Ministerialerlassen  wird  im 
wesentlichen  die  I,ast  der  Initiative  und  der  Ausführung  auf  die 
Gemeinden  geschoben.  Der  den  hessischen  Kammern  im  Vorjahre 
unterbreitete  und  von  ihnen  mit  geringen  Aenderungen  angenommene 
Gesetzentwurf  betreffend  die  Wohnungsfiirsorge  für  Minderbemittelte 
geht  von  dem  gleichen  Standpunkte  aus.  Auch  ihm  ist  der  Haupt- 
träger der  Wohnungsfürsorge  die  Gemeinde,  und  die  Begründung 
zu  dem  Entwürfe  erhärtet  diese  Ansicht  in  zutreffender  Weise.  „Die 


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H.  Lindemann,  Gesetzgeb.  Fortschritte  auf  d.  Gebiete  d.  Wohnungswesens.  j 

Frage  des  Bedürfnisses  nach  Wohnungen  für  Minderbemittelte  kann 
lediglich  nach  den  örtlichen  Verhältnissen  beantwortet  werden,  und 
demgemäfs  mufs  die  Fürsorge  der  öffentlichen  Organe  auf  diesem 
Gebiete  unbestreitbar  zunächst  den  Gemeinden  zugewiesen  werden, 
die  ihrerseits  mit  Vereinen,  Genossenschaften  oder  einzelnen  Per- 
sonen in  Verbindung  treten  können.  Je  mehr  hier  wie  auf  anderen 
Gebieten  der  sozialen  Fürsorge  die  zu  ergreifenden  Mafsregeln  den 
besonderen  örtlichen  Verhältnissen  angepafst  werden,  um  so  ge- 
wisser wird  auf  einen  Erfolg  und  den  Ausschlufs  von  Mifsgriffen  zu 
rechnen  sein.“  (Begr.  S.  5.)  Dem  Staate  wird  also  nur  eine  sub- 
sidiäre Rolle  zugeschrieben : er  soll  die  kommunale  Wohnungsfür- 
sorge für  Minderbemittelte  dadurch  fördern  und  sichern,  dafs  er 
unter  der  Voraussetzung  der  Zulänglichkeit  seiner  eigenen  Mittel 
den  Gemeinden  für  die  Zwecke  derselben  die  finanziellen  Mittel 
zur  Verfügung  stellt,  mit  denen  sie  ihrer  Aufgabe  gerecht  werden 
können.  Dadurch  wird  dann  zugleich  die  Stetigkeit  dieser  Fürsorge 
gewährleistet 

E$  ist  nur  ein  Teil  der  kommunalen  Wohnungsfürsorge,  der 
der  gesetzlichen  Regelung  unterworfen  wurde,  allerdings  ein 
sehr  wichtiger  und  für  die  grofse  Zahl  der  kleinen  Gemeinden 
vielleicht  der  wichtigste  — aber  immerhin  nur  ein  Teil.  Das  Ge- 
setz verzichtet  darauf,  einheitliche  Grundsätze  für  eine  kommunale 
Bodenpolitik,  die  sich  die  Bekämpfung  der  ungesunden  Boden- 
spekulation zur  Aufgabe  macht,  aufzustcllcn  und  vermeidet  es  auch, 
sich  über  die  Art  und  Weise  auszusprechen,  in  der  der  Gemeinde- 
grundbesitz am  besten  für  die  Besserung  der  Wohnungsverhältnisse 
nutzbar  gemacht  werden  könnte.  Ebensowenig  legt  es  den  Ge- 
meinden die  Verpflichtung  auf,  für  ihre  niederen  Beamten  und 
Arbeiter  oder  überhaupt  für  Minderbemittelte  Kleinwohnungen  her- 
zustellen, oder  Mafsregeln  für  die  Erleichterung  und  Verbilligung 
des  Vorortverkehrs  zu  treffen.  Kurz,  das  Gesetz  beschränkt  sich 
auf  die  Regelung  der  finanziellen  Seite,  der  Geldbeschaffung  für  die 
kommunale  Wohnungsfürsorge.  Die  Begründung  stellt  diese  Be- 
schränkung des  Gesetzes  als  einen  Vorzug  hin,  aber  selbst  vom 
Standpunkte  der  praktischen  Politik  aus  mufs  dieselbe  als  ein  Fehler 
bezeichnet  werden.  Den  Gemeinden  sollen  die  Mittel  für  ihre 
Wohnungspolitik  verschafft  werden,  dazu  kann  ihnen  der  Staat 
nicht  nur  auf  dem  Wege  direkter  Gewährung  staatlicher  Darlehen, 
sondern  ebenso  gut,  und  soweit  die  gröfseren,  schnell  aufblühenden 
Gemeinwesen  in  Frage  kommen,  sogar  besser  dadurch  verhelfen, 


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I40  Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 

dafs  er  ihnen  neue,  ergiebige  Steuerquellcn  erschliefst.  Wollte  er 
von  diesem  Mittel  Gebrauch  machen,  so  hätte  er  sich  allerdings 
auf  das  Gebiet  dpr  kommunalen  Bodenpolitik  begeben  müssen,  um 
in  der  Besteuerung  des  unverdienten  Wertzuwachses  eine  solche 
reichfliefsende  Steuerquelle  zu  entdecken.  Was  übrigens  den  Grund- 
satz der  Motive,  den  Gemeinden  keine  Verpflichtung  zur  eigenen 
Herstellung  von  Kleinwohnungen  aufzulegen , angeht,  so  hat  das 
Gesetz  selber  nicht  absolut  an  demselben  fcsthalten  können.  Es 
spricht  allerdings  keinen  direkten  Zwang  aus,  sucht  aber  das  gleiche 
Ziel  auf  indirektem  Wege  zu  erreichen.  Nach  Art.  5 kann  nämlich 
die  Gemeinde  auf  Antrag  einer  gemeinnützigen  Vereinigung,  die 
die  Erbauung  von  Wohnungen  für  Minderbemittelte  zur  Aufgabe 
hat,  durch  Erkenntnis  des  Kreisausschusses  für  verpflichtet  erklärt 
werden,  jener  die  erforderlichen  Mittel  als  Darlehen  zu  gewähren, 
falls  nämlich  auf  andere  Art  und  Weise  der  Mangel  an  kleinen 
Wohnungen  nicht  beseitigt  werden  kann.  Diese  Bestimmung,  deren 
prinzipielle,  von  den  Motiven  allerdings  sehr  gering  angeschlagene, 
Bedeutung  nicht  unterschätzt  werden  darf,  soll  als  Gegengewicht 
dienen  gegen  die  andere,  nach  der  Staatsdarlehen  zur  Förderung 
des  Kleinwohnungsbaues  von  seiten  der  Landeskreditkasse  nur  an 
die  Gemeinden  gegeben  werden  dürfen.  Mit  ihr  hat  auf  jeden  Fall 
der  Gesetzgeber  den  ersten  Schritt  gethan,  und  ausgesprochen,  dafs 
für  die  Gemeinden  eine  Verpflichtung  besteht  auf  dem  Gebiete  der 
eigentlichen  Wohnungsliirsorge  thätig  zu  sein,  mag  sich  diese  Ver- 
pflichtung auch  zunächst  in  der  Gewährung  von  Darlehen  an  die 
gemeinnützige  Bauthätigkeit  erschöpfen. 

Von  den  allgemeinen  Grundsätzen  des  Gesetzes  gehen  wir 
nunmehr  zu  einer  Besprechung  der  einzelnen  Artikel  über.  Den 
Gemeinden  soll  das  Recht  erteilt  werden,  bei  der  Landeskredit- 
kasse zur  Förderung  des  Baues  von  kleinen  Wohnungen  Darlehen 
bis  zum  vollen  Betrage  der  Kosten  für  den  Erwerb  des  Bau- 
geländes, sowie  für  die  Bauausführung  aufzunehmen.  Als  kleine  Woh- 
nungen gelten  solche,  die  in  der  Regel  nicht  mehr  als  drei  Zimmer 
nebst  Küche  und  Zubehör  enthalten;  doch  sollen  Ein-  und  Zwei- 
familienhäuser nicht  ausgeschlossen  sein.  Als  Darlehensempfänger 
treten  nur  die  Gemeinden  auf.  Von  seiten  des  hessischen  Zentral- 
vereines für  billige  Wohnungen  war  bei  den  Vorberatungen  des  Ent- 
wurfes der  Wunsch  ausgesprochen  worden,  der  gemeinnützigen  Bau- 
thätigkeit Darlehen  auch  unmittelbar  von  der  Landeskreditkasse 
gegen  Hypothekbestellung  zu  gewähren.  Die  Regierung  hat  aber 


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H.  Lindemann,  Gesetzgeb.  Fortschritte  auf  d.  Gebiete  d.  Wohnungswesens.  141 

dieser  Ausschaltung  der  Gemeinde  mit  Recht  nicht  zugestimmt. 
Ihr  gilt  die  Gemeinde  als  die  verantwortliche  Trägerin  der  Be- 
strebungen zur  Verbesserung  der  Wohnungsverhältnisse,  und  der 
Staat  soll  ihr  mit  seinem  Kredite  nur  helfend  und  fördernd  zur 
Seite  stehen.  Alles,  was  im  Stande  wäre,  das  Verantwortlichkeits- 
gefühl der  Gemeinde  in  dieser  Beziehung  zu  schwächen,  wie  z.  B. 
ein  unmittelbarer  Geldverkchr  zwischen  I-andeskreditkasse  und  den 
Bauvereinen,  mufs  daher  abgewiesen  werden.  Dafs  das  mangelhafte 
sozialpolitische  Verständnis  einer  Gemeindevertretung  die  Thätigkeit 
der  Bauvereine  um  so  leichter  zu  verzögern  oder  ganz  zu  hinter- 
treiben vermag,  je  mehr  dieselben  von  ihr  abhängig  sind,  kann 
ohne  weiteres  zugegeben  werden,  ohne  dafs  jedoch  daraus  ein 
Argument  gegen  die  Verinittlerthätigkeit  der  Gemeinde  abgeleitet 
werden  kann.  Wir  halten  es  für  einen  sehr  richtigen  Gedanken 
des  Gesetzes,  dafs  es  an  der  zentralen  Stellung  der  Gemeinde  auf 
dein  Gebiete  der  Wohnungsfürsorge  festhält  und  nicht,  wie  z.  B. 
Liebrecht  in  seinem  Vorschläge  in  den  Schriften  der  Zentralstelle 
für  Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen  eine  Ausschaltung  derselben 
zwischen  der  geldgebcnden  Instanz  (Staat  oder  Versicherungsanstalt) 
und  der  bauausführenden  (Bauverein  etc.)  anstrebt.  Wo  eine  Ge- 
meindeverwaltung infolge  ihrer  sozialpolitischen  Rückständigkeit  den 
Bestrebungen  der  gemeinnützigen  Bauthätigkeit  gegenüber  sich  ab- 
lehnend verhält,  wird  es  sich  stets  mehr  empfehlen,  dieselbe  sozial- 
politisch zu  erziehen  und  mit  sozialem  Geiste  erfüllen,  als  den  Ver- 
such zu  machen,  sie  an  die  Seite  zu  schieben.  Im  Kampfe  mit 
der  Gemeindeverwaltung  mufs  ein  privater  Verein  auf  die  Dauer 
den  Kürzeren  ziehen,  wenn  ihm  nicht  ganz  besondere  Machtmittel 
zur  Verfügung  stehen. 

Falls  eine  Gemeinde  nicht  selbst  bauen  will,  kann  sie  diese 
Aufgabe  an  gemeinnützige  Vereinigungen  übertragen,  und  dieselben 
durch  Darlehen  unterstützen,  die  sie  sich  von  der  Landeskredit- 
kasse verschafft  hat.  Hierfür  ist  natürlich  der  gute  Wille  der  Ge- 
meindeverwaltung die  Vorbedingung.  Um  aber  die  gemeinnützige 
Bauthätigkeit  nicht  ganz  und  gar  von  diesem  abhängig  zu  machen, 
giebt  das  Gesetz  ihr  das  Recht,  wie  bereits  oben  erwähnt,  durch 
Erkenntnis  des  Kreisausschusses  die  Verpflichtung  der  Gemeinde 
zur  Gewährung  eines  Darlehens  feststellen  zu  lassen.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  dafs  schon  das  Vorhandensein  einer  derartigen  Be- 
stimmung auf  die  widerstrebenden  Gemeinden  einen  starken  Druck 
auszuüben  imstande  ist,  und  es  daher  bei  wirklichem  Bedürfnis 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


nur  selten  zu  einem  Eingreifen  der  Verwaltungsgerichte  kommen 
dürfte.  Ist  dies  doch  der  Fall,  so  ist  von  den  Verwaltungsgerichten 
zunächst  einmal  das  Bedürfnis  festzustellen.  Die  Prüfung  desselben 
ist  also  dem  richterlichen  Ermessen  überlassen,  da  das  Gesetz 
keinen  Mafsstab  für  dasselbe  festlegt.  Das  ist  sicherlich  ein  Mangel. 
Es  mag  ja  schwierig  sein,  einen  derartigen  Mafsstab,  der  ein  ab- 
solut sicheres  Resultat  ergiebt,  zu  finden.  In  der  That  vermag  nur 
eine  statistische  Aufnahme  der  Wohnungen  ein  solches  zu  liefern, 
und  so  gelangen  wir  wieder  einmal  zu  der  Forderung  ständiger 
Wohnungsstatistik,  die  in  allen  Gemeinden  zu  fuhren  wäre.  Nur 
auf  Grund  des  statistischen  Materials  können  die  Verwaltungsge- 
richte zu  einem  sachgemäfsen  Urteile  kommen.  Das  Vorhanden- 
sein eines  Wohnungsnotstandes  läfst  sich  allgemein  ziemlich  leicht 
konstatieren.  Sobald  es  sich  aber  um  die  Art  und  die  genaue 
Gröfse  der  Wohnungsnot  handelt,  lassen  die  auf  mehr  oder  minder 
unsicheren  Merkmalen  beruhenden  Aussagen  der  Sachverständigen 
im  Stich.  Wie  wollen  z.  B.  die  Verwaltungsgerichte  entscheiden, 
ob  die  von  den  gemeinnützigen  Bauvereinen  geforderten  Summen 
dem  Bedürfnis  entsprechen  und  nicht,  wie  doch  auch  möglich,  über 
dasselbe  hinausgehen,  falls  ihnen  nicht  statistische  Daten  zur  Ver- 
fügung stehen  ? 

Das  Gesetz  will  das  Recht,  eine  solche  Erklärung  der  Zwangs- 
pflicht der  Gemeinde  herbeizufuhren,  nur  den  gemeinnützigen  Ver- 
einigungen zuschreiben.  Es  ist  also  nur  erforderlich,  dafs  sich  eine 
beliebige  Zahl  von  Einwohnern  zu  einer  gemeinnützigen  Baugenossen- 
schaft zusammenschliefst,  um  die  Gemeinde  zu  einem  Darlehen  zu 
zwingen.  Nun  kann  aber  die  Gemeinde  dafür,  dafs  die  Genossen- 
schaft eine  bona  fide-Genossenschaft  und  nicht  nur  ein  Werkzeug  in 
den  Händen  eines  spekulierenden  Grundbesitzers  ist,  niemals  eine 
Garantie  haben  und  kein  Gesetz  kann  ihr  eine  solche  gewähren. 
Jederzeit  liegt  also  die  Gefahr  vor,  dafs  die  Gelder  der  Gemeinde 
bezw.  der  Landeskreditkasse  privaten  Interessen  dienstbar  gemacht 
werden.  Daran  ändern  auch  die  Bestimmungen  nichts,  dafs  die 
Gemeinde  ein  Baudarlehen  nur  gewähren  darf,  wenn  eine  zweck- 
entsprechende Benutzung  der  herzustellenden  Wohnungen  gewähr- 
leistet ist,  und  im  Falle  des  Mifsbrauches  Gebäude  und  Grund  und 
Boden  auf  dem  Wege  der  Zwangsenteignung  an  sich  ziehen  darf. 
Aus  allen  diesen  Gründen  erscheint  es  uns  bedenklich,  eine  Zwangs- 
pflicht der  Gemeinden  zu  Gunsten  gemeinnütziger  Vereinigungen 
festzusetzen.  So  freudig  wir  es  begrüfsen,  dafs  in  einem  Gesetze 


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H.  Lindemann,  Gesetzgeb.  Fortschritte  auf  d.  Gebiete  d.  Wohnungswesens. 

die  Verpflichtung  der  Gemeinden  ausgesprochen  wird,  für  die 
Wohnungsbedürfnisse  der  nichtbesitzenden  Klassen  ihrer  Bevölkerung 
zu  sorgen,  so  entschieden  müssen  wir  auch  dafür  eintreten,  dafs  die 
Gemeinden  bei  ihrer  Wohnungsfürsorge  die  weitgehendste  Freiheit 
haben  und  nicht  gezwungen  werden  können,  mit  ihren  Geldern 
bezw.  ihrem  Kredite  Unternehmungen  zu  unterstützen,  die  sie  viel- 
leicht nicht  billigen. 

Nach  Art.  7 darf  die  Gemeinde  ein  Baudarlehen  nur  dann  ge- 
währen, wenn  die  zweckentsprechende  Benutzung  der  herzustellcn- 
den  Wohnungen  und  deren  angemessene  bauliche  Unterhaltung  ver- 
traglich gesichert  ist.  Weitere  Punkte  sind  im  Gesetze  nicht  erwähnt, 
und  ihr  Fehlen  wird  von  der  Begründung  damit  gerechtfertigt,  dafs 
die  Bewegungsfreiheit  und  Selbständigkeit  der  Bauvereine  möglichst 
wenig  eingeschränkt  werden  sollte.  Eis  fehlt  also  vor  allem  die  ge- 
setzliche Fixierung  des  Zinsgenusses  einer  gemeinnützigen  Bau- 
genossenschaft und  die  gesetzliche  Beschränkung  der  Ausnützung  der 
steigenden  Grundrente.  Die  Motive  bemerken  dazu : „Garantieen  für 
genügenden  Raum,  zweckmäfsige  Ausstattung  und  mäfsigen  Preis 
der  Wohnungen  für  Minderbemittelte  sind  wichtiger,  als  allzu  ängst- 
liche Beschränkung  der  zu  verteilenden  Erträgnisse,  welche  leicht 
die  Beteiligung  des  Privatkapitals  an  dem  gemeinnützigen  Unter- 
nehmen verhindert."  Und  schon  vorher  wurde  als  wichtigste  Auf- 
gabe des  Gesetzes  bestimmt,  den  Bau  von  Wohnungen  überhaupt 
in  ausreichender  Zahl  zu  sichern.  „Dafs  sie  einen  besonders  billigen 
Mietpreis  haben,  dürfte  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht  kommen.“ 
Ja,  worin  besteht  denn  überhaupt  nach  der  Auffassung  der  Motive 
die  Gemeinnützigkeit  der  Bauvereine,  wenn  keine  Beschränkung  ihres 
Zinsgenusses  festgesetzt  werden  soll,  und  auf  die  Fixierung  der 
Mieten  verzichtet  wird?  Jeder  private  Bauunternehmer  und  jede 
Aktiengesellschaft,  die  Wohnungen  für  Minderbemittelte  hersteilen, 
können  dann  das  Prädikat  gemeinnützig  für  sich  in  Anspruch  nehmen. 
Es  mufe  also  als  ein  ganz  bedeutender  Mangel  des  Gesetzes  be- 
zeichnet werden,  dafs  dasselbe  den  gemeinnützigen  Charakter  der 
Bauvereine,  denen  die  Gemeinden  Darlehen  geben  müssen,  nicht 
schärfer  und  zutreffender  gefafst  hat. 

Mit  der  Beschaffung  der  Mittel  für  eine  konstruktive  Wohnungs- 
fürsorge der  Gemeinden  war  es,  wie  die  Motive  zutreffend  bemerken, 
möglich  geworden,  das  Wohnungsinspektionsgesetz  von  1893  auch 
auf  die  Gemeinden  mit  weniger  als  5000  Einwohnern  auszudehnen 
und  in  einigen  wichtigeren  Bestimmungen  auszubauen.  Die  Aus- 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


dehnung  auf  das  flache  Land  rechtfertigt  sich  durch  die  elenden 
Wohnungsverhältnisse,  die  bis  in  die  kleinsten  Gemeinden  in  gleicher 
Weise  oder  doch  nur  in  wenig  geringerem  Mafsc  vorhanden  sind.  Als 
ein  ganz  bedeutender  Fortschritt  mufs  die  Einrichtung  einer  Landes- 
wohnungsinspektion, wie  sie  der  Art.  12  vorsieht,  bezeichnet  werden. 
Diese  Behörde,  die  nicht  als  Polizeiorgan,  sondern  als  Orgart  eigent- 
licher Wohlfahrtspflege  gedacht  ist,  soll  im  Zusammenwirken  mit 
den  staatlichen  und  kommunalen  Behörden  die  Wohnungsverhält- 
nisse in  gesundheitlicher  und  sittlicher  Hinsicht  feststellen  und  in 
Gemeinschaft  mit  dem  hessischen  Centralvereine  für  Errichtung 
billiger  Wohnungen,  sowie  mit  den  gemeinnützigen  Bauvereinen  des 
I-andes  auf  Beseitigung  der  sich  ergebenden  Mifsstände  hinwirken. 
Im  einzelnen  zählen  die  Motive  als  Aufgaben  der  Inspektion  auf: 
Unterstützung  der  Behörden,  Gemeinden  etc.  in  allen  auf  Verbesse- 
rung der  Wohnungsverhältnisse  gerichteten  Bestrebungen  mit  Rat 
und  Auskunft,  Förderung  der  Begründung  gemeinnütziger  Bau- 
genossenschaften, Begutachtung  der  Darlehensgesuche  der  Gemeinden 
und  Ueberwachung  der  Darlehensverwendung,  Beschaffung  statisti- 
scher Nachweise,  Berichterstattung  über  die  Fragen  der  Wohnungs- 
politik. Es  wird  also  der  neuen  Behörde  ein  sehr  umfangreiches 
Thätigkeitsgebiet  zugewiesen,  und  wir  können  nur  wünschen,  dafs 
es  gelingt,  für  diesen  so  wichtigen  Posten  die  geeignete  Kraft  zu 
finden. 

Auch  Württemberg  hat  bereits  im  Jahre  1900,  leider  nur 
auf  dem  Wege  der  Verordnung  und  nicht  der  Gesetzgebung,  eine 
Wohnungsinspektion  erhalten.  Nach  einer  Verfügung  des 
Ministeriums  des  Inneren  mufs  in  sämtlichen  Gemeinden  mit  mehr 
als  3000  Einwohnern  eine  ortspolizeiliche  Wohnungsaufsicht  einge- 
richtet werden;  in  kleineren  Gemeinden  bleibt  es  der  Gemeinde- 
verwaltung überlassen,  ob  sie  die  Einrichtung  treffen  will.  Die  Or- 
gane der  Wohnungsinspektion  sind  von  der  Gemeindeverwaltung  zu 
bestellen,  die  entweder  besondere  Inspektoren  mit  der  Wohnungs- 
aufsicht beauftragen . oder  Mitglieder  der  Ortsfeuerschau , Be- 
dienstete, wie  Schutzleute  oder  Polizeidiener,  aber  auch  sonstige  ge- 
eignete Personen  heranziehen  kann.  Die  Verfügung  machte  also 
den  gewaltigen  Fehler,  dafs  sie  die  Verwendung  von  Schutzleuten 
nicht  von  vorn  herein  verbot,  sondern  sogar  durch  die  Namhaft- 
machung dieser  Klasse  von  Beamten  die  Gemeinden  auf  die  Ver- 
wendung derselben,  wenn  auch  vielleicht  unabsichtlich,  hinwies.  Die 
Erfahrung  hat  bewiesen,  dafs  die  Gemeinden  nur  zu  geneigt  sind, 


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H.  Lindemann,  GeseUgeb.  Fortschritte  auf  d.  Gebiete  d.  Wohnungswesens.  145 

sich  ihrer  neuen  Aufgabe  auf  dem  einfachsten  Wege  durch  die  An- 
stellung von  Schutzleuten  zu  entledigen.  Das  gilt  nicht  nur  für  die 
kleineren  Gemeinden,  sondern  ebenso  auch  für  die  gröfseren  Mittel- 
städte ' des  Landes.  Nur  in  sehr  wenigen  Städten,  wie  z.  B.  in 
Cannstatt,  sind  besondere  Wohnungsinspektoren  angestellt  worden. 
Im  allgemeinen  ist  die  Wohnungsinspektion  polizeilich  geregelt  und 
wird  in  erster  Instanz  von  den  Schutzleuten  ausgeübt,  so  in  Reut- 
lingen etc.  Nur  in  Stuttgart,  dessen  Ortsstatut  kürzlich  die  staat- 
liche Genehmigung  gefunden  hat,  hat  man  sich  zu  einem  selbstän- 
digen Wohnungsamte  aufgeschwungen,  an  dem  ehrenamtliche  und 
beamtete  Organe  gemeinsam  thätig  sind.  Die  Verfügung  unterwirft 
der  Inspektion  alle  aus  3 oder  weniger  Wohnräumen  bestehenden 
Wohnungen,  alle  Wohnungen,  in  die  Schlafgänger  gegen  Entgelt 
aufgenommen  werden,  alle  zur  gewerbsmäfsigen  Beherbergung  von 
Fremden  bestimmten  Räume,  alle  Schlafgelasse  der  im  Hause  des 
Arbeitgebers  oder  der  Dienstherrschaft  wohnenden  Arbeiter,  Lehr- 
linge und  Dienstboten.  Damit  ist  der  Umfang  der  Wohnungs- 
inspektion in  ganz  zutreffender  Weise  bestimmt  worden,  nur  scheint 
uns  die  Zahl  der  Wohnräume  deshalb  zu  niedrig  gegriffen  zu  sein, 
weil  auch  die  Küchen  als  Wohnräume  gelten  sollen.  Wohnungen, 
die  aus  Küche  und  3 kleinen  Zimmern  bestehen,  sind,  besonders  in 
den  ländlichen  Gemeinden,  noch  in  grofser  Zahl  inspektionsbedürftig. 
Wenig  neues  bieten  die  Grundsätze,  nach  denen  die  Inspektion  vor- 
genommen werden  soll.  In  manchen  Punkten  bleiben  dieselben 
hinter  den  hygienischen  Mindestforderungen  zurück.  In  Schlaf- 
gelassen soll  z.  B.  auf  den  Erwachsenen  nur  ein  Raum  von  mindestens 
10  cbm,  auf  jedes  Kind  unter  14  Jahren  ein  solcher  von  mindestens 
5 cbm  fallen.  Beide  Ziffern,  besonders  aber  die  letztere,  sind  viel 
zu  niedrig  gegriffen.  Ueber  die  Gröfse  der  erforderlichen  Boden- 
fläche fehlt  es  an  jeder  Bestimmung.  Jeder  Wohn-  oder  Schlafraum, 
jeder  Abort,  und  in  der  Regel  auch  jede  Küche,  soll  mindestens  ein 
ins  Freie  führendes  Fenster  besitzen,  das  eine  genügende  (!)  Lüftung 
und  Belichtung  des  Raumes  verbürgt.  Für  die  Küchen  ist  aber 
ohne  Zweifel  ein  ins  Freie  führendes  Fenster  mindestens  ebenso 
notwendig,  wie  für  die  anderen  genannten  Räume.  Das  „in  der 
Regel"  der  Bestimmung  ist  also  eine  unberechtigte  Abschwächung. 
Genügende  Lüftung  und  Belichtung  des  Raumes  ist  ein  sehr  dehn- 
barer Begriff;  man  kann  sich  denken,  was  die  ländlichen  Feuer- 
schauer, die  mit  der  Inspektion  betraut  sind,  darunter  verstehen 
werden.  Ebenso  nichtssagend  ist  die  Bestimmung,  dafe  die  Wohn- 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  IO 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


und  Schlafräume,  Treppen,  Flure,  Aborte  sowie  die  Umgebung  der 
Wohnung  reinlich  gehalten  sein  müssen.  Will  man  vielleicht  durch 
Polizeistrafen  die  Hausfrauen  zur  Reinlichkeit  erziehen?  Wie  wird 
die  der  Benutzung  eines  W'ohngebäudes  entsprechende  Anzahl  von 
Aborten  bestimmt?  Anerkennung  verdient  das  gänzliche  Verbot 
von  Kellerwohnungen,  und  das  Verbot,  Räume  zum  Schlafen  zu 
benutzen,  in  denen  für  den  Handel  und  Verkehr  bestimmte  Nahrungs- 
mittel verarbeitet  oder  aufbewahrt  werden.  Der  Erlafs  weiter- 
gehender Bezirks-  oder  ortspolizeilicher  Vorschriften  soll  durch  die 
ministerielle  Verfügung  nicht  gehindert  sein.  Leider  schwächt  die 
letztere  den  Eindruck  ihrer  Bestimmungen  dadurch  zum  guten  Teile 
ab,  dafs  sie  es  den  Ortspolizeibehörden  zur  besonderen  Pflicht  macht, 
die  Wohnungsaufsicht  in  möglichst  schonender  Weise  zu  handhaben 
und  die  Nichtanwendung  einiger  Bestimmungen  überall  da  gestattet, 
wo  die  sofortige  Durchführung  eine  unverhältnismäfsige  Härte  in 
sich  schliefsen  würde.  Bei  der  so  wie  so  recht  starken  Neigung 
der  Gemeindeverwaltungen,  die  Hausbesitzer  zu  schonen,  wäre  ein 
Paragraph,  der  ein  energisches  Eingreifen  der  Wohnungsinspektion 
in  allen  Fällen  baulicher  Verwahrlosung  und  gewissenloser  Aus- 
nutzung der  Gebäude  vorschreibt,  berechtigter  und  nutzbringender 
gewesen. 

Dieselbe  weitgehende  Fürsorge  für  die  Hausbesitzer  tritt  uns 
auch  in  dem  Wohnungspflcgegesetze  entgegen,  dessen  Ent- 
wurf der  Senat  der  Stadt  Lübeck  bereits  am  17.  Juni  1899 
dem  Bürgerausschusse  vorlegte,  und  der  nach  zweimaliger  Um- 
arbeitung am  7.  Juli  1902  die  Zustimmung  der  Bürgerschaft  fand. 
Schon  die  Begründung,  mit  der  das  Medizinalkollegium  dem  Senate 
seinen  Vorschlag  unterbreitete,  hob  hervor,  dafs  die  Anforderungen 
an  die  Benutzungsweise  der  Wohn-  und  Schlafräume  unter  Berück- 
sichtigung einerseits  der  hygienischen  Erfahrungen,  anderseits  der 
Bauart  der  vorhandenen  Wohnungen  in  thunlichst  engen  Grenzen 
gehalten  seien,  und  der  Senat  hat  sich  zur  Vorlage  des  Entwurfes 
erst  dann  entschlossen,  nachdem  Erhebungen  des  Polizeiamtes  er- 
geben hatten,  dafs  nach  dem  Erlasse  der  neuen  gesetzlichen  Be- 
stimmungen nur  ein  sehr  kleiner  Teil  der  in  Betracht  kommenden 
Wohnungen  als  vollständig  unbewohnbar  kassiert  werden  müfste. 
Trotzdem  gingen  diese  Bestimmungen  dem  Hausbesitzertum  in  der 
Bürgerschaft  zu  weit.  Die  Senatsvorlage  verlangte,  dafs  der  gesamte 
Luftraum  einer  Wohnung  für  jeden  Bewohner  mindestens  15  cbm, 
für  jedes  Kind  unter  10  Jahren  7,5  cbm  betragen  sollte,  schlofs 


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H.  Lindemann,  Gcsetigeb.  Fortschritte  auf  d.  Gebiete  d.  Wohnungswesens. 

sich  also  den  Vorschlägen  des  Deutschen  Vereins  für  öffentliche 
Gesundheitspflege  an.  In  Schlafräumen  wurde  ein  Luftraum  von 
io  cbm  für  jede  über  io  Jahre  alte  Person,  3 qm  Bodenfläche  und 
0,2  qm  lichtgebende  Fensterfläche  gefordert.  Diese  bescheidenen 
Anforderungen  wurden  noch  dadurch  herabgemindert,  dafs  bei  der 
Berechnung  des  Luftraumes  in  Schlafräumen  benachbarte,  mit  diesen 
in  unmittelbarer  Verbindung  stehende  Xebenräume,  z.  B.  Korridore, 
mitgerechnet  werden  dürfen,  sofern  sie  nur  von  den  Inhabern  der 
Schlafräume  ausschliefslich  benutzt  werden.  Bei  besonders  günstigen 
Beleuchtungs-  und  Lüftungsverhältnissen  kann  die  Behörde  für 
Wohnungspflege  noch  eine  weitere  Ermäfsigung  eintreten  lassen. 
Wenn  diese  Bestimmungen  erfüllt  sind,  und  ferner  dem  Vermieter 
mindestens  ein  verschliefsbarer,  heizbarer  und  direkt  beleuchteter 
Raum  zur  ausschliefslichcn  Benutzung  verbleibt,  kann  die  Ver- 
mietung einzelner  Teile  einer  Wohnung  stattfinden.  In  der  Kom- 
mission der  Bürgerschaft  fanden  die  vorstehenden  Vorschläge  des 
Senates  scharfe  Anfechtung,  und  wurden  von  ihr  in  einer  ganzen 
Reihe  von  Punkten  geändert.  Leitender  Gesichtspunkt  war  dabei, 
wie  der  Kommissionsbericht  hervorhob,  „die  Anforderungen  an  den 
Raum  und  die  Gröfse  von  Wohnungen  und  Schlafzimmern  auf  das 
geringste  noch  zulässige  Mafs  zu  beschränken,  da  man  hierbei  be- 
sonders in  den  alten  Häusern  der  inneren  Stadt  und  in  den  Gängen 
mit  althergebrachten  Verhältnissen  und  Zuständen  zu  rechnen  hat, 
deren  Beseitigung  nur  allmählich  im  Laufe  der  Zeit  möglich  sein 
wird.  Eine  schärfere  Fassung  der  hierher  gehörigen  Bestimmungen, 
die  freilich  den  Anforderungen  der  Hygieniker  nicht  durchweg  ent- 
sprechen, w'ird  daher  erst  bei  einer  späteren  Revision  des  Gesetzes 
cinzutreten  haben.“  Man  schob  also  der  Zukunft  zu,  was  man  in 
der  Gegenwart  nicht  haben  wollte,  und  schwächte  zunächst  einmal 
die  Bestimmungen  der  Senatsvorlage  ab.  Statt  .Kinder  unter 
10  Jahren  setzte  die  Kommission  Kinder  unter  12  Jahren,  und 
machte  den  Zusatz,  dass  in  Häusern,  die  nur  von  einer  Familie  be- 
wohnt werden,  auch  der  Dachboden  dem  Lufträume  der  Wohnung 
zugerechnet  werden  kann.  Ebenso  wurde  bei  der  Festsetzung  des 
Luftraumes  in  Schlafzimmern  das  Minimalalter  von  IO  auf  12  Jahre 
hinaufgesetzt,  und  die  Forderung  von  3 qm  Bodenfläche  und  0,2  qm 
lichtgebender  Fensterfläche  gestrichen.  Alles  Verschlechterungen 
der  ursprünglichen  Vorlage,  die  ausschliefslich  von  zarter  Rücksicht 
auf  die  Hausbesitzer  diktiert  sind.  Glücklicherweise  hat  bisher 

io* 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


der  Senat  seine  Fassung  aufrecht  gehalten,  die  sicher  nicht  über 
das  Minimum  hygienischen  Fortschrittes  hinausging. 

Während  die  Kommission  die  Pflichten  des  Hauseigentümers 
in  der  angeführten  Weise  herabzusetzen  versuchte,  hatte  sie  gegen 
die  Paragraphen  des  Entwurfes,  die  die  Pflichten  des  Mieters  fest- 
legen, nichts  cinzuwcnden.  Sie  wurden,  wie  ihr  Bericht  hervorhebt, 
von  keiner  Seite  beanstandet,  nur  ein  paar  ergänzende  Bestimmungen 
wurden  hinzugefügt.  Wie  das  Hamburger  Wohnungspflegegesetz, 
so  enthält  nämlich  auch  das  ihm  nachgebildete  Lübecker  Gesetz 
zahlreiche  Bestimmungen  über  die  „Kunst  des  richtigen  Bewohnens“ 
und  die  Kritik,  die  an  jenem  von  den  verschiedensten  Seiten  geübt 
wurde,  trifft  auch  dieses.  Die  Grundeigentümer  sind  nur  für  die 
Ucbelstände  der  ungenügenden  Unterhaltung  der  Gebäude  verant- 
wortlich, und  daher  insbesondere  verpflichtet,  Vorkehrungen  zum 
Schutz  gegen  eindringende  Feuchtigkeit  und  zur  Instandhaltung  der 
Wasserversorgungs-  und  Entwässerungsanlagen  sowie  der  Aborte 
zu  treffen.  Falls  der  Mieter  an  diesen  Mängeln  schuldig  ist,  hat  er 
die  Pflicht  zur  Beseitigung  derselben.  Dazu  kommt  dann  noch  in 
§ 12  eine  lange  Liste  von  Handlungen,  die  alle  dem  Mieter  ver- 
boten sind.  Diese  Verbote  sind  teils  lächerlich  — so  wenig  wie 
in  Württemberg  etc.  wird  man  in  Lübeck  die  Bevölkerung  durch 
Polizeistrafen  zur  reinlichen  Haltung  ihrer  Wohnungen  erziehen  können 
— teils  geben  sie  dem  Hausbesitzer  eine  Handhabe,  die  Schuld  an 
der  baulichen  Verwahrlosung  auf  die  Mieter  abzuwälzen. 

Auch  für  die  Organisation  der  Behörde  für  Wohnungspflege 
ist  das  Hamburger  Gesetz  Vorbild  gewesen,  insofern  man  die 
Wohnungsinspektion  ehrenamtlichen  Wohnungspflegern  übertrug. 
Nach  dem  Senatsvorschlage  sollte  diese  Behörde  aus  dem  Dirigenten 
des  Polizeiamtes,  einem  zweiten  Mitgliede  des  Senates  und  8 bürger- 
lichen Deputierten  bestehen.  Jeder  Wohnungspfleger  sollte  in  seinem 
Bezirke,  wo  notwendig,  Hilfspfleger  zu  seiner  Unterstützung  er- 
halten. Diese  Organisation  vereinfachte  die  Kommission  durch  die 
Streichung  der  Hilfspfleger,  die  sie  mit  Recht  als  ein  durchaus  un- 
taugliches Organ  bezeichncte.  Als  Ersatz  vermehrte  sie  die  Zahl 
der  Wohnungspfleger  von  8 auf  30  und  gab  der  Behörde  das  Recht, 
einem  von  ihr  zu  wählenden  Ausschüsse  einzelne  Aufgaben  zu  über- 
weisen. Der  Senat  trat  diesen  Abänderungen  bei.  Die  Kritik,  die  an 
dem  ehrenamtlichen  Charakter  des  Wohnungspflcgeramtes  u.  a.  auch 
von  dem  Hamburger  Medizinalrat  Dr.  Reineke  geübt  worden  ist,  hat 
offenbar  auf  die  Lübecker  Gesetzgeber  keinen  Eindruck  gemacht. 


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Gesetz,  bete,  die  Wohnungspflege  in  der  Stadt  Lübeck  und  deren  Vorstädten. 

Sie  haben  es  sogar  abgelehnt,  den  ehrenamtlichen  Wohnungspflegern 
einen  beamteten  Wohnungsinspektor  zur  Unterstützung  beizugeben, 
und  wollen  die  Erfahrungen  abwarten.  Dafs  dieselben  vom  volks- 
hygienischen Standpunkte  aus  sehr  günstige  sein  werden,  darf  man 
füglich  bezweifeln. 

Wie  lassen  nunmehr  die  Texte  der  besprochenen  Gesetz  bzw. 
Verordnung  folgen : 


LÜBECK. 

Gesetz,  betreffend  die  Wohnungspflege  in  der  Stadt  Lübeck  und  deren 

Vorstädten. 

Der  Senat,  im  Einvernehmen  mit  der  Bürgerschaft,  hat  beschlossen  und  ver- 
kündet als  Gesetz: 

§ I.  Zur  Handhabung  der  Wohnungspflege  in  der  Stadt  und  den  Vorstädten 
wird  eine  Behörde  (Behörde  für  Wohnungspflege)  eingesetzt,  welche  aus  dem  Diri- 
genten des  Polizeiamtes,  einem  zweiten  Mitgliede  des  Senates  und  dreifsig  bürger- 
lichen Deputierten  (Wohnungspflegern)  besteht,  von  denen  zehn  in  der  inneren  Stadt, 
zehn  in  der  Vorstadt  St.  Lorenz,  fünf  in  der  Vorstadt  St.  Jürgen  und  fünf  in  der 
Vorstadt  St.  Gertrud  ihren  Wohnsitz  haben  sollen. 

Die  Behörde  für  Wohnungspflege  kann  einzelne  Obliegenheiten  einem  von  ihr 
zu  wählenden  Ausschufs,  der  aus  den  beiden  Senatsmitgliedern  und  acht  bürger- 
lichen Deputierten  besteht,  zur  Erledigung  überweisen. 

Jedem  Wohnungspfleger  wird  ein  besonderer  Bezirk  durch  Beschlufs  der  Be- 
hörde zugewiesen.  Die  Bezirkseinteilung  ist  alljährlich  durch  das  Amtsblatt  zu  ver- 
öffentlichen. 

§ 2.  Die  Wohnungspfleger  haben  sich,  soweit  erforderlich,  Kenntnis  von  den 
gesundheitlichen  Verhältnissen  der  Grundstücke  und  Wohnungen  ihres  Bezirks  zu 
verschaffen  und  zu  erhalten.  Insbesondere  haben  sie  ihr  Augenmerk  zu  richten: 

a)  auf  die  Beschaffenheit  und  Benutzung  der  Gebäude,  Wohnungen  und 
Räume,  im  Hinblick  auf  die  bestehenden  und  durch  dieses  Gesetz  ein- 
geführten sanitätspolizeilichen  Vorschriften ; 

b)  auf  die  Zahl  der  Bewohner  der  einzelnen  Räume  im  Verhältnis  zu  deren 
Gröfse ; 

c)  auf  die  mechanischen  Einrichtungen  zur  Versorgung  des  Grundstücks,  der 
Baulichkeiten  und  Wohnungen  mit  Wasser,  sowie  zur  Entwässerung  der- 
selben ; 

d)  auf  sonstige,  die  Gesundheit  beeinflussende  Zustände,  namentlich  inbetreff 
der  Trockenheit  der  Wohnung  und  der  Reinlichkeit  in-  und  aufserhalb 
derselben ; 

c)  auf  die  Feuersicherheit  der  zum  Wohnen,  Arbeiten  und  Schlafen  be- 
stimmten Räume,  sowie  der  Treppen  und  Zugänge. 


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Gesetzgebung : Lübeck. 


* *5° 

Zu  diesem  Behttfe  ist  während  der  Zeit  von  9 Uhr  Morgens  bis  8 Uhr  Abends 
den  Wohnungspflegern  innerhalb  ihres  Bezirks  nach  Vorlegung  ihrer  Legitimation  der 
Zutritt  zu  den  öffentlichen  und  Privatgrundstücken,  den  Gebäuden  und  Wohnungen 
zu  gewähren ; auch  ist  ihnen  auf  Befragen  Auskunft  zu  erteilen,  wo  und  soweit  es 
zur  Erfüllung  ihrer  Obliegenheiten  nötig  ist. 

Falls  es  den  Wohnungspflegern  nicht  gelingt,  die  Beseitigung  der  von  ihnen 
wahrgenommenen  Mängel  durch  die  Beteiligten  zu  bewirken,  haben  sie  die  Ange- 
legenheit dem  Vorsitzenden  der  Behörde  anzuzcigen. 

§ 3.  Die  Behörde  für  Wohnungspflege  versammelt  sich  auf  Berufung  durch 
den  Vorsitzenden.  Auf  ‘ einen  von  mindestens  drei  Mitgliedern  unter  Angabe  des 
Grundes  gestellten  Antrag  ist  der  Vorsitzende  zur  Berufung  verpflichtet. 

§ 4.  Zu  den  Verhandlungen  der  Behörde  sind  der  Physikus  und  der  Bau- 
polizei-Inspektor mit  beratender  Stimme  hinzuzuziehen. 

§ 5.  Bei  allen  zum  dauernden  Aufenthalt  von  Menschen  bestimmten  Ge- 
bäuden ist  der  Grundeigentümer,  unbeschadet  seiner  Regrefsansprüche  gegen  dritte, 
verpflichtet,  die  durch  ungenügende  Unterhaltung  der  Gebäude  verursachten,  für  die 
Bewohner  gesundheitsschädlichen  Zustände,  sobald  dieselben  zu  seiner  Kenntnis  ge- 
langt sind,  zu  beseitigen.  Insbesondere  ist  derselbe  verpflichtet,  Vorkehrungen  zum 
Suhutz  gegen  eindringende  Feuchtigkeit  zu  treffen,  die  Wasservcrsorgungs-  und  Ent- 
wässerungsanlagen, sowie  die  Aborte  in  ordnungsmäfsigem  Zustande  zu  erhalten. 

Insoweit  die  Schuld  an  den  gedachten  Mängeln  den  Mieter  trifft,  liegt  diesem 
ebenfalls  die  Pflicht  der  Beseitigung  ob. 

Der  Grundeigentümer  hat  dafür  Sorge  zu  tragen,  dafs  die  zu  seinem  Grund- 
stück gehörenden,  nicht  mit  einer  einzelnen  Wohnung  vermieteten  Hofe,  Lichthöfe 
und  LichtschSchte  ordnungsmäfsig  gereinigt,  sowie  dafs  die  dem  Verkehr  dienenden 
Zugänge  und  Treppen  bei  cintretender  Dunkelheit  bis  mindestens  10  Uhr  abends 
ausreichend  erleuchtet  werden.  Wenn  und  soweit  der  Grundeigentümer  durch  Ver- 
trag einem  Mieter  die  ihm  nach  dem  vorigen  Satze  obliegenden  Verpflichtungen  auf- 
crlegt  hat,  so  trifft  die  gesetzliche  Verpflichtung  den  Mieter. 

§ 6.  Alle  Wohnungen  müssen  in  ausreichender  Weise  durch  Tageslicht  er- 
hellt und  mit  Vorrichtungen  zur  Zuführung  frischer  Luft  versehen  sein. 

§ 7.  Der  gesamte  Luftraum  einer  Wohnung  mufs  so  grofs  sein,  dafs  auf 
jeden  Bewohner  15  cbm,  auf  Kinder  unter  10  Jahren  7,5  cbm  entfallen;  Kinder 
unter  einem  Jahre  bleiben  hierbei  aufser  Betracht  In  Häusern,  die  nur  von  einer 
Familie  bewohnt  werden,  kann  der  Dachboden  dem  Luftraum  der  Wohnung  hinzu- 
gerechnet werden. 

§ 8.  Die  Schlafräumc  müssen  für  jede  über  10  Jahre  alte  Person  10  cbm 
Luftraum  gewähren.  Für  Kinder  unter  io  Jahren  genügt  die  Hälfte,  Kinder  unter 
einem  Jahre  bleiben  aufser  Betracht. 

Bei  Berechnung  des  Luftraumes  dürfen  den  Schlafräumen  benachbarte,  mit 
diesen  in  unmittelbarer  Verbindung  stehende  Nebenräume,  auch  zur  Wohnung  ge- 
hörige Korridore,  sofern  dieselben  den  Benutzern  der  Schlafräumc  zur  ausschlicfs- 
lichcn  Verfügung  stehen,  mitgerechnet  werden. 

Bezüglich  des  Luftraumes  kann  die  Behörde  für  Wohnungspflege  eine  Er- 


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Gesetz,  betr.  die  Wohnungspflege  in  der  Stadt  Lübeck  und  deren  Vorstädten,  j 5 1 


mäl'sigung  der  Forderung  eintreten  lassen,  wenn  besonders  günstige  Umstände  inbe- 
zug auf  Beleuchtung  und  Lüftung  der  Räumlichkeiten,  insonderheit  sclbstthätige 
Lüftungsvorrichtungen,  vorhanden  sind. 

Andererseits  kann  die  Forderung  an  die  GrÖfsc  des  Luftraumes  angemessen  — 
höchstens  bis  zu  15  cbm  — erhöht  werden,  wenn  die  Schlafräume  zugleich  als 
Arbeitsräumc  benutzt  werden. 

§ 9.  Wenn  sich  aus  dem  Zusammenwohnen  mehrerer  Familien  in  einer  nur 
für  eine  Familie  errichteten  Wohnung  gesundheitliche  oder  sittliche  Mifsständc  er- 
geben, so  ist  die  Behörde  für  Wohnungspflege  befugt,  eine  bauliche  Teilung  oder 
eine  zweckentsprechende  Veränderung  in  der  Benutzungsweise  der  Wohnung  an- 
zuordnen. 

Der  Vermieter  hat  dafür  zu  sorgen,  dafs  den  Bewohnern  der  Mietwohnungen 
eine  genügende  Anzahl  mit  hinreichender  Lüftung  versehener  Aborte  zur  Ver- 
fügung steht. 

§ 10.  Die  Vermietung  einzelner  Teile  einer  Wohnung  ist  nur  gestattet,  sofern  : 

a)  dem  Vermieter  mindestens  ein  vcrschliefsbarer  und  heizbarer,  am  un- 
mittelbaren Licht  liegender  Kaum  zur  ausschliefslichcn  Benutzung  ver- 
bleibt, und 

b)  sowohl  inbezug  auf  die  dem  Vermieter  verbleibenden,  als  auch  inbezug 
auf  die  dem  Mieter  zugewiesenen  Räume  den  durch  § 8 bestimmten 
Mindestanforderungen  an  Luftraum  für  Schlafräumc  genügt  ist. 

§ 11.  Diejenigen,  welche  anderen  Personen  in  ihren  Räumen  eine  Schlafstelle 
gewähren,  sind  gehalten,  einer  jeden  Person  ein  besonderes  Bett  und  mindestens  für 
je  zwei  Personen  ein  Wasch-  und  Trinkgeschirr  zur  Verfügung  zu  stellen.  Bett  und 
Geschirr  sind  täglich  in  Ordnung  zu  bringen  und  sauber  zu  unterhalten.  Die  mit 
Einlogierern  belegten  Räume  sind  vom  Quartiergeber  thunlichst  täglich  1 — 2 Stunden 
zu  lüften,  täglich  besenrein  zu  halten,  die  Fufsböden  sind  mindestens  einmal  wöchent- 
lich zu  scheuern  und  die  Räume  jährlich  zweimal,  thunlichst  nach  Entfernung  sämt- 
licher Möbel,  von  Grund  aus  zu  reinigen. 

Im  übrigen  wird  das  Einlogiercrwesen  besonderer  polizeilicher  Regelung  Vor- 
behalten. 

§ 12.  Jede  gesundheitswidrige  Benutzung  einer  Wohnung  ist  verboten. 

Dahin  gehört: 

a)  dauernde  Verunreinigung  der  Wohnräume,  Höfe,  Lichthöfe  und  Licht- 
schächte, Treppen,  Gänge,  Aborte  und  anderer  Räume; 

b)  Luftverderbnis  durch  Aufbewahrung  von  Knochen  und  Lumpen  oder 
sonstiger  faulender  Gegenstände  oder  durch  Vornahme  übelriechender  ge- 
werblicher Verrichtungen  oder  durch  das  Halten  von  Tieren ; 

c)  Erregung  von  Feuchtigkeit  durch  zweckwidrige  und  nachlässige  Benutzung 
der  Wasscrleitungs-,  Entwässerungs-,  Heizungs-  und  Kochanlagcn ; 

d)  Vernachlässigung  genügender  Lüftung,  Entleerung  und  Reinigung  der 
Aborte. 

§ 13.  Die  zur  Beseitigung  gesundheitsschädlicher  Zustände  getroffenen  An- 
ordnungen haben,  wenn  sic  bauliche  Arbeiten  betreffen,  gleichviel  ob  sie  sich  gegen 


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152 


Gesetzgebung:  Lübeck,  Württemberg. 


den  Grundeigentümer  oder  gegen  den  Mieter  richten,  die  Art  und  den  Umfang  der 
Arbeiten  genau  zu  bezeichnen. 

Grundeigentümer,  Bewohner,  Untermieter,  Quartiergeber,  gegen  die  eine  Be- 
schwerde vorliegt,  können  beanspruchen,  von  der  Behörde  für  Wohnungspflege  per- 
sönlich gehört  zu  werden. 

Erfordern  die  angeordneten  baulichen  Arbeiten  eine  längere  Zeit  und  ist  Ge- 
fahr im  Verzüge,  oder  wird  den  getroffenen  Anordnungen  nicht  Folge  geleistet,  so 
kann,  ebenso  wie  bei  Zuwiderhandlungen  gegen  die  Bestimmungen  der  §§  5 ff.  dieses 
Gesetzes,  die  Räumung  einzelner  Teile  einer  Wohnung  oder  der  ganzen  Wohnung 
angeordnet  werden. 

Auf  diesem  Wege  geräumte  oder  geschlossene  Wohnungen  oder  Teile  einer 
Wohnung  dürfen  ihrer  ursprünglichen  Bestimmung  erst  nach  erfolgter  Erledigung 
der  Anordnung  zurückgegeben  werden,  und  zwar  nicht  vor  schriftlich  erteilter  Ge- 
nehmigung durch  das  Polizeiamt. 

§ 14.  Durch  dieses  Gesetz  wird  die  Zuständigkeit  des  Polizei-  und  Medizinal- 
amtes in  der  Ausübung  der  Wohnungs-  und  Gesundheitspolizei  nicht  berührt. 

§ 15.  Zuwiderhandlungen  gegen  die  von  der  Behörde  für  die  Wohnungs- 
pflege erlassenen  Anordnungen,  sowie  gegen  die  Bestimmungen  dieses  Gesetzes 
werden,  falls  sie  nicht  nach  den  allgemeinen  Strafgesetzen  schwerer  zu  ahnden  sind, 
unbeschadet  der  Bestimmung  des  § 13  Absatz  3,  mit  Geldstrafe  bis  zu  Mk.  60  be- 
straft. Für  den  Erlafs  der  Strafverfügungen  ist  das  Polizeiamt  zuständig. 

§ 16.  Dieses  Gesetz  tritt  sechs  Monate  nach  seiner  Verkündung  in  Kraft. 

Für  die  ersten  zwei  Jahre  kann  die  Behörde  für  Wohnungspflege  Ausnahmen 
von  den  Vorschriften  der  §§  7,  8 und  10  gestatten. 

Dem  Senate  bleibt  es  allgemein  Vorbehalten,  in  dazu  geeigneten  Fällen  Dispens 
von  den  Vorschriften  dieses  Gesetzes  zu  erteilen. 

§ 17.  Dieses  Gesetz  ist  vor  Ablauf  von  5 Jahren  einer  Revision  zu  unter 
ziehen. 

Uebergangsbcstimniung. 

Um  einen  rcgelmäfsigcn  Wechsel  herbeizufuhren,  scheiden  das  erste  Mal  von 
den  in  St.  Jürgen  und  in  St.  Gertrud  wohnenden  Wohnungspflegern  je  zwei,  von 
den  in  der  inneren  Stadt  und  in  St.  Lorenz  wohnenden  je  drei  schon  nach  vier  und 
eben  so  viele  nach  fünf  Jahren  aus. 

Die  Betreffenden  werden  von  der  Behörde  für  Wohnungspflege  durch  das  Loos 
bestimmt. 


WÜRTTEMBERG. 

Verfügung  des  Ministeriums  des  Innern  Uber  die  Wohnungsaufsicbt. 
Vom  21.  Mai  igoi. 

Auf  Grund  der  Art.  29  a,  32  Ziff.  5 und  51  des  Polizeistrafgesetzes  vom 
27.  Dezember  1871  (Rcg.-Blatt  S.  391)  4.  Juni  1898  (Reg.-Blatt  S.  1 49)  wird  hier- 
mit verfügt,  wie  folgt: 


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Verfügung  des  Ministeriums  des  Innern  Über  die  Wohnungsaufsicht.  153 


§ I.  In  sämtlichen  Oberamtsstädten  sowie  in  denjenigen  sonstigen  Gemeinden, 
welche  mehr  als  3000  Einwohner  haben,  unterliegen  der  in  den  nachstehenden 
Vorschriften  geordneten  besonderen  ortspolizeilichen  Wohnungsaufsicht: 

t.  alle  aus  drei  oder  mehreren  Wohnräumen  bestehenden  Wohnungen, 

2.  alle  Wohnungen,  in  welche  Schlafgänger  gegen  Entgelt  aufgenommen 
werden, 

3.  alle  zur  gewerbsmäfsigen  Beherbergung  von  Fremden  bestimmten  Räume, 

4.  alle  Schlafgelasse  der  im  Hause  des  Arbeitgebers  oder  der  Dienstherr- 
schaft wohnenden  Arbeiter,  Lehrlinge  und  Dienstboten. 

Als  Wohnräume  (Abs.  i Ziff.  1)  zählen  auch  die  Küchen. 

Die  in  Aftermiete  gegebenen  Wohnräume  sind  als  selbständige  Wohnungen  zu 
betrachten.  Räume,  welche  mit  einander  in  unmittelbarer  offener  Verbindung  stehen, 
wie  Zimmer  und  Alkoven,  gelten  als  ein  Raum. 

Hof-  und  Staatsgebäude,  sowie  Anstalten,  welche  einer  besonderen  staatlichen 
Kontrolle  unterstehen,  sind  von  der  durch  die  gegenwärtige  Verfügung  angeordneten 
ortspolizeilichen  Wohnungsaufsicht  ausgenommen. 

§ 2.  Behufs  der  Ausübung  der  Wohnungsaufsicht  (§  l)  haben  die  Ortspolizei- 
behörden dafür  zu  sorgen,  dafs  alle  dieser  Aufsicht  unterliegenden  Wohnungen,  Ge- 
lasse und  Räume  in  regelmäfsigcr  Wiederholung,  so  oft  als  dies  nach  den  be- 
sonderen Verhältnissen  der  einzelnen  zu  untersuchenden  Räume  erforderlich  er- 
scheint, mindestens  aber  alle  zwei  Jahre  einmal  zum  Zweck  der  Fernhaltung  und 
Beseitigung  erheblicher  das  Leben,  die  Gesundheit  oder  die  Sittlichkeit  gefährden- 
der Mifsständc  besichtigt  werden. 

Erlangt  die  Polizeibehörde  auf  Grund  einer  Besichtigung  in  Verbindung  mit 
der  durch  die  polizeilichen  An-  und  Abmeldungen  der  Bewohner  ermöglichten  Kon- 
trolle oder  auf  andere  Weise  die  Ucbcrzeugung  von  dem  fortdauernden  ordnungs- 
mäfsigen  Zustand  und  der  ordnungsmäfsigen  Benutzung  bestimmter  Wohnungen, 
Räume  oder  Schlafgclasse,  so  kann  sic  bezüglich  dieser  einzelnen  Wohnungen, 
Räume  oder  Schlafgelassc  von  der  nach  Abs.  1 vorgeschriebenen  periodischen  Be- 
sichtigung von  Fall  zu  Fall  oder  auch  auf  unbestimmte  Zeit  Abstand  nehmen. 

Die  Bestellung  der  mit  der  Vornahme  der  Wohnungsbesichtigungen  zu  beauf- 
tragenden Organe  ist  Sache  der  Gemeindeverwaltung.  Wo  nicht  besondere  Wohnungs- 
inspektoren bestellt  werden,  können  insbesondere  die  Mitglieder  der  OrLsfeuerschau 
und  deren  Stellvertreter  mit  den  Aufgaben  der  Wohnungsbesichtigung  betraut  werden. 
(Zu  vergl.  auch  § 35  Abs.  2 der  K.  Verordnung,  betreffend  die  Feuerpolizei  vom 
21.  Dember  1876  (Reg.-Blatt  S.  5 13)/ 4.  Januar  1888  (Reg.-Blatt  S.  15). 

§ 3.  Werden  zu  den  Wohnungsbesichtigungen  technisch  nicht  vorgebildetc 
Mitglieder  der  Ortsfeuerschau  oder  andere  Bedienstete , welche  einer  technischen 
Ausbildung  entbehren,  wie  Schutzleute  oder  Polizeidiener  verwendet,  so  müssen  die- 
selben über  die  ihnen  gestellten  Aufgaben  eingehend  belehrt  und  mit  geeigneten 
Formularen  für  die  Verzeichnung  der  in  den  beanstandeten  Wohnungen  gefundenen 
Mängel,  wofür  zwei  Muster  in  Anlage  1 und  2 angeschlosscn  sind,  ausgerüstet  sein 
und  es  hat  sich  ihre  Thätigkeit  auf  die  Besichtigung  der  Wohnung,  die  Ausfüllung 
des  Formulars  und  dessen  Vorlage  an  die  Vorgesetzte  Behörde  zu  beschränken. 


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'54 


Gesetzgebung : Württemberg. 


§ 4.  Den  mit  der  Ausübung  der  Wohnungsaufsicht  beauftragten  Organen  ist 
der  Zutritt  zu  den  sämtlichen  der  Besichtigung  unterliegenden  Räumen  zu  gestatten. 
Die  Besichtigung  einer  Wohnung,  eines  Zimmers  oder  Schlafraums  hat  sich  stets 
auch  auf  die  dazu  gehörigen  Nebenräume  zu  erstrecken. 

Die  Aufsichtsbeamten  haben  sich  beim  Betreten  fremder  Wohnungen  anzu- 
melden, sich  unaufgefordert  über  ihre  Person  und  ihren  Dienst  auszuweisen  und  die 
Wohnungsbesichtigung  zu  einer  Zeit  und  in  einer  Weise  vorzunehmen,  dafs  hier- 
durch eine  Belästigung  der  Beteiligten  möglichst  ausgeschlossen  wird. 

§ 5.  Um  erhebliche  die  Gesundheit,  das  Leben  oder  die  Sittlichkeit  ge- 
fährdende Mifsstände  möglichst  zu  beseitigen,  ist  die  Einhaltung  der  nachstehenden 
Grundsätze  geboten : 

1.  Alle  Schlafgclasse  sollen  eine  solche  Gröfsc  haben,  dafs  auf  jeden  Be- 
wohner, mag  er  auch  nur  vorübergehend  ?..  B.  behufs  eines  Besuchs  von 
nicht  ganz  kurzer  Dauer  in  die  Wohnung  aufgenommen  sein,  ein  Raum 
von  mindestens  10  cbm,  auf  jedes  Kind  unter  14  Jahren  ein  Raum  von 
mindestens  5 cbm  entfallt. 

2.  Räume,  in  welchen  für  den  Handel  und  Verkehr  bestimmte  Nahrungs- 
mittel verarbeitet  oder  auf  bewahrt  werden,  dürfen  zum  Schlafen  nicht  be- 
nutzt werden. 

3.  Jeder  Wohn-  oder  Schlafraum,  jeder  Abort  und  in  der  Regel  auch  jede 
Küche  soll  mindestens  ein  ins  Freie  führendes,  ganz  zu  öffnendes  Fenster 
von  solcher  Gröfse  und  Beschaffenheit  besitzen , dafs  eine  genügende 
Lüftung  und  Belichtung  des  betreffenden  Raumes  stattfindet. 

4.  Die  Wohn-  und  Schlafräumc,  Treppen,  Flure,  Aborte,  sowie  die  Um- 
gebung der  Wohnung,  wie  Höfe  und  Winkel,  müssen  reinlich  gehalten  sein. 

5.  In  jedem  Wohngebäude  mufs  die  seiner  Benutzung  entsprechende  Anzahl 
von  Aborten  vorhanden  und  es  mufs  jedem  Bewohner  des  Hauses  die 
Möglichkeit  der  ungehinderten  Benutzung  eines  Abortes  gegeben  sein,  wo- 
bei cs  übrigens  nicht  unbedingt  erforderlich  ist,  dafs  sich  der  Abort  auf 
demselben  Stockwerk  befindet  wie  die  betreffende  Wohnung  oder 
Schlafstätte. 

Jeder  Abort  mufs  von  innen  vcrsehlicfsbar,  der  Sitz  mufs  mit  einem 
dichtverschlicfscnden  Deckel  oder  einer  sonstigen  Abschlufsvorrichtung 
versehen  sein. 

Soweit  die  Aborte  den  für  sie  bereits  geltenden  sonstigen  Vor- 
schriften nicht  entsprechen,  mufs  auf  sofortige  Abhilfe  gedrungen  werden. 

6.  Die  Wohn-  und  Schlafräume  dürfen  nicht  feucht  sein. 

7.  Kellerrräume  dürfen  zu  Wohn-  und  Schlafzwecken  nicht  verwendet 
werden. 

Die  Benutzung  von  Untergeschossen  (Souterrains)  zum  Wohnen  oder 
Schlafen  kann,  soweit  nicht  schon  ortsbaustatutarische  Vorschriften  dies 
verbieten,  trotz  der  Einhaltung  der  in  dieser  Hinsicht  bestehenden  all- 
gemeinen baupolizeilichen  Vorschriften  untersagt  werden,  wenn  im  ein- 


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Verfügung  des  Ministeriums  des  Innern  über  die  Wohnungsaufsicht.  j £ ij 


zclncn  Falle  aus  besonderen  Gründen  gewichtige  gesundheitspolizeiliche 
Bedenken  dagegen  bestehen. 

8.  Räume,  insbesondere  auch  Dachräume,  welche  als  Wohn-  oder  Schlaf- 
räume benutzt  werden,  müssen,  soweit  nicht  nach  den  bestehenden  Vor- 
schriften für  sic  ein  feuersicherer  Boden  vorgeschrieben  ist,  einen  Holz- 
boden oder  einen  anderen  dichten  Bodenabschlufs  und  verputzte  oder  mit 
Holz  verkleidete,  dicht  schlicfsendc  Decken  und  Wände  besitzen. 

9.  Die  Schlafräume  für  Arbeiter,  Lehrlinge,  Dienstboten  und  Schlafgängcr 
dürfen  ihrer  Lage  nach  für  den  Fall  eines  Brandes  nicht  in  besonderem 
Mafsc  gefährdet  sein ; insbesondere  dürfen  die  Zugänge  zu  denselben  nicht 
durch  Aufbewahrungsräume  von  leicht  brennbaren  Stoffen  führen. 

10.  Die  Scblafräume  der  in  Ziff.  9 genannten  Personen  müssen  von  innen  gut 
verseht iefsbar  sein  und  es  dürfen  einen  solchen  Schlafraum  nur  Personen 
desselben  Geschlechts  benutzen ; auch  mufs  jede  dieser  Personen  ihre  be- 
sondere räumliche  Lagerstätte  haben.  Diese  Vorschrift  findet  auf  einzelne 
Ehepaare,  welche  einen  besonderen  Schlafraum  für  sich  und  ihre  Familie 
benutzen,  keine  Anwendung ; auch  ist  es  statthaft,  in  den  Schlafraum 
weiblicher  Dienstboten  Knaben  im  Alter  von  weniger  als  12  Jahren  zu 
legen. 

§ 6.  Die  Erlassung  weitergehender  bezirks-  oder  ortspolizeilichcr  Vor- 
schriften insbesondere  eines  Verbots  der  Aufnahme  von  Personen  verschiedenen  Ge- 
schlechts als  Schlafgänger  in  eine  und  dieselbe  Wohnung,  sowie  die  Erlassung 
weiterer  polizeilicher  Vorschriften  zur  Ueberwachung  des  Geschäftsbetriebs  der  Schlaf- 
stellenvermietcr  auf  Grund  des  Abs.  3 des  Art.  29  a des  Polizeistrafgesetzes  bleibt 
den  zuständigen  Polizeibehörden  überlassen,  wie  auch  derartige  bereits  bestehende 
Vorschriften  in  Kraft  bleiben. 

§ 7.  Die  Ortspolizeibehörden  werden  angewiesen,  wenn  die  in  § 5 Ziff.  2, 
4,  5,  6,  8,  9 und  io  gegebenen  Vorschriften  nicht  cingehaltcn  sind,  unverwcilt  die 
erforderlichen  Einleitungen  zur  Beseitigung  dieser  Mifsstände  zu  treffen. 

Von  der  Einhaltung  der  in  § 5 Ziff.  I,  3 und  7 aufgestellten  Anforderungen 
kann  bis  auf  weiteres  überall  da  abgesehen  werden,  wo  die  sofortige  Durchführung 
der  einzelnen  Bestimmung  eine  unverhältnismälsige  Härte  in  sich  schliefsen  würde. 

§ 8.  Die  zur  Abstellung  von  Milssländen  erforderlichen  polizeilichen  Auflagen 
sind  in  allen  Fällen,  in  welchen  eine  bauliche  Abänderung  verlangt  wird,  nur  an 
den  Hauseigentümer  oder  dessen  Stellvertreter  zu  richten. 

Wird  die  Benutzung  einer  Wohnung  oder  eines  Gelasses  sei  es  überhaupt  oder 
wegen  Ueberftillung  beanstandet,  so  kann  eine  entsprechende  Auflage  sowohl  dem 
Hauseigentümer  oder  dessen  Stellvertreter,  als  auch  dem  Mieter,  Arbeitgeber,  Dienst- 
herrn oder  Schlafstellcnvermictcr  oder  auch  letzteren  Personen  allein  gemacht  werden. 

§ 9.  Den  Ortspolizcibchörden  wird  cs  zur  besonderen  Pflicht  gemacht,  die 
Wohnungsaufsicht  in  möglichst  schonender  Weise  zu  handhaben,  die  Beteiligten  zu- 
nächst Über  die  zu  stellenden  Anforderungen  aufzuklären,  sie  zu  beraten  und  mit 
polizeilichen  Auflagen  erst  vorzugehen,  wenn  eine  Herbeiführung  geordneter  Zu- 
stände auf  anderem  Wege  sich  als  aussichtslos  erweist. 


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156 


Gesetzgebung:  Württemberg. 


Ist  die  Erteilung  einer  polizeilichen  Auflage  notwendig,  so  mufs  die  zur  Er- 
füllung dieser  Auflage  anzusetzendc  Frist  nach  Mafsgabc  der  thatsächlichen  Ver- 
hältnisse ausreichend  bemessen  sein. 

In  den  geeigneten  Fällen  haben  die  Polizeibehörden  behufs  Beseitigung  oder 
Fernhaltung  einer  Notlage  sich  bei  Zeiten  mit  wohlthätigen  Vereinen  ins  Benehmen 
zu  setzen,  erforderlichen  Falles  auch  von  sich  aus  das  rechtzeitige  Eingreifen  der 
Armenbehörden  zu  veranlassen. 

§ io.  Die  Erteilung  polizeilicher  Auflagen  in  Wohnungssachen  ist  Sache  des 
Ortsvorstehers  oder  eines  in  Gemäfsheit  des  Art.  20  des  Gesetzes  vom  21.  Mai  1891, 
betreffend  die  Verwaltung  der  Gemeinden  , Stiftungen  und  Amtskörperschaften 
(Reg. -Blatt  S.  103),  für  die  Wohnungsaufsicht  zu  bestellenden  Hilfsbeamten. 

Die  polizeilichen  Auflagen  in  Wohnungssachen  sind  mit  Gründen  zu  versehen. 

Soll  auf  Grund  einer  von  technisch  nicht  vorgebildeten  Bediensteten  (§  3)  er- 
hobenen Beanstandung  eine  polizeiliche  Auflage  von  einschneidender  Wirkung  er- 
lassen, beispielsweise  die  weitere  Benutzung  einer  Wohnung  oder  eines  Gelasses  ganz 
verboten  werden,  so  empfiehlt  es  sich,  zuvor  das  Gutachten  eines  zum  Staatsdienst 
befähigten  Arztes  und,  soweit  bautechnische  Fragen  in  Betracht  kommen,  eines  ge- 
prüften Bauverständigen  einzuholen,  welchen  die  nochmalige  Besichtigung  der  be- 
anstandeten Räume  anheimzugeben  ist. 

§ II.  Die  polizeiliche  Auflage  ist  dem  davon  Betroffenen  entweder  mündlich 
zu  Protokoll  zu  eröffnen,  wobei  dem  Betroffenen  auf  sein  Verlangen  eine  Abschrift 
der  Auflage  unentgeltlich  zu  erteilen  ist,  oder  in  Abschrift  zuzustellen.  Die  Zu- 
stellung erfolgt  durch  einen  Gemeindebediensteten  gegen  einfache  Empfangsbe- 
scheinigung, welche  im  Falle  der  Verweigerung  der  Unterschrift  durch  die  amtliche 
Beurkundung  der  Uebergabe  ersetzt  wird,  oder  durch  Postsendung  mit  vereinfachter 
Zustellung.  (Vgl.  § 30  Abs.  2 lit.  b der  württ.  Postordnung  vom  21.  Mai  1900, 
Reg.-Blatt  S.  369,  sow'ie  §§211  und  212  der  C.P.O.) 

§ 12.  Gegen  die  polizeiliche  Auflage  steht  dem  davon  Betroffenen  die  Be- 
schwerde an  die  Vorgesetzten  Behörden,  zunächst  an  das  Oberamt  zu. 

Durch  Einlegung  der  Beschwerde  wird  der  Vollzug  der  Auflage  gehemmt. 

Es  kann  jedoch  bei  oder  nach  der  Erteilung  der  Auflage  dem  Betroffenen  von 
der  Polizeibehörde  eine  Frist  zur  Erhebung  der  Beschwerde  mit  der  Wirkung  erteilt 
werden,  dafs,  wenn  innerhalb  dieser  Frist  Beschwerde  nicht  erhoben  wird,  der 
zwangsweise  Vollzug  der  Auflage  nach  Ablauf  der  für  ihre  Erledigung  gesetzten 
Frist  trotz  nachträglich  etwa  erfolgter  Beschwerdeerhebung  eingeleitct  werden  kann. 

Ebenso  kann,  wenn  cs  sich  um  Mifsständc  von  solcher  Bedeutung  handelt,  dafs 
deren  sofortige  Beseitigung  aus  polizeilichen  Gründen  dringend  geboten  ist,  die 
zwangsweise  Beseitigung  trotz  rechtzeitig  erfolgter  Beschwerdeerhebung  eingcleitet 
werden.  Es  ist  aber  darüber,  dafs  das  geschehen  wird,  dem  Betroffenen  ausdrück- 
liche Eröffnung  zu  machen  und  es  soll  in  der  Regel  mit  der  zwangsweisen  Vollziehung 
der  Auflage  erst  vorgegangen  werden,  wenn  seit  dieser  Eröffnung  drei  Tage  ver- 
strichen sind. 

§ 13.  Zuständig  zur  Erlassung  von  Strafverfügungen  wegen  Uebertrctungen 
des  Art.  29  a und  des  Art.  32  Ziff.  5 des  Polizeistrafgesetzes  ist  das  Oberamt,  so- 


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Verfügung  des  Ministeriums  des  Innern  über  die  Wohnungsaufsicht.  \^J 

weit  nicht  die  Ucbertretung  einer  auf  Grund  des  Art.  32  Ziff.  5 des  Polizeistraf- 
gesetzes erlassenen  ortspolizeilichcn  Vorschrift  in  Frage  steht.  Im  letzteren  Falle 
kommt  die  Erlassung  von  Strafverfügungen  dem  Ortsvorstehcr  innerhalb  der  Grenzen 
seiner  Strafbefugnis  zu.  (Zu  vgl.  Art.  10  Ziff.  2 und  Art.  14  der  Polizeistrafnovelle 
vom  12.  August  1879.) 

Ohne  vorgängige  polizeiliche  Auflage  darf,  auch  wenn  es  sich  um  eine  Ver- 
fehlung gegen  eine  auf  Grund  des  Art.  32  Ziff.  5 des  Polizeistrafgesetzes  erlassene 
wohnungspolizeiliche  Vorschrift  handelt,  eine  Strafverfügung  nicht  erlassen  werden. 
Einer  wiederholten  polizeilichen  Auflage  bedarf  cs  dagegen  nicht  mehr,  wenn  durch 
die  gemachte  Auflage  die  dauernde  Herbeiführung  eines  Zustands  oder  die  perio- 
dische Vornahme  einer  Thätigkeit  z.  B.  des  Reinigens  der  Wohnung  aufgegeben 
oder  eine  bestimmte  Benutzungsweise  der  Wohnung  ein  für  alle  Mal  verboten 
worden  ist.  In  diesen  Fällen  kann  nach  vorausgegangener  einmaliger  Auflage  so- 
fort strafrechtlich  eingeschritten  werden,  so  oft  der  vorgeschriebene  Zustand  be- 
einträchtigt, die  verlangte  Thätigkeit  unterlassen  oder  das  erteilte  Verbot  über- 
treten wird. 

Unberührt  bleibt  die  Befugnis  der  Polizeibehörden,  gemäfs  Art.  2 Abs.  2 der 
Polizeistrafnovcllc  vom  12.  August  1879  ihre  Auflagen,  abgesehen  von  polizeilichen 
Strafverfügungen,  in  den  geeigneten  Fällen  auch  durch  Anwendung  sonstiger  gesetz- 
licher Zwangsmittel,  beispielsweise  durch  Vornahme  der  angeordneten  baulichen 
Aenderung  auf  Kosten  des  Hauseigentümers  oder  durch  zwangsweise  Räumung  einer 
ungeeigneten  Wohnung  zur  Ausführung  zu  bringen. 

§ 14.  Den  Gemeinden  mit  3000  oder  weniger  Einwohnern  bleibt  es  über- 
lassen, die  Wohnungsaufsicht  nach  Mafsgabc  dieser  Verfügung  durch  ortspolizeiliche 
Vorschrift  einzuführen. 

§ 15.  Die  Oberämter  und  Oberamtsphysikate  werden  angewiesen,  auf  die 
Handhabung  der  Wohnungsaufsicht  in  den  Gemeinden,  insbesondere  bei  Vornahme 
von  Visitationen  ihr  besonderes  Augenmerk  zu  richten. 

§ 16.  Die  Erlassung  weiterer  Vorschriften  Über  die  Wohnungsaufsicht,  sowie 
die  Veranstaltung  besonderer  statistischer  Erhebungen  über  die  in  den  Wohnungen 
herrschenden  Zustände  bleibt  Vorbehalten. 

§ 17.  Die  Vorschriften  der  Gewerbeordnung  über  die  Arbeitsräume  der  ge- 
werblichen Arbeiter  werden  durch  die  gegenwärtige  Verfügung  nicht  berührt. 

Stuttgart,  den  21.  Mai  1901. 

Pi  sch  ek. 


HESSEN. 

Gesetz  betreffend  die  Wobnungsfürsorge  für  Minderbemittelte. 

Ernst  Ludwig  von  Gottes  Gnaden  Grofsherzog  von  Hessen  und  bei  Rhein  etc.  etc. 

Wir  haben  mit  Zustimmung  Unserer  getreuen  Stände  verordnet  und  verordnen 
hiermit,  wie  folgt: 

Art  I.  Als  zu  Wohnungen  für  Minderbemittelte  bestimmt  gelten  im  Sinne 


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i58 


Gesetzgebung : Hessen. 


des  gegenwärtigen  Gesetzes  solche  Häuser,  bei  welchen  nach  ihrer  Raumeinteilung 
die  Abgabe  von  Wohnungen  mit  nicht  mehr  wie  drei  Zimmern  nebst  Küche  und 
Zubehör  als  Regel  vorgesehen  ist. 

Art.  2.  Ein  Darlehen,  welches  von  einer  Gemeinde  bei  der  Landeskreditkasse 
zur  Förderung  des  Baues  von  Wohnungen  der  in  Artikel  l bezeichnetcn  Art  aul 
Grund  des  Artikels  I,  Absatz  2,  Ziffer  3 des  Gesetzes,  die  Landeskreditkasse  betreffend, 
vom  6.  August  1902  (Reg.-Bl.  S.  351)  aufgenommen  werden  soll,  kann  vorbehaltlich 
der  Vorschrift  in  Artikel  6,  Absatz  I,  des  gegenwärtigen  Gesetzes  bis  zum  vollen 
Betrag  der  Kosten  für  den  Erwerb  des  Baugeländes  sowie  für  die  Bauausführung 
gewährt  werden. 

Solche  Darlehen  bedürfen  in  der  Regel  keiner  dinglichen  Sicherung.  Wird 
sie  verlangt,  so  kann  sie  auch  durch  Einräumung  eines  Pfandrechts  an  einer  auf 
die  Baugrundstückc  eingetragenen  Hypothek  bestellt  werden. 

Art.  3.  Unser  Ministerium  des  Innern  ist  ermächtigt,  im  Einverständnis  mit 
unserem  Ministerium  der  Finanzen,  die  Tilgung  der  nach  Artikel  2 zu  gewährenden 
Darlehen  in  jedem  fünften  Jahre  auf  ein  Jahr  gegen  die  Verpflichtung  der  Darlchcns- 
nehmerin  auszusetzen,  den  dadurch  erspart  werdenden  Betrag  zur  Vornahme  gröfserer 
Reparaturen  zu  verwenden  oder  für  solche,  falls  sie  erst  künftig  erforderlich  werden, 
anzusammeln. 

Unser  Ministerium  des  Innern  ist  ferner  ermächtigt,  im  Einverständnis  mit 
Unserem  Ministerium  der  Finanzen  für  bedürftige  Gemeinden  ausnahmsweise  den 
Zinsfufs  der  nach  Artikel  2 zu  gewährenden  Darlehen,  welche  innerhalb  der  ersten 
zehn  Jahre  nach  dem  Inkrafttreten  dieses  Gesetzes  aufgenommen  werden,  für  die 
Dauer  eines  gleichen  Zeitraumes  von  der  Aufnahme  des  einzelnen  Darlehens  ab  bis 
auf  ein  Halb  vom  Hundert  unter  den  sich  nach  Vorschrift  des  Artikels  5,  Absatz  2, 
des  Gesetzes  über  die  Landeskreditkassc  berechnenden  Zinssatz  zu  ermäfsigen. 

Der  hiernach  sich  ergebende  Fehlbetrag  an  Zinsen  ist  als  staatlicher  Zuschufs 
zur  Forderung  des  Wohnungswesens  alljährlich  im  Hauptvoranschlag  der  Staatsein- 
nahmen und  -Ausgaben  besonders  vorzuschcn. 

A r t.  4.  Das  Darlehcnsgesuch  ist  unter  Vermittelung  des  Kreisamts  und  mit 
dessen  gutachtlicher  Aeufserung  beim  Ministerium  des  Innern  einzurcichen.  Das 
Gesuch  mufs  über  die  beabsichtigte  Art  der  Verwendung  des  Darlehens  Auskunft 
geben  und  auf  Verlangen  des  Ministeriums  des  Innern  durch  die  für  erforderlich 
erachteten  näheren  Nachweisungen  ergänzt  wferden. 

Mit  der  Benachrichtigung  der  Gemeinde  von  der  Bewilligung  eines  Darlehens 
ist  seitens  des  Kreisamts  die  Genehmigung  der  Darlehnsaufnahmc  (Städeordnung, 
Artikel  48,  Ziffer  3,  Landgemeindeordnung,  Artikel  47,  Ziffer  3)  zu  verbinden. 

Im  übrigen  bemifst  sich  das  Verfahren  nach  den  Vorschriften  der  Artikel  7 ff. 
des  Gesetzes  über  die  Landeskreditkassc. 

Art.  5.  Einer  Gemeinde  kann  ein  Darlehen  auch  zu  dem  Zwecke  gewährt 
werden,  einer  gemeinnützigen  rechtsfähigen  Vereinigung  des  öffentlichen  oder  pri- 
vaten Rechts,  welche  die  Erbauung  von  Wohnungen  für  Minderbemittelte  zur  Auf- 
gabe hat,  die  erforderlichen  Mittel  ebenfalls  darlehnsw’eise  zu  verschaffen. 

Im  Falle  eines  in  anderer  Weise  nicht  zu  beseitigenden  Mangels  an  solchen 


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Gesetz,  betreffend  die  Wohnungsfürsorge  für  Minderbemittelte.  j 

Wohnungen  kann  die  Gemeinde  zu  dieser  Darlehnsaufnahmc  auf  Antrag  einer  Ver- 
einigung der  bezeichneten  Art  durch  Erkenntnis  des  Kreisausschusses  für  verpflichtet 
erklärt  werden. 

In  diesem  Erkenntnis  sind  zugleich  die  Bedingungen  der  Darlchenshingabc  an 
die  bezüglichen  Vereinigungen , welche  eine  zweckmäfsigc  Benutzung  der  herzu- 
stellenden  Wohnungen  und  deren  angemessene  bauliche  Unterhaltung  gewährleisten, 
festzusetzen. 

Auf  das  Verfahren  vor  dem  Kreisausschussc  und  die  Anfechtung  seines  Er- 
kenntnisses finden  die  Artikel  48,  II,  2 und  67  der  Kreis-  und  Provinzialordnung 
entsprechende  Anwendung. 

Art.  6.  In  den  Fällen  des  Artikels  5 darf  das  von  der  Gemeinde  zu  ge- 
währende Darlehen  neun  Zehntel  des  in  Artikel  2 erwähnten  Betrags  nicht  über- 
schreiten. 

Für  die  Vereinbarungen,  welche  die  Gemeinde  mit  der  Empfängerin  des  Dar- 
lehens über  dessen  Sicherstellung,  Verzinsung  und  Tilgung  trifft,  sind  die  der  Ge- 
meinde gegenüber  der  Landeskrcditkassc  obliegenden  Leistungen  bezüglich  der  Ver- 
zinsung und  Tilgung  insofern  mafsgebend,  als  sich  die  Gemeinde  höhere  Zinsen 
oder  eine  raschere  Tilgung  nicht  ausbedingen  darf. 

Art  7.  In  den  Fällen  des  Artikels  5 darf  der  Gemeinde  ein  Baudarlehcn  nur 
gewährt  werden,  wenn  zwischen  ihr  und  der  Empfängerin  die  erforderlichen  Verein- 
barungen zustande  gekommen  sind,  welche  eine  zweckentsprechende  Benutzung  der 
herzustellenden  Wohnungen  und  deren  angemessene  bauliche  Unterhaltung  gewähr- 
leisten. 

Die  Gemeinde  kann  das  Darlehen  ohne  Einhaltung  einer  Kündigungsfrist 
kündigen,  w'enn  die  Empfängerin  die  getroffenen  Vereinbarungen  nicht  einhält  oder 
wenn  einer  der  in  Artikel  12  des  Gesetzes  über  die  Landeskreditkassc  genannten 
Gründe  vorlicgt 

Erscheint  die  Zweckbestimmung  des  mit  dem  Darlehen  hergcstellten  Gebäudes 
nebst  zugehörigem  Gelände  gefährdet,  so  ist  die  Gemeinde  zugleich  berechtigt,  das- 
selbe zu  dem  durch  diesen  Zweck  bestimmten  Werte  nach  Mafsgabe  des  Gesetzes, 
betreffend  die  Enteignung  von  Grundeigentum,  vom  26.  Juli  1884,  in  der  Fassung 
der  Bekanntmachung  vom  30.  September  1899  (Reg.-Bl.  S.  735)  in  Eigentum  zu  er- 
werben. 

Art.  8.  Die  Auszahlung  des  bewilligten  Darlehens  kann  in  angemessenen 
Teilbeträgen  erfolgy , deren  Auszahlung  von  dem  Nachweis  abhängig  gemacht 
u’crden  kann,  dafs  die  bisher  gezahlten  Beträge  in  angemessenem  Umfange  zur  Be- 
friedigung der  Forderungen  der  Baubandwerker  verwendet  worden  sind. 

Art  9.  Ist  auf  Grund  der  Artikel  7 und  15  des  Gesetzes,  betreffend  die 
polizeiliche  Beaufsichtigung  von  Mietwohnungen  und  Schlafstellen  vom  I.  Juli  1893 
(Reg.-Bl.  S.  1 01)  die  mietweise  Benutzung  der  Mehrzahl  von  gesundheitsschädlichen 
Wohnräumcn  in  einem  Hause  untersagt  und  die  Ausweisung  der  in  dieselben  auf- 
genommenen  Personen  bewirkt  worden,  so  ist  die  Gemeinde,  falls  der  Eigentümer 
des  Hauses  einer  weiteren  Auflage  des  Umbaues  oder  der  Niederlegung  innerhalb 


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i6o 


Gesetzgebung:  Hessen. 


bestimmter  Frist  nicht  entspricht , zur  Enteignung  des  Hauses  nebst  zugehörigem 
Gelände  zwecks  Herstellung  von  Wohnungen  für  Minderbemittelte  befugt. 

Art.  IO.  Artikel  io  des  im  Eingang  des  vorigen  Artikels  genannten  Gesetzes 
ist  aufgehoben. 

Art.  II.  Die  auf  Gemeinden  bezüglichen  Vorschriften  des  gegenwärtigen  Ge- 
setzes finden  auf  weitere  Kommunalverbändc  entsprechende  Anwendung. 

Art.  12.  Unser  Ministerium  des  Innern  ist  ermächtigt,  für  das  Gebiet  des 
Grofshcrzogtums  eine  dem  genannten  Ministerium  unterstehende  Landes- Wohnungs- 
Inspektion  zu  bilden,  welche  die  Aufgabe  hat,  im  Zusammenwirken  mit  den  staat- 
lichen und  kommunalen  Behörden  die  Wohnungverhältnisse  der  minderbemittelten 
Volksklassen  in  gesundheitlicher  und  sittlicher  Hinsicht  festzustellen  und  in  Gemein- 
schaft mit  dem  hessischen  Zcntralverein  für  Errichtung  billiger  Wohnungen,  sowie 
mit  den  gemeinnützigen  Bauvereinen  des  Landes  auf  Beseitigung  der  sich  ergebenden 
Mifsstände  hin/.uwirken. 

Die  Organisation  und  der  Geschäftskreis  der  Inspektion  im  einzelnen  bleibt 
der  Regelung  durch  Uns  im  Wege  der  Verordnung  Vorbehalten. 

Art  13.  Alle  Verhandlungen,  welche  die  Erbauungen  von  Wohnungen  für 
Minderbemittelte  nach  Mafsgabe  dieses  Gesetzes  zum  Gegenstand  haben,  insbesondere 
die  Aufnahme  und  Sicherstellung  von  Darlehen,  sowie  der  Erwerb  von  Gelände, 
sind  von  Stempel  und  Gerichtsgebühren  befreit.  Der  Artikel  2 des  Gesetzes,  be- 
treffend die  Befreiung  gemeinnütziger,  auf  die  Errichtung  von  Wohnungen  für  Un- 
bemittelte gerichteter  Unternehmungen  von  Gerichtsgebühren  und  Stempel , vom 
9.  Juni  1894  (Reg.-Blatt  S.  245)  findet  entsprechende  Anwendung. 

Art  14.  Allen  Behörden  wird  zur  Pflicht  gemacht,  die  Erledigung  von  An- 
gelegenheiten der  durch  dieses  Gesetz  berührten  Art  möglichst  zu  beschleunigen. 

Art  15.  Der  Zeitpunkt  des  Inkrafttretens  gegenwärtigen  Gesetzes  wird  durch 
Verordnung  bestimmt. 

Unser  Ministerium  des  Innern  wird  mit  der  Ausführung  desselben  beauftragt. 

Urkundlich  Unserer  eigenhändigen  Unterschrift  und  beigedrückten  Grofsherzog- 
lichen  Siegels. 

Darmstadt,  den  7.  August  1902. 

Ernst  Ludwig. 

Rothe. 


♦ 


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FRANKREICH. 

Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öffentlicher 
Arbeiten  in  Frankreich.  *) 

Von 

RAOUL  JAY, 

Professor  an  der  juristischen  Fakultät  der  Universität  Paris. 


Die  Frage  der  Arbeitsbedingungen  bei  der  Vergebung  öffent- 
licher Arbeiten  ist  in  Frankreich  zur  Zeit  durch  die  drei  Dekrete 
vom  io.  August  1899  geregelt.  Die  nachstehenden  Zeilen  sollen 
darlegcn,  unter  welchen  Verhältnissen,  zu  welchen  Zwecken  diese 
Dekrete  erlassen  wurden  und  welche  Bedeutung  sie  haben. 

Die  Aufgabe,  den  mit  öffentlichen  Arbeiten  beschäftigten  Ar- 
beitern gewisse  Arbeitsbedingungen  zu  sichern , hat  die  Aufmerk- 
samkeit der  öffentlichen  Gewalten  schon  lange  in  Anspruch  ge- 
nommen. In  verhältnismäßig  alten  Submissionsvorschriften  (cahier 
des  chargesj  finden  sich  öfters  bezügliche  Klauseln.  So  verbieten 
die  Vorschriften  betr.  allgemeine  Bedingungen  für  Brücken-  und 
Strafsenbauten  vom  16.  November  1866  in  ihrem  Art.  11  dem 
Unternehmer,  die  Arbeiter  an  Sonn-  und  Feiertagen  zu  beschäftigen, 
ordnen  ferner  in  Art.  16  an,  „dafs  von  den  dem  Unternehmer  zu 
zahlenden  Beträgen  ein  hundertstel  zurückzubehalten  ist,  um  unter 

’)  Bei  der  Abfassung  des  folgenden  Artikels  habe  ich  die  nachstehenden 
Werke  benutzt:  Mazoycr,  les  conditions  du  travail  dans  les  chantiers  de  la  ville 
de  Paris,  2.  edition  1900.  Oubert,  les  conditions  du  travail  dans  les  adjudications 
de  travaux  publics,  1900.  Rapport  fait  au  nom  de  la  Commission  du  travail  sur 
les  conditions  du  travail  dans  les  marches  de  travaux  publics,  p.  M.  Pierre  Baudin, 
depute,  1899. 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  I I 


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IÖ2 


Gesetzgebung : Frankreich. 


behördlicher  Aufsicht  den  durch  die  Arbeiten  verletzten  oder  er- 
krankten Arbeitern  Unterstützungen  zu  sichern,  desgleichen  ihren 
Witwen  und  Kindern,  und  ferner  zur  Bestreitung  der  Kurkosten."  ’) 
In  ihrer  vollen  Bedeutung  wurde  die  Frage  jedoch  erst  neuer- 
dings durch  den  Pariser  Stadtrat  bezüglich  der  öffentlichen  Ar- 
beiten der  Stadt  Paris  aufgeworfen.  Am  31.  Juli  1886  beschlofs  der 
Pariser  Stadtrat  die  Festsetzung  eines  Normalarbcitstages  von  neun 
Stunden  und  eines  wöchentlichen  Ruhetages  für  sämtliche  Arbeiten 
der  Stadt  Paris.  Am  27.  April  1887  fafste  er  in  Ergänzung  seines 
Beschlusses  vom  vorhergehenden  Jahre  eine  Resolution  des  Inhalts, 
dafs  die  Löhne  dieser  Arbeiter  nach  den  offiziellen  Preislisten  der 
Stadt  festzusetzen  seien.  Die  Preislisten  der  Stadt  Paris  waren 
lange  Zeit  lediglich  Uebersichten  der  auf  dem  Markte  thatsächiich 
gezahlten  Preise  und  Löhne,  welche  den  Behörden  der  Stadt  dazu 
dienen  sollten , die  Kosten  der  notwendigen  Arbeiten  im  voraus 
wenigstens  annähernd  festzusetzen.  Indessen  trugen  diese  Listen 
seit  1872  anderen  Gesichtspunkten  Rechnung;  so  berücksichtigte 
man  namentlich  bei  der  letzten  Revision  vor  1887,  bei  jener  im 
Jahre  1882,  die  Forderungen  gewisser  Arbeitervereine  und  trug  in 
die  Listen  höhere  Löhne  ein  als  jene,  wie  sie  die  Mehrzahl  der 
Unternehmer  zahlten.  Dadurch,  dafs  der  Pariser  Stadtrat  die  Sub- 
missionsunternehmer der  städtischen  Arbeiten  zwang,  den  in  diesen 
Arbeiten  beschäftigten  Arbeitern  die  in  der  1 882  er  Liste  einge- 
tragenen Löhne  zu  zahlen,  sicherte  er  diesen  Arbeitern  einen  höheren 
als  den  üblichen  Lohn.  Der  Stadtrat  wollte  dem  in  den  städtischen 
Arbeiten  Angestellten  hierdurch  einen  die  Existenz  sichernden 
Mindestlohn  gewährleisten.  Der  Artikel  2 des  Beschlusses  vom 
27.  April  1887  ist  übrigens  in  dieser  Hinsicht  besonders  kenn- 
zeichnend. Hiernach  ist  die  offizielle  Liste  der  Stadt  Paris  alljährlich 
„dergestalt  abzuändern , dafs  die  Lohnsätze  stets  im  Einklang  mit 
den  Preisen  der  Lebensmittel  und  den  allgemeinen  Existenzbe- 
dingungen der  Arbeiter  bleiben."  In  der  Verhandlung  des  Stadt- 
rates erläuterte  Vaillant  diese  Fassung  folgendermafsen : Schon  die 
Erwägung,  dafs  der  Lohn  den  Preis  einer  mit  der  Person  des  Ar- 
beiters identifizierten  Arbeitskraft  darstellt,  genüge  seines  Erachtens 
zur  Rechtfertigung  des  zweiten  Teils  (des  eben  angeführten  Art.  2) 
sowie  zum  Beweise,  dafs  die  Stadt  keinen  anderen  Mafsstab  zur 
Festsetzung  ihrer  Löhne  zulassen  dürfe,  als  den,  der  den  von  ihr 

*)  Vgl.  den  Baudinschen  Bericht,  S.  io,  Anmerkung. 


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Ra oul  Jay,  Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öflentl.  Arbeiten.  16} 

angcstellten  Arbeitern  zu  existieren  gestattet  . . . Die  Sätze  der 
Liste  waren  ein  Versuch , den  Mindestlohn  oder  den  Wert  der 
Arbeitskraft  festzusetzen,  welche  der  Arbeiter  seinem  Unternehmer 
verkauft.  Hierdurch  erklärt  sich,  warum  die  Arbeitskommission  die 
Anwendung  der  Listensätze  forderte,  welche  eine  reelle,  greifbare 
Unterlage  für  die  Schätzung  der  Kosten  des  Lebensunterhaltes 
bietet.1) 

Der  Vollständigkeit  halber  sei  bemerkt,  dafs  der  Beschlufs 
vom  27.  April  1887  einen  Artikel  enthielt,  welcher  die  Regierung 
aufforderte,  die  gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Akkordarbeit 
(marchandage)  durchfuhren  zu  lassen. 

Die  Frage  der  Arbeitsbedingungen  bei  der  Vergebung  öffent- 
licher Arbeiten  war  also  vom  Pariser  Stadtrat  in  ihrem  ganzen 
Umfange  aufgerollt  und  in  kühnem  Anlauf  gelöst.  Doch  stiefs  die 
Durchführung  der  Beschlüsse  von  1886  und  1887  notwendig  auf 
manche  Hindernisse.  Vor  allem  auf  den  Widerstand  der  Regierung. 
Am  17.  März  1888  erliefs  die  Regierung  ein  Dekret,  welches  den 
Beschlufs  vom  27.  April  1887  für  nichtig  erklärte.  Nach  den 
Motiven  des  Dekrets  wurde  dem  Stadtrat  wohl  die  Befugnis  zuer- 
kannt, im  städtischen  Interesse  die  Submissionsbedingungen  zu 
regeln,  er  überschreite  jedoch  diese  Befugnisse  und  beeinträchtige 
die  Freiheit  der  Arbeit,  wenn  er  an  Stelle  der  Uebereinkunft 
zwischen  Unternehmer  und  Arbeiter  seine  Regelung  aufzwingen 
wolle.  Ferner  behaupteten  die  Motive,  dafs  dem  Beschlüsse  vom 
27.  April  1887  die  Verordnung  vom  14.  November  1837  entgegen- 
stehe, welche  jede  Gemeinde  verpflichte,  die  Bewerbungen  um  Ar- 
beiten und  Lieferungen  der  Konkurrenz  und  der  Oeffentlichkeit 
anheimzugeben;  die  Klauseln  des  Beschlusses  vom  27.  April  1887 
hätten  die  Aufhebung  des  freien  Wettbewerbs  zur  Folge;  sie  hielten 
die  Bewerber  ab  oder  machten  wenigstens  die  Mindestforderungen 
illusorisch. 

Trotz  des  Dekretes  vom  17.  März  1888  beharrte  der  Pariser 
Stadtrat  bei  seinem  Vorhaben , die  Arbeitsbedingungen  der  in  den 
städtischen  Arbeiten  beschäftigten  Arbeiter  einheitlich  zu  regeln. 
Er  fafste  am  31.  März  1888  seinen  Beschlufs  vom  27.  April  1887 
von  neuem. 

Inzwischen  hatten  die  Ansichten  der  Regierung  sich  geändert. 
Es  fanden  Unteftiandlungen  statt.  Die  erzielte  Einigung  erhielt 


')  Maioyer  a.  a.  O.  S.  99. 

* II* 


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164 


Gesetzgebung:  Frankreich. 


ihre  Bestätigung  durch  den  Beschlufs  des  Stadtrates  vom  2.  Mai 
1888,  worauf  der  Seinepräfekt  diesen  Beschlufs  namens  der  Re- 
gierung genehmigte.  Die  Liste  von  1882  erfuhr  einige  Aenderungen. 
Doch  sollten  die  Unternehmer  den  Arbeitern  Löhne  zahlen,  die 
denen  der  geänderten  Liste  mindestens  gleich  wären.  Die  tägliche 
Arbeitszeit  sollte  9 Stunden  thatsächlicher  Arbeit  nicht  über- 
schreiten. Ein  Tag  der  Woche  sollte  als  Ruhetag  gelten.  Unter 
aufsergewöhnlichen  Verhältnissen  oder  bei  unvorhergesehenen  Zu- 
fällen konnte  der  die  Arbeiten  leitende  Ingenieur  oder  Architekt 
die  Ausführung  von  Arbeiten  aufserhalb  der  vorschriftsmäfsigen 
Stunden  anordnen.  Diese  Ueberstunden  sollten  mit  dem  um  25  #f0 
erhöhten  Stundenlohn  für  Tagesarbeit  und  mit  dem  doppelten  Lohn 
für  Nachtarbeit  bezahlt  werden. 

Ausländische  Arbeiter  durfte  der  Unternehmer  in  jeder  Ar- 
beitsgattung nur  bis  zu  einem  zehntel  der  Arbeiterzahl  beschäftigen. 
Jede  Uebertretung  der  angeführten  Festsetzungen  sollte  eine  Geld- 
bufse  von  IO  Francs  nach  sich  ziehen,  unbeschadet  der  Klauseln 
und  allgemeinen  Bedingungen,  wonach  der  Vertrag  des  Unter- 
nehmers hinfällig  werden  konnte.  Unter  diesen  Bedingungen  wurden 
die  Instandhaltungsarbeiten  der  Bauabteilung  am  10.,  II.,  12.  und 
13.  Juli  1888  vergeben.  Zu  den  Submissionen  zugelassen  wurden 
nur  Unternehmer,  welche  sich  zur  Beobachtung  der  im  Beschlüsse 
vom  2.  Mai  1888  aufgestellten  Regeln  verpflichteten. 

Mazoyer  versichert,  dafs  trotz  der  solchergestalt  den  Bewerbern 
auferlegten  Verpflichtungen  die  Mindestforderungen  nicht  höher 
waren  als  bei  früheren  Submissionen.1) 

Der  Erfolg  des  Pariser  Stadtrates  sollte  jedoch  kein  anhaltender 
sein.  Drei  Unternehmer,  welche  die  Verpflichtung  hinsichtlich  der 
Arbeitsbedingungen  nicht  unterzeichnet  hatten,  wurden  von  der 
Bewerbung  ausgeschlossen,  obwohl  ihre  Forderungen  niedriger 
waren  als  die  ihrer  Konkurrenten.  Diese  Unternehmer  erhoben 
bei  dem  Staatsrat  Beschwerde.  Elf  andere  Unternehmer  und  die 
Arbeitgebersyndikate  des  Baugewerbes  schlossen  sich  ihnen  an.  Der 
Staatsrat  hob  durch  Beschlufs  vom  21.  März  1890  wegen  Ueber- 
schreitung  der  Zuständigkeit  die  Verfügungen  des  Seinepräfektes 

')  Mazoyer  a.  a.  O.  S.  147.  Auch  der  Bericht  der  Kommission  des  General- 
rates für  Brücken-  und  Strafscnbau  enthält  den  Satz : „Widef  Erwarten  waren  die 
Mindestforderungen  nicht  höher  als  bei  früheren  Submissionen."  Vgl.  den  Baudin- 
schen  Bericht,  Anhang,  S.  252. 


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Kauul  Jay,  Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öffenll.  Arbeiten.  I (5 ; 

auf,  wodurch  er  die  Zuschläge  im  Juli  1888  genehmigt  hatte. 
Fünf  Jahre  später,  am  25.  Januar  1895,  entschied  der  Staatsrat  im 
gleichen  Sinne.  Er  fufst  in  dem  Beschlüsse  vom  25.  Januar  1895 
auf  ganz  demselben  Grunde,  wie  die  Regierung  in  ihrem  auf- 
hebenden Dekrete  von  1888.  Der  Staatsrat  erklärt  auch  seiner- 
seits, dafs  der  Stadtrat  seine  Befugnisse  überschreite,  wenn  er  das 
gesetzmäfsige  Ergebnis  der  Uebcreinkunft  zwischen  Unternehmern 
und  Arbeitern  durch  eine  aufgezwungene  Regelung  ersetze,  und 
der  Durchführung  der  Verordnung  vom  14.  November  1837  ent" 
gegenwirke,  welche  die  Gemeinden  verpflichte,  Bewerbungen  um 
Arbeiten  und  Lieferungen  der  Konkurrenz  und  der  Oeffentlichkeit 
anheimzugeben. 

Das  Beharren  des  Staatsrates  auf  seinem  Standpunkt  zwang 
die  Verfechter  der  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öffentlicher 
Arbeiten,  auf  die  Durchführung  der  Reform  innerhalb  des  rein 
städtischen  Gebietes  zu  verzichten,  und  sich  an  eine  Instanz  zu 
wenden,  die  den  Widerstand  zu  brechen  vermochte,  welcher  dem 
Vorgehen  dcs  Pariser  Stadtrats  entgegenwirkte.  *) 

Am  30.  Dezember  1893  nahm  der  Pariser  Stadtrat  folgenden 
Antrag  Sautons  an : „Die  Stadtbehörde  wird  aufgefordert,  sich  mit 
den  Vertretern  der  Stadt  Paris  in  der  Kammer  sowohl  als  im  Senat 
in  Beziehung  zu  setzen,  um  im  Parlament  die  vom  Stadtrat  im 
Hinblick  auf  die  Ausführung  der  Arbeiten  auf  den  städtischen 
Werkplätzen  beschlossenen  Klauseln  und  Arbeitsbedingungen  voll 
und  ganz  zur  Annahme  zu  bringen.“  s) 

Am  30.  Januar  1894  brachte  Vaillant  in  Verbindung  mit  einer 
grofsen  Anzahl  seiner  Kollegen  in  der  Deputiertenkammer  einen 
Gesetzentwurf  ein,  welcher  die  Stadt  Paris  ermächtigte,  alle  zur 
gehörigen  Ausführung  der  Arbeiten  geeigneten  Mafsnahmcn  un- 
mittelbar ins  Werk  zu  setzen  oder  in  die  Bedingungen  für  die 
Vergebung  von  Neu-  oder  Instandhaltungsarbeiten  aufzunehmen. 
Zu  diesen  Mal’snahmen  gehörten  nach  Art.  2 des  Entwurfes  die 


’)  Es  darf  hier  nicht  unerwähnt  bleiben,  dafs  eine  Anzahl  Stadtverwaltungen 
in  den  Provinzen  dem  Pariser  Stadtrat  gleich  versucht  hatten,  den  in  ihren  öffent- 
lichen Arbeiten  beschäftigten  Angestellten  günstige  Arbeitsbedingungen  zu  sichern, 
so  die  Stadtverwaltungen  von  Toulouse,  Limoges.  Albi,  Koubaix.  Vgl.  Ouberta.a.O. 

S.  33- 

*)  Maroyer  a.  a.  O.  S.  237. 


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66 


Gesetzgebung:  Frankreich. 


Arbeitsbedingungen,  wie  sie  durch  den  Beschlufs  des  Pariser  Stadt- 
rates vom  2.  Mai  1888  festgesetzt  worden. 

Einige  Monate  darauf,  am  23.  Juni  1894,  brachte  Castelin 
einen  weitergehenden  Entwurf  ein , der  die  Regelung  der  Arbeits- 
bedingungen auf  den  Werkplätzen  des  Staates,  der  Departements 
und  der  gemeinnützigen  Betriebe  vorsah. 

Beide  Entwürfe  wurden  der  Arbeitskommission  überwiesen,  und 
am  10.  März  1898  erstattete  Lavy  einen  Bericht,  in  welchem  er 
die  Resultate  darlegte,  zu  welchen  die  Arbeitskommission  gelangt 
war.  Die  von  der  Kommission  beschlossene  Fassung  besagte,  dafs 
der  Staat,  das  Departement  und  die  Gemeinden  bei  ihren  Arbeiten, 
würden  diese  von  ihnen  selbst  ausgeführt  oder  durch  Submission 
vergeben,  gehalten  seien : 

1.  Den  Arbeitern  wöchentlich  einen  Ruhetag  zu  bewilligen, 
oder  die  Bewilligung  eines  solchen  zu  fordern ; 

2.  die  Beschäftigung  ausländischer  Arbeiter  nur  in  je  nach  der 
Art  der  Arbeiten  zu  bestimmendem  Maximum  zu  gestatten; 

3.  in  Gemäfsheit  des  Dekretgesetzes  vom  2.  März  1848  und 
des  Erlasses  der  provisorischen  Regierung  vom  21.  März 
1848  jede  Akkordarbeit  (marchandage)  zu  verbieten. 

Nach  der  von  der  Kommission  beschlossenen  Fassung  sollten 
nur  die  vorstehenden  Klauseln  obligatorisch  in  die  Vergebungs- 
bedingungen aufgenommen  werden.  Doch  ermächtigte  derselbe 
Entwurf  auch  die  Departements  und  Gemeinden,  diesen  Bedingungen 
(cahiers  des  charges)  ferner  Klauseln  bezüglich  der  Festsetzung  der 
Löhne,  der  Arbeitszeit,  sowie  alle  übrigen  Klauseln  einzufügen, 
welche  geeignet  seien,  die  gehörige  Ausführung  der  Arbeiten  so- 
wohl als  die  richtige  Zahlung  der  Löhne,  die  gehörige  Organisation 
der  Arbeit,  des  Gesundheits-  und  Unfallschutzes  zu  Gunsten 
der  Arbeiter  zu  gewährleisten. 

Eis  bleiben  also,  wie  man  sieht,  die  Arbeitskommission  und  ihr 
Berichterstatter  Lavy  innerhalb  desselben  Bereiches,  welches  vor- 
dem der  Pariser  Stadtrat  eingenommen  hatte.  Man  wollte  den 
Arbeitern  der  öffentlichen  Arbeiten,  sowohl  der  vergebenen  als  der 
direkt  von  den  öffentlichen  Behörden  ausgeflihrten , Arbeits- 
bedingungen sichern,  welche  ihnen  günstig  wären.  Die  Legis- 
laturperiode ging  zu  Ende,  ohne  dafs  über  den  Bericht  Lavys  ver- 
handelt worden.  Bald  nach  dem  Zusammentritt  der  1898  ge- 
wählten neuen  Deputiertenkammer  brachten  Vaillant  und  Castelin 


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Raoul  Jay,  Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öffentl.  Arbeiten. 

ihre  Entwürfe  von  neuem  ein , denen  sich  weitere  Entwürfe  der 
Abgeordneten  Dansette  und  Holtz  anschlossen.  Nach  ihrer  Ver- 
weisung an  eine  neue  Arbeitskommission  wurden  diese  Entwürfe 
Gegenstand  eines  umfassenden,  von  Baudin  (Lavy  war  1898  nicht 
wiedergewählt)  erstatteten  Berichtes,  welchen  der  Berichterstatter 
der  Deputiertenkammer  am  3.  März  1899  vorlegte.  Auf  den  ersten 
Blick  hat  es  den  Anschein,  als  ob  die  von  Baudin  namens  der 
Arbeitskommission  von  1899  dargelegten  Ergebnisse  identisch  oder 
doch  nahezu  identisch  seien  mit  denen,  welche  Lavy  im  vorher- 
gehenden Jahre  formulierte,  und  ebenso  fast  identisch  mit  jenen, 
welche  der  Pariser  Stadtrat  vergeblich  durchzuführen  versucht  hatte. 
In  Wahrheit  aber  war  dem  nicht  so.  Der  Baudinsche  Bericht  be- 
deutete vielmehr  eine  neue  Stellungnahme,  welche  von  der  früheren 
erheblich  abwich. 

Der  Pariser  Stadtrat  wollte  den  Arbeitern  der  öffentlichen  Ar- 
beiten angemessene  Arbeitsbedingungen  sichern,  insbesondere  wollte 
er  ihnen  einen  zur  Sicherung  einer  anständigen  Existenz  aus- 
reichenden Mindestlohn  gewährleisten.  Baudin  dagegen  sagt  nur, 
dafs  das  bei  den  öffentlichen  Arbeiten  angewandte  System  der 
Submission,  des  Zuschlags  an  den  Mindestfordernden,  dazu  fuhren 
’ könne,  die  Arbeitsbedingungen  der  bei  diesen  Arbeiten  beschäftigten 
Arbeiter  schlechter  zu  gestalten,  als  jene  der  anderen  Arbeiter.  Um 
ein  derartiges  Resultat  zu  verhindern,  macht  er  den  Vorschlag,  die 
den  Zuschlag  erhaltenden  Unternehmer  zu  verpflichten,  ihren  Ar- 
beitern die  üblichen  Löhne  zu  zahlen,  welche  die  anderen  Unter- 
nehmer allgemein  zahlen,  und  ferner,  ihren  Arbeitern  keine  längere 
Arbeitszeit  aufzuerlegen,  als  sie  in  dem  fraglichen  Gewerbe  und  in 
der  betreffenden  Gegend  üblich  ist. 

Der  Baudinsche  Bericht  enthält  folgende  Stelle : „Die  Gesetze 
über  die  Frauen-  und  Kinderarbeit,  über  die  Arbeitsunfälle  u.  s.  w., 
gehen  offenbar  von  dem  Gedanken  aus,  dafs  die  Arbeiter  in 
ihrem  Leben  und  ihrer  Gesundheit  geschützt  werden  müssen. 
Die  von  uns  heute  befürwortete  Reform  bedeutet  unseres  Er- 
achtens einen  minder  kühnen  Eingriff  des  Gesetzgebers  in  das 
Gebiet  des  freien  Wettbewerbs.  Es  scheint  uns  von  Wichtig- 
keit, ihre  Tragweite  von  vornherein  genau  festzustellen.  Das  System 
der  Vergebung  an  den  Mindestfordernden,  wie  es  allen  öffentlichen 
Verwaltungen  auferlegt  ist,  veranlafst  selbstverständlich  die  Be 
werber,  ihre  Selbstkosten  nach  den  niedrigsten  Preisen  zu  berechnen. 
Es  führt  zur  Herabsetzung  der  Löhne.  Hat  nun  auch  die  Gesamt- 


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i68 


Gesetzgebung:  Frankreich. 


heit  kein  Recht,  sich  in  den  Arbeitsvertrag  einzumischen,  um  eine 
der  Parteien  zu  begünstigen,  so  darf  man  doch  andererseits  min- 
destens fordern,  dafs  nichts  geschieht,  was  einen  der  Vertrag- 
schlicfsenden  benachteiligt.  Die  Gesamtheit  aber  wirkt  nun,  will- 
kürlich oder  unwillkürlich,  durch  die  Menge  der  von  ihr  angeord- 
neten Arbeiten,  durch  das  System  und  die  Wichtigkeit  der  von  ihr 
mit  der  Privatindustrie  getroffenen  Vergebungsbeschlüsse,  auf  die 
Herabdrückung  der  Löhne  hin.  Es  ist  dies  aus  Erfahrung  bekannt. 
Sie  mufs  daher  den  Arbeiter  vor  den  unheilvollen  Konsequenzen 
ihres  Systems  schützen.  Man  sagt  uns  zwar:  „Es  ist  nicht  ihre 
Aufgabe,  zu  bereichern."  Wir  aber  erwidern : „Es  ist  nicht  ihre 
Aufgabe,  arm  zu  machen."  ’) 

Die  Resultate,  zu  welchen  der  Baudinsche  Bericht  gelangt, 
ähneln  in  auffälliger  Weise  der  Ansicht  der  Mehrheit  des  Obersten 
Arbeitsrates,  welcher  im  Jahre  1897  nach  eingehender  Beschäftigung 
mit  der  Frage  zu  dem  Schlüsse  gelangte,  dafs  es  zulässig  sei : „dem 
Unternehmer  die  Verpflichtung  aufzuerlegen,  die  Lohnsätze  und 
Arbeitszeiten  einzuhalten,  wie  sie  in  der  Stadt  oder  Umgegend,  wo 
die  Arbeit  ausgeführt  wird,  als  angemessene  und  übliche  betrachtet 
werden.“ 

In  dem,  dem  Obersten  Arbeitsrat  im  Aufträge  seiner  ständigen 
Kommission  vorgelegten  Bericht  äufserte  sich  der  Berichterstatter 
Kacufcr:  „Wir  bestreiten,  dafs  die  Abänderung  der  Verordnung  von 
1837  und  des  Dekretes  von  1882  eine  versteckte  Intervention  des 
Staates  bedeutet  oder  den  ersten  Schritt  auf  dem  Wege  zur  Fest- 
legung  eines  Mindestlohnes  in  der  Industrie.  Wir  haben  nie  und 
nimmer  an  die  Möglichkeit  und  an  das  praktische  Ergebnis 
einer  so  schwerwiegenden  Mafsnahme  geglaubt.  Wir  betonen  nach- 
drücklich, dafs  unser  Vorschlag  ausschliefslich  den  Zweck  verfolgt, 
die  verschiedenen  öffentlichen  Verwaltungen  zu  veranlassen , die 
feststehenden  üblichen  Löhne  einzuhalten  oder  einhalten  zu  lassen, 
anstatt  das  Fortbestehen  des  gegenwärtigen  Vergebungssystems  zu 
dulden,  dessen  unheilvolle  Wirkung  durch  empörende  Unterbietung 
die  Löhne  herabdrückt.“ 

Die  Verhandlung  über  den  Bericht  Baudins  in  der  Kammer  der 
Deputierten  am  4.  und  5.  Mai  1899  worden  abgebrochen,  ohne  dafs 
die  Kammer  zu  einem  Beschlüsse  gelangt  wäre.  Und  wahrschein- 


*)  Vgl.  Baudins  Bericht  S.  8. 


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Kaoul  Jay,  Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öffentl.  Arbeiten.  I (5q 

lieh  warteten  wir  noch  immer  auf  eine  gesetzliche  Regelung  der 
Frage,  wenn  nicht  Millerand,  im  Juni  1899  in  das  Ministerium  für 
Handel  und  Industrie  berufen,  sich  entschlossen  hätte,  sie  auf  dem 
Wege  des  Dekrets  zu  lösen. 

Wie  der  neue  Handelsminister  in  der  Arbeitskommission  am 

1.  Juli  1899  bereits  angekündigt  hatte,  haben  die  Dekrete  vom 
10.  August  1899  die  in  Baudins  Bericht  gemachten  Vorschläge  im 
grofsen  und  ganzen  verwirklicht.  Wie  wir  jedoch  sehen  werden, 
haben  die  Dekrete  nicht  weit  genug  gehen  und  so  einschneidende 
Vorschriften  geben  können,  als  es  dem  Gesetze  möglich  gewesen 
wäre. 

Von  den  drei  Dekreten  vom  10.  August  1899  beschäftigt  sich 
das  erste  mit  den  Arbeitsbedingungen  bei  den  staatlicherseits  ver- 
gebenen Arbeiten  und  Lieferungen,  das  zweite  mit  den  seitens  der 
Departements  gemachten  Abschlüssen,  und  das  dritte  mit  jenen  der 
Gemeinden  und  gemeinnützigen  Anstalten.  Das  für  den  Staat  nun- 
mehr geschaffene  Verhältnis  liegt  ganz  anders,  wie  jenes  der  De- 
partements, der  Gemeinden  und  der  gemeinnützigen  Anstalten. 
Das  erste  Dekret  legt  den  vom  Staat  abhängige^  Verwaltungen 
nämlich  die  Verpflichtung  auf,  gewisse  Klauseln  den  Be- 
dingungen für  die  Vergebung  ihrer  Arbeiten  einzufügen.  Die 
beiden  anderen  Dekrete  verleihen  den  Departements,  Gemeinden 
und  gemeinnützigen  Anstalten  lediglich  die  Befugnis  hierzu.  Die 
von  Baudin  vorgeschlagene  Fassung  dagegen  legte  den  Departe- 
ments, Gemeinden  etc.  bestimmte  Verpflichtungen  auf.  Ein  Dekret 
darf  jedoch  derartige  obligatorische  Bestimmungen  für  Departe- 
ments, Gemeinden  etc.  nicht  enthalten. 

Dem  ersten  Dekret  zufolge  müssen  die  Bestimmungen 
(cahiers  de  charges)  für  die  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  von 
seiten  des  Staates  Klauseln  enthalten,  durch  welche  sich  der 
Unternehmer  verpflichtet,  folgende  Bedingungen  zu  erfüllen : 

1.  den  Arbeitern  und  Angestellten  allwöchentlich  einen  Ruhe- 
tag zu  gewährleisten; 

2.  ausländische  Arbeiter  nur  in  einem  von  der  Behörde  je 
nach  der  Art  der  Arbeiten  und  nach  der  Gegend,  wo 
diese  stattfinden , festzusetzenden  Verhältnis  zu  beschäf- 
tigen ; 

3.  den  Arbeitern  einen  Normallohn  zu  zahlen,  der  für  jedes 
Gewerbe  und  in  jedem  Gewerbe  für  jede  Arbeiterkategorie 


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Gesetzgebung:  Frankreich. 


170 

gleich  ist  dem  allgemein  üblichen  Satze  in  der  Stadt  oder 
der  Gegend,  wo  die  Arbeit  ausgeführt  wird; 

4.  die  tägliche  Arbeitszeit  auf  die  übliche  normale  Arbeitszeit 
für  jede  Arbeiterkategorie  in  der  betreffenden  Stadt  oder 
Gegend  zu  beschränken. 

In  unabwendbaren  Notfällen  darf  der  Unternehmer  unter  aus- 
drücklicher und  besonderer  Genehmigung  der  Behörde  von  der 
Einhaltung  der  in  Absatz  I und  4 festgesetzten  Klauseln  Abstand 
nehmen.  Die  sich  hierbei  ergebenden  Ueberstunden  werden  durch 
eine  Lohnerhöhung  vergütet,  deren  Festsetzung  durch  die  Ver- 
tragsbedingungen geschieht. 

Laut  Art.  I der  beiden  anderen  Dekrete  können  (statt 
müssen)  die  Bestimmungen  über  Vergebung  von  Arbeiten  und 
Lieferungen  seitens  der  Departements,  der  Gemeinden  und  der 
Wohlthätigkeitsanstalten  Klauseln  enthalten,  nach  welchen  sich  der 
Unternehmer  zur  Einhaltung  der  Bedingungen  verpflichtet,  die,  wie 
wir  eben  sahen , für  die  Ucbernehmer  von  staatlichen  Arbeiten  in 
allen  Fällen  obligatorisch  sind.  Eine  Verpflichtung  wird  indessen 
auch  den  Departements,  Gemeinden  und  öffentlichen  Wohlthätigkeits- 
anstalten aufertegt.  Doch  handelt  es  sich  hier  um  herkömmliche 
Klauseln  oder  um  solche,  welche  die  Befolgung  von  Erlassen  be- 
zwecken, die  Gesetzeskraft  haben.  Die  Departements,  Gemeinden  u.s.w. 
müssen  in  ihre  Vergebungsbestimmungen  eine  Klausel  aufnehmen, 
nach  welcher  sich  der  Unternehmer  verpflichtet,  keinen  Teil  seiner 
Vertragsleistung  an  Subunternehmer  ohne  die  ausdrückliche  Ge- 
nehmigung der  Behörde  und  unter  dem  Vorbehalt  abzutreten,  dafs 
er  sowohl  der  Behörde  als  den  Arbeitern  und  Dritten  gegenüber 
persönlich  haftbar  bleibt.  Eine  weitere  Klausel  soll  an  das,  Verbot 
der  Akkordarbeit  (marchandage)  erinnern,  wie  es  aus  dem  Dekret 
vom  2.  März  1848  und  dem  Regierungserlafs  vom  21.  März  1848 
erhellt. 

Wie  wir  bereits  erwähnten,  müssen  die  Bedingungen  (cahiers 
des  charges)  über  die  Vergebungen  seitens  des  Staates,  und  können 
jene  der  Departements,  Gemeinden  und  der  Wohlthätigkeitsanstalten 
eine  Klausel  enthalten,  nach  welcher  der  Unternehmer  sich  zur 
Zahlung  eines  Normal  lohnes  an  die  Arbeiter  verpflichtet.  Man 
darf  sich  durch  den  Ausdruck  Normallohn  nicht  täuschen  lassen. 
Uebrigens  erklärt  ihn  auch  der  weitere  Text  des  Art.  I hinlänglich : 
Als  Normallohn  ist  zu  verstehen  der  Lohn  für  jedes  Gewerbe,  und 
in  jedem  Gewerbe  für  jede  Arbeiterkategorie,  nach  dem  in  der 


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Kaoul  Jay,  Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öfientl.  Arbeiten.  I " [ 

Stadt  oder  in  der  Gegend,  wo  die  Arbeit  ausgeführt  wird,  gemein- 
üblichen Satze.  Baudin  erklärte  die  Anwendung  des  Wortes 
„normal“  wie  folgt:  „Mit  Unrecht  oder  mit  Recht,  unseres  Er- 
achtens mit  Recht,  hat  man  behauptet,  dafs  die  Submissionen  und 
die  grofsen  staatlichen  Arbeiten  den  normalen  Gang  der  Löhne 
störten.  Es  ist  die  Theorie,  welche  wir  soeben  darlegten.  Das 
Wort  „normal"  bringt  den  Gedanken  zum  Ausdruck , dafs  es  sich 
um  den  fortschreitenden  Gang  der  Löhne,  abgesehen  vom  Einflüsse 
jener  störenden  Elemente  handelt.  Eis  deutet  darauf  hin,  dafs  die 
im  vorliegenden  Entwürfe  vorgesehenen  Bedingungen  ermöglichen 
werden , den  gemeinüblichen  Lohn  als  normalen  zu  betrachten." ') 
Ganz  sicher  wollen  weder  die  Dekrete , noch  der  von  Baudin  be- 
fürwortete Entwurf  in  die  Vergebungsbedingungen  Lohntarife 
bringen,  welche  sich  nach  den  Lebensbedürfnissen  der  Arbeiter 
richten.  „Es  ist  nicht  beabsichtigt,  wie  kaum  gesagt  zu  werden 
braucht,“  schrieb  ferner  der  Berichterstatter  1899,  „gesetzlich  einen 
Mindestlohn  zu  fixieren,  den  notwendigen  niedrigsten  Satz,  welcher 
den  nach  den  Lebensbedürfnissen  des  Arbeiters  berechneten  Lohn 
darstellt,  willkürlich  oder  vielmehr  auf  dem  Verwaltungswege  den 
Lohn  zu  ändern,  wie  er  sich  aus  dem  Spiel  des  freien  Wettbewerbs 
und  aus  verschiedenen  anderen  Ursachen  ergiebt,  welche  den  Gang 
der  Löhne  beeinflussen." s)  Das  Gleiche  ist  inbetrefif  der  nor  malen 
Arbeitszeit  zu  bemerken,  womit  die  Verfasser  des  Dekrets  lediglich 
die  Arbeitszeit  meinen,  wie  sie  sich  herkömmlich  in  den  Gewerben 
und  einzelnen  Gegenden  gestaltet  hat. 

Uebrigens  ist  hier  sogleich  hervorzuheben , dafs  die  Regel, 
wonach  der  Uebernehmer  von  öffentlichen  Arbeiten  seinen  Ar- 
beitern den  normalen  Lohn  zahlen  soll,  Ausnahmen  zulälst.  Mufs 
der  Unternehmer  Arbeiter  anstellen,  welche  infolge  ihrer  Körper- 
beschaffenheit  den  Arbeitern  derselben  Kategorie  an  Leistungsfähig- 
keit offenbar  nachstehen,  so  kann  er  ihnen  einen  niedrigeren  als 
den  normalen  Lohn  zahlen.  Das  Maximalverhältnis  dieser  Arbeiter 
zur  Gesamtzahl  der  betreffenden  Arbeiterkategorie,  sowie  der  Höchst- 
betrag der  zulässigen  Verringerung  ihres  Lohnes  werden  durch  die 
Vergebungsbedingungen  festgesetzt.  „Es  erscheint  unumgänglich," 
schrieb  Baudin,  „eine  Ausnahme  für  die  jugendlichen  Arbeiter,  die 
Greise,  die  Krüppel  und  alle  diejenigen  zuzulassen,  welche  man  in 

*)  Vgl.  Baudins  Bericht  S.  43. 

*)  Vgl.  Baudins  Bericht  S.  20. 


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172 


Gesetzgebung:  Frankreich. 


Belgien  allgemein  als  Halbarbeiter  bezeichnet.  Die  allzu  strenge 
Forderung  des  normalen  und  üblichen  Lohnes  würde  sonst  das 
Resultat  zeitigen , sie  dauernd  von  den  Werkplätzen  des  Staates, 
der  Departements  und  der  Gemeinden  auszuschliefsen ; sie  würde 
ihre  Lage  hierdurch  seltsamerweise  erschweren.“  ')  Zweifellos  können 
übrigens,  sowohl  was  den  Lohn  als  was  die  tägliche  Arbeitszeit 
betrifft,  in  demselben  Gewerbe  oder  in  derselben  Gegend  zuweilen 
sehr  verschiedene  Sätze  bzw.  Zeiten  üblich  sein.  Daher  entsteht 
die  sehr  wichtige  Frage,  wer  darüber  zu  befinden  hat,  welchen 
normalen  Lohnsatz,  welche  normale  Arbeitszeit  der  den  Zuschlag 
Erhaltende,  oder  sagen  wir  allgemeiner  und  zutreffender  der  Kon- 
zessionär der  öffentlichen  Arbeiten  einhalten  soll.  Wer  wird  diese 
Festsetzung  bewerkstelligen  und  zu  welchem  Zeitpunkt  soll  sie 
geschehen  ? 

Die  Dekrete  vom  io.  August  1899  wollten  diese  Festsetzung 
nicht  dem  Uebernehmer,  dem  Konzessionär  überlassen.  Es  soll 
vielmehr  die  beteiligte  Behörde  den  normalen  und  üblichen  Lohn- 
satz und  die  normale  und  übliche  Arbeitszeit  feststellcn  oder  er- 
mitteln. In  der  Regel  sind  diese  Feststellungen  und  Ermittelungen 
vor  Erteilung  der  Zuschläge  zu  bewerkstelligen,  falls  dies  nicht 
thatsächlich  unmöglich  ist;  die  Ergebnisse  dieser  Feststellungen 
sind  als  Anlagen  den  Bedingungen  (cahiers  des  charges)  anzufügen. 
Die  Verfasser  der  Dekrete  sind  hier  der  Arbeitskommission  gefolgt 
und  haben  aus  guten  Gründen  von  dem  sogenannten  Repressivsystem 
Abstand  genommen , welches  namentlich  in  England  befolgt  wird, 
und  nach  welchem  die  Behörde  den  üblichen  Lohn  nur  feststellt, 
wenn  bei  ihr  Beschwerde  geführt  wird,  dafs  dieser  Lohn  von  einem 
Uebernehmer  öffentlicher  Arbeiten  nicht  gezahlt  worden  sei.  Man 
war  der  Ansicht,  dafs  dieses  Repressivsystem  nur  in  Ländern  an- 
wendbar sei,  in  denen  zahlreiche  Tarife  von  Gewerkvereinen 
existieren.  Das  System  der  Dekrete  hat  übrigens  zweifellos  den 
Vorzug,  dafs  „alle  Parteien  über  ihre  Rechte  und  Pflichten  unter- 
richtet sind.“  -)  Die  den  Vergebungsbedingungen  als  Anlagen  bei- 
gefügten Feststellungen  sind  ferner  durch  Aushang  in  den  Werk- 
plätzen und  Werkstätten  bekannt  zu  geben,  in  denen  die  fraglichen 
Arbeiten  ausgeführt  werden.  Auf  welchen  Unterlagen  haben  die 
beteiligten  Behörden  diese  Festsetzungen  zu  bewirken  ? Diese 

*)  Vgl.  Baud  ins  Bericht  S.  52. 

*)  Vgl.  Baud  ins  Bericht  S.  33  u.  35. 


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fcaoul  Ja)’,  Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öffcntl.  Arbeiten. 

Frage  beantwortet  Art.  3 eines  jeden  der  Dekrete  vom  10.  August. 
Die  Behörden  müssen  in  erster  Linie  soweit  als  möglich  Abmachungen 
zwischen  Unternehmer-  und  Arbeitersyndikaten  des  Ortes  oder  der 
Gegend  zu  Rate  ziehen.  In  einer  Anweisung  des  Ministers  für 
Handel  und  Industrie  vom  14.  November  1899  an  die  Präfekten 
werden  die  Bestimmungen  des  Art.  3 der  Dekrete  vom  10.  August 
1899  wie  erläutert:  „Die  behördliche  Kommission  hat  sich  zu 
vergewissern,  ob  nicht  Abmachungen  zwischen  Unternehmer-  und 
Arbeitersyndikaten  für  bestimmte  Gewerbe  am  Orte  oder  in  der 
Gegend  existieren.  In  diesem  Falle  hat  sie  festzustellen,  ob  es  sich 
um  zuverlässige,  eine  bedeutende  Anzahl  von  Unternehmern  und 
Arbeitern  umfassende  Abmachungen  handelt,  und  verhält  sich  dies 
so , dann  hat  sie  diese  Abmachungen  lediglich  in  der  die  Fest- 
stellungen enthaltenden  Anlage  zu  verzeichnen.  Beim  Fehlen  der- 
artiger Abmachungen  hat  sie  Erhebungen  anzustellen,  welche  sich 
hauptsächlich  stützen  auf  persönliche  Erfahrungen  ihrer  Mitglieder 
und  auf  Auskünfte,  welche  ihr  geben  können:  Preislisten,  von  den 
verschiedenen  öffentlichen  Behörden  gezahlte  Preise,  Nachfragen  bei 
Fachvereinen,  Gewerbegerichten,  Ingenieuren,  Architekten  u.  s.  w. 
Aufserdem  hat  sie  in  jedem  der  beteiligten  Gewerbe  das  Gutachten 
gemischter  Kommissionen  zu  erfordern,  die  aus  Unternehmern  und 
Arbeitern  in  gleicher  Anzahl  bestehen.  Diese  Kommissionen  dürfen 
nicht  zu  grofs  sein  — drei  oder  vier  Unternehmer  und  ebensoviel 
Arbeiter  werden  in  der  Regel  hinreichend  sein , um  durch  sie  die 
Löhne  für  jedes  Gewerbe  festzustellen.  Zu  Kommissionsmitgliedern 
sind  zu  wählen  Beisitzer  von  Gewerbegerichten  der  fraglichen  Ge- 
werbe, Präsidenten,  Sekretäre  und  Mitglieder  von  Unternehmer- 
und Arbeitersyndikaten,  oder,  wenn  solche  nicht  vorhanden,  Arbeiter 
und  Unternehmer  des  Gewerbes,  welche  als  anständig  und  sach- 
kundig bekannt  sind.  Die  Unternehmer  und  Arbeiter  der  gemischten 
Kommissionen,  welche  den  gleichen  Thatbestand  festzustellen  haben, 
müssen  stets  auf  gleiche  Feststellungen  hinauskommen.  Andernfalls 
haben  Unternehmer  und  Arbeiter  ihr  Gutachten  gesondert  in  das 
Sitzungsprotokoll  aufzunehmen.  Nach  diesem  Protokoll  und  unter 
Zuhilfenahme  der  Auskünfte,  welche  der  behördlichen  Kommission 
ihre  eigenen  Mitglieder  liefern,  oder  jede  ihr  geeignet  erscheinende 
Erkundigung,  hat  sie  das  eingehende  Verzeichnis  der  üblichen  Löhne 
und  Arbeitszeiten  aufzustellen." 

In  der  allgemeinen  Anweisung  über  die  Anwendung  des  De- 
kretes vom  IO.  August  1899  betr.  die  Arbeitsbedingungen  bei  Ver- 


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'74 


Gesetzgebung:  Frankreich. 


gebung  öffentlicher  Arbeiten  seitens  des  Staates,  welche  An- 
weisung der  von  uns  soeben  angeführten  an  die  Präfekten  vorher- 
gegangen war,  hatte  der  1 landeisminister  sich  mit  dem  Falle  be- 
schäftigt, dafs  die  Arbeit  nach  Stück  bezahlt  wird.  Es  heifst  dort : 
„Besteht  für  Stückarbeit  ein  gehörig  bestimmter  und  in  der  Gegend 
allgemein  anerkannter  Tarif,  so  hat  die  Behörde  diesen  Tarif  unter 
den  in  Art.  3 geforderten  Garantieen  in  das  Verzeichnis  aufzunehmen. 
Andernfalls  steht  es  dem  Unternehmer  oder  Fabrikanten  frei,  in 
seinem  Betriebe  die  ihn  am  geeignetsten  erscheinende  Art  der 
Arbeitsablohnung  festzusetzen,  wobei  der  durchschnittlich  von  einem 
Arbeiter  in  einer  gegebenen  Zeit  verdiente  Lohn  nicht  weniger  be- 
tragen darf,  als  der  in  das  Verzeichnis  eingetragene  übliche  Stunden- 
oder Tageslohn."  Durch  die  Berufung  an  die  aus  gleicher  Anzahl 
von  Unternehmern  und  Arbeitern  bestehenden  gemischten 
Kommissionen  folgten  der  von  der  Arbeitskommission  1899  ausge- 
arbeitete Entwurf  und  die  Dekrete  vom  10.  August  einem  1897 
vom  Obersten  Arbeitsrat  gefafsten  Beschlüsse.  Baudin  hegte  die 
Erwartung,  dafs  die  von  uns  soeben  angeführten  Bestimmungen 
aufserordentlich  angethan  seien,  die  Entwicklung  der  gewerblichen 
Fachorganisation  und  namentlich  der  Abmachungen  zwischen  Ar- 
beitern und  Unternehmern  in  den  verschiedenen  Gewerben  zu 
fördern.  „Die  Wirksamkeit  der  gemischten  Kommissionen,“  schrieb 
er,  „wird  in  der  Zeit  nach  der  Verkündigung  des  Gesetzes  zweifel- 
los eine  ganz  bedeutende  sein.  Doch  werden  sie  voraussichtlich 
allmählich  vor  der  Fachvereinsbildung  zurücktreten.  Sie  werden 
die  Organe  eines  Zwischenstadiums  sein.  Sie  werden  durch  ihren 
Frieden  und  Einvernehmen  stiftenden  Charakter  den  Weg  für  die 
Syndikate  bahnen.  Sie  werden  die  Gewöhnung  an  Verhandlungen, 
gegenseitige  Achtung  und  Höflichkeit  herbeiführen.  Sie  werden 
Vereingenommenheit,  verkehrten  Stolz  und  unberechtigten  Argwohn 
beseitigen,  die  oft  allein  einem  billigen  Abkommen  entgegenstehen, 
das,  nach  der  Rechtssprache,  das  Gesetz  der  Parteien  ist." ') 

Durch  Dekret  vom  17.  September  1900  wird  angeordnet,  dafs 


l)  Vgl.  Baud  ins  Bericht  S.  31.  — Der  Oberste  Arbeitsrat  hatte  1897  einen 
von  Kaeufer  und  de  Mun  formulierten  Beschlufs  folgenden  Inhalts  gefafst:  „Der 
( »berste  Kat  ist  der  Ansicht,  dafs  die  öffentliche  Gewalt,  die  Gesetzgebung  mit  allen 
Mitteln  die  Entwicklung  der  fachgewerblichen  Vercinsbildung  fördern  mufs,  welche 
die  Aufgabe  hat,  die  Arbeitsbedingungen  durch  die  Einigung  von  Unternehmern  und 
Arbeitgebern  fcstzusetzen.“ 


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Raoul  Jay,  Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  offen tl.  Arbeiten, 

durch  Ministerialerlafs  Arbeitsausschüsse  geschaffen  werden  können, 
deren  Mitglieder  zur  Hälfte  von  den  Unternehmersyndikaten,  zur 
Hälfte  von  den  Arbeitersyndikaten  zu  ernennen  sind.  Nach  diesem 
Dekret  haben  diese  Arbeitsausschüsse  u.  a.  die  Aufgabe,  in  jedem 
Bezirk  für  alle  im  Arbeitsausschüsse  vertretenen  Gewerbe,  und  soweit 
als  möglich  unter  Herbeiführung  einer  Einigung  zwischen  Unter- 
nehmer- und  Arbeitersyndikaten,  eine  Uebersicht  des  normalen  und 
üblichen  Satzes  der  Löhne  und  der  täglichen  Arbeitszeit  aufzustellen. 
Diese  Uebersicht,  unter  den  in  Art.  3 des  Dekrets  vom  10.  August 
1899  bestimmten  Formen  zusammengestellt,  dient  den  beteiligten 
Behörden  gegebenenfalles  als  die  durch  Dekret  vom  10.  August 
vorgeschriebene  Feststellung.  Diese  Verzeichnisse  können  übrigens 
auf  Antrag  der  Unternehmer  oder  der  Arbeiter  einer  Revision 
unterzogen  werden,  wenn  Aenderungen  im  Lohnsatz  und  der  täg- 
lichen Arbeitszeit  in  der  fraglichen  Industrie  allgemein  eingeführt 
sind.  Die  Revision  wird  in  derselben  Weise  bewirkt , wie  die 
erste  Aufstellung  des  Verzeichnisses.  Eine  entsprechende  Revision 
der  Lieferungspreise  kann  vom  Unternehmer  beantragt  oder  von 
der  Behörde  von  Amtswegen  bewirkt  werden,  wenn  die  festgcstellten 
Aenderungen  im  Lohnsatz  oder  der  täglichen  Arbeitszeit  die  in  den 
Vergebungsbedingungen  festgesetzten  Grenzen  überschreiten. 

Es  erübrigt  nunmehr  noch  adzufuhren , auf  welche  Gattungen 
von  Arbeiten  die  Vorschriften  der  Dekrete  vom  IO.  August  1899 
Anwendung  finden,  und  wie  die  Nichtbeachtung  dieser  Vorschriften 
geahndet  wird.  Die  Dekrete  haben  die  submissionsweise  oder  die 
freihändige  Vergebung  von  Arbeiten  oder  Lieferungen  im  Auge. 
Es  werden  sich  keine  Schwierigkeiten  erheben,  wenn  man  mit 
einem  ausschliefslich  für  den  Staat,  das  Departement  u.  s.  w.  thätigen 
Unternehmer  zu  thun  hat,  namentlich  wenn  er  auf  einem  Werk- 
platze des  Staates,  des  Departements,  der  Gemeinde  arbeiten  läfst, 
wenn  man  beispielsweise  mit  einem  Unternehmer  zu  thun  hat,  der 
mit  dem  Bau  einer  Strafse  beauftragt  ist.  In  diesem  Falle  mufs 
der  Unternehmer  offenbar  allen  von  ihm  beschäftigten  Arbeitern 
die  in  den  Vergebungsbestimmungen  (cahiers  des  charges)  festge- 
setzten Arbeitsbedingungen  zugute  kommen  lassen.  Oft  aber 
arbeiten  die  Unternehmer , die  Lieferanten  in  ihren  eigenen  Werk- 
stätten; mitunter  haben  Unternehmer  neben  der  Kundschaft  des 
Staates,  des  Departements  u.  s.  w.  eine  Privatkundschaft.  Es  wird 
auch  Vorkommen,  dals  der  Staat,  das  Departement  u.  s.  w.  fertige 
Lieferungsgegenstände  brauchen  und  sich  dieserhalb  an  Händler 


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176 


Gesetzgebung : Frankreich. 


wenden.  Der  den  Zuschlag  erhaltende  Unternehmer  wird  selbst 
häufig  bereits  bearbeitetes  Material  verwenden.  Kann  man  verlangen, 
dafs  die  Arbeitsbedingungen  in  all  den  Werkstätten  eingehalten 
werden,  die  auch  nur  teilweise  an  den  für  den  Staat,  das  De- 
partement u.  s.  w.  bestimmten  Lieferungen  arbeiten  ? Soll  man, 
noch  weitergehend,  verlangen , dafs  die  von  den  Lieferanten  verar- 
beiteten Materialien  selbst  von  Arbeitern  hergerichtet  werden,  die 
von  den  normalen  Arbeitsbedingungen  profitieren  ? Es  sind  dies 
sehr  heikle  Fragen.  Unseres  Erachtens  ist  es  wünschenswert,  dafs 
die  Arbeitsbedingungen  in  möglichst  weitem  Umfange  Anwendung 
finden ; andererseits  ist  nicht  zu  verkennen , dafs  man  auf  grolse 
Schwierigkeiten  stöfst,  wenn  man  mit  dieser  Anwendung  etwas  weit 
geht.  Dies  hatte  die  1899  er  Arbeitskommission  wohl  eingesehen. 
„Der  Entwurf,“  schrieb  Baudin,  „hat  einzig  und  allein  die  Zurichtungs- 
arbeiten, speziellen  Herstellungen,  Bauten  im  Auge,  welche  aus- 
drücklich im  Aufträge  des  Staates  für  ihn  auf  seine  Weisungen  und 
nicht  für  den  allgemeinen  Markt  ausgeführt  werden.  Man  hat  hier 
mit  Unternehmern,  mit  Herstellungsbetrieben  und  nicht  mit  Händ- 
lern der  gewöhnlichen  Lieferungsgegenstände  zu  thun.1)" 

Anscheinend  haben  auch  hier  die  Verfasser  der  Dekrete  vom 
10.  August  1899  sich  die  Resultate  der  Arbeitskommission  der 
Deputiertenkammer  zu  eigen  gemacht  Laut  Art  1 der  drei  Dekrete 
soll  sich  der  Unternehmer  verpflichten,  die  bezüglich  der  Arbeiter 
festgesetzten  Bedingungen  allein  in  den  zwecks  Ausführung  des 
Auftrages  eingerichteten  oder  hierfür  thätigen  Werkplätzen  oder 
Werkstätten  einzuhalten. 

Nach  der  allgemeinen  Anweisung  des  Handelsministers  betr.  die 
Anwendung  des  Dekretes  vom  10.  August  1899  über  die  Arbeits- 
bedingungen bei  den  staatlichen  Arbeiten  hat  diese  Anwendung 
des  Dekretes  vom  10.  August  1899  zwei  Voraussetzungen.  Erstens 
mufs  ein  Auftrag  öffentlicher  Arbeiten  oder  von  Lieferungen  seitens 
des  Staates  vorliegen.  Zweitens  müssen  ferner  die  Werkplätze  oder 
Werkstätten  zwecks  Ausführung  des  Auftrages  eingerichtet  oder 
hierfür  thätig  sein.  Eis  ist  indessen  wohl  zu  beachten , dafs  der 
Ausdruck  „Werkstätte“  (atelier)  nicht  etwa  das  Ganze  eines  Industrie- 
betriebes, eines  Hüttenwerks,  einer  Fabrik  bedeutet,  sondern 
lediglich  jede  gesonderte  Arbeitergruppe,  welche  vorwiegend  für  den 
Auftrag  thätig  ist. 


l)  Vgl.  ß a u d i n s Bericht  S.  39. 


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Raoul  Jay,  Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öflentl.  Arbeiten. 

Fassen  wir  nunmehr  die  Tragweite  der  Dekrete  vom  IO.  August 
1899  ins  Auge.  Das  Ideal,  welches  dem  Pariser  Stadtrat  vor- 
schwebte, haben  sie  nicht  völlig  verwirklicht.  Es  ist  zu  bedauern, 
dafs  sie  offenbar  nicht  immer  dem  Staate,  den  Departements,  den 
Gemeinden,  den  Wohlthätigkeitsanstalten  ermöglichen,  unabhängig 
von  den  üblichen  Bedingungen  allen  für  sie  thätigen  Arbeitern 
billige  Beschäftigungsbedingungen  und  namentlich  angemessenen 
Lohn  zu  sichern.  Man  kann  indessen  immerhin  fragen,  ob  ihre 
Anwendung  vielleicht  nicht,  in  gewissem  Umfange  wenigstens,  die- 
selbe Wirkung  zeitigen  werde , -welche  die  Beschlüsse  des  Pariser 
Stadtrats  oder  die  Vorschläge  Lavys  gehabt  haben  würden.  Der 
normale,  übliche  Lohn,  der  normale  und  übliche  Arbeitstag  in  einem 
Gewerbe  oder  einer  Gegend  können  oft  in  verschiedener  Weise  ge- 
schätzt werden ; es  steht  zu  hoffen,  dafs  in  einem  solchen  Falle  die 
beteiligten  Behörden  nicht  den  den  Arbeitern  ungünstigsten  Modus 
der  Schätzung  wählen  werden.  Hätten  die  Dekrete  vom  10.  August 
übrigens  nur  das  Resultat,  das  Herabdrücken  der  Löhne,  der  Arbeits- 
bedingungen überhaupt,  — jederzeit  eine  mögliche  logische  Folge  der 
Vergebung  an  den  Mindestfordernden  — , zu  hindern,  so  könnte 
man  auch  dann  ihre  Bedeutung  nicht  leugnen,  ohne  ungerecht 
zu  sein. 

Was  nun  die  Vorschriften  betr.  die  Sicherung  der  Durchführung 
dieser  Dekrete  anlangt,  so  ist  man  leider  berechtigt  zu  fragen, 
ob  sie  auch  stets  Nachdruck  genug  besitzen,  um  wirksam  zu  sein. 

Der  Gesetzentwurf  von  1899  sah  gegen  Zuwiderhandlungen 
Strafen  vor.  Es  konnten  hiernach  Geldstrafen  von  I bis  1 5 F'rcs., 
und  im  Wiederholungsfälle  von  16  bis  100  Frcs.  auferlegt  werden. 
Das  Recht,  Zuwiderhandlungen  festzustellen,  war  den  beteiligten 
Behörden,  den  Fabrikinspektoren  eingeräumt.  Die  Dekrete  durften 
solche  Strafbestimmungen  nicht  erlassen.  Allerdings  können  die 
Vergebungsbedingungen  Geldbufsen  vorsehen.  Ferner  sollen  diese 
Bedingungen  nach  den  Dekreten  die  Bestimmung  enthalten , dafs 
die  Behörde,  wenn  sie  eine  Differenz  zwischen  dem  den  Arbeitern 
gezahlten  Lohn  und  dem  in  der  angegebenen  Form  festgestellten 
üblichen  Lohn  ermittelt , die  benachteiligten  Arbeiter  direkt  ent- 
schädigt , und  zwar  aus  den  Beträgen , welche  sie  von  den  dem 
Unternehmer  schuldigen  Summen  zurückbehält  und  aus  seiner 
Kaution.  Endlich  kann  in  dem  Falle,  dafs  wiederholte  Verfehlungen 
gegen  die  Arbeitsbedingungen  seitens  eines  Unternehmers  Vor- 
kommen , die  zuständige  Behörde  unbeschadet  der  üblichen  Be- 

Archiv  für  box.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XV11I.  12 


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i78 


Gesetzgebung : Frankreich. 


Stimmungen  in  den  Vergebungsbedingungen  seinen  Ausschlufs  von 
ihren  Lieferungs-  und  Arbeitsaufträgen  für  gewisse  Zeit  oder  für 
immer  aussprechen. 

Wie  zu  erwarten,  war  die  Stadt  Paris  eine  der  ersten,  welche 
von  der  den  Gemeinden  durch  die  Dekrete  vom  io.  August  1899 
verliehenen  Befugnis  Gebrauch  machten.  Der  Zusatzartikel,  welcher 
infolgedessen  den  allgemeinen  Bedingungen  für  die  Vergebung  von 
Arbeiten  seitens  der  Stadt  Paris  eingefügt  ist,  enthält  sämtliche  in 
den  Dekreten  vom  10.  August  1899  zu  Gunsten  der  Arbeiter  vor- 
gesehenen Klauseln.  Der  Unternehmer  ist  insbesondere  verpflichtet, 
den  Arbeitern  in  jedem  Gewerbe  und  in  jedem  Gewerbe  für  jede 
Kategorie  die  in  der  Liste  von  1882  festgesetzten  Löhne  zu  zahlen. 
Mufs  der  Unternehmer  Arbeiter  beschäftigen,  welche  infolge  ihrer 
Körperbeschaffenheit  den  Arbeitern  derselben  Kategorie  offenbar 
an  Leistungsfähigkeit  nachstehen,  so  darf  er  ihnen  ausnahmsweise 
einen  Lohn  zahlen,  der  höchstens  */#  niedriger  ist,  als  die  Sätze 
der  genannten  Liste.  Die  Anzahl  der  solchergestalt  beschäftigten 
Arbeiter  darf  ein  Fünftel  der  Gesamtarbeiterzahl  der  fraglichen 
Kategorie  keinesfalls  übersteigen.  Die  tägliche  Arbeitszeit  ist  durch 
die  in  der  1882  er  Liste  festgesetzte  Dauer  zu  beschränken.  In 
unvermeidlichen  Notfällen  darf  der  Unternehmer  unter  ausdrück- 
licher Genehmigung  der  Behörde  von  der  Einhaltung  dieser  Klausel 
Abstand  nehmen,  doch  müssen  die  hierdurch  entstehenden  Ueber- 
stunden  mit  einer  den  normalen  Satz  um  ein  Fünftel  übersteigenden 
Lohnerhöhung  vergütet  werden.  Die  Durchführung  des  Zusatz- 
artikels wird  zweifellos  durch  Absatz  2 des  Art.  1 5 der  allgemeinen 
Bedingungen  für  die  Vergebung  von  Bauarbeiten  der  Stadt  er- 
leichtert, welcher  lautet:  „..  . Der  Unternehmer  hat  eine  Liste  der 
Arbeiter,  welche  bei  der  Ausführung  der  den  Gegenstand  seines 
Auftrages  bildenden  Arbeiten  thätig  sind,  unter  Angabe  ihres  Ge- 
burtsortes und  ihres  Lohnes  bei  jedem  einzelnen  regelmäfsig  fort- 
zuführen und  diese  von  Zeit  zu  Zeit  an  festzusetzenden  Terminen 
dem  Stadtbaumeister  einzureichen.“  ') 

Eine  ganze  Anzahl  von  Angaben  über  die  Ausführung  der 
Dekrete  vom  10.  August  1899  findet  sich  in  einer  Veröffentlichung 
des  Arbeitsamtes:  „Bordereaux  de  salaires  pour  diverses  categories 


*)  Ich  entnehme  diese  Angaben  über  die  Ausführung  der  Dekrete  vom  10.  Aug. 
1899  bei  den  Arbeiten  der  Stadt  Paris  dem  bereits  citierten  Werke  von  Mazoyer 
(S.  430  fr.) 


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I.  Dikrct  Ub.  d.  Arbeitsbeding,  bei  Vergebung  von  Aufträgen  seitens  d.  Staates.  I -g 

d’ouvriers  en  19c»  et  1901.“  Diese  Zusammenstellung  bringt  die 
Löhne,  die  Arbeitszeiten  u.  s.  w.,  wie  sie  aus  äufserst  zahlreichen 
Anlagen  zu  den  Bedingungen  für  Vergebung  von  Arbeiten  seitens 
des  Staates,  der  Departements  und  der  Gemeinden,  soweit  diese 
Vergebung  Ende  1899  und  1900  unter  Anwendung  der  Dekrete 
vom  10.  August  1899  stattfand,  ermittelt  und  dem  Handelsminister 
zur  Kenntnisnahme  mitgetheilt  wurden. 

Es  folgt  nunmehr  der  Wortlaut  der  Dekrete  vom  10.  Au- 
gust 1899. 


x.  Dekret  über  die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  von  Aufträgen 
seitens  des  Staates. 

Der  Präsident  der  französischen  Republik  verordnet  hiermit  auf  den  Bericht 
xles  Ministers  der  Finanzen  und  des  Ministers  für  Handel,  Industrie,  Posten  und 
Telegraphen,  — in  Gemafsheit  des  Gesetzes  vom  31.  Januar  1833,  Art.  12,  welcher 
lautet:  ..Eine  königliche  Verordnung  wird  die  Förmlichkeiten  regeln,  welche  in  Zu- 
kunft bei  allen  Vergebungen  von  Aufträgen  seitens  des  Staates  zu  beobachten 
sind,“  — in  Gemafsheit  des  Dekrets  vom  18.  November  1882,  betreffend  die  Sub- 
missionen und  die  Vergebung  von  Aufträgen  seitens  des  Staates,  — nach  Anhörung 
des  Staatsrates. 

Art.  I.  Die  Bedingungen  (cahiers  des  charges)  ftir  die  Vergebung  von  Öffent- 
lichen Arbeiten  oder  Lieferungen  seitens  des  Staates,  auf  dem  Wege  der  Submission 
oder  freihändig  müssen  Klauseln  enthalten,  durch  welche  der  Unternehmer  sich  ver- 
pflichten soll , die  folgenden  Bestimmungen  hinsichtlich  der  bei  diesen  Arbeiten 
oder  Lieferungen  thätigen  Arbeiter  in  den  behufs  Ausführung  des  Auftrages  ein- 
gerichteten oder  hierzu  betriebenen  Werkplätzen  oder  Werkstätten  cinzuhalten : 

1.  den  Arbeitern  und  Angestellten  wöchentlich  einen  Ruhetag  zu  sichern; 

2.  ausländische  Arbeiter  nur  in  dem  Verhältnisse  zu  beschäftigen,  wie  cs  die 
Behörde  nach  der  Art  der  Arbeiten  und  nach  der  Gegend,  in  der  sie 
ausgeführt  werden,  fcstsctzt ; 

3.  den  Arbeitern  einen  normalen  Lohn  zu  zahlen,  der  hinsichtlich  jeden  Ge- 
werbes und  in  jedem  Gewerbe  für  jede  Arbeiterkategorie  gleich  ist  dem 
in  der  Stadt  oder  Gegend,  wo  die  Arbeit  ausgeführt  wird,  allgemein  üb- 
lichen Satze; 

4.  die  tägliche  Arbeitszeit  auf  die  in  der  fraglichen  Stadt  oder  Gegend  für 
jede  Kategorie  übliche  normale  Arbeitsdaucr  zu  beschränken. 

In  unabwendbaren  Notfällen  kann  der  Unternehmer  mit  ausdrücklicher  und 
besonderer  Genehmigung  der  Behörde  von  den  in  Absatz  1 und  4 des  gegenwärtigen 
Artikels  festgesetzten  Bedingungen  abschen.  Die  hierdurch  entstehenden  Ueber- 
stunden  sind  den  Arbeitern  mit  einem  erhöhten  Lohne  zu  vergüten,  dessen  Satz 
durch  die  Vergebungsbedingungen  festgesetzt  wird. 

12* 


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i8o 


Gesetzgebung:  Frankreich. 


In  den  in  Artikel  18,  Absatz  3 und  5,  des  Dekretes  vom  18.  November  1882 
vorgesehenen  Fällen  ist  die  Einfügung  der  vorstehend  angeführten  Klauseln  und  Be- 
dingungen fakultativ. 

Art.  2.  Der  Unternehmer  darf  keinen  Teil  seiner  Vcrtragslcistung  an  Sub- 
unternehmer ohne  die  ausdrückliche  Genehmigung  der  Behörde  und  nur  unter  der 
Bedingung  abtreten,  dafs  er  sowohl  der  Behörde  als  den  Arbeitern  und  Dritten 
gegenüber  persönlich  haftbar  bleibt. 

Eine  fernere  Klausel  in  den  Vergebungsbedingungen  hat  an  das  Verbot  der 
Akkordarbeit  (marchandage)  zu  erinnern,  wie  es  sich  aus  dem  Dekret  vom  2.  März 
1848  und  dem  F.rlafs  der  Regierung  vom  21.  März  1848  ergiebt. 

Art.  3.  Die  Festsetzung  oder  Beurkundung  des  normalen  und  üblichen  Lohn- 
satzes und  der  normalen  und  üblichen  Dauer  des  Arbeitstages  geschieht  seitens  der 
Behörde,  wobei  diese 

1.  soweit  als  möglich  die  Abmachungen  zwischen  den  Unternehmer-  und  Ar- 
beitersyndikaten des  Ortes  oder  der  Gegend  zu  berücksichtigen,  und 

2.  in  Ermangelung  solcher  Abmachungen  das  Gutachten  gemischter  Kom- 
missionen cinzufordcrn  hat,  welche  aus  Unternehmern  und  Arbeitern  in 
gleicher  Anzahl  bestehen,  und  ferner  alle  geeigneten  Erkundigungen  cin- 
zuzichen  bei  Fachvereinen,  Gew'crbcgerichten,  Ingenieuren  und  Architekten 
der  Departements  und  Gemeinden,  sowie  bei  anderen  sachkundigen  Per- 
sonen. 

Die  sich  aus  diesen  Feststellungen  ergebenden  Verzeichnisse  sind  allen  Ver- 
gebungsbedingungen als  Anlagen  beizufügen,  falls  sie  nicht  thatsächlich  unmöglich 
waren.  Sie  sind  ferner  auf  den  Werkplätzen  oder  in  den  Werkstätten  durch  Aus- 
hang bekanntzugeben,  wo  die  Arbeiten  ausgeführt  werden.  Auf  Verlangen  der 
Unternehmer  oder  der  Arbeiter  können  sie  einer  Revision  unterzogen  werden,  wenn 
im  Lohnsätze  oder  in  der  Arbeitszeit  in  dem  fraglichen  Gewerbe  Aenderungcn  ein- 
getreten sind  und  allgemein  beobachtet  werden. 

Eine  derartige  Revision  hat  in  der  sub  Nr.  l und  2 des  gegenwärtigen 
Artikels  angegebenen  Weise  zu  geschehen.  Eine  entsprechende  Revision  der  Ver- 
dingungspreise kann  vom  Unternehmer  beantragt  oder  von  Amtswegen  seitens  der 
Behörde  bewirkt  werden,  falls  die  solchergestalt  in  dem  Lohnsätze  oder  der  Arbeits- 
zeit fcstgcstellten  Aenderungcn  die  in  den  Vergebungsbedingungen  bestimmten  Sätze 
überschreiten. 

Mufs  der  Unternehmer  Arbeiter  beschäftigen,  welche  in  ihren  körperlichen 
Fähigkeiten  den  Arbeitern  derselben  Kategorie  offenbar  nachstehen,  so  darf  er 
ihnen  ausnahmsweise  einen  niedrigeren  als  den  normalen  Lohn  zahlen.  Das 
Maximalverhältnis  der  Anzahl  dieser  Arbeiter  zur  Gesamtzahl  der  Arbeiter  der  Ka- 
tegorie, sowie  das  zulässige  Maximum  ihrer  Lohnverringerung  sind  in  den  Ver- 
gebungsbedingungen fcstzusetzen. 

Art.  4.  In  den  Vergebungsbedingungen  ist  zu  bestimmen,  dafs  die  Behörde, 
falls  sie  eine  Differenz  zwischen  dem  den  Arbeitern  gezahlten  Lohne  und  dem  nach 
dem  vorhergehenden  Artikel  bestimmten  ermittelt,  die  benachteiligten  Arbeiter  direkt 


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2.  Dekret  üb.  d.  Arbeitsbeding,  bei  Vergebung  v.  Aufträgen  seit  d.  Departements.  j8l 


zu  entschädigen  hat,  und  zwar  aus  Abzügen  von  den  dem  Untcrnnhmcr  schuldigen 
Beträgen  und  von  seiner  Kaution. 

Art.  5.  Wird  ermittelt,  dafs  ein  Unternehmer  die  Arbeitsbedingungen  mehr- 
fach nicht  eingehalten  hat,  so  kann  der  Minister,  unbeschadet  der  Anwendung  der 
in  den  Vergebungsbedingungen  festgesetzten  üblichen  Strafklauseln,  als  allgemeine 
Mafsnahme  bestimmen,  dafs  der  Unternehmer  von  den  Aufträgen  seines  Ressorts 
für  eine  gewisse  Zeit  oder  für  immer  auszuschliefsen  ist. 

Art.  6.  Der  Minister  der  Finanzen,  der  Minister  für  Handel,  Posten  und 
Telegraphen,  sowie  alle  übrigen  Minister  werden,  soweit  es  jeden  angeht,  mit  der 
Ausführung  des  gegenwärtigen  Dekretes  beauftragt,  das  im  „Journal  officiel“  und 
im  „Bulletin  des  lois“  zu  veröffentlichen  ist. 

Geschehen  zu  Rambouillet  am  10.  August  1899. 

Im  Namen  des  Präsidenten  der  Republik. 

Emil  L o u b e t. 

Der  Minister  der  Finanzen  Der  Minister  für  Handel,  Industrie, 

J.  Caillaux.  Posten  und  Telegraphen 

A.  M i 1 1 e r a n d. 


2.  Dekret  über  die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  von  Aufträgen 
seitens  der  Departements. 

Der  Präsident  der  französischen  Republik  verordnet  hiermit  auf  den  Bericht 
des  Ministers  des  Innern  und  des  Kultus,  sowie  des  Ministers  für  Handel,  Industrie, 
Posten  und  Telegraphen : 

Art.  1.  Die  Bedingungen  für  die  Vergebung  von  öffentlichen  Arbeiten  oder 
Lieferungen  seitens  der  Departements,  auf  dem  Wege  der  Submission  ofjer  frei- 
händig, können  Klauseln  enthalten,  durch  welche  der  Unternehmer  sich  verpflichten 
soll,  die  folgenden  Bestimmungen  hinsichtlich  der  bei  diesen  Arbeiten  oder  Lieferungen 
thätigen  Arbeiter  in  den  behufs  Ausführung  des  Auftrages  eingerichteten  oder  hierzu 
betriebenen  Werkplätzen  oder  Werkstätten  einzuhaltrn : 

1.  den  Arbeitern  und  Angestellten  wöchentlich  einen  Ruhetag  zu  sichern; 

2.  ausländische  Arbeiter  nur  in  dem  Verhältnisse  zu  beschäftigen,  wie  es 
durch  Entscheidung  des  Präfekten  nach  der  Art  der  Arbeiten  und  nach 
der  Gegend,  in  der  sie  ausgeführt  werden,  festzusetzen  ist; 

3.  den  Arbeitern  einen  normalen  Lohn  zu  zahlen,  der  hinsichtlich  jeden  Ge- 
werbes und  in  jedem  Gewerbe  für  jede  Arbeiterkategorie  gleich  ist  dem 
in  der  Stadt  oder  Gegend,  wo  die  Arbeit  ausgeführt  wird,  allgemein  üb- 
lichen Satze ; 

4.  die  tägliche  Arbeitszeit  auf  die  in  der  fraglichen  Stadt  oder  Gegend  für 
jede  Kategorie  übliche  normale  Arbeitsdauer  zu  beschränken. 

In  unabwendbaren  Notfällen  kann  der  Unternehmer  mit  ausdrücklicher  und 
besonderer  Genehmigung  der  Behörde  von  den  in  Absatz  I und  4 des  gegen- 
wärtigen Artikels  'festgesetzten  Bedingungen  abschcn.  Die  hierdurch  entstehenden 


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182 


Gesetzgebung : Frankreich. 


Ueberstunden  sind  den  Arbeitern  mit  einem  erhöhten  Lohne  zu  vergüten,  dessen 
Satz  durch  die  Vergebungsbedingungen  festgesetzt  wird. 

Art.  2.  Die  Departements  müssen  in  die  Vergebungsbedingungen  eine  Klausel 
aufnehmen,  wonach  der  Unternehmer  sich  verpflichtet,  keinen  Teil  seiner  Vcrtrags- 
leistung  einem  Subunternchmer  ohne  die  ausdrückliche  Genehmigung  der  Behörde 
und  nur  unter  Bedingung  abzutreten,  dafs  er  sowohl  der  Behörde  als  den  Arbeitern 
und  Dritten  gegenüber  persönlich  haftbar  bleibt. 

Eine  fernere  Klausel  in  den  Vergebungsbedingungen  hat  an  das  Verbot  der 
Akkordarbeit  (marchandagc)  zu  erinnern,  wie  es  sich  aus  dem  Dekret  vom  2.  März 
1848  und  dem  Erlafs  der  Regierung  vom  2t.  März  1848  ergiebt. 

Art.  3.  Die  Festsetzung  oder  Beurkundung  des  normalen  und  üblichen  Lohn- 
satzes und  der  normalen  und  üblichen  Dauer  des  Arbeitstages  geschieht  durch  den 
Präfekten,  wobei  dieser 

1.  soweit  als  möglich  die  Abmachungen  zwischen  den  Unternehmer-  und 
Arbeitersyndikaten  des  Ortes  oder  der  Gegend  zu  berücksichtigen  und 

2.  in  Ermangelung  solcher  Abmachungen  das  Gutachten  gemischter  Kom- 
missionen einzufordern  hat,  welche  aus  Unternehmern  und  Arbeitern  in 
gleicher  Anzahl  bestehen , und  ferner  alle  geeigneten  Erkundigungen  ein- 
zuzichcn  bei  Fachvereinen,  Gewerbegerichten,  Ingenieuren  und  Architekten 
der  Departements  und  Gemeinden,  sowie  bei  anderen  sachkundigen 
Personen. 

Die  sich  aus  diesen  Feststellungen  ergebenden  Verzeichnisse  sind  allen  Ver- 
gebungsbedingungen, welche  die  Klauseln  3 und  4 des  Art.  1 des  gegenwärtigen 
Dekretes  enthalten,  als  Anlagen  beizufügen.  Sic  sind  ferner  auf  den  Werkplätzen 
oder  in  den  Werkstätten  durch  Aushang  bekanntzugeben , wo  die  Arbeiten  aus- 
geführt werden.  Auf  Verlangen  der  Unternehmer  oder  der  Arbeiter  können  sic 
einer  Revision  unterzogen  werden,  wenn  im  Lohnsätze  oder  in  der  Arbeitszeit  in 
dem  fraglichen  Gewerbe  Aenderungen  eingetreten  sind  und  allgemein  beobachtet 
werden. 

Eine  derartige  Revision  hat  in  der  sub  Nr.  1 und  2 des  gegenwärtigen  Ar- 
tikels angegebenen  Weise  zu  geschehen.  Eine  entsprechende  Revision  der  Ver- 
dingungspreise kann  vom  Unternehmer  beantragt  oder  von  Amtswegen  seitens  der 
Behörde  bewirkt  werden,  falls  die  solchergestalt  in  dem  Lohnsätze  oder  der  Arbeits- 
zeit fcstgcstellten  Aenderungen  die  in  den  Vergebungsbedingungen  bestimmten  Sätze 
überschreiten. 

Mufs  der  Unternehmer  Arbeiter  beschäftigen,  welche  in  ihren  körperlichen 
Fähigkeiten  den  Arbeitern  derselben  Kategorie  offenbar  nachstehen,  so  darf  er 
ihnen  ausnahmsweise  einen  niedrigeren  als  den  normalen  Lohn  zahlen.  Das 
Maximalverhältnis  der  Anzahl  dieser  Arbeiter  zur  Gesamtzahl  der  Arbeiter  der 
Kategorie,  sowie  das  zulässige  Maximum  ihrer  Lohn  Verringerung  sind  in  den  Ver- 
gebungsbedingungen festzusetzen. 

Art.  4.  Ist  eine  Klausel  hinsichtlich  des  üblichen  Lohnes  in  die  Vergebungs- 
bedingungen aufgenommen,  so  haben  diese  zu  bestimmen,  dafs  die  Behörde,  falls  sie 
eine  Differenz  zwischen  dem  den  Arbeitern  wirklich  gezahlten  und  diesem  üblichen 


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3-  Dekret  üb.  d.  Arbeitsbeding,  bei  Vergebung  v.  Aufträgen  seit.  d.  Gemeinden.  183 

Lohne  ermittelt,  die  benachteiligten  Arbeiter  direkt  zu  entschädigen  hat,  und  zwar 
aus  Abzügen  von  den  dem  Unternehmer  schuldigen  Beträgen  und  von  seiner  Kaution. 

Art.  5.  Wird  ermittelt,  dafs  ein  Unternehmer  die  Arbeitsbedingungen,  seinen  Ver- 
pflichtungen entgegen,  mehrfach  nicht  eingehalten  hat,  so  kann  die  zuständige  Be- 
hörde, unbeschadet  der  Anwendung  der  in  den  Vergebungsbedingungen  festgesetzten 
üblichen  Strafklauscln,  als  allgemeine  Mafsnahmc  bestimmen,  dafs  der  Unternehmer 
von  ihren  Aufträgen  für  eine  gewisse  Zeit  oder  für  immer  auszuschliefsen  ist. 

Art.  6.  Der  Minister  des  Innern  und  des  Kultus  und  der  Minister  für  Handel, 
Industrie,  Posten  und  Telegraphen  w'erden,  soweit  es  jeden  angcht,  mit  der  Aus- 
führung des  gegenwärtigen  Dekretes  beauftragt,  das  im  „Journal  officiel“  und  im 
„Bulletin  des  lois“  zu  veröffentlichen  ist 

Geschehen  zu  Rambouillet  am  10.  August  1899. 

Emil  L o u b e t. 

Im  Namen  des  Präsidenten  der  Republik. 

Der  Minister  des  Innern  Der  Minister  für  Handel,  Industrie, 

und  des  Kultus  Posten  und  Telegraphen 

Waldcck-Rousseau.  A.  M Hieran d. 


3.  Dekret  Uber  die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  von  Aufträgen  seitens 
der  Gemeinden  und  der  öffentlichen  Wohlthätigkeitsanstalten. 

Der  Präsident  der  französischen  Republik  verordnet  hiermit  auf  den  Bericht 
des  Ministers  des  Innern  und  des  Kultus,  sowie  des  Ministers  für  Handel,  Industrie, 
Posten  und  Telegraphen  in  Gcmafsheit  der  Verordnung  vom  14.  November  1837, 
und  nach  Anhörung  des  Staatsrates: 

Art.  1.  Die  Bedingungen  für  die  Vergebung  von  öffentlichen  Arbeiten  oder 
Lieferungen  seitens  der  Gemeinden  und  Wohlthätigkeitsanstalten,  auf  dem  Wege  der 
Submission  oder  freihändig,  können  Klauseln  enthalten,  durch  welche  der  Unter- 
nehmer sich  verpflichten  soll,  die  folgenden  Bestimmungen  hinsichtlich  der  bei  diesen 
Arbeiten  oder  Lieferungen  thätigen  Arbeiter  in  den  behufs  Ausführung  des  Auftrages 
eingerichteten  oder  hierzu  betriebenen  Werkplätzen  oder  Werkstätten  einzuhaltcn : 
(Fortsetzung  des  Artikels  dem  Dekret  II  gleichlautend.) 

Art.  2.  Die  Gemeinden  und  Wohlthätigkeitsanstalten  müssen  in  die  Ver- 
gebungsbedingungen etc.  (wie  bei  Dekret  II). 

Art.  3.  Die  Festsetzung  oder  Beurkundung  des  normalen  und  üblichen  Lohn- 
satzes und  der  normalen  und  üblichen  Dauer  des  Arbeitstages  geschieht  unter  der 
Aufsicht  des  Präfekten  durch  die  beteiligte  Behörde,  welche  hierbei  (Fortsetzung  des 
Artikels  dem  Dekret  II  gleichlautend). 

(Art.  4,  5 u.  6.  Desgleichen). 


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OESTERREICH. 


Der  neue  österreichische  Gesetzentwurf  zur 
Hintanhaltung  der  Trunksucht. 

Eingcleitet  von 

Prof.  Dr.  MAX  GRÖBER, 

Direktor  des  hygienischen  Instituts  der  Universität  München. 

Der  im  Herbste  1902  dem  österreichischen  Abgeordnetenhause 
von  der  Regierung  vorgelegte  Entwurf  eines  Gesetzes  zur  Hint- 
anhaltung der  Trunksucht  ist  im  wesentlichen  eine  neue  und  — 
setzen  wir  gleich  hinzu  — verbesserte  Auflage  jener  Gesetzent- 
würfe, welche  die  Regierung  schon  früher  eingebracht  hat  und 
deren  ersten  vom  Jahre  1887  ich  im  I.  Bande  dieses  Archives  be- 
sprochen habe.  Die  früheren  Entwürfe  sind  über  das  Stadium  der 
Beratung  nie  herausgekommen.  Wünschen  wir  diesem  ein  besseres 
Schicksal ! 

Wie  jener  erste  sucht  der  neue  Entwurf  die  Trunksucht  zu 
bekämpfen  durch  Regelung  und  Beschränkung  des  Ausschankes 
und  des  Klein verschleifses  der  gebrannten  geistigen  Getränke, 
durch  Erschwerung  des  Trinkens  auf  Borg  und  durch  Be- 
strafung der  Trunkenheit.  Den  wichtigsten  Teil  des  Ent- 
wurfes bilden  die  gewerberechtlichen  Bestimmungen,  welche  das 
Angebot  des  Schnapses  einzuschränken  suchen. 

Durch  das  Gesetz  vom  23.  Juni  1881  „betreffend  den  Handel 
mit  gebrannten  geistigen  Getränken,  den  Ausschank  und  den  Klein- 
verschleifs  derselben“  wie  durch  das  Gesetz  vom  15.  März  1883 
„betreffend  Abänderungen  und  Ergänzung  der  Gewerbeordnung“ 
ist  bereits  der  Versuch  dazu  gemacht  worden ; aber  er  war  wenig 
glücklich.  Die  jetzt  geltenden  Vorschriften  unterscheiden  nämlich 

I.  den  Handel  mit  gebrannten  geistigen  Getränken  in  ver- 


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M.  Gr  über,  Der  neue  Östcrr.  Gesetzentwurf  zur  Hintanhaltung  d.  Trunksucht.  jgtj 

schlossenen  Gefäfsen,  der  völlig  frei  gegeben  ist,  in  was 
immer  für  Mengen  die  Alkoholika  angeboten  werden  mögen; 

2.  den  Kleinverschlcifs  mit  der  Berechtigung  zum  Ver- 
kaufe der  bezeichneten  Flüssigkeiten  in  unverschlossenen  Ge- 
faben. Er  bedarf  der  „Konzessionierung". J)  Diese  wird  nur  mit 
der  Einschränkung  erteilt,  dafs  keine  kleinere  Menge  als  ein  Achtel- 
liter verkauft  werden  darf  und  dafs  dem  Kleinverschleifser  verboten 
ist,  die  verkauften  Getränke  in  den  ihm  zur  Verfügung  stehenden 
Räumlichkeiten  geniel'sen  zu  lassen; 

3.  den  Ausschank,  der  ebenfalls  an  eine  Konzession  ge- 
bunden ist,  welche  die  Berechtigung  zur  Verabreichung  der  ge- 
brannten Flüssigkeiten  an  Gäste  und  zu  ihrem  Verkaufe  in  unver- 
schlossenen Gefalsen  über  die  Gasse  giebt. 

Der  Mangel  dieser  Bestimmungen  liegt  klar  zu  Tage.  Alle 
Vorsichtsmafsregeln,  die  bei  der  Konzessionierung  des  „Kleinver- 
schleifses“  und  des  „Ausschankes“  angewendet  werden  mögen,  um 
die  Verzapfstellen  nicht  allzu  zahlreich  werden  zu  lassen,  sind  frucht- 
los, wenn  dem  Handel  freigegeben  ist,  beliebig  kleine  Mengen 
Branntwein  in  geschlossenen  Gefäfsen  anzubieten.  Unter  der  Herr- 
schaft dieser  Bestimmungen  haben  Kaufleute  aller  Art  angefangen, 
Branntwein  zu  verkaufen  in  kleinen  „handelsüblich"  verschlossenen 
Gefäfsen,  welche  blofs  die  auf  einmal  zu  geniefsende  Menge  ent- 
halten. Die  Bestimmung,  dafs  der  Verschleifser  den  Genufs  in 
seinen  Räumlichkeiten  nicht  gestatten  darf,  wird  dabei  sehr  häufig 
umgangen , indem  den  Kunden  ein  benachbartes  Magazin  oder 
irgend  ein  anderer  Unterschlupf  zur  Verfügung  gestellt  wird.  Wo 
dies  nicht  geschieht,  trinken  die  Leute  einfach  vor  der  Thüre  des 
Ladens.  Diese  Verschleifslokale  sind  also  geradezu  zu  Branntwein- 
schänken geworden.  In  manchen  Gegenden  bilden  sie  die  Haupt- 
brutstätten der  Trunksucht.  Berüchtigt  sind  z.  B.  die  Zustände  in 
Mährisch-Ostrau,  dem  Mittelpunkte  des  mährisch-schlesischen 
Kohlenbeckens,  wo  37  Proz.  des  konsumierten  Schnapses  in  dieser 
Weise  von  Gemischtwarenhändlern  verkauft  werden. 

Die  früheren  Regierungsvorlagen  wollten  diesen  Mangel  da- 
durch verbessern,  dafs  vier  Kategorieen  von  Gewerbeberechtigungen 
geschaffen  werden  sollten : neben  dem  Kleinverschleifsc  in  unver- 
schlossenen Gefäfsen  und  dem  Auschanke  sollte  auch  der  Handel 
mit  Branntwein  in  verschlossenen  Gefäfsen  an  eine  Konzession  ge- 

*)  d.  h.  behördlichen  Bewilligung. 


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1 86 


Gesetzentwurf:  Oesterreich. 


hundert  werden,  falls  kleinere  Mengen  als  5 Liter  verkauft  werden, 
und  nur  der  Handel  mit  gröfseren  Mengen  als  5 Liter  frei  bleiben 
sollte. 

Der  vorliegende  Entwurf  vereinfacht  die  gesetzliche  Lage  in 
sehr  zweckmäfsigerweise,  indem  er  neben  dem  freien  Handel  mit 
gebrannten  geistigen  Getränken  in  verschlossenen  Gefäfsen  in  Mengen 
von  mindestens  5 Liter,  nur  zwei  Kategorieen  von  Gewerben  unter- 
scheidet, die  der  Konzessionierung  fähig  und  ihrer  bedürftig  sind : 
I.  den  Ausschank  mit  der  Berechtigung  zum  Verkaufe  über  die 
Gasse  in  beliebigen  Mengen  in  unverschlossenen  wie  in  verschlossenen 
Gefäfsen  und  2.  den  Klcinverschleifs  mit  der  Berechtigung  zum 
Verkauf  über  die  Gasse  aussschliefsüch  in  verschlossenen  Ge- 
fafsen  und  in  Mengen  von  wenigstens  einem  Achtelliter  (§  2).  Es 
würde  somit  in  Zukunft  der  Klcinverschleifs  von  Branntwein  in 
unverschlossenen  Gefäfsen  als  gesondert  konzessioniertes  Gewerbe 
aufhören,  ebenso  wie  der  freie  Handel  mit  Branntwein  in  ge- 
schlossenen Gefäfsen  in  Mengen  von  weniger  als  5 Litern.  Damit 
ist  eine  bequeme  Handhabe  gegeben,  um  die  Zahl  der  Branntwein- 
verkaufsstellen auf  ein  gewünschtes  Mafs  zu  beschränken.  Freilich 
scheint  uns  die  Grenze  zwischen  freiem  Handel  und  konzessioniertem 
Kleinverschleifse  bei  5 Liter  viel  zu  niedrig  gezogen.  In  Norwegen 
liegt  sie  bei  50  Litern. 

Als  Norm  für  die  Zahl  der  Verkaufsstellen  wird  festgesetzt, 
dafs  in  Gemeinden  bis  zu  500  Einwohnern  höchstens  je  eine  Kon- 
zession zum  Ausschanke  und  zum  Kleinverschleifse  von  gebrannten 
geistigen  Getränken  verliehen  werden  dürfe,  in  gröfseren  Gemeinden 
nur  je  eine  auf  je  volle  500  Einwohner  (§  6).  Durch  diese  Be- 
stimmung würde  die  Zahl  der  Schänken  wesentlich  vermindert 
werden ; dagegen  würde  sie  eine  gewaltige  Vermehrung  der  Klein- 
verschleifse über  ihre  heutige  Zahl  hinaus  gestatten,  so  dafs  die 
Gesamtzahl  der  Verkaufsstellen  durch  das  Gesetz  kaum  um  mehr 
als  ein  Drittel  reduziert  werden  würde.  Ueberdies  werden  davon 
wieder  Ausnahmen  zugelassen  — und  müssen  wohl  bei  den  heutigen 
Trinksitten  zugelassen  werden  — indem  verfügt  werden  kann,  dafs 
die  gesetzlich  festgestellten  Maximalzahlen  in  räumlich  ausgedehnten 
Gemeinden  für  die  einzelnen  Ortschaften  derselben  Gemeinde, 
in  gröfseren  Städten  für  die  einzelnen  Stadtbezirke  zu  gelten 
haben;  ferner,  dafs  für  bestimmte  Gemeinden  oder  Teile  von  Ge- 
meinden Gast-  und  Schankgewerbe,  in  welchen  der  Ausschank  von 
gebrannten  geistigen  Getränken  nur  als  Nebengeschäft  betrieben 


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M.  Gruber,  Der  neue  österr.  Gesetzentwurf  zur  Hintanhaltung  d.  Trunksucht.  187 

wird,  bei  Ermittlung  der  gesetzlich  vorgezeichneten  Verhältniszahl 
aufser  Betracht  zu  bleiben  haben.  Trotzdem  ist  der  vorliegende 
Gesetzentwurf  in  diesem  Punkte  besser  als  seine  Vorläufer,  da  diese 
Ausnahmen  nur  nach  Anhörung  der  betreffenden  Gemeinde  und 
nach  Einvernehmen  des  autonomen  Landesausschusses  von  der 
politischen  Behörde  gemacht  werden  dürfen. 

Auch  innerhalb  der  festgesetzten  Maximalverhältniszahl  mufs 
in  jedem  konkreten  Falle  das  Bedürfnis  der  Bevölkerung  geprüft 
werden,  bevor  eine  neue  Konzession  zum  Ausschanke  oder  Klein- 
verschleifse  erteilt  wird.  Es  wäre  sehr  wünschenswert,  dafs  auch 
hierbei  die  Anhörung  der  betreffenden  Gemeinde  vorgeschrieben 
und  ihrem  ablehnenden  Votum  entscheidende  Bedeutung  zuerkannt 
würde. 

Ebenso  sollte  der  betroffenen  Gemeinde  das  Veto  eingeräumt 
werden , gegen  die  Wiederverleihung  einer  erloschenen  Personal- 
konzession. Nur  auf  diesem  Wege  wäre  eine  allmähliche  absolute 
und  relative  Verminderung  der  Zahl  der  Detailverkaufsstellen  zu 
erreichen,  die  auch  nach  dem  Inkrafttreten  des  vorliegenden  Ge- 
setzentwurfes noch  viel  zu  grofs  bleiben  würde. 

Sehr  wichtig  für  die  korrekte  Durchführung  des  Gesetzes  ist 
die  Bestimmung  des  § 3,  dafs  die  Gewerbebehörde  in  jedem  Falle, 
wo  der  Ausschank  der  gebrannten  Flüssigkeiten  neben  sonstigen 
Gast-  und  Schankberechtigungen  oder  neben  dem  Zuckerbäcker- 
oder Mandolettibäckergewerbe  ausgeübt  werden  soll,  auf  Grund  der 
Erklärung  des  Bewerbers  bei  der  Erteilung  der  Konzession  auszu- 
sprechen hat,  ob  dieser  Ausschank  als  Haupt-  oder  als  Neben- 
geschäft ausgeübt  werden  darf,  und  dafs  die  Konzession  zurück- 
genommen werden  kann,  wenn  sie  dazu  mifsbraucht  wird,  um 
unter  dem  Deckmantel  eines  Gastgewerbes,  einer  Zuckerbäckerei 
u.  s.  w.  den  Branntweinauschank  als  Hauptgeschäft  zu  betreiben. 

§ 5 des  Entwurfes  verbietet,  in  den  Lokalen,  welche  dem  Aus- 
schanke von  gebrannten  geistigen  Getränken  dienen,  ein  anderes 
Gewerbe  (ausgenommen  Gast-  und  Schankgewerbe,  Zuckerbäckerei - 
und  Mandolettibäckereigewerbe)  zu  betreiben.  Leider  wird  für  den 
Kleinverschleifs  kein  derartiges  Verbot  beantragt  sondern  nur  be- 
stimmt, dafs  der  Kleinverschleifs  und  die  Erzeugung  von  gebrannten 
Alkoholizes  nicht  in  demselben  Lokale  ausgeübt  werden  dürfen, 
was  allerdings  notwendig  ist,  um  besser  überwachen  zu  können, 
dafs  der  Kleinverschleifser  nicht  heimlich  zum  Schänker  wird.  Es 
mufs  aber  unbedingt  verlangt  werden,  dafs  auch  der  Kleinverschleifs 


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1 88 


Gesetzgebung : Oesterreich. 


nicht  mit  anderen  Gewerben  zusammen  im  selben  Lokale  aus- 
geübt werden  darf.  Denn  die  Erfahrung  lehrt,  wie  gefährlich  ver- 
führerisch gerade  der  Detailverkauf  von  Branntweinen  und  Likören 
in  Gemischtwarenhandlungen  und  Lebensmittelladen  ist,  wie  er 
Frauen  und  Kinder  verlockt  und  den  Familienvater  zur  gefähr- 
lichsten Zeit,  wenn  er,  den  Lohn  in  der  Tasche,  Einkäufe  machen 
will;  wie  häufig  der  kleine  Mann  geradezu  gezwungen  ist,  gebrannte 
Flüssigkeiten  abzunehmen,  um  genügend  grofsen  und  langen  Kredit 
beim  Einkäufe  der  notwendigen  Lebensmittel  zu  erlangen  u.  s.  w. 

Diese  Erfahrungen  sollten  auch  zur  Aufstellung  der  weiteren 
gesetzlichen  Anforderung  führen,  dals  die  Lokale,  in  denen  die  ge- 
brannten geistigen  Getränke  im  Ausschanke  oder  Kleinverschleifse 
verkauft  werden,  in  keiner  unmittelbaren  Verbindung  mit  anderen 
Verkaufsräumen  stehen  dürfen. 

Sehr  zu  bedauern  ist  der  Rückschritt  in  betreff  der  Sonntags- 
ruhe, den  der  § 7 des  jetzigen  Entwurfes  im  Vergleiche  mit  § 5 
des  alten  von  1887  darstellt.  Dort  war  der  Ausschank  und  Klein- 
verschleifs  von  gebrannten  geistigen  Getränken  von  5 Uhr  nach- 
mittags des  den  Sonn-  und  Feiertagen  vorhergehenden  Tages  bis 
5 Uhr  morgens  des  nächstfolgenden  Werktages  untersagt  worden, 
wobei  allerdings  die  politische  Landesbehörde  ermächtigt  werden 
sollte,  dieses  Verbot  für  gewisse  Bezirke  und  Orte,  für  bestimmte 
Tage  und  Stunden  aufser  Kraft  zu  setzen.  Jetzt  aber  werden 
lediglich  die  politischen  Landesbehörden  „ermächtigt",  nach  Ein- 
vernehmung der  Handels-  und  Gerwerbekammer  zu  bestimmen,  in 
wieweit  an  Sonn-  und  Feiertagen  wie  an  Lohnauszahlungstagen  die 
Branntweinschänken  und  Kleinverschleifse  geschlossen  zu  halten  sind. 

Wir  furchten,  dafs  von  dieser  Ermächtigung  ein,  gelinde  gesagt, 
sehr  vorsichtiger  Gebrauch  gemacht  werden  wird ; dafür  werden  die 
Handels-  und  Gewerbekammern  mit  ihrem  Kriegsgeschrei  schon 
sorgen.  Und  doch  wäre  der  Schlufs  der  Schänken  und  Verschleifsc 
an  Sonn-  und  Feiertagen  sowie  an  den  Lohnzahlungstagen  neben 
der  Vorschrift,  dafs  diese  Lokale  auch  an  Werkstagen  nicht  vor  Be- 
ginn der  Arbeitszeit  und  nicht  in  den  späteren  Abendstunden  ge- 
öffnet sein  dürfen,  eine  der  wertvollsten  Mafsregeln  gegen  die  Ver- 
führung zum  Trunk  durch  Gelegenheitsmacherei!  Es  mufs  mindestens 
verlangt  werden,  dafs  die  politische  Landesbehörde  verpflichtet 
werde,  neben  der  Handels-  und  Gewerbekammer  auch  die  Gemeinde- 
vertretungen zu  befragen. 

Ebenso  übertrieben  behutsam  ist  der  Entwurf  in  seinen  privat- 


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M.  Grubcr,  Der  neue  österr.  Gesetzentwurf  zur  Hintanhaltung  d.  Trunksucht.  189 

rechtlichen  Bestimmungen,  insoferne  er  Forderungen  für  die  Verab- 
reichung von  geistigen  Getränken  in  Gast-  und  Schankräumlich- 
keiten , sowie  Forderungen  aus  dem  Kleinverschleifse  gebrannter 
geistiger  Getränke  nur  dann  für  nicht  klagbar  erklärt,  wenn  der 
Schuldner  zur  Zeit  der  Entstehung  der  späteren  Forderung  eine 
frühere  Schuld  der  vorbezeichneten  Art  an  denselben  Gläubiger 
nicht  bezahlt  hat  (§  12).  Warum  werden  nicht  einfach  Zechschulden 
und  Schulden  im  Branntweinkleinverschleifs  (mit  den  selbstverständ- 
lichen Ausnahmen  des  3.  Alinea  des  § 12  allgemein  für  unklagbar 
erklärt? 

Erscheint  uns  der  Entwurf  in  einigen  Punkten  als  allzu  zaghaft, 
so  müssen  wir  andererseits  dem  §11,  welcher  der  Gewerbebehörde 
das  Recht  giebt,  Erzeugern,  Händlern  Kleinverschleifsern  und 
Schänkern  von  gebrannten  geistigen  Getränken  sowie  Schank-  und 
Gastwirten  überhaupt  bei  Uebertretung  der  Vorschriften  des  Ge- 
setzes unter  gewissen  Voraussetzungen  die  erteilten  Konzessionen  für 
eine  bestimmte  Zeit  oder  auf  immer  wieder  zu  entziehen,  unsere  An- 
erkennung zollen  und  ebenso  dem  §§  22  der  Schlufsbestimmungen, 
welcher  das  Gesetz  als  rückwirkend  erklärte , so  dafs  die  Be- 
stimmungen betreffend  das  Verbot  des  Verkaufes  von  Branntwein  in 
unverschlossenen  Gefafeen  durch  Kleinverschleifser;  diejenigen  betr.  die 
Konzessionspflicht  des  Handels  mit  Branntwein  in  kleineren  Mengen 
als  5 Liter  (§  2),  betr.  die  Erklärung  des  Ausschanks  der  gebrannten 
Alkoholika  als  Haupt-  oder  Nebengeschäft  (§  3)  betr.  Ausübung 
von  Branntweinausschank  und  Kleinhandel  gemeinsam  mit  anderen 
Gewerben  (§§  4 u.  5)  sowie  betr.  Schlufs  der  Schänken  und 
Kleinverschleifse  an  Sonn-  und  Feiertagen  (§  7)  auch  auf  die  schon 
bestehenden  Betriebe  Anwendung  finden.  Diese  Bestimmung  ist 
in  der  That  unerläfslich,  wenn  das  Gesetz  nicht  auf  absehbare  Zeit 
toter  Buchstabe  bleiben  soll. 

Ziemlich  bedeutende  und  im  allgemeinen  zweckmäfsige  Ab- 
änderungen sind  am  3.  Abschnitte  des  Gesetzes,  an  den  strafrecht- 
lichen Bestimmungen  vorgenommen  worden.  Neu  aufgenommen 
ist  die  Bestrafung  wegen  Berauschung  von  Personen , welche  im 
Zustande  einer  ohne  Absicht  auf  die  strafbare  Handlung  herbei- 
geführten vollen  Berauschung  eine  mit  gerichtlicher  Strafe  bedrohte 
Handlung  begangen  haben  (§  1 5).  Ebenso  zweckmäfsig  ist  § 16,  welcher 
denjenigen  mit  Strafe  bedroht,  der  sich  in  den  Zustand  der  Trunken- 
heit versetzt,  vor  oder  während  der  Vornahme  einer  Verrichtung 
bei  welcher  die  Trunkenheit  eine  Gefahr  für  das  Leben,  die  Ge- 


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190 


Gesetzgebung : Oesterreich. 


sundheit  oder  die  körperliche  Sicherheit  eines  anderen  herbeizu- 
führen geeignet  ist  oder  der  in  diesem  Zustande  eine  solche  Ver- 
richtung aufser  in  einem  Notfälle  vornimmt. 

Wesentlich  milder  als  die  früheren  Entwürfe  geht  der  § 17  des 
jetzigen  gegen  das  einfache  Trunkenheitsvergehen  vor,  indem  jetzt 
nur  derjenige  mit  Arrest  oder  an  Geld  bestraft  werden  soll , der 
innerhalb  eines  halben  Jahres  wiederholt  an  einem  öffentlichen 
Orte  im  Zustande  offenbarer  Trunkenheit  betroffen  wird  oder  der 
einmal  so  betroffen  wird,  nachdem  er  innerhalb  des  vorangegangenen 
halben  Jahres  bereits  wegen  einer  Ucbertretung  im  Sinne  der  §§15 
oder  16  verurteilt  worden  ist.  Man  war  zu  dieser  Milderung  ge- 
zwungen, da  an  manchen  Orten  und  zu  gewissen  Zeiten  die  Zahl 
der  Trunkenen  so  grofe  ist,  dafs  an  eine  behördliche  Verfolgung  aller 
gar  nicht  gedacht  werden  kann!  Der  Paragraph  richtet  sich  somit 
ausgesprochenermafsen  nur  mehr  gegen  die  Gewohnheitssäufer.  Diese 
wird  er  allerdings  nicht  bekehren.  Trotzdem  dürfte  er  einen  bescheide- 
nen Nutzen  bringen,  indem  er  ein  wenig  mithilft,  der  übrigen  Be- 
völkerung das  Unsittliche  der  Trunkenheit  zum  Bewufstsein  zu  bringen. 

Ob  es  zweckmäfsig  war,  die  Bestimmung  fallen  zu  lassen,  wo- 
nach einem  während  eines  Jahres  dreimal  wegen  Trunkenheit  Be- 
straften der  Besuch  der  Gast-  und  Schankräumlichkeiten  seines 
Wohnsitzes  und  dessen  nächster  Umgebung  untersagt  werden  kann, 
erscheint  uns  zweifelhaft.  Wenn  sie  auch  in  gröfseren  Ortschaften 
nicht  durchführbar  ist,  so  ist  sie’s  doch  in  den  kleinen  Städten  und 
auf  dem  Lande  und  dort  stellt  sie  eine  sehr  empfindliche  und  Auf- 
sehen erregende  Strafe  dar. 

Dagegen  dürfte  kaum  zu  beanstanden  sein,  dafs  die  Bestrafung 
wegen  absichtlicher  Versetzung  eines  anderen  in  Trunkenheit,  nicht 
mehr  beantragt  wird.  Es  wäre  allzu  schwierig,  jene  Fälle  dieser 
Art,  die  strafgerichtlich  verfolgt  zu  werden  verdienen,  scharf  von 
den  harmloseren  zu  scheiden.  Durchaus  gerechtfertigt  sind  die 
Strafandrohungen  gegen  die  Verabfolgung  geistiger  Flüssigkeiten  an 
offenbar  Trunkene  und  an  offenbar  Unmündige,  die  sich  nicht  in 
Begleitung  einer  erwachsenen  Person  befinden  (§  18). 

Wir  wünschen  lebhaft,  dafs  der  vorliegende  Entwurf,  womöglich 
mit  den  von  uns  vorgcschlagenen  Verbesserungen  recht  bald  zum 
Gesetze  werde.  Derartige  Gesetze  dürfen  nicht  überschätzt  aber 
auch  nicht  unterschätzt  werden.1)  Sie  üben  zunächst  einen  gewissen 

*)  Ich  erlaube  mir  in  dieser  Beziehung  auf  meine  ausführlichen  Darlegungen 
im  1.  Bande  dieses  Archivs  zu  verweisen. 


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M.  G ruber,  Der  neue  österr.  Gesetzentwurf  zur  Hinantlialtung  d.  Trunksucht.  jqj 

moralischen  Einflufs  aus,  indem  sie  die  Menschen  doch  ein  wenig; 
aufmerksam  machen  und  warnen  helfen , dafs  hier  ein  Uebel  vor- 
liege, das  bekämpft  werden  müsse.  Sie  stören  das  gedankenlose 
Trinken  in  den  Tag  hinein. 

Die  Verminderung  der  Schankstellen  ist  überdies  ohne  Zweifel 
geeignet,  eine  gewisse  Verminderung  des  Konsums  unmittelbar 
herbeizuführen,  wie  dies  die  Erfahrung  in  Holland  lehrt  und  von 
vorneherein  zu  erwarten  ist. 

Aber  andererseits  darf  man  sich  auch  keinen  übertriebenen 
Hoffnungen  in  dieser  Beziehung  hingeben.  Die  Verminderung  der 
Verkaufsstellen  um  mehr  als  ein  Drittel  hat  in  Holland  den  Konsum 
nur  um  ein  knappes  Siebentel  vermindert.  Niemand  kann  zur 
Tugend  gezwungen  werden.  Solange  die  Leute  den  Alkohol  heftig 
begehren,  werden  sie  durch  so  winzig  kleine  Hindernisse  wie  sie 
dieser  Gesetzentwurf  oder  der  deutsche  von  1894  errichten  wollen, 
nicht  abgehalten  werden,  sich  ihn  zu  verschaffen.  Man  müfste 
schon  sehr  zufrieden  sein,  wenn  unter  der  Einwirkung  solcher 
Palliativmittel  die  Zunahme  des  Alkoholismus  in  etwas  langsamerem 
Tempo  vor  sich  gehen  sollte. 

Für  radikalere  gesetzliche  Mafregeln  aber  ist  bei  uns  in  Oester- 
reich und  im  Deutschen  Reiche  die  Zeit  noch  nicht  gekommen.  Solange 
die  heutigen  Trinksitten  zu  Recht  bestehen,  solange  nicht  das  ganze 
Volk  viel  tiefer  als  heute  von  der  Verderblichkeit  des  Alkohols 
durchdrungen  und  nicht  zum  ernsten  Entschlufs  gekommen  ist,  sich 
selbst  von  der  Tyrannei  dieses  Feindes  von  Kultur  und  Leben  zu 
befreien,  solange  werden  keine  Gesetze  erlassen  und  durchgeführt 
■werden  können,  die  dem  Alkoholkonsum  ernstlich  zu  Leibe  gehen. 
Darin  liegt  ja  die  entsetzliche  Ungesundheit  unserer  Zustände,  dals 
gewaltige  Teile  unseres  bebaubaren  Landes,  mächtige  Industrieen, 
eine  ungeheure  Zahl  von  Handelsgeschäften  im  Dienste  des  Alko- 
holismus stehen;  dafs  Herstellung  und  Vertrieb  der  alkoholischen 
Getränke  Hunderttausende,  ja  Millionen  von  Menschen  beschäftigen 
und  ernähren,  dafs  Erzeugung  und  Verbrauch  der  Alkoholika  dem 
Staate  einen  immer  wachsenden,  schier  auf  anderem  Wege  uner- 
setzlichen Teil  seiner  Einkünfte  verschaffen;  so  dafs  das  Privat- 
kapital wie  der  Fiskus  das  mächtigste  egoistische  Interesse  daran 
haben,  dafs  der  Verbrauch  der  Alkoholika  auf  seiner  Höhe  bleibe ! 
Erst  wenn  die  klare  Erkenntnis  des  Aberwitzes,  dafs  die  systema- 
tische Vergiftung  des  ganzen  Volkes  eine  ökonomische  und  poli- 
tische Notwendigkeit  sein  soll,  überall  im  Volke  Wurzel  geschlagen 


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192 


Gesetzgebung : Oesterreich. 


haben  wird,  wird  auch  der  starke  Wille  vorhanden  sein,  der  diesem 
Zustande  um  jeden  Preis  ein  Ende  macht. 

Viel  wuchtiger  als  alle  Gesetze  ist  also  jetzt  und  für  die  nächste 
Zukunft  unermüdliche  Aufklärung  aller  Volksschichten  über  die 
Wirkungen  des  gewohnheitsmäfsigen  Alkoholgenusses  und  Auf- 
lehnung gegen  unsere  unsinnigen  Trinkmoden  durch  die  That. 
Gesetze  gegen  die  Trunksucht  würden  mehr  schaden  als  nützen, 
wenn  sie  uns  in  der  Erfüllung  dieser  wichtigsten  Aufgaben  beirren 
würden. 

Im  Folgenden  geben  wir  den  Wortlaut  des  besprochenen  Ge- 
setzentwurfes : 


Gesetz  vom , womit  Bestimmungen  zur  Hintanhaltung  der 

Trunksucht  getroffen  werden. 

Mit  Zustimmung  beider  Häuser  des  Reichsrates  finde  Ich  anzuordnen,  wie  folgt : 
Erster  Abschnitt. 

Gewerberechtliche  Bestimmungen. 

§ I.  Für  den  Ausschank  und  den  Kleinverschleifs  von  gebrannten  geistigen 
Getränken,  sowie  für  den  Handel  mit  diesen  Flüssigkeiten  sind  die  Bestimmungen 
der  Gewerbeordnung  und  des  Gesetzes  vom  23.  Juni  1881,  R.G.B1.  Nr.  62,  mit  den 
Abänderungen,  welche  durch  die  nachstehenden  Vorschriften  bedingt  sind,  mafsgebend. 

§ 2.  Der  Handel  mit  gebrannten  geistigen  Flüssigkeiten,  welche  sich  mit  oder 
ohne  Zusatz  zu  Getränken  eignen  (Spiritus,  Branntwein,  Rosoglio,  Rum,  Liköre  u.  dgl.l 
in  verschlossenen  Gefäfsen  in  Mengen  von  weniger  als  fünf  Liter  darf  in  Hinkunft 
nur  von  solchen  Personen  ausgeübt  werden,  welche  die  Konzession  zum  Auschanke 
oder  zum  Kleinverschlcifse  von  gebrannten  geistigen  Getränken  besitzen.  Für  die 
Verleihung  der  Konzession  zum  Ausschanke  oder  zum  Kleinverschleifsc  von  ge- 
brannten geistigen  Getränken  sind  die  Bestimmungen  der  §§  18  bis  20  und  23  des 
Gesetzes  vom  15.  März  1883,  R.G.B1.  Nr.  39,  mafsgebend. 

Die  Konzession  zum  Ausschanke  gebrannter  geistiger  Getränke  berechtigt  zur 
Verabreichung  dieser  Flüssigkeiten  an  Gäste  oder  über  die  Gasse  in  unverschlossenen 
Geflifsen,  sowie  zum  Verkaufe  solcher  Getränke  in  verschlossenen  Gefäfsen  in  be- 
liebigen Mengen. 

Die  Konzession  zum  Kleinverschleifsc  von  gebrannten  geistigen  Getränken  be- 
rechtigt zum  Verkaufe  der  bezcichneten  Flüssigkeiten  nur  in  geschlossenen  Gefäfsen 
und  in  Mengen  von  wenigstens  ein  Achtel  Liter  mit  der  weiteren  Beschränkung,  dafs 
dem  Klcinverschlcifscr  nicht  gestattet  ist,  die  Getränke  in  den  Räumlichkeiten,  welche 
ihm  zur  Verfügung  stehen,  geniefsen  zu  lassen. 

Welche  Gefäfse  im  Sinne  dieses  Gesetzes  als  verschlossen  anzuseben  sind,  ward 
im  Verordnungswege  bestimmt. 


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Gesetz,  womit  Bestimmungen  zur  Hintanhaltung  d.  Trunksucht  getroffen  werden. 


193 


§ 3*  Wenn  der  Ausschank  von  gebrannten  geistigen  Getränken  neben  sonstigen 
dem  Gewerbsinhabcr  zustehenden  Berechtigungen  des  Gast-  und  Schankgewerbes 
oder  neben  dem  von  demselben  Gewerbsinhaber  nusgeübten  Zuckerbäcker-  oder 
Mandolettibäckergewcrbe  betrieben  werden  soll,  ist  von  der  Gewerbebehördc  bei 
der  Erteilung  der  Konzession  auf  Grund  der  von  dem  Konzessionswerber  abzu- 
gebenden Erklärung  auszusprechen,  ob  der  Ausschank  als  Hauptgeschäft  oder  nur 
als  Nebengeschäft  ausgeübt  werden  darf. 

Als  Nebengeschäft  kann  der  Ausschank  von  gebrannten  geistigen  Getränken 
bei  Gast-  und  Schankgewerben  jedenfalls  nur  dann  angesehen  werden,  wenn  bei 
denselben  auch  eine  der  im  § 16  unter  lit.  c)  und  f)  des  Gesetzes  vom  15.  März 
1883,  K.G.ßl.  Nr.  39,  aufgeführten  Berechtigungen  ausgeübt  wird. 

Eine  Konzession,  auf  Grund  welcher  der  Ausschank  von  gebrannten  geistigen 
Getränken  gemäfs  den  vorstehenden  Bestimmungen  nur  als  Nebengeschäft  neben 
sonstigen  Berechtigungen  des  Gast-  und  Schankgewerbes,  oder  neben  dem  Zucker- 
bäcker- oder  Mandolettibäckergewcrbe  betrieben  werden  darf,  kann  zurückgenommen 
werden,  wenn  dieselbe  dazu  mifsbraucht  wird,  um  den  Betrieb  des  Auschankes  von 
gebrannten  geistigen  Getränken  als  Hauptgeschäft  zu  decken. 

§ 4.  In  Lokalen , welche  zur  Ausübung  des  Ausschankes  von  gebrannten 
geistigen  Getränken  dienen  darf  gleichzeitig  kein  anderes  Gewerbe  betrieben  werden. 
Ausgenommen  hievon  ist  die  Ausübung  der  sonstigen  Berechtigungen  des  Gast-  und 
Schankgewerbes,  sowie  der  Betrieb  des  Zuckerbäcker-  oder  Mandolettibäckergewcrbes, 
wenn  diese  Gewerbe  mit  dem  Ausschanke  von  gebrannten  geistigen  Getränken  von 
demselben  Gewerbsinhabcr  betrieben  werden. 

Der  KIcinverschlcifs  von  gebrannten  geistigen  Getränken  darf  mit  der  Er- 
zeugung dieser  Flüssigkeiten  nicht  in  demselben  Lokale  ausgeübt  werden. 

§ 5.  Den  Klcinverschleifscrn,  sowie  den  gewerbemäfsigen  Erzeugern  von  ge- 
brannten geistigen  Getränken  und  den  sonst  zum  Handel  mit  diesen  Flüssigkeiten 
in  verschlossenen  Gcfäfsen  berechtigten  Gewerbsleuten  ist  cs  nicht  gestattet,  in  ihren 
Vcrkaufslokalitätcn  in  der  Zeit,  in  welcher  dieselben  den  Kunden  zugänglich  sind, 
gebrannte  geistige  Getränke  in  unverschlossenen  Gefäfscn  oder  in  solchen  Gcfäfsen 
zu  halten,  welche  weniger  als  das,  diesen  Gewerbetreibenden  für  den  Verkauf  der 
bczeichncten  Flüssigkeiten  durch  die  Bestimmungen  des  gegenwärtigen  Gesetzes  vor- 
gezeichncte  Minimalmafs  betragen. 

§ 6.  In  Gemeinden  bis  zu  500  Einwohnern,  darf  nur  eine  Konzession  zum 
Ausschanke  und  eine  Konzession  zum  KIcinvcrschlcifsc  von  gebrannten  geistigen 
Getränken,  in  gröfseren  Gemeinden  auf  je  volle  500  Einwohner  höchstens  je  eine 
Konzession  zum  Ausschanke  und  je  eine  Konzession  zum  KIcinvcrschlcifsc  solcher 
Flüssigkeiten  verliehen  werden. 

Bei  der  Ermittlung  der  bezüglichen  Verhältniszahlen  sind  die  Realgewerbe,  in 
welchen  der  Ausschank,  beziehungsweise  Klrinvcrschleifs  von  gebrannten  geistigen 
Getränken  auf  Grund  des  betreffenden  Realrechtes  betrieben  wird,  mit  in  Anschlag 
zu  bringen,  so  dafs  die  Verleihung  einer  Konzession  zum  Ausschanke,  beziehungs- 
weise Kleinverschlcifse  solcher  Getränke  nur  dann  erfolgen  kann,  wenn  bei  Ein- 
rechnung der  Realgewerbe  zu  den  konzessionsmäfsig  bestehenden  derlei  Gewerben 
Archiv  für  10z.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  13 


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194 


Gesetzgebung:  Oesterreich. 


das  vorgeschriebene  Maximalverhältnis  zur  Einwohnerzahl  in  der  Gemeinde  einge- 
halten  wird. 

Die  politische  Landesbehörde  kann  für  einzelne  Gemeinden  von  gröfserer  terri- 
torialer Ausdehnung  nach  Anhörung  der  Gemeinde  und  nach  Einvernehmung  des 
Landesausschusses  verfügen,  dafs  die  in  dem  ersten  Absätze  festgesetzten  Verhältnis- 
Zahlen  für  die  einzelnen  Ortschaften  in  der  Gemeinde,  in  gröfseren  Städten  für  die 
einzelnen  Stadtbezirke  zu  gelten  haben. 

Der  politischen  Landesbehörde  bleibt  es  weiter  Vorbehalten,  für  bestimmte 
Gemeinden  oder  Teile  einer  Gemeinde  nach  Anhörung  der  Gemeinde  und  nach 
Einvernehmung  des  Landesausschusscs  zu  verfügen,  dafs  Gast-  und  Schank  ge  werbe, 
bei  welchen  der  Ausschank  von  gebrannten  geistigen  Getränken  nur  als  Neben- 
geschäft betrieben  wird,  bei  Ermittlung  der  im  ersten  Absätze  für  den  Ausschank 
vorgezeichneten  Verhältniszahl  aul'ser  Betracht  zu  bleiben  haben. 

So  lange  die  Anzahl  der  bestehenden  derartigen  Unternehmungen  nicht  unter 
die  nach  den  vorstehenden  Bestimmungen  ermittelten  Verhatniszahlen  gesunken  ist. 
darf  eine  Konzession  zum  Ausschanke,  beziehungsweise  zum  Kleinverschlcifse  ge- 
brannter geistiger  Getränke  auch  dann  nicht  verliehen  werden,  wenn  eine  solche 
Konzession  zurtickgelegt  worden  oder  sonst  erloschen  ist 

Bei  der  Verleihung  einer  Konzession  zum  Ausschanke  oder  Kleinverschlcifse 
gebrannter  geistiger  Getränke  innerhalb  der  festgesetzten  Verhältniszahlen  ist  das  Be- 
dürfnis der  Bevölkerung  im  konkreten  Falle  nach  Mafsgabc  der  Bestimmungen  des 
§ 18,  Alinea  3 und  5 des  Gesetzes  vom  II.  März  1883,  R.G.B1.  Nr.  39,  strenge  zu 
prüfen. 

§ 7.  Die  politische  Landesbehörde  ist  ermächtigt,  nach  Einvernehmung  der 
Handels-  und  Gewerbekammer  zu  bestimmen,  inwieweit  an  Sonn-  und  Feiertagen, 
sowie  an  Wochentagen,  an  welchen  nach  der  herrschenden  Uebung  die  Lohnaus- 
zahlungen erfolgen,  die  Lokale,  in  welchen  der  Ausschank  oder  Klcinverschleifs  ge- 
brannter geistiger  Getränke  betrieben  wird,  geschlossen  zu  halten  sind. 

Hierdurch  können  jedoch  Gast-  und  Schankgewerbe,  Zuckerbäcker-  und  Mando- 
lcttibäckcrgewerbe  dann  nicht  getroffen  werden,  wenn  bei  diesen  Gewerben  der  Aus- 
schank von  gebrannten  geistigen  Getränken  nur  als  Nebengeschäft  betrieben  wird. 

§ 8.  Die  Bestimmung  des  § 54,  Absatz  2,  des  Gesetzes  vom  15.  März  1883, 
R.G.B1.  Nr.  39,  findet  auch  auf  den  Kleinvcrschleifs  von  gebrannten  geistigen  Ge- 
tränken Anwendung. 

§ 9.  Die  von  der  politischen  Landesbehörde  gemäfs  § 7 getroffenen  Anord- 
nungen, sowie  die  im  zweiten  und  dritten  Abschnitte  dieses  Gesetzes  enthaltenen  Be- 
stimmungen, sind  in  allen  Lokalen,  in  welchen  der  Ausschank  oder  Kleinvcrschleifs 
von  gebrannten  geistigen  Getränken  betrieben  wird,  an  einer  in  die  Augen  fallenden, 
jedermann  zugänglichen  Stelle  in  den  landesüblichen  Sprachen  anzuschlagen  und  in 
leserlichem  Stande  zu  erhalten. 

§ 10.  Uebcrtrctungcn  der  in  den  vorstehenden  Paragraphen  dieses  Gesetzes 
enthaltenen  Bestimmungen,  sowie  der  auf  Grund  der  §§  7 und  8 getroffenen  An- 
ordnungen, werden  als  Ucbertretungen  der  Gewerbeordnung  behandelt  und  nach  den 
Vorschriften  des  achten  Hauptstückes  derselben  bestraft. 


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Gesetz,  womit  Bestimmungen  zur  Hintanhaltung  d.  Trunksucht  getroffen  werden.  iqjj 

§ II.  Kleinvcrschleifser  von  gebrannten  geistigen  Getränken,  welche  diese 
Flüssigkeiten  ausschänken,  gewerbemäfsige  Erzeuger  solcher  Getränke,  sowie  die 
sonst  zum  Handel  mit  derartigen  Getränken  berechtigten  Personen,  welche  diese 
Flüssigkeiten  ausschänken  oder  im  Kleinverschleifse  verkaufen,  sind  von  der  Ge- 
werbebehörde anläfslich  der  ersten  Bestrafung  schriftlich  zu  warnen.  Im  Wieder- 
holungsfälle kann  sofort  mit  der  Entziehung  der  Gewerbeberechtigung  für  eine  be- 
stimmte Zeit  oder  auf  immer  vorgegangen  werden. 

Die  Berechtigung  zum  Auschankc  oder  Kleinverschleifse  von  gebrannten  geistigen 
Getränken,  sowie  die  Berechtigung  zum  Betriebe  des  Gast-  und  Schankgewerbes  über- 
haupt ist  von  der  Gewerbebehörde,  abgesehen  von  den  in  diesem  Gesetze  und  in  der 
Gewerbeordnung  bereits  erwähnten  Fällen,  auch  dann  für  eine  bestimmte  Zeit  oder 
auf  immer  zu  entziehen,  wenn  der  Gewerbetreibende  wegen  einer  der  im  dritten 
Abschnitte  dieses  Gesetzes  erwähnten  Uebertretungen  verurteilt  worden  und  unter 
den  gegebenen  Umständen  von  dem  Fortbetricbe  des  Gewerbes  Mifsbrauch  zu  be- 
sorgen ist. 

Zweiter  Abschnitt 

Privatrechtliche  Bestimmungen. 

§ 12.  Forderungen  für  die  Verabreichung  von  geistigen  Getränken  in  Gast* 
und  Schankräumlichkeiten,  sowie  Forderungen  aus  dem  Kleinverschleifse  gebrannter 
geistiger  Getränke,  sind  nicht  klagbar,  wenn  der  Schuldner  zur  Zeit  der  Entstehung 
der  späteren  Forderung  eine  frühere  Schuld  der  vorbezeichneten  Art  an  denselben 
Gläubiger  nicht  bezahlt  hat 

Forderungen,  welche  ftir  die  wiederholte  Verabreichung  der  im  ersten  Absätze 
erwähnten  Getränke  an  einen  Gast  während  eines  ununterbrochenen  Aufenthaltes 
desselben  in  der  Gast-  und  Schankwirtschaft  erwachsen,  sind  als  eine  einheitliche 
Forderung  anzusehen. 

Die  Bestimmungen  des  ersten  Absatzes  finden  keine  Anwendung  auf  Forde- 
rungen aus  der  Verabreichung  geistiger  Getränke  an  Gäste,  welche  in  dem  Gasthause 
zur  Beherbergung  aufgenommen  sind,  sowie  auf  Forderungen  aus  der  Veräufserung 
der  bezeichneten  Flüssigkeiten  an  Gewerbetreibende,  welche  dieselben  zum  Zwecke 
des  Wiederverkaufes  bezogen  haben. 

§ 13.  Forderungen,  welche  gemäfs  den  Bestimmungen  des  vorhergehenden 
Paragraphen  nicht  klagbar  sind,  eignen  sich  auch  nicht  zur  Kompensation  mit  anderen 
Forderungen  des  Schuldners. 

§ 14.  Pfand-  und  Bürgschaftsverträge,  welche  zur  Befestigung  von  Forderungen 
abgeschlossen  werden,  denen  gemäfs  § 12  das  Klagcrccht  entzogen  ist,  sind  ungiltig. 

Dritter  Abschnitt. 

Strafrechtliche  Bestimmungen. 

§ 15.  Wer  eine  mit  gerichtlicher  Strafe  bedrohte  Handlung  in  dem  Zustande 
einer  ohne  Absicht  auf  die  strafbare  Handlung  zugezogenen  vollen  Berauschung  be- 
geht, wird  wegen  Uebertrctung  gestraft : 

>3* 


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Gesetzgebung : Oesterreich. 


1.  mit  strengem  Arrest  von  drei  Tagen  bis  zu  sechs  Monaten,  wenn  die  in 
der  Trunkenheit  begangene  strafbare  Handlung  sich  als  Verbrechen  darstellt; 

2.  in  allen  anderen  Fällen  mit  strengem  oder  einfachem  Arrest  von  einem 
Tage  bis  zu  drei  Monaten  oder  an  Geld  von  10  bis  1000  Kronen,  jedoch  in  diesen 
Fällen  mit  keiner  nach  ihrer  Art  schwereren  als  der  für  die  strafbare  Handlung 
selbst  angedrohten  Strafe  und  nie  über  die  Hälfte  des  Höcbstausmafses  derselben. 

Die  Strafverfolgung  findet  nur  über  Privatanklagc  statt,  wenn  die  in  der 
Trunkenheit  verübte  strafbare  Handlung  der  Privatanklage  Vorbehalten  ist. 

§ 16.  Wer  sich  in  den  Zustand  der  Trunkenheit  vor  oder  während  der  Vor- 
nahme einer  Verrichtung  versetzt,  bei  welcher  dieser  Zustand  eine  Gefahr  für  das 
Leben,  die  Gesundheit  oder  die  körperliche  Sicherheit  eines  -anderen  herbeizuführen 
geeignet  ist,  oder  wer  in  diesem  Zustande  eine  solche  Verrichtung  aufser  in  einem 
Notfälle  vomimmt,  wird  wegen  Uebertretung  mit  strengem  oder  einfachem  Arrest 
von  drei  Tagen  bis  zu  drei  Monaten  oder  an  Geld  von  20  bis  1000  Kronen  bestraft. 

Die  Anwendung  dieser  Bestimmung  ist  ausgeschlossen,  wenn  die  strafbare 
Handlung  unter  die  Bestimmung  des  § 15  dieses  Gesetzes  oder  unter  eine  strengere 
Bestimmung  des  Strafgesetzes  fällt. 

§ 17.  Wer  innerhalb  eines  halben  Jahres  wiederholt  an  einem  öffentlichen 
Orte  im  Zustande  offenbarer  Trunkenheit  betroffen  wird,  ist  wegen  Uebertretung  mit 
Arrest  von  einem  Tage  bis  zu  vier  Wochen  oder  an  Geld  von  10  bis  zu  500  Kronen 
zu  bestrafen.  Dieselbe  Strafe  trifft  auch  denjenigen,  welcher  an  einem  öffentlichen 
Orte  im  Zustande  offenbarer  Trunkenheit  betroffen  wird,  wenn  er  bereits  wegen 
einer  der  in  diesem  oder  in  den  beiden  vorausgehenden  Paragraphen  aufgeführten 
Uebertretungen  verurteilt  worden  und  nicht  mehr  als  ein  halbes  Jahr  seit  dem  Be- 
gehen dieser  Uebertretung  verflossen  ist. 

§ 18.  Wer  beim  Ausschanke  oder  Kleinvcrschleifsc  von  geistigen  Getränken 
oder  beim  Handel  mit  diesen  Flüssigkeiten  einem  offenbar  Trunkenen  ein  geistiges 
Getränke  verabfolgt,  wird  wegen  Uebertretung  mit  strengem  oder  einfachem  Arreste 
von  drei  Tagen  bis  zu  drei  Monaten  oder  an  Geld  von  20  bis  zu  1000  Kronen 
bestraft. 

Dieselbe  Strafe  trifft  denjenigen,  welcher  beim  Ausschanke  geistiger  Getränke 
einem  offenbar  Unmündigen,  der  sich  nicht  in  Begleitung  einer  erwachsenen  Person 
befindet,  ein  geistiges  Getränke  zum  unmittelbaren  eigenen  Genüsse  verabreicht,  den 
Fall  ausgenommen,  wenn  das  geistige  Getränk  als  Labung  bei  einem  Unfälle  ver- 
abfolgt wird. 

§ 19.  Wer  in  der  Absicht,  die  in  diesem  Gesetze  (§  12)  festgesetzte  Unklag- 
barkeit von  Forderungen  aus  dem  Verkaufe  geistiger  Getränke,  sowie  die  Bestim- 
mungen über  die  Unzulässigkeit  der  Kompensation  (§  15)  oder  über  die  Ungültig- 
keit von  Pfandbcstellungen  und  Bürgschaftserkläungen  für  solche  ungklagbare  Forde- 
rungen (§  14)  zu  umgehen,  sich  von  dem  Schuldner,  Pfandbcstcller  oder  Bürgen 
über  seine  Forderung  eine  Urkunde  ausstellen  läfst,  die  keinen  oder  einen  unwahren 
Verpflichtungsgrund  entnält,  wird  wegen  Uebertretung  mit  strengem  oder  einfachem 
Arrest  von  drei  Tagen  bis  zu  drei  Monaten  oder  an  Geld  von  20  bis  1000  Kronen 
bestraft. 


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Gesetz,  womit  Bestimmungen  zur  Hintanhaltung  d.  Trunksucht  getroffen  werden.  \g] 

§ 20.  Zur  Aburteilung  über  die  in  diesem  Abschnitte  aufgefiihrten  Ueber- 
tretungen  sind  die  Bezirksgerichte  zuständig. 

Vierter  Abschnitt. 

Schlufsbestimmungcn. 

§ 21.  Durch  die  Bestimmungen  des  ersten  Abschnittes  dieses  Gesetzes  wird 
das  Propinationsrccht  in  jenen  Ländern,  in  welchen  dasselbe  besteht,  nicht  berührt. 

§ 22.  Die  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  finden  auch  Anwendung  auf  jene 
Gewerbsleute,  welche  im  Zeitpunkte  des  Beginnes  der  Wirksamkeit  des  Gesetzes  die 
Berechtigung  zur  Erzeugung,  zum  Handel,  Kleinverschleifse  oder  Ausschanke  von 
gebrannten  geistigen  Getränken  oder  zum  Betriebe  des  Gast-  und  Schankgewerbes 
auf  Grund  der  früheren  Vorschriften  besitzen. 

Es  sind  daher  auch  für  den  Umfang  der  Gewerbeberechtigung  der  im  Zeit- 
punkte des  Beginnes  der  Wirksamkeit  dieses  Gesetzes  bereits  bestehenden  derartigen 
Gewerbeunternehmungen  die  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  mafsgebend. 

Diejenigen  Inhaber  einer  Konzession  zum  Ausschanke  von  gebrannten  geistigen 
Getränken,  welche  auch  zur  Ausübung  sonstiger  Berechtigungen  des  Gast-  und 
Schankgewcrbcs  oder  zum  Betriebe  des  Zuckerbäcker-  und  Mandolettibäckergewerbes 
befugt  sind,  haben  binnen  drei  Monaten  nach  Beginn  der  Wirksamkeit  dieses  Gesetzes 
bei  der  Gcwcrbebchördc  unter  Berücksichtigung  der  etwa  in  dieser  Beziehung  be- 
reits durch  den  Inhalt  der  Konzession  bedingten  Einschränkungen  anzumeldcn,  ob  sie 
die  Berechtigung  zum  Ausschanke  von  gebrannten  geistigen  Getränken  in  Hinkunft 
als  Haupt-  oder  Nebengeschäft  zu  betreiben  beabsichtigen,  w'onach  die  Gewerbe- 
behörde die  im  ersten  Absätze  des  § 3 des  Gesetzes  vorgesehene  Verfügung  zu 
treffen  hat. 

§ 23.  Diejenigen  Gewerbetreibenden,  welche  im  Zeitpunkte  der  Kundmachung 
dieses  Gesetzes  die  Berechtigung  zur  Erzeugung  von  gebrannten  geistigen  Getränken 
oder  zum  Handel  mit  derartigen  Flüssigkeiten  in  verschlossenen  Gefafsen  auf  Grund 
der  bisher  geltenden  gesetzlichen  Vorschriften  besitzen,  sind  unter  der  Voraussetzung, 
dafs  dieselben  die  Bedingungen  dieses  Gesetzes  zur  Erlangung  einer  Konzession  zum 
Kleinverschleifse  von  gebrannten  geistigen  Getränken  erfüllen,  bei  der  Verleihung 
einer  solchen  Konzession  vor  anderen  Bewerbern  zu  berücksichtigen. 

Diejenigen  Gewerbetreibenden,  welche  von  dem  vorbezcichnctcn  Vorrechte 
Gebrauch  machen  wollen , haben  bei  sonstigem  Verluste  des  Vorrechtes  inner- 
halb dreier  Monate  nach  Kundmachung  dieses  Gesetzes  um  die  Konzession  zum 
Kleinverschleifse  von  gebrannten  geistigen  Getränken  für  den  Zeitpunkt  der  allge- 
meinen Wirksamkeit  des  Gesetzes  bei  der  kompetenten  Gewerbehördc  anzusuchen. 
Ueber  solche  Gesuche  ist  thunlichst  noch  vor  dem  Beginn  der  allgemeinen  Wirk- 
samkeit des  Gesetzes  unter  Zugrundelegung  der  Bestimmungen  des  ersten  Abschnittes 
desselben  zu  entscheiden. 

§ 24.  Dieses  Gesetz  tritt,  insoweit  nicht  die  Bestimmungen  des  § 23  eine 
Ausnahme  begründen,  sechs  Monate  nach  dem  Tage  der  Kundmachung  in  Wirk- 
samkeit. 


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198 


Gesetzgebung : Oesterreich. 


§ 25.  Mit  dem  Tage  der  Wirksamkeit  dieses  Gesetzes  treten  die  Bestimmungen 
der  §§  236,  523  und  524  des  Strafgesetzes,  sowie  die  Bestimmungen  des  Gesetzes 
vom  19.  Juli  1877,  R.G.B1.  Nr.  67,  aufser  Kraft. 

Die  auf  Grund  des  § 5 des  letzten  Gesetzes  erfolgten  Abstrafungen  sind  io* 
bezug  auf  ihre  Wirkungen  den  auf  Grund  der  §§  15  bis  17  dieses  Gesetzes  er- 
folgenden Abstrafungen  gleichzuhalten. 

§ 26.  Mit  dem  Vollzüge  dieses  Gesetzes  sind  Meine  Minister  des  Innern,  der 
Justiz  und  des  Handels  beauftragt. 


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VEREINIGTE  STAATEN  VON  AMERIKA. 

Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des 
Jahres  1901.  *) 

Von 

Dr.  jur.  CHARLES  HENRY  HUBERICH, 

Dozent  der  Rechte  an  der  Universität  von  Texas  (Austin). 

Der  Staat  Utah  erliefe  ein  Gesetz,  wodurch  die  Arbeitszeit  der 
bei  öffentlichen  Arbeiten  Beschäftigten  auf  8 Stunden  festgesetzt 
wird,  ausgenommen  in  Fällen  wo  Leben  oder  Eigentum  in  Gefahr 
sind.  Jeder  Arbeitsunternehmer  der  diesem  Gesetz  zuwiderhandelt, 
soll  eines  Vergehens  schuldig  befunden  werden. 

Derselbe  Staat  hat  ferner  die  in  den  Revised  Statutes  von 
1898  (Art.  1324 — 1335)  enthaltenen  Verordnungen  über  Vermittlung 
und  Schiedsrichterverfahren  in  Arbeiterstreitigkeiten  durch  ein 
neues  Gesetz,  welches  am  14.  März  angenommen  wurde,  ersetzt. 
Die  Haupt paragraphen  sind  die  folgenden : 

I.  Nach  Genehmigung  dieses  Gesetzes  soll  der  Gouverneur 
unter  Zustimmung  des  Senats  3 Personen  ernennen,  wo- 
von nicht  mehr  als  2 derselben  politischen  Partei  angehören 
dürfen.  Diese  Personen  bilden  das  Staatsarbeitseinigungs-  und 
Schiedsrichteramt  (State  Board  of  Labor,  Conciliation  and 
Arbitration).  Eine  der  zu  ernennenden  Personen  soll  ein 
Arbeitgeber  sein;  die  zweite  ein  Arbeitnehmer  der  einer 
Arbeiterverbindung  angehört;  die  dritte  Person  soll  weder 
ein  Arbeitnehmer  noch  ein  Arbeitgeber  sein  und  ist  Vor- 
sitzender des  Amtes.  Eine  dieser  Personen  soll  auf  ein  Jahr, 

*)  In  den  folgenden  Mitteilungen  sind  die  Gesetzgebungen  derjenigen  Staaten 
besprochen,  die  in  dem  in  diesem  Archiv,  Bd.  XVII,  S.  426  erschienenen  Artikel 
nicht  berücksichtigt  werden  konnten. 


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200 


Gesetzgebung:  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


eine  auf  drei  Jahre  und  eine  auf  fünf  Jahre  ernannt  werden.  . . 
Nach  Ablauf  ihres  Amtstennins  sollen  ihre  Nachfolger  in 
gleicher  Weise  je  auf  vier  Jahre  ernannt  werden. 

2.  Sobald  das  Amt  in  Kenntnis  gesetzt  ist,  dafs  innerhalb  des 
Staates  eine  Arbeitseinstellung  oder  Aussperrung  ernsthaft 
droht,  durch  die  ein  Arbeitgeber,  der  nicht  weniger  als 
io  Personen  beschäftigt,  und  dessen  Angestellten  betroffen 
sind,  soll  es  die  Pflicht  des  besagten  Amtes  sein,  sich  so- 
bald als  möglich  mit  solchen  Arbeitgebern  und  Angestellten 
in  Verbindung  zu  setzen  und  zu  versuchen,  durch  Ver- 
mittlung einen  friedlichen  Ausgleich  herbeizuführen.  Be- 
sagtes Amt  soll  ferner  beide  Parteien  auffordern,  ein  Gesuch 
um  ein  Schiedsrichterverfahren  an  den  Schriftführer  (des 
Amtes)  zu  richten. 

3.  Sobald  als  möglich  nach  Empfang  eines  solchen  Gesuchs 
soll  das  Amt  die  streitenden  Parteien  auffordern,  sich  über 
den  Tatbestand  der  Kontroverse  zu  einigen  und  diesen  in 
schriftlicher  Form  dem  Amte  zu  unterbreiten.  Vorausge- 
setzt ist  jedoch,  dafs,  wenn  solche  Einigung  und  (gemein- 
schaftliche) Unterbreitung  (der  Kontroverse)  nicht  erfolgt,  es 
jeder  der  streitenden  Parteien  frei  stehen  soll,  ihre  eigene 
Darstellung  der  Kontroverse  dem  Amte  schriftlich  vorzu- 
legcn.  Gesuche  an  das  Amt  um  ein  Schiedsrichterverfahren 
seitens  der  Arbeitgeber  müssen  einer  Aussperrung  und 
solche  seitens  der  Angestellten  einer  wirklichen  Arbeitsein- 
stellung ebenfalls  vorangehen.  Jedoch  soll  in  Fallen , wo 
eine  Aussperrung  oder  Arbeitseinstellung  bereits  stattge- 
funden hat,  das  Amt  ein  Schiedsrichterverfahren  gewähren 
unter  der  Bedingung,  dafs  die  Parteien  ihre  Beziehung  zu 
einander  als  Arbeitgeber  und  Angestellte  von  neuem  wieder 
aufnehmen.  Die  Gesuche  (um  Einsetzung  des  Schieds- 
amtes)  bedingen  das  Versprechen,  dem  Urteil  des  Amtes 
nachzukommen,  und  müssen  von  dem  Arbeitgeber,  bezw. 
den  Arbeitgebern,  oder  dessen  autorisierten  Stellvertretern 
einerseits,  und  von  einer  Mehrheit  seiner,  bezw.  ihrer  Ange- 
stellten andererseits,  gezeichnet  sein. 

4.  Sobald  als  möglich  nach  Empfang  solcher  Gesuche  soll 
das  Amt  zum  Schiedsrichterverfahren  schreiten  . . . 

5.  Das  Amt  ist  ermächtigt  als  Zeugen  unter  Strafandrohung 
irgend  einen  Angestellten  oder  Sachverständigen  in  den  be- 


\ 


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Ch.  H.  Mubcrich,  Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  d.  Jahres  1901.  201 

treffenden  Geschäftszweigen  sowohl  als  irgend  eine  Person, 
die  in  diesen  Geschäftszweigen  die  Lohnbücher  fuhrt,  oder 
irgend  eine  andere  Person  vorzuladen,  dieselbe  zu  beeidigen 
und  zu  vernehmen,  und  die  Vorlegung  von  Geschäftsbüchern, 
Papieren  und  Akten  zu  verlangen  . . . 

6.  Es  ist  die  Pflicht  der  Bürgermeister  und  Sheriffs,  dem 
Schriftführer  des  Staatsamts  sofort  von  Tatsachen,  die  wahr- 
scheinlich zu  einer  Arbeitseinstellung  oder  Aussperrung 
fuhren  könnten,  Mitteilung  zu  machen. 

7.  Sobald  als  möglich  nach  Untersuchung  der  Streitigkeiten 
zwischen  dem  Arbeitgeber  und  dessen  Angestellten  soll 
das  Amt  eine  billige  Entscheidung  fällen,  worin  das  beider- 
seitige Verhalten  der  streitenden  Parteien  angegeben  sein 
soll.  Zur  Fällung  eines  Urteils  des  Amtes  genügt  Stimmen- 
mehrheit. 

8.  Die  Entscheidung  soll  sofort  veröffentlicht  werden  . . .“ 

In  Florida  ist  die  Entlassung  oder  Drohung  der  Entlassung 
eines  Angestellten,  um  denselben  zu  bewegen,  für  oder  gegen  einen 
bestimmten  Wahlkandidaten  bezw.  Partei,  oder  für  oder  gegen  ein 
bestimmtes  Projekt  zu  stimmen,  oder  seine  Einkäufe  bei  bestimmten 
Personen  zu  machen  oder  nicht  zu  machen,  verboten,  unter  Drohung 
einer  Strafe  von  nicht  mehr  als  1000  Dollar  gegen  den  Arbeitgeber 
selbst , und  von  nicht  mehr  als  500  Dollar  oder  sechsmonatliche 
Haft,  oder  beider  Strafen,  gegen  dessen  Angestellten,  der  den  ge- 
setzwidrigen Befehl  seines  Arbeitgebers  ausführt. 

Texas  und  Arkansas  haben  Gesetze  gegen  das  Truck- 
system erlassen.  In  Texas  ist  es  gesetzwidrig,  Lohnzahlungen  durch 
Anweisungen,  die  nur  in  Waren  zahlbar  sind,  zu  machen.  Solche 
Anweisungen  sollen  in  barem  Geld  zahlbar  sein , selbst  wenn  die- 
selben nur  auf  Waren  lauten.  Das  texanische  Gesetz  bezieht  sich 
jedoch  nicht  auf  diejenigen  Arbeitgeber,  die  einen  bestimmten 
monatlichen  Zahlungstag  haben  und  die  in  den  Zwischenperioden 
ihren  Angestellten  Warenanweisungen  ausstellen;  ebensowenig  auf 
Kaufleute,  die  den  Mietern  von  Ackerbaugrundstücken  Kuponbücher 
ausstellen.  Zuwiderhandlungen  sind  durch  eine  Geldstrafe  von  5 
bis  100  Dollar  oder  Haftstrafc  von  5 bis  60  Tagen  bedroht. 

Das  Gesetz  von  Arkansas  verordnet,  dafs  alle  Warenan- 
weisungen, die  als  Lohnzahlung  ausgegeben  werden,  in  barem  Geld 
zahlbar  sein  sollen,  vorausgesetzt,  dafs  dieselben  an  einem  regel- 
mäfsigen  Zahlungstag  zur  Einlösung  eingereicht  werden.  Solche 


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202 


Gesetzgebung : Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


Einlösung  muls  auf  den  vollen  Nennwert  erfolgen  und  alle  Waren- 
anweisungen sollen  an  Geldesstatt  in  den  Kaufläden  des  Arbeits- 
gebers angenommen  werden.  Eine  L’ebertretung  dieses  Gesetzes 
soll  eine  Zivilklage  auf  den  wirklichen  Betrag  des  Lohnes  und  eine 
Geldstrafe  von  25  bis  100  Dollar  zur  Folge  haben.  Eine  gleiche  Geld- 
strafe ist  in  demselben  Staat  festgestellt  gegen  einen  Zwang  auf 
die  Angestellten  seitens  der  Arbeitgeber,  Einkäufe  in  bestimmten 
Kaufläden  zu  machen.  Auch  ist  daselbst  die  Uebervorteilung  der 
Arbeiter  bei  dem  Verkauf  von  Waren  seitens  der  Arbeitgeber  ver- 
boten und  eine  Entschädigungsklage  auf  den  doppelten  Betrag 
des  Unterschiedes  zwischen  dem  Marktpreise  und  dem  Verkaufs- 
preise möglich. 

Colorado  hat  für  alle  Privatkorporationen , mit  Ausnahme 
der  Eisenbahngesellschaften,  denen  eine  dreifsigtägige  Periode  ge- 
stattet ist,  und  für  sämtliche  Irrigationsgesellschaften,  auf  die  das  Ge- 
setz keine  Anwendung  finden  soll,  eine  funfzehntägige  Lohnzahlungs- 
periode festgesetzt.  Lohnzahlungen  sollen  am  5.  und  20.  jedes 
Monats  und  zwar  in  barem  Geld  oder  durch  Checks,  die  auf  Sicht 
ohne  Abzug  zahlbar  sind,  gemacht  werden.  Es  ist  ferner  verboten 
mehr  als  den  Betrag  des  Lohnes  für  die  fünf  vorhergehenden  Tage 
einzubehalten.  Der  Lohn  eines  entlassenen  Arbeiters  ist  sofort 
zahlbar;  im  Weigerungsfälle  ist  eine  Zivilklage  auf  den  vollen  Be- 
trag plus  5 Prozent  gestattet. 

ln  Wisconsin  wurde  das  Gesetz  über  Kinderarbeit  von  1899 
amendiert  wie  folgt : 

„Kein  Kind  unter  14  Jahren  soll  zu  irgend  einer  Zeit 
in  Fabriken,  Werkstätten,  Kegelbahnen,  Schänken,  Bier- 
gärten oder  Minen  angestellt  werden.  Noch  soll  solches 
Kind  in  Kaufläden,  Wäschereien,  Telegraphen-,  Fernsprech- 
oder Botenbureaus  angestellt  werden,  ausgenommen  während 
der  Ferien  der  öffentlichen  Stadt-  oder  Kreisschulen  des 
Ortes,  in  welchem  das  Kind  beschäftigt  ist.“ 

Derselbe  Staat  erliefs  eine  Revision  des  Mietskasernengesetzes 
vom  20.  April  1899,  wodurch  die  Anfertigung  oder  Reparatur  von 
Kleidungsstücken  wie  das  Fabrizieren  von  Zigarren,  Zigarretten, 
Schirmen,  Geldbörsen  und  Federn,  in  Mietskasernen,  Wohnhäusern 
oder  im  Hinterhof  solcher  Gebäulichkeiten , verboten  ist , ausge- 
nommen in  Fällen  wo  nach  Untersuchung  seitens  des  Arbeit- 
kommissärs,  Fabrikinspektors  oder  Assistentfabrikinspektors  ein  Er- 
laubnisschein dem  Eigentümer  oder  Mieter  ausgestellt  ist,  worin 


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C h.  H.  Huber  ich,  Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  d.  Jahres  1901.  203 

ein  solcher  Gebrauch  der  Gebäude  gestattet  ist  Der  Erlaubnis- 
schein mufs  die  Zahl  der  Personen  angeben,  die  in  jedem  Zimmer 
beschäftigt  werden  können,  und  die  Personenzahl  soll  nach  dem 
Luftraum  des  Zimmers  festgestellt  werden  und  zwar  in  folgender 
Weise:  Für  die  Zeit  von  6 Uhr  morgens  bis  6 Uhr  abends  soll 
auf  jede  Person  mindestens  250  Kubikfufs,  für  die  Zeit  von  6 Uhr 
abends  bis  6 Uhr  morgens  mindestens  400  Kubikfufs  Luftraum  be- 
rechnet werden.  Als  Bedingung  für  die  Ausstellung  des  Scheines  kann 
verlangt  werden,  dafs  Zimmer,  die  für  solche  Arbeit  gebraucht  werden, 
nicht  mit  Schlafzimmern  verbunden  sind,  selbst  nicht  als  Schlaf- 
zimmer gebraucht  werden,  und  keine  Betten,  Bettzeug  oder  Küchen- 
gerätschaften enthalten.  Das  Gesetz  bezieht  sich  natürlich  nicht  auf 
die  Anstellung  eines  Schneiders  oder  einer  Näherin  seitens  einer 
Privatfamilie.  Sachen  die  diesem  Gesetz  zuwider  hergestellt  sind, 
dürfen  nicht  zum  Verkauf  ausgeboten  werden.  Zuwiderhandlungen 
setzen  den  Eigentümer  der  wissentlich  solchen  gesetzwidrigen  Ge- 
brauch seines  Hauses  erlaubt,  ebenso  wie  den  Arbeitnehmer  und 
Geber,  den  Strafen  des  Gesetzes  (Geldstrafe  von  20  bis  60  Dollar 
oder  zwanzig-  bis  sechzigtägige  Haft,  oder  beiden  Strafen),  aus. 


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LITTERATUR. 

Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften. 

Besprochen  von 

Dr.  ADOLF  BRAUN, 

in  Nürnberg. 

1.  Bringmann,  August,  Geschichte  der  deutschen  Zimmererbewegung. 
Herausgegeben  im  Aufträge  des  Zentral  verbände?  der  Zimmerleute  und 
verwandter  Berufsgenossen  Deutschlands  I.  Band  400  Seiten  und  An- 
lagen (Lehrbriefe,  Kundschaften)  Stuttgart  1903,  J.  H.  W.  Dietz  Nachf. 
Preis  6 Mark. 

2.  Bringmann,  August,  Statistisches  aus  der  Deutschen  Zimmerer- 
bewegung im  19.  Jahrhundert  Herausgegeben  von  dem  Vorstand  des 
Zentralverbandes  der  Zimmerer  und  verwandter  Berufsgenossen  Deutsch- 
lands, Hamburg  1902.  Fr.  Schräder  37  Seiten  Doppel-Folio. 

3.  Bömelburg,  Th.,  und  Paeplow,  Fr.,  Statistische  Erhebungen 
über  die  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Maurer  Deutschlands  im 
Jahre  1900  und  vergleichbare  Zahlen  über  Lohnhöhe  und  Arbeitszeit 
in  den  Jahren  1885,  1890,  1895.  Hamburg,  Verlag  von  Th.  Bömel- 
burg in  Hamburg  (Zentralverband  der  Maurer  Deutschlands).  X und 
65  Seiten.  40.  Preis  2,50  Mark. 

4.  Paeplow,  Fritz  und  Bömelburg,  Th.,  Das  Maurergewerbe  in  der 
Statistik.  Nach  den  statistischen  Erhebungen  des  Maurerverbandes,  den 
Berufs-  und  Gewerbezählungen  des  Deutschen  Reiches  und  den  amt- 
lichen Nachrichten  des  Reichsversicherungsamtes  bearbeitet.  VIII  und 
224  Seiten  8”.  Hamburg  1902,  Th.  Bömelburg. 

5.  Paeplow,  Fr.,  Lohnklausel  und  Minimallohn.  Agitationsschrift 
zur  Förderung  korporativer  Arbeitsverträge.  Herausgegeben  von  der 
Zentralkommission  für  Arbeiterschutz  in  Hamburg.  Hamburg  1902, 
Verlag  von  Th.  Bömelburg.  31  Seiten  8°.  Preis  0,05  Mark. 

6.  Stolle,  H.,  Stuttgart,  Konferenz  der  Gauvorsitzenden  des  Zentral- 
verbandes der  Maurer  Deutschlands.  Abgehalten  am  24.  und  2S.  Januar 
1902  in  Leipzig.  Hamburg,  Auer  & Cie.  n Seiten  8°. 


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Littcratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


205 


7.  Bericht  des  Vorstandes  der  Zahlstellen  Berlins  und  der  Vororte 
des  Zentral verbandes  der  Zimmerer  Deutschlands  für  das  Jahr  1901. 
Berlin  1902.  H.  Knüpfer  47  Seiten  8°. 

8.  Geschäftsbericht  der  Zahlstelle  Hamburg  des  Zentralverbandes 

der  Zimmerleute  und  verwandter  Berufsgenossen  Deutschlands.  Hamburg, 
Auer  & Cie.  1902.  23  Seiten  8°. 

9.  Link,  G.,  Der  baugewerbliche  Arbeiterschutz  für  den  Stadtkreis 
Berlin  und  die  i’rovinz  Brandenburg.  Geschäftsgebiet  der  nordöstlichen 
Baugewerks-Berufsgenossenschaft.  Herausgegeben  von  den  Vertrauens- 
personen der  baugewerblichen  Arbeiter.  Berlin  1901  , G.  Link.  32 
Seiten  160. 

10.  Hirtmann,  C.,  Statistische  Erhebungen  über  Arbeits-  und  Lohn- 
verhältnisse der  Steinarbeiter  Deutschlands  mit  Berücksichtigung  der 
Krankheitsart  und  -Dauer,  sowie  der  Zahl  und  Ursache  der  Todesfälle. 
Vom  1.  Juli  1900  bis  30.  Juni  1901,  Berlin  v.  J.  35  Seiten  8°. 

11.  Allgemeine  Steinsetzer-Zeitung,  Festausgabe  zum  10  jährigen 

Bestand  des  Verbandes  der  Steinsetzer,  Pflasterer  und  Berufsgenossen 
Deutschlands  1893  und  1903.  Redaktion  und  Expedition  A.  Knoll 
Berlin  NW.  Waldenserstr.  18.  8 Seiten.  Folio. 

1 2.  Knoll  A.,  Die  soziale  I-age  der  Arbeiter  des  Steinsetzergewerbes. 

Statistischer  Bericht  an  den  5.  Verbandstag  der  Steinsetzer,  Pflasterer  und 
Berufsgenossen  Deutschlands  nebst  Protokoll  der  Verhandlungen  des 
5.  Verbandstages  in  Mainz  16.  bis  19.  Februar  1902.  Herausgegeben 
im  Aufträge  des  Verbandes  der  Steinsetzer,  Pflasterer  und  Berufsgenossen 
Deutschlands.  Als  Agitationsschrift  gedruckt.  Preis  für  Verbandsmit- 
glieder 10  Pf.  Berlin  1902.  136  Seiten  8°. 

13.  Recht  und  Pflicht!  Ein  offenes  Wort  zur  Agitation  und  zum 
Nachdenken  für  Maler,  Lackierer,  Anstreicher,  Tüncher  und  Weifsbinder 
Deutschlands.  48  Seiten  kl.  8 0 o.  J.  u.  O. 

14.  Leipart,  Th.,  Von  der  Notlage  der  Korbmacher.  Nach 
statistischen  Ergebungen  im  Jahre  1901  herausgegeben  vom  Vorstand 
des  deutschen  Holzarbeiterverbandes.  36  Seiten  8°.  Stuttgart  1902, 
Verlag  von  Theodor  Leipart. 

15.  Leitfaden  für  die  Lokalverwaltungen  und  Gauvorstände  des 
deutschen  Holzarbeiterverbandes.  Stuttgart  1900,  Selbstverlag  des  deutschen 
Holzarbeiterverbandes.  74  Seiten  kl.  8°. 

16.  Deutscher  Holzarbeiterverband , 23.  Gau.  Vorort  Stuttgart. 
Bericht  des  Gauvorstandes  über  seine  Thätigkeit  im  Jahre  1901  an  den 
4.  Gautag,  abgehalten  am  26.  Dezember  1901  im  Gewerkschaftshausc 
zu  Stuttgart.  Stuttgart,  Verlag  von  M.  Kayser.  26  Seiten  8 ®. 

1 7.  Die  Arbeitslosigkeit  der  organisierten  Lederarbeiter  Deutschlands 
für  die  Zeit  vom  1.  Januar  bis  30.  Juni  1901.  Herausgeber  H.  Beiss- 
wenger,  Berlin.  5 1 Seiten  8 °. 

18.  Der  deutsche  Buchbinderverband  im  Jahre  1901,  Bericht  des 


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206 


Litteratur. 


Vorstandes.  Stuttgart  1902.  Herausgegeben  vom  deutschen  Buchbinder- 
verband (A.  Dietrich)  4 2 Seiten  8 °. 

19.  Das  I .ehrlingswesen  im  Lithographiegewerbe.  Herausgegeben 
von  der  Vertrauenskommission  der  Lithographen  Deutschlands  in  Berlin. 
Gratis  zu  haben  bei  Chr.  Tischendoerfer,  Berlin  C.  Sophienstrafse  20. 
1 6 Seiten  8 °. 

20.  Deutscher  Buchdruckertarif.  Gültig  ab  1.  Januar  1902.  40  S. 
klein  8 #. 

21.  Deutscher  Buchdruckertarif  nebst  Kommentar.  Laut  Beschlusses 
des  Tarifausschusses  herausgegeben  vom  Tarifamt  der  deutschen  Buch- 
drucker 1902.  XVI  u.  175  Seiten  kl.  8". 

22.  Verband  der  deutschen  Buchdrucker,  Reglement  für  den  Gau 

Bayern.  Gültig  vom  1.  April  1902.  8 Seiten  kl.  8°. 

23.  (Braun,  Adolf)  Schutz  den  Heimarbeitern!  Eine  Denkschrift 
des  Verbandes  der  Schneider,  Schneiderinnen  und  verwandter  Berufs- 
genossen an  Bundesrat  und  Reichstag.  Mit  einem  Anhänge:  Die  Lage 
der  Arbeiter  im  Schneidergewerbe  Deutschlands,  306  Seiten  kl.  8 °. 
Stuttgart  1902,  Verlag  von  Fr.  Holzhäufser. 

24.  Der  zwölfte  deutsche  Mechanikertag  in  Dresden  und  die 
deutschen  Mechanikergehilfen  und  deren  Organisation.  Bericht  über  die 
Verhandlungen  des  zwölften  deutschen  Mechanikertages  in  Dresden  über 
den  Antrag  des  Prof.  AbW-Jena  auf  Einführung  des  neunstündigen  Arbeits- 
tages am  17.  August  1901  und  über  die  aus  diesem  Anlafs  stattgehabte 
Konferenz  der  Gehilfen,  vertreten  am  16./1 7.  August  1901  in  Dresden, 
mit  einem  Mahnworte  an  die  deutschen  Mechanikergehilfen  herausge- 
geben im  Aufträge  der  Gehilfenvertreter  zum  zwölften  Mechanikertag 
vom  Vorstand  des  deutschen  Metallarbeiterverbandes,  Stuttgart  1901. 
5 5 Seiten  kl.  8 °. 

25.  Statistik  über  die  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Mitglieder 

des  deutschen  Maschinisten-  und  Heizerverbandes  am  Schlüsse  des  Jahres 
1890.  18  Seiten  40. 

In  der  Weiterfuhrung  meines  Referates  über  die  Litteratur  von  und 
über  Gewerkschaften  beabsichtigte  ich  bei  der  Fülle  der  Schriften  eine 
systematische  Einteilung  zu  versuchen,  vor  allem  das  historische  vom 
statistischen  zu  trennen.  Eis  war  dies  aber  nicht  möglich,  da  gerade 
besonders  beachtenswerte  Erscheinungen  sowohl  als  geschichtliches  wie 
als  statistisches  Material  zu  berücksichtigen  sind.  An  des  alten  A.  L. 
v.  Schlözers  Wort  „Geschichte  ist  fortlaufende  Statistik,  Statistik  ist  still- 
stehende Geschichte“  wurde  ich  gemahnt,  als  ich  die  statistischen 
Arbeiten  über  die  Zimmererbewegung  (2)  und  über  die  Lohn-  und 
Arbeiterverhältnisse  der  Maurer  Deutschlands  (3  u.  4)  lediglich  als  Bei- 
träge zur  Sozialstatistik  registrieren  wollte  Diese  beiden  Werke  sind  gleich- 


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I-ittcratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


207 

zeitig  wichtige  Quellen  für  die  Geschichte  der  gewerkschaftlichen  Be- 
strebungen der  Bauhandwerker. 

Von  den  oben  angeführten  Schriften  würde  die  Arbeit  Bringmanns  (1) 
sowohl  dem  Umfange  als  auch  um  ihrer  Bedeutung  und  Originalität 
willen  die  eingehendste  Besprechung  verdienen.  Ich  bin  aber  dazu 
aufser  stände,  da  mich  der  Verfasser  in  seinem  Vorworte  für  Jen  Plan 
des  Werkes  verantwortlich  macht.  Meine  Anregungen  in  einer  früheren 
Sammelbesprechung  über  neue  Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften 
in  diesem  Archive  haben  den  Verfasser  angeregt,  seiner  seit  langer  Zeit 
vorbereiteten  Arbeit  über  die  Geschichte  der  Arbeiterorganisationen 
in  seinem  Gewerbe  eine  ganz  andere  Basis  zu  geben,  die  Verbindung 
zwischen  alter  Gesellenorganisation  und  moderner  Gewerkschaftsorgani- 
sation aufzudecken.  Auch  sonst  habe  ich  manchen  bescheidenen  Anteil 
an  diesem  Werke  genommen,  so  dafs  ich  es  mir  versagen  mufs,  mehr 
als  diese  kurze  Anseige  hier  zu  schreiben.  Ich  möchte  hoffen,  dafs  eine 
dieses  wichtige  Werk  nach  Verdienst  würdigende  Besprechung  dieser 
Zeitschrift  von  anderer  Seite  geliefert  wird.  Die  schön  ausgestattete 
Arbeit  ist  durch  Facsimiles  von  Lehrbriefen,  Kundschaften  etc.  illustriert. 
Eine  verschollene  Jugendarbeit  von  Menzels  Meisterhand  findet  sich  auch 
wiedergegeben. 

So  fern  es  dem  Referenten  auch  liegt,  soziale  Erscheinungen,  wie 
die  bedeutende  Verkürzung  der  Arbeitszeit  und  die  erhebliche  Erhöhung 
der  Geldlölme  auf  eine  L'rsache  zurückzufuhren,  so  wenig  kann  be- 
stritten werden , dafs  die  gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung  in  erster 
Linie  und  zwar  direkt  wie  indirekt  in  dieser  Richtung  gewirkt  hat.  Die 
drei  (2,  3,  4)  genannten  Schriften  erweisen  dies  klar,  weil  sie  ein  viel  lang- 
sameres Steigen  der  Löhne  in  den  Landesteilen  mit  unbedeutender  Zahl 
gewerkschaftlich  organisierter  Arbeiter  nachweisen  wie  in  den  Bezirken 
mit  guten  Organisationsverhältnissen  der  Arbeiter.  Die  drei  Publika- 
tionen sind  wichtige  Beiträge  zur  Entwicklung  des  Geldlohnes  und  auch 
zur  industriellen  Topographie  des  Deutschen  Reiches  wie  endlich  zur  Ge- 
schichte und  Kritik  der  deutschen  Gewerkschaftsbewegung,  die  auch 
derjenige  nicht  unberücksichtigt  lassen  kann,  der,  wie  der  Rezensent 
bedauert,  dafs  über  die  Herkunft  der  Zahlenreihen  nicht  vollkommen 
befriedigende  Auskunft  gegeben  wird.  Aber  es  ist  zu  beachten,  dafs 
die  angegebenen  Zahlen  nur  verzeichnet  werden  konnten  mit  Rück- 
sicht auf  die  Kritik  der  Unternehmerorganisationen  im  Baugewerbe,  die 
in  ihrer  Presse  aufs  genaueste  alles  verfolgen  und  subjektiv  kritisch  be- 
leuchten, was  aus  dem  Lager  der  organisierten  Bauarbeiter  kommt.  Man 
wird  auch  Anstofs  nehmen  an  den  Durchschnittslöhnen  meines  Erachtens 
nicht  mit  vielem  Rechte,  denn  im  deutschen  Baugewerbe  sind  vielfach 
Ortslöhne  üblich,  die  für  alle  nicht  eben  Ausgelemte  oder  zur  Invalidi- 
tät neigenden  Arbeiter  mafsgebend  sind.  Endlich  ist  bei  der  Beurtei- 
lung der  Zahlen  auch  zu  berücksichtigen,  dafs  tarifarische  Abmachungen 


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208 


Littcratur. 


zwischen  Unternehmer-  und  Arbeiterorganisationen  in  einer  sehr  erheb- 
lichen Zahl  deutscher  Städte  seit  langem  feste  Grundlagen  für  lohn- 
statistische Feststellungen  ergeben  haben.  Der  Referent  hat  den  Vor- 
sitzenden des  Zentralverbandes  der  Maurer  Deutschlands,  Herrn  Th. 
Bömelburg,  der  mit  dem  Redakteur  des  Grundstein,  Herrn  Paeplow 
die  Publikationen  des  Maurerverbandes  verfafst  hat,  nach  den  Quellen  be- 
fragen können,  worauf  er  erfuhr,  dafs  zahlreiche  Angaben  aus  der  Presse 
und  anderen  Veröffentlichungen  der  Unternehmer  stammen,  dafs  keine 
Kosten  und  keine  Mühe  gescheut  wurden,  um  die  Angaben  für  die  Ver- 
öffentlichung zu  erhalten.  Mehrere  statistische  Erhebungen  im  Maurer- 
verbande  sind  der  Veröffentlichung  vorangegangen.  Wenn  nun  auch 
nicht  die  Exaktheit  der  wissenschaftlichen  Lohnstatistik,  von  der  wir 
freilich  nicht  mehr  als  Proben  besitzen,  in  den  beiden  genannten 
Schriften  zu  finden  ist,  so  werden  sie  doch  als  ein  Surrogat  von  nicht 
geringer  Bedeutung  angesehen  werden  dürfen.  Mag  der  Mafsstab  des 
Statistikers  nicht  zu  rigoros  an  diese  Publikationen  gelegt  werden,  der 
Beurteiler  der  deutschen  Gewerkschaftsbewegung  wird  den  strengsten 
Mafsstab  verwenden  dürfen.  Als  Leistungen  der  deutschen  Gewerk- 
schaften sind  sie  hervorragende  Beispiele  des  Ernstes  und  Fleifses,  auch 
der  Begabung  und  des  Eifers  der  leitenden  Gewerkschaftsbeamten.  Ich 
glaube  aber,  dafs  auch  die  Nationalökonomen  von  Fach  manches  diesen 
Arbeiten  entnehmen  können. 

Nur  noch  einige  spezielle  Bemerkungen  über  diese  Arbeiten.  Die 
„Erhebungen“  des  Maurerverbandes  (3)  enthalten  den  sich  durch  Ein- 
fachheit und  Klarheit  auszeichnenden  Fragebogen.  Sollte  vielleicht  ein 
der  Arbeiterbewegung  ferner  stehender  Beurteiler  als  der  Schreiber 
dieser  Zeilen  meinen,  dafs  Art  und  Zahl  der  Beschäftigten  von  nicht 
beamteten  Personen  und  insbesondere  von  Bauarbeitern  nicht  festzu- 
stellen sei,  so  ist  dagegen  einzuwenden,  dafs  die  Bauarbeiter  durch  die 
von  ihnen  fast  allerorts  vorgenommenen  regelmäfsigen  Baukontrollen 
hierzu  wohl  im  stände  sind.  1455  Orte  im  Deutschen  Reiche  sind  in 
die  Erhebung  einbezogen  worden,  60  verschiedene  Lohnklassen  aufge- 
stellt ; die  Angaben  über  die  Löhne  wurden  nach  Landesteilen  und 
nach  Orts-Gröfsen-Klassen  gruppiert.  Es  finden  sich  dann  Angaben 
über  die  Lohnformen,  Ueberstunden,  Arbeitszeit,  Pausen,  über  die  Be- 
schäftigung von  Ausländem  u.  s.  w.  Diese  Angaben  finden  sich  für 
jeden  der  1455  1 >rte  und  dann  in  einer  Reihe  von  zusammengefafsten 
Tabellen,  von  denen  wir  als  die  sozialstatistisch  bemerkenswertesten  die 
über  die  Bewegung  des  layhnes,  der  Arbeitszeit  und  die  Steigerung  des 
Stundenlohnes  im  einzelnen  hervorheben  wollen. 

Die  statistische  Arbeit  des  Zentral verbandes  der  Zimmerer  etc.  (2) 
sollte,  wie  geplant  war,  der  von  August  Bringmann,  dem  Redakteur  des 
Zimmerer,  verfafsten  Geschichte  der  deutschen  Zimmcrerlrewegung 
als  Anhang  beigegeben  werden.  Es  rechtfertigt  sich  aber  vollkommen 


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Littcratur  von  und  Uber  Gewerkschaften. 


209 


die  selbständige  Veröffentlichung.  Für  die  Entwicklung  der  Gewerk- 
schaftsbewegung und  für  ihre  Verbreitung  in  den  einzelnen  Orten  des 
Deutschen  Reiches  ist  die  Tabelle  über  die  Verbreitung  der  deutschen 
Zimmererbewegung  im  19.  Jahrhundert  hochinteressant.  Dabei  ist  frei- 
lich zu  bemerken,  dafs  natürlich  blofs  die  Jahre  1869 — 1878  (Sozialisten- 
gesetz) und  1883 — 1900  behandelt  sind  und  dafs  es  sich  in  der  Haupt- 
sache um  Mindestzahlen  handelt,  weil  über  einzelne  neben  den  inafs- 
gebenden  Organisationen  laufende  Bewegungen  Zahlenangaben  nicht  zu 
erhalten  waren.  Aus  dem  vielen,  was  diese  Tabelle  lehrt,  sei  nur  her- 
vorgehoben die  Wirkung  der  Krisen-  und  der  Prosperitätsjahre  auf  die 
Stärke  der  gewerkschaftlichen  Organisationen  in  723  Orten  des  Deutschen 
Reiches,  die  sowohl  alphabetisch  fiir  das  Reichsgebiet,  als  auch  nach 
Provinzen  geordnet  aufgeführt  sind.  In  einer  ferneren,  von  dem  Ver- 
bandsvorsitzenden Fritz  Schräder  bearbeiteten  Tabelle  finden  wir  622 
Orte  und  zwar  soweit  Material  vorlag,  für  die  Jahre  1 885  und  für  jedes 
der  Jahre  1890 — 1893  und  1895  — 1900  die  tägliche  Arbeitszeit  in 
Stunden  und  die  Stundenlöhne  in  Pfennigen  angegeben.  Auch  hier 
finden  wir  eine  alphabetische  neben  einer  topographischen  Gruppierung 
des  Materials.  Hieran  schliefst  sich  eine  „Zimmerei- Betriebsstatistik“, 
nach  den  Resultaten  der  Gewerbezählung  vom  14.  Juni  1895,  zusammen- 
gestellt von  August  Bringmann.  Der  Schlufs  bildet  Tabellen  über  die 
Finanzgebahrung  des  Zimmererverbandes,  die  z.  B.  von  1890 — 1900 
eine  ununterbrochene  Steigerung  der  Einnahmen  von  84816  Mk.  74  Pfg. 
bis  zu  367  104  Mk.  12  Pfg.  sowie  ein  ununterbrochenes  Wachsen 
der  Kassenbestände  am  Jahresschlüsse  von  2865  Mk.  45  Pfg.  im  Jahre 
1890  auf  283731  Mk.  87  Pfg.  im  Jahre  1900  zeigen.  Die  Verteilung 
der  Einnahmen  auf  die  Zahlstellen  und  die  Hauptkasse,  die  Gruppierung 
der  Einnahmen  wie  der  Ausgaben,  die  Finanzierung  der  Zimmerer- 
streiks etc.  ist  aus  diesen  letzten  Tabellen  zu  ersehen.  Man  wird  gegen 
einzelne  tabellarische  Darstellungen  einwenden  können,  dafs  Zusammen- 
fassungen und  ein  begleitender  Text  fehlt;  hoffentlich  erhalten  wir  bald 
den  2.  Band  von  Bringmanns  Geschichte  der  Zimmererbewegung,  der 
wohl  diese  Lücken  ausfüllen  wird. 

Neben  der  vorher  besprochenen  Schrift  hat  der  Maurerverband  noch 
eine  zweite  umfangreiche  und  in  hohem  Mafse  beachtenswerte  statistische 
Arbeit  (4.)  in  gleichem  Jahre  veröffentlicht.  Die  Thatsache  dieser  sta- 
tistischen Erhebung  und  Verarbeitung  geben  schon  ein  Bild  von  dem 
F.rnste  und  der  Gründlichkeit,  welche  immer  mehr  die  Voraussetzung 
der  gewerkschaftlichen  Aktion  im  Deutschen  Reiche  wirtl.  Die  Notwen- 
digkeit statistischer  Erhebungen  Ulrer  die  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse 
haben  die  Maurerorganisationen  schon  vor  30  Jahren  erkannt;  im  Jahre 
1873  wurde  auf  den  in  Berlin  abgehaltenen  Maurer-  und  Steinhauerkon- 
grefs  auf  die  Wichtigkeit  zahlenmäfsiger  Feststellungen  über  die  Lage 
der  Arbeiter  im  Maurer-  und  Steinhauergewerbe  hingewiesen.  Die  un- 

Archiv  für  sog.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII 1.  14 


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210 


Litteratur. 


günstige  Entwicklung,  welche  die  Gewerkschaften  dank  der  wirtschaft- 
lichen Krise  , in  den  70er  und  80er  Jahren  wie  nicht  minder  infolge  der 
an  den  Namen  Tessendorf  sich  knüpfenden  Verfolgungen  auf  Grund  des 
preufsischen  Vereinsrechtes  und  der  sich  anschliefsenden  auf  Grund  des 
Sozialistengesetzes  genommen  haben,  liefs  die  Durchführung  statistischer 
Arbeiten  nicht  zu.  Erst  der  188g  zu  Halle  a./S.  abgehaltene  Maurer- 
kongrefs  konnte  sich  diesen  Aufgaben  wieder  zuwenden.  Die  hier  be- 
sprochene Schrift  giebt  uns  einen  interessanten  Ueberblick  über  die 
mannigfachen  statistischen  Erhebungen  der  deutschen  Maurerorganisation. 
Nicht  nur  die  Sozialpolitiker  sondern  auch  den  Berufsstatistiker  mufs  der 
Eifer  und  das  Geschick  interessieren,  mit  dem  diese  Organisationen  ohne 
jegliche  staatliche  oder  ähnliche  Zwangsmittel,  ohne  geschulte  wissen- 
schaftliche Kräfte  tief  eindringende  Feststellungen  über  die  Lebenslage 
der  Arbeiter  ihres  Berufes  zu  stände  brachten.  Unter  den  überaus  zahl- 
reichen, zum  Teil  methodisch  sehr  anfechtbaren  Statistiken  der  deutschen 
Gewerkschaften  nimmt  die  hier  besprochene  Publikation  einen  ersten 
Rang  ein.  Eine  Reihe  von  Formularen,  die  sich  durch  weise  Beschrän- 
kung auf  wenige  F'ragen  auszeichnen,  sind  abgedruckt  und  ermöglichen 
eine  Kontrolle  der  Erhebungsmethoden.  Es  erscheint  uns  weniger  be- 
merkenswert, dafs  der  Maurerverband  über  Beamte,  ehemalige  Maurer, 
verfügt,  die  ein  wissenschaftlichen  Anforderungen  in  hohem  Mafse  ent- 
sprechendes Buch,  wie  das  zur  Unterlage  dieser  Bemerkung  dienende 
verfassen  können,  als  die  Thatsache,  dafs  der  Maurerverband  seine  Mit- 
glieder in  der  Weise  schulen  konnte,  dafs  sie  an  fast  allen  Orten,  wo 
die  Organisation  vertreten  war,  klare  verarbeitbare  Antworten  auf  die 
gestellten  Fragen  geben  konnten.  Wohl  ist  manchmal  eine  Nachhilfe 
von  Gaubeamten  und  anderen  Funktionären  des  Verbandes  erforderlich 
gewesen,  aber  dies  hindert  nicht  das  Resultat  dieser  tief  eindringenden 
lohnstatistischen  Erhebung  als  ein  glänzendes  Zeugnis  für  das  geistige 
Niveau  der  organisierten  Maurer  anzuerkennen.  Diese  Bemerkungen  er- 
scheinen uns  nötig  zu  einer  Zeit,  wo  die  Hoffnungen  auf  eine  amtliche 
Arbeiterstatistik  in  Deutschland  sich  ein  klein  wenig  gebessert  haben. 
Man  mufs  aus  diesen  Arbeiten  den  Schlufs  ziehen,  dafs  die  amtliche 
Sozialstatistik  am  ehesten  zu  befriedigenden  Resultaten  gelangen  wird, 
wenn  sie,  das  Beispiel  Oesterreichs  und  der  Verein.  Staaten  berücksich- 
tigend, die  Gewerkschaften  zur  Mitarbeit  an  den  Erhebungen  heran - 
zieht.  Die  ersten  Schritte,  welche  ja  nach  einem  französischen  Sprich- 
worte  die  schwierigsten  sind,  sind  gemacht,  aber  es  ist  noch  ein  weiter 
Weg,  zu  ähnlichen  statistischen  Erhebungen  durch  das  reichsstatistische 
Amt,  wie  sie  die  vorliegende  Statistik  uns  bietet.  Diese  Statistik  ist 
auch  eine  wichtige  Vorarbeit  für  kommende  Erhebungen  und  auch  für 
die  Beurteilung  der  Lohnsysteme  im  Baugewerbe.  Die  interessante  Fest- 
stellung, dafs  in  einer  grofsen  Zahl  von  Orten  einheitliche  Löhne  be- 
stehen, so  vor  allem  in  dem  örtlich  zusammenhängenden  Gebiete  von 


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Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften.  21  I 

Schleswig-Holstein , Mecklenburg , Lübeck  und  Hamburg  erscheint  mir 
besonders  wichtig.  Dieser  Einheitslohn,  auf  den  wir  schon  oben  hin- 
gewiesen haben,  dürfte  wohl  ein  Rest  des  die  alte  Zunft  beherrschenden 
Gedankens  der  Ausgleichung  der  Konkurrenz  sein.  Neben  diesem  Ein- 
heitslohne giebt  es  Orte,  in  denen  nur  ganz  unbedeutende  Unterschiede 
der  Stundenlöhne  Vorkommen ; ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  im 
Süden  Deutschlands,  wo  fiir  Stuttgart  20,  für  München  19  Lohnklassen 
festgestellt  wurden.  Das  Eindringen  fremder  Arbeiter,  der  „Sachsen- 
gänger im  Baugewerbe“  mag  hier  den  Ausschlag  gegeben  haben.  In 
den  Provinzen,  als  Gesamtheit  betrachtet,  kommt  nirgends  ein  Einheits- 
lohn vor,  dies  spricht  dafür,  dafs  der  Einheitslohn,  wo  er  nicht  ein  von 
der  modernen  Gewerkschaft  errungener  Erfolg  ist,  ein  L’eberrest  zünf- 
tigen Gebrauches  darstellt,  der  aber,  wie  eben  die  Zunft,  sich  auf  das 
einzelne  Gemeinwesen,  die  einzelne  geschlossene  Stadtwirtschaft  beschränkt 
und  sich  vor  allem  von  dem  flachen  Lande  mit  seinem  als  „Störer“  ver- 
achteten und  verfolgten  Handwerkern  unterscheidet.  Während  aber  in 
den  wirtschaftlich  zurückgebliebenen  Provinzen  Ost-  und  Westpreufsen 
und  Posen  nur  6 Lohnsätze  (der  niedrigste  von  21  Pfennigen,  der 
höchste  von  45  Pfennigen)  festgestellt  wurden,  zeigt  das  gleiche  Jahr 
1S98  39  Lohnsätze  in  der  Provinz  Brandenburg  (von  unter  20  bis  über 
60  Pfennige,  bei  den  Berliner  Putzern  77  '/,  Pfennige  für  die  Stunde). 
Wir  haben  auf  diese  Resultate  hingewiesen,  um  eine  Art  Kostbissen  aus 
diesem  interessanten  Werke  den  Lesern  zu  reichen.  Die  kurz  vorher 
genannte  Schrift  sucht  ebenso  wie  die  hier  besprochene  ein  Bild  zu 
geben  von  den  Ergebnissen  der  Lohnstatistik  des  Jahres  1900,  zwischen 
diesen  beiden  Zählungen,  der  von  1898  und  der  von  1900  über  die 
Löhne  wurde  eine  Arbeitslosenstatistik  in  den  Monaten  Dezember  1899, 
Januar,  Februar  und  März  1900,  sowie  unabhängig  von  dieser  Zählung 
im  Monate  August  1900  vorgenommen.  Es  beweist  dies  den  aufser- 
ordentlich  gTofsen  Eifer,  den  die  Maurerorganisation  auf  ihre  Statistiken 
verwendet 

Was  Mischler  von  der  amtlichen  Statistik  sagt,  dafs  sie  Verwal- 
tungsstatistik ist,  dafs  sie  stets  zu  direkten  näheren  oder  ferneren  Ver- 
waltungszwecken unternommen  wird,  dafs  sic  nicht,  wie  Naive  meinen, 
Statistik  an  sich,  Statistik  im  Interesse  rein  wissenschaftlicher  Thatsachen- 
feststellung  ist,  das  gilt  auch  von  der  Statistik  der  Gewerkschaften.  Ge- 
rade der  Maurerverband,  diese  auf  dem  statistischen  Gebiete  eifrigste 
Organisation , hat  auf  Grund  ihrer  regelmäfsigen  und  genauen  That- 
sachenfeststellungen  wohl  die  erheblichsten  Erfolge  von  allen  grofsen 
Gewerkschaftsorganisationen,  die  Buchdrucker  kaum  ausgenommen,  fest- 
zustellen. Diese  Statistiken  bilden  die  Grundlagen  für  die  Erfolge  des 
grofsen  Verbandes,  für  das  Abwägen  der  Aussichten  von  Lohnbewegungen, 
sie  sind  aber  an  sich  schon  ein  viel  wirkungsvolleres  Agitationsmittel 
für  die  Gewerkschaften,  als  der  ferner  stehende  ahnen  mag.  Die  That- 

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212 


Litteratur. 


Sache,  dafs  sich  die  Organisation  um  den  Maurer  bekümmert,  dafs  sie 
seine  Lohnhöhe,  seine  Arbeitszeit,  die  Dauer  seiner  Arbeitslosigkeit  fest- 
zustellen bemüht  ist,  schafft  auch  die  Grundlagen,  die  Unorganisierten 
für  den  Verband  zu  interessieren,  sodafs  die  Statistik  nicht  in  letzter  Linie 
mit  daran  schuld  ist,  dafs  der  Maurerverband  sich  so  rasch  entwickelt  hat. 

Auch  die  innere  Statistik  des  Zentralverbandes  der  Maurer  wird 
gepflegt,  aus  ihr  ersieht  man,  dafs  im  III.  Quartale  1891  der  Verband 
10140  im  gleichen  Quartale  1900  86262  Mitglieder  zählte,  dafs  in  dieser 
Periode  die  Zahl  der  örtlichen  Mitgliedschaften  von  112  auf  887  ge- 
stiegen ist,  dafs  der  Verband  jetzt  über  eine  Jahreseinnahme  von  über 
1 Million  Mark  verfügt.  Die  Verbreitung  des  Verbandes  ist  aber  aufser- 
ordentlich  ungleich,  seine  meisten  Mitglieder  zählt  das  mittlere  Nord- 
deutschland ; im  ganzen  Gau  Berlin,  der  die  Provinz  Brandenburg  und 
Verwaltungsbezirke  aus  3 umliegenden  Provinzen  und  den  südlichen  Teil 
von  Mecklenburg-Strelitz  umfafst,  zählte  der  Verband  20276  Verbands- 
mitglieder,  aber  nur  19662  beschäftigte  Maurer.  Die  Differenz  erklärt 
sich  aus  dem  Umstande,  dafs  die  auf  Ueberland-Arbeit  befindlichen 
Maurer  am  Beschäftigungsorte,  wo  eine  Organisation  nicht  vorlianden 
ist,  nicht  gezälilt  werden  können,  aber  diese  Zahlen  beweisen,  dafs  die 
Zahl  der  unorganisierten  Maurer  in  dem  grofsen  Gau  Berlin  eine  sehr 
geringe  sein  mufs,  im  Gau  Hamburg-Schleswig-Holstein  waren  93  °/((  der 
ermittelten  Maurer  organisiert;  bedeutend  ungünstiger  liegen  die  Ver- 
hältnisse im  Westen  und  im  Süden  des  Reichs,  die  westdeutschen  Gaue 
zählen  nur  20  und  15  " „ organisierte,  die  süddeutschen  30,  20,  9,  7 °JO 
organisierte  Maurer.  Die  Statistik  über  die  Lohnhöhe  und  die  Länge 
der  Arbeitszeit  im  Jahre  1900  ist  in  trefflich  übersichtlicher  Weise  geo- 
graphisch nach  Landestcilen  und  statistisch  nach  Gröfsenklassen  der 
Ortschaften  verarbeitet.  Die  Bedeutung  der  Gewerkschaften  wird  durch 
den  Nachweis  der  Lohnsteigerung  pro  Tag  in  den  Perioden  1895 — 1900 
und  1885 — 1900  festgestellt.  Interessant,  wenn  auch  kaum  absolut 
exakt,  sind  die  Feststellungen  über  das  Verhältnis  von  Jahresverdienst 
und  Wohnungsmiete,  die  Tabelle  enthält  auch  die  Angabe  der  Lohn- 
höhe, tägliche  Arbeitszeit  im  Sommer,  Zahl  der  Zimmer  der  Wohnung. 
Für  367  Orte  im  Deutschen  Reiche  sind  die  Zahl  der  Maurer,  die 
Stundenlöhne  und  die  Arbeitszeit  1S95  und  rgoo,  die  Entwicklung  der 
Löhne  der  Arbeitszeit,  und  die  Zahl  der  erhobenen  Lohnforderungen 
beziehentlich  der  Strikes  für  1895 — 1900  und  ohne  Angabe  der  Lohn- 
forderungen für  1885 — 1900  festgestellt  und  alphabetisch  geordnet. 
Weitere  Kapitel  des  Buches  behandelt  die  Arbeitslosenstatistik,  die  Sta- 
tistik über  den  Familienstand,  die  Wohnungsverhältnisse,  Nebenerwerb 
und  Arbeitswechsel  der  Verbandsmitglieder. 

Neben  der  Statistik,  die  vom  Verbände  selbst  aufgenommen  und 
verarbeitet  ist,  findet  sich  eine  bis  ins  Einzelne  gehende  Verarbeitung 
der  Ergebnisse  der  Berufs-  und  Gewerbezählungen  im  Deutschen  Reiche 


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Litteratur  von  und  Ober  Gewerkschaften.  2 I 3 

wie  auch  der  Unfallstatistik  und  des  leider  spärlichen  Materiales,  das  wir 
über  den  Bauarbeiterschutz  besitzen. 

Wenn  unsere  amtlichen  Statistiken  darüber  klagen,  dafs  ihrer  mühe- 
vollen Arbeit  so  aufserordentlich  wenig  Verständnis  entgegengebracht 
wird , dafs  der  statistischen  Produktion  der  Konsum  der  statistischen 
Litteratur  in  keiner  Weise  die  Wage  hält,  so  beweist  die  hier  besprochene 
Schrift,  dafs  die  genauesten  Kenner  der  Bedürfnisse  der  Arbeiterklasse 
es  wagen  können , dieser  umfangreiche  statistische  Werke , darunter 
auch  die  Resultate  der  amtlichen  Statistik,  in  grofsen  Dosen  vorzusetzen. 
Man  kann  wohl  behaupten,  dafs  abgesehen  von  dem  kleinen  Kreise  der 
Berufs-Nationalökonomen,  niemand  in  Deutschland  eifriger  die  Ergeb- 
nisse amtlicher  und  privater  Statistik  studiert,  als  gerade  die  organisierte 
Arbeiterschaft. 

Wenn  wir  im  Anschlüsse  an  die  erwähnten  besonders  bemerkens- 
werten Leistungen  der  deutschen  Bauarbeiterbewegung  die  anderen  Ver- 
öffentlichungen aus  den  Kreisen  dieser  Organisationen,  wenn  auch  nur 
in  aller  Kürze  betrachten  wollen,  so  ist  in  erster  Linie  die  von  Fritz 
Paeplow  verfafste  Agitationsschrift  zur  Förderung  korporativer  Arbeits- 
verträge „Lohnklausel  und  Minimallohn"  (5)  zu  nennen.  Wir  wissen, 
dafs  die  Arbeiter  des  englischen  Sprachgebietes  auf  diesem  Felde  er- 
folgreich Bahn  gebrochen  haben  und  dafs  in  den  westeuropäischen 
Staaten  und  Gemeinden  sehr  beachtenswerte  Erfolge  in  dieser  Richtung 
erzielt  wurden.  Bevor  Zwiedenek-Südenhorst,  Klient  und  die  Publikation 
des  k.  k.  arbeitsstatistischen  Amtes  dieses  Material  zusammengestellt, 
beleuchtet  und  kritisiert  hatten,  wurde  dieser  Gedanke  auf  dem  im  Jahre 
1899  zu  Berlin  ahgehaltenen  1.  Bauarbeiterschutzkongrefs  von  der  deutschen 
Bauarbeiterbewegung  aufgenommen  und  hierauf  weiter  propagiert.  Die 
genannte  Schrift  eignet  sich  gut,  diese  Idee  in  die  Massen  zu  tragen 
und  den  Einflufs  der  Arbeiterschaft  in  Parlamenten  und  Gemeindever- 
tretungen zu  gunsten  der  Bau-  und  anderen  Arbeiter  wirken  zu  lassen. 
Nach  einer  historischen  Einleitung  über  die  Entwicklung  des  Lohn- 
systems  kommt  der  Autor  zu  der  Forderung  des  Minimallohnes  für 
Arbeiter  in  den  staatlichen  und  kommunalen  Verwaltungen.  Ein  beson- 
deres Kapitel  mit  historischen  Exkursen  und  Hinweisen  auf  die  Ver- 
breitung der  „fair  wages“  ist  der  Lohnklausel  gewidmet,  den  Schlufs 
bildet  der  Abschnitt  über  den  Minimallohn.  Die  grofse  Verbreitung, 
welche  die  Schrift  gefunden  hat,  läfst  erwarten,  dafs  die  Lohnklausel 
und  der  Minimallohn  künftig  in  den  Kämpfen  der  deutschen  Bauarbeiter 
eine  gröfsere  Rolle  spielen  werden  wie  bisher. 

Besoldete  Gauvorstände  für  einzelne  Landesteile  sind  in  den  meisten 
deutschen  Gewerkschaftsorganisationen  noch  nicht  bestellt  worden.  Viel- 
fach wird  die  dadurch  hervorgerufene  Steigerung  der  Verwaltungskosten 
gefürchtet,  auch  manche  über  ansehnliche  Geldmittel  verfügende  Gewerk- 
schaftsorganisationen stellen  sehr  hohe  Anforderungen  an  die  Fälligkeiten 


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214 


Litteratur. 


und  Eigenschaften  der  Gauleiter  und  halten  deshalb  vorläufig  mit  der 
Bestellung  von  besoldeten  Provinzbeamten  zurück,  wenn  sie  sich  auch 
im  Prinzipe  für  diese  Einrichtung  entschieden  haben.  Es  ist  dies  auch 
wohl  verständlich , sind  doch  dem  Gauleiter , der  die  Verbindung 
zwischen  dem  Hauptvorstande  und  den  örtlichen  Verwaltungsstellen  zu 
bilden  hat,  mannigfache  Aufgaben,  viele  Arbeit  und  noch  gröfsere  Verant- 
wortlichkeit aufgebürdet,  er  soll  in  ausgedehnten  Landesteilen  die  Agi- 
tation betreiben,  die  bestehenden  Organisationen  fördern  und  ihre 
Thätigkeit  nicht  blofs  in  finanzieller  Hinsicht  kontrollieren,  er  soll  für 
die  Ausbreitung  seines  Verbandes  wirken,  ein  Berater  und  Schlichter 
von  Streitigkeiten  sein,  die  Zentralleitung  über  alle  Vorgänge  in  der 
Organisation  und  im  Berufsleben  auf  dem  Laufenden  erhalten,  er  soll 
Lohnbewegungen  vorbereiten,  prüfen,  ob  sie  berechtigt,  aussichtsvoll  und 
für  die  Kasse  des  Verbandes  nicht  zu  kostspielig  sind,  er  soll  aussichts- 
lose Bewegungen  verhindern,  mit  Behörden  und  Unternehmern  ver- 
handeln etc.  etc.  Dafs  zu  diesen  mannigfachen  und  schwierigen  Auf- 
gaben geeignete,  allgemeines  Vertrauen  geniefsende  Männer  nicht  leicht 
zu  finden  sind,  ist  wohl  begreiflich.  Zu  den  Organisationen,  welche  die 
Gaueinteilung  nun  vollkommen  durchgeführt  haben,  zählt  nun  auch  der 
Zentralverband  der  Maurer  Deutschlands.  Er  hat  auch  ein  kurzes  Pro- 
tokoll über  die  am  24.  und  25.  Januar  1902  abgehaltene  Konferenz 
seiner  Gauvorsitzenden  veröffentlicht  (6),  das  einigermafsen  über  die  Auf- 
gaben der  Gauvorstände  orientieren  kann.  Interessant  ist  in  dem  Pro- 
tokolle auch  der  Austausch  der  Meinungen  über  die  im  Baugewerbe  so 
bedeutungsvolle  Frage  der  Beschäftigung  ausländischer  Arbeiter. 

War  auch  Berlin  bisher  aus  bekannten  vereinsgesetzlichen  Gründen  nur 
der  Sitz  weniger  Verbandsleitungen,  so  hat  die  gröfste  Stadt  des  Landes 
doch  die  am  meisten  entwickelte  Gewerkschaftsbewegung,  in  ihr  kon- 
zentrieren sich  die  stärksten  und  in  Hinblick  auf  Disziplin  und  finan- 
zielle Kraft  leistungsfähigsten  Zahlstellen  der  meisten  deutschen  Gewerk- 
schaften. Die  Berichte  dieser  Zahlstellen  verdienen  deshalb  als  bedeu- 
tungsvolles Material  zur  Beurteilung  der  deutschen  Gewerkschaftsbe- 
wegung eine  besondere  Beachtung.  Der  Bericht  der  Zimmerer  über 
ihre  Zahlstellen  in  Berlin  und  den  Vororten  der  Reichshauptstadt  (7) 
beginnt  mit  einer  die  Krise  würdigenden  Auseinandersetzung.  Es 
wird  die  wichtige  Thatsache  festgcstellt,  dafs  im  Jahre  1901  (auf  einen 
Druckfehler  ist  wohl  die  Zahl  1902  zurückzuführen)  die  Zahl  der  ab- 
wandernden Zimmerer  im  Gegensätze  zu  allen  Vorjahren  die  der  Zu- 
wandernden überstieg.  Die  Arbeitslosenunterstützung,  ein  alter  Wunsch 
des  Verbandes  wird  ferner  in  dem  Berichte  erörtert,  dann  die  Konflikte 
mit  der  konkurrierenden  Lokalorganisatiou  der  Zimmerleute,  die  Mafs- 
regelungen  aus  Anlafs  der  Maifeier.  Besonders  wichtig  für  den  Sozial- 
politiker sind  die  Aktenstücke  und  Mitteilungen  über  die  Verlängerung 
des  Tarifvertrages  zwischen  den  Unternehmern  und  Arbeitern  im  Berliner 


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Littcratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


215 


Zimmerergewerbe.  Neben  Bemerkungen  über  Lohnkämpfe,  die  Verwal- 
tungsthätigkeit  in  der  Zahlstelle  finden  sich  sehr  interessante  Mitteilungen 
über  die  Finanzgebahrung,  die  ein  Beweis  für  die  bekannte  Opferfreudig- 
keit der  Berliner  Arbeiter  sind. 

Nächst  Berlin  ist  Hamburg  der  wichtigste  Ort  für  die  deutsche  Ge- 
werkschaftsbewegung. Dies  beweist  auch  der  Geschäftsbericht  der  Zahl- 
stelle Hamburg  des  Zimmererverbandes  für  das  Jahr  1901  (8).  Wir 
heben  aus  demselben  hervor  den  Text  der  Lohnkarte  für  die  an  der 
Ramme  beschäftigten  Zimmerer,  einen  Beitrag  zu  den  bekannten  Akkord- 
maurer-Differenzen, sehr  beachtenswerte  Statistiken  über  Arbeitslosigkeit 
und  Krankheit.  Ein  besonderes  Kapitel  ist  dem  Bauarbeiterschutze  und 
der  Baukontrolle  gewidmet.  Die  Jahresabrechnung  und  ein  „Gewerbe- 
gerichtliches“ überschriebener  Abschnitt  beschliefsen  das  Schriftchen. 

Die  Sammlung  von  kleinen  Schriften  über  den  Bauarbeiterschutz, 
die  wir  schon  in  unserer  ersten  den  Gewerkschaften  gewidmeten  Litte- 
raturubcrsicht  besprachen,  ist  um  eine  weitere  vermehrt  worden,  welche 
für  die  in  Berlin  und  der  Provinz  Brandenburg  thätigen  Bauarbeiter  be- 
stimmt ist  (9). 

Die  Verordnung  des  Bundesrates  zum  Schutze  der  Steinarbeiter  ist 
in  erster  Linie  den  ständigen  statistischen  Feststellungen  über  die  Arbeits- 
bedingungen und  Gesundheitsverhältnisse  der  Steinarbeiter  Deutschlands 
durch  ihre  Organisation  zu  verdanken,  die  ihre  eindrucksvolle  Zusammen- 
fassung in  Calwers  Arbeit  über  „die  Berufsgefahren  der  Steinarbeiter“ 
gefunden  hatten.  Weder  die  Bundesratsverordnung  noch  die  Wirkung 
der  Denkschrift  haben  die  Steinarbeiter  veranlafst,  ihre  Feststellungen 
über  die  Lage  der  Arbeiter  in  ihrer  Industrie  einzustellen.  An  der 
letzten  Erhebung,  die  in  der  oben  (10)  genannten  Schrift  verarbeitet 
wurde,  haben  sich  mehr  Steinarbeiter  beteiligt  als  an  den  vorangegangenen 
Feststellungen.  Der  Inhalt  dieser  neuesten  Veröffentlichung  der  Stein- 
arbeiter-Organisation bietet  so  manches,  was  die  Denkschrift  nicht  in 
den  Bereich  ihrer  Darstellung  gezogen  hatte,  es  wäre  deshalb  nicht  zu 
wünschen,  dafs  sie  unbeachtet  bliebe.  Wir  erwähnen  Feststellungen 
über  die  Frauen-  und  Kinderarbeit  in  diesem  überaus  gefährlichen  Be- 
rufe, über  die  Arbeitsstätten,  über  die  Aufenthaltsräume  der  Arbeiter  in 
den  Pausen,  über  das  Vordringen  des  Maschinenbetriebes  in  dieser  In- 
dustrie, über  die  Lohnformen,  die  Arbeitszeit,  den  durchschnittlichen 
Jahresverdienst  und  die  Stundenlöhne.  Weiter  finden  wir  Bemerkungen 
über  gerichtliche  Entscheide,  die  durch  Lohndifferenzen  hervorgerufen 
wurden,  dann  Berechnungen  des  Durchschnittsalters  und  der  durch- 
schnittlichen Beschäftigungsdauer  für  die  verschiedenen  in  dieser  Berufs- 
gruppe in  Betracht  kommenden  Berufsgruppen,  ferner  finden  sich  in 
dem  zwar  kurzen  aber  inhaltsreichen  Schriftchen  statistische  Feststellungen 
über  Arbeitslosigkeit,  Krankheitsdauer,  Sterblichkeit,  Verhältnis  der  Zahl 
der  Organisierten  zu  der  der  Beschäftigten. 


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2l6 


Litteratur. 


Das  unter  1 1 angeführte  Festblatt  enthält  auf  r 3 Spalten  eine  Ge- 
schichte der  modernen  Steinsetzerorganisation  auf  die  ich , trotz  des 
vorhandenen  Anlasses  nicht  kritisch  eingehen  kann,  weil  ich  selbst  der 
Verfasser  bin.  Ich  darf  aber  anführen,  dafs  mir  auf  Grund  des  vor- 
trefflichen Archivs  dieser  Organisation  der  Beweis  vollständig  gelungen 
ist,  dafs  moderne  Gewcrksehaftsorganisationen  in  Deutschland  direkt  aus 
zünftigen  Gesellenorganisationen  entstanden  sind.  Was  ich  im  Jahre  1901 
als  Theorie  aufgestellt  habe,  vermochte  ich  Ende  1902  aktenmäfsig  nach- 
zuweisen. Das  Material,  das  mir  dies  ermöglichte,  konnte  selbstverständ- 
lich in  dieser  mehr  agitatorischen  Zwecken  dienenden  Festschrift  nicht 
vollständig  ausgenützt  werden.  Bei  der  Wichtigkeit  der  Frage  über  die 
Entstellung  der  Gewerkschaften  beabsichtige  ich  in  mehr  wissenschaft- 
licher Form  diese  Frage  bald  zu  erörtern.  Die  Festschrift  enthält  nicht 
blofs  Rückblicke,  sondern  auch  eine  Reihe  wichtiger  Aktenstücke,  in 
denen  man  die  gegenwärtige  Wirksamkeit  und  die  künftige  Politik  des 
Steinsetzerverbandes  veranschaulicht  findet.  Im  Vereine  mit  der  unter 
Nummer  12  genannten  Schrift  erhält  man  ein  vollständiges  Bild  über 
die  soziale  I.age  der  Steinsetzergehilfen  in  den  gröfseren  Städten,  über 
die  bedeutungsvollen  Leistungen  dieser  Gewerkschaftsorganisation  und 
über  den  Geist,  der  sie  früher  und  heute  erfüllt.  Es  giebt  wenige 
Schriften,  wie  die  unter  12  genannte,  die  so  klar  den  Nachweis  er- 
bringen, wie  unberechtigt  die  Unternehmeranschauung  ist,  dafs  die  Kosten 
der  Lohnbewegungen  und  Strikes  nicht  aufgewogen  werden  durch  die 
Erfolge  derselben.  Gerade  die  10  jährige  Geschichte  der  Steinsetzer- 
organisation, die  statistische  Beleuchtung  der  Lage  der  Arbeiter  in  diesem 
Gewerbe  vor  Gründung  der  Organisation  wie  am  Ende  der  Berichts- 
periode beweist  den  gewaltigen  Effekt  gewerkschaftlicher  Wirksamkeit 
für  die  Arbeiter.  So  ergiebt  sich  der  Wert  dieser  aus  der  Feder 

A.  Knolls  stammenden  Denkschrift  über  die  Kreise  seiner  Berufsgenossen 
hinaus. 

Zu  den  in  unserer  früheren  Uebersicht  erwähnten  Schriftchcn  zur 
Gewinnung  neuer  Mitglieder  ist  eine  recht  originelle,  auf  engsten  Raum 
beschränkte  und  doch  in  mannigfacher  Hinsicht  anregende  und  be- 
lehrende die  des  Malerverbandes  (13)  gekommen,  die  nicht  blofs  als 
Beispiel  für  diese  besondere  Art  von  Gewerkschaftslitteratur  beachtens- 
wert ist,  sondern  auch  manche  verwertbare  Daten  über  die  werbende 
Organisation  für  andere  Personen  als  für  noch  nicht  organisierte  Maler- 
und Tünchergehilfen  enthält. 

Im  deutschen  Holzarbeiterverbande,  neben  dem  Metallarbeiterver- 
bande  dem  einzigen  gewerkschaftlichen  Industrieverbande  im  deutschen 
Reiche,  sind  die  gewerkschaftlichen  Interessen  von  mehr  als  ein  Dutzend 
verschiedener  Berufe  mit  einander  verbunden , neben  den  eigentlichen 
Holzarbeitern  wie  Tischlern,  Holzdrechslern  etc.  auch  Meerschaum-  und 
Perlmutterarbeiter,  Knopf-,  Pinsel-  und  Bürstenmacher  u.  s.  w.  So  vor- 


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Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften, 


217 


teilhaft  die  Zugehörigkeit  kleiner  Berufsgruppen  zu  einem  grofsen  und 
finanziell  leistungsfähigen  Verbände  ist,  so  schwierig  ist  die  Leitung 
einer  Organisation , bei  der  die  verschiedensten  Verhältnisse  beherrcht 
und  gerecht  gewürdigt  werden  müssen.  Bei  dem  grofsen  Mifstrauen 
der  Arbeiter  ist  diese  Aufgabe  für  schwer  genug  zu  erachten.  Die 
hier  besprochene  Schrift  (14)  ist  einer  der  vielen  Beweise,  dafs  die 
Leitung  des  deutschen  Holzarbeiterverbandes  diesen  grofsen  Aufgaben 
gewachsen  ist.  Machen  die  Korbmacher  auch  blofs  einen  kleinen  Bruch- 
teil der  dem  Holzarbeiterverbande  angehörenden  Arbeiterschaft  aus,  so 
wurden  doch  ihre  Wünsche  stets  berücksichtigt,  sie  können  auch  mit 
der  hier  besprochenen  Schrift  sehr  zufrieden  sein.  Der  Fragebogen  ist 
der  Meinung  des  Referenten  nach  etwas  zu  ausführlich  geraten,  wenn 
er  auch  jede  der  25  Fragen  für  berechtigt  halten  mufs.  Die  Arbeiter 
zeigten  im  allgemeinen  viel  Verständnis  für  die  F.rhebung,  aus  42  Städten 
kamen  nur  der  Ortsfragebogen  zurück,  während  aus  106  Städten  auch 
Personalfragebogen  eingeliefert  wurden.  Für  ein  so  kleines  Gewerbe, 
in  dem  der  Alleinbetrieb  vielfach  noch  herrscht,  ist  dies  ein  ganz  zufrieden- 
stellendes Resultat.  Auch  bei  dieser  Erhebung  zeigt  sich  die  durch  die 
soziale  Not , die  Isoliertheit  und  überlange  Beschäftigungsdauer  der 
Heimarl>eiter  zu  erklärende  Gleichgiltigkeit  der  Arbeiter  in  der  Haus- 
industrie. Während  1457  in  Werkstätten  thätige  Korbmacher  die  Frage- 
bogen zurückgeliefert  hatten,  geschah  das  Gleiche,  abgesehen  vom  Co- 
burger  Gebiete,  blofs  von  7 in  der  eigenen  Wohnung  thätigen  ! Neben 
der  Hausindustrie  herrscht  das  Kleinhandwerk  im  Korbmachergewerbe, 
hatten  doch  250  Betriebe  1 — 5,  67:  6 — 10  und  blofs  49  mehr  wie  10 
Beschäftigte.  Bei  9 Proz.  der  Korbmacher  herrschte  noch  das  selbst 
im  Brauer-  und  Bäckergewerbe  immer  mehr  verschwindende  und  nur 
noch  bei  Fleischern  und  Friseuren  herrschende  patriarchalische  System, 
dafs  Kost  und  Logis  als  Naturalleistung  vom  Meister  empfangen  wird. 

Interessant  ist  die  Feststellung,  dafs  die  den  Haushalt  des  Meisters 
theilenden  und  deshalb  abhängigeren  Arbeiter  nach  Umrechnung  der  Natural- 
leistungen in  Geld  bedeutend  schlechter  entlohnt  sind  als  die  reinen  Geld- 
löhner. Nur  dort,  wo  durch  Streiks  die  Arbeitszeitverkürzung  durchgesetzt 
wurde,  arbeiteten  die  Korbmacher  im  Jahre  1901  kürzere  Zeit  als  im  Jahre 
1897,  sonst  hatten  sie  mehr  Wochenstunden  zu  verzeichnen.  Die  Arbeitszeit 
in  Hamburg  beträgt  54,3,  in  Oswitz  bei  Breslau  dagegen  74  Stunden. 
52  Proz.  der  Arbeiter  erreichten  nicht  einmal  den  bedenklich  niedrigen 
Durchschnittswochenlohn  von  16  Mk.  51  Pf.  Während  bei  54  stündiger 
Wochenarbeit  39  Proz.  der  Arbeiter  den  höchsten  Wochenlohn  von 
24  Mk.  verzeichneten,  hatte  blos  1 Proz.  der  Arbeiter  mit  7 2 stündiger 
Wochenarbeit  den  höchsten  Lohnsatz,  ca.  8 Proz.  der  Arbeiter  mit  der 
kürzesten  und  59  Proz.  der  mit  der  längsten  Arbeitszeit  hatten  den 
niedrigsten  Lohnsatz  von  1 2 Mk.  Ein  besonderes  Kapitel  ist  den  Korb- 
machern im  Coburg-Lichtenfelser  Bezirke  gewidmet,  deren  Verhältnisse 


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218 


Litteratur. 


um  die  Mitte  der  1880  er  Jahre  Emanuel  Hans  Sax  erforscht  hatte  (Die 
Hausindustrie  in  Thüringen  III,  Jena  1888).  Hier  hat  der  Holzarbeiter- 
verband zum  Unterschiede  von  anderen  Orten  ein  reichhaltiges  Material 
aus  den  Kreisen  der  Hausindustriellcn  zusammengebracht.  Eine  Besse- 
rung gegenüber  den  Verhältnissen,  wie  sie  E.  H.  Sax  schilderte,  war 
leider  nicht  festzustellen.  Es  heifst  in  der  besprochenen  Schrift:  »Wir 
finden  heute  noch  dieselbe  durchaus  ungenügende  Ernährung,  dieselbe 
Ueberfullung  und  Ausnutzung  schon  an  sich  ungesunder  Wohnungen  und 
dieselbe  übermäfsig  lange  Arbeitszeit«  Das  Trucksystem  ist  zwar  von 
der  Oberfläche  verschwunden , es  wuchert  aber  noch  im  geheimen  fort. 
Auch  dieser  Theil  der  Schrift  ist  sehr  bemerkenswert  und  speziell  den- 
jenigen zu  empfehlen,  welche  der  Hausindustrie  Interesse  entgegen- 
bringen. 

Der  Leitfaden  (15)  ist  durch  die  Beschlüsse  des  im  Jahre  1902  ab- 
gehaltenen Verbandstages  der  Holzarbeiter  überholt,  er  bietet  aber  dankens- 
werte Gelegenheit,  sich  über  das  Wesen  und  die  Aufgaben  einer  grofsen 
deutschen  Gewerkschaft  ausreichend  zu  orientieren.  Ein  alphabetisches 
Sachregister  ermöglicht  die  bequeme  Benutzung  des  Schriftchens. 

Ueber  den  Thätigkeitsbereich  eines  Gauvorstandes  verschafft  Klar- 
heit die  unter  16  angeführte  Schrift,  derselben  sind  als  Anhang  die 
spezialisierten  Ziffern  über  die  Verbreitung  der  Holzindustrie  in  Württemberg 
nach  den  Ergebnissen  der  letzten  Berufszählung  beigegeben. 

Das  von  den  Arbeitern  eifrig  gesammelte  Material  über  den  Stand 
der  Beschäftigungslosigkeit  in  der  letzten  Periode  der  Krise  ist  leider 
in  Zeitungen  und  Wochenblättern  zerstreut , die  Lederarbeiter  haben  in 
dankenswerter  Weise  das  Ergebnis  ihrer  Erhebungen  in  einer  besonderen 
Broschüre  (17)  publiziert.  Das  inhaltsreiche  Schriftchen  gipfelt  in  der 
Mahnung,  die  Arbeitslosenunterstützung  auch  im  Verbände  der  Leder- 
arbeiter durchzutuhren.  Ein  spezielles  Eingehen  auf  die  Resultate  dieser 
Arbeit  scheint  besser  im  Zusammenhänge  mit  den  anderen  Unter- 
suchungen über  die  Arbeitslosigkeits-Erhebungen  deutscher  Gewerkschaften 
am  Platze  zu  sein. 

Jahresberichte  hcrauszugeben,  bürgert  sich  bei  den  Gewerkschaften 
immer  mehr  ein,  der  Lederarbeiterverband  kündigt  an,  dafs  auch  er 
künftig  Jahresberichte  herausgeben  wird,  dem  in  diesem  Archive  be- 
sprochenen ersten  Jahresberichte  des  Buchbinderverbandes  ist  nun  ein 
zweiter  (18)  gefolgt.  In  demselben  werden  alle  Seiten  der  Thätigkeit 
dieser  Gewerkschaftsorganisation  beleuchtet,  er  informiert  uns  über  die 
vielen  Schwierigkeiten,  die  die  Krisenjahre  mit  sich  gebracht  haben,  um 
die  Erfolge  der  grofsen,  letzten  Tarif  Bewegung  der  Buchbinder  festzu- 
halten. Der  Bericht  kann  ferner  feststellen,  dafs  diese  Gewerkschafts- 
organisation trotz  der  Krisis  in  einer  Reihe  wichtiger  Orte  die  Lage 
ihrer  Mitglieder  verbessern  konnte.  Gröfser  freilich  als  die  Zahl  der 
Vorstöfse  dieser  Gewerkschaft,  waren  ihre  Abwehrstrikes.  Naturgemäfs 


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Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


219 


gab  es  auch  schon  der  Mannigfaltigkeit  der  Tarifsätze  wegen  eine  Reihe 
von  Differenzen.  Die  Buchbinder  besitzen  jetzt  ebenso  wie  die  Buch- 
drucker ein  Tarifschiedsgericht,  feste  Abmachungen  über  die  Arbeitsbe- 
dingungen wurden  an  einer  Reihe  von  Orten  abgeschlossen.  Neben 
diesen  in  erster  Linie  wichtigen  Mitteilungen  wurde  über  die  Agitation 
im  Buchbinderverbande  Rechenschaft  gegeben.  Es  wird  ein  Blick  auf 
die  Wirksamkeit  der  Gauorganisationen  geworfen,  über  den  Wechsel  der 
Zahl-  und  Verwaltungsstellen  berichtet  und  dann  die  Differenzen 
zwischen  der  Buchbinderorganisation  und  dem  neugeschaffenen  Verbände 
der  Portefeuiller  und  Ledergalanterie -Arbeiter  Deutschlands  beleuchtet. 
Wichtige  Mitteilungen  werden  über  die  finanziellen  Verhältnisse  des  Ver- 
bandes gemacht,  welche  die  Durchführung  einer  Extrasteuer  erforderlich 
machten,  um  den  Stand  der  Kasse  gleich  hoch  zu  bringen,  wie  sie  vor 
der  grofsen  Tarifbewegung  gewesen  war.  In  dem  Berichte  finden  sich 
ferner  Mitteilungen  über  das  Unterstützungswesen  der  Organisation,  über 
ihre  Beziehung  zu  ausländischen  Verbänden,  über  die  statistischen  Ar- 
beiten des  Verbandes,  über  sein  Organ  u.  s.  w.  Erwähnt  sei  endlich  die 
Feststellung,  dafs  in  keiner  deutschen  Gewerkschaftsorganisation  die  Zahl 
der  weiblichen  Mitglieder  so  grofs  ist  wie  im  Buchbinderverbande.  Wer 
die  Arbeiterpresse  in  früheren  Jahrzehnten  verfolgt  hat,  erinnert  sich  der 
regelmäfsig  wiederkehrenden  Aufrufe  der  Buchdrucker,  in  denen  alle 
Schattenseiten  des  Berufes,  die  Arbeitslosigkeit,  die  Gesundheitsschädi- 
gungen etc.  geschildert  wurden,  um  Eltern  und  Vormünder  zu  veran- 
lassen, ihre  der  Schule  entwachsenden  Kinder  anderen  Berufen  zuzu- 
führen. Die  Buchdrucker  haben  mit  der  Zeit  eingesehen,  dafs  ihre 

Motive,  die  Minderung  des  Zuzuges  zu  ihrem  Gewerbe  durchschaut 
wurden,  so  dafs  der  beabsichtigte  Zweck  der  Warnungen  nicht  erreicht 
wurde.  An  Stelle  dieser  Warnungen  traten  nun  die  von  Arbeitern 

anderer  Gewerbe,  der  Bäcker,  der  Friseure,  der  Lithographen.  Während 
die  Buchdrucker  nun  in  ihrem  Tarife  eine  Waffe  gegen  die  Lehrlings- 
züchterei besitzen,  versuchen  es  gewerkschaftlich  weniger  erfolgreiche  Ar- 
beitergruppen mit  den  von  den  Buchdruckern  i.  d.  R.  nicht  mehr  ange- 
wandten Mitteln  der  Aufrufe  und  Warnungen.  Während  früher  diese  Aufrufe 
durch  die  periodische  Presse  verbreitet  wurden,  haben  die  Lithographen 
es  mit  einer  massenhaft  verbreiteten,  selbständigen  Schrift  versucht.  Sie 
stellt  kurz  die  Natur  des  I.ithographiegewerbes  dar,  erläutert  die  Be- 
deutung der  Akkordarbeit  als  Mittel,  die  Löhne  zum  weichen  zu  bringen 
und  die  Arbeitskraft  auszubeuten,  dann  wird  die  Lehrlingsfrage  in  diesem 
Berufe  wie  das  Verhältnis  von  Gehilfen-  zur  I .ehrlingszahl  beleuchtet. 
Lehr-  und  Probezeit,  die  Ausbildung  der  Lehrlinge  wird  geschildert,  ihre 
geringe  Aussicht  auf  dauernde  Beschäftigung  der  Gehilfen  klargelegt, 
Arbeitszeit,  Arbeitslohn,  Heimarbeit,  die  hygienischen  Verhältnisse  in  ab- 
schreckender Weise  dargestellt  und  hieraus  der  Schlufs  gezogen,  dafs  die 
Zuführung  der  Lehrlinge  zum  Lithographen-  und  Steindruckerberufe  ge- 


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220 


l.itteratur. 


hemmt  werden  soll.  So  wichtig  eine  Schrift  dieser  Art  zur  Beurteilung 
der  Gedankenwelt  und  der  Kampfmittel  der  Gewerkschaften  ist,  so  wenig 
Erfolg  dürfen  sich  die  Lithographen  von  dieser  Agitation  versprechen. 
Es  giebt  tausende  von  Arbeitern  in  Berufen  mit  ungünstigeren  Verhält- 
nissen, aus  deren  Nachwuchs  Lehrlingszuchtanstalten  ihre  unbezahlten 
oder  zu  gering  entlohnten  Arbeitskräfte  immer  wieder  rekrutieren  können. 

Kurz  sei  hier  auch  der  Buchdruckertarif  (20)  in  seiner  Fassung  vom 
1.  Januar  1002  erwähnt.  Es  ist  dies  der  Tarif,  der  nicht  nur  die  gröfste 
Ausdehnung,  sondern  auch  die  weitgehendste  Anerkennung  gefunden  hat,  der 
zum  .Muster  und  zur  Anregung  geworden  ist  für  tarifarische  Abmachungen 
in  anderen  Gewerben.  Der  Tarif  ist  nicht  nur  von  grofser  Bedeutung  für 
die  ihm  Unterworfenen,  er  ist  auch  durch  die  verschiedenen  Arten  der 
Löhne,  die  u.  a.  durch  Zuschläge  zu  dem  tarifarischen  Mindestlohn  ge- 
schaffen worden,  von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung  für  die  Ein- 
sicht in  die  Lohnbildung  und  in  einige  die  Lohnhöhe  bestimmende 
Faktoren.  Einen  tieferen  Einblick  in  das  nicht  einfache  Wesen  des 
Buchdruckertarifes  und  in  die  bedeutungsvolle  Thätigkcit  der  Schieds- 
gerichte erhält  man  aus  der  kommentierten  Ausgabe  des  Tarifes  (21), 
dem  eine  Darstellung  der  Entstehung  und  Entwicklung  der  Tarifgemein- 
schaft im  deutschen  Buchdruckergewerbe  vorausgesandt  ist.  Das  kleine 
8 Seiten  fassende  Schriftchen , welches  der  Verband  deutscher  Buch- 
drucker als  Reglement  für  den  Gau  Bayern  (22)  herausgegeben  hat, 
ermöglicht,  die  Organisation  innerhalb  dieses  Gaues  kennen  zu  lernen, 
es  bietet  einen  kleinen  Abrifs  auch  über  die  Rechte  und  Pflichten  der 
Mitglieder  dem  Gauvorstande  gegenüber,  über  die  Art  wie  die  Wahl  des 
Gauvorstandes  stattfindet,  wie  er  die  Kasse  zu  verwalten  hat  u.  dgl.,  an- 
geschlossen an  dieses  Reglement  ist  ein  Regulativ  über  die  Anstellung 
von  Vereinsbeamten,  es  geht  aus  derselben  hervor,  dafs  der  Anfangs- 
gehalt für  die  verantwortlichen  Beamten  2100  M.  beträgt  und  dafs  er 
in  langsamer  Steigerung  bis  zu  3000  M.  wachsen  kann.  Während  der 
Anfangsgehalt  für  die  Hilfspersonen  von  1560  auf  2100  M.  wachsen 
kann.  Dieses  kleine  Regulativ  zur  Anstellung  der  Vereinsbeamten  ist 
auch  ein  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Verhältnisse  der  in  der  Gewerkschafts- 
bewegung thätigen  Personen,  über  die  in  der  Regel  ganz  falsche  An- 
sichten verbreitet  sind. 

In  unserer  ersten  Uebersicht ')  haben  wir  die  Denkschrift  der 
Schneider  und  Schneiderinnen  an  den  Bundesrat . im  Interesse  des 
Schutzes  der  Heimarbeiter  schon  besprochen.  Seitdem  ist  in  mehr  als 
doppeltem  Umfange  diese  Schrift  wieder  erschienen  (23).  Die  Lage  der 
Arbeiter  im  Schneidergewerbe  in  Deutschland  ist  im  Anhänge  auf  Grund 
verschiedener  statistischer  Erhebungen,  vor  allem  auf  Grund  einer  Indi- 
vidualerhebung  über  die  Verhältnisse  der  Schneider  und  Schneiderinnen 

1 Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik  XVII.  Bd.  S.  248  ff. 


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Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


221 


im  ganzen  deutschen  Reiche  dargestellt.  Im  wesentlichen  handelt  es 
sich  bei  dieser  Erhebung  um  die  Verhältnisse  der  sog.  Mafsschneider, 
während  die  der  Erhebung  indolent  gegenüber  gestandenen  Konfektions- 
schneider nicht  in  ausreichendem  Mafse  in  Betracht  gezogen  sind. 
Wenn  oft  fälschlich  angenommen  wurde,  dafs  der  Mafsschneider  mit  dem 

Werkstattarbeiter,  der  Konfektionsschneider  mit  dem  Heimarbeiter 

.9 

identisch  ist,  so  lehrt  gerade  diese  Erhebung,  wie  irrtümlich  diese  An- 
schauung war,  zeigt  sie  uns  trotz  aller  Mängel  des  Erhebungsformulars,  dafs 
auch  die  Mafsschneiderei  sich  immer  mehr  zur  Heimarbeit  entwickelt, 
ja  dafs  die  ganze  Entwicklung  dahin  tendiert,  die  Schneiderei  zu  einer 
reinen  Hausindustrie  in  allen  Teilen  dieses  vielgestaltigen  Gewerbes 
zu  machen,  wenn  nicht  rechtzeitig  durch  die  Gesetzgebung  der  not- 
wendige Einhalt  geschieht.  Aus  dieser  Statistik  kann  man  ersehen, 
dafs  die  Lage  der  Heimarbeiter  in  jeder  Hinsicht  ungünstiger  ist  als  die 
des  Werkstattarbeiters:  Längere  Arbeitszeit,  ungünstige  Arbeitsbedin- 
gungen, niedere  Löhne,  selbständige  Regelung  von  HilfsstofTen  etc., 
ganz  abgesehen  von  der  Bestreitung  der  Kosten  für  Wohnung,  Licht, 
Heizung,  Kohlen,  nicht  seitens  des  Unternehmers,  sondern  des  Heim- 
arbeiters. Die  Erhebung  enthält  die  einzelnen  Resultate  nach  Pro- 
vinzen und  innerhalb  der  Provinzen  und  Länder  nach  Orten  geschieden. 
Hierauf  folgt  eine  Reihe  von  Zusammenstellungen  über  den  Arbeitsplatz, 
die  Arbeitszeit,  die  Sonntagsarbeit,  die  Wochen-,  die  Stundenlöhne,  die 
W'ochenausgaben  für  die  Nähutensilien , für  Kohlen , Licht  etc.  Den 
Schlufs  bildet  eine  Darstellung  der  Stücklöhne  in  fast  allen  grofsen  und 
gröfsten  Orten  im  Deutschen  Reiche  für  eine  ganze  Reihe  von  Kleidungs- 
stücken, die  vielfache  Vergleiche  ermöglichen  zwischen  den  Stücklöhnen 
in  grofsen  und  kleinen  Städten,  und  in  verschiedenen  Teilen  des  Reiches. 
Ist  auch  selbstverständlich  ein  Vergleich  dieser  Art  nicht  absolut  exakt, 
weil  die  Qualität  wie  die  Art  der  Verarbeitung  der  Stoffe,  die  Bestim- 
mung der  Kleidungsstücke  für  verschiedene  Gesellschaftsschichten  statis- 
tisch schwer  oder  überhaupt  nicht  erfafsbare  Erscheinungen  zeitigt,  so 
gilt  dieser  Einwand  für  eine  wichtige  Gruppe  der  Schneiderei,  für  die 
Uniformschneider  nicht.  Die  Uniformen  sind  ganz  genau  in  Bezug  auf 
Stoff,  Schnitt  und  Art  der  Verarbeitung  vorgeschrieben,  es  ist  notwendig, 
dafs  in  Elbing  die  Militäruniformen  genau  ebenso  zugeschnitten  werden 
und  verarbeitet  werden , wie  in  Konstanz , in  Mainz  ebenso  wie  in 
Wilhelmshafen.  Trotzdem  zeigt  sich  ein  ganz  erheblicher  Unterschied 
in  den  Löhnen,  die  für  die  Herstellung  der  gleichen  Uniformstücke  ge- 
zahlt werden.  Diese  Thatsache  allein,  die  durch  das  genannte  Schrift- 
chen  belegt  wird,  ist  von  nicht  zu  unterschätzender  Wichtigkeit  für  die 
Lohnbildung  im  Deutschen  Reiche;  geht  doch  hieraus  hervor,  dafs  nicht 
das  Produkt  und  die  Art  der  Herstellung  mafsgebend  ist  für  die  Löhne, 
sondern  andere  Umstände,  zu  denen  in  erster  Linie  die  Stärke  der  ge- 
werkschaftlichen Organisation,  die  Lebenshaltung  und  die  Uebersetzung 


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222 


Litteratur. 


des  Berufes  in  den  betreffenden  Orten  gehört.  Da  Rezensent  und  Be- 
arbeiter des  Materials  die  gleiche  Person  ist,  mufs  eine  kritische  Würdigung 
der  Arbeit  unterlassen  werden. 

Die  sozialpolitischen  Anschauungen  des  Jenenser  Professor  Abbe 
haben  die  wissenschaftliche  und  die  politische  Presse  schon  öfters  be- 
schäftigt. Ein  Beitrag  zu  diesen  Erörterungen  ist  auch  die  unter  24 
angekündigte  Schrift,  schon  um  deswillen,  da  sie  die  ganz  exceptionelle 
Stellung  des  Leiters  der  Zeifs’schen  optisch-mechanischen  Werkstätten 
unter  den  übrigen  Unternehmern  des  gleichen  Berufszweiges  darlegt. 
Vom  Standpunkte  des  Sozialpolitikers  ist  die  Arbeit  aufserordentlich 
wichtig,  weil  sie  die  Vorteile  einer  Verkürzung  der  Arbeitszeit  für  die 
Unternehmungen  als  Folge  der  Intensifikation  der  Arbeit  zahlenmäfsig 
nachweist.  Was  Marx  im  1.  Bande  des  Kapitals,  in  dem  Kapitel 
»Senior’s  letzte  Stunde«,  was  Schüler  für  die  Textilindustrie  der  Schweiz, 
Rae  für  die  chemischen  u.  a.  Industrien  Englands  festgestellt  haben, 
findet  sich  in  dem  genannten  Schriftchen  trefflich  und  unwiderleglich 
belegt  für  eine  Industrie,  in  der  es  auf  die  genaueste,  präziseste  Arbeit 
ankommt,  für  die  Feinmechanik  und  speziell  für  ein  Institut,  dessen 
Weltruf  von  keinen  Konkurrenten  erreicht  wird.  Auch  für  die  Gewerk- 
schaftsbewegung im  Speziellen  ist  das  Schriftchen  bedeutungsvoll. 

Die  Verhältnisse  der  Heizer  und  Maschinisten  sind  ganz  eigenartige 
selbst  in  denjenigen  Betrieben,  die  durch  kurze  Arbeitszeit  sich  aus- 
zeichnen, in  denen  die  Arbeiter  grofse  Erfolge  erreicht  haben,  ist  die 
Arbeitszeit  dieser  Berufsgruppen  meist  eine  aufserordentlich  ausgedehnte, 
was  nicht  nur  im  Interesse  der  Arbeiter,  die  sehr  schwere  Arbeit  zu  ver- 
richten haben,  die  in  grofser  Hitze,  in  engen  Räumen  mit  beschränkten,  oft 
ganz  wegfallenden  Pausen  arbeiten  müssen,  sehr  zu  bedauern  ist,  die  auch 
unzweifelhafte  Gefahren  für  die  gesamten  Betriebe  und  für  die  Sicher- 
heit der  Arbeiter  im  Gefolge  haben,  ist  doch  die  Verantwortlichkeit  der 
Maschinisten  in  industriellen  Betrieben  von  aufserordentlich  grofser  Be- 
deutung für  den  ganzen  Gang  des  Betriebes.  Die  Thätigkeit  der  Heizer 
und  Maschinisten  hat  in  den  meisten  Betrieben  mit  motorischer  Kraft 
die  Voraussetzung,  dafs  ihre  Thätigkeit  früher  zu  beginnen  hat  als  die 
aller  anderen  Arbeiter  und  dafs  sie  ihre  Arbeitszeit  in  die  Feierabends- 
zeit der  anderen  Arbeiter  ausdehnen  müssen.  Die  Maschinen  müssen 
vollständig  im  Gange  sein,  bevor  der  Betrieb  beginnt,  sie  müssen  aus- 
kühlen, sie  müssen  gereinigt  werden,  wenn  der  Betrieb  beendet  ist. 
Hieraus  ergiebt  sich  eine  längere  Arbeitszeit,  eine  Verkürzung  der  Pausen, 
eine  ungünstige  Lage  dieser  modernen  Hilfsgruppe  von  Arbeitern  iin 
Grofsbetriebe.  Die  Frage,  ob  man  einen  Befähigungs-Nachweis  für  Heizer 
und  Maschinisten  an  stehenden  Dampfmaschinen  einführen  soll,  ist  häufig 
diskutiert  worden , während  ihre  sozialen  Verhältnisse  in  Deutschland 
nicht  die  nötige  Beachtung  gefunden  haben,  obgleich  dieser  Beruf  es 
verdienen  würde,  dafs  spezielle  Untersuchungen  über  diese  Zustände 


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Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


223 


veranstaltet  werden.  Der  Verband  deutscher  Maschinisten  und  Heizer 
hat  im  Jahre  1900  eine  Erhebung  vorgenommen,  welche  er  nach  2 
Richtungen  hin  verarbeitet  (25)  hat,  erstens  indem  er  die  speziellen 
Verhältnisse  einzelner  Orte  besonders  darstellt,  wobei  sich  aufserordent- 
lich  ungünstige  Zustände  ergaben,  so  Arbeitszeiten  von  95  Stunden  in 
der  Woche,  aufserordentliche  ungünstige  hygienische  Verhältnisse,  Ueber- 
lastung  mit  Nebenarbeiten  aller  Art,  Löhne  von  16,  17  Pf.  pro  Stunde 
etc.  etc.  Neben  einer  textlichen  Darstellung  findet  sich  eine  tabellarische 
Zusammenfassung  über  die  Löhne,  die  Ueberstunden  und  zwar  über  die 
Zahl  derselben,  über  die  Entlohnung  u.  dgl.  (höchster,  niedrigster,  Durch- 
schnittslohn für  normale  Arbeitszeit  und  für  Ueberstunden),  ferner  über 
die  Kündigungsfristen,  die  aufserordentlich  verschieden  sind,  giebt  es 
doch  Kündigungsfristen  von  einem  . Tag  bis  zu  3 Monaten.  Eine 
besondere  schwierige  Lage  haben  diejenigen  Heizer  und  Maschinisten, 
die  in  kontinuierlichen  Betrieben  tliätig  sind,  wo  der  Wechsel  zwischen 
Tag-  und  Nachtschicht,  selbst  zu  24stündiger  Arbeit  an  den  Ma- 
schinen, in  engen  Räumen  bei  höchst  verantwortlicher  Thätigkeit  ge- 
führt hat.  Die  Forderung  der  Arbeiter,  dafs  der  Achtstundentag  cin- 
geftihrt  wird,  ist  kaum  für  einen  Beruf  dringlicher  und  notwendiger, 
als  gerade  für  den  Heizer  und  Maschinisten , weil  die  einzige  Art, 
Ucberanstrengung  zu  vermeiden,  den  Schichtwechsel  ohne  übergrofse 
Anstrengung  der  Arbeiter  durchzuführen,  nur  bei  der  Achtstunden-Schicht 
durchführbar  ist.  Die  besprochene  Statistik  enthält  Feststellungen  über 
die  Arbeitslosigkeit  im  Berufe  der  Heizer  und  Maschinisten,  sie  erscheint 
als  wichtig  zur  Beurteilung  der  Verhältnisse  in  diesem  Berufe.  Es  sei 
nebenbei  erwähnt,  dafs  gleichzeitig  mit  dem  Erscheinen  dieser  Statistik 
der  Jahresbericht  der  Fabrikinspektion  der  freien  Stadt  Bremen  für  das 
Jahr  1901  gleichfalls  eine  bedeutungsvolle  Erhebung  der  Lage  der 
Heizer  und  Maschinisten  enthält. 


Schulz,  M.  v.,  Vorsitzender  des  Gewerbegerichts  Berlin.  Das  Ce- 
Werbegerichtsgesetz  in  der  Fassung  der  Bekanntmachung 
vom  29.  September  1901.  Berlin,  Verlag  von  O.  Häring 
XIII  und  297  Seiten. 

Das  Buch  ist  Teil  II  einer  Sammlung:  die  Gesetze  des  Deutschen 
Reichs  in  kurz  gefafsten  Kommentaren,  die,  wie  auf  dem  Umschlag  an- 
gekündigt wird,  „den  Bedürfnissen  der  Praxis  dienen“  will;  „die  Kom- 
mentare sollen  dem  Praktiker  die  Möglichkeit  gewähren , sich  ohne 
Zeitverlust  über  das  geltende  Recht,  die  Ansicht  der  Wissenschaft  und 
den  Standpunkt  der  Rechtsprechung  leicht  und  sicher  zu  unterrichten.“ 


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224 


Litlrratur. 


Sozialpolitische  Erörterungen,  wie  sie  den  Gegenstand  speziell  dieser 
Zeitschrift  bilden,  werden  vom  Verfasser  also  fast  gänzlich  beiseite  ge- 
lassen; ebenso  auch  Erörterungen  de  lege  ferenda,  selbst  da,  wo  man 
sie  mit  Sicherheit  erwarten  sollte  (z.  B.  bei  § 31  Ausschlufs  der  An- 
wälte ; § 1 s Verhältniswahl  u.  s.  w.)  Auch  über  die  bei  Entwurf  des 
Ortsstatuts  für  ein  Gewerbegericht  auftretenden  Zweifelfragen  (Wahllisten 
oder  nicht?  Einrichtung  von  Kammern  für  bestimmte  Berufe?  Zahl  der 
Beisitzer?  Länge  der  Wahlperioden?  u.  s.  w.)  äufsert  sich  der  Verfasser 
nicht. 

Dagegen  findet  der  Gesetzestext  überall  eine  sorgfältige,  genaue  Erläute- 
rung, die  alles  enthält,  was  die  Entstehungsgeschichte,  die  Rechtsprechung 
und  eine  reiche  Erfahrung  zum  Verständnis  des  Inhalts  irgend  beitragen 
können.  Und  da  es  bekannt  ist,  ,dafs  es  wenig  Männer  giebt,  die  sich 
an  Erfahrung  im  Gebiet  der  gewerbegerichtlichen  Rechtsprechung  mit 
dem  Verfasser  messen  können,  und  sicher  keinen,  der  an  der  Belebung 
und  praktischen  Durchführung  der  Bestimmungen  insbesondere  über  die 
Thätigkeit  des  Gewerbegerichts  als  Einigungsamt  auch  nur  annähernd 
so  viel  mitgearbeitet  hat,  wie  der  Verfasser,  so  erlangt  der  Kommentar, 
trotz  der  Beschränkungen,  die  er  sich  auferlegt,  doch  einen  selbständigen, 
wissenschaftlichen  Wert;  er  ist  ein  Archiv,  in  dem  alles  niedergelegt, 
und  leicht  auffindbar  gemacht  ist,  was  bis  jetzt  der  Kampf  zwischen 
Arbeitgebern  und  Arbeitern,  insoweit  er  sich  vor  dem  Gewerbegerichte 
abspielt,  an  juristischen  Zweifelsfragen  und  an  praktischen  Ergebnissen 
gezeitigt  hat. 

Von  diesem  Standpunkt  betrachtet,  hebt  er  sich  weit  heraus  aus 
der  Masse  der  Gesetzausgaben  mit  Anmerkungen,  die  nichts  weiter 
wollen  und  vermögen,  als  dafs  sie  dem  Benutzer  die  Arbeit  des  Auf- 
suchens  des  juristischen  Rohmaterials  und  der  Präjudicien  erleichtern. 
Letzteren  freilich  auch  nicht  zu  gering  zu  veranschlagenden  Dienst 
könnte  das  Buch  allerdings  noch  in  etwas  bequemerer  Weise  leisten, 
wenn  bei  der  zweiten  Auflage,  die  nicht  ausbleiben  wird,  oben  an  den 
Seiten  der  kommentierte  Paragraph  angegeben,  und  wenn  wenigstens 
den  ausführlicher  erörterten  Paragraphen  kurze  Inhaltsübersichten  — am 
besten  wohl  mit  alphabetischem  Verzeichnisse  der  erörterten  Begriffe  — 
wie  im  Haasschen  Kommentar  — vorangestellt  würden.  Im  Anhang 
sind  aufser  einigen  ministeriellen  Erlassen  auch  die  einschlägigen  Be- 
stimmungen der  Gewerbeordnung  abgedruckt.  Den  Koalitionsparagraphen 
(§  152  u.  153)  ist  hierbei  ein  besonderer,  ausführlicher  Kommentar  bei- 
gegeben, auf  den  noch  ganz  besonders  aufmerksam  gemacht  wird. 

Frankfurt  a.  M. 

KARL  FLESCH. 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 

Von 

Dr.  I.EO  VERKAUF, 

in  Wien. 


I. 

Die  Diskussion  über  die  deutsche  Handelspolitik  wird  seit 
Jahren  von  der  Frage  des  Agrarschutzes  beherrscht.  Vom  auto- 
nomen Zolltarif  und  den  Handelsverträgen  ausgehend  hat  die  Er- 
örterung immer  neue  Probleme  in  ihren  Kreis  gezogen  und  ist 
naturgemäfs  auch  dazu  gelangt,  die  Frage  der  Sozialreform  unter 
dem  Gesichtswinkel  höherer  Agrarzölle  zu  betrachten.  So  zahlreich 
sind  die  volkswirtschaftlichen  Fragen,  die  von  der  agrarischen 
Kritik  ergriffen  worden  sind,  dafs  man  schier  von  einem  wohl 
nicht  im  Detail  ausgebauten,  aber  in  den  Grundzügen  fertigen 
agrarischen  System  der  Volkswirtschaftspolitik  sprechen  darf,  das 
mit  der  Prätension  auftritt,  was  das  Industriesystem  verdorben  hat. 
durch  „Rückkehr  zu  den  alten , durch  Jahrhunderte  bewährten 
Grundsätzen"  neu  aufzubauen.  Eis  rechtfertigt  sich  von  selbst,  wenn 
aus  dem  grofsen  Komplex  handeis-  und  agrarpolitischer  Probleme 
eines  der  aktuellsten,  der  Zusammenhang  zwischen  Agrarschutz 
und  Sozialreform  herausgegriffen  und  einer  kritischen  Besprechung 
unterzogen  wird. 

Die  Signatur  der  praktischen  Wirtschaftskämpfe  in  Deutsch- 
land bildet  die  Vereinigung  industrieller  und  agrarischer  Inter- 
essenten, wie  sie  in  den  Kompromissen  im  Wirtschaftsausschüsse 
und  im  Reichstag  prägnanten  Ausdruck  gefunden  hat.  Im  vollsten 
Gegensatz  dazu  herrscht  in  der  deutschen  nationalökonomischen 
Litteratur  heftige  Fehde  zwischen  den  Anhängern  des  Industrie- 
und  des  Agrarstaates.  Vor  kurzem  noch  konnten  nur  böswillige 

Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XY1II.  15 


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226 


Leo  Verkauf, 


Nörgler  grundsätzliche  Kritik  an  der  herrschenden  Wirtschafts- 
ordnung üben,  nur  thörichte  Utopisten  einen  Kladderadatsch  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  prophezeien.  Welchen  Wandel  der  Dinge 
müssen  wir  nun  erleben ! Von  konservativen , staatscrhaltenden 
Männern  hören  wir,  dafs  die  Entwicklung  Deutschlands  zuin  In- 
dustriestaate Volk  und  Land,  Unternehmer  und  Arbeiter,  Landwirt- 
schaft und  Gewerbe  mit  den  schwersten  Gefahren  bedrohe.  Wir 
erfahren,  dafs  ohne  Eindämmung  der  industriestaatlichen  Entwick- 
lung die  deutsche  Landwirtschaft  verschwinden  müsse.  Die  Nation 
sei  rettungslos  den  „Nahrungsstaaten“  — Rufsland,  Argentinien, 
Nordamerika  — auf  Gnade  und  Ungnade  preisgegeben.  Der  Export 
werde  unvermeidlich  zusammenbrechen,  die  Massen  vor  die  Wahl 
zwischen  Verhungern  und  Auswandern  stellend. 

Was  ist  nun  geschehen,  um  volkswirtschaftliche  Optimisten 
und  unbedingte  Anhänger  der  heutigen  Wirtschaftsordnung  zu  so 
düsteren  Kassandrarufen  zu  veranlassen  ? Die  Thatsachen,  an  die 
der  agrarische  Pessimismus  anknüpft,  sind  zur  Genüge  bekannt. 
Die  Berufszählung  des  Jahres  1895  hat  ergeben,  dafs  die  Bevölkerung 
des  flachen  Landes  seit  dem  Jahre  18S2  um  345 OOO  abgenommen 
hat,  während  die  städtische  Bevölkerung  um  6893000  Personen 
gewachsen  ist;  dafs  überdies  die  Zahl  der  Erwerbsthätigen  in  der 
Landwirtschaft  um  5G000  oder  0,7  Proz. , in  der  Industrie  um 
1884000  oder  29,5  Proz.  gestiegen  ist.  Die  Handelsstatistik  zeigt 
wieder,  dafs  der  Wert  der  Ein-  und  Ausfuhr  von  5 1 Milliarden 
Mark  im  Jahre  1880  auf  weit  über  10  Milliarden  Mark  im  Jahre 
1900  emporgeschnellt  ist,  wobei  an  Nahrungsmitteln  und  Vieh  der 
Wert  des  Imports  von  770  auf  1800  Millionen  Mark,  an  Fabrikaten 
der  Wert  des  Exports  von  2 auf  3 Milliarden  Mark  zugenommen  hat. 

Die  abnehmende  Agrarquote  soll  nun  — darin  scheinen  Opti- 
misten und  Pessimisten  übereinzustimmen  — einen  Rückgang  des 
landwirtschaftlichen  Gewerbes  anzeigen.  Die  wachsende  Nahrungs- 
zufuhr soll  die  steigende  Abhängigkeit  Deutschlands  vom  Auslande 
beweisen.  Da  die  Volkszahl  auch  in  den  Nahrungsstaaten  stetig 
wachse,  rücke  unausweichlich  die  Stunde  heran,  in  der  die  aus- 
ländische Brotzufuhr  versiegen  müsse.  Es  werde  ein  Getreide- 
exportland nach  dem  anderen  aus  der  Reihe  der  Ausfuhrstaaten 
ausscheiden  — Oesterreich-Ungarn  sei  ein  typisches  Beispiel  — 
und  immer  schwerer  werde  es  sein,  im  internationalen  Handels- 
verkehre Nahrungsmittel  für  Industrieerzeugnisse  einzutauschen. 
Unterdessen  verkümmere,  ungenügend  geschützt,  die  deutsche 


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Agrarschutz  und  Sozialreform.  227 

Landwirtschaft  unter  der  ausländischen  Konkurrenz,  die  mit  Raub- 
bau billig  produziere.  Die  sinkende  Rentabilität  des  Getreidebaues 
vermindere  die  Zahl  der  Landarbeiter,  bewirke  das  Zurückweichen 
der  Agrar-  vor  der  Industriequote,  eine  Verschiebung  zwischen 
Stadt  und  I,and,  die  Bildung  immer  zahlreicherer  Grofsstädte.  Ver- 
siege endlich  die  Zufuhr  aus  den  Nahrungsstaaten,  dann  könne  die 
verkümmerte  Landwirtschaft  nicht  so  rasch,  wenn  überhaupt,  wieder 
zum  Leben  erweckt  werden. 

Die  abnehmende  Agrarquote  schaffe  und  steigere  die  Not- 
wendigkeit neuer  Beschäftigung,  also  den  Fabrikatenexport  und 
damit  die  zweite  Form  der  zunehmenden  Abhängigkeit  vom  Aus- 
lande. Die  Herrlichkeit  des  vielgepriesenen  Exportindustrialismus 
könne  aber  nicht  von  langer  Dauer  sein.  In  europäischen,  wie  in 
aufsereuropäischen  Agrarstaaten  entwickle  sich  eine  Industrie,  für 
welche  die  Vorbedingungen,  wo  sie  nicht  gegeben  sind,  künstlich 
geschaffen  werden.  Immer  zahlreichere  Konkurrenten  erscheinen 
auf  dem  Weltmärkte,  immer  kleiner  werde  das  Absatzgebiet,  der 
Zusammenbruch  könne  für  den  Export  nicht  ausbleiben. 

Dabei  weise  ein  grofser  Teil  der  deutschen  Exportindustrie 
parasitären  Charakter  auf.  Sie  nötige  die  deutschen  Arbeiter,  mit 
ausländischen  Proletariern  von  inferiorer  Lebenshaltung  zu  kon- 
kurrieren und  sich  niedrigen  Lohn  und  lange  Arbeitszeit  neben 
unregelmälsiger  Beschäftigung  gefallen  zu  lassen.  Mit  der  raschen 
industriellen  Entwicklung  sei  eine  enorme  Steigerung  der  städtischen 
Bevölkerung  auf  Kosten  der  Landwirtschaft  eingetreten , der  die 
nötigen  Arbeitskräfte  entzogen  werden.  Auch  die  Volkszahl  sei  zu 
stark  gewachsen,  ein  langsameres  Tempo  der  Vermehrung  biete 
erhebliche  Vorteile  und  sei  durch  Verlangsamung  der  industriellen 
Entwicklung  zu  erzielen. 

Es  handle  sich  also  um  den  Ersatz  der  Produktion  für  das 
Ausland  durch  eine  solche  für  den  inländischen  Markt  und  die 
Parole  müsse  deshalb  lauten:  Gröfserc  Unabhängigkeit  der  heimischen 
Volkswirtschaft  in  Industrie  und  Landwirtschaft  vom  Auslände. 
Vor  allem  habe  die  Unrentabilität  des  Getreidebaues  die  ge- 
schilderten Gefahren  für  Gegenwart  und  Zukunft  hervorgerufen. 
Aus  diesem  Punkte  seien  auch  alle  Uebel  zu  kurieren  — durch 
entsprechende  Brotzölle.  Mit  steigenden  Getreidepreisen  werde  die 
Nachfrage  nach  Landarbeitern  wachsen,  wie  sie  mit  den  abnehmen- 
den Preisen  gesunken  sei.  Die  Landflucht  werde  aufhören  und  die 
inländische  Landwirtschaft  bald  den  heimischen  Nahrungsbedarf 

•5* 


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228 


Leo  Verkauf, 


decken.  Der  Fabrikatencxport  komme  dann  in  die  Lage,  langsam 
zu  liquidieren  und  damit  plötzlichen  Erschütterungen  zu  entgehen. 
Die  gesteigerte  Kaufkraft  der  Landwirtschaft  werde  auch  der  In- 
dustrie einen  besseren  Markt  bieten  als  das  Ausland. 

Wohl  werde  eine  zeitweilige  Hcrabdrückung  der  Lebenshaltung 
der  Massen  die  Folge  des  Agrarschutzes  sein.  Man  müsse  sie  aber 
im  eigensten  Interesse  der  Arbeiterschaft  mit  in  den  Kauf  nehmen. 
In  Wirklichkeit  widerstreite  der  Fortschritt  zum  Industriestaat  der 
wirtschaftlichen  Hebung  der  Arbeiterklasse.  Niedrige  Getreidepreise 
müssen  den  Arbeitsmarkt  in  Stadt  und  Land  ungünstig  beeinflussen, 
weshalb  Getreidezölle  und  Sozialreform  sich  gegenseitig  bedingen. 
Der  Agrarschutz  werde  eben  den  Andrang  der  Landbevölkerung  in 
die  Städte  vermindern  und  an  Stelle  unregelmäfsiger,  vom  Auslande 
abhängiger,  stete  Beschäftigung  setzen.  Auch  der  Zuflufs  von  Kapital 
in  die  I .and Wirtschaft  werde  zu  steigender  Maschinenbenützung  und 
dadurch  zu  vermehrter  Beschäftigung  in  Bergwerken,  Hütten  und 
Fabriken  fuhren.  Mit  der  Abhängigkeit  vom  Auslandsmarkt  würden 
auch  die  scheufslichen  Arbeitsverhältnisse  in  den  Exportindustrien 
verschwanden. ') 

Der  Einflufs  dieser  theoretischen  Darlegungen  darf  keineswegs 
unterschätzt  werden.  Die  alten  Ladenhüter  der  Agrarier,  wonach 
bald  die  Agrarzölle  überhaupt  nicht  preissteigernd  wirken,  vielmehr 
vom  Auslände  getragen  werden,  bald  die  Notwendigkeit  auswärtiger 
Brotzufuhr  die  gröfsten  Gefahren  bei  kriegerischen  Verwicklungen 
bergen  soll,  treten  jetzt  bei  der  Diskussion  in  den  Hintergrund.  An 
die  Stelle  der  oberflächlichen  agitatorischen,  tritt  die  schwere  wissen- 
schaftliche Rüstung.  Die  düsteren  Prophezeihungen  über  den  drohen- 
den Verfall  von  Landwirtschaft  und  Industrie,  über  die  bevorstehende 
Aushungerung  und  Entvölkerung  des  Deutschen  Reiches,  wenn  den 
agrarischen  Forderungen  nicht  rasch  und  ausgiebig  Rechnung  ge- 
tragen würde,  wirken  ganz  anders  auf  die  Phantasie  und  den  In- 
tellekt der  herrschenden  Kreise.  Eine  eingehendere  Prüfung  der 
agrarischen  Kritik  unserer  Handelspolitik,  wie  der  positiven  agra- 

')  Din  Kampf  gegen  die  industriestaatliche  Entwicklung  bestreiten  Olden- 
berg  in  seinem  Referate  auf  dem  VIII.  evangelisch-sozialen  Kongrcfs  in  Leipzig*: 
Die  Verhandlungen  des  VIII.  evangelisch-sozialen  Kongresses,  Vandenhock  & Rupprecht, 
Güttingen  1897,  S.  64  fr.;  mit  vielfachen  Einschränkungen  und  Abschwächungen 
Adolf  Wagner  in  „Agrar-  und  Industriestaat“  II.  Auf!.,  Gustav  Fischer,  Jena  1902; 
Fohle  in  „Deutschland  am  Scheidewege“,  Leipzig,  B.  G.  Teubner  1902;  ihnen 
schlicfsen  sich  an  Moritz  Naumann,  Diehl. 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


229 


rischen  Wirtschaftspolitik  erscheint  demnach,  soweit  als  sie  im  Rahmen 
einer  Abhandlung  möglich  ist,  wünschenswert. 

n. 

Die  Grundmelodie  aller  agrarischen  Klagen  bildet  die  Behaup- 
tung von  dem  Rückgang  der  deutschen  Landwirtschaft,  die  vor 
allem  aus  der  verminderten  Quote  der  Agrarbevölkerung  deduziert 
wird.  Wagt  doch  Oldenberg  die  Prophezeihung,  dal's  bei  fort- 
dauerndem Bevölkerungsrückgang  auf  dem  Lande  in  sieben  bis  acht 
Dezennien  die  deutsche  I .and Wirtschaft  verschwunden  sein  wird. 
Andere  erblicken  zum  mindesten  in  der  geänderten  Verteilung  der 
Bevölkerung  zwischen  Stadt  und  [.and  eine  Schwächung  des  agra- 
rischen Unterbaues  im  Deutschen  Reiche. 

Kommt  nun  in  der  That  der  gröfseren  oder  geringeren  Agrar- 
quote für  die  Landwirtschaft  jene  entscheidende  Bedeutung  zu,  die 
ihr,  wie  es  scheint,  von  Freund  und  Feind  vindiziert  wird  ? Und  ist 
es  wahr,  dafs  die  relative  Abnahme  der  landwirtschaftlichen  Be- 
völkerung einen  Rückgang  oder  gar  eine  Gefährdung  des  deutschen 
landwirtschaftlichen  Gewerbes  herbeigeführt  hat? 

In  Oesterreich  umfafste  die  agrarische  Bevölkerung  im  Jahre 
1890  noch  55,9  Proz.  der  gesamten  Volkszahl,  sie  dürfte  heute 
schwerlich  unter  50  Proz.  derselben  gesunken  sein.  Man  mülste 
demnach  Oesterreich  als  Agrarstaat,  als  ein  Land  mit  der  „richtigen 
Mischung“  betrachten  und  seine  Unabhängigkeit  von  den  Nahrungs- 
ländern als  selbstverständlich  annehmen.  In  Wirklichkeit  ist  aber 
das  agrarische  Oesterreich  dauernd  aufser  stände,  seinen  Brotbedarf 
durch  die  einheimische  Produktion  auch  nur  in  dem  Mal'se  zu  decken, 
wie  das  industrielle  Deutschland  mit  seiner  soviel  geringeren  Agrar- 
quote. So  mufste  Oesterreich  im  Jahre  1900  bei  einer  ungünstigen 
Ernte  39  Proz.,  im  Jahre  190t  bei  einer  günstigeren  immer  noch 
33  Proz.  seines  Brotbedarfes  durch  Import  aus  Ungarn  decken, 
während  die  deutsche  Einfuhr  im  Jahre  1900  nur  11,7  Proz.,  im 
Jahre  1901  19,9  Proz.  des  Bedarfes  umfafste.  Auf  den  Kopf  der 
Bevölkerung  betrug  die  österreichische  Einfuhr  63  und  61  kg,  die 
deutsche  29  und  49  kg  Brotgetreide.  Deutschland  produzierte  im 
Durchschnitte  der  Jahre  1880 — 1898  an  205  kg  Brotgetreide,  nach 
Dade  1894 — 1898  gar  230  kg,  Oesterreich  in  den  Jahren  1889  bis 
1899  durchschnittlich  125  kg  per  Kopf  der  Bevölkerung.  Auch 
bezüglich  des  Viehstandes  bleibt  Oesterreich  vielfach  hinter  Deutsch- 
land zurück.  Es  kamen  auf  100  der  Bevölkerung  in 


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230 


Leo  Verkauf, 


Kinder  Schweine  Schafe  Pferde 
Deutschland  (1S92)  35,5  24,6  27,5  7,8 

Oesterreich  (1890)  36,2  14,9  13,3  6,5  ') 

Der  Verfall  der  deutschen  Landwirtschaft  mit  abnehmender 

agrarischer  Bevölkerungsquote  kann  sich  also  immerhin  noch  neben 
der  Blüte  der  österreichischen  Landwirtschaft  bei  überwiegender 

landwirtschaftlicher  Bevölkerung  sehen  lassen.  Wir  werden  noch 
später  sehen,  dafs  für  Rufsland,  und  wie  wir  zeigen-  könnten,  auch 
für  Rumänien,  Ungarn  etc.  ähnliches  gilt.  Das  beweist  wenigstens 
soviel,  dafs  es  irreführend  ist,  aus  der  Gröfse  der  Agrarquote  allein 
auf  die  Lage  des  landwirtschaftlichen  Gewerbes  zu  schlielsen.  Es 
läfst  sich  aber  auch  der  direkte  Beweis  erbringen,  dafs  die  Land- 
flucht und  der  steigende  Arbeitermangel  auf  dem  Lande  keineswegs 
eine  Verminderung  der  Agrarproduktion  im  Gefolge  hatte.  Statt 
aller  Zahlen  lasse  ich  hier  die  Urteile  kompetender,  sicher  nicht 
agrarfeindlicher  Zeugen  folgen. 

Das  kaiserliche  statistische  Amt  zieht  aus  der  Statistik  der  Anbau- 
fläche und  der  Ernteergebnisse  den  Schlufs,  dafs  der  Getreide-  und 
Hackfruchtbau  auf  Kosten  der  Brache  und  Ackerweide  an  Fläche 
zunehme  und  die  Landwirtschaft  dadurch,  sowie  infolge  der  ratio- 
nelleren Bewirtschaftung  imstande  sei,  ein  gröfseres  Quantum  Nah- 
rungsmittel zu  beschaffen.  Dem  Boden  werde  allmählich  immer 
mehr  Ertrag  abgerungen,  indem  die  Erntemenge  auf  der  gleichen 
Fläche  sich  steigere,  die  Versorgung  der  Bevölkerung  mit  inländischem 
Schlachtvieh  sei  jetzt  keineswegs  ungünstiger,  ja  eher  reichlicher 
als  vor  10  oder  20  Jahren.2) 

Pohle  mufs  im  Widerspruch  mit  seiner  pessimistischen  Auf- 
fassung und  vor  allem  im  Gegensatz  zu  Olden  berg  die  enorme 
Steigerung  der  landwirtschaftlichen  Produktivität  anerkennen,  aus 
welcher  er  dann  freilich  die  merkwürdigsten  Schlüsse  zieht.  Be- 
achteoswert  scheint  mir  die  Behauptung  Ballod's,  dafs  die  deutsche 
Landwirtschaft  auch  heute  noch  in  der  Lage  sei,  die  rapid  gewachsene 

*)  Bericht  der  k.  k.  Permanenzkommission  für  die  Handelswerte  der  Zwischen- 
verkehrsstatistik im  k.  k.  Handelsministerium  über  die  Bewertung  und  Bewegung  des 
Zwischenverkehrs  zwischen  den  im  Reichsrate  vertretenen  Königreicher  und  Ländern 
und  den  Ländern  der  ungarischen  Krone  im  Jahre  1900  u.  1901,  Wien  1901  u.  1902. 
— „Die  deutsche  Volkswirtschaft  am  Schlüsse  des  XIX-  Jahrhunderts“,  Berlin  1900.  — 
Dade  in  den  „Schriften  des  Vereines  für  Sozialj^olilik“,  Bd.  91,  S.  60. 

2)  Die  deutsche  Volkswirtschaft  am  Schlüsse  des  XIX.  Jahrhunderts,  S.  40.41,45. 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


231 


Bevölkerung  so  zu  ernähren,  wie  vor  40  oder  50  Jahren.  Nur  die 
erhebliche  Steigerung  der  Lebenshaltung  der  Massen  sei  die  Ursache 
des  wachsenden  Imports  von  Nahrungsstoffen:  Nicht  ein  Rückschritt 
der  Landwirtschaft,  sondern  ein  Fortschritt  der  gesamten  Volks- 
wirtschaft liege  vor. ' ) 

Trotz  der  relativen  Abnahme  der  Zahl  der  Erwerbstätigen 
hat  die  Intensifikation  des  Betriebes  und  der  Ersatz  der  Hand-  durch 
Maschinenarbeit  im  landwirtschaftlichen  Gewerbe  ermöglicht,  mit 
einer  gleichen,  qualitativ  wohl  eher  verschlechterten  Arbeitermasse  eine 
stark  gestiegene  Produktionsmenge  zu  erzielen.  Man  überschätzt 
also,  wie  sich  zeigt,  von  agrarischer  und  nichtagrarischer  Seite  die 
Bedeutung  der  der  I^ndwirtschaft  verfügbaren  Bevölkerungsquote 
für  die  Produktion  und  die  Rückwirkung  auf  den  landwirtschaft- 
lichen Betrieb  ganz  erheblich.  Die  Verteilung  der  Bevölkerung  hängt 
nicht  blols  von  den  Grundbesitzverhältnissen  und  der  industriellen 
Entwicklung,  sondern  ebenso  von  dem  Stande  der  Agrartechnik  ab. 
Die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  der  deutschen  Landwirtschaft 
ist  heute  gröfser  als  der  Agrarquote  entsprechen  würde.  Diese  Be- 
deutung ist  in  den  letzten  Dezennien  gewachsen  und  nicht  zurück- 
gegangen. Das  wissen  die  agrarischen  Theoretiker  dann  ganz  wohl, 
wenn  sie  statt  der  Klagelieder  Hymnen  auf  die  Bedeutung  der  Land- 
wirtschaft anstimmen.  Dann  hören  wir  von  ihnen,  dafs  die  Exi- 
stenz der  deutschen  Nation  in  erster  Linie  auf  der  heimischen  Land- 
wirtschaft ruhe,  die  noch  immer  der  führende  Wirtschaftszweig  sei. 
Dann  wird  uns  gesagt,  dafs  neben  dem  grofsen  Bauwerk  der  Land- 
wirtschaft das  Häuschen,  in  dem  der  exportindustrielle  und  export- 
kapitalistische Teil  der  Nation  hause,  noch  recht  bescheiden  aussehc. 
Es  hält  schwer  zu  begreifen,  wie  der  abnehmenden  Agrarquote  so 
überragend  nachteilige  Bedeutung  zugebilligt  werden  konnte,  als  dies 
in  der  Regel  bisher  geschehen  ist. 

III. 

Als  die  schwerste  Gefahr  für  Deutschlands  Zukunft  wird  die 
gesteigerte  Nahrungseinfuhr  und  im  Zusammenhang  damit  die  wach- 
sende Bevölkerung  der  Brotländer  geschildert.  Jede  Mifsernte  in  den 
Ausfuhrstaaten  müsse  in  den  Importländern  Hunger  erzeugen.  Auch 
in  normalen  Zeiten  werde  die  Zufuhr  allmählich  knapper  werden, 


*)  „Die  Bedeutung  der  Landwirtschaft  und  Industrie  in  Deutschland“,  Schmollers 
Jahrbuch  für  Gesetzgebung,  Verwaltung  und  Volkswirtschaft,  1S98,  S.  898. 


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232 


Leo  Verkauf, 


schliefslich  vielleicht  ganz  ausbleiben.  Für  die  Dauer  sei  cs  des- 
halb unhaltbar,  dafs  ein  erheblicher  Bruchteil  der  deutschen  Be- 
völkerung von  fremdem  Grund  und  Boden  lebe.  Das  müsse  auf 
der  einen  Seite  zur  ökonomischen  Weltherrschaft  der  Nahrungs- 
staaten, auf  der  andern  Seite  zur  Auswanderung  oder  zum 
Verhungern  der  exportindustriellen  Bevölkerung  Deutschlands 
führen. ') 

Nimmt  die  ökonomische  Entwicklung  den  ihr  vom  agrarischen 
Pessimismus  gewiesenen  Weg,  dann  würden  die  Folgen  viel  weit- 
reichendere sein.  Vor  allem  wäre  nicht  blofs  Deutschland,  sondern 
ein  grofser  Teil  der  europäischen  Kulturwclt  in  seinem  Nahrungs- 
bedarfe  — und  nicht  blofs  in  diesem  — von  den  schwersten  Ge- 
fahren bedroht.  Die  Kosakengefahr  würde  eine  ganz  andere  Gestalt 
annehmen.  Deutschland  erzeugt  immerhin  noch  über  200  kg  Brot- 
getreide auf  den  Kopf  der  Bevölkerung,  womit  es  im  Notfälle  bei 
einiger  Beschränkung  des  Konsums  sein  Auslangen  finden  kann. 
Ganz  anders  beispielsweise  Oesterreich  mit  125  kg  Brotgetreide 
per  Kopf,  Italien  mit  nicht  viel  über  100  kg,  wozu  der  Maisver- 
brauch tritt,  die  Schweiz  mit  nicht  ganz  50  kg,  Grolsbritannien 
und  Irland  mit  40  kg,  Norwegen  mit  gar  nur  14  kg.  Soll  also  für 
Deutschland  eine  Gefahr  bestehen,  so  ist  sie  für  einen  erheblichen 
Teil  des  übrigen  Europa  weit  gröfser.  wobei  die  Ursache  nicht 
immer  in  der  Entwicklung  zum  Exportindustrialismus  gesucht  werden 
kann.  Es  handelt  sich  dann  in  Wirklichkeit  nicht  um  ein  deutsches, 
sondern  um  ein  europäisches  Problem,  um  Gefahren  für  1 50  bis 
200  Millionen  Menschen.  Bestenfalls  wären  nur  Frankreich,  Ungarn 
und  Rumänien  für  absehbare  Zeit  vor  solchen  Gefahren  geschützt. 
Dabei  stehen  in  einzelnen  der  bedrohten  Gebiete  Klima  und  Boden - 
beschafienheit  einer  ausreichenden  Steigerung  der  agrarischen  Pro- 
duktion hindernd  im  Wege. 

Beschränken  sich  denn  aber  die  Bedürfnisse  der  Kulturmensch- 
heit blofs  auf  die  Erzeugnisse  des  Ackerbaues  und  ist  nicht  auch 
die  Industrie  in  Europa  vielfach  von  der  Zufuhr  aufsereuropäischer 

’)  So  Oldenbcrg  a.  a.  O.  — Nach  dessen  Auffassung  ist  es  der  Waren- 
Austausch  nach  der  Formel:  Bodenprodukte  gegen  Industrieerzeugnisse,  was  das  ex- 
portindustrielle Land  in  steigendem  Mafse  schädige.  Im  Gegensatz  dazu  sicht 
Pohle  a.  a.  O.  S.  138  ff.  in  der  Nahrungsausfuhr  einen  Machtzuwachs  für  den  Im- 
portstaat, einen  Machtverlust  für  das  Exportland.  Er  begründet  seine  Ansicht  damit, 
dafs  die  Bevölkerungszunahme,  die  im  Nahrungsstaate  sonst  stattgefunden  hätte,  im 
Industrielandc  erfolge. 


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Agrarschutz  und  Soziaircform. 


233 


Rohprodukte  abhängig?  Italien  hat  weder  Kohle  noch  Eisen,  in 
Frankreich  und  Belgien  befürchtet  man  in  absehbarer  Zeit  die  Er- 
schöpfung der  Kohlenlager.  Ist  einmal  England  aul'ser  stände  diesem 
Mangel  abzuhelfen  und  werden,  gemäGs  der  agrarischen  Annahme, 
Nordamerika  und  Asien  sich  hüten,  ihren  Ueberflufs  mit  den  ge- 
nannten Ländern  zu  teilen,  dann  ist  das  Schicksal  der  ältesten  Kultur- 
völker auf  europäischem  Boden  besiegelt 

Textilindustrie  und  Bekleidungsgewerbe  in  Europa  sind  vor 
allem  von  Gefahren  bedroht.  Neben  der  Gefahr  der  Abhängigkeit 
von  den  Brotländern,  steigt  eine  solche  der  Abhängigkeit  von  den 
Bekleidungsstaaten  auf.  Nach  Juraschek  betrug  der  europäische 
Jahresverbrauch  an  Wolle  757  Millionen  kg,  wovon  437  Millionen  kg 
aus  Australien  und  Amerika  importiert  wurden.  Der  Bedarf  Europas 
an  Baumwolle  bezifferte  sich  mit  1 835  Millionen  kg,  etwa  die  Hälfte 
der  Welternte,  die  zur  Gänze  aus  aufsereuropäischen  Ländern  stammen. 
Hier  giebt  es  keine  Hilfe  durch  Schutzzölle!  In  Grofsbritannien, 
Deutschland,  Frankreich,  Oesterreich  und  der  Schweiz  waren  in  der 
Textilindustrie  über  3 Millionen  Menschen  thätig,  mit  ihren  An- 
gehörigen eine  Bevölkerung  von  6 Millionen  Personen,  wovon  zum 
mindesten  zwei  Drittel  auf  die  Woll-  und  Baumwollindustrie  ent- 
fallen. Kein  europäisches  I .and  ist  in  der  Lage  den  Spinnstoff  auch 
nur  für  den  eigenen  Bedarf  im  Inlandc  zu  produzieren.  Besitzen 
die  Nahrungsländer  die  Macht  die  Brotausfuhr  einzuschränken  oder 
nur  unter  drückenden  Bedingungen  zuzulassen,  was  kann  die  Be- 
kleidungsstaaten an  der  Einschränkung  oder  Untersagung  des  Woll- 
und  Baumwollexportes  hindern?  Die  Macht,  die  ihnen  bei  Brot 
und  Fleisch  zur  Verfügung  steht,  kann  ihnen  bei  den  Spinnstoffen 
auch  nicht  fehlen.  Es  kann  ja  wirtschaftlich  vorteilhafter  erscheinen, 
die  Rohstoffe  am  Erzeugungsorte  oder  in  dessen  Nähe  in  Fertig- 
produkte zu  verwandeln  und  dann  erst  zur  Versendung  zu  bringen. 
Steigt  die  Bevölkerung  der  [.ander,  die  Wolle  und  Baumwolle  ex- 
portieren, in  stärkerer  Progression,  dann  mufs  sich  nach  agrarischer 
Auffassung  der  verfügbare  Ueberschufs  verringern,  es  droht  den 
europäischen  Ländern  Kleidermangel,  vor  allem  Arbeitslosigkeit  für 
Millionen,  die  heute  für  den  heimischen  sowie  für  fremden  Bedarf 
produzieren. 

Was  von  den  Spinnstoffen,  gilt  auch  vom  Petroleum,  dem  Be- 
leuchtungsmittel der  Massen.  Hier  ist  Europa  von  Rufsland  und 
Amerika  abhängig. 

Schon  für  die  nächste  Zukunft  droht  der  deutschen  Landwirt- 


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Leo  Verkauf, 


schaft  eine  schwere  Schädigung,  die  durch  Uebertreibungcn  des 
Prohibitivsystems  nicht  hintangehalten,  sondern  beschleunigt  werden 
kann.  Die  landwirtschaftliche  Produktion  ist  heute  ohne  Kunst- 
dünger undenkbar.  Trotz  der  enormen  Kalilager  beträgt  die  deutsche 
Mehreinfuhr  über  ioo  Millionen  Mark,  wovon  ein  entscheidender, 
weil  unentbehrlicher  Teil  aus  der  Union  kommt.  Sind  die  Ver- 
einigten Staaten  durch  rasche  Bevölkerungszunahme  zu  intensiver 
Bodenbewirtschaftung  genötigt,  dann  ist  ein  Ausfuhrverbot  für 
Dungstoffe  wahrscheinlich.  Das  kann  einen  Teil  des  deutschen 
Getreidebaues  stillsetzen.  Der  Uebergang  vom  extensiven  zum  in- 
tensiven Anbau  in  Amerika  würde  also  in  Deutschland  eine  Rück- 
bildung zu  extensiver  Bodenbewirtschaftung  erzwingen. 

Bei  konsequentem  Verfolgen  der  agrarischen  Voraussagen  zeigt 
sich  uns  ein  düsteres  Bild,  das  sich  aus  einer  Kette  von  wirtschaft- 
lichen und  sozialen  Katastrophen  zusammensetzt,  denen  die  Existenz 
von  Millionen  Menschen,  ja  der  Bestand  der  europäischen  Kultur 
rettungslos  preisgegeben  zu  sein  scheint.  Man  kann  diesem  öko- 
nomischen Pessimismus  entgegenhalten,  dafs  die  neuere  Geschichte 
uns  wohl  ein  stetes  Werden  und  Vergehen  von  Produktionszweigen, 
ein  Auftauchen  neuerer  Produktionsgebiete,  einen  fortwährenden 
Rollenwechsel  der  Völker  in  der  Weltwirtschaft , aber  auch  un- 
unterbrochen steigenden  Reichtum,  erhöhte  Abhängigkeit  der  in 
die  Weltwirtschaft  verflochtenen  I .ander  von  einander  zeigt.  Ist 
Kuropa  heute  und  soll  cs  in  noch  gröfsercm  Mafse  künftig  in 
seinem  Nahrungsbedarfe  von  Amerika  und  Asien  abhängig  sein, 
so  haben  diese  wieder  ein  stärkere  Interesse  an  dem  Export  der 
für  Europa  nicht  unentbehrlichen  Produkte  Kaffee,  Droguen,  Hölzer, 
Häute,  Felle  etc.  Soll  es  zutreffend  sein,  dafs  Amerika  sich  rüstet, 
den  Weltmarkt  mit  seinen  Industrieprodukten  zu  überschwemmen, 
dann  gewinnt  es  ein  steigendes  Interesse  an  der  Politik  der  offenen 
Thüren.  Es  darf  auch  hervorgehoben  werden,  dafs  die  Entwicklung 
in  der  Richtung  einer  systematischen  Aushungerungspolitik  zu  den 
brutalsten  und  blutigsten  Kämpfen,  zu  wahren  Raubkriegen  führen 
müfste.  Brot  und  Kleidung,  im  friedlichen  Austausch  nicht  erhält- 
lich, würde  Europa  durch  Waffengewalt  zu  annehmbaren  Be- 
dingungen zu  erlangen  suchen.  Es  kann  überdies  gesagt  werden, 
dafs  der  Kapitalismus  besonders  in  der  Gestalt  nationaler  und  inter- 
nationaler Ausplünderungspolitik  sicherlich  nicht  das  letzte  Wort 
der  menschlichen  Zivilisation  ist.  Die  Wandlung  der  Anschauungen 
unter  den  arbeitenden  Massen  mul's  in  der  Richtung  der  Beseitigung 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


235 


von  Vorurteilen,  der  Erweckung  des  Gefühls  menschlicher  Solidarität, 
vor  allem  der  Gemeinsamkeit  der  Interessen  gegenüber  den  Kapital- 
magnaten wirken.  Damit  ist  wohl  die  Tendenz  zur  Aushungerungs- 
politik und  zu  Raubkriegen  schwer  vereinbar. 

Eine  Widerlegung  der  agrarischen  Schwarzfärberei  ist  aber  mit 
solchen  Argumenten  nicht  zu  erreichen.  Man  mufs  zu  konkreterer 
Kritik  greifen.  Es  wird  uns  versichert,  dafs  die  rapide  Bevölkerungs- 
zunahme der  Brotstaaten  diese  zur  Einschränkung  oder  Verhinderung 
der  Brotausfuhr  führen  müsse.  Prüfen  wir  diese  Behauptung  an 
den  im  Deutschen  Reiche  gemachten  Erfahrungen.  Wir  fragen : 
Was  hat  das  deutsche  Volk  gethan,  um  seine  im  Laufe  des  vorigen 
Jahrhunderts  von  24  auf  56  Millionen  gestiegene  Bevölkerung  mit 
Nahrung  zu  versorgen  ? Hat  es  sich  ausschliefslich  oder  auch  nur 
vorwiegend  auf  die  fremde  Einfuhr  verlassen  ? Die  Antwort  soll 
auch  hier  von  agrarischen  Autoritäten  gegeben  werden. 

Nach  v.  d.  Goltz  umfafste  die  Brache  zu  Beginn  des  XIX.  Jahr- 
hunderts 25  Proz.  des  landwirtschaftlichen  Areals. ')  Sic  ist  bis 
zum  Jahre  1893  auf  5,9  Proz.  gesunken.  Das  ergiebt  eine  Steigerung 
der  landwirtschaftlich  bebauten  Fläche  um  etwa  5 Millionen  Hektar. 
Nimmt  man  an,  dafs  auch  nur  die  Hälfte  dieses  Areals  neu  zu- 
gewachsener Getreideboden  ist  und  schätzt  man  den  durchschnitt- 
lichen Ertrag  des  Hektars  gering  mit  10  Meterzentner,  so  ergiebt 
dies  eine  Mehrproduktion  von  15  Millionen  Meterzentner  Getreide. 

Auch  Pohle2)  giebt  zu,  dafs  eine  ungeheure  Vermehrung  der 
landwirtschaftlichen  Produktion  in  derselben  Zeit  stattgefunden  hat, 
in  welcher  die  agrarische  Bevölkerung  nur  langsam  gewachsen  ist. 
Er  zitiert  Prof.  Max  Delbrück,  nach  welchem  die  landwirtschaftliche 
Produktion  Deutschlands  im  Pflanzenbau  im  verflossenen  Jahrhundert 
auf  das  Vierfache  gestiegen  ist,  während  in  der  Viehzucht  mindestens 
eine  Verdoppelung  erfolgte.  Die  Steigerung  des  Ertrages  von  der 
gleichen  Bodenfläche  allein  habe  seit  1800  eine  Verdoppelung  der 
deutschen  Getreideproduktion  bewirkt.  Nach  einer  offiziellen  Publi- 
kation stellte  sich  im  Durchschnitte  des  Reiches  der  Ertrag  in 


Doppelzentnern  pro  Hektar  bei 

1 879/88 

1887  96 

1899 

Koggen  auf 

9,8 

10,8 

14.9 

Weizen  „ 

13.1 

'43 

'9.3 

')  Handwörterbuch  der 
*»  a.  a.  O.  S.  23  tt.,  33 

Staats  Wissenschaften,  2.  Aufl.,  i 
ff.  etc. 

1.  Bd.,  S.  37 

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236 


Leo  Verkauf, 


Innerhalb  der  Jahre  1879 — 1896  bedeutet  dies  eine  Steigerung  der 
Roggenernte  um  8,  der  VVcizenernte  um  3 Millionen  Meterzentner. 
Ganz,  enorm  ist  die  Steigerung  bis  zum  Jahre  1899. 

Die  Schlachtungen  in  Deutschland,  auf  Rinder  reduziert,  be- 
trugen im  Jahre  1873  4737452,  im  Jahre  1892  7520165  Stück. 
Das  ergiebt  eine  Zunahme  um  nahezu  59  l’roz.  Bringt  man  noch 
in  Anschlag,  dai’s  das  Schlachtgewicht  in  derselben  Zeit  um  IO  Proz. 
gewachsen  ist.  so  erhöhte  sich  die  Fleischproduktion  in  Wirklichkeit 
zwischen  1873  und  1892  um  75  Proz. 

Im  schroffen  Gegensatz  zur  Entwicklung  der  deutschen  Land- 
wirtschaft stehen  die  Produktionsverhältnisse  in  den  entscheidenderen 
Nahrungsländern.  Prof.  Sering  hat  schon  im  Jahre  1887  die  grofsen 
Unterschiede  im  Weizenertrag  Westeuropas  und  Amerikas  nach- 
gewiesen und  dabei  betont,  dafs  dieser  Unterschied  durch  die  ver- 
schiedene Betriebsweise  und  nicht  blofs  durch  Klima  und  natürliche 
Fruchtbarkeit  bedingt  sei.  Es  betrug  nach  seinen  Angaben  der 
Weizenertrag  per  Hektar  in  Hektolitern  in  Deutschland  17,0,  in 
Frankreich  14,9,  in  Rumänien  12,0,  in  Ungarn  11,0,  in  der  Union 
10,7.  >) 

Nach  Ballod*)  war  die  Ackerfläche  in  Rul'sland  genau  5 mal 
so  grofs  wie  in  Deutschland.  Die  Gesamternte  an  den  4 Haupt- 
getreidearten  ist  jedoch  nur  etwas  mehr  als  doppelt  so  hoch:  44,5 
gegen  22,1  Millionen  Tons,  sobald  man  die  Bruttoernte  in  Betracht 
zieht.  Bringt  man  die  Aussaat  in  Abzug,  die  in  Deutschland  nur 
ein  Drittel  der  russischen  beträgt,  so  bleiben  als  Nettoertrag  in 
Rufsland  36,6,  in  Deutschland  18  Millionen  Tons  übrig.  Mit  Brot- 
getreide wurden  in  Rufsland  in  den  Jahren  1893 — 1899  41,2,  in 
Deutschland  8,26  Millionen  Hektar  bebaut ; der  erzielte  Ernteertrag 
betrug  28,64  und  12,43  Millionen  Tons.  Es  entfielen  darnach  pro 
Hektar  in  Deutschland  1 700  kg  Weizen  und  1470  kg  Roggen,  in 
Rufsland  726  kg  Weizen  und  681  kg  Roggen;  in  der  Union  be- 
zifferte sich  der  Ertrag  an  Weizen  auf  875  kg  (1896 — 1900)  und 
auf  1000  kg  Roggen  (189798). 

Die  landwirtschaftliche  Bevölkerung  betrug  in  Deutschland 
36  Proz.,  in  Rufsland  etwa  85  Proz.  der  Gesamtbevölkerung.  Daraus 
folgt,  dafs  in  Rufsland  etwa  21/,  mal  weniger  geerntet  wurde  als  in 


,)  „Die  landwirtschaftliche  Konkurrenz  Nordamerikas  in  Gegenwart  und  Zu- 
kunft“, Leipzig,  Duncker  & llumblot  1887,  S.  472.  » 

*)  „Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik“,  Bd.  90,  S.  315. 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


237 

Deutschland.  Auch  der  Abstand  gegenüber  den  Vereinigten  Staaten 
ist  ein  sehr  grofser. 

Trotzdem  die  Entwicklung  der  deutscher  Landwirtschaft  bisher 
glänzende  Erfolge  aufweist,  ja  sogar  in  den  Zeiten  der  Preis- 
depression nicht  innegehalten  hat,  *)  wird  doch  von  berufener  sach- 
verständiger Seite  behauptet,  dafs  eine  weitere  bedeutende  Steige- 
rung des  Rohertrages,  besonders  im  Brotgetreide,  im  Bereiche  des 
Erreichbaren  und  Möglichen  liege.  Nach  Dade  können  die  Fort- 
schritte der  landwirtschaftlichen  Kultur  nach  und  nach  dem  ge- 
samten Kulturboden  zugeführt  und  damit  die  Roherträge  gesteigert 
werden.  Vor  allem  komme  dabei  der  leichtere  und  mittlere  Boden 
in  Betracht , der  heute  erst  im  Beginne  seiner  Kultur  stehe.  -) 
Bensing  weist  nach,  wie  grols  die  Verbilligung  und  Produktions- 
steigerung durch  die  Maschinenbenützung  noch  sein  kann,  während 
Gustav  Fischer  Berechnungen  darüber  anstellt,  wie  weit  die  Ver- 
wendung von  Maschinen  in  bäuerlichen  Kleinbetrieben  ökonomische 
Vorteile  gewähre.  *) 

Besonders  wertvoll  ist  auch  hier  das  von  Pohle  zusammen- 
gestellte Material  über  die  Ausdehnungsfähigkeit  der  deutschen  Land- 
wirtschaft. Max  Delbrück  erwartet  für  das  XX.  Jahrhundert 
eine  Verdoppelung  der  Erträge  in  Körnerfrüchten.  Nach  H a r t m a n n’s 
Schätzung  entfallen  noch  heute  in  Deutschland  auf  die  Dreifelder- 
wirtschaft 10200000  ha,  bei  denen  eine  Ueberführung  zur  VVechsel- 
wirtschaft  und  damit  eine  grofse  Ertragssteigerung  möglich  und 
notwendig  sei.  Nach  demselben  Autor  liefse  sich  durch  Drainage, 
Drillsaat  und  vermehrte  Handarbeit,  Düngerkonservierung  und  An- 
wendung von  Fäkalien  sowie  Kunstdünger  eine  Steigerung  des 
Rohertrages  von  der  gleichen  Fläche  erzielen.  Die  Anwendung 
dieser  Mittel  setzt  freilich  eine  Steigerung  der  Produktionskosten 
voraus,  deren  Möglichkeit  wir  hier  unerörtert  lassen  wollen.  An- 
gesehene Sachverständige  versichern  jedoch,  dafs  auch  ohne  be- 

')  Conrad  weist  ausdrücklich  darauf  hin,  dafs  die  deutschen  Landwirte  es 
trotz  der  Preisdepression  nicht  für  notwendig  gehalten  haben,  den  Getreidebau  ein 
zuschränken:  Die  vier  Hauptgetreidearten  okkupierten  1878  13515570  ha,  1896  bis 
1899  13861607  ha.  — „Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik",  Bd.  90,  S.  I49. 

*)  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik,  Bd.  91,  S.  61. 

s)  Bensing,  „Der  Einflufs  der  landwirtschaftlichen  Maschinen  auf  Volks-  und 
Privatw-irtschaft",  Breslau,  Schlcttersche  Buchhandlung,  1898.  — Gustav  Fischer, 
„Die  soziale  Bedeutung  der  Maschinen  in  der  Landwirtschaft",  Leipzig,  Duncker  8c 
Humblot,  1902. 


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23» 


l.co  Verkauf, 


sonderen  Kapitalsaufwand  eine  Steigerung  der  Roherträge  erzielt 
werden  könne.  Es  sei  besonders  in  den  bäuerlichen  Wirtschaften 
eine  sorgfältige  Bodenbestellung,  die  Auswahl  besten  Saatgutes,  der 
Anbau  der  ertragreichsten  Sorten,  die  Vermeidung  von  Verlusten 
an  Dungstoffen  in  der  Wirtschaft,  die  Ausnützung  der  von  der 
Natur  mit  geringen  Kosten  gebotenen  Dungstoffe  möglich  und  not- 
wendig. Rümker  bespricht  zwei  der  angeführten  Mittel : die  rationelle 
Sortierung  des  Saatgutes  und  die  richtige  Auswahl  der  für  jede 
Oertlichkeit  passendsten  und  einträglichsten  Sorten.  Er  zeigt  Ziffer  - 
mäl'sig  die  auf  diesem  Wege  erzielbaren  Mehrerträge  und  erklärt : 
„Üb  ich  diese  oder  jene  Sorte  baue,  verursacht  im  allgemeinen  die 
gleichen  Produktionsunkosten,  mithin  ist  jeder  Zentner,  den  die 
eine  Sorte  durchschnittlich  mehr  liefert,  als  die  andere,  mehr  oder 
minder  ein  Nettogewinn,  der  gleichzeitig  mithilft,  die  Produktions- 
kosten relativ  zu  verbilligen,  weil  sich  dieselben  dadurch  auf  eine 
gröfsere  Zahl  von  Ertragseinheiten  verteilen“. ') 

In  demselben  Atemzuge  nun , mit  welchem  uns  dargelegt 
wird,  wie  stark  Deutschland  durch  intensive  Wirtschaft  seine  Boden- 
erträge gesteigert  hat  und  fernerhin,  selbst  ohne  erhöhte  Produk- 
tionskosten zu  steigern  vermag,  wird  versichert,  dafs  die  Gesetze 
der  landwirtschaftlichen  Technik  wohl  für  Deutschland,  keineswegs 
aber  für  die  technisch  weit  im  Hintertreffen  gebliebenen  Nahrungs- 
Staaten  Geltung  beanspruchen  können.  Bedeutet  es  denn  etwas 
anderes,  wenn  man  ständig  argumentiert,  Rufsland,  Amerika,  Rumänien, 
Ungarn  würden  bei  steigender  Bevölkerung  nicht  etwa  zu  intensiverer, 
sorgfältigerer  Bodenbewirtschaftung  übergehen,  sondern  den  extensiven 
Anbau  beibehalten,  dafür  aber  den  Getreideexport  einstellen  oder 
stark  einschränken  r Warum  soll  denn  den  amerikanischen,  russischen, 
rumänischen,  ungarischen  Landwirten  nicht  gelingen,  was  den  deut- 
schen gelungen  ist  und  auch  in  Zukunft  in  immer  gröfscrcm  Mal’se 
gelingen  wird:  die  Roherträge  durch  fortschreitende  Technik,  gröfsere 
Sorgfalt,  bessere  Düngung  zu  steigern?  Während  in  der  volkswirt- 
schaftlichen Litteratur  darüber  eifrig  gestritten  wird,  ob  neue  Ge- 
biete für  die  Getreideproduktion  zu  Exportzwecken  noch  auffindbar 
sind,  wird  die  Diskussion  von  der  meines  Erachtens  wichtigeren 
Frage  abgelenkt,  in  welchem  Mafse  die  Erträge  in  den  Nahrungs- 
staaten nach  westeuropäischen  Erfahrungen  und  dem  Stande  der 
Agrartechnik  gesteigert  werden  können.  Ballod  beleuchtet  die 


Ciliert  bei  Pohle  a.  a.  O.  S.  90  ff. 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


239 


Verschwendung  an  Saatgut  in  Rufsland,  die  etwa  30  Millionen 
Doppelzentner  erreicht.  Diese  Vergeudung  soll  aber  auch  ander- 
wärts nicht  selten  sein.  Ist  hier  ein  Wandel  zum  Besseren  nicht 
möglich  ? 

Serin g hat  in  seiner  angeführten  Schrift  gezeigt,  dal's  auch  in 
Amerika  hier  und  da  die  Intensität  der  landwirtschaftlichen  Kultur 
steige.  Durch  die  fortschreitende  Besiedelung  des  Landes  werde 
zweifellos  nicht  nur  eine  Vergröfserung  des  bebauten  Weizenareals 
platzgreifen,  sondern  auch  die  Betriebsweise  sich  der  west-  und 
mitteleuropäischen  immer  mehr  und  mehr  annähern.  Man  werde 
von  der  Raubwirtschaft  und  dem  extensiven  Anbau  zur  Intensifika- 
tion,  damit  zur  stärkeren  Steigerung  der  Roherträge,  gleichzeitig 
aber  auch  der  Produktionskosten  gelangen. ') 

Eis  ist  möglich,  sogar  wahrscheinlich,  dal's  diese  Entwicklung 
gesteigerte  Getreidepreise  mit  sich  bringen  wird,  über  deren  Höhe 
Bestimmtes  wohl  niemand  anzugeben  vermag.  Das  ist  aber  grund- 
verschieden von  der  agrarischen  Behauptung,  dafs  wir  in  nicht 
ferner  Zeit  auf  Gnade  und  Ungnade  den  Nahrungsstaaten  ausgcliefert 
sein  würden,  dafs  die  Wahl  dann  nur  zwischen  Verhungern  und 
Auswanderung  zu  treffen  sein  wird.  Selbst  bei  enormer  Bevölkerungs- 
zunahme haben  die  Xahrungsstaaten  einen  so  grofsen  Spielraum  für 
ihre  Produktionserweiterung,  dafs  schon  vor  dieser  Thatsachc  alle 
Gruselgeschichten  hinfällig  werden.  Warum  sollten  auch  die  ge- 
schäftskundigen Amerikaner  anstatt  technischer  Vervollkommnung 
ihrer  Wirtschaft  die  europäischen  Märkte  aufgeben  ? 

Bei  denselben  Agrariern,  die  sich  an  der  Steigerungsmöglich- 
keit der  deutschen  Ernteerträge  berauschen,  verfliegt  der  Rausch 
sofort,  wenn  die  Frage  erhöhter  Erträge  für  die  Nahrungsstaaten 
auftaucht.  Diese  Taktik  wird  durch  das  Verhalten  der  freihändle- 
rischen Volkswirte  erleichtert,  die  vielfach  den  Standpunkt  ein- 
nehmen, dafs  heute  schon  wesentliche  Verbesserungen  in  der  deutschen 
Ackerwirtschaft  ohne  grolse  Steigerung  der  Produktionskosten  un- 
denkbar seien.  Natürlich  kommt  dann  ein  intensiverer  und  ertrag- 
reicherer Anbau  in  den  Nahrungsstaaten  wenig  in  Betracht,  man 
zieht  cs  vor  auf  der  bewohnten  Erde  nach  neuen  Getreideböden  für 
den  westeuropäischen  Bedarf  der  Zukunft  zu  fahnden,  die  heute 
schwer  auffindbar  sind. 


*)  a.  a.  O.  S.  562  ff. 


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240 


Leo  Verkauf, 


IV. 

Mit  dem  Versiegen  des  Körnerexportes  mufs  auch  der  Fabri-  / 
katenimport  der  Nahrungsstaaten  abreifsen;  womit  sollten  ihn  diese 
auch  bezahlen?  Das  Absatzgebiet  für  deutsche  Industrieerzeugnisse 
verengert  sich  auch  durch  das  Auftauchen  neuer  Konkurrenten  auf 
dem  Weltmärkte,  wie  durch  die  fortschreitende  Industrialisierung 
agrarischer  Gebiete.  Wächst  nun  die  Fabrikatenausfuhr  trotz  dieser 
gefahrdrohenden  Entwicklung,  so  steigert  sich  die  Abhängigkeit 
Deutschlands  vom  Weltmärkte  immer  mehr.  Es  nähert  sich  damit 
der  Augenklick  des  vollständigen  Zusammenbruches  um  so  rascher. 

So  der  agrarische  Pessimismus,  dem  die  Volkswirtschaft  nur  dann 
als  gesund  erscheint,  wenn  die  Entwicklung  der  Industrie  nicht 
weiter  geht,  als  die  einheimische  Landwirtschaft  die  gewerbliche 
Bevölkerung  zu  ernähren  vermag.  Von  diesem  Gesichtswinkel  be- 
trachtet, erscheint  die  deutsche  Industrie  den  Agrariern  heute  schon 
als  hypertrophisch  und  um  so  notwendiger  die  agrarische  Parole  der 
Handelspolitik:  Gröfsere  Unabhängigkeit  der  deutschen  Volkswirt- 
schaft vom  Auslande  1 ') 

Es  ist  nun  unleugbar,  dafs  eine  wachsende  Zahl  von  euro- 
päischen und  aufsereuropäischen  Wirtschaftsgebieten  bestrebt  ist, 
sich  aus  der  Abhängigkeit  von  den  Industriegrofsmächten  zu  be- 
freien. Rufsland,  Rumänien,  Ungarn,  Südamerika,  Japan,  Indien 
sind  — meist  mit  Hilfe  westeuropäischen  Kapitals  — bemüht, 
nationale  Industrien  zu  schaffen;  China  wird  diesem  Beispiel  bald 
folgen.  Nordamerika  ist  heute  schon  aus  einem  Importland  für 
Fabrikate  ein  Exportland  geworden,  ein  gefürchteter  Konkurrent  der 
bisherigen  Beherrscher  des  Weltmarktes.  Dieser  Prozefs  der  In- 
dustrialisierung wird  vielfach  durch  die  Schutzzölle  gefordert.  Die 
Industriellen  verlegen  bei  drohendem  Verlust  von  Auslandsmärkten 
ihre  Produktion  in  das  bisherige  Importland.  So  entstand  die  nord- 
böhmische Industrie  zu  ganz  erheblichem  Teile  mit  Hilfe  deutschen 


*)  Im  Gegensatz  zu  den  Agrariern  leugnet  Sombart,  dafs  Deutschland  sich 
im  wachsenden  Mafse  zum  Exportindustriestaate  entwickle.  Er  unterscheidet  zwei 
Entwicklungsphasen:  Bis  in  die  8oer  Jahre  sei  der  Export  präponderant  gewesen 
(,, Internationalisierung  des  Kapitalismus“).  Seither  habe  der  Industrieexport  für 
Deutschland  relativ  an  Bedeutung  abgenommen  („Nationalisierung  des  Kapitalismus). 
Ohne  Abhängigkeit  vom  Auslande  sei  keine  Kulturcntwicklung,  keine  Entwicklung 
zu  höherem  Dasein  möglich,  nationale  Selbstgenügsamkeit  bedeute  Halbharbarei.  — 
Soziale  Praxis,  1899,  Nr.  24  u.  31. 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


241 


Kapitals.  So  treibt  die  Furcht  vor  der  kommenden  Zolltrennung 
heute  schon  die  österreichischen  Unternehmer  zur  Züchtung  einer 
Konkurrenzindustrie  in  Ungarn.  Es  gehört  nicht  viel  Scharfsinn 
dazu,  um  aus  diesem  Gang  der  Entwicklung  dem  deutschen  und 
englischen  Fabrikatenexporte  für  nähere  oder  fernere  Zukunft  schlimme 
Katastrophen  zu  prognostizieren.  Man  zeige  uns  aber  die  Mittel 
diesen  Gefahren  vorzubeugen.  Das  ist  eine  viel  schwerere  Aufgabe. 
Sie  sind  so  wenig  ausfindig  zu  machen,  dafs  selbst  unbedingte 
Agrarier,  wie  Wagner  und  Pohle  vor  den  Konsequenzen  ihrer 
wirtschaftspolitischen  Ueberzeugung  zurückschreckend,  auf  jede  Be- 
hinderung des  heutigen  Exportes  verzichten  wollen  und  nur  jeder 
weiteren  Steigerung  der  Fabrikatenausfuhr  Einhalt  gebieten  möchten. 
Man  kann  eben  nicht,  um  künftigen  Katastrophen  vorzubeugen,  eine 
Katastrophenpolitik  der  Gegenwart  inaugurieren.  Pan  Industriestaat 
ersten  Ranges,  wie  Deutschland,  kann  selbst  in  dem  abgeschwächten 
Mafse,  das  Wagner  vertritt,  nicht  ungestraft  eine  Politik  der  Export- 
erdrosselung betreiben.  In  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung 
kann  man  von  einem  Markte  verdrängt  werden,  aber  man  kann  ihn 
nicht  freiwillig  aufgeben.  Wenn  man  auch  nur  auf  die  weitere 
Entwicklung  des  Exports  verzichten  will,  führt  dies  notgedrungen 
zum  Grundsatz:  der  einheimische  Markt  gehört  der  einheimischen 
Produktion.  Neben  die  Behinderung  der  Ausfuhr  mufs  dann  die 
Erschwerung  der  Einfuhr  treten ; zur  Erreichung  beider  Ziele  führt 
aber  nur  der  mechanische  Weg  der  Ein-  und  Ausfuhrzölle.  Gerade 
der  in  die  Weltwirtschaft  verflochtene  Staat  begegnet  beim  Betreten 
dieses  Weges  dem  ernsthaftesten  Widerstande  fremder  Wirtschafts- 
gebiete, der  um  so  bedrohlicher  wird,  je  stärker  man  in  das  Ge- 
triebe des  Kapitalismus  verflochten  ist.  Je  mächtiger  also  ein  Land 
auf  dem  Weltmarkt  dasteht,  um  so  gefährlicher  ist  für  dasselbe  eine 
Politik  der  Behinderung  von  Ein-  und  Ausfuhr.  In  diesem  Sinne 
allein  hat  Pohle  recht,  wenn  er  meint,  es  sei  eine  kindlich-naive 
Vorstellung,  dafs  es  von  Deutschland  abhängt,  ob  es  seine  wirt- 
schaftliche Zukunft  immer  mehr  auf  den  Industrialismus  gründen 
wolle,  während  hierbei  doch  die  fremden  Nationen  das  entscheidende 
Wort  zu  sprechen  hätten.  Gilt  denn  das  aber  nur  von  der  Fort- 
entwicklung und  nicht  auch  von  der  Rückentwicklung  des  Exports? 
Und  wie  steht  es  da  um  den  schönen  agrarischen  Plan,  Deutsch- 
land solle  sich  ohne  schwächliche  Rücksichten  auf  andere  völlig 
unabhängig  stellen  ? Die  kapitalistische  Weltwirtschaft  zwingt  gerade 
den  mächtigsten  Industriestaaten  ein  gutes  Stück  P'atalismus  in  ihrer 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVI11.  l6 


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242 


Leo  Verkauf, 


Wirtschaftspolitik  auf.  Niemand  hat  ja  so  sehr  die  Repression  der 
anderen  zu  fürchten,  die  unausbleiblich  auch  dann  ist,  wenn  man 
sich  mit  einer  Kontingentierung  der  Ein-  und  Ausfuhr  begnügen 
würde.  Es  kann  dann  begegnen,  dafs  man  den  Export  auf  einem 
Gebiete  einschränken  will  und  dafs  die  unwillkommene  Folge  davon 
auch  die  Einschränkung  auf  einem  anderen  ist.  Das  eigene  Macht- 
gefuhl  darf  eben  nicht  zu  einer  Unterschätzung  der  Defensivkraft 
der  Staaten  zweiten  und  dritten  Ranges  verleiten.  Rumänien  hat 
im  Zollkrieg  mit  Oesterreich- Ungarn  schweren  Schaden  gelitten, 
aber  auch  dem  Gegner  tiefe  Wunden  geschlagen,  die  heute  ver- 
narbten, aber  nicht  geheilt  sind.  Der  völlige  Zusammenbruch  des 
Exports  kann  leicht  die  Folge  einer  Politik  sein,  die  auch  nur  auf 
die  Stabilisierung  des  heutigen  Standes  der  Ausfuhr  gerichtet  ist 
So  kann  es  denn  allerdings  kommen,  dafs  gerade  die  industriellen 
Grofsmächte  genötigt  sind,  unthätig  drohenden  Erschütterungen  ent- 
gegenzusehen, um  nicht  die  Katastrophen  für  den  nationalen  Wirt- 
schaftskörper zu  beschleunigen. 

Die  steigende  Bedeutung  der  Arbeiterbewegung  macht  cs  er- 
klärlich, wenn  bei  Bekämpfung  des  Exports  auch  das  Arbeitcr- 
interesse  als  Argument  herangezogen  wird.  So  wird  uns  denn  auch 
verkündet,  dafs  gerade  das  Interesse  der  Arbeiterklasse  die  Abkehr 
vom  Exportindustrialismus  gebieterisch  fordere.  Die  Konkurrenz 
mit  ausländischen  Proletariern  von  inferiorer  Lebenshaltung,  wird 
uns  erklärt,  nötige  den  deutschen  Arbeitern  niedrigen  Lohn  bei 
längerer  Arbeitszeit  und  häufiger  Arbeitslosigkeit  auf.  Die  Hälfte 
des  deutschen  Exportes,  gerade  die  sozialpolitisch  verrufenen  para- 
sitären Industriezweige,  hätte  ihre  dominierende  Stellung  auf  dem 
Weltmärkte  wesentlich  durch  niedrige  Löhne  erlangt.  Diese  Ent- 
wicklung habe  ihren  Höhepunkt  noch  gar  nicht  erreicht.  Die  Völker 
niedrigster  Lebenshaltung  treten  jetzt  in  den  Wettbewerb  ein  und 
die  sozialpolitisch  ungünstigeren  Wirkungen  des  Exportes  würden 
damit  zunehmend  bedenklichere  werden. 

Damit  wird  stillschweigend  den  nationalen  Industriezweigen 
ein  sozialpolitisches  Wohlverhaltungszeugnis  ausgestellt  Bei  ihnen 
sollen  Uebelstände  in  Rücksicht  auf  Lohn,  Arbeitszeit  und  Unsicher- 
heit der  Beschäftigung  gar  nicht  oder  im  geringeren  Mafse  vor- 
handen sein,  als  bei  den  Eixportindustrien.  Es  stehen  so  die  sozial- 
politisch gut  beleumundeten  den  sozialpolitisch  verrufenen  Industrien 
gegenüber.  Bei  den  letzteren  sollen  wesentlich  die  niedrigen  Löhne 
des  konkurrierenden  Auslandes  die  deutschen  Fabrikanten  dazu 


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Aßrarschutz  und  Sozialrcform. 


243 


nötigen,  die  Arbeiter  in  ihrer  niedrigen  Lebenshaltung  zu  belassen 
oder  gar  noch  herabzudrücken.  Erscheint  aber  der  Export  als 
letzte  Ursache  der  schlimmen  ökonomischen  läge  zahlreicher  Prole- 
tarier, so  mufs  konsequenterweise  mit  Beseitigung  der  Ursache  auch 
die  Wirkung  verschwinden.  Konkret  gesprochen : Ist  z.  B.  der 
Export  der  entscheidende  Grund  des  Weberelendes,  so  wäre  ja  mit 
Beseitigung  der  Textilausfuhr  auch  dieses  Elend  aus  der  Welt  zu 
schaffen.  In  der  That  werden  die  angedeuteten  Konsequenzen  in 
der  agrarischen  Litteratur  bald  schärfer,  bald  verschwommener  ge- 
zogen. 

Bei  näherer  Prüfung  finden  wir  nun,  was  von  den  Agrariern 
nicht  geleugnet  wird,  auch  unter  den  Exportindustrien  zwei  nach 
ihrem  sozialpolitischen  Typus  scharf  unterscheidbare  Gruppen.  In 
Vordergründe  des  deutschen  Fabrikatenexportes  standen  in  den 
Jahren  1897 — 1900  die  Metallindustrie  mit  einem  Durchschnitts- 
ausfuhrwerte von  304  Millionen  Mark,  die  Industrie  der  Maschinen, 
Instrumente  und  Apparate  mit  einer  Ausfuhr  von  283  Millionen 
Mark  und  die  chemische  Industrie  mit  einem  Export  von  346 
Millionen  Mark.  Die  Löhne  in  diesen  Produktionszweigen  gehören 
in  Deutschland  zu  den  günstigeren.  Nach  der  Unfallstatistik  der 
deutschen  Berufsgenossenschaften  für  das  Jahr  1889  betrug  durch- 
schnittlich der  anrechenbare  Jahresverdienst  für  gewerbliche  Arbeiter 
752  Mark.  Dieser  Durchschnitt  wird  überschritten  bei  der  Berufs- 
genossenschaft für  chemische  Industrie  mit  409  Mark,  bei  der  rhein- 
ländisch -westfalischen  Berufsgenossenschaft  für  Maschinenbau  und 
Kleineisenindustrie  mit  1035  Mark,  bei  der  Berufcgenossscnschaft 
für  Feinmechanik  mit  1001  Mark,  bei  der  norddeutschen  Berufs- 
genossenschaft für  Edel-  und  Unedelmetallindustrie  mit  869  Mark. 
Auch  in  der  Lederindustrie  mit  einem  Ausfuhrwerte  von  194 
Millionen  Mark  wird  ein  überdurchschnittlicher  Jahresverdienst  in 
der  Höhe  von  874  Mark  gezahlt.  Der  Ausfuhrwert  in  Gegenständen 
der  Literatur  und  Kunst  beziffert  sich  mit  240  Millionen  Mark,  die 
Berufsgenossenschaft  für  Buchdrucker  — für  sonstige  hierher  gehörige 
Branchen  fehlen  die  Daten  — zahlt  einen  Lohn  von  869  Mark. 

Dieser  sozialpolitisch  günstigeren  Gruppe  mit  einer  Gesamt- 
ausfuhr von  annähernd  1300  Millionen  Mark  steht  eine  fast  gleich 
starke  mit  tiefster  Lebenshaltung  und  niedrigen  Löhnen  gegenüber. 
Hierher  gehört  die  Zuckerindustrie  mit  einer  Ausfuhr  von  215 
Millionen  Mark  und  einem  durchschnittlichen  Tagelohn  von  2,35  Mark, 
dem  ein  Jahresverdienst  von  453  Mark  entspricht.  Als  ausge- 

16* 


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Leo  Verkauf, 


sprochenste  Exportindustric  gilt  mit  Recht  die  Textilindustrie,  bei 
der  der  Ausfuhrwert  883  Millionen  Mark  beträgt.  Die  Löhne  zeigen 
in  den  verschiedenen  Teilen  des  Reiches  grofse  Abweichungen,  sie 
sind  aber  fast  ausnahmslos  unter  dem  Durchschnittslohn  für  ge- 
werbliche Arbeiter.  So  betrug  der  Jahresverdienst  bei  der  nord- 
deutschen Textilberufsgenossenschaft  664  Mark,  bei  der  schlesischen 
Textilberufsgenossenschaft  494  Mark,  bei  der  süddeutschen  Textil- 
berufsgenossenschaft  612  Mark,  bei  der  Textilberufsgenossenschaft 
für  Elsafs-Lothringen  663  Mark,  bei  der  Berufsgenossenschaft  für  Rhein- 
land-Westfalen 762  Mark,  bei  der  sächsischen  Textilberufsgenossen- 
schaft 621  Mark.  Die  Löhne  der  Hausweber  sind  in  den  Durchschnitts- 
zahlen nicht  inbegriffen,  weil  sich  die  Unfallversicherung  auf  die  Haus- 
industrie nicht  erstreckt.  Nicht  besser  sind  die  Verhältnisse  in  der 
Kleider-  und  Wäschekonfektion  mit  einem  Ausfuhrwerte  von  86 
Millionen  Mark,  sowie  in  einigen  weniger  belangreichen  Zweigen. 

Was  ermöglicht  nun  in  beiden  Industriegruppen  den  starken 
Export?  In  der  Metall-  und  Maschinenindustrie  begegnet  Deutsch- 
land der  englischen  und  amerikanischen  Konkurrenz,  die  notorisch 
höhere  Löhne  zahlt,  als  in  Deutschland  üblich  sind.  Die  Forzierung 
des  deutschen  Exports  ist  nicht  auf  die  ungünstigeren  Löhne,  sondern 
auf  die  Kartellwirtschaft  und  die  Schutzzollpolitik  zurückzuführen. 
Der  russische  Finanzminister  Witte  hat  erst  vor  kurzem  darauf 
hingewiesen,  dafs  das  deutsche  Schienensyndikat  seine  Erzeugnisse 
in  Deutschland  zu  1 14  Mark  die  Tonne,  im  Auslande  zu  85  Mark, 
Stangeneisen  zu  Hause  um  125  Mark,  im  Auslande  um  100  Mark 
verkaufe;  dafs  der  Verband  der  deutschen  Drahtstiftcn-Fabrikanten 
seine  Produkte  im  Inlande  zu  250  Mark,  auswärts  zu  140  Mark  für  die 
Tonne  anbringc.  Zur  Zeit  des  gröfsten  Kohlenmangels  sei  der  Preis 
der  Tonne  Kohle  in  Deutschland  bis  zu  18,50  Mark  emporgcschnellt, 
während  gleichzeitig  nach  Oesterreich  zu  dem  Preise  von  8,80  Mark 
exportiert  wurde.  Der  Zuckerexport  ist  bisher  durch  das  jetzt  in 
Wegfall  kommende  Prämiensystem  in  die  Höhe  getrieben  worden; 
schließlich  ist  als  wichtige  Stütze  auch  noch  das  Kartell  hinzu- 
gekommen. Die  in  der  Zuckerindustrie  gezahlten  Löhne  sind  sehr 
niedrig  und  für  die  Konkurrenzfähigkeit  nicht  von  entscheidender 
Bedeutung,  wie  wenige  Zahlen  beweisen  mögen.  Die  Produktion 
betrug  in  der  Kampagne  1898/99  1722429  Tonnen  Konsumzucker, 
die  bezahlten  Löhne  im  Jahre  1899  insgesamt  45,5  Millionen  Mark, 
somit  für  1 kg  Zucker  etwa  2,6  Pfennige.  Der  Wert  der  Ausfuhr 
wird  in  der  Handelsstatistik  mit  203,5  Millionen  Mark  angegeben, 


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Agrarschutz  und  Sozialrcform. 


245 


der  inländische  Konsum  ergibt  auf  einer  Preisbasis  von  500  Mark 
per  Tonne  340  Millionen  Mark.  Insgesamt  finden  wir  eine  Wert- 
summe von  550  Millionen  Mark  auf  Grund  der  Grofshandelspreise. 
Daraus  resultiert  der  Preis  für  I kg  Zucker  mit  34  Pfennigen,  so 
dafs  der  Lohn  zwischen  7 und  8 Proz.  dieses  Preises  schwankt. 
Die  niedrige  Lebenshaltung  der  Arbeiter  in  den  Konkurrenz- 
industrien hat  hier  sicherlich  nicht  zji  niedrigen  Löhnen  in  Deutsch- 
land genötigt.  Sie  sind  vielmehr  durch  die  rechtlich  ungünstige 
I-age  der  Arbeiter,  durch  den  Mangel  jeder  Organisation  sowie  durch 
die  Gleichgültigkeit  des  Staates,  gleichsam  als  ein  Geschenk  des 
Himmels,  neben  den  Prämien  und  Kartellprofiten,  den  Zucker- 
fabrikanten in  den  Schofs  gefallen.  Auch  bei  wesentlich  höheren 
Löhnen  wäre  die  Konkurrenzfähigkeit  Deutschlands  auf  dem  Welt- 
märkte nicht  beeinträchtigt  worden. 

Am  wichtigsten  ist  die  Frage,  ob  das  Ausland  zur  Zahlung 
niedriger  Löhne  nötigt,  in  der  Domäne  der  verrufenen  Gewerbe, 
der  Textilindustrie.  Hier  sei  vorerst  darauf  hingewiesen,  dafs  die 
Bedeutung  für  die  Konkurrenzfähigkeit,  die  dem  Lohn  zuerkannt 
wird,  vielfach  zu  sehr  überschätzt  worden  ist.  Das  vorhandene 
Thatsachenmaterial  ist  freilich  nicht  ganz  einwandfrei  und  nicht 
völlig  zuverlässig.  Es  gewährt  aber  doch  einen  interessanten  Ein- 
blick in  die  Verhältnisse.  Nach  der  für  das  Jahr  1897  veröffent- 
lichten Produktionsstatistik  betrug  der  Wert  der  in  Deutschland 
erzeugten  Textilwaren  23  4 Milliarden  Mark.  Die  in  den  Berufs- 
genossenschaften gegen  Betriebsunfälle  versicherten  729000  Arbeiter 
erhielten  einen  anrechenbaren  Jahresverdienst  von  zusammen  460V4 
Millionen  Mark,  per  Kopf  durchschnittlich  630  Mark.  Da  aufser- 
halb  der  Berufsgenossenschaften  nach  der  Berufszählung  vom  Jahre 
1895  225000  Arbeiter  standen,  deren  Lohn,  da  es  sich  um  Heim- 
arbeiter und  kleingewerbliche  Gehilfen  handelt,  höchstens  mit  */g, 
d.  h.  mit  420  Mark  per  Kopf  angenommen  werden  darf,  so  re- 
sultiert daraus  eine  weitere  Lohnsumme  von  94V4  Millionen  Mark. 
Für  beide  Gruppen  von  Arbeitern  beziffert  sich  somit  die  Lohn- 
summe auf  550'/2  Millionen  oder  20  Proz.  des  Produktionswertes. 
Ob  dabei  nicht  Doppelzählungen  unterlaufen  sind,  ist  schwer  zu 
sagen.  Immerhin  ist  sicher,  dafs  die  Bedeutung  des  Lohnes  nicht 
jene  entscheidende  ist,  wie  man  sie  gegenwärtig  anzunehmen  pflegt. 

Bedeutsamer  ist  die  Thatsache,  dafs  die  deutsche  Textilindustrie 
den  Wettbewerb  auf  dem  Weltmarkt  vornehmlich  mit  England  aus- 
zufechteri  hat,  das  im  Jahre  1901  Woll-  und  Baumwollwaren  im 


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Leo  Verkauf, 


Werte  von  1800  Millionen  Mark,  Textilprodukte  überhaupt  im 
Werte  von  2 Milliarden  Mark  ausführte.  Es  ist  bekannt,  dafs  die 
Löhne  in  der  englischen  Baumwoll-,  weniger  in  der  Wollindustrie 
unvergleichlich  höher  sind,  als  in  Deutschland.  Die  Schmutz- 
konkurrenz  der  kontinentalen  Industriestaaten  hat  bisher  England 
weder  zur  Herabdrückung  seiner  Löhne,  noch  zur  Verlängerung 
der  Arbeitszeit  veranlafst.  D$r  agrarischen  Wissenschaft  blieb  es 
Vorbehalten,  den  Tcxtilindustricllen  des  Festlandes  den  Milderungs- 
grund  niedriger  Löhne  im  konkurrierenden  Auslande  zuzubilligen. 
England  liefert  aber  gerade  den  Beweis,  dafs  das  Weberelend  keines- 
wegs die  notwendige  Voraussetzung  einer  mächtigen  Textilindustrie 
ist.  Versucht  man  es,  die  asiatische  Gefahr  in  den  Vordergrund  zu 
rücken,  so  kann  darauf  verwiesen  werden,  dafs  die  Bedeutung 
Japans  vorläufig  eine  viel  zu  geringe  ist,  um  als  Erklärung  für  den 
jahrzehntelangen  Lohndruck  gelten  zu  können.  Wichtiger  ist  aller- 
dings Indien,  auf  das  von  den  100  Millionen  Spindeln  der  Baum- 
wollindustrie der  Erde  etwa  4 Millionen  entfallen.  Gerade  die 
indische  Konkurrenz  fallt  aber  am  schwersten  für  England  ins  Ge- 
wicht und  recht  wenig  für  Deutschland.  Trotzdem  ist  der  englische 
Spinner-  und  Weberlohn  bisher  nicht  auf  das  deutsche  Niveau  ge- 
sunken. Freilich  ist  die  indische  Bauniwollwarenindustrie  jüngeren 
Datums,  der  Export  Indiens  betrug  1874/75  erst  18,3  Millionen 
Rupien,  bei  einem  Import  von  190,7  Millionen  Rupien.  Die  Aus- 
fuhr ist  1897  98  auf  95,7,  die  Einfuhr  auf  264,0  Millionen  Rupien 
gestiegen.  VV’as  die  Zukunft  bringen  mag,  darüber  lälst  sich  streiten. 
Bisher  hat  die  inferiore  Lebenshaltung  ausländischer  Arbeiter  die 
deutsche  Textilindustrie  zur  Zahlung  von  Schundlöhnen  nicht  genötigt. 

Versagt  die  agrarische  Argumentation  selbst  in  der  Textil- 
industrie, was  bleibt  dann  übrig?  Bei  der  Kleider-  und  Wäsche- 
konfektion wäre  der  Beweis  erst  zu  erbringen,  ob  England  und 
Amerika  die  deutschen  Exporteure  oder  die  letzteren  die  englischen 
und  amerikanischen  Konfektionäre  zur  Zahlung  niedriger  Löhne  ge- 
zwungen haben.  Bestenfalls  kann  zugegeben  werden,  dafs  die  un- 
zureichenden Löhne  der  österreichischen  Handschuhindustrie  auf 
Deutschland  ungünstig  zurückwirken  und  dafs  die  schreckliche  Aus- 
beutung in  der  deutschen  Spielwarenindustrie  (Ausfuhr  44  Millionen 
Mark)  die  Entstehung  jeder  Konkurrenz  im  Auslande  im  Keime 
erstickt.  Auch  in  diesem  Falle  ist  es  doch  nicht  das  Ausland,  das 
durch  die  schlechten  Arbeitsbedingungen  dem  deutschen  Export 
seinen  parasitären  Charakter  aufnötigt. 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


247 


Wie  kann  man  angesichts  solcher  Thatsachen  die  Behauptung 
aufrecht  erhalten,  das  konkurrierende  Ausland  sei  durch  die  inferiore 
Lebenshaltung  seiner  Arbeiter  an  den  Lohndruck  in  den  parasitären 
Exportindustrien  schuldtragend  ? Zum  Ueberflusse  zeigt  sich  noch, 
dafs  sich  auch  unter  den  ausschließlich  für  den  nationalen  Markt 
produzierenden  Gewerben  sozialpolitisch  verrufene  befinden.  Die 
verzweifelte  Lage  der  Arbeiter  in  der  Tabakindustrie  ist  genügend 
bekannt.  Für  das  Jahr  1897  wurde  der  Wert  der  inländischen 
Produktion  von  Zigarren  auf  250  Millionen  Mark  geschätzt.  Einer 
Ausfuhr  im  Werte  von  3 '/*  Millionen  Mark  stand  eine  Einfuhr  von 
7*/*  Millionen  Mark  gegenüber.  Der  nationale  Charakter  der  Pro- 
duktion unterliegt  sonach  keinem  Zweifel.  Nach  der  Statistik  der 
Berufsgenossenschaft  für  Tabakindustrie  betrug  der  durchschnitt- 
liche Jahresverdienst  kaum  534  Mark,  worin  zum  Ueberflusse  die 
Löhne  der  Hausarbeiter  keine  Berücksichtigung  gefunden  haben. 
Nicht  günstiger  ist  die  I-age  der  Arbeiter  in  der  Ziegelfabrikation, 
wo  der  durchschnittliche  Verdienst  sich  auf  569  Mark  beziffert. 

Aber  selbst  angenommen,  es  sei  wirklich  der  niedrige  Lohn 
im  konkurrierenden  Auslande,  der  die  unzureichenden  Löhne  in 
Deutschland  bedingt,  wie  soll  durch  Beseitigung  oder  Einschränkung 
des  Exportes  eine  Hebung  der  Lebenshaltung  im  Inlande  erzielt 
werden  ? Unter  gleichbleibenden  Verhältnissen  bedeutet  die  Ab- 
nahme des  Exportes  eine  Verminderung  der  Nachfrage  auf  dem 
Arbeitsmarkte.  Cal  wer  berechnet,  dafs  heute  jeder  fünfte  Textil- 
arbeiter für  das  Ausland  produziert.  Man  bedenke  die  Deroute,  die 
der  Wegfall  des  Bedarfes  von  20  Proz.  der  Arbeiter  bewirken  mufs. 
Eine  schlimmere  Verschärfung  der  sozialpolitischen  Situation  ist 
schwer  denkbar.  Die  geschwächte  Kaufkraft  der  ganzen  in  der 
Textilindustrie  erwerbsthätigen  Bevölkerung  wäre  die  unausbleib- 
liche Folge.  Bei  weniger  Beschäftigung  statt  mehr  ist  dies  ja  selbst- 
verständlich. 

Die  Abhängigkeit  vom  Auslande  hat  gewifs  grotse  Unsicherheit 
für  die  Produktion  im  Gefolge.  Kann  diese  Unsicherheit  aber  durch 
Zollkriege  gemindert  werden?  Die  Pendelbewegungen  des  Welt- 
marktes sind  eine  der  Eigentümlichkeiten  des  Kapitalismus,  die  man 
heute  mildern,  aber  nur  mit  Beseitigung  der  herrschenden  Wirt- 
schaftsordnung ganz  aus  der  Welt  schaffen  kann.  Die  gesteigerten 
Produktivkräfte  verlangen  in  Deutschland,  wie  in  der  ganzen  ka- 
pitalistischen Welt  Bethätigung.  Finden  sie  sie  im  Inlande  wegen 
der  niedrigen  Lebenshaltung  der  Massen  nicht,  dann  wird  der  Export 


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Leo  Verkauf, 


zu  einer  Notwendigkeit,  die  man  durch  Zölle  nicht  aus  der  Welt 
schafft.  Die  gröfsere  wirtschaftliche  Unabhängigkeit  der  Vereinigten 
Staaten  findet  einen  ihrer  Erklärungsgründe  auch  darin,  dal's  die 
Lebenshaltung  der  Arbeiter  eine  unvergleichlich  günstigere  ist  und 
die  Notwendigkeit  zu  exportieren  demnach  später  eintritt,  als  bei 
den  Staaten  des  europäischen  Kontinents.  Auf  dem  Wege  der  Ab- 
schliefsung,  den  uns  die  Agrarier  empfehlen,  ist  eine  Milderung  der 
Unsicherheit  des  ausländischen  Absatzgebietes  sicher  nicht  zu  er- 
reichen. 


V. 

Adolf  Wagner  betont  mit  besonderem  Nachdruck  den  Zu- 
sammenhang der  industriestaatlichen  Entwicklung  Deutschlands  mit 
dem  Bevölkerungsproblem,  ein  Zusammenhang,  der  für  ihn  von  ent- 
scheidender Bedeutung  ist.  Er  bleibt  uns  aber  eine  klare  Antwort 
auf  die  Frage  schuldig,  ob  der  Einflufs  des  Industriestaates  auf  die 
Geburtenhäufigkeit  und  Sterblichkeit  ein  anderer  ist,  als  der  des 
Agrarlandes  oder  des  „richtig  gemischten“  Staates.  Es  ist  kein 
Ersatz  für  diese  empfindliche  Lücke,  wenn  Wagner  behauptet  — 
was  wenige  zur  Gänze  bestreiten  dürften  — dafs  die  starke  Be- 
völkerungszunahme keineswegs  unter  allen  Umständen  etwas  gutes 
sei,  dafs  vielmehr  ein  langsameres  Tempo  der  Vermehrung  manche 
Vorzüge  habe  und  dafs  ein  Volk  mit  einer  mäfsigen  Anzahl  von 
Angehörigen,  bei  grölserer  Tüchtigkeit  und  stärkerer  Autarkie  in 
seinem  Wirtschaftsleben  besser  dastehe,  als  ein  überrasch  sich  ver- 
mehrendes, das  sein  Wirtschaftsleben  auf  Agrarimport  und  Fabri- 
katenexport  begründet.  Auch  der  Wunsch  W a g n e r s nach  Sinken 
der  Geburtenziffer  kann  für  den  Mangel  einer  klaren  Problemstellung 
keinerlei  Ersatz  bieten.  Das  Lob  mäfsiger,  der  Tadel  übermäfsiger 
Bevölkerungssteigerung  mag  begründet  sein  oder  nicht,  hier  handelt 
es  sich  um  den  Nachweis,  dafs  die  industrielle  Entwicklung  eines 
Landes  auf  Geburtenhäufigkeit,  Sterblichkeit  und  Geburtenüber- 
schüsse anders  wirke,  als  der  agrarische  oder  der  „richtig  gemischte" 
Staat.  Man  mufs  Antwort  auf  die  Frage  heischen,  ob  der  propa- 
gierte Agrarschutz  eine  Hemmung  der  übergrofsen  Bevölkerungs- 
zunahme bringen  wird  oder  nicht. 

Der  Ausspruch  Wagners,  dafs  jede  erhebliche  Besserung  der 
Lebensverhältnisse  sofort  wieder  der  Volksvermehrung  starken  Vor- 
schub leiste,  führt  zu  Mifsverständnissen.  Scheinbar  münzt  Wagner 
seine  Behauptung  auf  die  durch  die  industriestaatliche  Entwicklung 


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Agrarschutz  und  Sozialrcform. 


249 


gebesserte  Lebenshaltung.  Er  selbst  erhofft  aber  vom  Agrarschutz 
eine  wesentliche  Besserstellung  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung 
und  zugleich  eine  günstige  Rückwirkung  auf  die  städtische  Arbeiter- 
schaft. Müfste  nicht  auch  diese  auf  eine  starke  Volksvermehrung 
hinwirken  und  ist  es  vom  Standpunkt  des  Bevölkerungsproblems 
nicht  gleichgültig,  ob  das  überrasche  Anwachsen  den  Anstofs 
von  industrieller  oder  landwirtschaftlicher  Reichtumssteigerung  er- 
fährt ? 

Spricht  es  Wagner  auch  nicht  mit  dürren  Worten  aus,  so  geht 
doch  aus  seinen  Ausführungen  hervor,  dafs  er  von  der  Erfüllung 
der  deutschen  I landeis-  und  Wirtschaftspolitik  mit  agrarischen  Ideen 
eine  geminderte  Natalität  oder  eine  gesteigerte  Mortalität,  jedenfalls 
aber  eine  Abnahme  der  Geburtenüberschüsse  erwarte.  Mit  anderen 
Worten : die  industriestaatliche  Entwicklung  mufs  nach  ihm  die 
rasche  Bevölkerungszunahme  fördern,  man  kann  sie  durch  Hemmung 
der  Industrialisierung  aufhalten.  Man  pflegt  zur  Unterstützung  dieser 
Auffassung  auf  Deutschland  und  England  und  deren  rapide  Be- 
völkerungszunahme zu  verweisen.  Im  Deutschen  Reiche  ist  die 
Volkszahl  in  den  3 Quinquennien  1885  — 1900  im  jährlichen  Durch- 
schnitte um  1,07,  1,12  und  1,15  Proz.,  in  England  und  Wales  in 
denselben  Zeitabschnitten  um  0,78,  1,07  und  1,19  Proz.  gewachsen. 
Wir  finden  aller  die  gleiche  Erscheinung  in  agrarischen  Staaten. 
So  betrug  die  jährliche  Zunahme  Rufslands  in  den  Jahren  1879  bis 
1883  1,96  Proz.,  in  den  Jahren  1885  — 1900  1,20  Proz.;  sie  bezifferte 
sich  in  Ungarn  in  den  Jahren  1881  — 1890  mit  1,04  Proz.,  189t  bis 
1900  mit  0,95  Proz.,  während  in  Oesterreich  der  Schwerpunkt  der 
Volkszunahme  gleichfalls  in  seinen  agrarischen  Gebieten  liegt.  Die 
höheren  oder  geringeren  Geburtenüberschüsse  können  im  allgemeinen 
auf  den  vorwiegend  agrarischen  oder  industriellen  Charakter  eines 
Landes,  demnach  nicht  ohne  weiteres  zurückgeführt  werden.  Es 
erscheint  vielmehr  geboten,  die  Komponenten  der  Bevölkerungs- 
bewegung — Geburtenhäufigkeit  und  Sterblichkeit  — einer  geson- 
derten Betrachtung  zu  unterziehen. 

Es  ergiebt  sich  als  erste  Frage : Bewirkt  erfahrungsgcmäfs  die 
Industrialisierung  eines  Landes  eine  merkliche  Erhöhung  der  Ge- 
burtenziffer und  ist  ini  Gegensätze  dazu  den  Staaten  mit  agrarischem 
Charakter  eine  niedrigere  Geburtenziffer  eigen  ? Wir  versuchen  die 
Antwort  aus  dem  kürzlich  in  Conrads  Jahrbüchern  für  National- 
ökonomie und  Statistik  veröffentlichten  Zusammenstellungen  der 
internationalen  Bevölkerungsbewegung  herauszulesen.  * Nach  diesem 


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250 


Leo  Verkauf, 


gewissenhaft  zusatnmengetragenen  Materiale  scheint  die  Geburten- 
ziffer in  Agrarländern  in  Wirklichkeit  eine  höhere  zu  sein,  als  in 
den  Industriestaaten.  Die  höchste  Geburtenziffer  finden  wir  in 
Rufsland,  Serbien,  Ungarn  (39—50  Proz.).  Ihnen  zunächst  kommen 
Oesterreich  und  Deutschland  (35 — 39  Proz.),  an  dritter  Stelle  folgen 
England,  Belgien,  die  Schweiz  und  Frankreich  (22 — 35  Proz.).  Die 
Jahre  der  gröfsten  industriellen  Prosperität  — 1896  — 1900  — zeigen 
fast  durchgehends  ein  Sinken  der  Geburtenziffer,  nicht  wie  man  er- 
warten sollte,  ein  Steigen  derselben.  Das  spricht  nicht  dafür,  dafs 
die  gesteigerte  Industrialisierung  eines  Landes  eine  gesteigerte  Ge- 
burtenhäufigkeit im  Gefolge  haben  mufs. 

Die  erhöhte  Völkerzunahme  der  Industrieländer  mufs  sonach 
auf  die  verminderte  Sterbeziffer  zurückzuführen  sein.  Das  ergeben 
in  der  That  die  den  angeführten  Tabellen  entnommenen  Daten. 
So  ziemlich  überall  machte  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  ein  Rück- 
gang der  Mortalität  geltend,  der  in  den  Industrieländern  am  gröfsten 
war.  Es  läge  die  Annahme  nahe,  dafs  die  Besserung  in  der  Lebens- 
haltung der  Massen  und  die  rationeller  gestalteten  hygienischen 
Einrichtungen  der  Städte,  die  durch  die  Arbeiterorganisationen  er- 
kämpfte verkürzte  Arbeitszeit  zur  Herabdrückung  der  Sterbeziffer 
beigetragen  haben.  Der  Umstand,  dafs  die  geminderte  Mortalität 
auch  in  den  Agrarstaaten  zutage  getreten  ist,  mahnt  zur  Vorsicht. 
In  der  That  verficht  G.  v.  Mayr  die  Auffassung,  dafs  an  der 
momentan  günstigen  Sterblichkeit  wahrscheinlich  eine  vorübergehende 
Konjunktur  der  natürlichen  Lebensbedingungen  erheblichen  Anteil 
habe;  es  könne  daher  auf  eine  unbegrenzte  Fortdauer  nicht  ge- 
rechnet werden,  vielmehr  dürfe  man  auf  die  Fibbe  der  Sterbens- 
intensität eine  Flut  derselben  erwarten. ') 

Mag  nun  die  günstigere  Sterblichkeit  die  Folge  gebesserter 
Lebensverhältnisse  der  Industriearbeiter  sein  oder  nicht,  in  keinem 
Falle  kann  es  einem  Zweifel  unterliegen,  dafs  durch  verschlechterte 
Arbeitsbedingungen  und  ungünstigere  Ernährung  eine  höhere  Mor- 
talität zu  erzielen  ist.  Dagegen  ist  der  Nachweis  bisher  nicht  ge- 
führt worden,  dafs  durch  handelspolitische  Mafsnahmen  auf  die  Ge- 
burtenziffer mit  Erfolg  eingewirkt  werden  kann  oder  dafs  die  N’atalität 
der  industriellen  Bevölkerung  eine  höhere  ist,  als  die  der  agra- 
rischen. In  Deutschland  zeigen  neben  hochindustriellen,  auch  agra- 


*)  Georg  von  Mayr,  Statistik  der  Gescllschaftslebre.  II.  Bd. : Bevölkerung»- 
Statistik.  Kreiburg  i/B.,  1S97,  S.  226. 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


251 


rische  Bezirke  eine  überdurchschnittliche  Geburtenziffer.  Für  Oester- 
reich crgiebt  sich,  dafs  in  den  Jahren  1895 — 1900  auf  die  agrarische 
Bevölkerung  — schwerlich  mehr  als  die  Hälfte  der  Gesamtbevölkerung 
— 56,8  Proz.  aller  Geburten  entfallen  sind.  *) 

Ich  folgere  deshalb,  dafs  durch  die  Industrialisierung  die  Ge- 
burtenziffer nirgends  eine  Steigerung  erfahren  hat.  Sie  ist  in  Agrar- 
ländern, wie  überhaupt  in  Gebieten  mit  ökonomisch  rückständiger 
Bevölkerung,  vielfach  höher,  als  in  industriellen,  weit  vorgeschrittenen 
Staaten.  Dagegen  ist  die  Sterbeziffer  in  den  industriellen  Ländern 
eine  niedrigere,  sie  hat  auch  in  den  letzten  Jahren  ein  fortdauernd 
günstigere  Gestaltung  angenommen.  Die  hohen  Geburtenüberschüsse 
wurden  in  den  agrarischen  Gebieten  regelmäfsig  durch  starke  Natalität, 
in  den  Industrieländern  durch  geringe  Mortalität  bewirkt.  Nicht 
einmal  die  ungünstigsten  wirtschaftlichen  Verhältnisse,  auch  nicht 
der  furchtbarste  Pauperismus  haben  in  Rufsland,  Rumänien,  Galizien 
etc.  eine  starke  Bevölkerungszunahme  verhindert.  Soweit  die  Er- 
fahrung lehrt,  kann  also  von  der  Rückbildung  zum  vorwiegend 
agrarischen  oder  zum  „richtig  gemischten"  Staat  wohl  eine  gesteigerte 
Sterblichkeit,  keineswegs  aber  eine  Senkung  der  Geburtenziffer  erhofft 
werden. 

Dafs  das  stete  Anschwellen  der  Städtebevölkerung  in  Deutsch- 
land, wie  anderwärts,  nicht  dagegen  spricht,  ist  zur  Genüge  bekannt. 
Der  Städtewachstum  ist  ja  nicht  die  Folge  eigener  Geburtenüber- 
schüsse, sondern  stärkerer  Zuwanderung  vom  platten  I^ande.  Schon 
Rohr1)  hat  gezeigt,  dafs  die  deutschen  Grofsstätte  in  den  Jahren 
1885 — 1890  bei  einer  Bevölkerungszunahme  von  952182  Personen 
nur  ein  schwaches  Drittel  — 31336t  — durch  eigene  Geburten- 
überschüsse, den  Rest  durch  Zuzug  aufbrachten.  In  dem  gleichen 
Zeiträume  betrug  die  Steigerung  in  den  Mittelstädten  213012  Per- 
sonen, davon  nur  30,9  Proz.  durch  eigene  Geburtenüberschüsse.  Im 
Verlaufe  von  nur  6 Jahren  sollen  dem  platten  Lande  1 Million 
Menschen  tu  gunsten  der  Städte  entzogen  wTordcn  sein.  YV  i r m i n g - 
haus3)  berechnet  für  die  Jahre  1880 — 1890  die  Zuwanderung  in 


’)  Oesterreich ischc  Statistik.  Bewegung  der  Bevölkerung  der  im  Reichsrate 
vertretenen  Königreiche  und  Länder  im  Jahre  1900.  Bd.  67,  1902. 

*|  Conrad's  Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik.  3.  Folge.  Bd.  II. 
1891 : „Die  Bevölkerung  der  deutschen  Grofs-  und  Mittelstädte". 

*)  Conrad's  Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik.  3.  Folge,  Bd.  IX, 
1895:  „Stadt  und  Land  unter  dem  Einflüsse  der  Binnenwanderungen“. 


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252 


Leo  V* erkauf, 


die  deutschen  Grofsstädte  mit  3 5 13  032,  den  Wegzug  mit  783  733  Per- 
sonen, den  Wandergewinn  mit  2729299  d.  h.  77,67  Proz.  der  Ge- 
burtsbevölkerung  dieser  Städte.  Interessant  ist  die  folgende  Tabelle, 
nach  welcher  in  den  deutschen  Grofsstädten  auf  IOOO  der  mittleren 
Bevölkerung  betragen  hat  in  den  Jahren 

1861 — 64  1864  — 67  1867—71  1871 — 7s  1875—80  1881 — 85  1885 — 90 


Her  Geburten- 
überschufs . 

8,3 

4,3 

6,1 

10,4 

12,6 

9.9 

5.9 

Wanderungs- 
gewinn  . . 

27,4 

17,7 

22,1 

21,7 

12.7 

14,3 

11,9 

Zuwachs 
überhaupt  . 

35.7 

22,0 

28,2 

32,1 

25.3 

24,2 

17,8 

Diese  Entwicklung  hat  seit  dem  Jahre  1890  keinen  Stillstand, 
sie  hat  vielmehr  durch  die  rückläufige  Auswanderungsbewegung 
eine  Verstärkung  erfahren.  ’)  Wie  die  Abwanderung  hatte  auch  die 
Auswanderung  die  Agrarbezirkc  zum  Ausgangspunkt : Westpreufeen, 
Posen,  Pommern  werden  als  die  Auswanderungsherde  bezeichnet. 
So  sicher  es  ist,  dafs  die  Verteilung  der  Bevölkerung  zwischen  Stadt 
und  Land  mit  der  industriellen  Entwicklung  Deutschlands  zusammen- 
hängt, so  wenig  kann  eine  durch  die  Industrialisierung  bewirkte 
Geburtensteigerung  angenommen  werden.  Nichts  spricht  dafür,  dafs 
durch  Rückbildung  zum  Agrarstaat,  also  durch  Agrarschutz,  eine 
Senkung  der  Geburtenziffer  erreicht  werden  würde. 

VI. 

Die  Entvölkerung  des  platten  Landes  durch  Flucht  der  Massen 
aus  der  Landwirtschaft  in  die  Industrie  ist  kein  blofses  Wahngebilde 
der  Agrarier.  Dieser  Entwicklungsgang  zeigt  sich  nicht  allein  in 
der  Abwanderungsbewegung  aus  vorwiegend  agrarischen,  in  vor- 
wiegend industriellen  Provinzen.  Auch  innerhalb  der  Gebiete  agra- 
rischen Charakters  finden  wir  neben  abnehmender  landwirtschaft- 
licher Bevölkerungsquote  eine  Steigerung  der  industriellen.  Einige 
Daten  mögen  diese  Verschiebungen  veranschaulichen.  Pis  betrug 
z.  B.  von  1882  auf  1895 


')  Die  überseeische  Auswanderung  Deutschlands  betrug  1881  — 1885:  885287, 
1S86— 1890:  485036,  1891  — 1895:  402567,  1896—1900:  117309  Personen. 


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Agrarschutz  und  Sozialrcform. 


253 


die  Abnahme  der 

die  Zunahme  der 

agrarischen 

industriellen 

Bevölkerung 

Bevölkerung 

für 

Pc  rs 

0 ne  n 

Ostpreufsen 

. 80  908 

40  2:9 

Westpreufsen  . . . . 

38893 

52837 

Pommern 

42  10S 

54  898 

Posen 

29  738 

79271 

Schlesien 

■ 158756 

332489 

Schleswig-Holstein  . . . 

29857 

85  210 

Hannover 

29  559 

187  530 

Mecklenburg 

13276 

22  12S 

Oldenburg  . . . . , 

6 395 

24  129 

zusammen  . 

. . 429  490 

8S2  7 1 1 

Dem  platten  Lande  sind  nicht  nur  die  Geburtenüberschüsse 
entzogen  worden,  es  konnten  nicht  einmal  die  durch  den  Tod  ge- 
rissenen Lücken  wieder  ausgefüllt  werden,  so  dafs  einem  Defizit  von 
429490  Personen  in  der  Landwirtschaft  ein  Zuwachs  von  882  71 1 Per- 
sonen in  der  Industrie  gegenübersteht.  Der  Landwirtschaft  sind 
dabei  die  jüngeren  rüstigeren  Kräfte  entzogen,  Greise  und  jugend- 
liche Personen  belassen  worden. ') 

Es  ist  darum  nicht  verwunderlich,  dafs  die  Leutenot  vielfach 
die  lauteste  Klage  der  Landwirte  bildet.  Brase'-‘)  erklärt  geradezu, 
der  Arbeitermangel  auf  dem  Lande  erscheine  heute  unendlich 
wichtiger  als  Erbrecht,  Entschuldungsprinzip,  Kreditwesen  und  Zoll- 
politik. Der  Arbeitsmarkt  werde  über  die  weitere  Entwickelung 
der  Landwirtschaft,  über  Sein  oder  Nichtsein  der  Landwirte  ent- 
scheiden. Diese  Auffassung  steht  nicht  vereinzelt  da,  sie  wird  be- 
sonders von  praktischen  I .and wirten  geteilt. 

Wo  sind  die  Ursachen  der  grolsen  Abwanderung  zu  suchen  ? 
Man  bezeichnet  als  solche  den  ungenügenden  Anteil  der  ostelbischen 
Bevölkerung  am  Grundbesitze  und  die  Aussichtslosigkeit,  eine  höhere 
soziale  Stufe  zu  erklimmen,  die  Eigenart  der  Landwirtschaft  unter 

*)  Nach  der  Zählung  von  1895  entfielen  in  Prozenten  auf  die  Altersgruppen 

unter  20  Jahren  20 — 30  Jahre  30 — 50  Jahre  50  Jahre  u.  darüber 
in  d.  Landwirtschaft  22,3  21,2  31,1  25,4 

in  der  Industrie  . 21,9  28,0  35,7  14,4 

„Die  deutsche  Volkswirtschaft  am  Ende  des  XIX.  Jahrhunderts“,  S.  34 — 35. 

*)  „Der  Arbcitsmangel  in  der  deutschen  Landwirtschaft.  Seine  Ursachen  und 
die  Mittel  zur  Abhilfe.“  Schöneberg-Berlin,  F.  Teige,  1901,  S.  4. 


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254 


Leo  Verkauf, 


bestimmten  Verhältnissen  nur  einer  beschränkteren  Menschenzahl 
Beschäftigung  gewähren  zu  können,  insbesondere  das  rasche  Er- 
reichen des  Sättigungspunktes  zur  Bevölkerungsaufnahme  beim 
Grofsgrundbesitz ; das  Meiden  der  unrentablen  Landwirtschaft  durch 
das  Kapital,  die  Unlust  zur  ländlichen  Arbeit,  die  steigende  Wander- 
lust, die  Gesindeordnungen  und  die  schlechte  Behandlung,  die  den 
ländlichen  Arbeitern  zuteil  wird.  Viele  der  angegebenen  Momente 
haben  schon  zu  einer  Zeit  gewirkt,  wo  von  Landflucht  noch  keine 
Rede  war,  wo  im  Gegenteile  auf  dem  Lande  über  Arbeitsmangel 
und  Arbeiterüberflufs  Klage  geführt  wurde.  Man  mufs,  ist  man 
auch  bereit  den  angeführten  Erklärungsversuchen  mehr  oder  minder 
erhebliche  Bedeutung  zuzuerkennen , dennoch  die  entscheidenden 
Gründe  suchen,  die  die  Abwanderungsbewegung  ausgelöst  haben. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  eine  Vorbedingung  für  den  Ab- 
flufs  der  Massen  vom  Lande  mufste  zuerst  vorhanden  sein : eine 
entwicklungsfähige  und  in  rascher  Entwicklung  begriffene  Industrie. 
Hier  ist  der  Punkt,  wo  die  industriestaatliche  Entwicklung  mit  ihrer 
Einwirkung  aul  die  Landwirtschaft  kräftig  einsetzt.  Was  die  über- 
seeische Auswanderung  nur  im  sehr  bescheidenen  Mafse  vermochte, 
das  hat  der  industrielle  Kapitalismus  zustande  gebracht,  er  hat  Raum 
geschaffen  für  das  Abwanderungsbedürfnis  der  ländlichen  Massen. 
Das  vermochte  er,  mehr  aber  nicht.  Es  mufste  noch  ein  un- 
widerstehlicher Antrieb  kommen,  der  die  bodenständige  konservative 
Bevölkerung  des  platten  Landes  in  Bewegung  zu  setzen  und  aus 
der  gewohnten  Beschäftigung  und  Umgebung,  aus  den  traditionellen 
Verhältnissen  zu  treiben  die  Kraft  besafs.  Dieser  Antrieb  kam  und 
wirkt  seit  Jahrzehnten  revolutionierend  auf  die  Verteilung  der  Be- 
völkerung zwischen  Stadt  und  Land,  zwischen  Industrie  und  Land- 
wirtschaft. 

Der  eigenartige  Charakter  und  die  neuere  Entwicklung  des 
landwirtschaftlichen  Gewerbes  geben  den  Schlüssel  zum  Verständ- 
nisse des  Prozesses,  der  zu  den  heutigen  Zuständen  geführt  hat. 
In  der  mitteleuropäischen  Landwirtschaft  fallen  die  wichtigsten 
Arbeiten,  die  im  Freien  verrichtet  werden  müssen,  in  die  wärmere 
Jahreszeit.  Der  Winter  ist  seit  jeher  zur  Durchführung  der  Arbeiten 
benützt  worden,  die  nur  unter  dem  schützenden  Dache  möglich 
sind.  Die  Kürze  des  Tages,  wie  die  rauhe  Witterung  verhindern 
im  Winter  umfangreiche  Arbeiten  im  Felde.  Je  rauher  das  Klima, 
je  kürzer  der  Sommer,  umso  kürzer  auch  die  Vegetationsperiode, 
umso  stärker  das  Zusammendrängen  der  entscheidenden  Wirtschafts- 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


255 


arbeiten  auf  einen  Teil  des  Jahres.  Die  Eigenwirtschaft,  wie  der 
extensive  Betrieb  ermöglichten  trotzdem  die  Herstellung  des  Gleich- 
gewichtes zwischen  dem  Arbeitsbedarf  in  der  Sommer-  und  Winter- 
periode. Schon  der  Rückgang  der  gewerblichen  Eigenproduktion 
der  Landwirte  verschieben  dieses  Gleichgewicht  zu  Ungunsten  des 
Winterbedarfs.  Man  beginnt  über  Mangel  an  Arbeit  in  der  Winter- 
periode, über  zuviel  Arbeitskräfte  zu  klagen.  Das  spielt  sich  unter 
einer  vorwiegend  extensiven  Bodenbewirtschaftung  ab. 

Die  epochemachenden  Forschungen  Liebig’s  ermöglichen  den 
Uebergang  zur  intensiven  Landwirtschaft  und  bewirken  eine  enorme 
Steigerung  der  Anbaufläche,  v.  d.  Goltz  schätzt,  wie  schon  oben 
bemerkt,  die  Brache  zu  Beginn  des  XIX.  Jahrhunderts  auf  25  Proz. 
des  landwirtschaftlichen  Areals,  während  sie  im  Jahre  1893  auf 
5,9  Proz.  gesunken  war.  Die  gestiegene  Anbaufläche,  wie  die 
gröfsere  Menge  an  Arbeit,  die  der  intensive  Betrieb  erfordert,  rufen 
ein  enormes  Wachsen  des  Bedarfes  an  Arbeitskräften  hervor.  Ben- 
sing1)  unternimmt  es,  das  Mafs  dieser  Steigerung  rechnerisch  fest- 
zustellen. Seine  Ziffern  haben  meines  Wissens  bisher  keine  An- 
fechtung erfahren.  Sie  dürfen  hier  wegen  der  charakteristischen  Be- 
leuchtung der  agrarischen  Entwicklung  wiedergegeben  werden. 

Nach  B e n s i n g würde  eine  Wirtschaft  von  60  Hektar  Umfang, 
bei  der  alten  Dreifelderwirtschaft,  573  Männer-  und  1 39  Frauentage 
(Fall  I),  bei  dem  Norfolker  Fruchtwechsel  567  Männer-  und  1048 
Frauentage  (Fall  II)  und  beim  Fruchtwechsel  mit  starkem  Rübenbau 
774  Männer-  und  2405  Frauentage  (Fall  III)  erfordern.  Die  Steigerung 
des  Arbeiterbedarfes  ist  also  eine  gewaltige  und  es  wird  rätselhaft, 
warum  gerade  zur  Zeit  der  Uebergangs  zum  intensiven  Betrieb  die 
Klagen  über  Arbeitsmangel  im  Winter  laut  werden.  Will  man  die 
Wirkung  dieses  Ueberganges  auf  die  Arbeitsverteilung  untersuchen, 
dann  darf  man  nicht  bei  Konstatierung  des  erhöhten  Bedarfes  an 
Arbeitertagen  stehen  bleiben,  man  mufs  Helmehr  prüfen,  wie  sich 
dieser  gesteigerte  Bedarf  auf  die  Sommer-  und  Winterperiode  ver- 
teilt. Es  betrug  das  Erfordernis  an  Arbeitertagen 

im  Sommer  im  Winter 

im  Falle  I 262  450 

im  Falle  11  II 99  416 

im  Falle  III  260S  571. 

*)  „Der  Finflufs  der  landwirtschaftlichen  Maschinen  auf  Volks-  und  Privat- 
wirtschaft*4; Breslau,  Schlcttcr’sche  Buchhandlung,  S.  98. 


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256 


Leo  Verkauf, 


Nimmt  man  nach  Bensing  die  sommerliche  Arbeitsperiode  mit 
180,  die  winterliche  mit  120  Tagen  an,  so  ergibt  sich  ein  durch- 
schnittlicher Tagesbedarf  an  Arbeitern 

im  Sommer  im  Winter  Winter  gegen  Sommer 
im  Falle  I i ,45  3*75  + 2.30 

im  Falle  II  6,66  3,47  — 3,19 

im  Falle  III  14,49  4,76  — 9,73 

Das  Bedeutsame  ist  jetzt  nicht  allein  die  Steigerung  des  Be- 
darfs an  Arbeitskräften,  sondern  auch  die  Thatsache,  dafs  diese 
Steigerung  sich  fast  zur  Gänze  auf  die  Sommerperiode  beschränkt, 
wodurch  der  Abstand  zwischen  Sommer-  und  Winterbedarf,  sowie 
das  Ueberwiegen  des  ersteren  immer  gröfseren  Umfang  annimmt.  Bei 
der  Dreifelderwirtschaft  giebt  der  Ackerbau  im  Winter  mehr  Arbeit 
als  im  Sommer,  beim  Fruchtwechsel  tritt  eine  Umkehrung  dieses 
Verhältnisses  ein.  Kommt  noch  Rübenbau  hinzu,  so  erfolgt  eine 
Vcrzchnfachung  des  Sommerbedarfes  neben  einer  kaum  nennens- 
werten Zunahme  des  Erfordernisses  im  Winter.  Es  entspricht  der 
Wahrheit,  wenn  behauptet  wird,  dafs  die  Intensifikation  des  Acker- 
baues eine  gewaltige  Steigerung  des  Arbeiterbedarfes  bewirkt  hat. 
Sie  hat  aber  diese  Steigerung  nur  für  die  Sommerperiode  herbei- 
geführt, während  sie  gleichzeitig  für  den  Winter  eine  Armee  über- 
schüssiger Hände  schuf.  Der  intensive  Betrieb  hat  die 
Landwirtschaft  zu  einem  Saisongewerbe  gemacht  und 
eine  agrarische  Reservearmee  auf  dem  platten  Lande 
für  den  Winter  geschaffen. 

Die  Wirkungen  dieser  Umgestaltung  der  Arbeitsverteilung  wurden 
von  den  Landarbeitern  seit  Jahrzehnten  bitter  empfunden.  Nach 
v.  d.  Goltz1)  war  besonders  die  Situation  der  Einlieger  eine  un- 
günstige, umso  ungünstiger,  je  länger  der  Winter  dauerte,  daher 
am  schlimmsten  im  Norden  und  Osten.  In  manchen  Gegenden 
fanden  sie  auch  im  Winter  fortdauernde  Arbeit.  Als  Regel  durfte 
jedoch  gelten,  dafs  die  Einlieger  während  der  rauhen  Jahreszeit 
nicht  soviel  verdienten,  um  ihre  Lebensbedürfnisse  in  angemessener 
Weise  befriedigen  zu  können.  War  es  unmöglich , im  Sommer 
etwas  zurückzulegen,  so  mufste  man  im  Winter  darben.  Kam  gar 
noch  Mifswachs  oder  Krankheit  dazu,  dann  erreichte  die  Not  einen 
hohen  Grad.  Sobald  sich  die  erste  Gelegenheit  dazu  bietet,  er- 

J)  „Die  ländliche  Arbeiterfrage  und  ihre  Lösung“.  Danzig,  Kafcmann,  S.  44. 


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Agrarschutz  und  Sozialrcform. 


257 


greifen  die  Landarbeiter  vor  dem  regelmäfsigen  VVintergaste,  dem 
Hunger,  die  Flucht.  Dieser  Prozefs  wird,  wie  schon  oben  angedeutet, 
durch  den  Uebcrgang  von  der  geschlossenen  Hauswirtschaft,  der 
Eigenproduktion  gewerblicher  Erzeugnisse,  zum  Ankauf  derselben 
verstärkt1) 

Allmählich  verschwinden  die  Klagen  über  mangelnde  Winter- 
beschäftigung, es  treten  an  ihre  Stelle  die  Beschwerden  über  den 
Leutemangel  in  der  Sommerperiode.  Setzen  sich  die  Landarbeiter 
gegen  die  regelmäfsig  wiederkehrende  Wintersnot  durch  Entlaufen 
in  die  Städte  zur  Wehr,  so  greifen  die  Landwirte  gegen  ihre 
Sommersnot  zur  arbeitsparenden  Maschine.  Wohl  begegnet  man 
noch  der  Behauptung,  die  Maschine  steigere  nur  den  Bedarf  an 
Arbeitskräften.  Man  versucht  auch  den  Nachweis,  die  Maschinen- 
arbeit mache  nur  für  bestimmte  Oertlichkeiten  und  für  eine  Ueber- 
gangszeit  Handarbeit  überflüssig.  Daneben  wird  auch  die  Ansicht 
verfochten,  die  Maschine  erspare  lediglich  den  durch  die  intensive 
Wirtschaft  gesteigerten  Arbeiterbedarf,  der  sonst  unbefriedigt  bliebe, 
die  agrarische  Bevölkerung  des  Jahres  1882  hätte  gerade  genügt, 
um  den  Boden  nach  der  alten  Dreifelderwirtschaft  zu  bebauen.*) 
< legen  die  letztere  Annahme  spricht  die  Thatsache,  dafs  im  Jahre 
1883  die  Brache  nur  mehr  7 Proz.  betrug,  die  intensive  Kultur  also 
sehr  weit  vorgeschritten  war,  während  die  Maschinen  erst  in  be- 
scheidenem Umfange  in  Verwendung  standen.  Es  scheint  mir  aber 
vorerst  gleichgültig,  ob  die  landwirtschaftlichen  Maschinen  vorhandene 
Arbeitskräfte  überflüssig  machen  oder  fehlende  Kräfte  ersetzen.  Die 
arbeitsparende  Wirkung  der  wichtigsten  landwirtschaftlichen  Ma- 
schinen steht  unanfechtbar  fest.  Auch  hierfür  sind  die  Berechnungen 
Bensing’s,  die  von  anderer  Seite  Bestätigung  gefunden  haben,  von 
überzeugender  Kraft.  Sie  sind  von  so  grofsem  Interesse,  dafs  ich 
das  Endergebnis  hier  wiederhole.  Bei  einem  Wirtschaftsareale  von 
310  Hektar  wären  bei  ausschliefslichcr  Verwendung  von  Handarbeit 
5242  Männer-  und  8052  Frauentage,  sowie  eine  Lohnsumme  von 
17525  Mark  erforderlich.  Bei  Einführung  der  gebräuchlichen  Maschinen 
und  Legung  einer  Feldbahn  vermindert  sich,  wie  im  einzelnen  be- 
rechnet wird,  das  Erfordernis  auf  3717  Männer-,  4228  Frauentage 


*)  Gegenüber  der  Steigerung  des  Arbeitsbedarfes  mag  die  Flurbereinigung  ein 
Gegengewicht  gebildet  und  die  Steigerung  um  etwas  vermindert  haben.  Siehe 
Fohle  a.  a.  O.  S.  44  u.  48. 

f)  Brase  a.  a.  O.  S.  62.  Bensing  a.  a.  Or.  S.  12  ff. 

Archiv  fiir  ior.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  17 


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258 


Leo  Verkauf, 


und  eine  Lohnsumme  von  9262  Mark.  An  Details  sei  aus  der» 
Berechnungen  hervorgehoben,  dafs  die  Benützung  des  Göpelbetriebes 
die  für  die  Viehhaltung  erforderlichen  Männertage  von  1184  auf 
220  herabsetzt.  Die  Getreidemähmaschine  drückt  den  Bedarf  von 
je  180  Männer-  und  Frauentagen  auf  45  Männertage  herab.  Bei 
Benützung  der  Grasmähmaschine,  des  Heuwenders  und  Heurechens 
sinkt  das  Erfordernis  von  624  Männer-  und  1400  Frauentagen  auf 
197  Männertage. 

Entscheidende  Bedeutung  kommt  aber  auch  hier  meines  Er- 
achtens dem  Umstande  zu,  dafs  die  Maschine  dem  Saisoncharakter 
des  landwirtschaftlichen  Gewerbes,  den  die  Intensifikation  des  Be- 
triebes geschaffen  hat,  weiter  verschärft  Dies  gilt  vor  allem  von 
der  Dreschmaschine,  die  den  Flegeldrusch  ersetzt  und  dadurch  den 
Winterbedarf  an  Arbeitern  für  den  Ackerbau  fast  auf  Null  herab- 
drückt. So  erklärt  es  sich,  wenn  v.  d.  Goltz  nicht  müde  wird, 
immer  und  immer  wieder  darauf  hinzuweisen,  dafs  die  Dresch- 
maschine bei  all  ihrer  Nützlichkeit  für  den  Grundbesitzer  einen  un- 
heilvollen Einflufs  auf  die  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  ausübe. 
Zur  Abwanderung  nach  den  Städten  und  Industriebezirken  habe 
dieser  Umstand  in  zahlreichen  Fällen  die  Hauptveranlassung  geboten. 
Von  einer  beschränkteren  Anwendung  der  Dresch-,  besonders  der 
Dampfdreschmaschine  sei  die  Erhaltung  zahlreicher  Arbeitskräfte 
auf  dem  Lande  auch  für  den  Sommer  zu  erhoffen.  Der  Drescher- 
lohn habe  früher  in  günstigeren  Jahren  wenigstens  so  viel  Korn 
geliefert,  dafs  eine  Arbeiterfamilie  genug  Brot  für  das  ganze  Jahr 
hatte.1) 

Welch  grofee  Bedeutung  der  Beseitigung  des  Flegeldrusches 
zukommt,  ergibt  folgende  Berechnung.  Nach  Bensing  drischt  ein 
tüchtiger  Arbeiter  mit  dem  Flegel  in  10  Stunden  zirka  150  kg  Ge- 
treide, so  dafs  zum  Ausdreschen  von  10000  kg  66,6  Mann  erforder- 
lich sind.  Eine  mittclmäfsige  Dampfdreschmaschine  leistet  bei  einer 
Bedienung  von  20  Leuten  in  10  Stunden  10000  kg,  woraus  sich 
eine  Ersparnis  von  mehr  als  zwei  Drittel  der  bei  dem  Flegeldrusch 
erforderlichen  Arbeitskräfte  ergibt.  Im  Jahre  1895  hatten  259564 
landwirtschaftliche  Betriebe  Dampfdrusch  eingefiihrt.  Ich  berechne 
die  landwirtschaftlich  benützte  Fläche  dieser  Betriebe  mit  etwa 
8400000  Hektar,  demnach  mit  25  Proz.  der  gesamten  Ackerfläche. 

„Die  ländliche  Arbeiterklasse  und  der  preufsischc  Staat“.  S.  144.  Hand- 
wörterbuch der  Staatswissenschaften.  2.  Aufl.,  Bd.  VI,  S.  476. 


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Agrarschutz  und  Sozialreform. 


259 


Berechnet  sich  der  deutsche  Körnerertrag  mit  185  Millionen  Meter- 
zentner, so  entfallen  auf  die  Dampfdruschbetriebe  hiervon  46  Milli- 
onen Meterzentner.  Das  bedeutet  beim  Flegeldrusch  ein  Erfordernis 
von  über  30  Millionen  Arbeitstagen,  daher  beim  Dampfdrusch  eine 
Ersparnis  von  20  Millionen  Tagen.  Dabei  bleibt  die  weitere  Er- 
sparnis durch  die  sonstigen  Dreschmaschinen,  die  im  Jahre  1895 
in  596869  Betrieben  in  Verwendung  standen,  völlig  aufser  Betracht. 
Ware  es  möglich,  den  gesamten  Körnerertrag  mittels  Dampfdrusch 
zu  verarbeiten,  so  würde  die  Ersparnis  auf  80  Millionen  Arbeitstage 
wachsen. 

Das  scheint  mir  jedoch  nicht  die  wichtigste  Wirkung  des 
Maschinendrusches  zu  sein,  die  arbeitsparende  Eigenschaft  hat  er 
mit  anderen  Maschinen  gemein.  Die  Drescharbeit  war  aber  bisher 
die  wichtigste  Winterarbeit.  In  der  Berechnung  Bensing's  entfallen 
in  der  Winterperiode  von  den  1550  Männer-  und  432  Frauentagen 
nicht  weniger  als  1440  Männer-  und  52  Frauentage  auf  die  Dresch- 
arbeit. Die  Wirkung  der  Dreschmaschine  ist  also  eine  Verschärfung 
des  Saisoncharakters  der  Landwirtschaft,  eine  Vergröfserung  der 
durch  die  intensive  Wirtschaft  geschaffenen  Wintersnot. 

Nach  Gustav  Fischer  macht  jeder  Maschinendreschtag  47  Winter- 
arbeitstagc  überflüssig.  Beim  Handdrusch  entfallen  noch  30  Proz. 
der  Männertagc  auf  die  Winterperiode,  bei  Einführung  des  Maschinen- 
drusches nur  wenig  über  4 Proz.  Die  Männerarbeit  ist  damit  beim 
Ackerbau  für  den  Winter  förmlich  ausgeschaltet.  Wird  die  Zahl 
der  Dreschtagc  beim  Handdrusch  für  sämtliche  landwirtschaftlichen 
Betriebe  mit  120  Millionen  angenommen,  so  stellt  das  die  Zahl  der 
Tage  dar,  um  welche  der  Winterbedarf  bei  allgemeiner  Einführung 
des  Maschinendrusches  sich  vermindern  würde.  Die  Winterperiode 
mit  120  Arbeitstagen  gerechnet,  bedeutet  das  einen  Minderbedarf 
von  1 Millon  Vollarbeiter.  Schon  heute  hat  die  Einführung  des 
Maschinendrusches  die  Winterarbeitstage  um  30  Millionen,  die  Zahl 
der  Vollarbeiter  um  250000  vermindert.  Von  1882  auf  1895  hat 
sich  die  Zahl  der  Dampfdruschbetriebe  von  75690  auf  259364,  die 
der  sonstigen  Maschinendruschbrtriebe  von  298367  auf  596869  er- 
höht Schon  das  Wachsen  des  Dampfdrusches  hat  in  der  W'inter- 
periode  21  Millionen  Arbeitstage  und  175000  Vollarbeiter  über- 
flüssig gemacht. 

Dabei  ist  der  Prozeis  der  Ersetzung  des  Flegeldrusches  durch 
Maschinendrusch  noch  nicht  weit  vorgeschritten.  Im  Jahre  1882 
hatten  erst  7,1  Proz.,  im  Jahre  1895  15,4  Proz.  der  landwirtschaft- 

17* 


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2ÖO 


Leo  Verkauf, 


liehen  Betriebe  den  Uebergang  vollzogen.  Auch  wenn  alle  vor- 
handenen Schwierigkeiten  berücksichtigt  werden,  unterliegt  es  keinen. 
Zweifel,  dafs  der  gröfsere  Teil  der  Körnerbau  treibenden  Landwirte 
in  absehbarer  Zeit  zum  Maschinendrusch,  vielleicht  mit  Hilfe  der 
Elektrizität  übergehen  werden.  Gustav  Fischer  erklärt  geradezu, 
es  hiefse  Eulen  nach  Athen  tragen,  wollte  man  erst  den  Nachweis 
erbringen,  dafs  die  Dreschmaschine  für  Betriebe  bis  auf  sehr  geringe  , 
Gröfsen  hinauf,  mit  Vorteil  zu  benützen  sei. 

Der  Entwicklungsfähigkeit  der  anderen  landwirtschaftlichen  Ma- 
schinen stehen  vielfache  Hindernisse  im  Wege:  Ungunst  des  Terrains, 
Bodenzersplitterung,  kurze  Benutzungsdauer,  Düngerbedarf,  die  öko- 
nomische Rückständigkeit  vieler  I .and wirte.  Dennoch  unterliegt 
es  keinem  Zweifel,  dafs  die  Maschinenbenützung  bei  der  I and  Wirt- 
schaft erst  am  Beginne  der  Entwicklung  sich  befindet  und  grofse 
Ausdehnungsfähigkeit  besitzt.  Die  Betriebsgröfsen,  bis  zu  welchen 
Maschinen  mit  Nutzen  zur  Verwendung  gelangen  können,  sollen 
hinunter  bis  zu  den  Kleinbetrieben  reichen.  Dabei  wird  der  Ma- 
schine auch  noch  die  Aufgabe  zuerkannt,  die  Landwirte  von  den 
Arbeitern  unabhängiger  zu  machen  und  sie  in  die  läge  zu  ver- 
setzen „übertriebene“  Lohnforderungen  abzuweisen,  ein  neuer  An- 
trieb zu  ihrer  rascheren  Einführung. 

Das  Ergebnis  der  Untersuchung  gipfelt  in  zwei  Thatsachen : 

Vor  allem  steht  fest,  dafs,  wenn  man  von  der  Leutenot  auf  dem 
lande  spricht,  dies  nicht  etwa  bedeutet,  die  Landwirtschaft  leide 
das  ganze  Jahr  hindurch  unter  dem  Arbeitermangel.  Vielmehr 
herrscht  in  der  Winterperiode  schon  jetzt  und  wird  in  Zukunft  im 
steigenden  Mafse  Arbeitsmangel  herrschen.  Der  I andwirtschaft  ist 
mit  einem  stabilen,  das  ganze  Jahr  beschäftigten  Arbeiterstock  nicht 
zu  helfen,  sie  bedarf  eines  reichen  Reservoirs,  aus  dem  sie,  den 
stark  wechselnden  jeweiligen  Erfordernissen  entsprechend,  Arbeits- 
kräfte in  der  Sommerperiode  für  Wochen,  Tage,  ja  selbst  für 
Stunden  schöpfen  könnte.  Der  Leutenot  ist  demnach  nur  durch 
Beistellung  einer  zahlreichen  agrarischen  Reservearmee  beizukommen. 
Daher  auch  die  Vorliebe  für  „freie“  Arbeiter,  der  steigende  Bedarf 
an  Sachsengängern,  die  nach  beendeter  Arbeit  einfach  ihrem  Schick- 
sal überlassen  werden  können.  Dazu  tritt  die  zweite  Thatsache, 
dafs  die  fortschreitende  Intensifikation  des  Betriebes  und  die  Aus- 
breitung des  Maschinendrusches  den  Saisoncharakter  der  Landwirt- 
schaft, damit  aber  auch  das  Gebiet  der  Wintersnot  geschaffen  hat, 
die  immer  neue  Flüchtling  in  die  Städte  treibt,  solange  dort  eine 


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Agrarschutz  und  Sozialrcform. 


261 


in  Ausdehnung  begriffene  Industrie  die  herbeiströmenden  Scharen 
aufzunehmen  bereit  ist.  Die  wohlgemeinten  Ratschläge  v.  d.  Goltz 
werden  an  diesem  Zustande  nichts  ändern.  Die  Maschinenarbeit 
bietet  so  grofee  Vorteile  und  die  Verbilligung  der  Produktionskosten 
ist  zu  sehr  eine  Lebensfrage  für  die  deutsche  Landwirtschaft,  als 
da£s  hier  heute  eine  Halt  möglich  wäre.  Brackhaus  berechnet 
die  Produktionskosten  der  preufsischen  Landwirtschaft  mit  7470,4 
Millionen  Mark,  wovon  nahezu  die  Hafte  auf  Arbeitslöhne  ent- 
fallen sollen.  Hier,  wie  an  den  Gespannkosten  zu  sparen,  sei  vor 
allem  durch  Maschinenarbeit  möglich.  Der  Triumphzug  der  land- 
wirtschaftlichen Maschinen  wird  auch  aus  diesem  Grunde  so  wenig 
aufzuhalten  sein,  als  die  steigende  Benützung  von  Dampf  und  Elek- 
trizität in  der  Industrie.  Damit  scheint  aber  das  Schicksal  der 
I .and Wirtschaft  als  Saisongewerbe  besiegelt  und  so  eine  stete  Quelle 
der  Vertreibung  der  Landarbeiter  in  die  Städte  geschaffen.  Brack  - 
haus  scheut  sich  nicht  aus  diesem  Sachverhalt  die  Konsequenzen 
zu  ziehen.  Er  sieht  den  einzigen  Ausweg,  um  nicht  an  der  Durch- 
führung der  unvermeidlichen  Arbeitsteilung  durch  die  Notwendig- 
keit gehindert  zu  werden,  die  Arbeiter  durch  das  ganze  Jahr  zu 
beschäftigen,  in  den  Wanderarbeitern.  Er  ist  bereit  selbst  die  Ge- 
fahr in  den  Kauf  zu  nehmen,  dafs  durch  sie  die  „sozialistischen 
Irrlehren“  auf  dem  Lande  verbreitet  werden. ')  Auch  die  deutschen 
Landwirte  neigen  dieser  Auffassung  zu.  Die  Zahl  der  Sachsen- 
gänger ist  demgemäfs  stark  gewachsen.  Kärger4)  schätzt  sie  im 
Jahre  1889  mit  75000,  v.  d.  Goltz  IO  Jahre  später  mit  2 — 300000. 
Nötigt  die  Landflucht  zur  Verwendung  von  Sachsengängern,  so  ver- 
stärkt diese  wieder  die  Abwanderung,  indem  sie  auch  im  Sommer 
die  Arbeitsgelegenheit  für  die  einheimischen  Arbeiter  vermindert. 

Aus  der  von  1882 — 1895  gestiegenen  Gesindehaltung  folgert 
Rauchberg*),  dafs  die  Klagen  über  Dienstbotenmangel  nicht 

*)  Conrad  s Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik.  3.  Folge,  Bd.  8, 
S.  365  »•  374- 

*)  „Die  Sachsengängerci.“  Berlin,  Paul  Parey,  1890.  S.  257. 

*)  Es  betrug  die  Zahl  der 

1882  1895 

Knechte  973258  1068096  (-(-  94  838  = 9,7  Proz.) 

Mägde  615830  65078g  (+34939  = 5,7  „ 

zusammen  1589088  1 718885  (+129  797  = 8,2  Proz.) 

Rauch b erg,  in  diesem  Archiv,  Bd.  XIV,  S.  639. 


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2Ö2 


Leo  V erkau  f, 


ganz  begründet  seien.  Ich  schliefse  im  Gegenteil  daraus,  dafs  die 
Landwirte  vielfach  zur  Gesindehaltung  auch  dort  genötigt  sind,  wo 
ökonomisch  für  sie  die  Taglöhnerarbeit  vorzuziehen  wäre. 

Wo  und  wann  die  Entwicklung  der  deutschen  Landwirtschaft 
zum  Saisongewerbc  Halt  machen  wird,  oder  ob,  wenigstens  in  den 
Gebieten  des  Grofsgrundbesitzes,  mit  der  Entstehung  amerikanischer 
Zustände  gerechnet  werden  mufs,  läfst  sich  kaum  Vorhersagen,  da 
die  gegen  einander  wirkenden  Kräfte  nicht  abschätzbar  sind.  Jede 
industrielle  Krise  verringert  die  Gelegenheit  zur  Landflucht,  ver- 
gröfsert  die  argrarische  Reservearmee,  ermöglicht  damit  die  1 lerab- 
drückung  der  Löhne  und  verzögert  so  in  etwas  den  Uebcrgang  zur 
Maschinenarbeit.  Steigt  die  Abwanderung  durch  industriellen  Auf- 
schwung und  nötigt  dadurch  zur  Steigerung  des  I .ohnes,  so  be- 
schleunigt dies  wieder  die  Ersetzung  der  Hand-  durch  Maschinen- 
arbeit. 


VH. 

Cianz  anders  erklären  die  Agrartheoretiker  die  Massenlandflucht. 
Nach  Moritz  Naumann  hätten  die  Thatsachcn  gezeigt,  dafs  mit 
fallenden  Getreidepreisen  sich  überall  die  Zahl  der  Landarbeiter  ver- 
mindert habe.  Es  folgert  daraus,  dafs  erhöhte  Getreidepreise  eine 
Vermehrung  des  Arbeiterbedarfes  in  der  Landwirtschaft  zur  Folge 
haben  müfsten.  Die  Höhe  der  Getreidepreise  sei  demnach  nicht 
blofs  für  die  Grundbesitzer  von  Bedeutung:  Auch  für  die  landwirt- 
schaftlichen Arbeiter  hänge  von  angemessenen  Agrarzöllen  das  Ver- 
bleiben bei  ihrem  Berufe  ab,  weitgehender  Preisdruck  nötige  sie, 
sich  einer  nichtagrarischen  Beschäftigung  zuzuwenden. ') 

Adolf  Wagner  neigt  der  Ansicht  zu,  dafs  durch  gesteigerte 
Rentabilität  des  Ackerbaues  eine  Entlastung  des  städtischen  Arbeits- 
marktes eintreten  werde.  Er  meint  offenbar,  dafs  die  Landwirt- 
schaft dann  nicht  gezwungen  sein  werde,  die  Agrarbevölkerung 
in  die  Industrie  abzustofsen.  -)  Pohle,  der  auf  Grund  der  Ergeb- 
nisse der  Agrarstatistik  der  landwirtschaftlichen  Technik  ein  glän- 
zendes Zeugnis  ausstellt,  erwartet  für  die  Zukunft  als. Wirkung  un- 
günstiger Getreidepreise,  dafs  viele  Landwirte  zur  Herabdrückung 
der  Produktionskosten  die  Ausgaben  für  Dünger  und  Bodenbestellung 

’)  „Korn/.oll  und  Volkswirtschaft.“  Eine  Streitschrift  von  Moritz  Naumann, 
Leipzig  1901.  I)uncker  und  llumblot,  S.  26 — 27. 

*)  a.  a.  ().  S.  4t,  97. 


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Agrarschulz  und  Sozialrcfortn. 


263 


«inschränken  würden.  Manche  Betriebe  würden  den  Getreidebau 
überhaupt  einstellen.  Mit  dem  Rückgang  der  inländischen  Körner- 
produktion müsse  sich  aber  der  Bedarf  an  Arbeitskräften  verringern.1) 

Nach  D i e h 1 bewirken  niedrige  Getreidepreise  häufige  Brot- 
losigkeit der  Landarbeiter,  da  bei  verminderten  Preisen  viele  Leute 
nicht  mehr  beschäftigt  werden  können.  *) 

Der  Gedanke,  der  dieser  Argumentation  zugrunde  liegt,  läfst 
sich  also  dahin  zusammenfassen:  Heute  nötigt  die  Unrentabilität 
des  Körnerbaues  zur  Einschränkung  desselben,  zur  Entlassung  von 
Arbeitern  und  zur  Abwanderung.  Getrcidezöllc  von  entsprechender 
Höhe  würden  mit  gesteigerter  Rentabilität  einen  Ansporn  zum  ver- 
mehrten Getreidebau  bilden,  die  1 .andwirtschaft  wäre  dadurch  in 
die  Lage  versetzt,  einer  grölseren  Arbeiterzahl  Beschäftigung  zu 
bieten  und  damit  die  Landflucht  einzudämmen. 

Wenn  anders  die  Erfahrungen  der  Vergangenheit  mehr  Gewicht 
beanspruchen  dürfen,  als  Prophezeiungen  für  die  Zukunft,  dann  mufs 
die  obige  Argumentation  mit  der  Erage  stehen  und  fallen:  Haben 
die  sinkenden  Preise  bisher  eine  Abnahme  der  Anbaufläche  oder 
des  auf  die  Flächeneinheit  entfallenden  Rohertrages  in  Deutschland 
herbeigeführt  oder  nicht?  Die  Antwort  lautet  nicht  nur  für  das 
XIX.  Jahrhundert  als  Ganzes,  sondern  auch  für  die  letzten  zwei  De- 
zennien desselben,  der  Zeit  der  gröfsten  Preisdepression,  verneinend, 
wie  wir  zum  Teil  schon  oben  gesehen  haben.  Prüfen  wir  die  Tliat- 
sachen  noch  näher. 

Nach  D a d e !1)  stellt  sich  die  Preisentwicklung  für  die  Tonne 
Getreide  in  Mark  wie  folgt: 

Preufsen  Bayern 


Periode 

Weizen 

Koggen 

Weizen 

Roggen 

1870—79 

222 

169 

244 

'79 

1880 — 89 

185 

'54 

210 

l66 

I 890 — 99 

169 

‘47 

184 

156 

Wären  die  agrarischen  Behauptungen  richtig,  dann  müfstc  mit 
Ende  der  70  er  Jahre  ein  Rückgang  der  Anbaufläche,  eine  Vermin- 
derung der  intensiven  Bodenbewirtschaftung  und  des  Rohertrages 
begonnen  und  sich  bis  heute  fortdauernd  verschärft  haben,  ln 

')  a.  a.  O.  S.  174. 

*)  a.  a.  O.  S.  37. 

’)  Schriften  des  Vereins  für  Sorialpolilik.  Bd.  9!,  S.  19. 


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264 


Leo  Verkauf, 


Wirklichkeit  ist  nichts  von  all  dem  eingetreten.  Es  betrug  die  An- 
baufläche in  1000  Hektar  für 


Weizen 

Roggen 

1878 

2,217 

5.935 

1885 

2,294 

5.*42 

1886—90 

2,306 

5,824 

1891—95 

2,308 

5,822 

1896—99 

2,283 

5.941 

Conrad  zieht  aus  diesen  Zahlen  den  Schlufs,  dal's  trotz  der 
ungünstigen  Preise  ein  Rückgang  der  Anbaufläche  nicht  stattge- 
funden habe.  Der  Getreidebau  habe  seine  alte  Bedeutung  voll- 
ständig bewahrt,  indem  auf  denselben  in  den  Jahren 

1878  — 59,79  I’roz. 

1883  — 60,06  „ 

1893  — 60,94  n 

der  bebauten  Fläche  entfielen.  *)  Auch  der  Ernteertrag  hat  keine 
Verminderung,  vielmehr  eine  starke  Zunahme  aufzuweisen,  wobei 
freilich  die  Daten  der  Erntestatistik  mit  Vorsicht  zu  gebrauchen 
sind.  Pohle,  der  von  der  sinkenden  Rentabilität  des  Körnerbaues 
einen  Rückgang  der  intensiven  Kultur  befurchtet,  ist  doch  genötigt 
hervorzuheben,  wie  grofs  die  Ertragssteigerung  nicht  allein  im  letzten 
Jahrhundert,  sondern  in  der  Zeit  der  Preisdepression  gewesen  ist. 
Private,  wie  öffentliche  Nachweisungen  bestätigen  dies.  *)  Man  inufs 
deshalb  zustimmen,  wenn  Conrad  erklärt,  das  wichtigste  Ergebnis 
der  Statistik  sei  die  Thatsache,  dafs  die  Landwirte  trotz  der  nie- 
drigen Preise  es  nicht  für  angezeigt  gehalten  haben,  den  Getreidebau 
einzuschränken.  Das  gilt  für  die  Anbaufläche,  wie  für  das  Mafs  der 
intensiven  Wirtschaft. 

Dieses  Ergebnis  wird  jedem  verständlich  sein,  der  die  Dinge 
nicht  durch  die  agrarische  Brille  betrachtet.  Bei  sinkender  Rentabilität 
des  Körnerbaues  steht  dem  Landwirte  theoretisch  nicht  blofs  der 
Weg  offen,  durch  verminderte  Intensität  oder  gar  durch  völliges 
Aufgeben  des  Getreidebaues  auf  ungünstigem  Boden,  die  Produk- 
tionskosten herabzudrücken.  Statt  der  Rückkehr  zur  extensiven 
Wirtschaft  ist  unter  gegebenen  Voraussetzungen  ein  Fortschreiten 

*)  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik.  Bd.  90,  S.  148. 

*)  Man  vergleiche  die  Nachweisungen  für  einzelne  Güter  bei  Conrad  a.  a.  O. 
S.  152  und  Pohle  a.  a.  O.  S.  26. 


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Agrarschutz  und  Sozialrcform. 


265 


in  der  Richtung  erhöhter  Intensität,  d.  h.  Mehrverwendung  von 
Dünger,  Ersatz  der  Hand-  durch  Maschinenarbeit,  Beseitigung  un- 
ökonomischer Methoden  und  dergleichen  möglich.  Es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  dafs  in  allen  diesen  Richtungen  auch  heute  noch 
und  für  lange  Zeit  viel  zu  thun  übrig  bleibt.  Es  ist  aber  ebenso 
sicher,  dafs  dasjenige,  was  bisher  geleistet  wurde,  nicht  gering  ge- 
schätzt werden  darf.  Vor  allem  ist  da  anzuführen,  dafe  gerade  in 
den  Jahren  der  Preisrückgänge  die  Ackerweide  und  Brache  absolut, 
wie  relativ  an  Bedeutung  verloren  haben.  Es  entfielen  auf  dieselbe 
Hektar  in  den  Jahren 

1883  — 3 33*>  830  = 1 2,7  Proz.  der  Fläche  des  Acker-  und  Gartenlandes 

1893  — 2760350=10,5  „ „ „ „ „ „ „ 

1900—2285740=#  8,7  „ „ „ „ „ 

Auch  die  grofse  Steigerung  der  Maschinenbenützung  spricht  nicht 
für  eine  Rückkehr  zur  extensiven  Bodenbewirtschaftung.  Einen 
Teil  der  Daten  für  die  Jahre  1882  und  1895  haben  wir  schon  an- 
geführt. Die  Entwicklung  ist  seit  dem  Jahre  1895  nicht  stille  ge- 
standen. Brasc  versichert  z.  B. , dafs  in  Insterburg  der  grofse 
Umschwung  im  Maschinenhandel  erst  im  Jahre  1896  eintrat,  indem 
die  Nachfrage  nach  landwirtschaftlichen  Maschinen  rapid  stieg.  ’) 
Die  verbesserten  Arbeitsmethoden  wirken  nicht  blofs  arbeitsparend, 
sondern  auch  ertragssteigernd.  Durch  die  Benützung  der  Drill- 
maschine ist  eine  erhebliche  Ersparung  an  Saatgut  — nach  Bensing 
um  20  Proz.  — zu  erzielen.  Während  beim  Flcgeldrusch  20  Proz. 
der  Körner  im  Stroh  bleiben,  verringert  sich  der  Verlust  beim 
Göpeldrusch  auf  10  Proz.,  beim  Dampfdrusch  auf  5 Proz.1) 

In  Wirklichkeit  hat  also  trotz  der  gesunkenen  Preise  die  Anbau- 
fläche nicht  ab-,  der  Ernteertrag  sicher  zugenommen.  Daneben  ist 
die  Agrarquote  im  unaufhaltsamen  Sinken  begriffen.  Kann  dies  mit 
der  verringerten  Rentabilität  des  Getreidebaues  in  der  Weise  Zu- 
sammenhängen, wie  es  die  Agrarier  behaupten  ? Da  der  Getreidebau 
sich  nicht  vermindert  hat,  ist  die  agrarische  Annahme  haltlos. 3) 

‘)  Brase,  „Der  Arbeitermangcl  in  der  deutschen  I.andwirtscbaft.“  S.  52. 

*)  Bensing  a.  a.  O.  S.  93. 

*)  Pohle  giebt  zu,  dafs  bisher  solche  Wirkungen  noch  nicht  eingetreten  sind. 
Die  I .and wirte  seien  im  allgemeinen  in  der  I-agc,  einige  Jahre  hindurch  auch  bei 
ungenügenden  Preisen  zu  existieren,  geradeso,  wie  sie  mehrere  Mifscrnten  nach- 
einander aushalten  müfsten.  Bleibt  aber  der  Ausgleich  für  die  ungünstige  Periode 
aus,  mufs  der  Zusammenbruch  unfehlbar  erfolgen.  Der  Ausgleich  sei  eingetreten. 


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266 


1. eo  Verkauf, 


ln  einem  anderen  Sinne  läfst  sich  aber  von  einem  solchen  Zu- 
sammenhang ganz  wohl  sprechen.  Der  Zwang  an  den  Poduktions- 
kosten  zu  sparen  hat  wesentlichen  Anteil  an  dem  Fortschreiten 
arbeitssparender  Methoden.  Auf  diesem  Wege  ist  man  zu  dem  Ergeb- 
nisse gelangt,  dafs  heute  die  gleiche  Personenzahl  in  der  Landwirt- 
schaft eine  gröfsere  Gütermenge  erzeugt  als  früher.  Nur  so  war 
es  ohne  Beeinträchtigung  des  Ackerbaues  möglich,  dafs  das  platte 
Land  einen  grofsen  Teil  seiner  Geburtenüberschüsse  der  Industrie 
überliefs. 

Für  die  Gegenwart,  wie  für  die  Vergangenheit  erweist  sich 
somit  das  gerade  Gegenteil  von  dem  als  richtig,  was  die  Agrar- 
theoretiker behaupten.  Darf  nun  angenommen  werden,  dafs  wenig- 
stens für  die  Zukunft  steigende  Körnerpreisf  auch  steigende  Be- 
schäftigung beim  Ackerbau  bewirken  werden?  Dies  kann  nur  sehr 
bedingt  zugegeben  werden.  Soll  die  fortschreitende  Verwendung 
arbeitsparender  Maschinen  eine  Unterbrechung  oder  Rückentwicklung 
erfahren,  so  ist  die  Vorbedingung  hierfür,  dafs  die  landwirtschaft- 
lichen Löhne  eine  stark  sinkende  Tendenz  annehmen.  Das  ist  nur 
bei  erheblichem  Rückgang  der  Industrie  zu  gewärtigen.  In  der 
That  können  ja  hohe  Agrarzölle  die  Nahrungsstaaten  zu  Repressalien 
gegen  den  deutschen  I-'abrikatenexport  veranlassen.  Ist  die  Industrie 
dann  aufser  stände,  die  vom  Lande  abströmenden  Massen  aufzu- 
nehmen, so  werden  dieselben,  insoweit  sie  nicht  vom  Auslande  ab- 
sorbiert werden  können,  die  agrarische  Reservearmee  vermehren. 
Auf  diesem  Wege  kann  allerdings  ein  Druck  auf  den  Arbeitsmarkt 
entstehen,  der  die  sinkende  Tendenz  der  Löhne  auslöst. 

Erhöhte  Agrarzölle  können  aber  die  Entwicklung  auch  in  eine 
andere  Richtung  drängen.  Mit  gesteigerter  Rentabilität  der  Land- 
wirtschaft kann  eine  Beschleunigung  des  technischen  Fortschritts 
liand  in  Hand  gehen. *)  Gesteigerte  Bodenerträge,  bei  stärkerer 
Maschinenbeniitzung  würden  ein  weiteres  Abströmen  der  ländlichen 

einerseits  weil  einige  günstige  Jahre  waren  und  ferner,  weil  die  Landwirtschaft  sich 
mit  der  Hoffnung  tragen  konnte,  dafs  nach  Ablauf  der  Handelsverträge  eine  Besse- 
rung in  der  Handelspolitik  cintreten  w'ürde.  Unterbleibe  die  Zollerhöhung,  dann 
werde  der  Getreidebau  abbröckcln  (S.  181  — 183).  Das  Gezwungene  dieser  Argu- 
mentation leuchtet  auf  den  ersten  Blick  ein. 

*)  Bensing  giebt,  wenn  auch  mit  Kinschränkungen  zu,  dafs  der  Kapitals- 
mangel neben  fehlendem  Verständnis  vielfach  Ursache  der  unterbleibenden  Kinführung 
arbeitsparender  Maschinen  ist.  Tritt  hier  Besserung  ein,  dann  wird  die  Maschinen- 
arbeit in  ganz  anderen  Dimensionen  wachsen  als  bisher. 


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Agrarschulz  und  Sozialreform. 


267 


Arbeiter  in  die  Stadt  zur  Folge  haben.  Gerade  durch  Agrarschutz 
kann  also  die  Landflucht  einen  kräftigen  Anstofs  erfahren  und  die 
Lebenshaltung  der  Industriearbeiter  gefährden.  Was  bedeutet  es 
demgegenüber,  wenn  die  steigende  Einführung  der  landwirtschaft- 
lichen Maschinen  in  Hütten,  Bergwerken  und  Fabriken  erhöhte  Be- 
schäftigung schafft?  Nur  ein  Bruchteil  der  in  der  I^andwirtschaft 
überschüssigen  Massen  kann  dadurch  absorbiert  werden,  der  Lohn- 
druck würde  eine  erhebliche  Verminderung  nicht  erfahren. 

VIII. 

War  bisher  im  Kampfe  um  die  Agrarzölle  der  unverhüllte 
Egoismus,  die  zugreifende  Rücksichtslosigkeit  der  Grundbesitzer- 
klasse herrschende  Methode,  so  ist  die  neueste  Agrarpolitik  be- 
müht, die  einseitigen  Interessen  der  Grundrentner  aus  der  Front  zu 
-entfernen  und  an  deren  Stelle  die  der  ganzen  Nation  durch  die 
sinkende  Rentabilität  des  Körnerbaues  angeblich  drohenden  Ge- 
fahren zu  setzen.  Der  Kampfruf  soll  nicht  mehr  lauten : hie  teueres, 
hie  billiges  Brot,  sondern : Hie  Deutschlands  Unabhängigkeit,  hie 
Deutschland  ein  Vasallenstaat ! Der  drohende  Ruin  der  Landwirt- 
schaft, der  nahende  Zusammenbruch  der  Exportindustrie,  die  Herab- 
drückung der  deutschen  Arbeiter  auf  das  Lebensniveau  asiatischer 
Kulis  soll  im  Vordergrund  der  öffentlichen  Diskussion  stehen.  Daneben 
mufs  die  Rückwirkung  des  Agrarschutzes  auf  die  Lebenshaltung  der 
Massen  an  Bedeutung  verschwinden.  So  verblasst  der  antisoziale 
Charakter  der  Agrarzölle,  ja  sie  eignen  sich  einen  gewissen  sozial- 
politischen Aufputz  an.  Diese  Art  von  „Sozialpolitik“  redet  freilich 
mit  Vorliebe  von  den  Gefahren-  einer  fernen  Zukunft,  sie  bekundet 
dagegen  für  die  Not  des  Augenblickes  geringes  Verständnis.  Ueber 
den  Möglichkeiten  oder  Wahrscheinlichkeiten  der  Zukunft  darf  man 
aber  an  der  aktuellen  Bedeutung  der  Agrarzölle  für  die  Massen 
nicht  geringschätzig  oder  gleichgültig  vorübergehen,  vielmehr  müssen 
die  Gefahren  des  Agrarschutzes  gegenüber  den  Versuchen,  sie  als 
minder  wichtig  zurückzudrängen,  immer  wieder  in  den  Vordergrund 
gerückt  werden.  Welches  wird  die  Rückwirkung  höherer  Getreide- 
zölle auf  den  Brotpreis  sein,  welchen  EinfluCs  wird  der  Agrarschutz 
auf  den  Arbeitslohn  ausüben  ? Das  sind  Probleme,  die  immer  wieder 
Erörterung  und  Prüfung  heischen. 

In  der  Frage  der  Einwirkung  auf  den  Brotpreis  ist  die  Haltung 
der  Agrarier  eine  schwankende.  Bis  vor  kurzem  leugnete  man  noch 
vielfach,  dafs  der  Getreidezoll  das  Brot  verteuere.  Es  galt  gleichsam 


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268 


Leo  Verkauf, 


als  Axiom : den  Zoll  trägt  das  Ausland.  Diese  Behauptung  wurde 
unhaltbar,  weil  die  Kornzölle  dann  zwecklos  und  als  fiskalische 
Malsregel  zur  Besteuerung  der  N'ahrungsstaaten  erscheinen  müfsten. 
Man  bequemte  sich  allmählich  die  preissteigernde  Tendenz  der  Zölle 
zuzugeben.  D a d e wie  andere  erklären,  der  Zoll  sei  für  die  letzten 
Jahre  voll  zur  Wirkung  gekommen. ])  In  einem  Atem  wird  aber 
versichert,  es  handle  sich  überhaupt  nicht  um  eine  Erhöhung  des 
Getreidepreises,  sondern  lediglich  um  eine  Verhinderung  weiteren 
Preisdruckes.  Die  agrarischen  Kreise  strebten  nicht  nach  abnormalen 
Hochpreisen,  sondern  nach  normalen  Mittelpreisen.  Das  eigentliche 
Ziel  sei  der  „Erhaltungszoll*1.  Nur  die  Aufrechterhaltung  der  bis- 
herigen durchschnittlichen  Rentabilität  des  Ackerbaues,  nicht  aber 
die  künstliche  Erhöhung  derselben,  sei  Zweck  der  Zölle.  „Nicht 
um  eine  wirkliche  Verteuerung  des  Brotes,  sondern  nur  darum,  den 
sonst  eintretenden  starken  Prcisfall  aufzuhalten“,  handle  es  sich. 
Demgemäfs  werde  den  städtischen  Konsumenten  kein  eigentliches 
Opfer  auferlegt,  es  entgehe  ihnen  nur  ein  Gewinn,  der  ihnen  sonst 
zugefallen  wäre.  *) 

Die  agrarische  Theorie  verficht  aber  doch  die  Ansicht,  dafs  der 
heute  unrentable  Getreidebau  rentabler  gemacht  werden  müsse,  d.  h. 
also  wohl : eine  Steigerung  der  jetzt  erzielten  Körnerpreise  ist  not- 
wendig. In  der  That  ist  der  Ausgangspunkt  der  vielfach  gebilligten 
Dade’schen  Berechnung  angemessener  Körnerzölle,  nicht  etwa  der 
jetzt  erzielbaren  Getreidepreise  oder  der  Durchschnittspreis  der 
Depressionsperiode.  Als  gerechtester  Ausgangspunkt  gilt  ihm  viel- 
mehr der  Unterschied  zwischen  den  höchsten  inländischen  Produk- 
tionskosten, soweit  zu  denselben  noch  grofse  Getreidemengen  er- 
zeugt werden,  und  dem  Preise,  zu  dem  das  billigst  produzierende 
Konkurrenzland  das  Getreide  an  die  deutsche  Zollgrenze  bisher 
liefert  oder  voraussichtlich  wird  liefern  können.  Es  ergiebt  sich 
auf  dieser  Basis  für  das  ungünstigste  Jahr  ein  Weizenzoll  von  95  Mark, 
ein  Roggenzoll  von  85  Mark  per  Tonne.  Zur  Vermeidung  einer 
gleitenden  Skala  sei  es  aber  gerechter,  den  40jährigen  Durchschnitts- 
preis der  Jahre  1860 — 1899  als  Grundlage  anzunehmen,  in  welchem 
die  Hochkonjunktur  der  60 er  und  70  er  Jahre,  wie  der  Niedergang 
der  80  er  und  90  er  Jahre  gleichmälsig  zum  Ausdruck  kommen. 

*)  a.  a.  O.  S.  42. 

*)  Wagner  a.  a.  O.  S.  96.  — Moritz  Naumann  a.  a.  O.  S.  55.  — Pohle 
a.  a.  O.  S.  2,  3,  175,  196. 


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Agrarschutz  und  Sozialrcform. 


269 


Blofs  weil  der  so  gefundene  enorme  Zoll  bei  Hochkonjunkturen  sich 
nicht  aufrecht  erhalten  liefse,  empfehle  sich  ein  Zollsatz  mittlerer 
Linie  von  65  Mark  für  Weizen  und  von  54  Mark  für  Roggen.  *) 
Mit  der  agrarischen  Bescheidenheit  ist  es  also,  auch  wenn  man  die 
Forderungen  des  Bundes  der  Landwirte  unbeachtet  läfst,  trotz  alles 
Rühmens,  nicht  weit  her  und  die  Behauptung,  es  handle  sich  um 
keine  Steigerung  des  Brotpreises  nicht  aufrecht  zu  erhalten. 

In  der  That  plaidieren  die  Agrartheoretiker  bei  Verteidigung 
der  Kornzölle  auf  mildernde  Umstände.  Pohle  findet,  dafs  den 
Arbeitern  schlimmstenfalls,  da  die  Brotpreise  1850 — 1880  höher 
waren,  als  heute  unter  dem  System  des  Zollschutzes,  nur  zugemutet 
wird,  auf  einen  erzielten  Gewinn  zu  verzichten.  Mit  einem  solchen 
formaljuristischen  Argument  wird  man  der  Sache  nicht  gerecht. 
Man  erweckt  den  Anschein,  als  handle  es  sich  — in  der  Wirtschafts- 
ordnung, die  auf  freier  Konkurrenz  und  Yert  ragsfrei  heit  beruht!  — 
um  einen  unrechtmälsigen  Gewinn,  der  den  Geschädigten  wieder- 
gegeben werden  soll.  Es  wird  dabei  übersehen,  dafs  der  „Gewann" 
in  Wirklichkeit  nur  darin  besteht,  dafs  durch  die  Preisdepression 
die  Nahrungszufuhr  der  arbeitenden  Klassen  vielfach  ebenso  eine 
Erhöhung  erfahren  hat,  wie  der  Konsum  anderer  Güter.  Der  Ver- 
zicht auf  diesen  „Gewinn“  durch  Rückkehr  zu  höheren  Brotpreisen 
wäre  gleichbedeutend  mit  Konsumabnahme,  mit  unzulänglicher  Er- 
nährung und  ihren  Folgen.  Man  sanktioniert  damit  den  Grundsatz, 
der  Arbeiter  habe  wohl  keinen  Anspruch  auf  niedrige  Brotpreise, 
der  Grundbesitzer  dagegen  habe  ein  Recht  auf  hohe  Getreidepreise. 
Das  verbriefte  Recht  auf  eine  hohe  Grundrente  stellt  sich  so  dem 
' Anspruch  auf  Sättigung  feindlich  gegenüber. 

Origineller  ist,  was  ’ B a 1 1 o d zur  Rechtfertigung  hoher  Agrar- 
zölle vorbringt.  Er  berechnet,  dafs  die  nichtagrarische  Bevölkerung 
bei  einem  Konsum  im  Werte  von  ca.  4 Milliarden  Mark  an  die 
Landwirtschaft  durch  Getreide-,  Fleisch-  und  Holzzöllc  eine  Ueber- 
bezahlung  von  41 1 Millionen  Mark  leiste,  was  auf  den  Kopf  eines 
in  der  I Landwirtschaft  Erwerbsthätigcn  54  Mark  ergebe.  Dagegen 
betrage  der  Gewinn  eines  bei  der  Metallverarbeitung  und  der  Textil- 
und  Schuhwarenindustrie  Erwerbsthätigcn  aus  den  Schutzzöllen  im 
Durchschnitte  154  Mark,  insgesamt  341  Millionen  Mark.5)  So  wird 

’)  Da  de,  a.  a.  O.  S.  35  IT. 

*)  Ballod,  „Die  Bedeutung  der  Landwirtschaft  und  der  Industrie  in  Deutsch- 
land.“ Schmoller’s  Jahrbuch  für  Gesetzgebung,  Verwaltung  und  Volkswirtschaft  1898, 


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270 


l.eo  Verkauf, 


im  Handumdrehen  der  Beweis  erbracht,  dafs  die  Industriearbeiter 
der  genannten  Berufe  dreimal  soviel  an  Ueberbezahlung  erhalten, 
als  sie  auf  dem  Wege  der  Agrarzölle  leisten,  so  dafs  sie  auch 
bei  wesentlich  erhöhten  Brotzöllen  noch  immer  die  Gewinnenden 
wären. 

Fällt  denn  aber  der  Zollgewinn  den  Arbeitern  in  Stadt  und 
Land  zu?  Wäre  die  Wirkung  der  Zölle  eine  lohnsteigernde,  dann 
müfste  in  Deutschland  bei  den  geschützten  Gewerben  der  Lohn  ein 
höherer  sein,  als  bei  den  nichtgeschützten,  in  den  kontinentalen 
I -ändern  höher,  als  im  freihändlerischen  England.  Dafs  dies  nicht 
der  Fall  ist,  darüber  herrscht  wohl  kein  Streit.  Aber  auch  die 
Thatsache  darf  nicht  unbeachtet  bleiben,  dafs  die  Textil-,  Metall- 
und  Schuherzeugnisse  nur  zum  geringeren  Teile  von  der  Agrar-, 
zum  gröfseren  von  der  Nichtagrarbevölkerung  konsumiert  werden. 
Bei  Berechnung  des  Tributs  an  die  I-andwirtschaft  scheidet  B a 1 1 o d 
vorsichtig  den  Eigenbedarf  der  Landwirte  aus.  Diese  Vorsicht  ver- 
iäfst  ihn,  wie  es  sich  um  den  Zollgewinn  der  Industriellen  handelt. 

Endlich  mufs  man,  statt  des  Zollgewinnes,  der  nur  einer  Minder- 
zahl der  agrarisch  und  industriell  Erwerbsthätigen  zufällt,  korrekter- 
weise die  Belastung  der  Massen  durch  die  Agrar-  und  Industrie- 
zölle berechnen.  Legt  man  diesen  Berechnungen  die  Ballod'schen 
Ziffern  zu  Grunde,  so  findet  man  für  den  Kopf  der  nichtagrarischen 
Bevölkerung  eine  Besteuerung  durch  Argrarzölle  mit  12,34  Mark, 
für  die  Agrarbevölkerung  eine  Belastung  durch  die  erwähnten  In- 
dustriezölle mit  6,59  Mark.  Aber  auch  damit  wird  man  der  Wirk- 
lichkeit noch  durchaus  nicht  völlig  gerecht.  Dem  Arbeiter  ver- 
teuern ja  die  industriellen  und  agrarischen  Zölle  den  Konsum  zu 
Gunsten  der  Unternehmer.  Bei  Unterscheidung  von  Gewinnenden 
und  Verlierenden  mufs  man  Unternehmer  und  Arbeiter,  nicht  aber 
agrarische  und  nichtagrarische  Bevölkerung  auseinanderhalten. 

Nach  der  Auffassung  von  Pohle  ist  der  Zweck  der  Agrarzölle 
ein  ganz  anderer,  als  bisher  angenommen  wurde.  Sie  sollen  die 
Nahrungsstaaten  nötigen,  vom  Raubbau  zu  intensiver  Wirtschaft 
überzugehen.  Das  Mittel  des  Agrarschutzes  kann  hier  jedenfalls 
Anspruch  auf  grofsc  Originalität  erheben.  Im  Grunde  müfste  wohl, 
wenn  cs  sich  um  die  Unabhängigkeit  Deutschlands  von  den  Nah- 
rungsstaaten handelt , die  Entwicklung  des  fremden  Ackerbaues 

S.  903fr.  Auch  Pohle  ist  der  Ansicht,  dafs  die  Landwirtschaft  in  der  Hauptsache 
die  industriellen  Schutzzölle  trage. 


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AjjrarschuU  und  Sozialreform. 


271 


gleichgültig  sein.  Aber  angenommen,  dafs  der  Weltmarktpreis  auch 
bei  den  höchsten  Kornzöllen  einen  gewissen  Einfiufs  auf  den 
deutschen  Markt  behält,  wie  sollen  Amerika,  Ru  Island,  Argentinien 
durch  deutsche  Zollerhöhungen  zur  Intensifikation  ihres  landwirt- 
schaftlichen Betriebes  gebracht  werden?  Durch  Sperrung  der 
deutschen  Grenze  mufs,  insoweit  die  Bevölkerungszunahme  der 
Nahrungsstaaten  keinen  gleichwertigen  Ersatz  bietet,  ein  Teil  des 
Getreides  überschüssig  werden,  der  Anbau  zurückgehen  und  der 
Ansporn  zum  Aufgeben  des  Raubbaues  verschwunden.  Zu  inten- 
siver Kultur  greift  man  doch  bei  steigendem,  nicht  bei  sinkendem 
Bedarf.  Der  erhöhte  Zoll  wäre  also  ein  geeignetes  Mittel,  die  be- 
ginnende Intensifikation  aufzuhalten,  nicht  sie  zu  fördern. 

Mufs  die  preissteigernde  Wirkung  der  Brotzölle  auch  von  Agrar- 
riern,  wenngleich  mit  allerlei  Einschränkungen  zugegeben  werden, 
so  konzentrieren  sich  die  Bemühungen  umsomehr  darauf,  das  den 
Arbeitern  zugemutete  Opfer  als  ein  zififernmäfsig  geringes  hinzu- 
stellen. Es  mufs  schon  befremden,  wenn  Angehörige  der  be- 

sitzenden Klassen  den  Proletariern  Rücksichtnahme  auf  die  Inter- 
essen der  grundbesitzenden  Schichten  predigen.  Auch  ruhig  und 
leidenschaftslos  denkende  Volkswirte  lassen  dabei  unbeachtet,  worin 
die  geforderten  Opfer  in  Wirklichkeit  bestehen.  Hunderttausende 
werden  durch  gesteigerte  Kornzölle  kein  blofses  Geldopfer  zu 
bringen  haben,  vielmehr  handelt  es  sich  bei  der  Verteuerung  der 
Lebensmittel  um  eine  Einschränkung  der  Lebenshaltung,  also  um 
Opfer  an  Gesundheit  und  Lebensfreude.  Man  versucht  seit  einiger 
Zeit  in  Deutschland  den  Kampf  gegen  die  Tuberkulose  als  Volks- 
krankheit zu  organisieren.  Die  Agrarzölle  müssen  alle  bisher  auf- 
gewendeten Bemühungen  zunichte  machen.  Für  die  medizinische 
Wissenschaft  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dafs  die  unzureichende 
Ernährung  der  Arbeiter  die  Tuberkulose  zum  ungeheuren  Umfang 
hat  anw'achsen  lassen,  den  man  heute  in  Deutschland,  wie  ander- 
wärts, mit  Schrecken  wahrnimmt.  Zwingt  man  durch  Steigerung 
des  Brotpreiscs  den  Massen  in  gröfserem  Umfange  Kartoffelnahrung 
auf,  als  sie  schon  heute  üblich  ist,  dann  fördert  man  das  weitere 
Umsichgreifen  der  Tuberkulose.  Diese  Art  von  Opferwilligkeit 
darf  man  aber  bei  niemandem  erwarten,  von  niemandem  fordern. 
Sicher  würde  von  den  besitzenden  Klassen,  wenn  von  ihnen  eine 
Herabsetzung  ihrer  Lebenshaltung  in  bescheidenem  Mafse  verlangt 
würde,  eine  solche  Zumutung  mit  Entrüstung  zurückgewiesen  werden. 
Die  Kämpfe  gegen  die  Einführung  der  Personaleinkommensteuer 


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272 


l.co  Verkauf 


sind  hierfür  in  den  meisten  Kulturländern  der  schlagendste  Beweis. 
Ein  Steuersatz  von  5 Proz.  oder  gar  darunter  gilt  überall  als  Ver- 
mögenskonfiskation. 

Was  die  zifTemmäfsige  Höhe  der  Brotverteuerung  betrifft,  so 
ist  nur  bekannt,  dafs  das  Erträgnis  der  beschlossenen  neuen  Agrar- 
zölle von  der  Regierung  mit  175  Millionen  Mark  geschätzt  wird. 
Nimmt  man  den  Einfuhrwert  der  landwirtschaftlichen  Produkte  mit 
einem  Viertel  des  lnlandskonsum  an,  so  wäre  die  neue  Belastung 
mit  etwa  700  Millionen  Mark  zu  beziffern.  Daraus  ergäbe  sich  auf 
den  Kopf  der  Bevölkerung  ein  neuer  Tribut  von  12,5  Mark,  für 
eine  fünfköpfige  Familie  eine  Mehrbelastung  von  62,5  Mark,  wobei 
auf  die  Verschiedenheit  der  Belastung  in  Stadt  und  Land  keine 
Rücksicht  genommen  ist.  Berechnet  man  den  Jahresverdienst  eines 
gewerblichen  Arbeiters  nach  der  Statistik  der  Berufsgenossenschaften 
mit  durchschnittlich  752  Mark,  so  fordert  die  Zollsteigerung  dort, 
wo  der  Durchschnittslohn  identisch  ist  mit  dem  Familieneinkommen, 
8,3  Proz.  des  Lohnes.  Weit  drastischer  ist  das  Verhältnis,  wenn 
man  die  ortsüblichen  Taglöhne  als  Grundlage  der  Berechnung  wählt. 
Diese  gehen  bis  auf  I Mark,  ausnahmsweise  selbst  bis  auf  80  Pfennige 
herunter.  Wie  darf  man  hier  Opferwilligkeit  fordern,  wie  auch  nur 
die  Möglichkeit  von  Opfern  erwarten  ? 

Sch  äffte')  berechnet  bei  den  Regierungsvorschlägen  die  Ver- 
teuerung der  vier  Getreidearten  mit  450  Millionen  Mark,  einschliefs- 
lich  des  bisherigen  Vertragszolles  mit  II 50  Millionen  Mark.  Dazu 
rechnet  er  für  weitere  Agiarzölle  200  Millionen  Mark.  Insgesamt 
ergiebt  sich  eine  Neubelastung  von  650,  eine  Vollbelastung  von 
1350  Millionen  Mark.  Darnach  würde  die  Belastung  auf  den  Kopf 
der  Bevölkerung  einschliefslich  der  alten  Agrarzölle  24  Mark,  für 
eine  fünfköpfige  Familie  120  Mark  betragen  oder  nahe  an  16  Proz. 
des  durchschnittlichen  Jahresverdienstes. 

Legt  man  einen  Taglohn  von  Mark  2,50,  der  in  Deutschland 
gewil's  keine  Seltenheit  ist,  der  Berechnung  zu  Grunde,  so  würde  der 
Tribut  an  die  grundbesitzende  Klasse  künftig  von  einem  Familien- 
vater 48  Arbeitstage  erfordern,  von  einem  alleinstehenden  Arbeiter 
9,6  Arbeitstage. 

Selbst  Pohle  gelangt  dazu,  die  Steigerung  der  Belastung  bei 
einer  Famlie  auf  36,40  und  45,70  Mark,  je  nach  der  Höhe  des  Brot- 

*)  Ein  Volum  gegen  den  neuesten  Zolltarilcntwurt'.  Tübingen.  II.  Laupp, 
J9°I,  S.  34. 


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Agrarschutz  und  Sozialrciorm. 


2 73 


konsums  zu  berechnen.  Er  giebt  zu,  dafs  dies  für  Einkommen  von 
Soo — 1800  Mark  eine  erhebliche  Rolle  spielt.  Wie  schwer  fällt 
diese  Belastung  erst  bei  Einkommen  von  unter  800  Mark  — und 
diese  sind  wahrhaftig  nicht  gar  selten  — ins  Gewicht. 

IX. 

Die  entscheidende  Krage  ist  vom  Standpunkte  der  Sozialpolitik : 
wie  beeinflussen  die  Agrarzölle  den  Reallohn?  Die  preissteigernde 
Wirkung  des  Agrarschutzes  wäre  milder  zu  beurteilen,  würde  sie 
nicht  gerade  den  Arbeitslohn  am  schwersten  treffen. 

Die  Erörterungen  über  den  Zusammenhang  zwischen  Kornzoll 
und  Lohn  haben  bisher  alles  an  Klarheit  zu  wünschen  übrig  ge- 
lassen. Der  Arbeiter  als  Konsument  stand  im  Mittelpunkt  der 
Diskussion,  der  Arbeiter  als  Produzent  wurde  mit  mehr  oder  weniger 
allgemeinen  Redewendungen  abgethan.  Das  unbestreitbare  Verdienst 
Dietzels  ist  es , eine  ernsthafte  Auseinandersetzung  über  diese 
Frage  herbeigeführt  zu  haben,  indem  er  der  Paralleltheorie  die 
Konträrtheorie  gegenüberstellte.  Die  von  ihm  angewendete  Methode 
der  Isolierung  bringt  es  freilich  mit  sich,  dafs  nur  die  durch  die 
Zölle  ausgelöste  Tendenz  der  Lohnbewegung  sich  nachweiscn 
läfst.  Die  dieser  Tendenz  entgegenwirkenden  Kräfte  bleiben  un- 
berücksichtigt. So  berechtigt  die  isolierte  Betrachtung  ökonomischer 
Phänomene  ist,  so  bedarf  sie  doch  einer  Ergänzung.  Diese  besteht 
in  der  Prüfung,  ob  und  in  welchem  Mafse  die  ausgeschalteten  wirt- 
schaftlichen und  sozialen  Kräfte  die  herrschende  Tendenz  verstärken, 
abschwächen  oder  gar  in  ihr  Gegenteil  umkehren.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  bedarf  sowohl  die  Parallel-  als  auch  die  Konträr- 
theorie der  ergänzenden  Prüfung. 

Nach  der  erstcren  soll  der  Lohn  mit  fallendem  Kornpreise 
fallen,  mit  steigendem  Kornprei.se  steigen.  Dies  erkläre  sich  nun 
so,  dafs  beim  Sinken  des  Getreidepreises  unter  eine  gewisse  Grenze, 
der  Ackerbau  unrentabel  werde,  weniger  ergiebige  Böden  unbebaut 
bleiben,  bei  anderen  die  extensive  Wirtschaft  wieder  platz  greife, 
wodurch  mit  abnehmender  Nachfrage  nach  Arbeitskräften  eine  Lohn- 
senkung eintrete. 

Was  zeigt  die  Wirklichkeit?  In  der  Zeit  der  schlimmsten  Preis- 
depression ist  weder  die  Aufbaufläche  noch  die  Intensität  der 
Wirtschaft  zurückgegangen,  die  Agrarquote  ist  bei  steigenden  Löhnen 
gefallen,  das  Gegenteil  also  von  allem,  was  die  Paralleltheorie  be- 
hauptet. Es  ist  nun  allerdings  denkbar,  dafs  jene  Umstände,  die 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  Io 


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274 


I. eo  Verkauf, 


bisher  die  behaupteten  Wirkungen  niedriger  Kornpreise  kompensiert 
haben,  einmal  ausgeschaltet  sein  werden,  indem  der  technisch  hoch- 
stehende rationelle  Betrieb  bei  dem  für  den  Markt  produzierenden 
Ackerbau  die  Regel  bilden  wird.1)  Steigt  dann  mit  den  erhöhten 
Produktionskosten  der  Ertrag  nicht  in  gleichem  Verhältnisse,  dann 
kann  als  Folge  eintreten,  da  Cs  die  unrentabelsten  Böden  unbebaut 
bleiben  und  der  Arbeiterbedarf  sinkt.  Dieselbe  Wirkung  kann 
allerdings  auch  durch  steigende  Kornpreise  herbeigeführt  werden, 
wenn  die  steigende  Rentabilität  die  Einführung  landwirtschaftlicher 
Maschinen  beschleunigt.  Unter  den  retardierenden  Momenten  spielen 
bei  Ersetzung  der  Hand-  durch  Maschinenarbeit  neben  Unkenntnis 
und  mangelnder  Erfahrung  auch  die  Anschaffungskosten  eine  ge- 
wisse Rolle.  Fällt  dieses  Hindernis  dadurch  weg,  dafs  dem  land- 
wirtschaftlichen Gewerbe  Kapital  in  steigendem  Mafse  zuströmt, 
dann  ist  eine  Verminderung  der  Nachfrage  nach  Arbeitskräften 
wahrscheinlich. 

Aber  selbst  angenommen,  sinkende  Getreidepreise  bedeuteten 
wirklich  eine  sinkende  Nachfrage  nach  Landarbeitern,  so  mufs  auch 
dann  eine  Senkung  der  Agrarlöhne  nicht  die  Folge  sein.  Eine 
isolierte  Entwicklung  der  Löhne  in  der  Landwirtschaft  ist  heute 
weniger  denn  je  denkbar.  Uebt  ja  der  städtische  Arbeitsmarkt  auf 
den  agrarischen  entscheidenden  Einflufs.  Besitzt  der  Industriearbeiter 
selbst  in  dem  eingeschränkten  Koalitionsrechte  eine  Waffe,  die  ihm 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  organisierten  Widerstand  gegen 
lohndriiekende  Tendenzen  ermöglicht,  so  kann  der  Landarbeiter  nur 
mit  Hilfe  der  Freizügigkeit,  der  Möglichkeit  des  Aus-  und  Ab- 
wanderns  isolierten  Widerstand  leisten,  der  allerdings  bei  gün- 
stiger industrieller  Konjunktur  die  sinkende  Lohntendenz  in  der 
Landwirtschaft  aufhaltend  und  in  ihr  Gegenteil  verkehren  wird. 
Ebenso  kann  bei  gesteigerter  Rentabilität  des  Ackerbaues  und  Mehr- 
bedarf an  Arbeitskräften  trotzdem  eine  Lohndepression  eintreten, 
wenn  durch  industrielle  Krisen  das  Abströmen  vom  I^and  gehemmt 
oder  gar  eine  Rückwanderung  erzwungen  wird.  Diese  Sachlage  hat 


*)  Auch  angesehene  Volkswirte  verfallen  in  den  Kehler  von  der  Annahme  aus- 
zugehen, dafs  die  Landwirtschaft  alle  nach  dem  Stande  der  Agrartechnik  möglichen 
und  die  Rentabilität  nicht  verschlechternden  Mafsnahmen  organisatorischer  und  wirt- 
schaftlicher Natur  bereits  durchgefiihrt  hat.  Von  diesem  Standpunkt  kann  man  na- 
türlich leicht  zur  Behauptung  gelangen,  jede  weitere  Steigerung  der  Produktions- 
kosten wirke  nicht  in  gleichem  Mafse  steigernd  auf  die  Rentabilität. 


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Agriirfcchutz  und  Sozial reform. 


275 


ja  der  industriestaatlichen  Entwicklung  die  ungeheuchclte  Abneigung 
der  Agrarier  zugezogen,  die  sehr  wohl  wissen,  dafs  nur  durch 
Unterbindung  des  Fabrikatenexports  die  Freizügigkeit  der  I^and- 
arbeiter  ihre  Aktualität  verlieren  kann.  Eine  konsequente  agrarische 
Politik  legt  deshalb,  von  ihrem  Standpunkte  mit  Recht,  das  Haupt- 
gewicht auf  die  Hemmung  der  industriellen  Entwicklung. 

So  grofs  die  Schäden  sind,  die  die  Industrie  für  die  Arbeiter- 
klasse im  Gefolge  hat,  so  ist  sie  in  Europa,  mit  seinem  Mangel  än 
freien  Boden,  in  Wahrheit  für  die  Masse  der  nur  rechtlich  von  den 
Banden  der  Hörigkeit  befreiten  Landarbeiter,  das  wichtigste  Mittel 
zur  faktischen  Befreiung  von  den  feudalen  Fesseln.  Die  Landflucht 
allein  vermochte  bisher  die  Grundbesitzer  zu  günstigeren  Arbeits- 
bedingungen und  besserer  Behandlung  der  Arbeiter  zu  veranlassen. 
Das  wachsende  Selbstbewufstsein  des  Industriearbeiters  teilt  sich 
dem  Landarbeiter  mit.  Man  kennt  dies  in  der  Sprache  der  Grund- 
besitzer die  „steigende  Unbotmäfsigkeit“.  Das  stumme  Ringen,  der 
wortlose  Emanzipationskampf  der  Landarbeiter  ist  ohne  Entwicklung 
städtischer  und  industrieller  Zentren  undenkbar. 

Keine  einzige  Annahme  der  Paralleltheorie  trifft  also  in  Wirk- 
lichkeit zu.  Sinkende  Rentabilität  mufs  nicht  zur  Verminderung 
der  Anbaufläche  fuhren,  auch  nicht  zur  Abnahme  der  intensiven 
Wirtschaft.  Verminderte  Nachfrage  auf  dem  agrarischen  Arbeits- 
markte kann  ebenso  durch  gesteigerte  Kornpreisc  herbeigeführt 
werden.  Bei  Verminderung  des  Arbeiterbedarfes  kann  eine  Lohn- 
steigerung, bei  Zunahme  dieses  Bedarfes  eine  Lohndepression  die 
Folge  sein.  Der  ländliche  Arbeitsmarkt  führt  heute  kein  isoliertes 
Dasein,  er  wird  stärker  von  den  Vorgängen  auf  dem  industriellen 
Arbeitsmarkte,  als  von  den  Kornpreisen  beeinflufst. 

Ist  damit  ausgesprochen,  dafs  die  Konträrtheorie  als  richtig 
anzuerkennen  ist  ? Dietzel  formuliert  sie  so : Die  Folge  einer 
Kornpreissteigerung  mufs  ceteris  paribus  ein  Lohnbaisse,  die  Folge 
einer  Kornpreisminderung  eine  Lohnhausse  sein.  Mit  jedem  Hinauf 
des  Brotpreises  sinke  die  Nachfrage  nach  irgend  welchen  Dingen, 
die  entbehrlicher  sind,  als  Brot.  Die  Wirkungen  sind  Absatzminde- 
rung, Arbeiterentlassungen  und  Lohnsenkung.  Das  Umgekehrte 
trete  mit  jedem  Herab  des  Brotpreises  ein:  steigende  Nachfrage 
nach  anderen  Produkten,  höherer  Absatz,  stärkere  Beschäftigung 
und  steigende  Löhne. 

Dietzel  selbst  behauptet  nur  die  Auslösung  einer  solchen 
Tendenz  in  der  Lohnbewegung,  die  durch  entgegenwirkende  Kräfte 

18* 


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Leo  Verkauf, 


276 

abgeschwächt  oder  aufgehoben  werden  kann.  Er  will  auch  die 
Geltung  der  Konträrtheorie  nur  für  lange  Zeiträume  in  Anspruch 
nehmen,  während  die  Wirkung  in  kleineren  Zeitabschnitten  eine 
wechselnde  sein  könne.  Da  die  künstliche  Steigerung  des  Korn- 
preises hier  vor  allem  in  Frage  kommt  und  diese  mit  dem  Wechsel 
der  handelspolitischen  .Machtverhältnisse,  wie  die  Erfahrung  be- 
sonders in  Deutschland  lehrt,  kaum  längere  Zeit  aufrecht  zu  er- 
halten ist,  so  giebt  für  die  aktuelle  Handelspolitik  Dietzel  eigent- 
lich selbst  die  Konträrtheorie  preis.  Es  soll  also  hier  nur  gezeigt 
werden,  welche  Momente  bei  künstlichen  Steigerungen  des  Preises 
einer  Verminderung  der  Produktion  entgegen  wirken  können.  Eine 
solche  Rolle  kann  dem  Export  zufallen.  Erfolgt  die  Verminderung 
des  nationalen  Bedarfes  an  Konsumartikeln  zur  Zeit  einer  günstigen 
Weltkonjunktur,  dann  kann  durch  gesteigerte  Ausfuhr  bei  erhöhtem 
Brotpreise  der  Reallohn  wieder  auf  das  bisherige  Niveau  gehoben 
und  die  Verminderung  des  einheimischen  Bedarfes  ausgeglichen 
werden.  Ebenso  ist  eine  kräftige  gewerkschaftliche  Organisation 
unter  Umständen  geeignet  dem  Lohndruck  entgegenzuwirken.  Frei- 
lich darf  man  nicht  in  den  rosenroten  Optimismus  Diehl's  ver- 
fallen, dem  die  Macht  der  Arbeiter  heute  schon  ausreichend  scheint, 
um  bei  beträchtlicher  Erhöhung  des  Brotpreises  eine  Lohnerhöhung 
zu  erkämpfen,  wenn  — die  Konjunktur  eine  günstige  ist.  Damit 
gesteht  ja  Diehl  zu,  dafs  bei  ungünstiger  Konjunktur  die  Ar- 
beiter den  Druck  der  Brotverteuerung  ganz  oder  zum  Teil  auf  sich 
nehmen  müssen.  Sie  werden  so  genötigt,  die  Errungenschaften 
schwerer  Lohnkämpfe  ohne  Schwertstreich  den  Grundbesitzern  zu 
überlassen.  Aber  selbst  bei  günstiger  Konjunktur  kann  die  Ueber- 
wälzung  der  Brotpreiserhöhung  auf  die  Unternehmer  in  der 
Regel  nur  durch  opfer-  und  entbehrungsreiche  Kämpfe  gelingen. 
Das  Koalitionsrecht  und  die  Organisationen  der  Arbeiter  treten 
dann  zu  Gunsten  der  Nutzniefser  der  Grundrente  in  Wirksamkeit, 
der  leidenschaftlichsten  Gegner  dieses  Koalitionsrechtes.  Wie  viel 
Branchen  der  Arbeiter  sind  aber  heute  im  Deutschen  Reiche  den 
mächtigen  und  einflufsreichen  Unternehmerorganisationen  überhaupt 
gewachsen?  Entscheidend  ist  überdies  der  Umstand,  dafs  niemand 
vorauszusagen  vermag,  ob  bei  Einführung  der  neuen  Zölle  die  Kon- 
junktur überhaupt  eine  Steigerung  des  Lohnes  ermöglichen  wird. 
Die  Gefahr  ist  zumindest  grofs,  dafs  die  Arbeiter  durch  die  Zölle 
eine  Minderung  der  Kaufkraft  des  Lohnes  erleiden  und  ihnen  so 
die  furchtbarsten  Opfer  auferlegt  werden.  Völlig  hoffnungslos  steht 


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Agrarschutz  und  Sozialrcform. 


277 


die  Sache  für  die  nichtorganisierten  Schichten  der  Arbeiterschaft, 
die  selbst  bei  günstiger  Konjunktur  den  Unternehmern  Widerstand 
nicht  entgegensetzen  können.  In  der  Regel  sind  das  die  schlechtest 
gestellten  Arbeiter,  die  also  mit  Sicherheit  die  Wirkungen  der  Zölle 
auf  sich  werden  nehmen  müssen. 

Ob  man  nun  der  Konträrtheorie  Dietzel 's  zustimmt  oder 
nicht,  die  als  Folge  erhöhter  Brotpreise  eine  Lohnbaisse,  also  eine 
Senkung  des  Nominallohnes  annimmt,  jedenfalls  mufs  man  zugeben, 
dafs  die  Ueberwälzung  der  Agrarzölle  auf  die  Unternehmer  nur 
unter  günstiger  Marktlage,  für  besonders  gut  organisierte  Arbeiter- 
schichten und  auch  für  diese  nur  bei  unbeschränktem  Koalitions- 
recht und  nach  längeren  Zeiträumen  möglich  sein  wird.  Gröfser 
ist  die  Wahrscheinlichkeit,  dafs  der  Druck  der  Kornzölle  den 
Arbeitslohn  ausschliefslich  oder  vorwiegend  treffen  wird.  Dafür 
sprechen  die  heutigen  krisenhaften  Verhältnisse  Deutschlands,  die 
relativ  geringe  Zahl  der  organisierten  deutschen  Arbeiter,  die  un- 
günstige Rechtslage  der  Arbeiterorganisationen  und  die  mächtige 
Position  der  syndizierten  und  vertrusteten  Industriezweige.  F.s  mag 
zweifelhaft  sein,  ob  der  Lohnsausfall,  wie  Dietzel  annimmt,  gröfser 
sein  wird,  als  die  den  Argrarzöllen  entsprechende  Quote;  keinem 
Zweifel  kann  es  unterliegen,  dafs  bei  einem  Grofsteil  der  Arbeiter- 
bevölkerung der  Reallohn  sich  um  diese  Quote  vermindern  wird. 

Wenn  ich  resümieren  soll,  so  mufs  ich  zugeben,  dafs  Dietzel 
die  Unhaltbarkeit  der  Paralleltheorie  nachgewiesen  hat.  Manches 
spricht  dafür,  dafs  unter  den  von  Dietzel  selbst  zugegebenen 
Einschränkungen  erhöhte  Brotpreise  bei  gegebener  Sachlage  zur 
Lohndepression  Anlafs  geben  können.  Unzweifelhaft  erscheint  mir 
aber,  dafs  bei  den  heutigen  Machtverhältnissen  die  deutsche  Ar- 
beiterschaft in  ihrer  grofsen  Mehrzahl  aufser  stände  ist,  den  ihr  zu 
Gunsten  der  Grundbesitzer  auferlegtcn  Tribut,  auch  nur  zu  erheb- 
lichem Teil  in  absehbarer  Zeit  von  ihrem  Lohneinkommen  auf  den 
Unternehmerprofit  oder  den  Kosum  zu  überwälzen.  Damit  allein 
ist  auch,  wenn  selbst  die  von  Dietzel  angenommene  weiter- 
reichende Wirkung  nicht  eintritt , der  Agrarschutz  sozialpolitisch 
gerichtet. 

X. 

Die  Unsicherheit  der  wirtschaftlichen  Existenz  ist  ein  charak- 
teristisches Merkmal  unserer  auf  Privateigentum  an  den  Produktions- 
mitteln und  freier  Konkurrenz  basierenden  Wirtschaftsordnung.  Diese 


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278 


Leo  Verkauf, 


Unsicherheit  trifft  am  härtesten  den  Arbeiter  durch  die  Arbeits- 
losigkeit; sie  bedroht  den  Industriellen  wie  den  Landwirt,  bald  im 
Gefolge  normaler  Entwicklung,  bald  als  Begleiterscheinung  von 
Krisen,  die  heute  von  Vorgängen  auf  dem  nationalen,  morgen  von 
Ereignissen  auf  dem  Weltmarkt  heraufbeschworen  werden.  Die 
Gefahr,  die  Konkurrenzfähigkeit  auf  dem  Markt  zu  verlieren,  ist  der 
Preis,  den  die  Nutzniefser  der  gesellschaftlichen  Privilegien  heute 
zahlen  müssen.  Das  Streben  der  Agrartheoretiker  ist  nun  darauf 
gerichtet,  unter  Aufrechthaltung  aller  Vorteile  des  Privateigentums 
an  Grund  und  Boden,  die  Landwirte  von  der  Zahlung  jenes  Preises 
zu  befreien,  indem  die  freie  Konkurrenz  und  ihre  unangenehmen 
Wirkungen  auf  Kosten  der  Arbeitennassen  ausgeschaltet  werden. 
Man  müht  sich  dann  mit  dem  Nachweise  ab,  dafs  diese  Art  Agrar- 
schutz eigentlich  im  Gesamtinteresse  der  Nation  gelegen  sei.  Der 
neuen  Lehre  begegnet  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  das  Malheur, 
dafs  die  Thatsachen,  auf  die  sie  sich  zu  stützen  sucht,  sich  gegen 
ihre  Argumentation  kehren.  Der  unzweifelhaft  groise  Aufwand  an 
Scharfsinn  vermag  das  agrarische  Gebäude  vor  dem  Zusammen- 
bruche nicht  zu  bewahren. 

Ein  wichtiger  Grundstein  dieser  Lehre  zerbröckelt  mit  der 
Feststellung,  dafs  die  Nahrungsstaaten  selbst  bei  stärkerer  Bevölker- 
ungszunahme keineswegs  zur  Einschränkung  des  Getreideexportes 
ihre  Zuflucht  nehmen  müssen.  Wie  Deutschland  im  XIX.  Jahr- 
hundert parallel  mit  der  gestiegenen  Bevölkerung  eine  erhöhte 
Agrarproduktion  zu  erzielen  wufste,  werden  auch  die  Agrarländer 
den  gleichen  Weg  betreten  und  höhere  Erträge  erreichen.  Die 
Steigerungsfähigkeit  ist  eine  um  so  gröfsere,  als  die  Nahrungsstaaten 
heute  gegenüber  West-  und  Mitteleuropa  weit  im  Hintertreffen  ge- 
blieben sind.  Aushungerung  droht  also  dem  deutschen  Volke  sicher- 
lich nicht,  schlimmstenfalls  in  ferner  Zukunft  etwas  höhere  Getreide- 
preise. 

Als  irrig  stellt  sich  die  Annahme  heraus,  dafs  die  industrielle 
Entwicklung  mit  Geburtensteigerung,  die  agrarische  mit  Geburten- 
minderung verknüpft  sei.  Durch  Rückkehr  zum  Agrarstaat  oder 
durch  Uebergang  zum  „richtig  gemischten  Staat“  kann  vielleicht 
eine  erhöhte  Sterblichkeit,  aber  keine  Geburtenabnahme  bewirkt 
werden. 

Die  Wirtschaftsgeschichte  der  letzten  Dezennien  zeigt,  dafs  die 
den  sinkenden  Getreidepreisen  nachgesagten  Wirkungen  ausgeblieben 
sind.  Die  Anbaufläche  hat  nicht  abgenommen.  Der  Ertrag  ist 


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Agrarschuüt  und  Sozialreform. 


279 


stark  in  die  Höhe  gegangen.  Deutschland  kann  heute  seine  ver- 
doppelte Bevölkerung  in  der  Weise,  wie  vor  50  Jahren  durch  seine 
■eigene  Produktion  ernähren.  Dieser  Erfolg  ist  der  Agrartechnik, 
nicht  minder  aber  der  gestiegenen  Intelligenz  der  landwirtschaft- 
lichen Bevölkerung  geschuldet.  Wenn  aus  der  gesunkenen  Agrar- 
quote pessimistische  Folgerungen  abgeleitet  werden,  so  haben  wir 
deren  Unhaltbarkeit  gesehen.  Die  moderne  Technik  ermöglicht  es 
eben  mit  der  gleichen  Zahl  von  Arbeitskräften  eine  vervielfachte 
Produktenmasse  herzustellen. 

Dem  behaupteten  Rückgang  des  Körnerbaues  kann  demnach 
die  Abwanderung  in  die  Städte  nicht  zugeschrieben  werden.  Der 
Uebergang  zum  Fruchtwechsel,  wie  die  Zurückdrängung  der  Hand- 
arbeit durch  die  Maschinen  hat  die  Landwirtschaft  zu  einem  Saison- 
gewerbe gemacht,  das  im  Winter  immer  geringeren  Bedarf  an 
Arbeitskräften  zeigt.  Die  Industrie,  die  sich  erweiternden  und  er- 
neuernden Stadtgemeinden,  boten  die  Möglichkeit  zur  Flucht  vor 
dem  Winterhunger.  Diese  Gelegenheit  fehlte  früher  und  sie 
wird  jetzt  Jahr  für  Jahr  von  Hunderttausenden  benützt  Die 
Sachsengängerei,  berufen  die  auf  dem  Lande  entstandenen  Lücken 
auszufüllen,  macht  wieder  sel'shafte  Landarbeiter  überflüssig. 

Es  ist  eine  Utopie  an  eine  Rückentwicklung  der  Agrartechnik 
zu  denken.  Mit  und  ohne  Agrarschutz  ist  vielmehr  eine  technische 
Weiterentwicklung  des  landwirtschaftlichen  Gewerbes  zu  erwarten. 
Gesteigerte  Einkünfte  aus  dem  Ackerbau  werden  nur  die  neue  Ein- 
führung von  landwirtschaftlichen  Maschinen  erleichtern  und  die  P'rei- 
setzung  von  Landarbeitern  bewirken.  Was  soll  mit  der  überzähligen 
Bevölkerung  geschehen , wenn  die  Industrie  von  Staatswegen  an 
ihrer  Weiterentwicklung  gehindert  wird?  Da  die  agrarische  Wirt- 
schaftspolitik keinen  Raum  für  Steigerung  des  Konsums  hat  — ihr 
Schutz  beschränkt  sich  auf  den  kleinen  Teil  der  Grundbesitzer,  der 
für  den  Markt  produziert  — so  fehlt  der  nationalen  Produktion  in 
diesem  Rahmen  jeder  Ersatz  für  den  entfallenden  Fabrikatenexport. 
Der  industrielle  Arbeitsmarkt  würde  eine  Schwächung  seiner  Auf- 
nahmefähigkeit erfahren,  ohne  dafs  derselben  irgendeine  Kompen- 
sation gegenüberstände. 

Die  Agrarpolitiker  stellen  nicht  mehr  in  Abrede,  dafs  die  er- 
höhten Getreidepreise  erhöhte  Brotpreise  zur  Folge  haben  werden. 
-Sie  beruhigen  sich  mit  der  Annahme,  dafs  es  sich  lediglich  um  ein 
geringes  Geldopfer  handle.  Dies  mag  bei  den  Mittelschichten  zu- 
treffen. Den  Arbeitern  mutet  man  in  Wirklichkeit  mit  erhöhten 


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280 


I.  e o Verkauf, 


Nahrungspreisen  Opfer  an  ihrer  Gesundheit  zu.  Man  stellt  auch  in 
Aussicht,  dafs  die  organisierten  Arbeiter  in  der  Lage  sein  werden, 
eine  Lohnerhöhung  in  dem  Ausmafse  des  Mehrbedarfes  durchzu- 
setzen. Das  heifst  doch  wohl,  die  Arbeiter  sollen  harte  Kämpfe 
unter  Not  und  Entbehrung  durchfechten,  den  Kampfpreis  aber  auf 
Grund  eines  gesetzlichen  Privilegs  den  interessierten  Grundbesitzern 
überlassen.  Dabei  ist  eine  Steigerung  des  Nominallohnes  nur  nach 
längeren  Fristen  möglich.  Gilt  das  bei  den  organisierten,  wie  viel 
mehr  erst  von  den  unorganisierten  Arbeiterschichten.  Pohle  giebt 
zu,  dafs  die  Arbeiter  der  Spielwarenindustrie,  der  Korbwarenerzeu- 
gung, der  Konfektion  — einschliefslich  der  Familienangehörigen  an 
400000  Personen  — die  Brotverteuerung  selbst  zu  tragen  haben 
werden.  Steht  es  mit  der  Mehrzahl  der  Textilarbeiter,  besonders 
in  der  Hausindustrie  besser?  Und  schon  das  Schicksal  der  400000  Men- 
schen müfste  Entsetzen  erwecken.  Pohle  meint  aber  gelassen,  dafs 
man  um  ihretwillen  nicht  den  viel  gröfseren  Teil  der  deutschen 
Bevölkerung  dem  sicheren  Ruin  preisgeben  dürfe,  trotz  alles  Mitleids. 
Auch  der  Untergang  des  exportindustriellen  Aufsenhandels  sei  ja 
schmerzhaft,  man  müsse  auch  ihn  hinnehmen,  um  nicht  die  Existenz 
eines  gröfseren  Teiles  der  Nation  zu  gefährden. 

Sind  so  die  Schäden  des  Agrarschutzes  sehr  grofs,  so  bleibt 
schliefslich  die  Frage  zu  erörtern,  was  es  mit  der  Sozialreform  für 
eine  Bewandtnis  habe,  von  der  in  der  agrarischen  Litteratur  in  der 
letzten  Zeit  so  viel  die  Rede  war.  Es  besteht  kein  Zweifel,  dafs 
die  Verflechtung  in  die  Weltproduktion  ein  Element  grolser  Un- 
sicherheit in  die  nationale  Erzeugung  gebracht  hat  Der  Nachweis 
ist  aber  bisher  nicht  geführt  worden,  dafs  die  deutschen  Export- 
industriellen, nur  vom  Auslande  genötigt,  die  Lebenshaltung  der 
Kxportarbeiter  tief  herabgedrückt  haben.  Die  Hungerlöhne  der 
Hausweber  sind  wahrhaftig  nicht  durch  die  englischen  Löhne  er- 
zwungen worden.  Der  Druck,  den  Grofsbetrieb  und  Hausindustrie 
aufeinander  ausüben,  die  mangelnde  Organisation  der  Arbeiter,  sowie 
das  Fehlen  jedes  staatlichen  Eingriffes  zu  Gunsten  der  Arbeiter, 
können  viel  eher  zur  Erklärung  herangezogen  werden.  Deutschland 
als  geschlossener  Handelsstaat  würde  bei  Fortbestand  der  heutigen 
Machtverhältnisse  keine  anderen  Erscheinungen  zeigen,  als  gegen- 
wärtig der  Exportstaat.  Die  Ausschaltung  aus  dem  Weltverkehr 
ist  unmöglich,  die  steigende  Verflechtung  in  das  Getriebe  des  Welt- 
marktes ein  kategorischer  Imperativ  für  Deutschland,  wie  für  alle 
anderen  Industriestaaten. 


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Agrarschulz  und  Sozialrcform. 


28l 


Wenn  schliefslich  zur  Fortführung  der  Sozialreform  ein  Bündnis 
landwirtschaftlicher  Kreise  mit  den  Arbeitern  empfohlen  wird,  wenn 
ferner  eine  staatliche  Lohnregulierung  in  der  Hausindustrie,  die 
Geltung  des  von  der  Majorität  der  Unternehmer  und  Arbeiter  eines 
Gewerbes  vereinbarten  Tarifvertrages  für  die  Gesamtheit  des  Produk- 
tionszweiges und  ähnliches,  als  notwendig  hingestellt  werden,  so  ist 
nicht  ersichtlich,  wie  alles  dies  bei  Verwirklichung  der  agrarischen 
Pläne  möglich  sein,  ja  wie  es  überhaupt  mit  dem  Agrarschutz  im 
Zusammenhang  gebracht  werden  soll.  Der  Verdacht  ist  nicht  ab- 
zulehnen , dafs  die  Sozialreform  der  Agrartheoretiker  ein  biofees 
Dekorationsstück,  ein  Feigenblatt  für  die  empfundenen  Blöfeen  bildet. 
Jede  Verteuerung  der  industriellen  Produktion  durch  gesteigerte 
Agrarzölle  wird  den  cinflufereichcn  Grofsindustriellen  neue  Argumente 
zu  den  bisherigen  gegen  die  P'ortführung  sozialpolitischer  Mafenahmcn 
liefern. 

Die  Arznei,  die  man  dem  deutschen  Wirtschaftskörper  reichen 
will,  ist  also  schlimmer  als  das  Leiden.  Der  Unterkonsum  an  In- 
dustrieerzeugnissen bei  steigender  Produktivkraft  treibt  uns  dem 
Export  zu.  Sucht  man  mit  Hilfe  gesteigerter  Zölle  den  Verbrauch 
weiter  herabzumindern,  gleichzeitig  aber  den  Export  zu  erschweren, 
wie  soll  da  ein  Kladderadatsch  ausbleiben  ? Dabei  gehen  den  schweren 
Zeiten  die  deutschen  Arbeiter  ungerüstet,  weil  ganz  ohne  Koalitions- 
recht oder  mit  einem  stark  eingeschränkten  Koalitionsrechtc,  ent- 
gegen, trotzdem  sie  für  die  Aufrechterhaltung  ihrer  Lebenshaltung 
in  erhöhtem  Mafee  auf  die  eigene  Kraft  angewiesen  sein  werden. 
Die  Quintessenz  des  Agrarschutzes  und  seiner  Sozialreform  ist, 
wenn  man  ihnen  ernsthaft  ins  Antlitz  blickt : den  Schwachen  nehmen 
und  den  Starken  geben. 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 

Von 

Dr.  F.  SCHÜLER, 

chcm.  schweizerischen  Fabrikinspektor. 

'Schliffs. 

XI.  Die  gesetzliche  Arbeitszeit  und  deren 
Verlängerung. 

Seit  einem  Vierteljahrhundert  beschränkt  Art.  XI.  die  Arbeits- 
zeit in  Fabriken  auf  1 1 Stunden.  Die  damals  befürchtete  Ver- 
minderung der  Arbeitsleistung  hat  nicht  stattgefunden,  wie  heute 
allgemein  zugestanden  wird.  Es  wurde  in  der  kürzeren  Zeit  teils 
ein  intensiveres  Arbeiten  möglich,  teils  erhöhte  sich  durch  zahl- 
reiche technische  Fortschritte  die  Leistungsfähigkeit  der  Maschinen. 
Diese  letztere  hat  aber  in  den  meisten  Fällen  auch  eine  stetigere 
Aufmerksamkeit,  eine  gröGsere  Behendigkeit  des  Arbeiters  zur  Vor- 
aussetzung. Die  Kraft  hierfür  ist  schneller  erschöpft,  ab  bei  der 
alten  Produktionsweise.  Der  Elfstundentag  hat  deshalb  auch  im 
Ausland  immer  gröfsere  Verbreitung  gefunden,  ja  noch  mehr,  er 
ist  immer  öfter  durch  den  Zehnstundentag  ersetzt  worden.  Er  hat 
z.  B.  in  Deutschland,  wo  doch  die  Arbeitszeit  der  Männer  nicht 
gesetzlich  beschränkt  ist,  grofse  Verbreitung  erlangt,  für  die  Kinder 
ist  er  gesetzlich  vorgeschrieben  und  in  Frankreich  wird  er  in  Bälde 
allgemein  eingeführt  sein.  Bei  uns  sind  bereits  zahlreiche  Betriebe 
zu  seiner  Einführung  gelangt  und  selbst  in  der  Textilindustrie  hat 
eine  Anzahl  von  Versuchen  damit  nachgewiesen,  dafs  er  bei  weitem 
nicht  die  befürchteten  Folgen  hat.  Die  Zahl  der  nur  IO  Stunden 
und  weniger  arbeitenden  Personen  ist  auf  etwas  mehr  als  46  % 
gestiegen.  Nur  in  der  Textilindustrie  sind  sie  noch  schwach 
vertreten,  denn  nur  25,4  ihrer  Arbeiterschaft  haben  10  Arbeits- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  2§3 

stunden  und  unter  diesen  sind  wieder  65,8  °/0  weibliche  Personen, 
wovon  1533  unter  18  Jahren.  Unsere  jugendlichen  Arbeiter  sind 
somit  im  Durchschnitt  schlechter  gestellt,  als  die  der  mit  uns  kon- 
kurrierenden Industrieländer.  Dies  alles  läfst  den  dringenden  Wunsch 
der  vorgeschritteneren  Arbeiterschaft,  den  Zehnstundentag  zu  er- 
langen, sehr  gerechtfertigt  erscheinen.  Die  Reduktion  der  Arbeits- 
zeit von  H auf  10  Stunden  wäre  auch  kein  so  grofser  Schritt,  wie 
es  die  Einführung  der  Elfstundenzeit  war,  welche  die  Arbeitszeit 
fast  der  ganzen  schweizerischen  Arbeiterschaft  um  eine,  zum  Teil 
sogar  um  zwei  Stunden  täglich  heruntersetzte.  Immerhin  läfst  er 
sich  wohl  überlegen  und  darum  haben  auch  die  Fabrikinspektoreu 
so  eifrig  alle  Thatsachen  gesammelt,  die  für  oder  wider  die  Ein- 
führung der  10  Stunden  von  Bedeutung  waren.  Das  Ergebnis  war 
im  ganzen  ein  sehr  beruhigendes,  obwohl  sich  nicht  läugnen  läfst, 
dafs  es  nicht  für  alle  Industrien  gleich  günstig  ausfiel.  Es  giebt 
Industrien , deren  maschinell  schlecht  ausgerüstete  ökonomisch 
schwache  Betriebe  eine  plötzliche  Reduktion  nicht  auszuhalten 
vermöchten,  sondern  von  der  Konkurrenz  erdrückt  würden.  Sie 
werden  sich  zwar  im  jetzigen  Zustand  auch  nicht  auf  die  Dauer 
zu  halten  vermögen ; sie  werden  sich  vervollkommnen  müssen  oder 
langsam  zu  Grunde  gehen.  Geschieht  letzteres  plötzlich,  wird  eine 
grofse  Schädigung  der  Arbeiterschaft  die  Folge  sein , erfolgt  sie 
langsam,  haben  die  Arbeiter  Zeit,  neue  Erwerbsquellen  aufzusuchen, 
ln  solchen  Fällen  ist  eine  allmähliche  Ueberführung  von  der  längeren 
zur  kürzeren  Arbeitszeit  wünschbar.  Die  Zahl  der  hierher  gehören- 
den Industrien  ist  nicht  grofs,  um  so  grölser  aber  ihr  Umfang  und 
ihre  Bedeutung.  Hierher  gehört  z.  B.  die  Baumwollspinnerei.  Es 
dürfte  sich  empfehlen,  dem  Bundesrat  die  V oll  macht  zu 
erteilen,  für  solche  Industrien  die  Reduktion  der 
Arbeitszeit  succcssive  in  Kraft  treten  zu  lassen,  so 
dafs  erst  in  einigen  Jahren  das  angestrebte  Ziel  erreicht  wird. 

Das  bisherige  Gesetz  fordert  Verlegung  der  Arbeits- 
stunden in  die  Zeit  zwischen  6 Uhr  morgens  und  8 Uhr  abends. 
In  den  Monaten  Juni,  Juli  und  August  gestattet  es  den  Beginn  um 
5 Uhr.  Es  ist  nicht  einzusehen,  warum  nicht  auch  der  Mai  mit 
seinen  langen  Tagen  und  seinen  oft  hohen  Temperaturen  hinzuge- 
nommen wurde.  Die  Mehrzahl  der  Industrien  würde  zwar  diesen 
frühen  Beginn  nicht  einführen,  für  einzelne  aber,  wie  für  Ziegeleien, 
Brauereien  wäre  er  von  nicht  geringem  Wert. 

Auch  abends  ist  die  Forderung  des  Schlusses  um  acht  Uhr 


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284 


K.  Schüler, 


in  den  meisten  Fällen  ganz  berechtigt.  Aber  diese  Stunde  hat 
nicht  an  allen  Orten  die  gleiche  Bedeutung.  In  Städten  gilt  in 
den  kurzen  Tagen  die  Zeit  um  7 oder  1/a8  Uhr  morgens  noch  für 
eine  frühe  Stunde  und  in  manchen  Betrieben  sind  die  Arbeiterinnen 
nicht  vor  8 Uhr  in  die  Fabrik  zu  bringen,  während  auf  dem  I.and 
ein  früheres  Aufstehen,  aber  auch  ein  früheres  Schlafengehen  üblich 
ist.  Die  Städterin  würde  daher  eine  Arbeit  um  9 Uhr  abends 
viel  weniger  als  eine  späte  empfinden,  als  ihre  Berufsgenossin  auf 
dem  Land,  die  um  8 Uhr.  Hätte  man  diesen  ungleichen  Lebens- 
gewohnheiten  Rechnung  tragen  und  die  Arbeitszeit  der  spät  be- 
ginnenden Stickereiausrüsterinnen  während  der  strengsten  Zeit  des 
Jahres,  der  Glätterinnen  in  den  Waschanstalten  der  Zentren  des 
Fremdenverkehrs  über  8 Uhr  hinaus,  selbstverständlich  unter  Fest- 
haltung des  Elfstundentages,  ausdehnen  können,  hätte  man  auf  ihre 
Unterstellung  unter  das  Fabrikgesetz  nicht  zu  verzichten  gebraucht. 
Und  ebenso  hätten  Kleinbrotbäckereien  in  gröfseren  Städten,  Metz- 
gereien, die  bei  Sommerhitze  in  früheren  Stunden  beginnen 
müssen,  bei  genügender  Arbeiterzahl  sich  dem  Gesetz  nicht  ent- 
ziehen können,  wenn  die  Möglichkeit  solcher  ausnahmsweisen  Ge- 
stattung vorhanden  gewesen  wäre.  Es  könnten  also  fatale  L'ebel- 
stände  vermieden  und  manche  Arbeiterschaften  des  gesetzlichen 
Schutzes  teilhaft  gemacht  werden,  wenn  dem  Bundesrat  das 
Recht  verliehen  würde,  beim  Nachweis  unzweifelhaft 
zwingender  Gründe  Ausnahmen  von  der  Regel  zu  ge- 
statten, ein  Vorschlag,  den  seiner  Zeit  auch  der  durch  sein  ener- 
gisches Eintreten  für  Arbeiterschutz  überall  bekannte  damalige  Prä- 
sident des  Grütlivercins , Herr  Scherrer,  gemacht  hat.  Uebrigens 
lassen  auch  andere,  sonst  weitgehende  Fabrikgesetze  diese  Aus- 
nahmen zu.  England  erlaubt  Ueberstunden  bis  9 Uhr,  wenn  die 
Arbeit  morgens  um  7 beginnt  und  bis  IO,  wenn  sie  erst  um  8 UJir 
anfangt.  Frankreich  betrachtet  als  Nachtarbeit  nur  die  zwischen 
Abend  9 und  Morgen  5 Uhr;  wenn  in  zwei  Schichten  gearbeitet 
wird,  sogar  nur  die  Stunden  von  IO  bis  4 Uhr  morgens.  Weibliche 
Personen  über  18  Jahre  gestattet  es  in  Konfektionsgeschäften, 
Stickereien,  beim  Zusammenlegen  und  Packen  von  Bändern  etc.  an 
höchstens  Go  Tagen  im  Jahr  bis  1 1 Uhr  zu  beschäftigen,  ja  es  hebt 
unter  Vorbehalt  einer  nicht  mehr  als  10 ständigen  Arbeitszeit  für 
alle  „Geschützten“  die  Nachtarbeitbestimmungen  für  eine  ganze 
Reihe  von  Industriezweigen  auf. 

Auch  in  anderer  Richtung  mufs  für  die  Industrie  das  Zuge- 


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Dii*  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


285 


ständnis  eines  weiteren  Spielraums  gewünscht  werden.  Es  kommt 
nämlich  bei  chemischen  Prozeduren  oft  vor,  dafs  nicht  vorauszu- 
sehende Störungen  eintreten,  welche  die  Vollendung  der  Ar- 
beit verzögern,  die  aber  doch  nicht  unterbrochen  werden  kann, 
wenn  nicht  schwere  Verluste  eintreten  sollen.  Aehnliches  kann  bei 
der  Metallindustrie  Vorkommen.  Die  Ueberschreitung  der  gesetz- 
lichen Arbeitszeit  ist  in  solchen  Fällen  unvermeidlich.  Das  eng- 
lische Gesetz  hat  diese  Notwendigkeit  schon  vor  Jahrzehnten  vor- 
gesehen und  Abweichungen  „zum  Fertigmachen“  gestattet.  Eine 
solche,  allerdings  sehr  sorgfältig  zu  fassende,  Bestimmung  wäre 
auch  für  uns  empfehlenswerter,  als  das  blofse  Gewährenlassen,  zu 
dem  man  bisher  genötigt  war.  wenn  das  Gesetz  nicht  zum  Unsinn 
werden  sollte. 

Die  Verkürzung  oder  Beseitigung  der  Samstagnachmittags- 
arbeit war  lange  Gegenstand  eifriger  Kontroverse.  Kirchliche 
Gründe  haben  dabei  eine  grofse  Rolle  gespielt,  noch  mehr  aber 
hygienische  und  sozialpolitische.  Jedenfalls  ist  aber  die  Bedeutung 
der  zweitgenannten  nicht  so  grofs,  dafs  die  Bestrebungen  zur  Re- 
duktion der  alltäglichen  Arbeitszeit  darunter  leiden  dürfen,  denn  es 
ist  gewifs  richtig,  was  die  vortreffliche  Kennerin  des  Fabrikwesens, 
die  amerikanische  Inspektorin  Florence  Kelly  sagt  : „Es  ist  nicht  so 
sehr  die  tägliche  vernunftgemäfse  Arbeit,  die  die  Gesundheit  an- 
greift, als  die  lange  Dauer  unausgesetzter  Anstrengung,  die  den 
Organismus  schwächt  und  zerstört.  . . . Soll  der  Samstagabend  frei 
bleiben,  so  sollen  die  anderen  Wochentage  nicht  deswegen  ver- 
längert werden.“  Uebrigens  besteht  ja  gegenwärtig  alle  Aussicht, 
dals  die  Frage  der  Samstagarbeit  eine  von  der  Bundesversammlung 
acceptierte  Erledigung  finde,  die  auch  im  Volk  auf  keinen  erheb- 
lichen Widerstand  stofsen  wird. 

Unser  Gesetz  schreibt  nur  eine  einzige  Unterbrechung 
der  Arbeitszeit  ausdrücklich  vor  und  zwar  mufs  dieselbe,  den 
Gewohnheiten  unserer  Bevölkerung  sich  anpassend,  ungefähr  in  die 
Mitte  der  Arbeitszeit  fallen.  Nicht  nur  die  Art,  wie  allgemein  die 
Mahlzeiten  geregelt  sind,  die  Einteilung  der  Schulstunden  in  den 
öffentlichen  Schulen  etc.  spricht  dafür,  dafs  daran  festgehaltcn  werde, 
sondern  auch  hygienische  Gründe.  Nach  verschiedenen  Mitteilungen 
kompetenter  Personen  hat  man  in  Deutschland  mit  der  englischen 
Tischzeit  schlechte  Erfahrungen  gemacht.  „Vielfach  wird  von 
den  Kassenärzten  geklagt,  dafs  die  mit  englischer  Tischzeit  arbeiten- 
den Angestellten  häufiger  erkranken,  als  andere“  und  eine  Frauen- 


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286 


F.  S c h u I c r , 


ärztin  schreibt:  „Alle  diejenigen  Mädchen,  die  in  Geschäften  mit 
englischer  Tischzeit  angestellt  sind,  d.  h.  die,  welche  in  einer  höch- 
stens 1 „ständigen  Pause  nur  Kaffee  oder  Milch  und  belegte  Butter- 
brote und  erst  abends  die  Hauptmahlzeit  geniel'sen , werden  im 
Laufe  der  Jahre  magenleidend.“  Es  dürfte  somit  am  geratensten 
sein,  die  bisherigen  Bestimmungen  betr.  Mittagspause  fortbe- 
stehen  zu  lassen,  mit  dem  Beifugen,  dafs  der  Aufenthalt  im 
Arbeitslokal  in  der  mittäglichen  Efspause  oder  nach  Schlufs 
der  Tagesarbeit  nach  Ablauf  einer  zum  Umkleiden  nötigen  Frist 
und  ohne  spezielle  amtliche  Bewilligung  ungesetzlichem  Ar- 
beiten gleich  geachtet  werde.  Diese  Strenge  rechtfertigt 
sich  durch  das  häufige  Vorkommen  von  Putzarbeiten,  welche  in 
diesen  Stunden  vorgenommen  werden  und  die  durch  das  Bleiben 
der  Arbeiter  veranlafste  Verunmöglichung  einer  ausgiebigen  Lüftung. 

Inbezug  auf  die  Zwischenpausen  stellt  das  Fabrikgesetz 
keine  Bestimmungen  auf.  Ob  solche  nötig  sind,  hängt  von  der 
Art  der  Arbeit  und  mehr  noch  von  den  Gewohnheiten  einer 
Gegend  ab.  Einzelne  ausländische  Gesetze  schreiben  sie  vor,  wenn 
die  Dauer  der  ununterbrochenen  Arbeitszeit  ein  gewisses  Mals  über- 
schreitet. England  verlangte  längst  Zwischenpausen , nach  4 1 „- 
stündiger  Arbeit,  gestattete  aber  für  eine  Menge  Betriebe  Ver- 
längerung bis  auf  5 Stunden.  Deutschland  verlangt,  dafs  wenigstens 
die  Kinder  vor-  und  nachmittags  den  Arbeitsraum  verlassen,  so- 
fern der  Aufenthalt  im  Freien  nicht  unmöglich  ist  oder  geeignete 
Räume  nicht  unverhältnismäfsig  schwierig  beschafft  werden  können. 
Dies  dürfte  oft  genug  der  F'all  sein,  um  so  mehr,  als  diese  Unter- 
brechungen auch  für  die  Arbeit  der  Erwachsenen  sehr  hinderlich 
und  deshalb  den  Arbeitgebern  unwillkommen  sind,  so  dafs  sie  sich 
nicht  viel  Mühe  geben,  wirkliche  oder  angebliche  Schwierigkeiten 
zu  beseitigen.  Ob  wohl  diese  „Erholungspausen"  nicht  oft  das  Gegen- 
teil von  dem  bewirken,  was  man  bezweckt,  wenn  die  Kinder  aus 
dem  heifsen  Saal  schlecht  bekleidet  in  kalte  Winterluft  hinausstürzen 
oder  in  glühender  Sommerhitze  sich  herumjagen,  um  erhitzt  in  den 
feuchtheifsen  Saal  zurückzukehren?  Und  wird  Aufsicht  geübt  oder 
treiben  die  Kinder  sich  auf  der  Strafse  herum  oder  ziehen  sie  sich 
vielleicht  in  versteckte  Winkel  zurück,  beides  nicht  zu  ihrem  Vor- 
teil ? Bei  uns,  wo  verlangte  Pausen  nur  sehr  selten  versagt  werden 
und  wo  hoffentlich  bald  die  iostündige  Arbeitszeit  eingeführt  sein 
wird,  darf  man  wohl  auf  eine  Gesetzesbestimmung  verzichten,  welche 
Zwischenpausen  vorschreibt.  Dagegen  sollte  gesetzlich  festge- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  287 

stellt  werden,  was  der  Bundesrat  schon  in  den  8oer  Jahren  ver- 
langt hat,  „dafs  die  Pausen  nur  dann  nicht  in  die  Ar- 
beitszeit eingerechnet  werden  müssen,  wenn  sie  täg- 
lich, regelmäfsig  und  von  allen  Arbeitern  gleich- 
zeitig inne  gehalten  und  amtlich  angezeigt  werden 
und  dafs  während  derselben  das  Verlassen  der  Ar- 
beitsstelle gestattet  sei."  Doch  müfste  ein  Vorbehalt  ge- 
macht werden,  demzufolge  in  gewissen  Fällen  auf  die  Gleich- 
zeitigkeit der  Pausen  für  alle  Arbeiter  verzichtet  werden  könnte. 
Denn  es  giebt  Industrieen,  deren  Betrieb  ohne  Schaden  nicht  unter- 
brochen werden  kann  und  wo  die  Arbeiter  in  den  Pausen  schichten- 
weise sich  ablösen  müssen.  Auch  andere  Fabrikgesetze,  z.  B.  das 
englische,  haben  diese  Ausnahmen  nötig  gefunden. 

Die  gehörige  Kontrolle  über  die  richtige  Innehaltung  der  ge- 
setzlich zulässigen  Arbeitszeit,  mit  Einschlufs  der  Pausen,  ist  selbst- 
redend nur  möglich,  wenn  dieArbeitsstundenin  den  Arbeits- 
lokalen angeschlagen  und  den  Aufsichtsbehörden 
mitgeteilt  werden.  Dafs  der  Stundenplan  aber  von  diesen 
auch  dem  Fabrikinspektor  m it geteilt  werde,  ist  notwendig, 
wenn  diesem  ermöglicht  werden  soll,  sich  ein  Urteil  über  ihm  zu- 
gehende Klagen  wegen  Ueberschreitung  der  Arbeitszeit  zu  bilden. 

Noch  notwendiger  ist  es,  dafs  er  sofort  von  allen  Bewilli- 
gungen zur  Ueberschreitung  des  gesetzlichen  Arbeitstages  Kennt- 
nis erhalte.  Ihm  liegt  ob,  deren  Gesetzlichkeit  zu  prüfen  und  im 
Fall,  dafs  Mifsbrauch  mit  dem  Bewilligungsrecht  getrieben  wird, 
Einsprache  zu  erheben.  Solcher  Mifsbrauch  von  Seite  unterge- 
ordneter Beamter  ist  aber  nicht  gerade  selten  und  wird  öfter  Vor- 
kommen, solange  es  nicht  möglich  ist,  auf  Grund  des  Fabrikge- 
setzes mit  Strafen  gegen  solche  Beamte  einzuschreiten.  Unser 
Gesetz  hat  bisher  den  zu  Bewilligungen  kompetenten  Amtsstellen 
soviel  Freiheit  gelassen,  wie  kaum  ein  anderes.  Alles  kann  freilich 
nicht  reglementiert  werden.  Die  Würdigung  der  Gründe  mufs 
jeweilen  der  bewilligenden  Amtsstelle  überlassen  bleiben.  Selbst 
geschäftliche  Konvenienz  kann  nicht  in  allen  Fällen  ausgeschlossen 
bleiben.  Nichtausnutzung  der  Zeit  vor  dem  Inkrafttreten  fremder, 
unsere  Ausfuhr  verunmöglichender  Zölle  hätte  z.  B.  unserer  Industrie 
nachweislich  schon  Millionen  Schaden  gebracht.  Wie  zwingend 
aufsergewöhnlicher  Wassermangel,  Ueberschwemmung,  Brandun- 
glück wirken  können,  wie  infolge  dessen  Ueberzeitarbcit  im  höchsten 
Interesse  auch  des  Arbeiters  liegen  kann,  haben  wir  leider  nur  all- 


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288 


F.  Schüler 


zuoft  erfahren.  Ebenso  giebt  es  gewisse  Saisonarbeiten,  die  unbe- 
dingt die  Möglichkeit  einer  Verlängerung  der  Arbeitszeit  erheischen, 
wenn  die  betreffende  Industrie  überhaupt  soll  bestehen  können.  Es 
mögen  nur  die  Konservenfabriken,  deren  Rohmaterial  so  unberechen- 
bar ungleich  zufliefst  und  so  bald  zu  Grunde  geht,  die  Konfiserien, 
die  vor  Eestzeiten  so  enorm  beansprucht  werden,  die  Strohhut- 
wäschereien, denen  mit  der  ersten  schönen  Erühlingswoche  soviel 
drängende  Arbeit  zuströmt,  als  Beispiele  erwähnt  werden.  Die 
Mannigfaltigkeit  der  Bedürfnisse  macht  es  unmöglich,  durch  gesetz- 
liche Vorschriften  zu  bestimmen,  wofür  Ueberzeit  bewilligt  werden 
darf  oder  soll.  Dagegen  sollten  unbedingt  die  Vorschriften  auf- 
genommen werden,  welche  der  Bundesrat  am  7.  April  1885  in 
einem  Kreisschreiben  aufgestellt  hat  und  die  folgendermafsen  lauten : 
„Nur  schriftlich  erteilte  und  den  lokalen  Aufsichts- 
behörden mitgeteilte,  auf  eine  bestimmte  Zeitdauer 
und  bestimmte  Tagesstunden  lautende  Bewilligungen 
zur  Verlängerung  der  Normalarbeitszeit  sind  gültig. 
Dieselben  sind  den  Arbeitern  durch  Anschlag  in  der 
Fabrik  zur  Kenntnis  zu  bringen.  Es  ist  den  Lokalbe- 
hörden ihrerseits  nicht  gestattet,  in  der  Weise  Be- 
willigungen zu  erteilen,  dafs  durch  deren  unmittel- 
bar oder  periodisch  folgende  Wiederholung  die  Kom- 
petenz der  Kantonsregierung  umgangen  wir d.“  Beizu- 
fügen wäre  die  Pflicht  sofortiger  Anzeige  an  den  Fabrikinspektor. 

Das  Fabrikgesetz  sagt  nicht,  auf  wen  die  Bewilligungen  An- 
wendung finden  können,  aufser  in  Art.  16,  der  den  Personen  unter 
]6  Jahren  jede  Ueberschreitung  des  Normalarbeitstages,  auch  die 
ausnahmsweise,  wie  ausdrücklich  beigefügt  werden  sollte,  untersagt. 
Für  die  Frauen  sind  sie  durch  das  Verbot  der  Nachtarbeit  für  alle 
weiblichen  Personen  beschränkt.  Es  wäre  aber  kaum  zu  viel  ver- 
langt, sie  für  alle  Hausfrauen  gänzlich  zu  untersagen. 

Das  U e b e r in  a f s von  Bewilligungen,  über  das  so  viel 
geklagt  wird,  kommt  je  nach  den  Kantonen,  manchmal  auch  je 
nach  der  Geschäftslage  sehr  ungleich  vor,  wie  aus  den  Inspektions- 
berichten ersichtlich  ist.  Es  giebt  Kantone,  welche  nur  freiwillig 
geleistete  Ueberzeit  gestatten  und  die  sich  selbst  gewisse  Be- 
schränkungen auferlegen,  die  z.  B.  an  den  Tagen  vor  Sonn- 
und  Festtagen  keine  Ucberzeitarbeit  gewähren  oder  grundsätzlich 
keine  Bewilligungen  für  länger  als  vier  Wochen  erteilen.  Das 
schweizerische  Gesetz  sollte  aber  das  Beispiel  so  mancher  anderen 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


289 


Fabrikgesetzgebungen  nachahmen  und  die  zulässigen  Maxima 
der  Bewilligung,  für  jugendliche  [und  weibliche  Arbeiter  zunr 
allermindesten,  feststellen.  Für  diese  dürfte  ein  Maximum  von  einer 
Stunde  täglich  genügen,  sofern  es  sich  nicht  um  eine  Gestattung 
für  einen  oder  zwei  Tage  handelt.  Nur  bei  Industrieen,  wo  die  Ge- 
fahr des  Zugrundegehens  des  Materials  droht,  wäre  dies  für  eine 
gröfcere  Zahl  von  Tagen  wünschbar,  da  eine  der  plötzlichen  Zu- 
nahme dringlicher  Arbeit  entsprechende  Vermehrung  der  Arbeiter- 
zahl gewöhnlich  nicht  erreichbar  ist.  Für  Männer  könnte  ein 
Maximum  von  2 Stunden  festgesetzt  werden,  das  nur  in  Not- 
fällen überschritten  werden  dürfte. 

Wichtiger  noch  als  die  Tagesmaxima  sind  diejenigen  für  die 
Dauer  einer  Bewilligung.  Ilat  ein  Kanton,  wie  Zürich  oder 
St.  Gallen  mit  seiner  reichen  Industrie  mit  einem  Maximum  von 
vier  Wochen  auskommen  können,  sollte  dies  allgemein  möglich 
sein.  Eine  Verlängerung  braucht  deshalb  nicht  absolut  ausge- 
schlossen zu  sein.  Sie  würde  aber  am  besten  vom  Bundesrat  aus- 
gehen, der  eher  im  Fall  wäre,  für  eine  gleichmäfsige  und  grundsätz- 
liche Behandlung  der  Gesuche  zu  sorgen.  Eine  Beschränkung  der 
Zahl  der  Bewilligungen,  die  innerhalb  einer  bestimmten 
Periode  zulässig  wären,  gesetzlich  festzusetzen,  wäre  kaum  zweck- 
mäfsig.  Wenn  ja  z.  B.  ein  grofser  Betrieb  in  Jahresfrist  mehrere 
Dutzende  von  kleinen  wenige  Arbeiter  betreffenden,  nur  über  einen 
oder  wenige  Tage  sich  erstreckenden  Bewilligungen  hat,  bean- 
spruchen diese  seine  Arbeiterschaft  unendlich  viel  weniger,  als  eine 
einzige  vierwöchentliche  die  wenigen  Arbeiter  eines  anderen  Be- 
triebes belastet.  Es  wäre  daher  eine  Unbill,  die  gleiche  Zahl  für 
alle  festzusetzen,  ganz  abgesehen  davon,  dafs  Industriezweige,  die 
oft  Reparaturen  zu  besorgen  haben,  welche  anderen  Betrieben  das 
Weiterarbeiten  ermöglichen  sollen,  naturgcmäfs  verhältnismäfsig  viel 
öfter  in  den  Fall  kommen,  Ueberzeit  beanspruchen  zu  müssen. 

Weit  besser,  als  durch  die  Beschränkung  der  Zahl  der  Be- 
willigungen würde  das  beabsichtigte  Ziel  erreicht,  wenn  eine  Maxi - 
malzahl  der  zulässigen  Tage  mit  Ueberstunden  oder 
der  innerhalb  eines  Jahres  zu  leistenden  Ueber- 
stunden vorgeschricben  würde.  Dadurch  würden  mit  einem 
Schlag  alle  die  ungebührlich  ausgedehnten  Bewilligungen  beseitigt, 
die  in  einzelnen  Kantonen  Vorkommen.  Andere  Länder  sind  uns 
auch  hierin  mit  gutem  Beispiel  vorangegangen.  Zuerst  England, 
welches  die  früheren  hohen  Zahlen  heruntergesetzt  hat  und  Jugend- 

Archiv  für  *0 i.  Gesetzgebung;  u.  Statistik.  XVIII.  1 9 


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F.  Schüler, 


29O 

liehen  gar  keine,  Frauen  höchstens  30,  bei  gewissen  Industrie- 
zweigen, wie  der  Herstellung  von  leicht  verderbenden  Konserven, 
60  Tage  zugesteht.  Frankreich  setzt  die  Grenze  für  Frauen  über 
18  Jahren  mit  60  Tagen  an,  Deutschland  mit  40  und  Neuseeland, 
das  so  oft  als  Vorbild  in  fabrikgesetzgeberischer  Beziehung  ge- 
priesen wird,  erlaubt  28  mal  3 (!!)  Stunden  für  „Geschützte".  Wir 
würden  kaum  fehl  gehen,  wenn  wir  das  deutsche  Vorbild  befolgen 
wollten.  Eine  ausnahmsweise  Berücksichtigung  der  von  England 
besonders  bedachten  Industrieen  dürfte  wohl  dem  Bundesrat  zuge- 
standen werden. 

Ein  sehr  wirksames  Mittel,  dem  Mifsbrauch  von  Ueberzeit  vor- 
zubeugen, ist  ohne  Zweifel  die  Vorschrift,  dafs  Ueberzeitarbeit  um 
einen  bestimmten  Prozentsatz  höher  bezahlt  werden 
müsse,  als  sonstige  Arbeit.  Doch  müfste  eine  Ausnahme  gestattet 
werden  für  diejenigen  Fälle,  wo  ein  Unglücksfall  den  gewohnten 
Betrieb  unmöglich  gemacht  hat  und  die  Ueberzeitarbeit  einzelner 
Arbeiter  erst  die  Fortsetzung  der  Arbeit  ihrer  Berufsgenossen  er- 
möglicht. 

Noch  bleibt  zu  erwähnen,  dal's  die  Ueberzeitarbeit  zuweilen 
durch  die  Mit  gäbe  von  Arbeit  nach  Hause  ersetzt  wird. 
Untersagung  derselben  ist  durchaus  notwendig,  wenn  grobe  Ge- 
setzesumgehungen verhütet  werden  sollen.  Wohl  wird  es  hier  und 
da  Vorkommen,  dafs  das  Ziel  nicht  erreicht  wird,  aber  der  Kanton 
Zürich,  der  in  seinem  Arbeiterinnenschutzgesetz  dieses  Verbot  auf- 
genommen hat,  weifs  von  weit  günstigeren  Erfahrungen  zu  melden, 
als  man  früher  allgemein  erwartete. 

Auch  durch  Einführung  der  Schichtenarbeit  sucht  man 
zuweilen  Ueberzeitbewilligungen  entbehrlich  zu  machen.  Am 
häufigsten  kommt  dies  beim  Eintritt  von  Wassermangel  vor. 
Diese  Arbeitsmethode  ist  meist  eine  enorme  Belästigung  der 
Arbeiterschaft.  Die  Familie  wird  während  derselben  oft  ganz  aus- 
einander gerissen.  Während  die  einen  einer  am  frühen  Morgen 
beginnenden  Schicht  angehören , die  nach  kurzer  Morgenschicht 
zum  frühen  Mittagessen  nach  Hause  kommt  und  auch  abends  früh 
ihre  Arbeit  beendet,  sind  die  anderen  genötigt,  zur  Zeit  der  sonstigen 
Mittagspause  an  ihre  Stelle  zu  treten  und  bis  zur  letzten  erlaubten 
Stunde  auszuharren.  Wie  dadurch  das  ganze  häusliche  Leben  ge- 
stört, die  Arbeit  der  Hausfrau,  die  verschiedenen  Abteilungen  ihr 
bissen  bereit  zu  halten  hat,  gemehrt  wird,  liegt  auf  der  Hand. 
Allerdings  hat  das  Fabrikinspektorat  stets  die  Nachsuchung  einer 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  29 1 

Bewilligung  für  diese  Arbeitsordnung  gefordert,  die  Regierungen 
auf  die  daraus  entstehenden  Nachteile  aufmerksam  gemacht  und 
darauf  gedrungen,  dafs  solche  Schichtenarbeit  nicht  mehr  gestattet 
werde,  wo  sie  fast  jedes  Jahr  regelmäfsig  wiederkehrt  und  lediglich 
dadurch  veranlafst  wird , daCs  der  Fabrikbesitzer , dem  die  regel- 
mäfsige  Wiederkehr  des  Wassermangels  bekannt  ist,  nicht  für  die 
Beschaffung  von  Aushilfskraft  sorgt.  Es  dürfte  wohl  unbedenklich 
verlangt  werden,  dafs  bei  Wassermangel  Schichtenarbeit  nur  in  den 
Fällen  gestattet  werde,  wo  derselbe  ausnahmsweise  und  in 
nicht  vorher  zu  sehender  Weise  eintritt. 

Zum  Schlufs  dieses  Abschnitts  mag  noch  einiger  sehr  ver- 
einzelt vorkommender  Verhältnisse  erwähnt  werden,  wo  den  Be- 
hörden keinerlei  Befugnis  zustand,  Abweichungen  von  den  allge- 
meinen gesetzlichen  Vorschriften  zu  gestatten , wo  sie  aber  zur 
Ueberzeugung  gelangen  mufsten,  dafs  ein  strenges  Festhalten  am 
Buchstaben  des  Gesetzes  kaum  zu  rechtfertigen  sei.  So  giebt  es 
Unternehmungen,  wo  nur  einige  wenige  sachverständige  Personen 
den  Betrieb  so  durchzuführen  vermögen,  dafs  schwere  Gefährdungen 
der  Arbeiterschaft,  wie  der  Umgebung  ausgeschlossen  sind.  Diese 
Leute  lösen  sich  regelmäfsig  ab ; soll  aber  ein  Wechsel  in  der  Tag- 
oder Nachtschicht  im  kontinuierlichen  Betrieb  stattfinden,  könnte 
dies  nur  durch  Einschiebung  einer  dritten  Schicht  erfolgen.  Da 
hierfür  sachverständiges  Personal  fehlt  und  seine  Beschaffung  bei 
der  Kleinheit  des  Betriebs  unmöglich,  weil  die  ökonomische 
Leistungsfähigkeit  des  Geschäfts  übersteigend  ist,  kann  der  Wechsel 
nur  durch  Eiinschieben  einer  i8stündigen  Schicht  erzielt  werden. 
Daraus  sind  schon  oft  bedenkliche  Schwierigkeiten  erwachsen,  die 
nur  allmählich  durch  Gewinnung  oder  Anlcrnung  brauchbarer  Ersatz- 
mannschaft beseitigt  werden  konnten,  wozu  es  längerer  Zeit  be- 
durfte. 

Eis  giebt  ferner  Angestellte,  denen  gewisse  diffizile  Funktionen 
obliegen,  deren  unrichtige  Ausführung  enormen  Schaden  bedingen 
würde  und  für  den  sie  verantwortlich  wären.  Dauert  nun  dieser 
Prozefs  länger  als  der  normale  Arbeitstag,  läfst  sich  dessen  verant- 
wortlicher Leiter  kaum  bewegen,  sich  durch  jemand  anderes  ver- 
treten zu  lassen , an  dessen  Mifsgriffen  er  die  Mitschuld  tragen 
müfste.  In  solchen  Fällen  wird  vermutlich  das  Gesetz  allen  Be- 
mühungen der  Behörden  zum  Trotz  fast  immer  umgangen  werden. 
Die  Gestattung  einer  Ausnahme  wäre  hier  wohl  begründet  und 
jedenfalls  besser,  als  die  Provokation  einer  Gesetzesübertretung 

■9*  . 


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292 


F.  Schüler, 


durch  das  Festhalten  am  starren  Gesetzesbuchstaben.  Eine  solche 
Ausnahmegestattung  müfste  freilich  nur  von  der  Bundesbehörde, 
nach  vorheriger  Einholung  der  Ansicht  der  Kantonsregierung  und 
der  Inspektoren  ausgehen. 

Jede  andere  Gesetzgebung  sieht  solche  Ausnahmefalle  vor  und 
sorgt  durch  Erteilung  der  nötigen  Kompetenzen,  dafs  in  den  er- 
wähnten und  ähnlichen  Fällen  ohne  Schädigung  des  Ansehens  des 
Gesetzes  unerfüllbare  Anforderungen  vermieden  werden  können. 

Xll.  Hilfsarbeit. 

Es  giebt  eine  grofse  Zahl  Arbeiter,  deren  Thätigkeit  nicht  auf 
bestimmte  Stunden  beschränkt  werden  kann  und  ebensowenig  auf 
eine  bestimmte  Stundenzahl.  Zu  diesen  Leuten  gehören  nicht  nur 
Männer,  sondern  auch,  freilich  in  weit  geringerer  Zahl,  Frauen. 
Manche  Reinigungsarbeiten  können  z.  B.  erst  vorgenommen  werden, 
wenn  die  Arbeitsräume  verlassen  worden  sind.  Das  Lüften  und 
Heizen  mul's  besorgt  werden,  che  die  Tagesarbeit  beginnt,  zum 
Teil  auch  in  den  Pausen;  der  Dampfkessel  mufs  geheizt  werden 
lange  bevor  die  Maschinen  in  Bewegung  gesetzt  werden  können 
und  der  Oeler  mufs  sein  Werk  vollenden , bevor  es  durch  das 
laufen  gefährlicher  Getriebe  unausführbar  wird.  Für  alle  diese 
Arbeiten  erfand  man  den  gemeinsamen  Namen  der  „Hilfs- 
arbeite  n". 

Dieser  Ausdruck  hat  in  zahllosen  Fällen  eine  mifsbräuch- 
liehe  Anwendung  gefunden.  Man  meinte  auch,  die  Bestim- 
mungen des  Art.  XII  des  Fabrikgesetzes  auf  alle  Arbeiter  beziehen 
zu  können,  welche  auch  erst  nach  oder  schon  vor  dem  Normal- 
arbeitstag eine  Arbeit  zu  verrichten  hatten,  die  man  glaubte,  mit 
dem  Namen  der  Hilfsarbeit  belegen  zu  dürfen.  So  waren  durch 
eine  Reihe  von  Jahren  zahlreiche  Arbeiter  einer  unverantwort- 
lichen Ueberanstrengung  preisgegeben.  Eine  zutreffende  und  brauch- 
bare Definition  des  Ausdrucks  Hilfsarbeiter  zu  geben,  ist  noch  nie 
gelungen  und  wird  auch  nicht  so  leicht  möglich  sein,  wenigstens 
in  der  erforderlichen,  jedermann  verständlichen  Weise. 

Der  Bundesrat  unternahm  cs  daher,  diejenigen  Arbeiter- 
kategorieen  zu  bezeichnen,  die  als  unter  den  Art.  XII 
fallend  anzuerkennen  seien.  Dabei  blieb  natürlich  die  Bestimmung 
aufrecht  erhalten,  dafs  dazu  nur  Personen  über  >8  Jahren  und  von 
den  weiblichen  nur  die  unverheirateten  gehören  können.  Das  Yer- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


293 


zeichnis  der  erwähnten  Gruppen  von  Arbeitern  wurde  erst  nach 
eingehenden  Untersuchungen  und  Anhörung  der  Meinungsäufse- 
rungen  von  Arbeitern  und  Arbeitgebern  aufgestellt.  Wie  es  bisher 
nur  bruchstückweise  fertig  gestellt  wurde,  so  wird  es  wohl  auch 
weiter  geschehen,  weil  immer  neue  Beschäftigungsarten  auftauchen 
können,  die  früher  nicht  bekannt  waren  oder  nicht  dieselbe  Be- 
deutung im  Fabrikbetriebe  besafsen.  Vielleicht  wäre  es  das  rich- 
tigste, die  Bezeichnung  „Hilfsarbeiter“  ganz  zu  beseitigen,  die  zu  so 
viel  wirklichen  oder  angeblichen  Mifsverständnissen  und  ungerecht- 
fertigten Ansprüchen  führt  und  einfach  zu  sagen,  der  Bundesrat  sei 
ermächtigt,  diejenigen  Arbeiten  zu  bezeichnen,  auf  welche  die  Be- 
stimmungen des  Art.  XII  anzuwenden  seien.  Die  Liste  derselben 
braucht  bei  ihrer  voraussichtlich  in  diesem  oder  jenem  Sinn  öfter 
eintretenden  Revisionsbedürftigkeit  nicht  dem  Gesetz  einverleibt  zu 
werden.  Wohl  aber  sollte  dasselbe  Zusätze  erhalten,  die  erstlich 
den  Art.  XII  nur  auf  solche  Arbeiter  anwendbar  erklären,  die  spe- 
ziell mit  den  aufgezählten  Verrichtungen  betraut  sind,  nicht  aber 
solche,  denen  sie  neben  der  anderen  regulären  Fabrikarbeit  über- 
tragen werden  und  zweitens  den  Forderungen  übermäfsig 
langer  Arbeitszeit  entgegentreten.  Die  Fabrikinspektoren 
hatten  bisher  keine  andere  Handhabe,  um  gegen  Ueberanstrengung 
der  Hilfsarbeiter  einzuschreiten,  als  wenn  sie  sich  auf  die  Gefähr- 
dung dieser  Arbeiter  selbst  oder  ihrer  Nebenarbeiter  oder  auch  der 
Nachbarschaft  durch  übermüdete  und  schlaftrunkene  Leute  oder  auf 
nachweisliche  Gesundheitsschädigungen  der  Hilfsarbeiter  beriefen. 
Dem  sollte  ein  revidiertes  Gesetz  abhelfen.  Wohl  könnte  schwer- 
lich eine  bestimmte  Zahl  von  täglichen  Arbeitsstunden 
festgestellt  werden,  da  die  Bedürfnisse  des  Betriebs  bei  einzelnen 
Arten  von  Hilfsarbeiten  nicht  immer  die  gleichen  sind  und  da  oft- 
mals auch  nur  eine  gewisse  Anzahl  von  Stunden  Präsenz  zeit, 
nicht  eigentlicher  Arbeit  gefordert  werden  mufs,  die  kaum  zum 
vollen  Wert,  wie  die  eigentliche  Arbeitszeit  zu  rechnen  ist.  Da- 
gegen wäre  cs  gewifs  möglich , jedem  Arbeiter  eine  gewisse 
Maximalzahl  wöchentlicher  Arbeits-  resp.  Präsenz- 
stunden zu  sichern  oder  eine  Minimalzahl  der  täglichen 
Ruhestunden  vorzuschreiben,  die  unmittelbar  aufeinander  zu 
folgen  hätten  oder  endlich  durch  das  Verlangen  von  Lohn- 
zuschlägen bei  einer  über  12  Stunden  hinausgehenden  Beschäf- 
tigung  die  übermäfsige  Beanspruchung  des  Arbeiters  unprofitabel 
zu  machen. 


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2Q4  F.  Schüler, 

Es  ist  auch  beanstandet  worden,  dafe  Frauen  als  Hilfsarbeite- 
rinnen funktionieren  können.  Aus  der  früheren  Aufzählung  der 
den  Hilfsarbeitern  zukommenden  Funktionen  geht  aber  zur  Genüge 
hervor,  dafs  manche  derselben  nur  für  Frauen  geeignet  sind,  dal's 
diese  auch  ganz  besonders  solche  sind,  welche  nur  nach  der  regu- 
lären Arbeitszeit  vorgenommen  werden  können.  Man  wird  also 
besser  bei  der  bisherigen  Bestimmung  inbezug  auf  die  Verwendung 
der  Frauen  bleiben. 

XIII  und  XIV.  Nacht-  und  Sonntagsarbeit. 

Die  verschiedenen  Bundesratsbeschlüsse,  welche  genauere  Be- 
stimmungen betreffend  Nacht-  und  Sonntagsarbeit  aufstellen, 
fassen  jeweilcn  zusammen,  was  in  diesen  Artikeln  behandelt  ist. 
Mit  Recht,  da  beide  ineinanderübergreifen.  Sie  würden  besser  ver- 
schmolzen. 

Was  als  Nachtarbeit  zu  betrachten  sei,  sagt  das  Gesetz 
ganz  genau.  Wie  wünschbar  es  wäre,  dafs  dieselbe  etwas  anders 
definiert  oder  aber  dem  Bundesrat  das  Recht  erteilt  würde,  in  ge- 
wissen Fällen  Abweichungen  von  den  bisherigen  Vorschriften  zu 
gestatten,  wurde  früher  schon  gesagt  und  motiviert.  Schlimmer 
steht  es  mit  der  Definition  der  Sonntagsarbeit.  Wann  be- 
ginnt, wann  endet  die  gesetzlich  verlangte  Sonntagspause?  Die 
Antwort  darauf  lautet  sehr  verschieden.  Die  Hauptsache  ist  wohl, 
dafs  die  Ruhestunden  derart  geregelt  seien,  dafs  dem  Arbeiter  das 
Zusammenleben  mit  der  Familie,  der  gesellschaftliche  Verkehr,  der 
Genufs  sonntäglicher  Vergnügungen,  wie  etwa  Spaziergänge  u.  dgl., 
sowie  selbstverständlich  auch  die  Befriedigung  kirchlicher  Bedürf- 
nisse hinreichend  ermöglicht  werde.  Sofern  dies  der  Fall  ist, 
kommt  es  nicht  darauf  an,  ob  der  Sonntag  von  Sonntag  morgens 
sechs  bis  Montags  um  dieselbe  Zeit  oder  von  Samstag  bis  Sonntag 
abend  sechs  oder  auch  von  Mitternacht  zu  Mitternacht  gerechnet 
werde.  Das  letzte  hält  sich  genau  an  den  astronomisch  richtigen 
Sonntag,  stört  aber  in  sehr  unzweckmäfsiger  Weise  die  Nachtruhe  in 
der  Samstag-  und  Sonntagnacht.  Gewähre  man  also  doch  Freiheit, 
vielleicht  mit  dem  Beifügen,  dafs  die  Sonntagmorgenarbeit  nie  über 
6 Uhr  dauern,  die  am  Sonntag  Abend  nie  vor  8 Uhr  beginnen 
dürfe.  Wenn  man  auch  so  zu  26  Freistunden  gelangt,  dürfte  dies 
von  der  Industrie  leicht  zu  ertragen  sein. 

Die  Sonntagsarbeit  ist  auch  darin  beschränkt,  dafs  sie  nicht 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


295 


an  mehreren  Sonntagen  nacheinander  zulässig  ist,  sondern  dafs 
jeder  zweite  Sonntag  frei  bleiben  mufs.  Wo  es  sich  um 
Notarbeiten  handelt , wird  diese  Bestimmung  kaum  irgendwo 
beachtet.  Das  wird  auch  kaum  zu  vermeiden  sein.  Dagegen 
dürfte  wohl  vorgeschrieben  werden,  dafs  dem  Arbeiter,  der  an 
zwei  Sonntagen  nacheinander  beansprucht  worden  ist , in  der 
Woche  ein  voller  Tag  von  24  Stunden  frei  gegeben 
werde. 

Ein  weiterer  Wunsch,  den  man  öfter  vernimmt,  ist  der,  dafs 
an  den  drei  hohen  Festtagen,  Weihnacht,  Ostern  und  Pfingsten 
eine  Pause  von  48  statt  24  Stunden  einzutreten  habe.  In  vielen 
Kantonen  ist  dies  längst  der  Fall,  wo  aber  die  Sitte  nicht  sonst 
herrscht,  diese  Tage  auch  zu  feiern  würde  eine  solche  Vorschrift 
wohl  sehr  widerwillig  aufgenommen,  besonders  bei  den  Katholiken, 
die  sonst  schon  eine  gröfsere  Zahl  von  Feiertagen  haben.  Sehr 
empfehlenswert  wäre  dagegen,  dafs  die  kantonalen  Regierungen 
verpflichtet  wären,  allfällige  Aenderungen  in  der  Liste  der  obli- 
gatorischen F eiertage  jeweilen  anzuzeigen.  Es  würden  da- 
durch nicht  selten  unangenehme  Mifsverständnisse  vermieden. 

Das  Gesetz  zählt  eine  Reihe  von  Fällen  auf,  wo  Nacht-  oder 
Sonntagsarbeit,  selbst  zum  Teil  ohne  Einholung  einer  Be- 
willigung zulässig  ist.  Letzteres  gilt  für  die  „Notarbeite n“. 
Doch  sind  diese,  wohl  aus  Versehen,  nur  bei  der  Sonntagsarbeit 
vorgesehen,  während  sie  bei  der  Nachtarbeit  weit  häufiger  Vor- 
kommen. Allerdings  ist  der  Arbeitgeber  von  der  Einholung  einer 
Bewilligung  entbunden,  „wenn  es  sich  um  dringende,  nur  einmalige 
Nachtarbeit  erheischende  Reparaturen"  handelt.  Aber  es  giebt 
auch  andere  Notarbeiten,  über  welche  das  Gesetz  sich  genauer  aus- 
sprechen sollte.  Das  deutsche  Gesetz  zählt  als  solche  auf : Ar- 
beiten, welche  in  Notfällen  oder  im  öffentlichen  Interesse  unver- 
züglich vorgenommen  werden  müssen,  die  Bewachung  der  Betriebs- 
anlagen, Arbeiten  zur  Reinigung  und  Instandhaltung,  durch  welche 
der  regelmäfsige  Fortgang  des  eigenen  oder  eines  fremden  Betriebes 
bedingt  ist,  sowie  Arbeiten,  von  welchen  die  Wiederaufnahme  des 
vollen  werktägigen  Betriebs  abhängig  ist,  sofern  diese  Arbeiten 
nicht  an  Werktagen  vorgenommen  werden  können.  Ferner  erwähnt 
es  Arbeiten,  welche  zur  Verhütung  des  Verderbens  von  Rohstoffen 
oder  des  Miislingens  von  Arbeitserzeugnissen  erforderlich  sind  und 
an  Werktagen  nicht  vorgenommen  werden  können.  Derartige  Er- 
läuterungen in  unser  Gesetz  aufzunehmen,  ist  dringend  notwendig. 


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296 


F.  Schüler, 


denn  der  Ausdruck  N'otarbeit  erfahrt  oft  eine  ganz  sonderbare- 
Interpretation.  Will  man  Mifsbräuchen  der  allgemein  gehaltenea 
Bewilligung  Vorbeugen,  mufs  auch  verlangt  werden,  dafs  e i n Ver- 
zeichnis geführt  werde,  aus  dem  die  Zahl  der  Arbeiter 
und  Dauer  und  Art  ihrer  Beschäftigung  mit  „Not- 
ar b e i t e n“  zu  ersehen  sind. 

Zu  jeder  anderen  Nacht-  oder  Sonntagsarbeit  ist  die  amt- 
liche Bewilligung  einzuholen,  oder  eigentlich  nur  für  erstere, 
wenn  es  sich  nicht  um  wiederholte,  regelmäfsige  Sonntagsarbeit 
handelt.  Die  Lokalbehörden  haben  die  Befugnis,  für  zwei  Wochen 
Erlaubnis  zur  Nachtarbeit  zu  erteilen,  eine  in  Anbetracht  der  Leich- 
tigkeit, mit  der  solche  Bewilligungen  erhältlich  sind,  viel  zu  lange 
Dauer.  Eine  Woche  würde  genügen,  da  innerhalb  dieser  Frist 
mit  aller  Bequemlichkeit  die  regierungsrätliche  Bewilligung  einge- 
holt werden  könnte. 

Wo  eine  dauernde  Gestattung  von  Nacht-  oder 
Sonn  tag  sarbeit  beansprucht  wird,  ist  nur  der  Bundesrat 
kompetent;  ebenso  zur  Erteilung  von  solchen,  die  für  einen  ganzen 
Industriezweig  Gültigkeit  haben  („generelle  Bewilligungen“). 
Di'ese  werden  jeweilen  nur  nach  sehr  eingehender  Prüfung  erteilt. 
Sie  werden  auch  von  Zeit  zu  Zeit  einer  R e v i s i o n unterworfen, 
wie  aus  den  bezüglichen  Bundesratsbeschlüssen  zu  entnehmen  ist. 
Es  wird  nicht  nur  einfach  Sonntagsarbeit  zugestanden,  sondern  es 
wird  auch  geprüft,  wie  viel  Zeit  erforderlich  sein  möchte,  um 
das  durchaus  Nötige  zu  verrichten  und  je  nach  dem  Resultat  dieser 
Untersuchung  wird  die  Gestattung  auf  eine  gewisse  Stunden- 
zahl oder  Tageszeit  beschränkt. 

Was  die  Form  und  die  beigefugten  Bedingungen  aller  Be- 
willigungen anbetrifft,  sind  dieselben  bisher  schon  nur  anerkannt 
worden,  wenn  sie  schriftlich  ausgestellt  und  den  zur  Aufsicht  ver- 
pflichteten Amtsstcllen  mitgeteilt  wurden.  Anschlägen  der  Be- 
willigung in  den  Arbeitsräumen  wurde  allgemein  verlangt.  Ueber 
die  Zwischenpausen  etwas  beizufügen,  wurde  sehr  häufig  unter- 
lassen. Da  aber  vielfach  die  Meinung  herrscht , es  bedürfe  b e i 
Nachtarbeit  keiner  Pause,  würde  das  Vorschreiben  einer 
solchen  besser  gefordert.  Höhere  Bezahlung  ,für  Nachtarbeit 
oder  Sonntagsarbeit  vorzuschreiben,  ist  so  ziemlich  allgemein  als 
billig  anerkannt  und  üblich.  Einen  bestimmten  Prozentsatz  vorzu- 
schreiben, geht  aber  nicht  wohl  an,  namentlich  bei  kontinuierlichen 
Betrieben,  welche  eine  solche  das  ganze  Jahr  hindurch  dauernde 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


297 


Erhöhung  der  täglichen  Lohnausgabe  nicht  immer  zu  ertragen  ver- 
möchten. Auch  giebt  es  Fälle,  wo  die  Möglichkeit  des  völligen 
Verzichts  auf  Lohn  Zuschlag  sollte  gewährt  werden  können. 
Es  ist  z.  B.  schon  öfter  vorgekommen,  dafs  nach  dem  Brand  eines 
Teils  eines  Etablissements  viele  Arbeiter  brotlos  geworden  wären, 
wenn  sie  nicht  durch  Einführung  von  Nachtarbeit  an  den  erhalten 
gebliebenen  Maschinen  Ersatz  gefunden  hätten.  Zu  dieser  ohnehin 
weniger  und  schlechteres  Produkt  liefernden  Nachtarbeit  würde  sich 
aber  der  Prinzipal  nicht  entschliefsen,  wenn  ihm  die  Arbeitslöhne 
noch  überdies  verteuert  würden.  Aehnliche  Verhältnisse  kommen 
hier  und  da  vor  und  sollten  Berücksichtigung  finden. 

Sehr  schwer  wird  bei  Einführung  des  Zehnstundentages  die 
Frage  zu  entscheiden  sein,  welche  Bedingungen  wegen  der  Pausen 
zu  stellen  seien.  Bei  kontinuierlichen  Betrieben  ist  es 
kaum  gedenkbar,  dafs  ein  Arbeiter  nur  10  Stunden  bei  seiner  Be- 
schäftigung verbleibe,  zumal  wenn  das  Recht  zum  Verlassen  des 
Arbeitslokals  in  den  Pausen  beansprucht  wird.  Man  wird  daher 
unwillkürlich  zum  Postulat  einer  achtstündigen  Schichten- 
arbeit geführt.  Diese  wäre  auch  vom  hygienischen  Standpunkt 
aus  empfehlenswert.  Wo  die  Arbeit  eine  besonders  anstrengende 
oder  ungesunde  ist,  sollten  diese  drei  Schichten  unbedingt  verlangt 
werden.  Wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  müssen  verschiedene  Bedenken, 
die  dagegen  sprechen,  wohl  erwogen  werden. 

Die  Erstellungskosten  eines  Produktes  würden  in  den  Fallen, 
wo  die  gröfsere  oder  geringere  Thätigkeit  des  Arbeiters  die  Menge 
des  gelieferten  Produktes  nicht  oder  nur  sehr  wenig  beeinflufst, 
selbstverständlich  um  '/,  des  nunmehr  zu  bezahlenden  Lohnes 
steigen,  es  wäre  denn,  dafs  der  bisherige  Lohn  des  einzelnen  ent- 
sprechend heruntergesetzt  würde.  Ob  alle  Industrieen  mit  konti- 
nuierlichem Betrieb  diese  Vermehrung  der  Produktions- 
kosten ertragen  können  oder  nicht,  müfste  jedenfalls  genau  ge- 
prüft werden. 

Vielleicht  würde  die  Einführung  der  Dreischichtcnarbcit  auch 
zu  einem  Verzicht  auf  die  Nachtarbeit  führen,  ein  aus 
Arbeiterkreisen  wiederholt  gestelltes  Postulat.  Damit  würde  die 
Nachtarbeit  z.  B.  für  etwa  200 — 250  unter  dem  Fabrikgesetz 
stehende  Müller  beseitigt.  Zugleich  aber  würde  die  Wasserkraft, 
welche  heute  von  den  Mühlen  mit  drei  und  mehr  Arbeitern  benutzt 
wird  und  6326  Pferdestärken  ausmacht,  in  ihren  Beschaffungskosten 
sich  auf  ein  nur  noch  etwa  zwei  Drittel  des  bisherigen  sich  be- 


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F.  Schüler, 


laufendes  Quantum  Mehl  verteilen  müssen.  Ob  und  in  welchem 
Mafs  dies  den  Preis  des  Produktes  erhöhen  würde,  mögen  Fachleute 
berechnen.  Es  werden  solche  Rücksichten  jedenfalls  nicht  ohne 
Einflufs  auf  die  Gestaltung  unserer  gewerblichen  Gesetzgebung 
bleiben. 

Eine  weitere  mit  der  Nachtarbeit  zusammenhängende  Frage 
ist  die,  wie  der  Schichten  Wechsel  stattfinden  scjl.  Hierin 
gehen  die  Wünsche  der  davon  betroffenen  Arbeiter  oft  weit  aus- 
einander. Es  giebt  Arbeiter,  welche  diesen  Wechsel  gar  nicht 
wünschen.  So  sind  unter  den  sogen.  Nachtschaffern  in  den  Mühlen 
viele,  die  jahraus  und  -ein  nachts  beschäftigt  sind  und  dies  der 
Tagesarbeit  vorziehen,  einerseits  weil  sie  etwas  besser  bezahlt  werden, 
andererseits  weil  die  Nachtarbeitcr  gewisse  anstrengende  Funktionen 
nicht  über  sich  nehmen  müssen.  Andere  wünschen  Wechsel,  bald 
in  kürzeren,  bald  in  längeren  Perioden,  da  sich  der  eine  schneller, 
der  andere  langsamer  in  den  Wechsel  findet.  Manche  bedürfen 
vieler  Tage,  bevor  sie  sich  an  das  Schlafen  bei  Tage  gewöhnen 
oder  auch  abends  wieder  rechtzeitig  zu  dem  Schlaf  gelangen 
können,  dessen  sie  sich  um  diese  Zeit  entwöhnt  hatten.  Am  besten 
würde  der  Termin  des  Schichtenwechsels  durch  die  Beteiligten  selbst 
festgestellt. 

Dann  bleibt  aber  noch  eine  Frage  zu  erledigen.  Wenn  die 
24  Betriebsstunden  in  zwei  Schichten  geteilt  sind,  wird  ein  Wechsel 
kaum  stattfinden  können,  ohne  dafc  längere  oder  kürzere,  als  die 
normalen  Schichten  zwischenhinein  geschoben  werden.  Die  längeren 
widersprechen  dem  Gesetz,  kürzere  sind  dem  Arbeiter  oft  zuwider, 
weil  ihm  eine  nur  kurze  Arbeitsperiode  in  seine  gewohnte  Zeitein- 
teilung nicht  pafst.  Andere  Fabrikgesetze  gestatten  abnormal  lange, 
z.  B.  iSstündige  Arbeits-  oder  Präsenzperioden,  um  den  Schichten- 
wechsel zu  ermöglichen.  Den  Entscheid  auch  hier  den  Arbeitern 
selbst  zu  überlassen,  wo  nicht  schwerwiegende  Gründe  entgegen- 
stehen, wäre  vielleicht  das  Empfehlenswerteste  ,•  wenn  die  Zwei- 
schichtenarbeit fortbestehen  bleibt. 

Das  1877er  Fabrikgesetz  bestimmt  am  Schlufs  von  Art.  XIII., 
dafs  alle  erteilten  Bewilligungen  bei  veränderten  Verhältnissen  der 
Fabrikation  zurückgezogen  oder  abgeändert  werden  können. 
Das  darf  auch  für  die  Gestattung  der  Sonntagsarbeit  gelten.  Die 
Anregung  zur  Einholung  wie  zur  Aenderung  solcher  Bewilligungen 
wird  meist  von  den  Fabrikinspektoren  ausgehen,  wie  sie  auch  in 
der  Regel  zuerst  vom  Bundesrat  resp.  seinem  Industriedepartement 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


299 


um  ihre  Ansicht  befragt  werden.  Die  Verpflichtung,  die  Meinung 
der  Arbeiter  vor  Erteilung  einer  Bewilligung  ebenfalls  einzuholen, 
wie  schon  vorgeschlagen  worden,  erscheint  überflüssig,  da  in  den 
meisten  Fällen  die  Notwendigkeit,  die  vom  Gesetz  als  erwiesen 
vorausgesetzt  wird,  für  die  nachgesuchte  Bewilligung  vom  tech- 
nischen Standpunkt  aus  nachgewiesen  ist.  In  den  meisten 
Fällen  wäre  diese  Befragung  eine  unnötige  Komplikation  des  ganzen 
Verfahrens,  während  eine  Bekanntmachung  der  nachgesuchten  Be- 
willigung durch  Anschlag  in  der  Fabrik  der  Arbeiterschaft  auch 
die  Möglichkeit  gewähren  würde,  gerechte  Einwendungen  beim  In- 
dustriedepartement zur  Geltung  zu  bringen.  Auch  später  noch  auf 
veränderte  Verhältnisse  aufmerksam  zu  machen  oder  Wünsche  an- 
zubringen, steht  ja  ohne  weiteres  den  Arbeitern  frei. 


XV.  Frauenarbeit. 

Frauenspersonen  sollen  unter  keinen  Umständen  zur  Sonn- 
tags- oder  Nachtarbeit  verwendet  werden,  bestimmt  das  1877er 
Fabrikgesetz.  Diese  Vorschrift  ist  um  so  strenger,  als  die  Nacht- 
arbeit schon  um  8 Uhr  beginnt.  Sie  ist  allzu  starr.  Es  wurde 
schon  früher  gezeigt,  zu  welchen  für  eine  grofse  Zahl  Frauen  sehr 
nachteiligen  Folgen  dies  geführt,  wie  es  sie  dem  Schutz  des  Fabrik- 
gesetzes entzogen  hat.  Die  dort  (pag.  284)  angeführten  Beispiele 
liefsen  sich  mit  Leichtigkeit  vermehren.  Es  kann  daher  hier  nur 
der  Wunsch  wiederholt  werden,  dafs  der  Bundesrat  die  Befugnis 
erhalte,  in  besonderen  Fällen  Ausnahmen  zu  gestatten. 
Es  ist  damit  durchaus  nicht  beabsichtigt,  der  Ueberzeitarbeit  der 
Frauen  Vorschub  zu  leisten  — im  Gegenteil,  die  gewünschte  Ver- 
schiebung der  Arbeitsstunden  wird  oft  die  Uebcrzeit  überflüssig 
machen.  Es  soll  also  nicht  das  Beispiel  der  englischen  oder  deut- 
schen Gesetzgebung  nachgeahmt  werden,  welche  zwar  ihre  Ge- 
stattungen in  sehr  bescheidenen  Grenzen  halten  und  noch  weniger 
dasjenige  der  französischen  von  1895,  welche  durch  eine  Menge 
von  Ausnahmsgestattungen  in  zahlreichen  Fällen  Nachtarbeit  der 
Frauen  ermöglicht. 

Für  die  den  Frauenschutz  mehr  ausdehnende,  als  beschränkende 
Tendenz  dieser  Vorschläge  dürfte  auch  der  Antrag  sprechen,  dafs 
eine  Bestimmung  ins  Gesetz  aufgenommen  werde,  wonach  zu  ge- 
wissen Arbeiten  nicht  nur  schwangere  Frauen,  sondern  weibliche 
Personen  überhaupt  nicht  zugelassen  werden  dürfen. 


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3oo 


F.  Schüler, 


sei  es  aus  Gründen  des  Anstands  oder  wegen  mangelnder  physischer 
Kignung.  Allerdings  hat  sich  unsere  Bevölkerung  schon  bisher  aus 
angebornem  Anstandsgefühl  oder  verständiger  Einsicht  von  solcher 
ungebührlichen  Beanspruchung  der  Frauen  meist  fern  gehalten.  Es 
sind  sehr  seltene  Ausnahmen,  wenn  eine  Frau  unter  den  halb- 
nackten Arbeitern  an  Brenn-  und  Glasöfen,  beim  Abtragen  von 
Ziegeln,  oder  auch,  wenn  sie  bei  der  Besorgung  von  Zirkularsägen 
und  anderen  gefährlichen  Maschinen  betroffen  wird.  Was  soll  aber 
der  Inspektor  anfangen,  wenn  es  vorkommt  und  sein  Zureden  den 
Mifsstand  nicht  zu  beseitigen  vermag?  Mit  der  Anrufung  des  letzten 
Alinea  von  Art.  XV  kommt  er  in  solchem  Fall  nicht  zum  Ziel. 
Der  Bundesrat  sollte  daher  beauftragt  werden,  wie  er  eine  Liste 
der  Arbeiten  aufgcstellt  hat,  zu  welchen  Schwangere  nicht  zuge- 
lasscn  werden  dürfen,  so  auch  eine  solche  zu  erstellen, 
welche  den  weiblichen  Personen  die  Beteiligung  an 
gewissen  Arbeiten  verbietet. 

Unser  Gesetz  enthält  auch  noch  einige  andere  Bestimmungen 
speziell  zu  Gunsten  der  Frauenwelt  oder  es  werden  solche  ange- 
strebt. Dahin  gehört  die  Verlängerung  der  Mittagspause, 
welche  den  Frauen  gewährt  werden  mufs,  die  eine  Haushaltung  zu 
besorgen  haben.  Diese  Halbstunde  ist  freilich  nur  eine  kleine  Ab- 
schlagszahlung an  das,  was  nicht  nur  im  Interesse  der  Frau  selbst, 
sondern  vielleicht  noch  mehr  in  demjenigen  der  besseren  Ernährung 
der  ganzen  Familie  wünschbar  wäre.  Doch  wäre  der  Gewinn 
kleiner,  als  man  denkt,  so  lange  bei  den  Frauen  eine  so  geringe 
Kenntnis  des  Kochens  zu  finden  ist,  wie  sie  heute  leider  zu 
konstatieren  ist.  Die  Fabrikation  von  Konserven , welche  eine 
rasche  Zubereitung  verdaulicher  und  wohlschmeckender  Speisen 
während  der  kurzen  Mittagspause  erleichtern,  hat  zwar  den  Uebel- 
stand  etwas  gemildert,  aber  nur  bei  denjenigen,  welche  in  dieser 
etwas  kostspieligeren  Weise  ihren  Tisch  zu  bestellen  vermögen. 
Tausende  würden  aber  auch  bei  längerer  Mittagspause  nach  wie 
vor  mit  abscheulich  zubereiteter  Kost  sich  begnügen  müssen.  Die 
allgemeine  Einführung  von  Kochunterricht,  mindestens  in  allen  in- 
dustriellen Gegenden,  würde  vermutlich  weit  mehr  Nutzen  bringen. 
Zudem  ist  es  sehr  fraglich,  welche  Aufnahme  eine  solche  verlängerte 
Mittagspause  nicht  nur  bei  den  Arbeitgebern,  sondern  ebensosehr 
bei  den  Arbeiterinnen  selbst  fände. 

Die  Erfahrungen , welche  man  bei  der  Enquete  betreffend 
Samstagnachmittagschlufs  gemacht  hat,  sind  nicht  gerade 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


301 


ermutigend  für  solche  Versuche.  Hat  man  sich  doch  hier,  wenig- 
stens in  den  eidgen.  Räten,  mit  einem  Kompromifs  zwischen  den 
verschiedenen  Wünschen  und  Interessen  begnügt,  welcher  den  Haus- 
frauen eine  geringe  Erleichterung  bringen  und  mehr  den  Männern 
Vergnügen  verursachen  wird. 

Die  Bestimmungen  des  Art.  XV,  welche  sich  auf  die  Schwan- 
geren und  Wöchnerinnen  beziehen,  sind  sehr  human  gedacht, 
aber  sehr  unpraktisch  gefafst,  wie  die  Amtsberichte  der  Inspektoren 
oft  nachgewiesen  haben.  Das  Fernhalten  der  in  den  letzten 
Wochen  der  Schwangerschaft  stehenden  Frauen  wurde  dadurch  nie 
erreicht.  Zahllose  Frauen  arbeiteten  bis  zum  Tag  der  Niederkunft, 
teils  weil  sie  dies  wollten  und  das  Gesetz  sie  nicht  hinderte,  teils 
weil  sie  den  Endtermin  der  Schwangerschaft  .selbst  nicht  einmal 
kannten.  Ihn  genau  festzustellen,  wäre  in  der  Minderzahl  der  Fälle 
möglich  und  die  Schwangeren  selbst  wären  kaum  bestrebt,  dazu  mit- 
zuhelfen. Allerdings  treten  eine  Menge  Schwangere  vor  der 
Niederkunft  aus  der  Arbeit,  oft  Monate  lang  zuvor,  weil  sie 
unter  allerlei  Schwangerschaftsbeschwerden  leiden.  Vom  Gesetz 
werden  sie  nicht  dazu  bewogen  — im  Gegenteil,  es  wird  sehr  viel 
über  dieses  „am  grünen  Tisch  erlassene“  Gesetz  gespottet. 

Während  sich  die  Zeit  vor  der  Niederkunft  so  ziemlich 
jeder  Kontrolle  entzieht,  kann  dieselbe  über  das  Wegbleiben  sechs 
Wochen  nachher  viel  leichter  geübt  werden.  Sie  kann  bei  einigem 
guten  Willen  ganz  genau  sein,  wenn  nach  den  vom  Bundesrat  am 
7.  April  1885  aufgestellten  Weisungen  verfahren  wird.  Nach  den- 
selben, deren  Aufnahme  ins  Gesetz  sehr  zu  empfehlen  wäre,  mülste 
„eine  spezielle  Wöchnerinnenliste  geführt  werden, 
in  welcher  das  Datum  jedes  wegen  bevorstehender 
Niederkunft  erfolgenden  Fabrikaustritts  und,  wenn 
der  Wiedereintritt  stattfindet,  das  von  der  Hebamme, 
• dem  Arzt  oder  dem  Zivilstandesamt  bescheinigte 
Datum  der  Niederkunft,  sowie  dasjenige  des  Wieder- 
eintritts eingetragen  wird.“  Aber  diese  Eiste  hilft  nichts, 
wenn  die  Wöchnerin  nicht  mehr  in  das  gleiche  Geschäft  zurück- 
kehrt. Dies  geschieht  aufscrordentlich  oft.  Die  Frau,  welche  sich 
dem  Ausschlufs  entziehen  will,  tritt  entweder  für  kürzere  oder 
längere  Zeit,  in  eine  andere  Fabrik  ein,  wo  man  von  ihrer  Nieder- 
kunft nichts  weifs  oder  zu  wissen  behauptet  oder  sie  verschafft 
sich  andere  Arbeit,  bald  als  Wäscherin,  Putzerin  etc.  Für  sie  und 
ihr  Kind  ist  die  Lage  oft  schlimmer  geworden.  So  wird  das  ganze 


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302 


F.  Schüler, 


Gesetz  illusorisch.  Was  ist  nun  zu  tliun  ? Was  den  Ausschlufs 
der  Schwangeren  anbetrifft,  ist  die  Antwort  eine  sehr  einfache.  Man 
streiche  eine  Gesetzesbestimmung,  deren  Durchführung  niemals  zu 
erwarten  ist  und  ersetze  sie  durch  eine  andere,  wonach 
Schwangere,  die  wegen  irgend  welchen  Beschwerden 
aus  der  Fabrikarbeit  auszutreten  wünschen,  dies  ohne 
vorausgegangene  Kündigung  tliun  können.  Die  meisten 
Arbeitgeber  halten  dies  für  selbstverständlich,  den  anderen  gegen- 
über wird  den  Schwangeren  genügender  Schutz  gewährt.  Die 
Wöchnerinnen  werden  erst  dann  aufhören,  das  Gesetz  zu  umgehen, 
wenn  sie  nicht  mehr  ihres  bisherigen  Einkommens  für  so  viele 
Wochen  verlustig  gehen.  Es  genügt  auch  nur  teilweiser  Ersatz, 
denn  die  daheim  bleibende  Mutter  erspart  den  Lohn  für  eine  Be- 
sorgerin ihres  Kindes  und  manche  Ausgabe  für  Arbeiten,  die  sie 
nun  verrichten  kann,  statt  sie  Fremden  zu  übergeben.  Dies  ein- 
sehend, haben  einzelne,  leider  nicht  zahlreiche  Fabrikanten  den 
Wöchnerinnen , welche  die  Ausschlufszeit  richtig  innehalten,  eine 
Subsidie  zugesichert.  In  anderen  Fällen,  aber  ebenfalls  nicht  häufig, 
erhalten  sie  eine  solche  aus  der  Fabrikkrankenkasse.  Die 
Aussichten,  dafs  letzteres  häufiger  vorkomme,  sind  sehr  gering,  denn 
die  männlichen  Mitglieder  der  Kassen  tragen  in  dieser  Hinsicht  oft 
die  roheste  Selbstsucht  zur  Schau.  Es  bleibt  also  nur  das  Ob- 
ligatorium der  Krankenversicherung  und  die  gesetzliche 
Forderung  übrig,  dafs  diese  Kassen  den  Wöchnerinnen 
einen  beträchtlichen  Teil,  mindestens  die  Hälfte, 
ihres  Arbeitslohnes  während  der  Ausschlufszeit  er- 
setzen. Einstweilen  aber  dürfte  auch  ein  anderes  Mittel  in  Be- 
tracht kommen:  die  Strafbarerklärung  derjenigen  Wöchne- 
rinnen, welche  durch  falsche  Vorgaben  die  Kontrolle  unmöglich 
machen.  Wenn  man  sich  aber  auch  schwer  dazu  entschliefsen  wird, 
dürfte  man  es  doch  eher  denjenigen  Frauen  gegenüber  thun, 
welchen  Verrichtungen  obliegen,  von  denen  schwangere 
Frauen  auszuschliefsen  sind.  Kommt  doch  dieser  Aus- 
schlufs viel  zu  spät,  wenn  die  Schwangerschaft  so  weit  vorgerückt 
ist,  dafs  sie  auffällig  zu  Tage  tritt  und  mit  aller  Sicherheit  die  An- 
wendbarkeit des  Art.  XV  ABS.  3 des  Fabrikgesetzes  behauptet 
werden  kann.  Dafs  die  von  demselben  geforderte  Liste,  die  von 
Zeit  zu  Zeit  ergänzungsbedürftig  werden  kann,  nicht  in  das  Gesetz 
aufzunehmen  ist,  versteht  sich  wohl  von  selbst. 

Noch  bleibt  eine  den  Ausschlufs  der  Wöchnerinnen  von  der 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikcesetzes. 


303 


Fabrikarbeit  betreffende  Frage  zu  besprechen  übrig,  nämlich  die, 
wie  es  mit  den  Früh-  und  Fehlgeburten  zu  halten  sei,  ob 
diese  den  gewöhnlichen  normalen  Geburten  gleich  zu  stellen  seien. 
Da  in  solchen  Fällen,  wenigstens  bei  Abortus  es  sich  nicht  um 
eine  lebensfähige  Frucht  handelt,  deren  mütterliche  Pflege  wenigstens 
für  einige  Wochen  gesichert  werden  soll,  sondern  nur  um  die  Sorge 
für  die  Frau,  könnte  man  leicht  auf  den  Gedanken  kommen,  es 
bedürfe  — wie  auch  bei  Frauen,  deren  normal  geborenes  Kind 
bald  nach  der  Geburt  wieder  gestorben  ist,  — der  Ausschlufsfristen 
des  Art.  XV  nicht,  man  könnte  diese  Mütter  einfach  als  Kranke 
oder  Genesende  behandeln  und  es  dem  ärztlichen  Gutachten  anheim 
stellen,  wann  die  Fabrikarbeit  wieder  aufgenommen  werden  dürfe. 
Man  könnte  auch  annehmen,  dal's  für  solche  Frauen  ein  vierwöchent- 
licher Ausschlufs  genüge,  wie  ihn  das  deutsche  Gesetz  für  jede 
Wöchnerin  Vorsicht  und  auch  andere  Gesetze  zulassen,  wenn  ein 
ärztliches  Zeugnis  die  Frau  zur  Arbeit  wieder  tüchtig  erklärt.  In 
der  ungeheuren  Mehrzahl  der  Fälle  wird  es  überhaupt  zu  keinem 
Ausschlufs  kommen,  da  die  Abortusfalle  nur  selten  bekannt  oder 
doch  sicher  konstatiert  werden.  Nur  wo  ärztliche  Behandlung  not- 
wendig wird,  ist  dies  der  Fall,  nur  diese  wenigen  Personen  werden 
durch  Art.  XV  geschützt.  So  wird  denn  durch  Aufrechterhaltung 
seiner  Bestimmungen  für  Fehlgeburten  wenig  erreicht,  aber  cs  lohnt 
sich  auch  kaum,  um  dieser  wenigen  Ausnahmsfällc  willen  allerlei 
Ausnahmsbestimmungen  in  das  Gesetz  hinein  zu  bringen. 

XVI.  Jugendliche  Arbeiter. 

Dieser  Artikel  ist  im  Gesetz  in  nicht  zutreffender  Weise  als 
derjenige  bezeichnet,  der  von  der  Beschäftigung  der  minder- 
jährigen Arbeiter  handelt.  In  Wirklichkeit  spricht  er  aber 
nur  von  den  weniger  als  18  Jahre  alten.  Der  Deutlichkeit  halber 
würde  man  die  Personen  vom  erfüllten  16.  bis  zum  vollendeten 
18.  als  „Jugendliche“,  alle  jüngern  als  „Kinder“  bezeichnen. 

Ueber  den  Inhalt  dieses  Artikels  äufsert  sich  einer  der  ange- 
sehensten Führer  der  sozialdemokratischen  Partei:  die  Mängel,  die 
wir  zu  beklagen  hätten,  sind  in  der  Hauptsache  nicht  Mängel  des 
Gesetzes,  sondern  der  Ausführung.  Diesem  Ausspruch  kann  man 
wohl  beistimmen.  Man  wird  daher  kaum  zu  wesentlichen  Ab- 
änderungsvorschlägen gelangen.  Einige  Ergänzungen  und  Ver- 
besserungen wären  aber  rätlich. 


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J°4 


F.  Schüler 


So  dürfte  dem  ersten  Alinea  beigefügt  werden,  dafs  Kinder 
unter  14  Jahren  nicht  nur  nicht  zur  Kabrikarbeit  verwendet  werden 
dürfen,  sondern  dafs  ihnen  auch  der  Aufenthalt  in  den 
Arbeitsräumen  untersagt  sei.  Durch  diese  Bestimmung 
würde  der  Vollzug  des  Gesetzes  sehr  erleichtert,  da  oft  Kinder  an- 
geblich als  Boten  in  die  Lokale  eingeschmuggelt,  dann  aber  zu 
allerlei  Dienstleistungen  zurückbehalten  werden.  Auch  hygienische 
Gründe  rechtfertigen  diesen  Ausschluß  vollständig,  sowohl  für 
gröfsere  Kinder,  als  auch  für  solche,  wo  von  einer  allfälligen  Ar- 
beitsleistung keine  Rede  sein  kann.  Wer  beobachtet  hat,  wie  durch 
unreinlich  gehaltene  Kinder  die  Luft  der  Arbeitssäle  verpestet  oder 
die  Glieder  der  an  allen  Maschinen  sich  herumtreibenden  Jugend 
gefährdet  werden,  wird  dem  Ausschlufs  beipflichten. 

Nur  wenige  Stimmen  sind  bisher  laut  geworden,  die  ein 
weiteres  Hinausschieben  des  Eintrittsalters  verlangen.  Die 
Gründe  dafür  und  dagegen  sind  sehr  verschiedenartig.  Zahlreiche 
Eltern  berechnen  vor  allem  den  Verlust,  der  ihnen  z.  B.  aus  der 
Verschiebung  des  Eintritts  bis  zum  erfüllten  15.  Jahr  erwachsen 
würde.  Dieser  ist  allerdings  nicht  unbedeutend,  nicht  nur  für  den 
einzelnen  Haushalt,  sondern  für  die  Gesamtheit  der  Arbeiter.  In 
unseren  Fabriken  arbeiten  über  35  000  Personen  unter  18  Jahren. 
Die  Zahl  der  14 — 15jährigen  ist  unbekannt,  mufs  aber  mindestens 
auf  4 — 5000  geschätzt  werden.  Diese  verdienen  wenigstens  I */« 
bis  I ’/j  Millionen  Franken  im  Jahr.  Eine  Lohnsteigerung  für  die 
Erwachsenen  wäre  vielleicht  die  Folge  der  Verminderung  der  Kinder 
in  den  Fabriken,  aber  den  kinderreichen  Familien  würde  dadurch 
ihre  Einbufse  bei  weitem  nicht  ausgeglichen.  Es  wäre  auch  mög- 
lich, ja  wahrscheinlich,  dafs  vielfach  die  Kinderarbeit  durch  Ver- 
besserungen an  Maschinen  überflüssig  zu  machen  versucht 
würde. 

Alle  in  Aussicht  stehenden  Einbufsen  könnten  aber  dadurch 
aufgewogen  werden , dafs  die  Entwicklung  der  körperlichen  und 
geistigen  Kräfte  der  Jugend  durch  eine  verlängerte  Schul- 
pflicht und  die  dadurch  ermöglichte  gröfsere  Berücksichtigung 
der  Leibesübungen  gefördert  würde.  Auf  diese  Weise  ist  Zürich 
vorgegangen,  indem  es  die  Zahl  seiner  Schuljahre  erhöhte  und  es 
hat  dadurch  die  Handhabung  des  Kinderartikels  im  Fabrikgesetz 
sehr  erleichtert ; aber  nur  die  Minderzahl  der  Kantone  würde  seinem 
Vorbild  folgen.  Was  werden  dann  aber  die  nicht  mehr  schul- 
pflichtigen und  von  der  Fabrik  ausgeschlossenen  Kinder  thun?  Nur 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Kabrikgesetzes. 


305 


eine  Minderzahl  wird  bei  der  Landwirtschaft  oder  dem  Handwerk 
Beschäftigung  finden.  Dagegen  würden  sie  sich  der  Haus- 
industrie zu  wenden,  die  ihnen  noch  weit  ungünstigere  Lebens- 
bedingungen bieten  würde.  Ein  revidiertes  Fabrikgesetz,  welches 
die  Kinder  erst  mit  15  Jahren  zur  Fabrikarbeit  zuliefse,  würde 
Tausende  veranlassen,  auf  diese  Erwägungen  gestützt,  gegen  das 
Gesetz  zu  stimmen  und  damit  auch  den  Zehnstundentag  zu- 
rückzuweisen. 

Sehr  einverstanden  wäre  dagegen  wohl  jeder  Freund  des 
Kinderschutzes,  wenn  bei  der  Aufnahme  der  Kinder  strenger 
vorgegangen  würde.  Jede  Beschäftigung  von  Kindern,  welche 
nicht  in  die  Arbeiterliste  eingetragen  sind  und  für  die  nicht  ein 
amtlicher  Altersausweis  (für  dessen  unentgeldliche  Ver- 
abfolgung zu  sorgen  die  kantonalen  Behörden  verpflichtet  sein 
sollten)  vorgewiesen  werden  kann , sollte  mit  einer  Bufse  belegt 
werden  müssen,  welche  für  jedes  Kind  ohne  die  geforderten  Aus- 
weise besonders  zu  berechnen  wäre.  Für  Eltern  und  Vor- 
münder, welche  ihre  Kinder  vor  dem  gesetzlichen  Alter  in  die 
Fabrik  schicken,  sollte  ebenfalls  eine  Bufse  ausgesprochen  werden 
können.  Für  Kinder,  welche  dem  Fabrikinspektor  zu  schwächlich 
für  die  ihnen  obliegende  Arbeit  erscheinen,  sollte  derselbe  einen 
amtsärztlichen  Ausweis  zu  verlangen  befugt  sein,  ob  sie  die 
genügenden  körperlichen  Eigenschaften  zur  Er- 
füllung ihrer  Aufgabe  besitzen,  ein  Recht,  das  ihnen  das 
englische  wie  das  französische  Gesetz  längst  zugestanden  hat.  Es 
wäre  dies  eine  wertvolle  Ergänzung  der  Vorschrift,  nach  welcher 
der  Bundesrat  ein  Verzeichnis  derjenigen  Verrichtungen  aufgestellt 
hat,  von  denen  Kinder  bis  zum  erfüllten  16.  Altersjahr  auszu- 
schliefsen  sind. 

Die  Arbeitszeit  der  Kinder  und  Jugendlichen  ist  verschie- 
denen Beschränkungen  unterworfen,  die  meist  weiter  gehen,  als  die 
der  ausländischen  Gesetzgebungen,  die  aber  auf  keinen  ernstlichen 
Widerstand  gestofsen  sind.  Den  Kindern  ist  eine  1 1 Stunden  über- 
steigende Arbeitszeit  untersagt.  Die  Stunden  des  Schul-  und  Reli- 
gionsunterrichts müssen  in  diesen  Maximalarbeitstag  eingerechnet 
werden;  dieser  Unterricht  darf  auch  nicht  durch  die  Fabrikarbeit 
beeinträchtigt  werden.  Sonntags-  und  Nachtarbeit  ist  gänzlich  un- 
zulässig. Nach  der  Ansicht  einzelner  genügt  dies  nicht  und  es 
wird  eine  weitere  Reduktion  des  Arbeitstages  bis  auf 
acht  Stunden,  Unterrichtsstunden  inbegriffen,  vorge- 

Archiv  für  *or.  fje«eugebung  u.  Statistik.  XVIII.  20 


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306 


F.  Schüler, 


schlagen.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dal's  dies  eine  ungeheure  Störung 
in  diejenigen  Betriebe  bringen  müfste,  welche  regelmäfcig  Kinder 
als  Gehilfen  verwenden,  wie  in  Spinnereien,  Schiffchcnstickereien, 
Ziegeleien.  Man  würde  vielleicht  versuchen,  die  Halbtagsarbeit 
einzuführen.  Was  sollten  aber  die  Kinder  mit  dem  anderen  halben 
Tag  beginnen?  Würden  nicht  unzählige  Eltern  die  Heimarbeit 
als  vorteilhafter  erachten  ? Es  würden  die  gleichen  Bedenken  auf- 
tauchen, das  gleiche  Widerstreben  sich  geltend  machen,  wie  bei 
einer  bereits  besprochenen  Heraufrückung  des  Eintrittsalters.  Auch 
in  diesem  Fall  müfste  wohl  mindestens  der  Zehnstu ndentag  der 
Verminderung  der  Kinderarbeit  zum  Opfer  fallen.  So  kommt  man 
wohl  nicht  mit  Unrecht  zu  dem  Schlufs,  dafs  es  besser  sei,  mit 
Sicherheit  einen  Fortschritt  zu  erzielen , der  240  000  Arbeitern 
beider  Geschlechter  zu  gute  kommt,  als  einen  nur  erhofften  für 
etwa  15000  14 — iöjähriger  anzustreben. 

Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  der  Beibehaltung  einer  aus- 
nahmsweisen Gestattung  der  Nachtarbeit  für  Knaben 
unter  18  Jahren,  wie  sie  in  Alinea  3 des  Art.  XVI  vorgesehen 
ist.  Von  dieser  Bestimmung  ist,  soweit  sie  sich  auf  die  14 — 16- 
jährigen  bezieht,  aufserordentlich  selten  und  in  sehr  geringer  Aus- 
dehnung Gebrauch  gemacht  worden.  Meist  werden  nur  die  Jugend- 
lichen in  Anspruch  genommen.  Auf  sie  könnte  daher  diese  Aus- 
nahme ohne  Schaden  für  die  Industrie  beschränkt  werden.  Eine 
noch  unabgeklärte  Frage  ist,  ob  auch  Ueberstunden  für  Kinder 
gewährt  werden  dürfen.  Manche  Kantone  verneinen  sie  und  es  sind 
wegen  dem  Entzug  der  Kinder  für  die  Nachtarbeit  noch  selten 
oder  nie  Klagen  erhoben  worden.  Aber  ebenso  selten  kommen 
Anzeigen  oder  Bestrafungen  wegen  Uebertretung  des  Verbotes  vor. 
Das  ist  sehr  verwunderlich,  da  doch  in  einzelnen  Industrieen  die 
Ausführung  der  Ueberzeitarbeit  sich  nahezu  unmöglich  erweist,  wenn 
die  Gehilfen  nicht  zur  Hand  sind.  Der  Verdacht  liegt  nahe,  dal's 
unter  allseitigem  Stillschweigen  das  Verbot  übertreten  werde.  Es 
giebt  aber  in  der  That  Fälle,  wo  dies  sehr  begreiflich  ist.  ln 
Konservenfabriken  z.  B.  werden  Kinder  in  grofser  Zahl  mit 
sehr  leichter  und  nicht  im  mindesten  ungesunder  Arbeit  beschäftigt. 
Eine  zu  verarbeitende  Frucht  reift  rasch  in  grofser  Menge,  die 
Arbeit  schwillt  plötzlich  an  und  es  ist  unmöglich,  genügendes  Per- 
sonal zu  ihrer  Bewältigung  aufzutreiben.  Sollen  die  Früchte  ver- 
faulen ? Jedes  andere  Land  sieht  für  diese  Ausnahmsfälle  auch  aus- 
nahmsweise und  kurze  Ueberzeitbewilligungen  auch  für  die  „Ge- 


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Die  Revision  der  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


307 


schützten“  vor  und  es  läge  wohl  nicht  einmal  im  Interesse  der 
Jugend,  wenn  wir  durch  starres  Festhalten  am  Wortlaut  des  Ge. 
setzes  Uebertretungen  geradezu  provozieren  wollten. 

Der  Art.  XVI  stellt  auch  für  die  Beschäftigung  der 
Jugendlichen  einschränkende  Bestimmungen  auf.  Er  untersagt 
ihnen  Sonntags-  und  Nachtarbeit.  Nur  für  einige  wenige 
Berufsarten  giebt  er  Ausnahmen  zu,  sofern  die  Unerläfslichkei t 
der  Mitwirkung  junger  Leute  bei  deren  ununterbrochenem  Betrieb 
dargethan  ist  und  „wenn  es  im  Interesse  tüchtiger  Berufserlernung 
derselben  förderlich  erscheint"  Es  ist  schon  bemerkt  worden,  dafs 
auf  diese  Ausnahme  für  die  Knaben  von  14 — 16  Jahren  verzichtet 
werden  kann  und  faktisch  bisher  fast  völlig  verzichtet  worden  ist. 
Sehr  zu  bezweifeln  ist,  ob  dieser  Verzicht  auch  für  die  Jünglinge 
von  16 — 18  eine  Wohlthat  wäre.  Zur  gehörigen  Erlernung  des 
Berufs  gehört  in  den  Glashütten,  von  denen  von  der  Ausnahmsbe- 
stimmung beinahe  ausschliefslich  Gebrauch  gemacht  wird,  auch  die 
Gewöhnung  an  die  dort  unvermeidliche  Nachtarbeit.  Wer  diese 
noch  nicht  besitzt,  ist  kein  vollwertiger  Arbeiter.  Er  würde  es 
erst  längere  Zeit,  nachdem  ihm  unser  Gesetz  die  Verehelichung  ge- 
stattet 1 

Ebenso  ist  es  fraglich,  ob  man  durch  eine  Bestimmung,  welche 
auch  für  die  Jugendlichen  eine  mehr  als  zehnstündige  Dauer 
von  Fabrikarbeit  und  Unterricht  zusammen  verbietet  , 
Nutzen  stiften  würde.  Zahlreiche  Jünglinge  in  diesem  Alter  sind 
schon  mit  Arbeiten  beschäftigt,  deren  Beschränkung  um  2 — 3 
Stunden  unter  den  (wie  wir  annehmen  wollen)  zehnstündigen  Maxi- 
malarbeitstag sich  mit  dem  ganzen  Betrieb  nicht  wohl  vertrüge. 
Hätten  sie  ein  Recht,  diese  Verkürzung  zu  fordern,  würde  sich  der 
Arbeitgeber  wohl  zweimal  besinnen,  bevor  er  solche  Leute  anstellen 
würde.  Statt  dafs,  wie  bisanhin,  fast  von  allen  Arbeitgebern  der 
Besuch  der  Fortbildungsschulen  gefördert  und  nach  Möglichkeit  die 
Arbeitsstunden  den  Schulstunden  angepafst  wurden,  könnte  es 
leicht  geschehen,  dafs  die  Schulbesucher  von  manchen  Stellen  oder 
Funktionen  ausgeschlossen  würden.  Dem  Schulwesen  würde  auf 
diese  Weise  ein  schlechter  Dienst  geleistet.  Und  zu  alle  dem  darf 
man  wohl  die  Frage  aufwerfen,  ob  denn  junge  Männer  von 
16 — 18  Jahren  keine  höhere,  als  eine  zehnstündige 
Arbeitsleistung  vertragen  könnten,  während  z.  B.  die 
Zöglinge  aller  höheren  Schulen  durchschnittlich  zu  einer  viel  längeren 
Arbeitsleistung  genötigt  sind,  wenn  sie  es  zu  etwas  mit  ihrer  zwar 

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3°8 


F.  Schüler, 


nicht  körperlichen , aber  ebenso  anstrengenden  geistigen  Arbeit 
bringen  wollen.  Man  darf  also  wohl  an  den  bisherigen  Be- 
stimmungen über  die  Arbeitszeit  der  Jugendlichen  sich  genügen 
lassen,  um  so  mehr,  als  selbst  aus  den  Reihen  der  zunächst  be- 
teiligten, der  Arbeiter  keine  solchen  weitergehenden  Begehren  laut 
geworden  sind.  Wollte  man  es  aber  thun,  müfste  dann  doch  mit 
aller  Deutlichkeit  gesagt  werden,  ob  nur  die  gesetzlich  vor- 
geschriebenen Unterrichtsstunden  oder  nur  die  an  öffent- 
lichen Unterrichtsanstalten  oder  auch  die  ganz  privater  Natur  in 
die  Arbeitszeit  eingerechnet  werden  müfsten.  Es  wäre  auch  zu 
sagen,  ob  dieser  Anspruch  nur  den  Fortbildungsschulen  im  engeren 
Sinn  des  Wortes  oder  auch  den  Gewerbezeichnungs-  und  anderen 
derartigen  Schulen  zukäme.  Ja  diese  genauere  Definition  wäre 
auch  für  die  Kinder  wünschbar,  für  die  so  mannigfache  andere 
Schulen,  geistlicher  und  weltlicher  Natur,  aufser  den  obligatorischen, 
offiziellen  Anstalten  bestehen.  Es  mögen  nur  die  zahlreichen  Ge- 
sangschulen , Berufsschulen , Näh*-  und  Kochschulen  etc.  erwähnt 
sein.  Will  man  auch  derartige  Schulen  mit  einbegriffen  wissen, 
müfste  die  Amtsstelle  bezeichnet  werden,  die  zu  entscheiden  hätte, 
auf  welche  die  Bestimmungen  des  Art.  XVI  sich  zu  beziehen 
hätten. 

Die  Besprechung  desselben  darf  nicht  beendigt  werden,  ohne 
noch  einen  bisher  gänzlich  ungeregelten  Punkt  zu  erwähnen : das 
Lehrlings  wesen  in  den  Fabriken.  Bei  der  immer  häufiger  be- 
klagten Mifsachtung  der  als  Lehrlinge  in  Fabriken  eingegangenen 
Verpflichtungen  durch  deren  Eltern  oder  sie  selbst,  ist  die  Auf- 
stellung von  förmlichen  Lehrverträgen  mit  Strafbestimmungen 
beim  Bruch  des  Vertrags  immer  häufiger  geworden.  Nicht  selten 
aber  kommt  es  vor,  dafs  diese  Bestimmungen  als  gegen  das  Fabrik- 
gesetz verstofsende  angefochten  werden.  Eine  genauere  Prüfung 
dieser  Verhältnisse  wäre  von  hohem  Wert  und  sollte  bei  einer 
Revision  des  Fabrikgesetzes  nicht  unterlassen  werden.  Klagt  man 
doch  allgemein,  auch  in  Fabriken,  über  die  Schwierigkeit,  gehörig 
gelernte  Arbeiter  zu  erlangen,  über  die  dadurch  in  einzelnen  In- 
dustrieen  herbeigefuhrte  Verschlechterung  der  Produkte  und  über 
die  zunehmende  Notwendigkeit,  unsere  schweizerischen  Arbeiter 
durch  gehörig  gelernte  Fremde  zu  ersetzen. 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzcs. 


309 


XVII  und  XVIII.  Vollziehungs-  und  Strafbestimmungen. 

Die  Durchführung  des  Fabrikgesetzes  liegt  nach  Art.  XVII  den 
Kantonen  ob,  „welche  hierfür  geeignete  Organe  bezeichnen  werden." 
Dieser  Organe  bedarf  es  eine  sehr  grofecn  Zahl,  da  der  Vollzug 
des  Gesetzes  von  der  gewissenhaften  Ueberwachung  jedes  einzelnen 
Fabrikbetriebes  abhängt.  Sie  in  genügender  Zahl  sich  zu  ver- 
schaffen, ist  dem  Bund  unmöglich;  er  ist  deshalb  auf  die  Polizei- 
organc  und  die  Lokalbehörden  der  Kantone  angewiesen.  Zudem 
steht  ja  auch  die  Bestrafung  der  Uebertretungen  den  Kantonen  zu. 
Sind  aber  die  bisher  verwendeten  Organe  wirklich  geeignet,  den 
gehörigen  Vollzug  des  Gesetzes  zu  sichern?  Nach  den  bisherigen 
Lrfahrungen  genügen  sie  dieser  Aufgabe  nur  mangelhaft,  an  ein- 
zelnen Orten  nicht  im  mindesten.  Es  bedarf  auch  in  den  einzelnen 
Kantonen  besonderer  Organe,  deren  spezielle  Aufgabe  die 
Handhabung  des  Fabrikgesetzes  ist  und  denen  die  Oberleitung  der 
ganzen  Aufsicht  und  die  Kontrolle  der  untergeordneten  Organe  zu- 
steht. Verschiedene  Kantone  haben  dies  erkannt  und  ganz  beson- 
dere Organe  geschaffen,  die  ausschliefslich  für  den  richtigen  Vollzug 
des  Fabrikgesetzes  zu  sorgen  haben.  Die  wohlthätigen  Wirkungen 
dieser  Institution  haben  sich  bald  bemerkbar  gemacht.  Aber  von 
jedem  Kanton,  auch  solchen  mit  minimer  Industrie,  Spezialorgane 
zu  verlangen,  geht  nicht  wohl  an;  es  wäre  eine  Vergeudung  von 
Arbeitskräften.  Solche  Kantone  würden  sich  auch  gegen  die 
Kreierung  derartiger  Stellen  sträuben  oder  sie  mit  anderen  Auf- 
gaben noch  so  belasten,  dafs  ihr  Nutzen  für  den  Fabrikgesetzvollzug 
mehr  als  nur  fraglich  wäre.  Man  wird  somit  versuchen  müssen, 
auf  andere  Weise  dem  Gesetz  einen  genaueren  Vollzug  zu  sichern. 

Am  gründlichsten  wäre  geholfen,  wenn  die  durch  das  Fa- 
brikgesetz zu  schützenden  selbst  mehr  für  dessen  Durch- 
führung durch  Anzeige  der  Zuwiderhandlungen  thun  würden.  Aber 
darauf  ist  nur  in  geringem  Mafs  zu  hoffen.  Selbst  da,  wo  Vereine 
die  Aufgabe  an  die  Hand  genommen  und  besondere  Vereins- 
behörden aufgestellt  haben,  welche  Gesetzesübertretungen  zu  er- 
mitteln, an  sic  gelangende  vertrauliche  Mitteilungen  zu  prüfen  und 
den  Aufsichtsbehörden  zur  Kenntnis  zu  bringen  hätten,  wird  nur 
unter  besonders  günstigen  Umständen  und  bei  ungewöhnlich  ener- 
gischem Personal  der  Arbeiterkommission  etwas  erreicht.  Doch 
ist  es  da  und  dort  der  Fall  und  diese  wenigen  günstigen  Erfahrungen 
legen  den  Gedanken  nahe,  ob  es  nicht  möglich  wäre,  unabhängige, 


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3io 


F.  Schüler, 


durch  die  Arbeiter  zu  wählende  Vertrauenspersonen  zu  ge- 
winnen, denen  eine  solche  Aufgabe  der  Entgegennahme  von  Klagen, 
vorläufiger  Prüfung  ihrer  Begründetheit  und  bejahendenfalls  Ueber- 
mittelung  an  die  zustehenden  Aufsichtsbehörden  überwiesen  werden 
könnte.  Aehnliches  ist  auch  schon  im  Ausland,  und  zwar  teilweise 
mit  Erfolg  versucht  worden. 

Den  bisherigen  amtlichen  Organen  ist  manche  Schwierigkeit 
in  den  Weg  gelegt  worden.  Selbst  den  jederzeitigen  Eintritt  in 
die  P'abrikräumlichkeiten  hat  man  ihnen  zu  verwehren  ver- 
sucht, so  dal's  eine  ausdrückliche  Gesetzesbestimmung  wünschbar 
wäre,  wonach  sämtlichen  mit  dem  Vollzug  des  Fabrik- 
gesetzes betrauten  Organen  zu  jederStunde  der  Ein- 
tritt in  alle  Räume  einer  Fabrik  gestatt  et  wäre. 

Aus  den  Berichten  der  Fabrikinspektoren  ist  übrigens  ersicht- 
lich, dafs  manche  dieser  untergeordneten  Organe  bis  hinauf  zu  Be- 
zirksvorständen dem  Gesetz  sehr  gleichgültig,  selbst  feindlich  im 
Wege  stehen.  Sie  kamen  von  kompetenter  Stelle  erteilten  Weisungen 
nicht  nach,  verletzten  in  grellster  Weise  einzelne  Bestimmungen  des 
Gesetzes,  z.  B.  durch  Erteilung  gesetzlich  untersagter  Bewilligungen, 
Nichtvornahme  — trotz  amtlicher  Mahnungen  — von  Unfallunter- 
suchungen etc.  Die  Fabrikinspektoren  meinten,  dafs  auch  solche 
Uebertretungen  des  Gesetzes  durch  Beamte  nach 
Art.  XIX  F.G.  bestraft  werden  könnten.  Gestützt  auf  ein 
Gutachten  des  eidgenössischen  Justizdepartements  wurden  sie  aber 
eines  anderen  belehrt.  Kantonale  Beamte,  hiefs  es,  sind  nicht  nach 
der  Bestimmung  strafbar,  welche  sich  auf  die  Uebertretungen  des 
Gesetzes  bezieht,  sondern  nach  Spezialbestimmungen.  Diese  letz- 
teren finden  sich  in  den  Verantwortlichkeitsgesetzen,  Disziplinar- 
ordnungen, Regiementen  des  Bundes  und  der  Kantone  oder  in 
speziellen  Artikeln  der  einzelnen  Gesetze.  Das  Fabrikgesetz  ent- 
hält keine  solche  Spezialbestimmung.  So  der  Bescheid,  gegen  den 
natürlich  nichts  einzu  wenden  war,  der  aber  deutlich  genug  zeigt, 
wie  schwer  es  ist,  die  gröbsten  Gesetzwidrigkeiten  der  kantonalen 
Beamten  zur  Ahndung  zu  bringen  und  wie  notwendig,  durch  Er- 
lafs  der  erforderlichen  Bestimmungen  die  faktisch  fast  vollständige 
Straflosigkeit  einzelner  Beamten  zu  beseitigen.  Denn  wer  von  den- 
jenigen, die  zunächst  mit  der  Durchführung  des  Gesetzes  betraut 
sind,  besitzt  oder  kennt  alle  die  citierten  Gesetze,  Regiemente  etc. 
und  versteht  es,  daraus  die  Anklage  zu  formulieren  und  den  hundert- 
fältig verschiedenen  kantonalen  Einrichtungen  und  Vorschriften  ent- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Kabrikgesctzcs.  j j j 

sprechend  richtig  anzubringen,  und  findet  die  Zeit  zu  solchem 
Studium ! 

Ein  weiteres  schweres  Hemmnis  der  richtigen  Ausführung  des 
Fabrikgesetzes  ist  in  einzelnen  Punkten  die  Straflosigkeit  der 
Arbeiter,  die  bei  Beseitigung  der  Bufsen  erst  recht  vollständig 
sein  würde.  Es  ist  bei  verschiedenen  Anlässen,  wie  z.  B.  bei  Be- 
sprechung des  Wöchnerinncnausschlusses,  der  Durchführung  der 
Sicherheitsvorschriften,  der  Verwendung  zu  junger  Kinder  zur  Fabrik- 
arbeit darauf  hingewiesen  worden.  Wenn  einige  Bufsenbest im- 
mun gen  für  Uebertretungen  durch  Fabrikarbeiter  be- 
gangen, ohne  dafs  es  in  der  Macht  des  Arbeitgebers 
gelegen  wäre,  sie  zu  verhüten,  in  das  Gesetz  aufgenommen 
würden,  wäre  dies  eine  grofse  Förderung  des  Gesetzesvollzugs. 
Auch  andere  Gesetzgebungen  haben  dies  erkannt  und  derartige 
Bufsen  festgesetzt,  wie  z.  B.  der  von  der  allgemein  als  sehr  arbeiter- 
freundlich  anerkannten  Kommission  ausgearbeitete  Entwurf  eines 
norwegischen  Fabrikgesetzes.  Das  englische  Gesetz  sagt  über 
diesen  Gegenstand:  Wenn  ein  Arbeitgeber  beweist,  dafs  er  alle 
gebotene  Sorgfalt  angewandt,  das  Gesetz  durchzuführen  und  dafs 
Ucbertretung  ohne  sein  Wissen,  Einverständnis  oder  Duldung  er- 
folgte , ist  nicht  der  Arbeitgeber,  sondern  die  schuld- 
bare Person  zu  strafen. 

Was  die  Bestrafung  der  Arbeitgeber  anbetrifft,  ist  schon 
wiederholt  die  Frage  aufgeworfen  worden,  an  wen  man  sich  zu 
halten  hätte,  wenn  für  eine  Uebertretung  nicht  eine  Geldbufse, 
sondern  Gefängnisstrafe  verhängt  würde.  Soll  es  der  Direktor 
einer  Aktiengesellschaft  sein  oder  das  Komitee,  das  vielleicht  eine 
gesetzwidrige  Handlung  von  ihm  ausdrücklich  gewünscht  hat?  Wer 
soll  es  sein,  wo  mehrere  Brüder  mit  gleichen  Rechten  und  Befug- 
nissen gemeinsam  eine  Fabrik  leiten  und  besitzen?  Die  Frage  wäre 
nur  dann  leicht  zu  beantworten,  wenn  in  allen  Fabrikbetrieben 
eine  verantwortliche  Person  bezeichnet  werden 
müfste,  welche  von  den  allfalligen  F'reiheitsstrafen  betroffen  würde. 

Hier  und  da  wollen  Arbeitgeber  die  Berechtigung  ge- 
wisser amtlicher  Weisungen  nicht  anerkennen.  Sic 
ergreifen  Rekurs  dagegen.  Es  ist  aber  schon  oft  vorgekommen, 
dafs  sie  erst  dazu  griffen,  nachdem  sie  viele  Monate  lang  zu  den 
erhaltenen  Weisungen  geschwiegen  und  erst  Einsprache  erhoben, 
nachdem  eine  erneute  Inspektion  den  Fortbestand  der  alten  Mängel 
nachgewiesen  oder  eine  mit  scharfen  Mafsregeln  drohende  erneute 


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312 


F.  Schüler, 


Aufforderung  der  kantonalen  Regierung  ihnen  zugekommen.  Auf 
diese  Weise  können  böse  sanitärische  Uebelstände  zuweilen  Jahr 
und  Tag  fortbestehen , ohne  dafs  auch  nur  eine  Bestrafung  der 
Renitenz  möglich  wäre.  Aehnliche  Erfahrungen  hat  man  auch  im 
Ausland  gemacht,  aber  sofort  zu  einem  wirksamen  Abhilfsmittel 
gegriffen , indem  man  eine  bestimmte,  kurze  Frist  an- 
setzte, innerhalb  welcher  Einwendungen  erhoben 
werden  müssen,  um  gesetzlich  zulässig  zu  sein.  Eine 
solche  Bestimmung  wäre  auch  für  unser  Gesetz  von  grofsem  Wert. 

Aber  auch  die  Urteile,  welche  wegen  Uebertretungen  des 
Fabrikgesetzes  gefällt  werden,  erleiden  zuweilen  Anfechtung,  ln 
unserer  Gesetzgebung  bewanderte  Leute  wissen  wohl,  welchen  Weg 
sie  in  sqlchem  Fall  zu  betreten  haben  und  der  amtliche  Kommentar 
zum  Fabrikgesetz  giebt  zum  Art.  XIX  eine  darauf  bezügliche  Weg- 
leitung „über  Weiterziehung  kantonaler  Entscheide.“  Da  aber  nicht 
jedermann  im  Besitz  dieses  Kommentars  ist,  wäre  wohl  eine  An- 
deutung im  Gesetz  selbst  am  Platz,  in  welcher  Weise  gegen  ein 
für  unrichtig  gehaltenes  Urteil  Einsprache  erhoben  werden  müsse. 

Als  diejenigen  Behörden,  welche  Zuwiderhandlungen  gegen 
das  Fabrikgesetz  oder  schriftliche  Weisungen  der  zuständigen  Auf- 
sichtsbehörden zu  bestrafen  befugt  seien,  werden  in  Art.  XIX 
nur  die  Gerichte  genannt.  Manche  Kantone  halten  sich  durch- 
aus nicht  daran  und  haben  denjenigen  Beamten,  welchen  ein  Straf- 
recht auch  für  andere  polizeiliche  Vergehen  zukommt,  das  nämliche 
auch  für  solche  fabrikpolizeilicher  Natur  zugestanden,  allerdings 
unter  Vorbehalt  des  Weiterzugs  an  die  Gerichte.  Mit  ihnen  war 
die  Geschäftsprüfungskommission  des  Nationalrats  im  Jahr  1892 
einverstanden,  die  sich  „ebenfalls  der  Ansicht  zuneigte,  dafs  leichtere 
Fälle  wohl  durch  die  Administrativjustiz  dürften  erledigt  werden.“ 
Es  ist  in  der  That  zuzugeben,  dafs  ohne  diese  Abweichung  von 
der  Gesetzesvorschrift  die  Zahl  der  Strafklagen  und  Bestrafungen 
eine  noch  weit  geringere  wäre,  als  sie  es  jetzt  ist.  Man  würde 
sich  oft  scheuen,  den  ganzen  gerichtlichen  Apparat  in  Bewegung 
zu  setzen,  wenn  es  sich  um  kleinere  Uebertretungen  handelt.  Zu- 
dem ziehen  in  einzelnen  Kantonen  alle  gerichtlichen  Verurteilungen 
Ehrenfolgen  nach  sich,  die  häufig  in  keinem  Verhältnis  zur  Schwere 
des  Vergehens  stehen  würden.  Eine  andere,  der  bisherigen  Uebung 
entsprechende  Formulierung  des  Art.  XIX  scheint  somit  geboten. 
Sollte  die  Aufnahme  näherer  Bestimmungen  über  das  Strafmafs 
und  dgl.  in  das  Gesetz  belieben,  dürften  vielleicht  Fälle,  die  ein 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  3^3 

bestimmtes  Strafmafs  voraussichtlich  überschreiten  würden,  den  Ge- 
richten zugewiesen  werden. 

Im  Wunsch  der  Inspektoren  liegt  eine  auf  die  Untersuchung 
fabrikpolizeilicher  Fälle  bezügliche  Bestimmung,  die  Beweiskraft 
der  amtlichen  Aussagen  der  Inspektoren  betreffend. 
Diese  sollten  doch  zum  mindesten  den  kantonalen  Polizeibeamten 
gleichgestellt  werden.  Das  ist  aber  durchaus  nicht  in  allen  Kan- 
tonen der  Fall,  obwohl  es  sonderbar  genug  erscheint,  dafs  die  Aus- 
sage eines  gewöhnlichen  Polizisten  beweiskräftiger  sein  sollte,  als 
die  eines  eidgenössischen  Beamten,  der  eine  ziemlich  hohe  Stufe 
unter  den  eidgen.  Amtspersonen  einnimmt.  Der  Wortlaut  des 
französischen  Gesetzes  dürfte  zu  empfehlen  sein,  das  ganz  einfach 
sagt : Les  contraventions  constatees  par  les  pror.es-verbaux  des  In- 
specteurs  und  Inspectrices  font  foi  jusqu'a  preuve  contraire.“ 

Ferner  wäre  eine  Bestimmung  von  Wert,  was  als  Rückfall 
zu  betrachten  sei.  Das  eben  angeführte  Gesetz  sieht  es  als  solchen 
an,  „wenn  die  gleiche  Person  in  den  vorangehenden  zwölf  Monaten 
wegen  des  gleichen  Vergehens  verurteilt  wurde."  Die  Gleich- 
gültigkeit, welche  verschiedene  untergeordnete  Amtsstellen  solchen 
Rückfallen  gegenüber  an  den  Tag  legen  und  sie  kaum  strenger 
bestrafen,  als  die  erste  Zuwiderhandlung,  läfst  die  Beifügung  em- 
pfehlenswert erscheinen,  dafs  der  Rückfall  wenigstens 
doppelt  so  streng  zu  bestrafen  sei.  Nicht  minder  wünsch- 
bar wäre,  wenn  für  alle  Kantone  gleichmäfsig  die  Verjährungs- 
frist für  fabrikpolizeiliche  Uebertretungen  festgestellt  werden 
könnte. 

Gestützt  auf  einen  Bundesbeschlufs  vom  24.  Juni  1889  hat  der 
Bundesrat  die  Mitteilung  der  richterlichen  und  ad- 
ministrativen Urteile  an  den  zuständigen  eidgen.  Fabrikin- 
spektor verlangt.  Aus  der  Mitte  der  Arbeiterschaft  wurde  der 
Wunsch  geäufsert,  dafs  diese  Urteile  auch  publiziert  werden 
sollen.  Dieses  Begehren  erscheint  schon  deswegen  bedenklich,  als 
doch  in  aller  Welt  die  Publikation  einer  Strafe  als  Strafverschärfung 
angesehen  wird,  über  deren  Anwendung  der  Richter  im  Spezialfall 
zu  entscheiden  hat.  Es  wäre  doch  eine  eklatante  Rechtsungleich- 
heit, wenn  nur  die  Kontraventionen  einer  einzigen  Klasse  von 
Bürgern  allgemein  dieser  Verschärfung  unterliegen  sollten.  Wie  oft 
mufs  aber  auch  ein  Arbeitgeber  bestraft  werden  welcher  die  Ver- 
letzung des  Gesetzes  gar  nicht  beabsichtigte,  nun  aber  die  Folgen 
einer  gesetzwidrigen  Handlung  eines  Angestellten  oder  Arbeiters 


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F.  Schüler, 


314 

tragen  mufs.  Sollte  nun  durch  eine,  in  den  Augen  vieler  schimpf- 
liche, Bekanntmachung  dieses  Mifsgeschick  noch  verschärft  werden : 
Uebrigens  würde  der  moralische  Effekt  einer  solchen  Bekannt- 
machung sich  bald  genug  abstumpfen,  wenn  der  Bestrafte  auf  der 
gleichen  Liste  mit  hunderten  von  Schicksalsgenossen  figurierte. 
Begnüge  man  sich  doch  mit  dem  Recht  des  Richters  auf  Bekannt- 
machung des  Urteils  in  Verbindung  mit  der  sonstigen  Bestrafung 
zu  erkennen. 

Das  schlimmste  Hindernis  einer  wirksamen  Bestrafung  fabrik- 
polizeilicher Uebertretungen  ist  sonderbarerweise  noch  selten  oder 
nie  erwähnt  worden,  obwohl  die  Klagen  über  allzugelinde  Be- 
strafung nie  verstummen  — und  gewifs  nicht  ohne  Grund.  Die 
Inspektorenberichte  enthalten  zahlreiche  Beispiele,  wie  die  ver- 
hängten Bufsen  nichts  weniger  als  zur  Abschreckung,  weit  eher 
zur  Ermutigung  der  Fehlbaren  dienen  konnten.  Sie  waren  oft 
geradezu  ein  Hohn  auf  das  Gesetz.  Weder  die  Zahl  der  an 
der  Uebertretung  beteiligten  Personen,  noch  diejenige 
der  Tage,  an  welchen  die  Uebertretung  statt  fand, 
kommt  in  den  zahlreichsten  Fällen  in  Betracht.  Es  genügt  dem 
Richter,  nicht  unter  dem  im  Gesetz  festgestellten  Minimum  zu 
bleiben.  Von  Grundsätzlichkeit  im  Strafausmafs  keine  Spur  und 
noch  weniger  von  Gleichheit  bei  den  verschiedenen  bestrafenden 
Amtsstellen.  An  eine  Besserung  der  Verhältnisse  ist  nicht  zu 
denken,  wenn  die  Gerichte  oder  administrativ  verurteilenden  Be- 
hörden nicht  durch  allgemein  gültige  Grundsätze,  sowie 
durch  Aufstellung  von  Minima  und  Maxima,  oder  doch 
wenigstens  von  ersteren,  für  jede  Kategorie  von  Uebertretungen 
gebunden  werden.  Fast  jede  andere  Gesetzgebung  hat  dies  gethan. 

Vor  allem  dürfte  die  Fixierung  gewisser  Grundsätze  für 
die  Bufsenberechnung  und  für  die  Anwendung  all- 
fällig weiter  gehender  Strafen  erforderlich  sein.  Als 
oberste  Regel  wäre  hinzustellen,  dafs  die  Strafe  so  hoch  sich 
belaufen  soll,  dafs  dem  Bestraften  kein  V orteil  aus 
seiner  Uebertretung  erwachsen  kann.  Was  hat  doch  eine 
Bufse  für  Sinn , wenn  sie  gegenüber  dem  erzielten  Gewinn  gar 
nicht  in  Betracht  kommt.  Ich  könnte  einen  F'all  anführen,  wo 
40  Frcs.  Bufse  verhängt  wurden,  weil  der  Arbeitgeber  ein  paar 
hundert  Personen  drei  Wochen  lang  unerlaubte  Uebcrzeit  hatte 
arbeiten  lassen.  Der  Bestrafte  gab  mir  getrost  zu,  dafs  er  eine 
zehnfache  Bufse  mit  Vergnügen  bezahlt  hätte,  da  ihm  die  ungesetz- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 

liehe  Arbeit  doch  viele  Tausende  Vorteil  gebracht  hätte.  Hier  und 
da  kommt  cs  vor,  dafs  eine  Ueberzeitarbeit  mit  5 Personen  gleich 
hoch  gebüfst  wird,  wie  in  einem  anderen  Kall  eine  solche  mit  500. 
Die  Bestimmung  ausländischer  Fabrikgesetze,  dafs  die  Bul'se  so 
viel  mal  verhängt  werden  müsse,  als  Personen  an  der 
Uebertretung  beteiligt  gewesen  seien,  ist  nur  gerecht, 
namentlich  wenn  hinzugefügt  wird,  dafs  das  Strafmafs  auch  mit 
der  Anzahl  der  Tage  steigen  müsse,  welche  die  Zuwider- 
handlung gedauert  hat.  Wie  nötig  eine  Definierung  des  Rückfalls 
ist,  wurde  bereits  ausgeführt,  ebenso  dafs  mindestens  eine  Ver- 
doppelung der  Strafe  erforderlich  sei.  Beim  zweiten  Rückfall  dürfte 
wohl  Gefängnisstrafe  vorgeschrieben  werden.  Für  Nicht- 
erstellung oder  Beseitigung  verlangter  Sicherheitsvorrichtungen  oder 
Nichtbeseitigung  sanitarischer  Schädlichkeiten  nach  einem  gewissen, 
von  den  Aufsichtsbehörden  gestellten  Termin  würde  mit  vollem 
Recht  das  englische  Beispiel  allerdings  mit  tnäfsigerem  Strafansatz 
nachgeahmt,  das  für  jeden  weiteren  Tag  eine  Bufse  bis  zu  50  Frcs. 
verlangt.  Deutschland  hat  für  die  Nichteinreichung  von  Bauplänen 
zur  Genehmigung  Bufsen  bis  zu  370  Frcs.,  für  Anstellung  von 
Kindern  ohne  Altersausweise  solche  bis  zu  25  Frcs.  für  jedes  Kind. 
So  findet  man  auswärts  bestimmte  Bufsenbeträge  für  jede  Art  von 
Zuwiderhandlung,  wie  wir  sie  z.  B.  auch  in  unserem  Zündholzgesetz 
wenigstens  teilweise  vorfinden  und  wie  sie  kantonale  Polizeigesetze  in 
reicher  Zahl  enthalten.  Wenn  auf  diese  Weise  die  Uebertretungen  auf- 
hörten, lukrativ  zu  sein,  würde  sich  ihre  Zahl  sicherlich  rasch  ver- 
mindern. Beseitige  man  daher  die  unzwcckmäfsige  Bufsenbestimmung 
des  Art.  XIN  und  ersetze  sie  durch  strengere,  aber  gerechtere. 

XVIII.  Die  Fabrikinspektion. 

Stellung  und  Aufgabe  des  Fabrikinspektorats 
werden  vielfach,  namentlich  von  den  Arbeitern,  ganz  falsch  auf- 
gefafst.  Der  Bundesrat  hat  nicht  für  den  Vollzug  des  Fabrikgesetzes 
zu  sorgen,  sondern  nur  zu  kontrollieren,  ob  derselbe  — eine  den 
Kantonen  übertragene  Aufgabe  — richtig  stattfindet.  Den  Organen 
der  Kantone  fallt  in  erster  Linie  die  Aufsicht  zu,  nicht,  wie 
irrigerweise  so  oft  angenommen  wird,  den  Beamten  des  Bundes. 
Wenn  deren  Zahl  auch  verzehnfacht  würde,  reichte  sie  doch  nicht 
hin,  alle  oder  auch  nur  einen  erheblichen  Teil  der  Gesetzesüber- 
tretungen zu  ermitteln.  Die  Aufgabe  der  eidgenössischen  Inspektoren 


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Y.  Schüler, 


ist  und  bleibt  die  der  Oberaufsicht,  der  Unterstützung  des  Bundes- 
rats als  technische  Experten,  das  Studium  der  industriellen  und 
Arbeiterverhältnisse,  der  Unterstützung  der  Arbeitgeber  in  Erfüllung 
der  Anforderungen  des  Gesetzes.  Sie  wird  sich  auch  darauf  be- 
schränken müssen,  solange  den  Kantonen  ihre  jetzige  selbständige 
Stellung  im  Bunde  erhalten  bleibt. 

So  häufig  auch  die  Inspektoren  mit  Vorwürfen  überschüttet 
werden,  wenn  sie  nicht  allen  Beschwerden  abhelfen,  in  allen  Dingen 
Ordnung  schaffen  und,  was  nicht  das  letzte  ist,  alle  geäufserten 
Wünsche  und  Verlangen  unterstützen  können,  werden  doch  von 
der  gleichen  Seite  her  Wünsche  nach  Ausdehnung  ihrer 
Kompetenzen  laut.  Sie  besitzen  aber  deren,  wenn  auch  nicht 
gesetzlich,  doch  faktisch  ein  grofses  Mafs.  Die  meisten  Kantons- 
regierungen legen  ein  grofses  Gewicht  auf  ihre  Räte  und  Vor- 
schläge und  geben  denselben  Folge.  Eine  Vermehrung  der  In- 
spektorenkompetenzen würde  einem  grofsen  Teil  des  Publikums  als 
ein  Uebermafs  von  Gewalt,  welche  einem  Beamten  anvertraut  würde, 
erscheinen.  Die  Wirksamkeit  des  Inspektorats  würde  dadurch  eher 
erschwert. 

Geht  man  im  einzelnen  die  verlangten  Kompetenzerweiterungen 
durch,  so  findet  man  an  erster  Stelle  den  Wunsch,  dafs  die  Inspek- 
toren von  sich  aus  verbindliche  Weisungen  betreffend  Vor- 
kehrungen zum  Schutz  von  Gesundheit  und  Leben  der  Arbeiter 
erlassen  können.  Dies  wäre  nur  dann  empfehlenswert,  wenn  sie 
erst  nach  einein  gewissen  Termin  als  verbindlich  erklärt  würden, 
bis  zu  welchem  der  Betriebsinhaber,  an  welchen  die  Anforderungen 
gestellt  werden,  seine  Einwendungen  beim  Inspektor  schriftlich  an- 
zubringen hätte.  Würde  dieser  an  der  Weisung  festhaltcn,  hätte  er 
den  gleichen  Weg  einzuschlagen,  wie  bisanhin,  d.  h.  er  hätte  sich 
an  die  kantonale  Regierung  mit  dem  Antrag  zu  wenden,  einen 
amtlichen  Befehl  zur  Ausführung  seiner  Weisungen  zu  erlassen. 
Seine  Kompetenz  würde  also  im  Grund  genommen  nicht  vermehrt, 
sondern  nur  die  Verschleppung  einer  schützenden  Mafs- 
regel  auf  viele  Monate  verhindert. 

Bedenklicher  wäre  schon,  wenn  dem  Inspektor  das  Recht  ein- 
geräumt werden  sollte,  Bewilligungen  irgend  welcher  Art 
zu  erteilen.  Meist  würde  es  sich  um  Ueberzeitbewilligungen 
handeln.  Mit  der  neuen  Kompetenz  würde  allerdings  mehr  Gleich- 
mäfsigkeit  in  die  Handhabung  des  Gesetzes  kommen.  Aber  einer- 
seits mufs  man  mit  den  speziellen  Verhältnissen  eines  Orts  oder 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 

Betriebs  vertraut  sein,  um  ein  Gesuch  richtig  beurteilen  zu  können, 
andererseits  wäre  eine  rasche  Erledigung  der  Gesuche  in  pressanten 
Fällen  oft  unmöglich.  Uebrigens  genügt  es,  wenn  die  erteilten  Be- 
willigungen dem  Inspektor  rasch  und  richtig  angezcigt  werden,  so 
dafs  er  gegen  eine  Ungesetzlichkeit  oder  ein  Uebermafs  sofort  re- 
klamieren kann. 

Man  möchte  dem  Inspektorat  ein  gewisses  Büfsungs recht 
zuweisen.  Damit  würde  ihm  aber  auch  in  vielen  Fällen  die  Pflicht 
auferlegt,  Untersuchungen  anzuheben,  Zeugen  einzuvernehmen  u.  dgl., 
was  sich  mit  seiner  amtlichen  Stellung  gar  nicht  vertrüge.  Es 
würde  ihn  aber  auch  von  seinen  übrigen  Funktionen  viel  zu  sehr 
ablenken.  Nur  in  Einem  Fall  wäre  ein  solche  Berechtigung  viel- 
leicht zu  begrüfsen.  Wo  es  sich  um  blofse  formelle  Dinge, 
wie  die  Führung  einer  vollständigen  Arbeiterliste,  die  Beschaffung 
der  Altersausweise,  die  Eintragung  der  Bufsen  in  eine  Liste  und 
ähnliches  handelt,  könnten  die  Beträge,  um  welche  jede  einzelne 
Nichterfüllung  der  Vorschriften  gebüfst  werden  müfste,  festgestellt 
werden  und  der  Inspektor  hätte  nur  das  Vorhandensein  dieser  Ver- 
fehlung zu  konstatieren.  Es  ist  zu  vermuten,  dafs  so  eine  gröfsere 
Pünktlichkeit  in  dieser  Richtung  erzielt  würde,  da  die  Ueber- 
tretungen  oft  so  geringfügiger  Natur,  so  wenig  beabsichtigt  sind, 
dafs  man  lieber  von  einer  Klagefuhrung  absieht. 

Sogar  der  Entscheid  in  streitigen  Abzugs-  und  Ent- 
schädigungsfragen ist  den  Inspektoren  zugemutet  worden. 
Dazu  bedarf  es  aber  doch  einer  ganz  anderen  Art  von  Fachkenntnis, 
als  die  Inspektoren  sie  besitzen  oder  bedürfen.  Abgesehen  von 
der  Unmöglichkeit,  all  diesen  Streitfällen  nachzugehen,  wären  die 
Inspektoren  für  diese  Aufgabe  gar  nicht  geeignet,  die  unendlich 
viel  besser  Fachgerichten  überlassen  wird. 

Nur  eine  Kompetenz  möchte  ich  den  Inspektoren  lebhaft 
wünschen:  das  Recht,  einzuschreiten,  wenn  sie  — wie 
dies  hier  und  da  vorkommt  — auf  Kinder  stofsen,  die  allzu 
schwächlich  oder  kränklich  aussehen,  um  zum  E’a- 
brikdienst  angehalten  zu  werden,  ein  amtsärztliches 
Zeugnis  zu  verlangen,  ob  das  betreffende  Kind  unbe- 
schadet seiner  Gesundheit  beschäftigt  werden  dürfe. 
Eis  ist  zu  hoffen,  dafs  jedermann  diese  Fürsorge  für  schwächliche 
Kinder  begrüfsen  werde. 

Die  Aufgabe  des  Fabrikinspektorats  bedingt  natürlich  auch, 
wie  es  zusammengesetzt  sein  sollte.  Ursprünglich,  als 


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F.  Schüler, 


erst  drei  Inspektoren  in  Aussicht  genommen  wurden,  gedachte 
man,  das  Kollegium  aus  einem  Maschinentechniker,  einem  Chemiker 
und  einem  Arzt  zusammenzusetzen.  Die  Ausführung  dieses  Projektes 
unterblieb  aus  verschiedenen  Gründen,  die  Idee  aber  war  richtig. 
Für  die  Zukunft  wird  es  schwer  halten,  einen  tüchtigen  Arzt  zu 
bekommen,  der  sich  mit  Vorliebe  mit  Gewerbehygieinc  beschäftigt 
und  auch  einige  Erfahrung  im  praktischen  Leben  gesammelt  hat. 
Ein  solcher  wird  sich  nicht  leicht  im  Anfang  nur  mit  einer  Ad- 
junktenstelle begnügen.  Vielleicht  ginge  es  an,  ihn  in  den  anderen 
Inspektoren  koordinierter  Stellung  als  beratenden  und  mit  hygie- 
nischen Spezialuntersuchungen  zu  beauftragenden  Beamten  zu  ge- 
winnen. Eine  solche  Aufgabe  wäre  ganz  verlockend  für  einen 
v gründlich  vorgebildeten  jungen  Hygieiniker,  seine  Thätigkeit  wäre 
geeignet,  schöne  Resultate  auf  dem  Gebiet  der  Gewerbehygieinc, 
resp.  des  Arbeiterschutzes  zu  erzielen  und  seinen  Kollegen  könnte 
ein  solcher  Spezialist  sich  ebenso  nützlich  erweisen,  als  einer 
hoffentlich  nicht  in  ferner  Aussicht  stehenden  Versicherungsanstalt 
gegen  Unfall  und  Gewerbekrankheiten. 

Das  Fabrikinspektorat  wird  aber  auch  in  anderer  Richtung  ent- 
lastet werden  müssen,  wenn  es  seiner  Aufgabe  genügen  will,  die 
ihm  immer  weiter  gesteckt  wird.  Sehr  oft  wird  seine  Zeit  über 
Gebühr  beansprucht  durch  blofse  Nachschau,  ob  Verlangtes  richtig 
ausgeführt.  Uebelständc  nach  Vorschrift  beseitigt  seien.  Sehr  oft 
könnten  solche  Missionen  mit  ebenso  gutem  Erfolg  zuverlässigen, 
in  Mechanik  und  verwandten  Dingen  gut  bewanderten  Männern 
aus  der  Mitte  der  Arbeiterschaft  übertragen  werden.  Solche 
„Inspektionsgehilfen“  vermöchten  dem  Inspektorat  grofse  Er- 
leichterung zu  verschaffen,  böten  aber  zugleich  den  Vorteil,  dafs  sie 
in  engerem  Kontakt  mit  der  Arbeiterschaft  ständen  und  teilweise 
aus  eigener  Erfahrung  auf  manches  aufmerksam  machen  könnten, 
was  dem  Inspektor  ferner  liegt.  Wenigstens  einen  Versuch  in 
dieser  Richtung  durch  die  neue  Fassung  des  Gesetzes  zu  ermög- 
lichen, dürfte  zwcckmäfsig  sein. 

Von  manchen  Seiten  ist  statt  dessen  auf  eine  Vermehrung 
der  Zahl  der  Inspektoren  selbst  gedrungen  worden.  Es  liegt 
aber  für  jedermann,  welcher  unser  Inspektionswesen  genauer  ver- 
folgt hat,  auf  der  Hand,  dafs  zur  Erzielung  einer  möglichst  gleich- 
förmigen Ausführung  des  Gesetzes  entweder  eine  Oberleitung,  ein 
Oberinspektorat  geschaffen  werden  müfste,  oder  dafs  die  Zahl  der 
Kreise  nicht  vermehrt  werden  darf.  Je  gröfser  die  Zahl  der  selb- 


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Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikfjcset^es. 


319 


ständig  in  ihrem  Bezirk  amtenden  Inspektoren  würde,  desto  mehr 
würden  auch  Verschiedenheiten  in  der  Auffassung  der  Aufgaben,  in 
der  Art  des  Vorgehens  zu  Tage  treten.  Die  Einheitlichkeit  in  der 
Gesetzeshandhabung  ginge  immer  mehr  verloren.  Wenn  aber  ein 
Chef  der  ganzen  Inspektion  geschaffen  würde,  dürfte  dies  manche 
geeignete  Kraft  von  der  Uebernahme  einer  Inspektorstelle  ab- 
schrecken,  denn  das  Abhängigkeitsverhältnis,  in  welches  an  ein- 
zelnen Orten  im  Ausland  die  Inspektoren  von  ihrem  Oberhaupt 
geraten  sind,  ist  bekannt  genug,  so  dafs  mancher  keine  Lust  hätte, 
in  eine  solche  Stellung  einzutreten.  Der  Gedanke  einer  solchen 
Ueberordnung  eines  einzelnen  ist  schon  vor  Jahrzehnten  aufgetaucht, 
aber  aus  ähnlichen  Gründen  wieder  aufgegeben  worden. 

Mit  Feuereifer  ist  auch  von  verschiedenen  Seiten  die  Einführung 
von  weiblichen  Inspektoren  befürwortet  worden.  Wie  man 
sich  die  Sache  denkt,  ist  nirgends  genau  gesagt  worden.  Soll  eine 
weibliche  Inspektorin  einen  Inspektionskreis  zugewiesen  bekommen, 
wie  der  männliche  Kollege  ? Oder  soll  die  Frau  nur  eine  gewisse 
Klasse  von  Betrieben  zu  beaufsichtigen  haben,  z.  B.  nur  solche  mit 
ausschliefslich  weiblichen  Arbeiterinnen?  In  der  ganzen  Schweiz 
finden  sich  unter  dem  Fabrikgesetz  214  Betriebe  der  letzteren  Art, 
die  zusammen  3487  Personen  beschäftigen.  Soll  für  diese  eine  be- 
sondere Aufsicht  geschaffen  werden,  während  ein  männlicher  In- 
spektor zehnmal  so  viele  Betriebe  und  bis  nahezu  96000  Arbeiter 
zu  besuchen  hat?  Es  ist  sehr  fraglich,  ob  eine  Frau  die  Strapazen 
des  beständigen  Reisens  zusammen  mit  allen  anderen  einem  In- 
spektor obliegenden  Funktionen  aushielte.  Zwei  der  bisherigen 
Inspektoren  waren  schon  gezwungen,  wegen  Ueberanstrengung  von 
ihrem  Amt  zurückzutreten.  Man  hört  ferner  oft  die  Behauptung, 
dafs  Frauen  nicht  die  nötigen  Fähigkeiten  zur  Uebernahme  eines 
Inspektorats  besitzen.  Es  ist  auch  wahrscheinlich,  dafs  aufser- 
ordentlich  wenige  Frauen  einen  solchen  Bildungsgang  durchgemacht 
haben,  dals  sie  alle  die  Verrichtungen  eines  männlichen  Inspektors 
übernehmen  könnten,  aber  ich  zweifle  nicht,  dafs  sic  sich  ebensogut 
wie  Männer,  die  erforderlichen  Kenntnisse  erwerben  könnten.  I lin- 
gegen  kommen  zu  meinen  Bedenken  wegen  der  körperlichen  Eig- 
nung noch  andere.  Die  Frau  mit  ihrem  lebhafteren  Empfinden, 
ihrer  gröfseren  Erregbarkeit  hat  weit  mehr  Schwierigkeiten  zu  über- 
winden, wo  sie  mit  kaltem  Blut  Untersuchungen  vorzunchmcn  hat 
in  Fällen,  wo  ihr  Rechtsgefühl,  ihr  sittliches  Gefühl  durch  die  ver- 
nommenen Anklagen  aufs  höchste  erregt  ist,  wo  ihr  Herz  von 


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320 


F.  Schüler, 


tiefstem  Mitgefühl  ergriffen  ist.  Vermag  sie  aber  ihre  Ruhe  nicht 
zu  bewahren,  begeht  sie  infolge  dessen  Mifsgriffe  oder  gar  Unge- 
rechtigkeiten, ist  ihre  gedeihliche  Wirksamkeit  dahin.  Solche  Er- 
wägungen veranlassen  viele,  die  Anstellung  von  Frauen  im  Inspek- 
torat  nicht  als  wünschbar  zu  betrachten.  Und  doch,  in  Einem 
Punkt  würden  sie  die  Männer  übertreffen.  Wo  es  sich  um  Ueber- 
wachung  von  Reinlichkeit  und  Ordnung,  von  Anstand  und  guter 
Sitte,  um  gehörige  Verpflegung  handelt,  haben  die  Frauen  einen 
schärferen  Blick,  eine  raschere  Beobachtungsgabe.  Dies  würde  sie 
in  Betrieben  mit  weiblicher  Arbeiterschaft,  wie  die  meisten  unserer 
schweizerischen  Arbeiterinnenschutzgesetze  umfassen,  zum  Inspek- 
torat  ganz  besonders  geeignet  machen.  Dagegen  mufs  ein  anderer 
Grund,  der  (vir  ihre  Verwendung  ins  Feld  geführt  wird,  vollständig 
in  Abrede  gestellt  "werden.  Man  behauptet,  dafs  die  Arbeiterinnen  den 
Frauen  in  gewissen  Dingen  mit  mehr  Vertrauen  und  Offenheit  ent- 
gegenkommen.  Die  Erfahrungen  der  schweizerischen  Inspektoren 
sprechen  nun  nicht  dafür,  dafs  ihnen  aus  Schamhaftigkeit  manches 
verhehlt  wird,  aber  auch  nicht  dafür,  dafs  viel  Unsittliches  zu  ver- 
hehlen wäre.  Dafs  die  weiblichen  Inspektoren  in  Deutschland  sich  be- 
sonderen Zutrauens  und  besonderer  Beanspruchung  durch  das  weib- 
liche Geschlecht  erfreuen,  geht  aus  den,  der  Frauenanstellung  sonst 
freundlich  gesinnten  Inspektionsberichten  nicht  hervor,  weit  eher 
das  Gegenteil,  so  vorzügliche  Kräfte  auch  verwendet  zu  werden 
scheinen.  Die  bekannte  amerikanische  Oberinspektorin  Fl.  Kelley 
schreibt:  man  meinte  anfänglich,  weibliche  Personen  teilen  einem 
männlichen  Inspektor  nicht  gern  Ungebührlichkeiten  und  Belästi- 
gungen mit,  aber  „im  Verlauf  meiner  Thätigkeit  habe  ich  die  Er- 
fahrung gemacht,  dafs  die  Arbeiterinnen  im  Punkt  der  Anbringung 
von  Beschwerden  keinen  Unterschied  zwischen  männlichen  und 
weiblichen  Inspektoren  machen.“  Und  an  anderer  Stelle:  „Be- 
schwerden über  moralische  Vergehen  von  Unternehmern , Werk- 
führern oder  anderen  im  Betrieb  angestellten  Personen  werden  weder 
an  Inspektorinnen  noch  Inspektoren  gerichtet.“  Die  so  eben  citierte 
Dame  berichtet  denn  auch,  dafs  die  Vermehrung  der  weiblichen 
Inspektoren  nicht  Schritt  halte  mit  derjenigen  der  männlichen. 
Und  in  England,  das  so  oft  als  Beispiel  für  die  Vorzüge  der  Frauen- 
verwendung angeführt  wird,  machten  im  Jahr  1899  die  Frauen  erst 
fünf  Prozent  des  Inspektionspersonals  aus.  Dies  alles  spricht  dafür, 
dafs  die  gröfste  Vorsicht  inbezug  auf  die  Anstellung  weiblicher  In- 


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Die  Revision  des  schweiicrischen  KahrikgcseUes.  ^21 

spektoren  im  eidgenössischen  Dienst  geboten  ist  und  im  Gesetz 
höchstens  die  Zulässigkeit  derselben  festgesetzt  werden  sollte. 

Mag  übrigens  die  Frage  der  Gestaltung  des  Inspektorats  ge- 
regelt werden,  wie  sie  will,  wird  daran  weit  weniger  liegen,  als 
dafs  endlich  die  seit  Jahren  ausgesprochenen  Wünsche  der  Be- 
teiligten und  die  Versprechungen  baldiger  Inangriffnahme  einer 
Fabrikgesetzesrevision  ihre  baldige  Erfüllung  finden.  Wenn  diese 
Blätter  etwas  dazu  beitragen  können,  ist  erreicht,  was  der  Verfasser 
damit  erstrebt  hat. 


Archiv  für  »oz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII. 


21 


Der  Rechtszustand  der  Gewerkvereine 
in  Grofsbritannien. 

Von 

HENRY  W.  MACROSTY,  B.  A. 

Die  hervorragende  Bedeutung,  welche  der  Arbeiterorganisation 
Großbritanniens  zukommt,  läfst  alles,  was  die  englischen  Gewerk- 
vereine betrifft,  als  eine  Angelegenheit  von  internationalem  Interesse 
erscheinen.  Es  bedarf  daher  für  die  folgenden  Erörterungen  keiner 
besonderen  Entschuldigung.  Ueberdies  haben  wir  cs  gegenwärtig 
mit  einer  aufsergewöhnlich  bemerkenswerten  Frage  zu  thun.  Seit 
dreifsig  Jahren  hatte  man  sich  daran  gewöhnt,  den  Gewerkvereinen 
einen  festen  Rechtsstand  einzuräumen.  Dann  wurde  dieser  Rcchts- 
stand  durch  verschiedene  gerichtliche  Entscheidungen  der  letzten 
Jahre  völlig  erschüttert,  und  die  damit  verbundenen  Privilegien  und 
Garantien  wurden  den  Gewerkvereinen  genommen.  Schliefslich 
sagte  die  Regierung  auf  das  Drängen  dieser  Arbeiterorganisationen 
eine  Untersuchung  zu,  um  dadurch  das  faktisch  bestehende  Recht 
zu  ermitteln.  Diese  Entwicklung  soll  im  folgenden  in  möglichst 
knapper  Darstellung  verfolgt  werden,  und  es  wird  dabei  meine  Auf- 
gabe sein,  die  rechtlichen  Anschauungen,  welche  diesen  wider- 
spruchsvollen und  unerträglichen  Zustand  herbeigeführt  haben,  zu 
prüfen  und  zu  klären.  Zu  diesem  Zweck  müssen  wir  uns  der  Ver- 
gangenheit zuwenden  und  die  Bestimmungen  der  Parlamentsakte, 
welche  den  Rechtsstand  der  Gewerkvereine  definieren,  wörtlich 
wiedergeben. 

Jahrhundertelang  stand  das  Parlament  allen  Versuchen  der 
arbeitenden  Klassen,  die  auf  eine  Verbesserung  ihrer  Lage  hinzielten, 
feindlich  gegenüber.  Dieser  Gesinnung  entsprangen  Repressivmafs- 


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Der  Rechtszustand  der  Gewerkvereine  in  Grofsbritannien. 


323 


regeln,  die  in  dem  Gesetz  vom  Jahre  1800  gipfelten,  das  jede  Ver- 
einigung zwecks  Erhöhung  der  Löhne  und  Verkürzung  der  Arbeits- 
zeit mit  Gefängisstrafe  bedrohte.  Die  wachsende  Empörung  der 
Arbeiter  führte  zwar  im  Jahre  1824  zur  Aufhebung  der  Koalitions- 
verbote, doch  unterwarf  eine  Novelle  des  folgenden  Jahres  die  Ge- 
werkvereine dem  gemeinen  Recht.  In  dieser  Weise  wurde  der 
Koalition  wohl  eine  formelle  aber  keine  materielle  rechtliche  An- 
erkennung gewährt;  denn  die  Gewerkvereine  konnten  jetzt  wegen 
Verschwörung  gegen  die  Gewerbefreiheit  (conspiracy  in  restraint  of 
trade)  belangt  werden.  Dieses  Ansnahmerecht  bestand  bis  zum 
Jahre  1871.  In  diesem  Jahre  wurde  das  Gewerkvercinsgesetz  er- 
lassen, dessen  hauptsächliche  Bestimmungen  lauten : 

2.  „Die  Zwecke  eines  Gewerkvereins  sollen  nicht  lediglich  aus 
dem  Grunde,  dafs  sic  gegen  die  Gewerbefreiheit  gerichtet  sind,  für 
rechtswidrig  erklärt  werden,  um  die  Mitglieder  eines  solchen  Ge- 
werkvereins der  strafrechtlichen  Verfolgung  wegen  Verschwörung 
oder  anderer  Vergehungen  zu  unterwerfen. 

3.  Die  Zwecke  eines  Gewerkvereins  sollen  nicht  lediglich  aus 
dem  Grunde,  dafs  sie  gegen  die  Gewerbefreiheit  gerichtet  sind,  für 
rechtswidrig  erklärt  werden,  um  dementsprechend  Vereinbarungen 
und  Verträgen  die  Rechtskraft  zu  entziehen. 

4.  Aus  keiner  Bestimmung  dieses  Gesetzes  soll  ein  Gerichtshof 
die  Befugnis  ableiten,  ein  Verfahren  gut  zu  heifsen,  das  den  Zweck 
hat,  Entschädigungen  zu  beanspruchen,  wenn  Verletzungen  begangen 
sind  gegen : 

1.  Eine  Vereinbarung  zwischen  den  Mitgliedern  eines  Gewerk- 
vereins als  solchen,  welche  die  Bedingungen  regelt,  unter 
welchen  die  Mitglieder  eines  solchen  Gewerkvereins  ihre 
Waren  verkaufen  oder  nicht  verkaufen,  unter  welchen  sie 
Geschäfte  abschliefsen,  Arbeit  nehmen  oder  geben  sollen. 

2.  Eine  Vereinbarung  über  die  Zahlung  eines  Beitrags  oder 
einer  Strafe  seitens  irgend  einer  Person  an  einen  Gewerk- 
verein. 

2.  Eine  Vereinbarung  über  die  Verwendung  des  Gewerkvereins- 
vermögens für  folgende  Zwecke: 

a)  um  die  Mitglieder  zu  unterstützen,  oder 

b)  um  einen  Arbeitgeber  oder  Arbeiter,  die  nicht  dem  Ge- 
werkverein als  Mitglieder  angehören,  zu  belohnen,  weil 
sie  die  Statuten  und  Beschlüsse  des  Gewerkvereins  als 


bindend  anerkennen;  oder 


21* 


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324 


Henry  W.  M a c r o s t y , 


c)  um  eine  Strafe  zu  bezahlen,  die  irgend  einer  Person 
durch  gerichtliches  Urteil  auferlegt  ist. 

4.  Eine  Vereinbarung,  die  ein  Gewerkverein  mit  einem  anderen 
abgeschlossen  hat. 

5.  Eine  Bürgschaft,  um  die  Durchführung  der  oben  angeführten 
Vereinbarungen  zu  sichern. 

Aber  kein  Teil  dieses  Abschnittes  soll  in  einer  Weise  ausge- 
legt werden,  durch  welche  die  oben  angeführten  Vereinbarungen 
ungesetzmäfsig  erklärt  werden  könnten." 

Die  übrigen  Bestimmungen  des  Gesetzes  regelten  die  Registrie- 
rung der  Gewerkvereine  und  die  Ernennung  von  Trustees  zur  Ver- 
waltung des  Vereinsvermögens. 

Um  ein  richtiges  Verständnis  für  dieses  Gesetz  zu  gewinnen, 
ist  es  nötig,  auf  den  Minderheitsbericht  der  Gewerkvereinskommission 
von  1867  zurückzugreifen,  welcher  nach  der  Aussage  des  Home 
Secretary  dem  Gesetz  zu  Grunde  gelegt  worden  war.  Es  war  da- 
mals vorgeschlagen  worden,  den  Gewerkvereinen  volle  Rechtskraft 
zu  gewähren,  damit  sie  klagen  und  verklagt  werden  könnten,  damit 
sie  Beiträge  von  ihren  Mitgliedern  gerichtlich  eintreiben  und  für  die 
zu  zahlenden  Unterstützungen  seitens  der  Mitglieder  verantwortlich 
gemacht  werden  könnten. 

Hierüber  heifst  es  in  jenem  Minoritätsbericht: 

„Wir  sind  keineswegs  überzeugt,  dafs  ein  derartiges  Ge- 
setz auch  nur  entfernt  wünschenswert  wäre.  Die  Gewerk- 
vereine sind  ihrem  Wesen  nach  gesellige  Vereinigungen 
(clubs)  und  keine  Handelsgesellschaften,  und  wir  sind  der 
Ansicht,  dals  die  gesetzliche  Regelung,  die  diesen  zu  teil 
wird,  bei  jenen  nicht  anwendbar  ist.  Von  irgend  welchen 
Vergehungen  abgesehen,  sind  die  Zwecke,  die  sie  beab- 
sichtigen , die  Rechte,  die  sie  beanspruchen , und  die  Ver- 
pflichtungen, die  sie  eingehen,  zum  gröfsten  Teil  solcher 
Art,  dafs  sic  unserer  Ansicht  nach  nicht  durch  Gerichte  er- 
zwungen. verändert  oder  aufgehoben  werden  können.  Sie 
beruhen  vollständig  auf  freiwilliger  Uebereinstimtnung." 

Dieser  Bericht  atmet  den  Geist  des  laissez- faire.  Das  Gewerbe 
ist  eine  Privatangelegenheit,  die  den  Staat  nichts  angeht.  Dieser 
hat  nur  die  eine  Aufgabe,  dafür  zu  sorgen,  dafs  im  Fall  eines 
Streites  kein  Verbrechen  begangen  werde.  Doch  selbst  von  diesem 
Standpunkte  aus  mufsten  weitergehende  Mafsregeln  getroffen  werden, 
um  die  Gewerkvereine  gegen  den  Mifsbrauch  des  Verschwörungs- 


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Der  Kechlszustand  der  Gewcrkvcrcine  in  Grofsbritannien. 


325 


gesetzes  zu  schützen  und  die  Rechte  der  Ausständigen  zu  be- 
stimmen. Das  geschah  durch  folgende  Bestimmungen  des  Gesetzes 
über  Verschwörung  und  Vermögensschutz  (Conspiracy  and  Pro- 
tection of  Property  Act)  vom  Jahre  1875: 

6.  „Eine  Vereinbarung  oder  Vereinigung  zwischen  zwei  oder 
mehreren  Personen,  die  den  Zweck  hat,  eine  Handlung  zu  begehen 
oder  anzustiften,  welche  einen  Gewerbestreit  zwischen  Unternehmern 
und  Arbeitern  eröffnen  oder  unterstützen,  soll,  kann  nicht  als  eine 
Verschwörung  belangt  werden,  wenn  dieselbe  I landlung,  von  einer 
Einzelperson  begangen,  nicht  als  ein  strafbares  Vergehen  gilt. 

Kein  Teil  dieses  Abschnittes  soll  Personen,  die  sich  einer  Ver- 
schwörung schuldig  gemacht  haben,  von  Strafe  befreien,  wenn  eine 
solche  Strafe  durch  Parlamentsakte  vorgesehen  ist. 

Kein  Teil  dieses  Abschnittes  berührt  in  irgend  einer  Weise 
das  Gesetz,  das  Zusammenrottung,  ungesetzmäßige  Versammlung, 
Ruhestörung  und  Aufruhr  oder  irgend  eine  gegen  den  Staat  oder 
das  Staatsoberhaupt  gerichtete  Handlung  betrifft. 

Als  Vergehen  gilt  im  Sinne  dieses  Abschnittes  eine  Handlung, 
die  infolge  einer  öffentlichen  Anklage  oder  einer  summarischen 
Ueberführung  strafbar  ist,  und  wofür  der  Schuldige  unter  dem  Ge- 
setz belangt  werden  kann,  welches  das  Vergehen  entweder  katego- 
risch oder  nach  Ermessen  des  Richters  mit  Gefängnisstrafe  an  Stelle 
irgend  einer  anderen  Strafe  belegt." 

7.  „Wenn  eine  Person  eine  andere  unrechtmäßig  und  ohne 
gesetzliche  Ermächtigung  zu  zwingen  sucht,  eine  Handlung,  die 
diese  rechtmäßig  zu  thun  beabsichtigt,  nicht  zu  begehen,  oder  die 
diese  rechtmäßig  nicht  zu  thun  beabsichtigt,  dennoch  zu  begehen, 
und  zu  diesem  Zweck 

a)  Gewalt  anwendet,  um  diese  andere  Person  oder  seine  Ehe- 
frau oder  Kinder  cinzuschüchtern  oder  sein  Eigentum  be- 
schädigt ; oder 

b)  dieser  Person  beständig  von  Ort  zu  Ort  nachgeht ; oder 

c)  Werkzeuge,  Kleider  und  andere  Gegenstände,  welche  diese 
andere  Person  gebraucht  oder  ihr  als  Eigentum  gehören, 
versteckt,  oder  sie  an  den  Gebrauch  derselben  hindert 
oder  davon  abhält;  oder 

d)  das  Haus  oder  den  Platz  oder  den  Zugang  dazu  beobachtet 
oder  umstellt,  wo  diese  andere  Person  wohnt,  arbeitet,  ein 
Geschäft  betreibt,  oder  sich  zufällig  aufhält;  oder 

e)  diese  andere  Person  mit  zwei  oder  mehreren  Personen  auf 


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326 


Henry  W.  Macrosty, 


der  Strafse  oder  einem  öffentlichen  Wege  in  ungehöriger 
Weise  verfolgt 

so  soll  jene  Person,  nach  Ueberführung  durch  summarisches  Ver- 
fahren oder  auf  öffentliche  Anklage,  entweder  zu  einer  Geldstrafe 
bis  zu  jß  20  oder  zu  Gefängnis  bis  zu  drei  Monaten  mit  oder 
ohne  Zwangsarbeit  verurteilt  werden. 

Das  Warten  vor  oder  bei  einem  Hause  oder  Platz  oder 
dessen  Zugang,  wo  diese  andere  Person  wohnt,  arbeitet,  ein  Ge- 
schäft betreibt,  oder  sich  zufällig  aufhält,  nur  zu  dem  Zweck 
um  Nachrichten  zu  erhalten  oder  mitzuteilen  soll 
nicht  als  ein  Beobachten  oder  Umstellen  im  Sinne 
dieses  Abschnittes  gelte n." 

Der  letzte  Teil  dieses  Abschnittes  erlaubt  das  Picketieren  (Strike- 
Posten). 

Die  auf  den  Grundsätzen  des  laissez-faire  ruhende  Anschauung 
von  der  privaten  Natur  der  Gewerkvereinc,  welche  in  dem  Gewerk- 
vereinsgesetz so  uneingeschränkt  zum  Durchbruch  kam,  dafs  dem 
Verein  keine  gesetzliche  Befugnis  eingeräumt  wurde,  die  Mitglieder 
zur  Erfüllung  der  Verpflichtungen,  die  sie  dem  Verein  schulden,  zu 
zwingen  — liefs  sich  so  lange  ertragen,  als  grofse  gewerbliche 
Streitigkeiten  nicht  vorkamen.  Eine  Zeitlang  ging  alles  gut  — die 
grofse  Masse  der  Arbeiter  machte  sich  die  Theorie  ihrer  Arbeit- 
geber zu  eigen,  dafs  die  Löhne  vom  Unternehmergewinn  abhängig 
seien,  und  die  Gewerkvereine  entwickelten  nur  ihre  Wohlfahrts- 
einrichtungen, während  sie  als  Hüter  der  realen  Arbeiterintercssen 
eingenickt  waren.  Aber  der  tiefe  wirtschaftliche  Niedergang,  der 
dem  Aufschwung  im  Anfänge  der  siebenziger  Jahre  gefolgt  war, 
offenbarte  die  Thatsache,  dafs  die  Industrie  eine  Angelegenheit  von 
allgemeinem  nationalem  Interesse  sei.  Nachdem  der  Geschäftsgang 
wieder  eine  aufwärts  gerichtete  Tendenz  eingeschlagen  hatte,  wurde 
den  Gewerkvereinen  durch  das  Zusammenwirken  verschiedener  Ur- 
sachen ein  neuer  Geist  eingehaucht.  Das  Erwachen  des  öffentlichen 
Gewissens  infolge  der  im  Jahre  1 888  erfolgten  Enthüllungen  über 
das  Schwitzsystem,  die  lebhafte  sozialistische  Propaganda,  die  seit 
1884  im  Gange  war,  die  Erhebung  der  ungelernten  Arbeiter  im 
Hafenstrike  von  1889,  und  die  Unterstützung,  welche  das  Prinzip 
des  Existenzlohnes  (living-wage)  im  Volke  gefunden  hatte  — diese 
sämtlichen  Ursachen  trugen  dazu  bei,  der  Gewerkvereinsbewegung 
eine  Richtung  zu  geben,  die  agressiver  und  kampfbereiter  war  als 
die,  welche  sie  in  dem  abgclaufenen  halben  Jahrhundert  verfolgt 


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Der  Rechtszustand  der  Gewerkvereine  in  Grofsbritannien. 


32  7 


hatte.  Zahlreiche  und  oft  gewaltthätige  Ausstände  folgten  schnell 
aufeinander,  kein  Gewerbe  blieb  von  schweren  Störungen  ver- 
schont. Die  öffentliche  Meinung  hatte  ihre  Stellungnahme  gegen- 
über den  Glaubenssätzen  von  1870  in  merkwürdiger  Weise  geändert. 
Der  Kohlenstrike  des  Jahres  1893  hatte  gezeigt,  dafs  ein  Konflikt, 
der  in  einem  Gewerbe  längere  Zeit  fortdauert,  alle  anderen  Ge- 
werbe des  Landes  gefährdet.  Man  sah  ein,  dafs  die  Industrie,  Aus- 
stände und  Aussperrungen  nationale  Angelegenheiten  seien  und 
man  gewöhnte  sich  daran,  in  den  Gewerkvereinen  etwas  anderes 
als  lediglich  „gesellige  Vereinigungen"  zu  sehen.  Jederman  ging 
auf  die  Suche  nach  einem  Mittel  zur  Verhütung  von  Strikes.  Die 
königliche  Arbeitskommission  (Royal  Commission  011  Labour)  wurde 
ernannt,  und  das  armselige  Ergebnis  ihrer  wirren  Untersuchungen 
war  das  Einigungsgesetz  (Conciliation  Act)  von  1896.  Dieses  Ge- 
setz ermächtigte  das  Handelsamt  (Board  of  Trade)  seine  Vermittlung 
anzubieten,  aber  ohne  ihm  das  Recht  zu  verleihen,  die  Parteien  zu 
zwingen,  ihre  Sache  vor  ein  Schiedsgericht  zu  bringen  und  seine 
Entscheidungen  als  bindend  anzunehmen.  Der  Ausstand  der  Ma- 
schinenbauer von  1897  verzögerte  die  Ausführung  des  Schiffsbau- 
plans der  Marinevcrrvaltung  und  der  Walliser  Kohlenstrike  ver- 
hinderte die  Abhaltung  der  regelmäfsigen  Marinemanöver.  Die 
Strikes  bildeten  thatsächlich  eine  nationale  Gefahr  — sie  bedrohten 
nicht  nur  den  Bestand  der  Industrie,  sondern  in  möglichen  Fällen 
die  nationale  Existenz!  Das  Volk  empfand  eine  heftige  Abneigung 
gegen  Strikes  und  das  unbestimmte  Bedürfnis,  dafs  irgend  etwas 
geschehen  müsse,  uni  sie  unmöglich  zu  machen.  Diese  Empfindung 
wurde  durch  den  wachsenden  deutschen  und  amerikanischen  Wett- 
bewerb noch  verstärkt.  Da  die  Unternehmer  aus  natürlichen  Ur- 
sachen die  Arbeiterorganisationen  verabscheuten,  und  da  sie  die 
öffentliche  Aufmerksamkeit  von  den  Mängeln,  die  ihnen  selbst  als 
industriellen  Organisatoren  anhafteten,  ablenken  wollten,  unter- 
nahmen sie  in  den  Gerichtshöfen  und  in  der  Presse  einen  Feldzug 
gegen  die  Gewerkvereine. 

Der  Feldzug,  den  sie  in  den  Gerichtshöfen  führten,  verfolgte 
zwei  Ziele:  I.  versuchten  sie  die  Ungesetzmäfsigkeit  aller  Handlungen, 
auf  welchen  der  Erfolg  eines  Strikes  beruht,  festzustellen  und  2.  die 
rechtliche  Haftpflicht  der  Gewerkvereine  für  Vermögensschädigungen, 
die  im  Verlaufe  gewerblicher  Streitigkeiten  vorgenommen  wurden, 
gerichtlich  zu  konstatieren.  Mit  diesen  beiden  Punkten  soll  sich 
die  folgende  Erörterung  einzeln  beschäftigen. 


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328 


Henry  W.  M a c r o s t y , 


Der  Hauptangriff  gegenüber  den  Strikes  war  gegen  d:is  Wort 
„einschüchtern"  gerichtet.  „Einschüchtern,"  sagte  der  Lord-Ober- 
richter  Coleridge,  „ist  kein  terminus  technicus,  sondern  ein  Wort 
der  gewöhnlichen  Sprache  und  des  täglichen  Gebrauchs;  cs  mufs 
daher  eine  vernünftige  und  verständige  Interpretation  erfahren,  die 
sich  nach  den  Umständen  der  Fälle,  wie  sie  gelegentlich  Vorkommen, 
zu  richten  hat".  Da  die  Richter  auch  nur  menschliche  Wesen  sind, 
so  wurden  sie  in  der  Ausübung  ihrer  Interpretationspflicht  not- 
wendigerweise durch  die  herrschende  öffentliche  Meinung  beeinflufet. 
Wir  sehen  daher,  wie  sie  nach  irgend  einem  Prüfstein  suchen,  durch 
welchen  sie  die  Rechte  der  einzelnen  Parteien  ermitteln  könnten. 
Eine  Handlung,  durch  welche  eine  Person  geschädigt  wird,  ist  selbst 
dann,  wenn  sie  absichtlich  vorgenommen  worden  ist,  nicht  not- 
wendigerweise klagbar.  Es  kann  als  der  umfassendste  und  all- 
gemeinste Rechtsgrundsatz  derjenige  betrachtet  werden,  der  besagt, 
dafs  der  Zweck  des  Rechts  darin  besteht,  jedem  einzelnen  in  allen 
Dingen,  die  dem  Gesetz  nicht  widersprechen,  volle  Aktionsfreiheit 
zu  sichern.  Der  mafsgebende  Präcedenzfall  für  die  Interpretation 
dieses  Grundsatzes  ist,  soweit  die  Arbeiter  in  Betracht  kommen, 
der  Mogul  Steamship  Case,  der  im  Jahre  1891  durch  das  Haus  der 
Fords  entschieden  wurde,  obschon  dieser  Fall  in  erster  I-inie  die 
Gewerbefreiheit  betraf.  Eine  Rhedervereinigung , deren  Schiffer 
nach  China  gingen,  hatte  denjenigen  Geschäftsleuten,  welche  aus- 
schliefslich  die  Schiffe  der  Vereinigung  für  den  Transport  ihrer 
Waren  benutzten,  Sondertarife  angeboten.  Dagegen  bedingte  jeder 
Transport,  auch  wenn  er  noch  so  unbedeutend  war,  der  einem 
Schiffe,  das  nicht  dem  Kartell  gehörte,  übergeben  wurde,  für  den 
betreffenden  Verlader  einen  empfindlichen  Verlust.  Eine  aufserhalb 
des  Kartells  stehende  Firma  hatte  auf  Schadenersatz  auf  Grund 
einer  Verschwörung  mit  der  Absicht  der  Schädigung  geklagt. 
Diese  Klage  wurde  abgewiesen.  Die  Abweisung  wurde  folgender- 
mafsen  begründet.  Eine  Handlung,  die  von  einer  einzelnen  Person 
begangen,  nicht  klagbar  ist,  kann,  wenn  sie  von  vielen  begangen 
wird,  durch  das  blofse  Gewicht  der  Zahl  klagbar  werden  — wie 
z.  B.  im  Fall  eines  Boykotts.  Die  blofse  Thatsache  der  Vereinigung 
ist  hierzu  aber  nicht  ausreichend.  Die  Vereinigung  wird  nur  dann 
klagbar,  wenn  sie  den  Zweck  hat,  ungesetzmäfsige  Handlungen  zu 
begehen  oder  gesetzmäfsige  Handlungen  durch  ungesetzmäfsige 
Mittel  zu  vollbringen.  „Wenn  nun  jemand  absichtlich  eine  Handlung 
begeht,“  sagte  Lord  Justice  Bowen,  „die  im  gewöhnlichen  Verlaufe 


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Der  Rechtszustand  der  Gewerkvereine  in  Grofsbritannicn. 


329 


der  Dinge  eine  Schädigung  herbeiführen  soll,  und  die  einer  anderen 
Person  in  ihrem  Geschäft  thatsächlich  Schaden  bereitet,  so  ist  jene 
Handlung  klagbar,  wenn  sie  ohne  berechtigten  Anlafs  oder  Ent- 
schuldigung begangen  ist.  Eine  solche  Handlung,  die  ohne  be- 
rechtigten Anlafs  oder  Entschuldigung  begangen  wird,  nennt  das 
Recht  ein  böswilliges  Unrecht.  Die  Handlungen  der  Verklagten, 
die  hier  zur  Anklage  stehen,  sind  absichtlich  begangen  worden 
und  waren  sicher  darauf  berechnet,  den  Klägern  Schaden  in  ihrem 
Geschäftsverkehr  zuzufügen.  Um  aber  zu  entscheiden,  ob  sie  als 
Unrecht  zu  betrachten  sind,  haben  wir  noch  zu  ermitteln,  ob  sie 
ehne  berechtigten  Anlafs  oder  Entschuldigung  begangen  worden 
sind.  Die  Verklagten  behaupten  nun  ihrerseits,  dafs  ein  berechtigter 
Anlafs  oder  Entschuldigung  in  ihrem  eigenen  positiven  Recht  (mit 
gewissen  Einschränkungen)  liege,  ihr  eigenes  Gewerbe  in  einer  Art 
und  Weise,  die  ihnen  am  besten  erscheint,  zu  betreiben  und  die 
nach  ihrer  Ansicht  am  besten  geeignet  ist,  ihren  eigenen  Vorteil 
zu  wahren.  Die  erwähnten  Einschränkungen  sind : „Es  hat  eine 
Person  — ob  sie  Kaufmann  sei  oder  nicht  — niemals  das  Recht, 
eine  andere  in  ihrem  Geschäftsverkehr  durch  Betrug  oder  Vor- 
spiegelung falscher  Thatsachen  zu  schädigen.  Einschüchtern,  Hindern 
und  Belästigen  sind  verboten;  ebenso  die  absichtliche  Anstiftung 
zur  Verletzung  persönlicher  Rechte  ( vertragsmäfsige  und  andere)  — 
immer  unter  der  Voraussetzung,  dafs  eine  berechtigte  Veranlassung 
dazu  nicht  vorliegt.“  In  Bezug  auf  den  Vertragsbruch  wollen  wir 
noch  folgendes  Urteil  des  Lord  Justice  Boett  in  Bowen  contra  1 lall 
(1883)  erwähnen:  „Die  blol'se  Ueberredung  eines  Mannes,  seinen 
Kontrakt  zu  brechen,  braucht  nicht  vor  dem  Gesetz  und  der  Praxis 
ein  Unrecht  zu  sein.  Wenn  aber  die  Ueberredung  mittelbar  dazu 
dienen  soll,  den  Kläger  zu  schädigen,  oder  dem  Verklagten  auf 
Kosten  des  Klägers  zu  nützen,  so  ist  sie  eine  böswillige  Handlung, 
die  vor  dem  Gesetz  und  der  Praxis  als  ein  Unrecht  gilt,  und  daher 
eine  unrechtmäfsige  Handlung  und  daher  eine  klagbare  Handlung, 
wenn  sie  eine  Schädigung  zur  Eolge  hat." 

Die  angeführten  Stellen  enthalten  die  Rechtsgrundsätze,  die 
für  die  Gewerkvereine  in  Bezug  auf  „Einschüchtern“,  „Verschwörung 
zur  Einschüchterung“,  „Verschwörung  zur  Schädigung“  in  Betracht 
kommen.  In  einigen  älteren  Fällen  waren  die  Richter  geneigt, 
die  Einschüchterung  auf  Drohung  persönlicher  Vergewaltigung 
zu  beschränken.  In  Gibson  contra  Lawson  wurde  entschieden 
(1891),  dafs  es  nicht  Einschüchterung  sei,  wenn  A dem  B sagt, 


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33° 


Henry  W.  M a c r o s t y , 


dafs  die  Mitglieder  von  As  Gewerkverein  striken  würden,  wenn  K 
nicht  aus  seinem  Verein  austreten  und  dem  A’s  beitreten  würde, 
worauf  der  Arbeitgeber  den  A entliefs,  um  den  Strike  zu  ver- 
hüten. In  Curran  contra  Treleaven  (1891)  wurde  entschieden,  dafs  es 
nicht  Einschüchterung  sei,  wenn  der  Sekretär  eines  Gewerkvereins 
einem  Unternehmer  mitteilt,  dafs  wenn  er  die  Arbeiter,  die  dem 
Gewerkverein  nicht  als  Mitglieder  angehören,  nicht  entlassen  würde, 
würden  die  übrigen,  die  dem  Gewerkverein  als  Mitglieder  ange- 
hören, striken,  und  wenn  dann  auf  die  Weigerung  des  Unternehmers 
der  Sekretär  die  Mitglieder  des  Gewerkvereins  in  den  Ausstand 
abruft.  In  Temperton  contra  Russell  (1893)  wird  ein  anderer  Stand- 
punkt eingenommen.  Temperton  war  ein  Bauunternehmer  in  Hüll, 
der  sich  weigerte,  die  Arbeitsbedingungen,  welche  zwischen  den 
übrigen  Unternehmern  und  dem  Gewerkverein  der  Bauarbeiter  ver- 
einbart waren,  zu  unterschreiben.  Um  ihn  gefügig  zu  machen, 
wurden  seine  Arbeiter  abgerufen,  und  ferner  veranlafsten  die  Be- 
amten des  Gewerkvereins  solche  Personen,  die  mit  Temperton 
Kontrakte  zur  Lieferung  von  Baumaterialien  abgeschlossen  hatten, 
diese  Kontrakte  zu  brechen  und  keine  neuen  Kontrakte  mit  ihm 
einzugehen  unter  dem  Vorwand,  dafs  sonst  ihre  Arbeiter  in  den 
Ausstand  treten  würden.  Das  Gericht  entschied,  dafs  in  beiden 
Handlungen  ein  klagbares  Unrecht  begangen  worden  wäre.  Dieser 
Fall  mufs  in  Verbindung  mit  Allen  contra  Flood  und  mit  einem 
anderen,  der  1897  im  Hause  der  Lords  entschieden  wurde  und  zu 
den  wichtigsten  Fällen  des  Gewerkvereinsrechts  gehört,  betrachtet 
werden.  Allen,  der  Delegierte  der  Kesselmacher,  benachrichtigte 
den  Arbeitgeber  von  Flood  und  Taylor  (Schiffbauer,  die  im  Wider- 
spruch mit  den  Statuten  der  Kesselmacher  bei  Eisenarbeiten  be- 
schäftigt worden  waren),  dafs  die  Kesselmacher  striken  würden, 
wenn  jene  nicht  entlassen  würden,  und  da  der  Arbeitgeber  grolse 
Kontrakte  zu  erfüllen  hatte,  entliefs  er  Flood  und  Taylor  ohne  vor- 
herige Kündigung,  wozu  er  berechtigt  war. 

Es  war  erwiesen,  dafs  die  Entscheidung  der  Kesselmacher  frei- 
willig, ohne  den  überredenden  Einflufs  Aliens,  der  nur  als  Bote 
handelte,  getroffen  worden  war.  Flood  und  Taylor  verklagten  Allen 
und  das  Urteil,  das  zu  ihren  Gunsten  ausfiel,  wurde  in  der  Be- 
rufungsinstanz bestätigt.  In  dem  Hause  der  Lords  aber  wurde  es 
durch  die  Abstimmung  von  sechs  gegen  drei  Richter  verworfen. 
Da  die  vier  Richter  der  niederen  Gerichtsstellen  einstimmig  gegen 
Allen  entschieden  hatten,  so  waren  im  ganzen  sieben  Richter  der 


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Der  Kethtszustaad  der  Gewerk  vereine  in  Grofsbritannien.  33 1 

Ansicht,  dals  ein  klagbares  Unrecht  begangen  worden  wäre,  während 
sechs  die  entgegengesetzte  Ansicht  vertraten.  Dieser  Zwiespalt  der 
Ansichten  genügt  an  sich  schon,  um  den  unbefriedigenden  Rechts- 
zustand zu  offenbaren. 

Die  Richter,  welche  für  die  Verurteilung  gestimmt  hatten, 
äufserten  in  beiden  Fällen  die  Meinung,  dafs  es  in  der  Wirkung 
gleich  sei,  wenn  A überredet  würde,  seinen  Vertrag  mit  B zu 
brechen,  oder  wenn  A überredet  wurde,  einen  Vertrag  mit  B nicht 
abzuschliefsen.  Eis  ist  damit  eine  wichtige  Ausdehnung  des  Rechts, 
wie  es  in  Bowen  contra  Hall  konstatiert  war,  gegeben.  Dagegen  be- 
merkt Lord  Davey  (in  Allen  contra  Flood) : „Wenn  die  Ueberredung 
im  ersten  Falle  erfolgreich  ist,  so  geht  die  andere  Partei  des  Vor- 
teils, ihren  Kontrakt  ausgeführt  zu  haben,  verlustig.  Im  zweiten 
Falle  verliert  sie  nichts,  worauf  sie  einen  rechtlichen  Anspruch 
hätte,  und  sie  hat  keinen  gesetzlichen  Grund,  gegen  die  Person  zu 
klagen,  die  sich  weigert,  mit  ihr  einen  Vertrag  abzuschliefsen.  Im 
ersten  Fall  liegt  eine  Rechtsverletzung  vor;  im  zweiten  Fall  nicht.“ 
Es  wurde  ferner  behauptet,  dafs  wenn  die  Ueberredung  zu  dem 
Zweck  ausgeübt  sei,  die  dritte  Partei  zu  schädigen,  so  würde  damit 
eine  Handlung  ungesetzlich , die  ohne  jene  Absicht  gesetzlich 
gewesen  wäre.  Hierzu  äufserte  sich  wiederum  Lord  Davey  fol- 
gendermafsen : „Ein  Arbeitgeber  kann  einen  Arbeiter,  mit  dem 
er  keinen  Kontrakt  abgeschlossen  hat,  entlassen,  oder  er  kann  sich 
aus  den  irrtümlichsten,  böswilligsten  oder  sittlich  verwerflichsten 
Beweggründen,  die  man  sich  denken  kann,  weigern,  einem  Arbeiter 
Beschäftigung  zu  geben  — dem  Arbeiter  ist  damit  kein  Recht  zur 
Klage  gegeben.  Es  scheint  mir  sonderbar,  wenn  gesagt  wird,  dafs 
die  Hauptperson,  welche  die  Handlung  begeht,  keine  Schuld  trage: 
während  die  Nebenperson,  die  ihm  dazu  geraten  hat,  ohne  selbst 
eine  Unrechte  Handlung  zu  begehen,  die  Schuld  trage.  Wenn  man 
eine  Person  überredet,  eine  Handlung  zu  thun  oder  zu  unterlassen, 
die  sie  aus  freiem  Willen  zu  thun  oder  zu  unterlassen  berechtigt  ist, 
so  begeht  man  kein  Unrecht,  sondern  unter  Umständen  eine  ver- 
dienstliche That,  selbst  wenn  das  Endresultat  des  Rates  Schädigung 
für  einen  dritten  bedeutet.  Fis  scheint  mir  jedem  vernünftigen  Grund- 
satz zu  widersprechen,  wenn  man  behauptet,  dafs  die  Hinzufügung 
des  Begriffs  der  Böswilligkeit  eine  Handlung  zu  einer  klagbaren 
mache,  die  ohne  Böswilligkeit  begangen,  kein  Unrecht  wäre,  obschon 
sie  die  Schädigung  einer  dritten  Person  veranlafst.“  Ferner  hat 
Lord  James  of  Hereford  darauf  hingewiesen,  dafs  bei  Anerkennung 


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332 


Henry  W.  Macrosty, 


jenes  Grundsatzes  ein  Baumeister,  der  unter  Ausschlufs  seiner  Kon- 
kurrenten einen  Auftrag  zu  erlangen  suche,  sich  damit  der  Klagbar- 
keit aussetze,  „denn  er  hat  eine  Person  abgehalten  mit  einer  dritten 
einen  Kontrakt  abzuschliefsen,  und  es  war  offenbar  sein  Zweck  sich 
auf  Kosten  dieser  dritten  Person  einen  Vorteil  zu  verschaffen.“  In 
der  That  war,  wie  Lord  Herschell  bemerkte,  die  Entscheidung  gegen 
Allen  „eine  vollständige  Neuerung,  die  nur  durch  weittragende  und 
meiner  Ansicht  nach  gefährliche  und  unvernünftige  Behauptungen 
aufrecht  erhalten  werden  konnte".  In  allen  Gewerkvereinsfallen 
wird  die  Aufmerksamkeit  der  Richter  und  des  Publikums  zu  all- 
gemein auf  die  Schädigung,  die  begangen  worden  ist,  konzentriert, 
anstatt  sie  auf  den  Zweck  der  Gewerkvereinsbewegung  zu  lenken, 
der  darin  besteht,  dafs  der  Gewerkverein  die  rechtmäfsigen  Interessen 
seiner  Mitglieder  zu  fördern  und  für  sie  eine  möglichst  grofse  Zahl 
von  Arbeitsgelegenheiten  unter  den  möglichst  günstigen  Bedingungen 
zu  beschaffen  sucht.  Ein  derartiges  Bestreben  entspricht  genau 
demjenigen  der  verklagten  Vereinigung  in  dem  Mogul  case,  die  für 
sich  den  gröfstmöglichen  Anteil  am  chinesischen  Theegeschäft  zu 
erlangen  suchte,  was  als  gesetzmäfsig  anerkannt  wurde.  Lord  Shaud 
legte  den  Sachverhalt  in  Allen  contra  Flood  sehr  klar  — und  seine 
Argumente  lassen  sich  auch  auf  Temperton  contra  Russell  anwenden. 
Er  sagte:  „Wenn  das  Beweismaterial  etwas  klar  erkennen  läfst,  so 
scheint  es  mir  dieses  zu  sein,  dafs  der  Angeklagte  (Allen)  ausschliefslich 
das  eine  Ziel  im  Auge  hatte,  die  Interessen  derjenigen,  die  er  ver- 
trat, in  allem,  was  er  that,  zu  fördern  — dafs  dies  der  Beweggrund 
seiner  Handlungen  war  und  nicht  der  Wunsch,  die  Kläger  in  ihrem 
rechtmäfsigen  Beruf  zu  schädigen.  Der  Fall  betraf  den  Wettbewerb 
der  Arbeiter,  der  meiner  Ansicht  nach  in  allen  wesentlichen  Punkten 
dem  Wettbewerb  der  Kaufleute  analog  ist;  auf  beide  sind  dieselben 
Prinzipien  anwendbar.  Ich  frage  mich,  was  man  von  der  Anwen- 
dung des  Wortes  „böswillig"  (im  rechtlichen  Sinne)  auf  das  Ver- 
fahren eines  Kaufmanns  denken  würde,  welcher  den  langjährigen 
Kunden  eines  anderen  Kaufmanns  veranlafst,  bei  diesem  nicht  mehr 
zu  kaufen,  sondern  bei  ihm,  dem  Konkurrenten  ....  Obschon  es 
zweifellos  zutrifft,  dafs  die  Kläger  (Flood  und  Taylor)  berechtigt 
waren,  ihr  Gewerbe  als  Arbeiter  „ohne  Hinderung“  zu  betreiben,  so 
war  doch  ihr  Recht  durch  das  gleiche  Recht  der  übrigen  Arbeiter 
eingeschränkt.  Die  Hinderung  braucht  keineswegs  ungesetzmäfsig 
zu  sein.  Zu  den  Rechten  aller  Arbeiter  gehört  das  Recht  des  freien 
Wettbewerbs.  In  derselben  Weise  und  demselben  Umfang  wie  ein 


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Der  Rcchtszustand  der  Gewerkvereine  in  Grofsbritannien. 


333 


Arbeiter  seiner  Beschäftigung  ohne  Hinderung  naehgehen  soll,  hat 
ein  Kaufmann  das  Recht  auf  freien  Geschäftsbetrieb  ohne  Hinderung. 
Dieses  Recht  ist  von  dem  gleichen  Recht  anderer  Kaufleute  be- 
grenzt und  unterwirft  sie  dem  freien  Wettbewerb,  der  an  sich  gesetz- 
mäfsig  ist,  über  den  man  sich,  soweit  unrechtmäfsige  Mittel  nicht 
dabei  angewendet  werden,  nicht  beschweren  darf.  Diese  Frage  ist, 
soweit  der  Geschäftsverkehr  in  Betracht  kommt,  durch  das  Urteil 
dieses  Hauses  in  dem  Fall  der  Mogul  Steamship  Company  von 
Mc.  Gregor  entschieden  worden.  Ich  sehe  keinen  Grund  für  die 
Behauptung,  dafs  dasselbe  Prinzip  nicht  auch  auf  den  Wettbewerb 
der  Arbeiter  anwendbar  sein  solle.  Bei  einem  solchen  Wettbewerb 
ist  der  Arbeiter,  der  seinen  eigenen  Vorteil  verfolgt,  meiner  Ansicht 
nach  völlig  im  Recht,  wenn  er  es  ablehnt  in  demselben  Betriebe 
mit  gewissen  anderen  Personen  zu  arbeiten  und  wenn  er  seine 
Arbeitgeber  hiervon  in  Kenntnis  setzt.“ 

Die  Weigerung  der  Gewerkvereinler  mit  Nichtgewerkvereinlern 
zusammen  zu  arbeiten  ist  sehr  häufig  der  Anlal's  gewerblicher 
Streitigkeiten  gewesen.  Es  hatte  den  Anschein,  als  ob  jenen  das 
-Recht  der  Weigerung  in  Allen  contra  Flood  zugestanden  worden  wäre. 
Als  aber  der  Versuch  gemacht  wurde,  diesen  Grundsatz  auf  Quinn 
contra  Leathem  auszudehnen,  gab  der  Lordkanzler  Halsbury  eine  Ent- 
scheidung, die  es  unmöglich  macht,  überhaupt  allgemeine  Prinzipien 
aus  der  Masse  der  entschiedenen  Fälle  abzuleiten.  In  jener  Ent- 
scheidung heilst  es:  „Jedes  Urteil  mufs  in  seiner  Anwendung  auf 
besondere,  bewiesene  Thatsachen  verstanden  werden.  Es  wird  immer 
durch  die  besonderen  Umstände  des  einzelnen  Falles  bestimmt,  in 
welchem  die  betreffenden  Ausdrücke  Vorkommen.  Fiin  Fall  gilt 
nur  als  Autorität  für  das,  was  er  wirklich  entscheidet.  Ich  bestreite 
durchaus,  dafs  er  als  Stütze  für  einen  Satz  angeführt  werden  kann, 
der  sich  als  logische  Folge  daraus  zu  ergeben  scheint.  Eine  der- 
artige Argumentation  setzt  voraus,  dafs  das  Recht  notwendigerweise 
ein  logisches  Ganzes  bilde,  während  jeder  Rechtsanwalt  zugeben 
mufs,  dafs  das  Recht  sehr  oft  nichts  weniger  als  logisch  ist.“ 

Mr.  Leathem , ein  Schlächtermeister , verklagte  Quinn  und 
andere  Mitglieder  der  Beifort  Journeymen  Butchers  Assistants 
Association  auf  Schadenersatz  und  gewann  den  Prozefs.  Der 
Sachverhalt  war  folgender : Die  Verklagten  hatten  einige  Schlächter 
durch  Drohungen , dafs  sie  ihre  Arbeiter  abrufen  würden , be- 
wogen , jeden  Geschäftsverkehr  mit  dem  Kläger  abzubrechen. 
Aufserdem  überredeten  sie  Arbeiter,  die  Arbeit  bei  ihm  aufzugeben, 


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334 


Henry  W.  Macrosty, 


weil  er  sich  geweigert  hatte,  auf  Befehl  des  Gewerkvereins  einen 
Gehilfen,  der  dem  Verein  nicht  angehörte,  zu  entlassen.  Er  erklärte 
sich  bereit,  die  Kosten  des  Beitritts  zum  Gewerkverein  für  jenen 
Gehilfen  zu  tragen,  aber  dieser  bestand  darauf,  dafs  der  betr.  Ge- 
hilfe während  eines  Jahres  nicht  vom  Mr.  Leathem  beschäftigt 
werden  sollte.  Dieser  Forderung  wollte  sich  der  Kläger  nicht 
fügen,  da  der  Gehilfe  verheiratet  war.  Der  Gewerkverein  veröffent- 
lichte aufserdem  „schwarze  Listen"  von  Schlächtermeistern,  die 
Gehilfen,  welche  nicht  seine  Mitglieder  waren,  beschäftigten  Die 
Entscheidung  des  unteren  Gerichtshofes  wurde  einstimmig  vom 
Hause  des  Lords  (August  1901)  gebilligt.  Zu  den  Richtern  gehörten 
Lord  Macnaghten  und  Lord  Shaud,  die  in  Allen  contra  Flood  die 
Entscheidung  zu  Gunsten  Aliens  unterstützt  hatten. 

In  diesem  Fall  wäre  Klagbarkeit  nicht  eingetreten,  wenn  ein 
einzelner  die  beklagten  Handlungen  begangen  hätte.  Darüber  äufserte 
sich  Lord  Brampton  folgendermafsen : „Der  wirkliche  und  wesent- 
liche Anlafs  zur  Klage  war  eine  ungesetzliche  Verschwörung  zur 
Belästigung  des  Klägers,  eines  Kaufmanns,  in  seinem  Geschäfts- 
betrieb. Dadurch  wurde  sein  zweifelloses  Recht,  in  allen  Angelegen- 
heiten, die  nicht  rechtswidrig  sind,  sein  Geschäft  nach  eigenem  Er- 
messen und  eigener  Wahl  zu  betreiben,  beeinträchtigt."  Lord  Lindley 
fugte  hinzu:  „die  Angeklagten  sind  sicherlich  über  die  Grenzen 
ihres  guten  Rechts  hinausgegangen:  sie  haben  dem  Kläger,  seinen 
Kunden  und  Angestellten  vorgeschricben,  was  sie  thun  sollten.  Die 
Beklagten  haben  die  Pflicht,  die  sie  dem  Kläger,  seinen  Kunden  und 
Angestellten  schuldig  sind,  verletzt,  die  darin  besteht,  die  Freiheit 
ihres  gesetzmäßigen  Handelns  zu  achten  und  nicht  anzutasten  . . . 
Das  Vorgehen,  welches  als  friedliche  Ueberredung  anfängt,  kann 
leicht  in  zwingende  Befehle,  die  von  offenen  oder  versteckten 
Drohungen  begleitet  sind,  ausarten,  und  die  für  alle,  die  sich  nicht 
überreden  lassen,  sehr  unangenehme  Folgen  haben  kann. 

Die  Abrufung  der  Arbeiter  in  den  Ausstand  hat  für  alle,  welche 
dem  Rufe  nicht  folgen,  sehr  ernste  Folgen.  Schwarze  Listen  sind 
wirkliche  Zwangsmittel,  wie  jeder,  dessen  Name  auf  einer  solchen 
gestanden  hat,  weifs.  Eine  Vereinigung  mit  dem  Zweck,  die  Arbeit 
niederzulegen,  ist  gesetzlich.  Eine  Vereinigung  mit  dem  Zweck, 
andere  von  der  Arbeit  abzuhalten,  ist  etwas  ganz  anderes  und  priina 
facic  ungesetzlich.  Ich  bin  nicht  überzeugt,  dafs  eine  Handlung, 
die  bei  einem  einzelnen  nicht  klagbar  ist,  nicht  klagbar  werden 
kann,  wenn  sie  von  mehreren  nach  Verabredung  vorgenommen 


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Der  Rechtszustand  der  Gewcrkvcrcine  in  Grofsbritannien. 


335 


wird.  Mehrere  Personen  können  eine  belästigende  und  zwingende 
Gewalt  ausüben,  wozu  der  einzelne  nicht  imstande  ist.  Belästigung 
und  Zwang  durch  eine  gröfsere  Anzahl  von  Personen  kann  an  sich 
ungesetzlich  sein  und  kann  eine  Handlung,  die  auch,  von  der  Zahl 
der  Personen  abgesehen,  ein  Unrecht  ist,  noch  verschlimmern.  Der 
Hauptunterschied  zwischen  früheren  Fällen  und  dem  vorliegenden 
besteht  darin,  dafs  bei  absichtlicher  Schädigung  der  Kläger  doch 
die  Rechte  keiner  Person  verletzt  hatte,  dafs  keine  ungesetzliche 
Handlung  begangen  wurde ; während  der  Zwang,  der  in  dem  vor- 
liegenden Falle  auf  die  Kunden  und  Angestellten  des  Klägers,  und 
durch  sie  auf  den  Kläger  selbst  ausgeübt  wurde,  eine  Beeinträch- 
tigung ihrer  und  seiner  Freiheit  bedeutete  und  sowohl  ihnen  wie 
ihm  ein  Unrecht  zufügte."  Er  erklärte  ferner,  dafs  der  Paragraph  3 
des  Verschwörungsgesetzes  von  1875,  der  den  Vereinigungen  Hand- 
lungen zur  Verfolgung  eines  Gewerbestreites  gestattet,  wenn  diese 
Handlungen,  von  einem  einzelnen  begangen,  nicht  als  Vergehen 
gelten,  dennoch  die  Klagbarkeit  auf  Schadenersatz  bei  solchen  Hand- 
lungen offen  läfst. 

Diese  Aeufserungen  rauben  den  Arbeiterorganisationen  jede 
Möglichkeit  eines  Erfolges;  denn  jede  Ausübung  eines  unmittel- 
baren oder  mittelbaren  Druckes  seitens  vereinigter  Kräfte  auf  einen 
Unternehmer  wird  durch  sie  ungesetzlich.  Aufser  der  einfachen 
Arbeitsenthaltung  kann  alles  dahin  gedeutet  werden,  dafs  es  als 
Eingriff  in  die  Rechte  eines  anderen  erscheint,  indem  man  ihn 
zwingt,  etwas  zu  thun,  was  er  sonst  nicht  zu  thun  brauchte.  Das 
Urteil  läl'st  sich  weder  mit  Allen  c.  Flood  noch  mit  dem  Mogul 
Case  vereinigen.  In  gewissem  Sinne  erfuhren  auch  Flood  und 
Taylor  seitens  ihres  Arbeitgebers  einen  Zwang,  wodurch  ihr  Recht 
zu  arbeiten,  wrie  es  ihnen  am  besten  pafste,  beeinträchtigt  wurde  — 
so  dafs  die  überklugen  Unterscheidungen  des  Lord  Justice  I.indley 
als  nicht  stichhaltig  erscheinen.  Lord  Justice  Bowen  sagt  noch 
folgendes:  „Wenn  es  bona  fide  durch  den  Gebrauch  des  eigenen 
Vermögens,  in  der  Ausübung  des  eigenen  Gewerbes  gethan  wurde, 
so  würde  meiner  Meinung  nach  eine  solche  gesetzmälsige  Bercch- 
tigung  vorhanden  sein,  wenn  auch  die  Handlung  anderen  als  egois- 
tisch und  unbillig  erscheinen  sollte.  Eine  solche  gesetzmälsige  Be- 
rechtigung würde  aber  nicht  vorhanden  sein,  wenn  die  Handlung 
lediglich  mit  der  Absicht  der  Schädigung  begangen  wurde,  ohne 
dafs  der  Handelnde  dabei  die  Erzielung  eines  rechtmäfsigcn  Ge- 
winnes oder  die  Ausübung  der  ihm  zustehenden  Rechte  im  Auge 


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Henry  VV.  Macroity. 


hatte."  Die  Gewerkvereine  machten  von  dem  ihnen  zustehenden 
Rechte  des  Wettbewerbs  zur  Förderung  ihres  rechtmätsigen  Vor- 
teils und  zur  Stärkung  ihrer  Herrschaft  über  den  Arbeitsmarkt  Ge- 
brauch. Ihr  Vorgehen  war  eigenmächtig,  ja  sogar  tyrannisch,  aber 
dieselbe  Tyrannei  wird  täglich  ungestraft  im  Geschäftsverkehr  aus- 
geübt und  jeder  Versuch,  das  Gesetz,  wie  es  für  die  Arbeiter  gilt, 
auf  analoge  Fälle  des  Geschäftsverkehrs  anzuwenden,  würde  eine 
heillose  Verwirrung  zur  Folge  haben.  Eine  kapitalistische  Ver- 
einigung z.  B.  darf  sich  weigern,  einer  Firma  unter  gewissen  Be- 
dingungen Waren  zu  liefern.  Eine  solche  Weigerung  ist  gesetzlich, 
denn  es  wäre  ungerecht,  wollte  man  A zwingen,  gegen  seinen 
Willen  mit  B Geschäfte  zu  machen:  dasselbe  Recht  wird  aber  den 
'Gewerkvereinen  beim  Verkauf  ihrer  Arbeit  nicht  zugestanden.  In 
dem  „genossenschaftlichen  Boykott",  der  im  Herbst  1902  in  einem 
Teile  Englands  sich  ausbreitete,  vereinigten  sich  zahlreiche  private 
Geschäftsleute,  um  Angestellte  zu  entlassen,  deren  Verwandte  Mit- 
glieder von  Konsumvereinen  waren;  aulserdem  boykottierten  sie 
Rechtsanwälte  und  Aerzte,  die  in  den  Läden  der  Konsumvereine 
kauften.  Dennoch  machten  sie  sich  keines  gesetzlichen  Unrechts 
schuldig,  obschon  ihre  Handlungen  vom  sittlichen  Standpunkt  aus 
nicht  anders  zu  beurteilen  waren  als  die  ungesetzlichen  Handlungen 
der  Gewerkvereine,  wodurch  sie  Nichtmitglieder  aus  ihrer  Arbeits- 
stelle zu  vertreiben  suchen.  Wenn  es  unter  den  obwaltenden  Ver- 
hältnissen des  wirtschaftlichen  Lebens  unmöglich  ist , einen  ge- 
werblichen Konflikt  ohne  Verletzung  des  sittlichen  Bewufstseins 
durchzuführen,  so  wird  dadurch  bewiesen,  dals  der  Strike  als  ein 
Mittel  der  Kollektivunterhandlung  wertlos  ist  und  dafs  es  durch 
ein  Besseres  ersetzt  werden  sollte.  Dahin  streben  aber  weder  die 
Gerichte  noch  das  Parlament,  die  nur  der  Arbeit  das  Recht  eines 
Verfahrens  bestreiten,  das  sie  dem  Kapital  ohne  weiteres  zuge- 
stehen. 

In  einer  früheren  Periode  war  eine  Entscheidung  (in  Trollope 
v.  Building  Trades  Federation  in  1892)  abgegeben  worden,  dals  es 
klagbar  wäre,  eine  Liste  „freier  Arbeiter"  und  der  sie  beschäftigen- 
den Firmen  zu  veröffentlichen,  wenn  auch  nur  in  der  Absicht,  Ge- 
werkvereinler  vor  der  Annahme  von  Arbeit  bei  solchen  Firmen  zu 
warnen.  Der  Fall  kam  nicht  vor  das  Haus  des  Lords,  aber  die 
Aeufserungen  Lord  Lindley’s  in  Quinn  contra  Leathem  über  schwarze 
Listen  lassen  erkennen,  dafs  jene  Entscheidung  heute  aufrecht  er- 
halten werden  würde.  Demgegenüber  boykottieren  Unternehmer 


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L)cr  Rcchtszustaod  der  Gcwerkvercine  in  Grofsbritannicn. 


337 


Ihre  Arbeiter  durch  kennzeichnende  Bemerkungen,  blols  weil  sie 
thätige  Mitglieder  von  Gewerkvereinen  sind  — ein  solcher  Boykott 
ist  gesetzlich  — wiederum  ein  Vorrecht  für  die  Arbeitgeber. 

In  Lyons  c.  Wilkins  (1896)  wurde  entschieden,  dafs  die  Um- 
zingelung (picketing)  des  Betriebes  und  der  Geschäftsstätte  eines 
Unternehmens  zu  irgend  einem  anderen  Zweck  als  der  blofsen 
Nachrichtenvermittlung  also  auch  zu  dem  Zweck  der  friedfertigen 
Uebcrredung  bei  einem  solchen  Unternehmer  nicht  zu  arbeiten, 
„ein  Beobachten  und  Umstellen"  im  Sinne  des  Verschwörungsgesetz 
von  1875  und  daher  ein  klagkares  Unrecht  sei.  Obschon  kein 
Zwang  auf  die  überredeten  Arbeiter  ausgeübt  worden  sei,  so  ist 
doch,  sagt  Lord  Justice  Kay,  „dadurch  ein  Zwang  auf  die  Arbeit- 
geber ausgeübt  worden  und  daher  kommt  der  Fall  in  die  Kategorie 
der  ungesetzlichen  Handlungen“.  Mit  Recht  konnte  Lord  Lindley 
sagen:  „Sie  können  keinen  Strike  erfolgreich  durchfuhren,  ohne 
etwas  mehr  zu  thun,  als  gesetzlich  erlaubt  ist!“ 

Diese  lange  Aufzählung  der  ungesetzlichen  Handlungen  war 
notwendig,  weil  wegen  der  Begehung  dieser  Handlungen  heute  die 
Beamten  der  Gewerkvereine  belangt  werden  können,  und  die  Ver- 
wirrung und  Widersprüche,  welche  den  Entscheidungen  anhaften, 
tragen  nur  noch  dazu  bei,  die  Lage  der  Gewerkvereine  ernster  zu 
gestalten.  Selbst  bis  zum  Jahre  1896,  in  welchem  der  Bericht  der 
I^abourkommission  erschien,  wurde  als  geltendes  Recht  erkannt,  dafs 
die  Gewerkvereine  wegen  der  Handlungen  ihrer  Beamten  nicht  auf 
Schadenersatz  verklagt  werden  können.  Dieses  Recht  wurde  jedoch 
umgestofsen  durch  das  Urteil  in  dem  Taff  Sale  Railway  Case  in  1900, 
das  durch  das  Haus  des  Lords  im  August  1901  bestätigt  wurde. 
Als  Justice  Farwell  in  dem  Prozefs  erster  Instanz  sein  Urteil  ab- 
gab, sagte  er  folgendes:  „Indem  die  Gesetzgebung  den  Gewerk- 
vereinen die  Befugnis,  Vermögen  zu  besitzen  und  durch  Beauftragte 
zu  handeln,  verlieh,  hat  sie  ihnen  ohne  Inkorporierung  zwei  wesent- 
liche Eigenschaften  der  Korporation  verliehen  — wesentlich  inso- 
fern als  ihre  Haftung  für  Kosten  in  Betracht  kommt;  denn  eine 
Korporation  kann  nur  durch  ihre  Beauftragten  handeln  und  kann 
nur  mittels  ihres  Vermögens  zur  Zahlung  herangezogen  werden. 
Der  Grundsatz,  nach  welchem  Korporationen  für  unrechtmäfsige 
Handlungen  ihrer  Angestellten  zu  haften  haben,  gilt  ebenso  für 
Gewerkvereine  wie  für  Korporationen.  Wenn  die  Behauptung  des 
Vereins,  dem  der  Verklagte  angehört,  begründet  wäre,  dann  hätte 
die  Gesetzgebung  die  Gründung  zahlreicher  Organisationen  zuge- 

Archir  für  sor.  desetzgebung  u.  Statistik.  Will.  22 


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33« 


Henry  W.  Macrosty, 


lassen,  welche  das  Recht  haben,  ein  grofees  Vermögen  zu  besitzen 
und  durch  Agenten  zu  handeln,  ohne  dafs  sie  im  geringsten  dir 
das  Unrecht  verantwortlich  wären,  das  sie  anderen  Personen  durch 
den  Gebrauch  ihres  Vermögens  und  die  Beschäftigung  ihrer  Agenten 
zufügen  können. 

Der  richtige  Standpunkt  für  die  Interpretation  solcher  Gesetze, 
wenn  nicht  ausdrücklich  das  Gegenteil  gesagt  ist,  ist  der  Gesetz- 
gebung die  Absicht  beizulegen,  dafs  die  von  ihr  geschaffenen  Or- 
ganisationen denselben  Pflichten  und  dafs  ihr  gesamtes  Vermögen 
derselben  Haftung  unterliegen  soll,  welche  das  allgemeine  Recht 
einer  Einzelperson  bei  gleicher  Handlung  auferlegen  würde.  Sehr 
klar  und  ausdrücklich  mülsten  die  Gesetzesworte  sein,  die  mich  zu 
der  Annahme  veranlassen  könnten,  dafs  die  Gesetzgebung  that- 
sächlich  die  Existenz  solcher  Organisation  legalisiert  habe,  die  nicht 
zur  Verantwortung  gezogen  werden  können  und  doch  eine  so  grofse 
Macht,  Unrecht  zu  thun,  besitzen.“  Infolge  dieser  Entscheidung 
wurde  im  Jahre  1902  der  Gewerkverein  der  Eisenbahner  (Amalga- 
mated  Society  of  Railway  Servants)  zum  Tragen  des  Schadener- 
satzes und  der  Kosten,  in  Summa  zu  £ 23000  dafür  verurteilt,  dats 
seine  Beamten  sich  ungesetzlicher  Handlungen  durch  „Beobachten 
und  Umstellen"  schuldig  gemacht  hatten,  wodurch  sie  Leute  von 
der  Arbeit  abgehalten  und  zum  Kontraktbruch  gezwungen  hätten. 
Während  also  dem  Gewerkverein  einige  Eigenschaften  der  Kor- 
poration beigelegt  sind,  so  fehlt  ihm  doch  insofern  die  Rechts- 
fähigkeit, dafs  er  auf  dem  Wege  des  gerichtlichen  Verfahrens  seine 
Mitglieder  nicht  zwingen  kann,  seine  Statuten  zu  befolgen  und  ihre 
Beiträge  zu  bezahlen.  Er  bildet  eine  rechtliche  Anomalie.  Es  er- 
übrigt noch  die  Frage,  ob  der  Gewerkverein  für  alle  Handlungen 
seiner  Beamten  zur  Verantwortung  gezogen  werden  kann,  oder  nur 
für  solche,  die  nach  den  Statuten  innerhalb  seiner  Befugnis  liegen. 
Diese  P'ragc  wurde  in  dem  beschränkenden  Sinne  in  Gibbon  c. 
The  National  Amalgamated  Labourers  Union  im  April  1902  beant- 
wortet. In  diesem  Falle  sagte  Justice  Walton:  „Natürlich  findet 
sich  in  den  Statuten  keine  Ermächtigung  zur  Begehung  ungesetz- 
licher Handlungen ; wenn  aber  der  Generalsekretär  in  Gemäfsheit 
der  Vereinsstatuten  handelt  und  sich  dabei  eines  gesetzlichen  Un- 
rechts schuldig  macht,  so  ruht  die  Verantwortung  auf  dem  Ge- 
werkverein. Wenn  er  aber  eine  Gesetzüberschrcitung  begeht, 
während  er  nicht  im  Aufträge  des  Vereins  handelt,  so  können  seine 
Handlungen,  auch  wenn  er  vorgiebt,  sie  im  Aufträge  des  Vereins 


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Der  Rechtszustand  der  Gewerkvereine  in  Grofsbritannien. 


339 


gethan  zu  haben,  nicht  als  die  des  Vereins  angesehen  werden  und 
dieser  kann  nicht  dafür  zur  Verantwortung  gezogen  werden."  Der 
Fall  liegt  gegenwärtig  vor  dem  Berufungsgericht,  aber  der  Staats- 
anwalt hat  sich  schon  in  Uebereinstimmung  mit  der  Entscheidung 
des  Justice  Walton  geäufsert. 

Eine  weitere  Abweichung  von  dem  Gesetz  von  1871  liegt  vor 
in  dem  Denaby  Main  Case  von  1902.  Ein  Mitglied  eines  Berg- 
arbeitergewerkvereins suchte  mit  Unterstützung  der  Arbeitgeber  um 
einen  Gerichtsbefehl  nach,  welcher  dem  Gewerkverein  untersagen 
sollte,  Strikegelder  an  Arbeiter  zu  zahlen,  welche  ihre  Arbeit  im 
Widerspruch  mit  den  Vereinsstatuten  niedergelegt  hatten.  Trotz 
der  Bestimmungen  des  Paragraphen  4 (3)  wurde  der  Befehl  aus- 
gehändigt, weil  die  Statuten  des  Gewerkvereins  verletzt  worden 
waren.  Dieser  Fall  harrt  jetzt  auch  der  Entscheidung  der  Berufungs- 
instanz. 

Damit  haben  wir  den  gegenwärtigen  Rechtszustand  gekenn- 
zeichnet. Für  die  weitere  Entwickelung  handelt  es  sich  um  zwei 
Fragen : um  die  Haftpflicht  der  Gewerkvereinc  und  um  das  Strike- 
recht.  Was  die  erste  Frage  anbetrifft,  so  wird  man  sich  schwer 
den  Argumenten  des  Justicc  Farwell  entziehen  können,  welche  die 
Zustimmung  der  beiden  liberalen  Juristen  Asquith  und  Haldane  ge- 
funden haben,  die  keines  Vorurteils  gegen  die  Arbeiterbewegung 
verdächtig  sind.  Im  allgemeinen  wollen  die  Gewerkvereine  nicht 
die  Rückkehr  zu  dem  Rechtszustand,  der  vor  der  Taff  Sale  Ent- 
scheidung als  gültig  angenommen  wurde,  aber  sie  forden,  dafs  sie 
nicht  für  Handlungen,  die  ihre  Beamten  aufserdienstlich  begehen, 
zur  Verantwortung  gezogen  werden.  Die  Berechtigung  dieser  For- 
derung läist  sich  nicht  bestreiten.  Einige  Gewerkvereine  nahmen 
eine  Revision  ihrer  Statuten  vor,  um  ihre  Beamten  unter  schärfere 
Kontrolle  zu  stellen.  So  beschlofs  der  Gewerkverein  der  Eisen- 
bahner (Amalgamated  Society  of  Railway  Servants)  im  Jahre  1903 
die  Annahme  einer  Statutenänderung,  wodurch  bestimmt  wird,  dafs 
die  organisierenden  Sekretäre  „in  keinem  Falle  sich  an  gewerblichen 
Vorgängen  beteiligen  oder  Zirkulare  ohne  ausdrückliche  Erlaubnis 
des  Exekutivkomitees  oder  des  Generalsekretärs  ausschicken  sollen" 
und  „dafs  ausschliefslich  in  Uebereinstimmung  mit  den  Statuten  die 
Zwecke  des  Vereins  erfüllt  und  die  Unterstützungen  gewährt  werden 
sollen".  Eine  Strikcankündigung  soll  nicht  abgegeben  werden,  ehe 
nicht  zwei  Drittel  der  in  Frage  kommenden  Mitglieder  durch  ge- 
heime Stimmabgabe  sich  dafür  erklärt  haben,  und  dem  Exekutiv- 

22* 


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340 


Henry  W.  Macrosty 


komitee  ist  cs  ausdrücklich  verboten,  ein  Vorgehen  oder  seine  Fort- 
Setzung  gutzuheilsen,  das  begonnen  wurde,  ehe  seine  Genehmigung 
dazu  eingeholt  worden  ist. 

In  Bezug  auf  das  Strikerecht  stellen  die  Gewerkvereine  zwei 
Forderungen:  I.  Die  gesetzliche  Erlaubnis  friedlicher  Umstellung 
(picketing)  zum  Zweck  der  Nachrichtenvermittlung  und  der  fried- 
fertigen Ueberredung  zur  Annahme  oder  Enthaltung  der  Arbeit. 
2.  Die  gesetzliche  Erlaubnis,  dafs  zwei  oder  mehrere  Personen  sich 
vereinen  oder  unter  sich  vereinbaren  dürfen , eine  Handlung  zur 
Förderung  eines  Gewerbestreites  zu  begehen  oder  ihre  Begehung 
zu  veranlassen,  ohne  dafs  sie  damit  sich  der  Klagbarkeit  aussetzen : 
vorausgesetzt,  dafs  dieselbe  Handlung  von  einer  Einzelperson  be- 
gangen keinen  Anlafs  zur  Klage  giebt.  Ein  dahin  zielender  Gesetz- 
entwurf, der  auf  Veranlassung  des  Gewerkvereinskongresses  dem 
Parlament  vorgelegt  worden  war,  wurde  mit  nur  246  gegen 
226  Stimmen  abgelehnt,  nachdem  die  Regierung  eine  Untersuchung 
zugesagt  hatte  (8.  Mai  1903).  In  Bezug  auf  das  „Umstellen"  ist  zu 
beachten,  dafs  „friedliche  Ueberredung"  durch  ein  Gesetz  von  1859 
gestattet  worden  war,  während  in  dem  Gesetz  von  1875  nicht 
davon  die  Rede  ist.  Es  kann  übrigens  zweifelhaft  erscheinen,  ob 
seine  gesetzliche  Wiederinkraftsetzung  den  Gewerkvereinen  viel 
nützen  würde.  In  Lyons  contra  Wilkins  wurde  erkannt,  dafs  aus 
dem  Umstand,  dafs  die  Strike-Posten  — es  waren  nur  ihrer  zwei  — 
ein  oder  zwei  Personen  bis  in  die  Fabrik  des  Arbeitgebers  folgten, 
hervorgehe,  dafs  „die  Strike-Posten  es  etwas  sehr  weit  getrieben 
hätten".  Das  Wort  „friedlich“  ist  wie  das  Wort  „Einschüchterung" 
sehr  unbestimmt.  Mit  Recht  sagen  denn  auch  Mr.  und  Mrs.  Webb 
in  „Industrial  Democracy“,  S.  856 — 857:  „Das  Picketieren  ist  nicht 
ein  Merkmal  der  Gewerkvereinsorganisation , sondern  ein  solches 
ihrer  Unvollkommenheit."  „In  dem  grofsen,  fünf  Monate  währenden 
Strike  der  Baumwollspinner  von  1893  und  in  dem  Riesenausstand 
des  Bergarbeiterbundes  von  1894  wurden  so  gut  wie  keine  Strike- 
Posten  aufgestellt  oder  gebraucht.“  Firne  vollständige  Organisation  der 
Arbeiterklasse  ist  das  einzige  endgültige  Heilmittel  gegen  die  Un- 
gerechtigkeit, welche  durch  eine  feingesponnene  juristische  Technik 
verursacht  wird. 

Die  erstrebte  Aenderung  des  Verschwörungsgesetzes  bezweckt 
einer  Vereinigung  das  Recht  zu  geben,  Handlungen  zu  vollbringen, 
die  eine  Einzelperson  thun  darf,  ohne  sich  einem  Zivil-  oder  Kriminal- 
prozefs  nach  dem  Gesetz  von  1875  auszusetzen,  ln  dieser  Weise 


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Der  Rcchtszustand  der  Gewerkvereine  in  Großbritannien. 


341 


soll  die  Entscheidung  des  Lord  Lindley  in  Quinn  contra  Leatham 
rückgängig  gemacht  werden.  Es  bedarf  noch  der  weiteren  Unter- 
suchung, ob  diese  Frage  in  der  vorgeschlagenen  Weise  erledigt 
werden  kann.  Zweifellos  ist  die  Gerechtigkeit  der  Forderung, 
da  Cs  Arbeitervereinigungen  dieselbe  Freiheit  haben  sollten,  Arbeiter- 
fragen zu  behandeln,  wie  sie  Unternehmervereinigungen  in  der  Be- 
handlung gewerblicher  Fragen  zusteht.  Wir  haben  gesehen,  dafs 
das  nicht  der  Fall  ist.  Die  „Tyrannei“  der  Gewerkvereine  ist  ebenso 
verwerflich  — nicht  mehr  oder  weniger  — wie  jede  andere  Klassen- 
tyrannei, aber  sie  erscheint  weit  furchtbarer,  weil  eine  starke  Ab- 
neigung gegen  Gewerkvereine  aus  schon  angegebenen  Gründen  sich 
im  Volke  eingewurzelt  hat.  Die  Gerichtshöfe  stehen  unter  dem 
Einflufe  dieser  öffentlichen  Meinung  und  daraus  entstehen  zweifel- 
hafte Fälle,  wie  Quinn  contra  Leatham,  die  schlechtes  oder  wenigstens 
ungleiches  Recht  schaffen.  Wenn,  wie  es  wahrscheinlich  ist,  der 
Versuch  gemacht  werden  sollte,  zwischen  zulässigen  und  unzulässigen 
Vereinigungen  zu  unterscheiden,  werden  wir  wieder  in  dem  Sumpf 
seichter  Unterscheidungen  versinken  und  werden  wieder  die  Richter 
das  Recht  zu  dehnen  suchen,  um  es  auf  zweifelhafte  Fälle  anwenden 
zu  können.  Nur  ein  aufsergewöhnlich  starker  Gewerkverein,  der 
sämtliche  Arbeiter  des  Gewerbes  umfal'st  und  der  hauptsächlich 
aus  gelernten  Arbeitern,  die  nicht  ersetzt  werden  können,  besteht, 
kann  möglicherweise  einen  Strike  mit  gesetzlichen  Mitteln  durch- 
führen; denn  ein  solcher  Gewerkverein  kann  schon  durch  einfache 
Enthaltung  von  Arbeit  seinen  Zweck  erreichen.  „Aber  die  grofse 
Mehrzahl  der  Gewerkvereine  utnfafst  nur  einen  Teil  der  Arbeiter 
des  betreffenden  Gewerbes,  und  in  vielen  Fällen  würde  es  im  Not- 
fälle einem  Unternehmer  gelingen,  Arbeiter  anderer  Gewerbe  als 
Ersatz  zu  bekommen.  Derartige  Gewerkvereine  können  einen  Strike 
nur  mit  Mitteln  durchführen,  die,  wenn  sie  auch  nicht  unter  das 
Strafgesetz  fallen,  doch  jetzt  als  klagbar  gelten.“  (S.  und  B.  Webb, 
Industrial  Democracy,  Einleitung  zur  Auflage  von  1902,  S.  L.) 

Ein  Strike  ist  immer  eine  Schädigung  und  Gefährdung  der 
Volkswirtschaft.  Daher  die  Angst  der  öffentlichen  Meinung,  wie 
sie  in  der  Presse  und  dem  Parlament  zum  Ausdruck  kommt,  die 
mit  der  Meinung  der  Arbeiterklasse  nichts  zu  thun  hat.  Daraus 
erklärt  sich  das  Bestreben,  die  Gewerkvereine  als  Urheber  der 
Strikes  lahmzulegen.  Eis  ist  kaum  zu  erwarten,  dafs  die  Gesetze, 
die  sich  auf  Arbeiter  beziehen,  mit  denen,  die  sich  auf  Unternehmer 
beziehen,  in  Uebereinstimmung  gebracht  werden.  Wird  aber  die 


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Henry  W.  Macrosty, 


gegenwärtige  Politik,  die  Gewerkvereine  durch  die  Gerichte  unter- 
drücken zu  lassen,  fortgesetzt,  so  entsteht  die  Gefahr,  dafs  die 
Klassengegensätze  zum  Klassenhafs  sich  verschärfen  und  dafs  die 
Gewerkvereine  zu  den  geheimen  Mitteln,  die  sie  vor  1871  anwandten, 
zurückkehren.  Die  öffentliche  Meinung  ist  sicher  im  Recht,  wenn 
sie  die  Beseitigung  der  Strikes  fordert,  aber  die  Mittel,  welche  sie 
zu  dem  Zweck  in  Bewegung  gesetzt  hat,  sind  nicht  die  rechten. 
Statt  den  Arbeiter  gegenüber  dem  Arbeitergeber  zu  entwaffnen, 
müfste  sie  ihn  mit  besseren  Schutzmitteln  zur  Wahrung  seiner  In- 
teressen, als  ihm  bisher  zur  Verfügung  standen,  versehen.  Solche 
Schutzmittel  sind  die  Einigungskammern  und  Schiedsgerichte,  wie 
sie  seit  acht  Jahren  in  Neu  - Seeland  in  Wirksamkeit  sind , deren 
Entscheidungen  volle  Rechtskraft  besitzen.  Unter  ihrer  Herrschaft 
gedeihen  die  Gewerkv'ereine  und  herrscht  der  soziale  Frieden. 
Selbstverständlich  läfst  sich  die  Einrichtung  Neu  - Seelands  nicht 
ohne  weiteres  auf  dicht  besiedelte  Länder  mit  alter  wirtschaftlicher 
Kultur  übertragen,  aber  die  ihr  zu  Grunde  liegenden  Prinzipien 
könnte  man  mit  einigen  Aenderungen  annehmen.  Die  Aussichten 
auf  baldige  Annahme  eines  solchen  Vorschlages  sind  allerdings 
schwach.  Einige  Gewerkvereine,  wie  der  der  Eisenbahner,  haben 
sich  dafür  ausgesprochen,  aber  der  letzte  Gewerkvereinskongrefs 
hat  die  Idee  mit  grofser  Mehrheit  verworfen.  Der  Grund  dieser 
Ablehnung  war,  dafs  die  jüngste  gerichtliche  Entscheidung  das 
Mifstrauen  der  Gewerkvereine  gegen  gewerbefremde  Schiedsrichter 
noch  gesteigert  haben  (in  Neu-Seeland  ist  der  Vorsitzende  des 
Schiedsgerichts  ein  Richter).  Nichtsdestoweniger  ist  die  Unzu- 
friedenheit mit  dem  bestehenden  Zustande  im  Wachsen  begriffen 
— und  zwar  nicht  nur  innerhalb  der  Arbeiterklasse,  wie  aus  der 
schwachen  Mehrheit,  die  bei  der  Abstimmung  im  Unterhause,  die 
Gewerkvereinsnotlage  ablehnte,  hervorgeht.  Selbst  die  arbeiter- 
feindliche Times  (19.  Januar  1903)  giebt  zu,  dafs  „in  formeller  Be- 
ziehung das  herrschende  Recht  verschiedene  Einwände  hcraus- 
fordert  . . . es  veranlafst  die  Erörterung  von  Spitzfindigkeiten,  die  als 
akademische  Fragen  gelten  könnten;  und  Entscheidungen  von  aller- 
gröfstem  Interesse  drehen  sich  oft  um  völlig  unwesentliche  Dinge“. 
Alles  drängt  darauf  hin,  eine  Beseitigung  der  Strikes  durch  Schieds- 
gerichte herbeizuführen. 

Die  Grundzüge  des  Gewerberechts  müssen  schliefslich  in  allen 
Industrieländern,  die  auf  der  gleichen  Entwicklungsstufe  stehen,  die- 
selben sein.  Die  englischen  Fälle,  welche  wir  erörtert  haben,  drehen 


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Der  Rcchtszustand  der  Gewerkvereine  in  Grofsbritannien. 


343 


sich  nicht  um  Rechtssätze,  die  dem  Gewerberecht  Grofsbritanniens 
eigentümlich  wären.  In  jedem  Rechtsfalle  schöpfen  Rechtsanwälte 
und  Richter  aus  den  ursprünglichen  Quellen  des  Rechts  und  ver- 
suchen sie,  hieraus  die  Rechte,  Pflichten  und  Verantwortlichkeiten 
der  Mitglieder  einer  wirtschaftlichen  Gemeinschaft  zu  ermitteln. 
Aus  diesem  Grund  hat  es  der  Verfasser  für  angezeigt  erachtet, 
eine  Untersuchung  des  englischen  Gewerkvereinsrechts  der  Auf- 
merksamkeit deutscher  Juristen,  Nationalökonomen  und  Gesetzgeber 
zu  empfehlen. 


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GESETZGEBUNG. 


SCHWEIZ. 

Ein  Gesetz 

über  Arbeitstarife  und  Kollektivstreitigkeiten. 

Von 

JEAN  SIGG. 

(Genf.) 

„Wie  kann  den  Anmafsungen  des  Unternehmertums  entgegen- 
getreten, wie  kann  die  Arbeiterklasse  zum  Zwecke  des  planvollen 
und  geregelten  Widerstandes  zu  einem  einheitlichen  Wesen  mit 
einem  Kopfe,  mit  einer  Seele  gestaltet  werden  ?" 

Vor  dieser  gewaltigen  Frage  haben  die  grofsen  englischen  Ge- 
werkvercine  oft  gestanden.  Zu  lösen  versuchten  sie  die  Aufgabe 
durch  das  Mittel  der  kollektiven  Abmachung  (collective  bargaining), 
welches  uns  Sidney  Webb  in  seiner  „Industrial  Democracy"  so  an- 
schaulich und  eindringlich  schildert.  Das  „collective  bargaining“ 
befal'st  sich  in  der  Regel  nur  mit  den  Löhnen  und  ihrer  Skala, 
und  zwar  mit  Löhnen,  wie  sie  erst  nach  langem  Tasten  und  nach 
äufsert  genauen  Erhebungen  in  den  Fabriken  festgestellt  wurden. 
Fis  ist  allerdings,  wie  man  gestehen  mufs,  ein  nicht  leicht  zu  hand- 
habender Mechanismus,  da  jedoch  im  allgemeinen  die  Arbeiter, 
welche  die  einschlägigen  Fragen  behandeln,  sie  auch  gründlich 
kennen  — als  Vertrauensmänner  der  Arbeiterklasse,  welche  diese 
Eigenschaft  erst  durch  nachhaltige  Erprobung  ihrer  Fähigkeit  er- 
werben konnten,  — so  funktionierte  es  öfters  ohne  allzu  starke 
Reibungen.  Zwar  werden  von  Zeit  zu  Zeit  die  Lohnskalen  einer 
Revision  unterzogen,  doch  werden  diese  Revisionen  immer  nur  da- 
durch durchgesetzt,  dal's  die  Arbeiter  sich  ihren  Abgeordneten  un- 
bedingt unterwerfen.  Es  kommt  sehr  selten  vor,  dals  sie  sich 
nicht  hierzu  verstehen  und,  wie  in  Kardiff,  sich  weigern,  die  von 
den  Delegierten  angenommenen  Tarife  anzuerkennen. 


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Jean  Sigg,  Ein  Gesetz  über  Arbcitslarife  und  Kollektivstrcitigkcitcn. 

Die  „Kollektiwerträge"  scheinen  zur  Zeit  bei  den  englischen 
Arbeitervereinen  etwas  in  Mifskredit  geraten  zu  sein  und  an  An- 
sehen eingebüfst  zu  haben.  Das  System,  heilst  es,  sei  wohl  für  die 
Zeiten  wirtschaftlichen  Gedeihens  geeignet,  wenn  der  Gegensatz 
von  Unternehmern  und  Arbeitern  sich  nicht  zuspitzt.  Ganz 
anders  aber,  wenn  Wirtschaftskrisen  einträten,  wie  wir  sie  gerade 
jetzt  durchmachen. 

ln  engem  Zusammenhang  mit  dieser  Frage  des  „collective 
bargaining“  steht  jene  der  Einigung  und  des  Schiedsgerichtes  in 
Streitfällen.  Ein  überzeugender  Beleg  hierfür  ist  beispielsweise,  dafs 
die  Regierung  der  Kolonie  Viktoria  zur  Festsetzung  eines  Mindest- 
lohnes indirekt  auf  dem  Umwege  des  „obligatorischen“  Schieds- 
gerichts gelangt  ist.  Ich  will  hier  nicht  auf  die  lange  Geschichte 
des  Schiedsgerichtes  und  der  Einigung  in  England  zurückkommen. 
Es  kennt  sie  jeder,  der  die  Wirtschaftsbewegung  der  letzten  fünfzig 
Jahre  in  England  sowohl  als  in  den  Vereinigten  Staaten  verfolgt. 
Von  hier  aus  fand  die  Einrichtung  Eingang  in  Australasien,  wo  die 
Fachvereine  zuerst  die  Schaffung  privater  Einigungsausschüsse  ver- 
langten. Seit  dem  Mifserfolg  des  grofsen  1890er  Strikes  erst,  der 
den  fast  völligen  Ruin  mehrerer  Syndikate  nach  sich  zog,  neigten 
die  Arbeiter  nach  der  Seite  des  Eingreifens  der  öffentlichen  Ge- 
walten hin,  das  sie  jahrelang  energisch  abgelehnt  hatten.  Der 
eben  erwähnte  Strike  hatte  ein  Gesetz  über  die  Einigung  in  Neu- 
südwales zur  Folge;  nach  diesem  kam  in  Südaustralien  ein  weiteres, 
das  die  Mitte  hält  zwischen  der  freiwilligen  Einigung  in  Neusüd- 
wales und  dem  obligatorischen  Schiedsgericht  in  Neuseeland,  beides 
eingeführt  im  Jahre  1895.  *) 

Ein  ähnliches  Gesetz  ist  ganz  neuerdings  im  Kanton  Genf  er- 
lassen; es  ist  betitelt  „Loi  fixant  le  mode  d etablissement  des  tarifs 
d'usage  entre  ouvriers  et  patrons  et  reglant  les  conflits  relatifs  aux 
conditions  de  leurs  engagements.“  Es  datiert  vom  IO.  Februar  1900. 
Da  es  bereits  mehrfach  Anwendung  gefunden , so  ganz  kürzlich 
erst  in  einem  sehr  bedeutsamen  Konflikt,  — in  dem  der  Strafsen- 
bahnangestellten  Genfs  — , so  erscheint  es  angebracht,  es  daraufhin 
zu  prüfen,  welchen  Anforderungen  es  entsprochen  hat  und  ob  seine 
Anwendung  von  Erfolg  begleitet  war. 

Im  Juni  1898  brach  in  Genf  ein  Strike  der  Bautischler  aus, 
dem  bald  ein  Ausstand  der  Zimmerleute  folgte.  Verschiedene  Vor- 

*)  Vgl.  Metin,  Ic  Socialisme  «ans  doctrincs,  S.  147  ff. 


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346 


Gesetzgebung : Schweiz. 


kommnisse  schürten  das  Feuer,  so  dafs  „aus  Sympathie“  ein  all- 
gemeiner Strike  der  Bauarbeiter  zustande  kam.  Die  Zahl  der  Aus- 
ständigen stieg  auf  ungefähr  8000.  Bei  einem  Umzuge  entstanden 
Störungen,  und  das  Militär  schritt  ein.  Schliefslich  wurde  die  Ord- 
nung wieder  hergestellt,  ohne  dafs  jedoch  die  Arbeiter  Nennens- 
wertes als  Ergebnis  ihrer  Erhebung  erreicht  hätten.  Anläßlich 
verschiedener  Zusammenstöfse  in  den  Strafsen  wurden  eine  Anzahl 
Arbeiter  strafrechtlich  verfolgt  und  zu  6 Tagen  bis  6 Jahren  Ge- 
fängnis verurteilt. 

Infolge  dieses  Strikes  trat  die  Idee  der  Errichtung  von  ständigen 
Einigungsämtern  und  Schiedsgerichten  mit  gesetzlichem  Zwange 
behufs  Schlichtung  aller  Streitigkeiten  kollektiver  Natur  zwischen 
Unternehmern  und  Arbeitern  neuerdings  in  den  Vordergrund.  In 
Genf  war  die  Frage  keineswegs  neu.  Schon  im  Juni  des  Jahres 
1887  hatte  man  die  staatliche  Anerkennung  der  Syndikatskammem 
der  Innungen  sowie  die  Einführung  eines  Gesetzes  über  die  zwischen 
Unternehmern  und  Arbeitern  vereinbarten  Arbeitstarife  diskutiert. 
Es  waren  die  ersten  Anfänge  einer  gesetzlichen  Anerkennung  der 
kollektiven  Abmachung.  Doch  ging  diese  Idee  nicht  weit  genug. 

Im  Januar  1889  richteten  die  Syndikatskammern  des  Kantons 
Genf  an  den  Grofsen  Rat  (das  kantonale  Kleinparlament)  eine  Pe- 
tition, in  welcher  sie  beantragten,  dafs  ihnen  auf  dem  Wege  des 
Gesetzes  rechtliche  Anerkennung  und  juristische  Persönlichkeit  ver- 
liehen werde.  Diese  Petition  wurde  dem  Regierungsrate  über- 
wiesen, und  es  war  weiter  keine  Rede  davon.  Im  Januar  1890 
richtete  man  eine  Interpellation  an  diese  Körperschaft,  in  welcher 
um  Aufschlufs  über  den  derzeitigen  Stand  der  Angelegenheit  er- 
sucht wurde.  Am  24.  September  beantwortete  sie  der  Rcgierungs- 
- rat  dahin,  dafs  am  17.  September,  also  einige  Tage  vorher,  ein  be- 
züglicher Gesetzentwurf  von  einem  Abgeordneten  eingebracht  sei. 
Der  Antrag  wurde  1891  von  neuem  aufgenommen  und  veranlafste 
nunmehr  lange  und  interessante  Debatten.  Ueber  die  Art  der 
Lösung  der  Frage  waren  die  Meinungen  geteilt;  andererseits  aber 
wurde  allgemein  zugegeben,  dafs  die  Frage  selbst  zur  Behandlung 
reif  und  ihre  Lösung  geboten  sei.  Strikes  und  andere  Konflikte 
hatten  gewaltige  Lücken  der  Sozialgesetzgebung  blofsgelegt.  Was 
alle  Welt  wünschte,  war  ein  Vermittlungsorgan  zwischen  den 
beiden  Parteien,  den  Unternehmern  und  Arbeitern. 

Ein  erster  Versuch  zur  Erreichung  dieses  Zieles  wurde  ge- 
legentlich der  Revision  des  Grundgesetzes  über  die  Gewerbe- 


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Jean  Sigg,  Ein  Geseti  über  ArbcitsUrifc  und  Kollcktivstreitigkeiten.  ^4- 

gerichte  am  12.  Mai  1897  gemacht.  Es  wurde  diesem  Gesetze  ein 
Artikel  74  eingefügt,  der  die  Zentralkommission  der  Gewerbe- 
gerichte (Commission  centrale  des  Prud’hommes)  beauftragte,  vor 
jeder  Aussperrung  und  jedem  Ausstande  den  Versuch  einer  Einigung 
zu  unternehmen.  Bald  aber  überzeugte  man  sich,  dafs  diese  Mafs- 
nahme  durchaus  unzulänglich  sei.  Im  Laufe  des  Jahres  1 898  fanden 
vier  Strikes  statt;  es  strikten  die  Marmorschneider,  die  Erdarbeiter, 
die  Zimmerleute  und  die  Tischler.  Die  beiden  ersten  Ausstände 
konnten  durch  Einigung  beigelegt  werden,  die  beiden  anderen  nicht. 
Hieraus  entstand  der  oben  erwähnte  Generalstrike  und  gleichzeitig 
die  Bewegung  zu  Gunsten  des  Gesetzes  über  die  Tarife,  die 
Einigungs-  und  die  Schiedsgerichte.  Es  wurde  nachdrücklich  der 
Wunsch  nach  einem  einfachen,  gemeinverständlichen  und  schnellen 
Verfahren  geäufsert,  das  alle  wünschenswerte  Garantieen  der  Sach- 
kenntnis und  Unparteilichkeit  böte.  Der  erste  bezügliche  Gesetz- 
entwurf ging  aus  der  Initiative  des  Regierungsrates  hervor.  Er 
schuf  in  seinem  wesentlichen  Inhalte  ein  Schiedsgericht  von  14  Bei- 
sitzern, die  von  den  beteiligten  Parteien  selbst  zu  wählen  waren. 
Unternehmer  und  Arbeiter  sollten  als  ihre  Vertreter  im  Gerichte 
drei  aus  ihrer  Mitte  wählen.  Für  den  Fall,  dafs  im  Gerichte  keine 
Mehrheit  zustande  käme,  oder  dafs  eine  der  Parteien  Widerspruch 
oder  Berufung  innerhalb  einer  fünftägigen  Frist  cinlegte,  sollte  die 
Zentralkommission  der  Schiedsrichter,  welche  1 1 Arbeiter  und 
11  Unternehmer  umfafst  (1  Vertreter  jeder  Arbeiterkatcgoric  und 
1 Vertreter  jeder  Unternehmerkategorie),  endgültig  und  aus  eigenem 
Ermessen  entscheiden.  Der  solchergestalt  gefafste  Beschlufs  sollte 
als  Grundlage  zur  Pintscheidung  aller  Streitigkeiten  dienen,  welche 
beim  Gewerbegericht  anhängig  gemacht  werden  würden. 

Bedauerlicherweise  litt  dieser  Entwurf  an  dem  Mangel  staat- 
lichen Zwanges,  der  Sanktion.  Die  einzige,  im  Entwürfe  still- 
schweigend ausgesprochene  Sanktion  war  die  der  öffentlichen 
Meinung,  welche,  wie  man  sagte,  sicherlich  das  Verhalten  der 
Partei  mifsbilligen  würde,  die  sich  weigerte,  seine  Streitsache  einem 
frei  gewählten  und  unparteiischen  Gerichte  zu  unterbreiten.  Seien 
gewerbliche  Gruppen  überzeugt,  dafs  sie  einen  berechtigten  Stand- 
punkt verträten,  dafs  ihre  Ansprüche  billig  und  begründet  seien,  so 
würden  sie  kein  Bedenken  tragen,  sich  dem  Befinden  eines  Ver- 
mittlers zu  unterwerfen,  und  nicht  den  Vorwurf  auf  sich  laden,  einer 
schiedsrichterlichen  Entscheidung  auszuweichen,  thörichte  und  plan- 
lose Agitation  zu  verursachen. 


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34« 


Gesetzgebung : Schweiz. 


Der  Entwurf  des  Regierungsrates  war  von  einem  sehr  zahl- 
reichen Arbeiterausschusse  und  von  der  Zentralkommission  der  Ge- 
werbegerichte genehmigt  worden,  die  nur  einige  geringfügige  Aende- 
rungen  gemacht  hatte.  Indessen  befriedigte  das  Fehlen  eines  Zwanges, 
oder  vielmehr  „die  moralische  Sanktion“,  welche  der  Entwurf  allein 
vorsah,  viele  nicht,  und  vor  allem  nicht  gewisse  Untemehmer- 
gruppen,  welche  der  Entwicklung  der  sozialen  Gesetzgebung  wohl- 
wollend gegenüberstehen. 

Dieser  Grund  erklärt  die  Abfassung  eines  zweiten  Entwurfes, 
der  sich  betitelte  „Entwurf  eines  Gesetzes  zur  Regelung  der  Be- 
ziehungen von  Arbeitern  und  Unternehmern  hinsichtlich  der  Fest- 
setzung der  Lohnverhältnisse." 

Die  Grundzüge  des  neuen  Entwurfes  waren:  Es  genügt  nicht 
die  Forderung,  dafs  im  Streitfälle  nur  einzuschreiten  sei,  sondern 
dafs  man  den  gütlich  vereinbarten  Tarifen  auch  die  gesetzliche 
Sanktion  verleihe.  Nur  auf  diese  Weise  werden  die  gehörig  aner- 
kannten Tarife  Gesetz,  sobald  nicht  eine  besondere  Uebereinkunft 
oder  ein  freier  Vertrag  vorliegt,  welcher  alle  juristischen  Beziehungen, 
namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Dienstmiete,  beherrscht.  Für  die 
Kündigung  des  Tarifes  war  die  Frist  von  einem  Jahre  für  Unter- 
nehmer sowohl  als  für  Arbeiter  vorgesehen.  Es  wurde  verboten, 
ein  Unternehmen  zu  sperren  oder  während  der  Geltung  des  Tarifes 
in  Ausstand  zu  treten,  soweit  es  sich  um  die  Löhne  handele.  Der 
Entwurf  versagte  insbesondere  den  ausländischen  Arbeitern,  bei  der 
Abstimmung  über  die  Erklärung  des  Strikes  mitzuwirken,  wodurch 
er  bei  den  Arbeiterfach  vereinen  auf  starken  Widerstand  stiefs,  denen 
Nichtansässige,  namentlich  Franzosen  und  Italiener  in  grofser  Zahl 
angehören.  Aufserdem  verlangten  die  Unternehmer  das  Verbot  der 
Umzüge,  der  Aufläufe  und  der  Strikeposten  (des  „Picketing"  der 
Trades-Unionisten)  in  der  Umgegend  der  Arbeitsstellen.  Endlich 
waren  sehr  strenge  Strafen  vorgesehen. 

Es  ist  sogleich  zu  erwähnen,  dafs  dieser  Entwurf  in  der  ge- 
samten Arbeiterbevölkerung  allgemeine  Empörung  hervorrief.  Ein 
Entwurf  der  Unternehmer  arbeitete  mit  vollen  Kräften  auf  die  Vor- 
beugung aller  Konflikte  hin  und  wollte,  wenn  irgend  möglich,  jeden 
Strike  im  Keime  ersticken.  Der  Entwurf  des  Regierungsrates  da- 
gegen beschränkte  sich  darauf,  die  Streitigkeiten  in  geregelten 
Formen  zu  lösen. 

Andererseits  arbeitete  die  Zentralkommission  der  Gewerbe- 
gerichte, die  Genfer  Sektion  des  Grütli  (des  sozialistischen  Arbeiter- 


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Jean  Sigg,  Ein  Gesetz  über  ArbeiUtarife  und  Kollektivstreitigkeiten.  349 

bundes)  und  zwei  Juristen  Entwürfe  aus,  so  dafs  sich  die  Kommission 
des  Grofsen  Rates,  welcher  das  ganze  Material  unterbreitet  wurde, 
sich  sechs  verschiedenen  Standpunkten  gegenüber  befand,  welche 
in  den  sechs  Gesetzentwürfen  vertreten  waren.  Aber  damit  noch 
nicht  genug.  Da  man  sich  auf  völlig  neuem  Boden  bewegte, 
so  wurde  noch  ein  hervorragender  Jurist  zu  Rate  gezogen,  der 
Oberstaatsanwalt  des  Kantons,  der  sein  Gutachten  abgab.  Es  ist 
hierbei  zu  betonen,  dafs  sich  die  den  Kantonen  auf  diesem  heikelen 
Gebiete  verbliebene  Zuständigkeit  darauf  beschränken  mufc,  das 
Herkommen,  den  Brauch  zu  regeln,  was  die  Dienstmiete, 
die  Tarife  anlangt.  Der  Kanton  kann  nicht  neues  Recht  schaffen, 
noch  die  Verträge  Privater  beseitigen.  Wir  bringen  nachstehend 
das  Gutachten  des  Staatsbeamten  in  seinem  ganzen  Umfange,  da 
es  eine  Anzahl  rechtlicher  Gesichtspunkte  aufwirft,  welche  gerade 
jetzt,  wo  man  mit  der  Ausarbeitung  eines  schweizerischen  bürger- 
lichen Bundesgesetzbuches  beschäftigt  ist,  besonderes  Interesse  be- 
anspruchen müssen.  Es  lautet: 

„Eis  ist  von  vorn  herein  zu  betonen,  dafs  die  kantonale  Gesetz- 
gebung auf  diesem  Gebiete  I.  kein  Gesetz  erlassen  darf,  welches 
mit  einem  geltenden  Bundesgesetz  im  Widerspruch  steht,  dafs  sie 

2.  kein  Gesetz  erlassen  darf  über  Gegenstände,  welche  durch  die 
Bundesverfassung  der  Bundesgesetzgebung  Vorbehalten  sind,  dafs  sie 

3.  die  Yertragsfreiheit  durch  ein  Gesetz  nicht  beeinträchtigen  darf. 

Unter  diesem  dreifachen  Vorbehalt  kann  die  Gesetzgebung  des 
Kantons  aussprechen,  dafs  mangels  besonderer  Uebereinkunft  und 
soweit  das  Bundesrecht  kein  Hindernis  bildet,  das  Herkommen, 
der  Brauch  als  das  Gesetz  der  Parteien  zu  betrachten 
sei.  Eine  derartige  Auffassung  entspricht  zudem  der  Natur  der 
Sache  und  dem  praktischen  Leben.  Hier  eine  gesetzliche  Sanktion 
zu  erteilen,  steht  unstreitig  in  der  Kompetenz  der  kantonalen  Ge- 
setzgebung, welche  Unternehmern  wie  Arbeitern  sagt:  „Ihr  habt 
nicht  geglaubt,  das  euch  zustehende  Recht,  eine  besondere  Ueber- 
einkunft zu  treffen,  gebrauchen  zu  müssen.  Ich  bestimme  daher 
aus  diesem  Grunde,  dafs  das  Herkommen,  der  Brauch  bei  der 
Würdigung  der  juristischen  Beziehungen,  welche  sich  unter  Euch 
gebildet  haben,  als  Regel  dienen  soll.  Ich,  die  Gesetzgebung,  be- 
absichtige nicht,  den  Brauch  zu  schaffen  oder  ihn  in  das  Gesetz  zu 
bringen,  sondern  ich  will  bestimmen,  in  welcher  Form  dieser 
Brauch  festgestellt  werden  kann.“  Soll  der  Brauch  Streitigkeiten 
hindern  und  beilegen,  so  mufs  jederzeit  die  Berufung  darauf  offen- 


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Gesetzgebung:  Schweiz. 


stehen;  es  darf  also  der  Bestand  dieses  Brauches  keinerlei  Auf- 
lösung erfahren  haben,  der  Brauch  mufs  dauernd  und  ununter- 
brochen sein,  wenngleich  er  der  Umgestaltung  unterliegt,  denn  der 
Brauch  kann  ja  nach  den  Zeitverhältnissen  sich  ändern,  ohne  in 
seinem  Bestehen  aufzuhören.  Es  ist  daher  notwendig,  dal's  in  ge- 
wissen vorherbestimmten  Zeiträumen  der  Brauch  aufrecht  oder  um- 
gestaltet werden  kann,  je  nachdem  die  Zeit  ihn  mehr  oder  minder 
beeinflufst- 

Durch  das  Gesetz  darf  zweifellos  die  Art  der  Feststellung  des 
Herkommens  bestimmt  werden.  Soll  diese  Feststellung  möglichst 
zutreffend  und  verläfslich  sein,  so  ist  es  angebracht,  sie  soweit  als 
thunlich  den  Beteiligten  zu  überlassen;  nur  insoweit  sie  sich  nicht 
verständigen  können,  wird  man  diese  Feststellung  kompetente^ 
aber  minder  direkt  beteiligten  Personen  übertragen  müssen  — , hier 
nur  soll  die  schiedsrichterliche  Entscheidung  cintrcten. 

Wer  sind  nun  die  Beteiligten  ? Es  sind  die  Unternehmer  und 
Arbeiter  der  verschiedenen  gewerblichen  Körperschaften.  Da  es 
indessen  schwer  angängig  ist,  sie  allesamt  zur  Beratung  zuzulassen, 
erscheint  es  angebracht,  dafs  sie  Delegierte  ernennen,  welche  nur 
durch  die  in  Vereinen  oder  freien  Syndikaten  verbundenen  Be- 
teiligten gewählt  werden  können. 

Es  erscheint  wünschenswert,  diese  Vereine  oder  Syndikate  im 
Gesetze  vorzusehen;  aus  ihrer  gesetzlichen  Anerkennung  wird  sich 
der  offizielle  Charakter  ergeben,  welcher  ihnen  das  Recht  verleiht, 
durch  ihre  Delegierten  an  der  Feststellung  des  Brauches  mitzu- 
wirken. Diese  Mafsnahme  wäre  notwendig  gegenüber  den  An- 
mafsungen  unzufriedener  Minderheiten,  welche  sich  zu  ähnlichen 
Vereinen  verbinden  und  dasselbe  Recht  beanspruchen  würden.  Da 
aber  hierdurch  den  anerkannten  Syndikaten  ein  Monopol  verliehen 
wird,  so  ist  es  gerecht,  jedem  Beteiligten  den  Anschlufs  hieran  zu 
gestatten;  es  müssen  daher  ihre  Statuten,  wenn  sie  sich  nicht  aus 
dem  Gesetze  ergeben,  auf  jeden  Fall  daraufhin  genehmigt  sein, 
dafs  sie  keine  mehr  oder  minder  drakonischen  Vorschriften  ent- 
halten, welche  bestimmten  Personen  den  Beitritt  verweigern.  Es 
ist  notwendig,  dafs  diese  Syndikate  thatsächlich,  wenn  auch  nicht 
die  Einstimmigkeit,  so  doch  die  Mehrheit  der  Beteiligten  repräsen- 
tieren; es  ist  notwendig,  dafs  jede  Fraktion,  jede  Gruppierung  ohne 
Schwierigkeit  hineingelangen  und  danach  trachten  kann,  die  Mehr- 
heit zu  erlangen,  wenn  ihr  numerischer  Einflufs  sie  hierzu  berechtigt. 
Die  Bildung  der  Syndikate  kann  im  Bedarfsfälle  in  den  Gewerben 


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Jean  Sigg,  Ein  Gesell  Uber  Arbcilstarife  und  Kollektiv-Streitigkeiten.  ^ 5 [ 

angeregt  und  veranlafst  werden,  wo  sie  noch  nicht  bestehen.  Ein 
konkurriendes  Syndikat  dürfte  zur  Feststellung  des  Brauches  einem 
solchen  gegenüber  nicht  zugelassen  werden,  welches  zuerst  ins 
Handelsregister  eingetragen  wurde  und  seine  Statuten  von  der  zu- 
ständigen Behörde  genehmigen  liefs.  Die  Delegierten  müsssen 
nach  der  Zahl  für  Unternehmer  und  für  Arbeiter  gleich  sein.  Sie 
stellen  die  herkömmlichen  Tarife  für  eine  bestimmte  Dauer  fest. 
Wird  der  Tarif  zur  Verfallzeit  nicht  innerhalb  einer  bestimmten 
Frist  gekündigt,  so  dauert  seine  Geltung  bis  zu  einem  neuen  Termin. 
Wird  er  von  einem  oder  dem  anderen  Teil  gekündigt,  so  haben 
die  Delegierten  zusammenzutreten  und  sich  zu  bemühen,  behufs 
Aufstellung  neuer  Tarife  zu  einer  Einigung  zu  gelangen ; eine  Mehr- 
heit von  vier  Fünfteln  der  Delegierten  dürfte  für  die  Annahme  eines 
Tarifs  übertrieben  erscheinen.  Im  Falle  der  Nichteinigung  hätte 
der  Regierungsrat  vorerst  zu  versuchen,  die  Delegierten  zu  einigen. 
Scheitert  dieser  Versuch , so  hat  eine  schiedsrichterliche  Körper- 
schaft einzugreifen  und  ihre  Entscheidung  aufzuzwingen.  Sie  hat 
die  Delegierten  zu  hören , sie  vielleicht  sich  zuzugesellen  und  in 
allen  Fällen  durch  geheime  Abstimmung  zu  entscheiden.  Als  sehr 
geeignet  für  die  Rolle  dieser  schiedsrichterlichen  Körperschaft  er- 
scheint die  Zentralkommission  der  Gewerbegerichte.  Es  handelt 
sich  keinesfalls  darum,  dieser  Kommission,  welche  bereits  gesetz- 
lich fixierte  behördliche  Zuständigkeiten  besitzt,  gesetzgeberische 
oder  gerichtliche  Befugnisse  zu  verleihen.  Sie  wird  lediglich  beauf- 
tragt, das  Herkommen  aus  den  vielfältigen  Forderungen  und  An- 
gaben der  Beteiligten  herauszuschälen.  Dieser  Kommission  aber 
werden  nur  wenige  oder  gar  keine  Beteiligten  angehören;  ihre 
Mitglieder  werden  weniger  direkt  parteiisch  sein,  als  jene  der  un- 
einigen Syndikate,  und  andererseits  sind  ihre  Mitglieder  alle  in 
Fragen  des  Arbeits Vertrages  bewanderte  Leute. 

Der  gegenwärtig  geltende  Art.  74  des  Gesetzes  über  die  Ge- 
werbegerichte kommt  nur  für  die  Vermittlung  inbetracht.  lJ  Es 

J)  Der  Artikel  74  hat  folgenden  Wortlaut: 

Sobald  eine  Streitigkeit  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern  entsteht  und 
eine  Aussperrung  oder  Ausstandserklärung  droht,  hat  die  Vereinigung,  welche  sie  zu 
erklären  gedenkt,  vorher  den  Herrn  Präsidenten  der  Abteilung  fiir  Handel  und  In- 
dustrie hiervon  zu  benachrichtigen.  Dieser  hat  schleunigst  die  Kommission,  sowie 
eine  gleiche  Anzahl  von  Arbeiter-  und  Unternehmcrdelegicrten  zusammenzuberulen. 
Unter  dem  Vorsitz  des  Leiters  der  Abteilung  für  Handel  und  Industrie  ist  der  Ver- 
such einer  Linigung  zu  machen.  Ueber  die  betreffende  Sitzung  ist  ein  Protokoll 


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Gesetzgebung:  Schweiz. 


wäre  schon  ein  sehr  wesentlicher  Fortschritt,  einen  zivilistischen 
Zwang  zu  erreichen.  Der  in  der  oben  angegebenen  Form  fest- 
gestellte Brauch  wird  die  Beurkundung,  nach  welcher  sich  die  Ge- 
werbegerichte richten.  Es  wird  dadurch  ein  Zwang  geschaffen,  dafs 
die  Gerichte  diesen  Brauch  anwenden  müssen,  und  dafs  diejenigen, 
welche  keinerlei  Abmachung  getroffen  haben,  gezwungen  sind, 
falls  erforderlich  gerichtlich,  sich  dessen  Bestimmungen  zu  unter- 
werfen. 

Die  Entscheidungen,  sowohl  der  Delegierten  als  der  schiedsge- 
richtlichen Körperschaft  werden  in  das  Protokoll  aufgenommen,  das  in 
vier  Exemplaren  ausgefertigt  wird;  eines  erhält  jedes  beteiligte 
Syndikat,  eines  die  Abteilung  für  Handel  und  Industrie,  eines  die  Ge- 
richtsschreiberei des  Amtsgerichtes. 

Entstehen  derartige  Streitfälle  und  beziehen  sie  sich  auf  Materien, 
die  durch  das  Bundesrecht  oder  eine  Sonderübereinkunft  nicht  ge- 
regelt sind,  so  steht  nichts  im  Wege,  sie  den  Delegierten  der  Syn- 
dikate oder  mangels  deren  Einigung  der  oben  erwähnten  Schieds- 
kommission zu  unterbreiten.  Diese  Körperschaften  werden  den 
Streitigkeiten  stets  dadurch  ein  Ziel  setzen,  dafs  sie  den  Brauch  als 
Norm  betrachten.  Ist  dieser  Brauch  einmal  festgestellt,  so  wird  jeder, 
der  ihn  Übertritt,  als  den  Arbeitsvertrag  zuwiderhandelnd  angesehen 
und  hat  die  Anwendung  der  zivilrechtlichen  Zwangsvorschriften 
durch  das  Gewerbegericht  zu  gewärtigen,  welche  das  Bundesgesetz 
über  das  Obligationenrecht  in  seinen  Bestimmungen  über  die  Nicht- 
erfüllung der  Verbindlichkeiten  vorsieht. 

Mit  ständigen  herkömmlichen  Tarifen,  die  zu  gewissen  Zeiten 
Abänderungen  erfahren  können , mit  einem  Verfahren , das  alle 
Streitigkeiten  kollektiver  Natur  schlichtet,  dürfte  es  keine  Strikes 
mehr  geben.  Es  ist  als  gewils  anzunehmen,  dafs  die  Strikes  sowohl 
an  Bedeutijjjg  wie  an  Häufigkeit  abnehmen  werden;  auf  jeden  Fall 
werden  sie  unberechtigt  sein,  um  nicht  zu  sagen,  unlauter,  da  sie 
dann  die  Auflehnung  gegen  den  gesetzlich  festgestellten  und  Gesetz 
gewordenen  Brauch  bezweckten.  Entweder  oder  — entweder  zielt 
der  Strike  nicht  darauf  hin,  die  Anwendung  des  Gesetzes  zu  fiindern 
und  läfst  es  bei  einer  einfachen  platonischen  Verwahrung  bewenden, 
oder  er  erhebt  sich  gegen  das  Gesetz  und  bedeutet  den  Umsturz. 
Ersteren  Falles  ist  er  unschädlich,  im  anderen  Falle  rüttelt  er  an 

aufzunehmen  und  von  den  Parteien  zu  unterzeichnen.;  es  verbleibt  in  den  Händen 
des  Staatsrates. 


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Jean  Sigg,  Ein  Gesetz  über  Arbeitstarife  und  Kollektivstreitigkeiten,  333 

■der  staatlichen  Ordnung,  und  es  müssen  alsdann  die  allgemeinen 
Schutzgesetze  dieser  Ordnung  Anwendung  finden. 

Am  besten  ist  es,  den  Strike  im  Gesetze  nicht  vorauszusetzen ; 
denn  ihn  voraussetzen,  heifst  ihn  organisieren  und  regeln;  ihn  vor- 
aussetzen, heifst  ihn  anerkennen,  die  Wege  bahnen,  welche  zu  ihm 
führen,  — heifst  in  die  Sackgasse  kommen,  aus  der  man  heraus- 
gelangen will. 

Eine  Beseitigung  oder  Einschränkung  des  Rechtes  zum  Strike 
auf  dem  Wege  des  Gesetzes  ist  nicht  angängig.  Dieses  Recht  ist 
begründet  I.  in  der  Freiheit  der  Arbeit,  welche  die  Freiheit  des 
Nichtarbcitens  einschliefst,  2.  in  der  Freiheit  der  Vereinigung,  welche 
das  Recht,  sich  auch  zum  Zwecke  des  Nichtarbeitens  zusammenzu- 
thun,  umfafst,  3.  in  der  Freiheit  der  Diskussion,  welche  zur  Kritik 
des  Gesetzes  und  der  Staatsgewalt  berechtigt,  4.  in  der  Freiheit 
der  Bekehrung,  oder  der  Freiheit,  für  die  Verbreitung  seiner  Ideen 
zu  wirken,  ein  der  Freiheit  des  Menschen  und  der  Freiheit  des 
Denkens  innewohnendes  Recht. 

Das  Recht  zum  Strike  hat  keine  anderen  Schranken,  als  die 
staatliche  Ordnung  und  die  Freiheit  der  Mitmenschen.  Ueberschreitet 
der  Strike  diese  Grenzen  nicht,  so  mufs  er  geduldet  werden;  es 
kann  ihm  keine  Bedingung  gesetzt,  es  darf  ihm  kein  Maulkorb  und 
keine  Kette  angelegt  werden.  Nur  wenn  er  jene  Grenzen  über- 
schreitet, kann  Bestrafung  eintreten. 

Aus  diesen  Erwägungen  ergiebt  sich,  dals  für  den  Strike  keine 
besondere  Strafvorschrift  erlassen  zu  werden  braucht,  da  er  nur 
strafbar  ist,  wenn  er  umstürzlerisch  wird,  oder  mit  anderen  Worten, 
wenn  er  sich  wider  die  staatliche  Ordnung  vergeht.  In  diesem 
Falle  aber  hat  man  keine  Sonderbestimmung  nötig : die  Gesetze 
zum  Schutze  der  staatlichen  Ordnung,  welche  im  Bedürfnisfalle  noch 
fortgebildet  werden  können,  reichen  aus,  und  man  braucht  keine 
besonderen  Strafvorschriften  für  den  Strike  zu  schaffen. 

Die  allgemeinen  Gesetze  können  vervollkommnet  werden ; so 
könnte  man  vielleicht  die  Freiheit  der  Arbeit  wirksamer  durch  Ver- 
vollständigung des  Art.  106  *)  des  Strafgesetzbuches  (Code  pönal) 

’)  Dieser  Artikel  I06,  mit  der  Ergänzung  durch  Artikel  105,  hat  folgenden 
Wortlaut : 

Art.  I05.  Wer  durch  Gewalt  oder  Drohungen  die  Freiheit  der  Niederlassung 
beeinträchtigt,  wird  mit  Gefängnis  von  sechs  Tagen  bis  zu  sechs  Monaten  und  einer 
Geldbufse  von  30  bis  500  F'rancs  bestraft. 

Art.  106.  Der  gleichen  Strafe  unterliegt,  wer  durch  Gewalt  oder  Drohungen 
Archiv  für  toz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  23 


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Gesetzgebung : Schweiz. 


schützen,  und  weitere  Handlungen  ahnden,  welche  diese  Freiheit 
beeinträchtigen,  wie  z.  B.  die  Beschimpfung.  Man  kann  durch  die 
Fortbildung  dieses  Artikels  dahin  gelangen,  dafs  der  Arbeiter,  welcher 
sich  zur  Arbeit  begiebt  und  sein  Handwerkszeug  mit  sich  führt, 
ebenso  geschützt  wird,  wie  der  Unternehmer,  der,  seinen  Kollegen 
entgegen,  seine  Betriebsstatte  öffnet  und  unter  Bedingungen  arbeitet, 
die  ihnen  nicht  passen,  gegen  sie  geschützt  wird. 

Es  muCs  allgemeinen  polizeilichen  Vorschriften  und  nicht  dem 
Gesetze  überlassen  werden,  Umzüge  zu  verbieten  oder  nur  unter 
gewissen  Bedingungen  zu  gestatten;  diesen  Vorschriften  mufs  auch 
überlassen  bleiben,  ein  bestimmtes  Stehenbleiben  auf  der  öffent- 
lichen Strafse,  und  umsomehr  auf  oder  vor  fremdem  Eigentum  zu 
verhindern. 

Es  verdient  bemerkt  zu  werden,  dafs  gewisse,  im  Verlaufe  eines 
Strikes  begangene  Akte  auch  Anlafs  zu  zivilrechtlichen  Strafvor- 
schriften geben  können,  so  z.  B.  die  Gesamtaufwiegelung  der  Arbeiter 
eines  Betriebes  zur  Nichtarbeit  unter  Bedingungen,  welche  das  Her- 
kommen, der  Brauch  festsetzt;  vielleicht  auch  kann  sogar  die  Ver- 
hinderung der  Vervollständigung  des  Arbeiterpersonals  in  einem 
Betriebe  derartige  Vorschriften  angebracht  erscheinen  lassen. 

Kurzum,  die  Streitigkeiten  müssen  verhindert  werden,  sie  müssen 
beigelegt  werden,  falls  sie  sich  erheben,  und  wenn  sie  trotz  der 
Beruhigungsmittel,  wie  sie  sich  aus  dem  empfohlenen  Verfahren 
ergeben,  andauern.  Der  Strike  mufs  geduldet  werden,  wenn  er  die 
staatliche  Ordnung  nicht  verletzt,  es  müssen  dagegen  seine  Kund- 
gebungen mittels  der  bestehenden  Gesetze  unterdrückt  werden, 
durch  allgemein  geltende  Gesetze,  die  weder  einseitige  noch  Aus- 
nahmegesetze und  noch  wirksamer  Fortbildung  fähig  sind.“ 

So  weit  das  Rechtsgutachten,  dessen  Gesamtauffassung  sich  der 
Gesetzgeber  zu  eigen  machte.  Es  ist  das  erste  dieser  Art  in  Genf, 
soweit  mir  bekannt,  und  wie  ich  glaube  auch  in  der  Schweiz. 

Die  bezüglichen  Verhandlungen  im  grofsen  Rat  waren  zuweilen 
sehr  lebhaft ; ihr  schlie&liches  Ergebnis  war  der  Entwurf,  wie  er 
jetzt  gilt,  und  den  wir  nachstehend  in  seinem  vollen  Wortlaut 
bringen. 


die  freie  Ausübung  der  gewerblichen  Thätigkeit  oder  der  Arbeit  der  Unternehmer 
oder  der  Arbeiter  beeinträchtigt. 


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Gesetz  betr.  die  Art  der  Feststellung  der  üblichen  Tarife  zwischen  Arbeitern  etc.  j 


Gesetz  betreffend  die  Art  der  Feststellung  der  üblichen  Tarife  zwischen  Ar- 
beitern und  Unternehmern,  und  betreffend  die  Regelung  der  Streitigkeiten 
anläfslich  der  Bedingungen  ihrer  Anstellung. 

Allgemeine  Bestimmungen. 

Art.  I.  Mangels  besonderer  Uebercinkunft  werden  die  Anstcllungsbedingungen 
der  Arbeiter  hinsichtlich  des  Dienst-  oder  Werkvertrages  durch  den  Brauch  geregelt. 

Geltung  als  Brauch  haben  die  dem  gegenwärtigen  Gesetze  entsprechend  fest- 
gestellten Tarife  und  allgemeinen  Anstcllungsbedingungen. 

Art.  2.  In  jedem  Gewerke  werden  diese  Tarife  und  Bedingungen  festgestellt: 

1.  durch  gemeinsame  Verständigung  zwischen  den  beteiligten  Unternehmern 
und  Arbeitern,  welche  in  den  durch  das  gegenwärtige  Gesetz  gezogenen 
Schranken  gehörig  zu  bestätigen  ist; 

2.  mangels  einer  Verständigung  durch  Schiedsrichter,  und  zwar  durch  die 
Zentralkommission  der  Gewerbegerichte  und  die  Delegierten  der  Unter- 
nehmer und  Arbeiter,  nachdem  ein  Einigungsversuch  vor  dem  Regierungs- 
rat vorausgegangen.  Die  Delegierten  müssen  dem  betreffenden  Gewerbe- 
fach  angchören. 

Ar.  3.  Zur  Feststellung  dieser  Tarife  und  Bedingungen  in  jedem  Gewerk 
sind  befugt: 

1.  Die  Vereine  der  Unternehmer  und  die  Vereine  der  Arbeiter,  welche  vor- 
schriftsmäßig in  das  Handelsregister  eingetragen  und  deren  Statuten  vom 
Regierungsrat  genehmigt  sind.  Diese  Genehmigung  ist  zu  erteilen,  voraus- 
gesetzt 

a)  dafs  die  Statuten  nichts  Gesetzwidriges  enthalten  und  namentlich  nichts 
gegen  die  Freiheit  der  Arbeit; 

b)  dafs  sie  jederzeit  einer  Revision  unterzogen  werden  können,  falls  cs 
die  Mehrheit  verlangt; 

c)  dafs  sämtliche  Angehörige  des  Gewerks  das  Recht  des  Eintrittes  in 
den  Verein  haben,  und  der  Ausschufs  durch  die  Mehrheit  der  Vcreins- 
mitglieder  gewählt  wird. 

2.  Besteht  kein  Verein,  so  haben  die  obige  Befugnis  die  in  Genf  seit  drei 
Monaten  regelmäfsig  ansässigen  Unternehmer  und  Arbeiter. 

Die  Verständigung  der  Beteiligten. 

Art.  4.  Behufs  gültiger  Feststellung  der  Tarife  und  Bedingungen  in  jedem 
Gewerk  berufen  die  Unternehmervereine  und  Arbeitervereine  durch  öffentliche  Be- 
kanntmachung und  mindestens  drei  Tage  vorher  Generalversammlungen  ihrer  Körper- 
schaft. 

Besteht  im  Gewerk  kein  Verein  der  Unternehmer  sowohl  als  der  Arbeiter,  so 
hat  der  Rcgierungsrat  auf  schriAlichcs  Verlangen  eines  Fünftels  der  eingeschriebenen 
Wälder  des  Gewerks  zum  Gcwcrbcgericht  eine  Generalversammlung  der  Beteiligten 
zu  berufen. 

Diese  Versammlungen  ernennen  beiderseits  und  in  geheimer  Zettelwahl  Ver- 

23* 


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356 


Gesetzgebung : Schweiz. 


treter  in  gleicher  Anzahl,  sieben  Unternehmer  und  sieben  Arbeiter,  falls  nicht  eine 
Verständigung  über  eine  niedrigere  Ziffer  zu  stände  kommt.  Als  Delegierter  kann  nur 
gewählt  werden,  wer  vor  seiner  Ernennung  in  dem  Gewerk  mindestens  achtzehn 
Monate  in  einer  oder  mehreren  Perioden  innerhalb  des  Kantons  Genf  gearbeitet  hat. 

Die  Delegierten  sind  aus  der  Zahl  der  Schweizerbürger  zu  wählen,  und  nur 
wenn  keine  genügende  Anzahl  dieser  vorhanden,  aus  jener  der  Ausländer. 

Bestehen  mehrere  ähnliche  Vereine,  welche  sich  in  Gcmäfshcit  des  Art.  3 des 
gegenwärtigen  Gesetzes  gehörig  konstituiert  haben,  so  sind  sie  berechtigt,  jeder  für 
sich  eine  Anzahl  Delegierter  zu  wählen,  welche  jener  ihrer  Mitglieder  entspricht. 

Die  Namenliste  sowohl  der  Vereine,  als  — falls  solche  nicht  vorhanden  — 
der  Unternehmer  und  Arbeiter  des  Gewerks,  ist  vorher  durch  die  Zentralkommission 
der  Gewerbegerichte  zusammenzustellen,  welcher  auch  die  Aufgabe  obliegt,  ge- 
gebenen Falles  das  Verhältnis  der  Delegierten  zu  bestimmen. 

Art.  5.  Die  Beschlüsse  der  solchergestalt  gewählten  Vertreter  müssen  mit  einer 
Mehrheit  von  drei  Vierteln  der  delegierten  Mitglieder  gefafst  werden  und  sind  in 
einem  in  vier  Exemplaren  aufzunehmenden  Protokoll  festzustellen,  das  von  den  An- 
nehmenden zu  unterzeichnen  ist:  ein  Exemplar  bleibt  in  den  Händen  der  delegierten 
Unternehmer  und  eines  in  denen  der  delegierten  Arbeiter,  von  den  beiden  übrigen  ist 
eines  auf  der  Gerichtsschreiberci  der  Gewerbegerichte  niederzulegen  und  das  andere 
der  Abteilung  für  Handel  und  Industrie  zu  übermitteln;  sie  stehen  dort  jedem  In- 
teressenten zur  beliebigen  Einsicht  zur  Verfügung. 

Art.  6.  Die  dergestalt  festgesetzten  Tarife  und  Bedingungen  bleiben  für  die 
darin  bestimmte  Zeitdauer  in  Kraft,  welche  jedoch  keinesfalls  fünf  Jahre  über- 
schreiten darf  und  deren  Ablauf  auf  den  Schlufs  eines  bürgerlichen  Jahres  fest- 
gesetzt sein  mufs. 

Sie  erneuern  sich  stillschweigend  von  Jahr  zu  Jahr,  wenn  sie  nicht  von  der 
einen  oder  anderen  Seite  mindestens  ein  Jahr  vor  Ablauf  einer  Frist  gekündigt 
werden.  Indessen  kann  auf  dem  Wege  der  gütlichen  l'ebereinkunft  zwischen  den 
delegierten  Arbeitern  und  Unternehmern  die  Geltungsdauer  des  Tarifs  und  die 
Kündigungsfrist  auf  eine  kürzere  Zeit  als  ein  Jahr  bestimmt  werden. 

Art.  7.  Bis  zur  Annahme  eines  neuen  Tarifes  findet  der  alte  fortgesetzt  An- 
wendung. 

Einigungs  versuche. 

Art.  S.  Mangels  einer  Verständigung  unter  den  Beteiligten  ist  auf  Ansuchen 
einer  oder  anderen  der  Parteien  ein  Einigungsversuch  vor  dem  Rcgicrungsrat  zu  be- 
werkstelligen, wozu  der  Regierungsrat  eines  oder  mehrere  seiner  Mitglieder  ab- 
ordnen kann. 

Art.  9.  Das  Gesuch  hat  in  schriftlicher  Form  zu  geschehen  und  muLs  ent- 
halten : 

a)  Namen.  Stand  und  Wohnort  der  Vertreter  beider  Parteien ; 

b)  den  Streitgegenstand. 

Art.  io.  Der  Delegierte  oder  die  Delegierten  des  Regierungsrates  haben  die 
Delegierten  der  Unternehmer  und  der  Arbeiter  zusammenzuberufen  und  zu  ver- 


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Gesetz  betr.  die  Art  der  Feststellung  der  üblichen  Tarife  zwischen  Arbeitern  etc.  357 

suchen,  die  im  Art.  5 vorgesehene  Mehrheit  zustande  zu  bringen.  Gelingt  ihnen 
dies  nicht,  so  konstatieren  sic  die  Nichleinigung  durch  ein  Protokoll,  das  in  einem 
Exemplar  von  Amts  wegen  der  Zentralkommission  der  Gewerbegerichte  zu  über- 
mitteln ist. 

Art.  11.  Entsteht  eine  Streitigkeit  in  einem  Gewerk,  dessen  Mitglieder  nicht 
in  einem  Vereine  zusammengeschlosscn  sind,  so  hat  der  Regierungsrat  die  Beteiligten 
zusammenzuberufen,  welche  auf  dem  im  Art.  4 vorgesehenen  Wege  Delegierte 
ernennen. 

Art.  12.  Weigert  sich  eine  Partei,  Delegierte  zu  wählen,  oder  entstehen 
Schwierigkeiten  anläßlich  ihrer  Wahl  oder  ihrer  Verteilung  auf  gleichartige  Vereine, 
so  konstatieren  der  oder  die  Delegierten  des  Regierungsrates  die  Nichteinigung  und 
verfahren  nach  Art.  IO. 

Schiedsrichterliches  Verfahren. 

Art.  13.  Die  Zentralkonimission  der  Gewerbegerichte  hat  sich  binnen  sechs 
Tagen  nach  Empfang  des  Protokolle«  über  die  Nichteinigung  zu  versammeln  und 
die  Delegierten  ihrerseits  zusammenzuberufen,  welche  ihr  beigeordnet  werden  müssen. 

Weigert  sich  noch  immer  eine  Partei,  ihre  Delegierten  zu  wählen,  oder  lassen 
sich  Schwierigkeiten  anlafslich  ihrer  Wahl  nicht  beilegen,  so  ernennt  sie  die  Zentral- 
kommission  der  Gcwcrbcgcrichtc  von  Amts  wegen.  — In  der  zusammenberufenen  Ver- 
sammlung beschliefscn  die  anwesenden  Mitglieder  durch  die  Mehrheit  und  in  ge- 
heimer Zettel  wähl  über  die  Ansprüche  der  Parteien.  Gehört  das  eine  oder  andere 
Mitglied  der  Zentralkommission  der  Gewerbegerichte  zum  im  Streite  sich  befind- 
lichen Gewerbefach,  so  haben  sich  die  übrigen  Mitglieder  der  Kommission  von 
Amts  wegen  die  erforderliche  Anzahl  Gewerberichter  beizuordnen,  welche  sic  aus 
denen  derselben  Gruppe  wählen  (aus  jener  der  Unternehmer  oder  der  Arbeiter,  je 
nachdem  das  zu  ersetzende  Mitglied  der  einen  oder  anderen  angehört). 

Der  Vorsitzende  der  Zentralkommission  der  Gewerbegerichte  und  der  Sekretär 
haben  ihre  Obliegenheiten  zu  erfüllen. 

Art.  14.  Die  Schiedsrichter  können  jedoch  das  Inkrafttreten  eines  Tarifcs  in 
einem  Gewerbefach,  in  welchem  ein  solcher  nicht  besteht,  erst  nach  einer  Frist  von 
mindestens  sechs  Monaten  nach  ihrem  Beschlüsse  anordnen,  es  sei  denn,  dafs  die 
Parteien  sich  gemeinsam  Über  eine  kürzere  Frist  verständigen. 

Mangels  besonderer  Uebcrcinkunft  dient  der  solchergestalt  bestimmte  Brauch 
(usage)  den  zuständigen  Gerichten  als  Unterlage  für  die  Entscheidung  der  ihnen 
unterbreiteten  Spezialfälle. 

Jeder  Schiedsrichter  hat  Anspruch  auf  die  Diäten  der  Gewerbegerichte,  und 
unterliegt  im  Falle  nicht  gerechtfertigten  Ausbleibens  einer  Geldstrafe  von  fünfzig 
Franken,  welche  von  der  Zentral kommission  der  Gewcrbcgerichtc  zu  verhängen  ist. 

Beschwerden  und  Streitigkeiten  anderer  Art. 

Art.  15.  Wahrend  der  Geltungsdauer  eines  Tarifcs  darf  keine  allgemeine  Ar- 
beitseinstellung zum  Zwecke  der  Aendcrung  des  Tarifes  weder  von  den  Unter- 
nehmern noch  von  den  Arbeitern  beschlossen  werden. 


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358 


Gesetzgebung : Schweiz. 


Art.  16.  Erscheint  das  Ersuchen  einer  Aenderung  oder  einer  Ergänzung  eines 
geltenden  Tarifes  anlässlich  eines  noch  nicht  bestehenden  Produktionszweiges  ge- 
rechtfertigt, so  tritt  dasselbe  Verfahren  ein  wie  bei  der  Ausarbeitung  eines  voll- 
ständigen Tarifes. 

Art.  17.  Entstehen  zwischen  Unternehmern  und  Angestellten  Beschwerden  oder 
Streitigkeiten  anderer  Art,  welche  geeignet  sind,  eine  allgemeine  oder  teilweise  Ar- 
beitseinstellung hcrbeizuführen,  wie  Aussperrungen  u.  s.  w.,  so  findet  das  in  den 
Artikeln  3 bis  einschlicfslich  14  des  gegenwärtigen  Gesetzes  vorgesehene  Verfahren 
gleichfalls  Anwendung. 

Strafbestimmungen. 

Art.  18.  Jede  Aufforderung  zur  teil  weisen  oder  allgemeinen  Arbeitseinstellung 
unter  Verletzung  eines  geltenden  Tarifes  oder  unter  Zuwiderhandlung  gegen  die  Vor- 
schriften des  gegenwärtigen  Gesetzes  wird  mit  Polizeistrafen  geahndet,  unbeschadet 
der  in  Art.  106  des  Code  pcnal  vorgesehenen  Strafen  und  aller  anderen  in  den 
bestehenden  Gesetzen  enthaltenen  zivil-  oder  strafrechtlichen  Bestimmungen. 

Drucker  und  Verleger  unterliegen  gegebenen  Falles  den  gleichen  Strafen. 

Schlufsbe  Stimmungen. 

Art.  19.  Der  Regierungsrat  hat  die  notwendigen  Vorschriften  zur  Ausführung 
des  gegenwärtigen  Gesetzes  zu  erlassen. 

Art.  20.  Die  beiden  letzten  Absätze  (5  und  6)  des  Art.  74  des  Gesetzes  über 
die  Gewerbcgcrichtc  vom  12.  Mai  1897  werden  aufgehoben. 


So  das  Gesetz.  — Ein  grofser  Teil  der  Arbeiterbevölkerung 
war  nicht  darüber  befriedigt,  dafs  das  Gesetz  zu  stände  gekommen, 
und  benutzte  die  von  der  Kantonsverfassung  festgesetzte  Frist  für 
das  Referendum  (30  Tage),  um  einen  kräftigen  Vorstofs  gegen  sein 
Inkrafttreten  ins  Werk  zu  setzen.  Es  gelang  dieser  Agitation  jedoch 
nicht,  die  3000  Unterschriften  zusammenzubringen,  welche  erforder- 
lich gewesen  wären,  um  das  Gesetz  einer  Volksabstimmung  zu 
unterwerfen.  Und  das  Gesetz  trat  mit  dem  21.  März  1900  in  Kraft. 

Die  Gegner  des  Gesetzes,  welche  namentlich  unter  den  „reinen“ 
Arbeitervereinlern  zu  finden  sind,  und  von  extremen  Konservativen 
unterstützt  werden,  welche  auf  dem  Gebiete  der  Arbeit  überhaupt 
kein  Gesetz  haben  wollen,  gaben  ihren  Widerstand  nicht  auf. 

Sie  appellierten  durch  die  „Federation  des  societes  ouvrieres 
de  Geneve"  an  das  Bundesgericht.  In  dieser  öffentlich-rechtlichen 
Berufung  machten  sie  folgendes  geltend : 

Sie  verlangten  vom  Bundesgericht,  das  Gesetz  für  null  und 
nichtig  zu  erklären,  da  es  die  verfassungsmäßigen  Rechte  der 


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Jean  Sigg,  Ein  Gesetz  über  Arbeiutarife  und  Kollektivstreitigkeiten, 

Arbeitervereine  und  der  betreffenden  Arbeiter  verletze;  eventuell 
alle  Artikel  des  Gesetzes  aufzuheben,  welche  eine  Verletzung  der 
durch  die  Verfassungen  die  Bundesgesetze  und  die  Kantonsgesetze 
gewährleisteten  Rechte  bedeuten. 

Zur  Begründung  hierfür  führten  sie  an : 

„Das  angegriffene  Gesetz  ist  unter  Verletzung  des  Art.  64  der 
Bundesverfassung  erlassen.  Der  Titel  1 1 des  Bundesgesetzes  über 
das  Obligationenrecht  regelt  alle  auf  die  Dienstmiete  bezüglichen 
Verträge.  Der  Grofse  Rat  von  Genf  hat  dadurch,  dafs  er  die  Be- 
rufung Einlegenden  anderen  Bestimmungen  unterwarf,  als  den  in 
den  Bundesgesetzen  niedergelegten,  ihre  verfassungsmäfsigen  Rechte 
beeinträchtigt  und  sie  der  Herrschaft  von  Gesetzen  unterworfen, 
•welche  von  einer  unzuständigen  Gewalt  erlassen  wurden. 

Das  Gesetz  vom  to.  Februar  1900  steht  in  Widerspruch  mit 
den  Vorschriften  des  Bundesgesetzes  über  das  Obligationenrecht. 
Das  Bundesgesetz  fixiert  die  Bedingungen  der  Erneuerung  und  der 
Auflösung  des  Dienstvertrages , und  läfst  den  Ortsgebrauch  nur 
gelten,  wo  keine  Uebcreinkunft  besteht.  Nun  kann  aber  der  Orts- 
gebrauch nicht,  wie  es  durch  das  Genfer  Gesetz  geschieht,  durch 
allgemeine  Engagementsbedingungen  ersetzt  werden,  welche  einem 
Gesetze  gemäfs  bestimmt  sind  und  durch  Verordnung  „Geltung  als 
Brauch“  haben.  Der  Brauch  kann  nicht  durch  Gesetz  festgestellt 
werden,  und  seine  Anwendung  steht  allein  den  Gerichten,  zu. 
Artikel  I des  Gesetzes  läfst  an  Stelle  des  Brauches  gesetzliche 
Tarife  und  Bedingungen  treten,  und  verletzt  hierdurch  die  Art.  338  ff. 
des  Bundesgesetzes  über  das  Obligationenrecht.  Das  Gesetz  kodifi- 
ziert nicht  allein  den  Brauch,  sondern  ersetzt  ihn  auch  durch  eine 
Regelung,  welche  genau  das  Gegenteil  des  Brauches  ist. 

Das  besagte  Gesetz  steht  der  Freiheit  der  Vereinigung  und 
der  wirthschaftlichen  Thätigkeit  entgegen,  sowie  allen  allgemeinen 
Grundsätzen,  welche  für  die  Bildung  von  Gesellschaften  mafsgebend 
sind  (Art.  683  ff.  des  Bundesgesetzes  über  das  Obligationenrecht). 
Der  Absatz  c)  des  Art.  3 legt  sogar  den  Arbeitersyndikaten  die 
Verpflichtung  auf,  „alle  Angehörige  des  Gewerbefaches  in  ihren 
Verein  aufzunehmen“,  wodurch  also  diesen  Syndikaten  das  Recht 
der  Ausschliefsung  verweigert  wird. 

Ebenso  stehen  Art.  1 5 und  1 8 des  Gesetzes  in  Widerspruch 
mit  der  persönlichen  Freiheit  und  der  Gleichheit  der  Staatsbürger. 
Das  Recht  der  Arbeitseinstellung,  das  Recht,  Aenderung  eines 
Tarifes  zu  verlangen,  darf  nicht  durch  die  Drohung  einer  straf- 


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3&o 


Gesetzgebung : Schweiz. 


rechtlichen  Verurteilung  beeinträchtigt  werden.  Durch  Verwandlung 
des  zivilrechtlichen  Zwanges  des  Bundesgesetzes  über  das  Obliga- 
tionenrecht in  strafrechtlichen  Zwang  sanktioniert  das  Gesetz  die 
Verletzung  einer  ursprünglichen  persönlichen  Freiheit. 

Der  Art.  18  des  Gesetzes  verletzt  nicht  allein  die  durch  die 
Bundes-  und  Kantonsverfassung  gewährleisteten  allgemeinen  Grund- 
sätze der  Freiheit  und  Gleichheit,  sondern  beeinträchtigt  auch  die 
F'reiheit  der  Presse." 

Der  Regierungsrat  erhielt  die  Berufungsschrift  unterm  29.  April 
vom  Bundesgericht  und  beantwortete  sie  wie  folgt: 

„Das  Gesetz  vom  10.  Februar  19c»  beeinträchtigt  in  keiner 
Weise  das  Recht  jedermanns,  einen  Verein  zu  bilden  oder  sich 
einem  bestehenden  Vereine  anzuschliefsen.  Ferner  hindert  der 
Art.  56  der  Bundesverfassung  nicht , dafs  das  Kantonsgesetz  die 
Bedingungen  fixiert,  unter  denen  der  Regierungsrat  die  Statuten 
der  Unternehmer-  und  Arbeitervereine  genehmigen  kann,  voraus- 
gesetzt , dafs  diese  Bedingungen  nichts  Gesetzwidriges  enthalten. 
Die  beanstandete  Bedingung  aber  will  die  Gleichheit  der  Mitglieder 
ein  und  desselben  Gewerbefaches  sichern  und  den  Ostrazismus  und 
den  Mifsstand  der  Ausschliefsung  verhindern. 

Die  Beschwerde  über  die  Verletzung  der  Freiheit  der  wirt- 
schaftlichen Thätigkeit  ist  auf  Grund  der  Unzuständigkeit  des 
Bundesgerichts  hinfällig  (Art.  189  des  Gesetzes  über  die  Bundes- 
rechtspflege). 

Die  Art.  15  und  18  des  Gesetzes  verletzen  das  Recht  und  die 
F’reiheit  des  Arbeiters,  zu  arbeiten  oder  nicht  zu  arbeiten,  in  keiner 
Weise.  Der  Art.  15  verbietet  lediglich  den  Zusammenschlufs  be- 
hufs Herbeiführung  einer  allgemeinen  Arbeitseinstellung  während 
der  Geltungsdauer  eines  T,arifes.  Der  Art.  18  straft  allein 
die  Aufforderung  zum  teilweisen  oder  allgemeinen  Ausstand  unter 
Verletzung  eines  bestehenden  Tarifes. 

Was  sodann  die  Verletzung  des  Prinzips  der  Gleichheit  unter 
den  Staatsbürgern  anlangt,  so  sagt  der  Berufungsfuhrcr  nicht,  worin 
sie  besteht. 

Endlich  bestimmt  Art.  55  der  Bundesverfassung,  dals  die 
Kantone  die  erforderlichen  Mafsnahmen  zur  Unterdrückung  von 
Mifsbräuchen  in  Prefsangelegenheiten  festsetzen  können.  Er  setzt 
keinerlei  Frist  fest,  innerhalb  deren  diese  Mafsnahmen  der  Ge- 
nehmigung des  Bundesrates  zu  unterwerfen  seien.  Und  voraus- 
gesetzt, das  Gesetz  vom  IO.  Februar  berühre  die  Freiheit  der  Presse, 


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Jean  Sigg,  Ein  Gesell  Uber  Arbeitstarife  und  Kollektivstreitigkeiten.  ^(5 1 

so  könnte  die  Berufung  nur  eintreten,  wenn  es  in  seinem  Art.  18 
Anwendung  fände,  bevor  es  die  Genehmigung  des  Bundesrates  er- 
langt hätte." 

Aber  noch  mehr: 

„Es  ist  darzuthun,  dafs  das  Genfer  Gesetz  vom  io.  Februar 
1900  nicht  in  die  gesetzgeberische  Zuständigkeit  des  Bundes  ein- 
greift. Die  Frage  der  Arbeitslöhne  wird  nicht  einzig  und  allein 
in  der  Form  persönlicher  Verträge  zwischen  Unternehmern  und 
Arbeitern  gelöst.  Eis  hat  sich  dieser  E'orm  ein  neues  Mittel  hinzu- 
gesellt, die  Lohntarife,  wie  sie  sich  aus  den  Streitig- 
keiten zwischen  Unternehmervereinen  und  Arbeiter- 
vereinen ergeben.  Von  der  Auffassung  ausgehend,  dafs  diese 
Tarife  zu  einem  gewissen  Zeitpunkte  nur  der  Ausdruck  einer  Regel 
sind,  die  man  als  Brauch  bezeichnet,  wollte  man  unter  Wahrung 
der  Vertragsfreiheit  diesem  Brauch  die  Sanktion  eines  offiziellen 
Protokolls  verleihen,  abgefafst  und  unterzeichnet  in  gemeinsamer 
Verständigung  durch  die  bevollmächtigten  Vertreter  der  Unter- 
nehmer und  der  Arbeiter.  Kommt  eine  Einigung  nicht  zustande, 
so  werden  die  streitigen  Punkte  in  der  in  Art.  13  und  14  des  Ge- 
setzes angegebenen  Weise  erledigt.  Die  bezügliche  Entscheidung 
trägt  den  Charakter  einer  amtlichen  Feststellung  des  Brauches  be- 
züglich der  Löhne.  Den  Einzelpersonen  steht  es  dessenungeachtet 
frei,  diesem  Brauche  sich  nicht  zu  unterwerfen  und  Verträge  auf 
anderer  Unterlage  zu  schliefsen,  aber  das  Gesetz  verweigert  ihnen 
das  Recht,  sich  zur  Arbeitseinstellung  zusammenzuschliefsen  behufs 
Aenderung  der  Tarife.  Das  Bundesgesetz  über  das  Obligationen- 
recht nimmt  oft  Bezug  auf  den  Brauch,  besonders  in  seinem  elften 
Titel  (Dienstmiete).  Andererseits  enthält  es  keine  Angaben  über 
die  Art  und  Weise,  wie  der  Brauch  festgestellt  werden  kann ; es 
folgt  hieraus,  dafs  es  den  Kantonen  in  dieser  Hinsicht  freie  Hand 
lassen  wollte.  Die  Gesetzgebung  Genfs  hat  es  unternommen,  die 
Regeln  zu  bestimmen,  nach  denen  die  Feststellung  des  Brauches 
geschehen  soll;  sie  verfolgte  gleichzeitig  den  Zweck  der  Friedens- 
stiftung, der  Regelung  auf  dem  Wege  des  Gesetzes  bezüglich  der 
Differenzen  über  Arbeitsbedingungen.  Das  Gesetz  vom  10.  Februar 
hat  durchaus  nicht,  wie  der  Berufungsfuhrer  behauptet,  dem  Brauche 
bezüglich  der  Löhne  gesetzliche  Tarife  und  Bedingungen  substituiert.“ 

Gleichzeitig  mit  dieser  Berufung  war  eine  weitere  beim  Bundes- 
ratc  mit  dem  Anträge  eingelegt  worden,  die  Aufhebung  des  Genfer 
Gesetzes  aus  dem  Grunde  zu  beschliefsen,  dals  es  dem  Bundes- 


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362 


Gesetzgebung : Schweiz. 


gesetze  über  das  Obligationenrecht  widersprechende  Bestimmungen 
enthalte.  Die  Antwort  des  Bundesrates  war  klar  und  unzweideutig: 

„Zweifellos  hatte  die  Genfer  Gesetzgebung  bei  dem  von  ihr 
unternommenen  Versuch  weniger  beabsichtigt,  die  rechtliche  Sicher- 
heit für  die  Fälle  zu  gewährleisten,  in  denen  das  Bundesgesetz  über 
das  Obligationenrecht  auf  den  Ortsgebrauch  bezüglich  der  Dienst- 
miete verweist,  als  vielmehr  die  Organe  und  das  Verfahren  zu  be- 
stimmen , wodurch  die  Mindestlöhne,  die  Arbeitszeit  u.  s.  w.  für 
gewisse  Arten  von  Arbeiten,  z.  B.  die  Maurerarbeiten,  allgemein 
geregelt  und  geändert  werden  sollen.  Sie  hat  hierbei  von  jeder 
Art  privatrechtlichen  Zwanges  abgesehen,  sie  wollte  nicht  etwa 
eine  führende  Norm  für  die  Abfassung  der  Verträge  Privater  schaffen ; 
es  sollte,  kurzum,  der  regelmäfsige  Gang  der  Arbeit  gesichert  und 
der  Strike  verhütet  werden.  Die  hierdurch  geschaffene  Grundlage 
soll  offenbar  keinerlei  direkte  und  unmittelbare  juristische  Wirkung 
auf  die  privatrechtlichen  Beziehungen  zwischen  Unternehmern  und 
Angestellten  äufsern , sondern  lediglich  thatsächliche  Bedeutung 
haben. 

Allerdings  ergiebt  sich  dieser  Gesichtspunkt  nicht  immer  in 
deutlicher  Weise  aus  dem  Gesetzestext,  und  der  Art.  I kann  den 
folgenden  Bestimmungen  entgegen  zu  Gunsten  einer  engeren  Aus- 
legung des  Gesetzes  angeführt  werden. 

Aber  stellt  man  sich  auch  auf  diesen  letzten  Standpunkt,  so 
ist  doch  anzuerkennen,  dafs  die  Bundesgesetzgebung  bei  Erlassung 
der  Vorschriften  des  Bundesgesetzes  über  das  Obligationenrecht 
bezüglich  der  Dienstmiete  in  gewissem  Umfange  der  Autonomie 
der  Kantone  die  Bestimmungen  hinsichtlich  der  Bildung  und  Fest- 
stellung des  Ortsgebrauches  überlassen  hat.  Es  läfst  sich  daher 
nicht  behaupten,  dafs  der  Genfer  Grofse  Rat  seine  gesetzgebende 
Zuständigkeit  überschritt,  insofern  das  Genfer  Gesetz  vom  io.  Februar 
1900  Regeln  festsetzte,  nach  welchen  behufs  Feststellung  der  Löhne, 
die  mangels  besonderer  Uebereinkunft  für  eine  bestimmte  Zeit  als 
Brauchstarif  mafsgebend  sein  sollen,  zu  verfahren  ist.  Es  ist  in 
dieser  Hinsicht  zu  bemerken,  dafs  die  schriftliche  Feststellung  eines 
Ortsgebrauches  diesem  seinen  Rechtscharakter  nicht  nimmt. 

Die  Bestimmung  sub  Ziffer  I,  Absatz  c des  Art.  3 des  Gesetzes 
(dafs  sämtliche  Angehörige  des  Gewerbefaches  berechtigt  seien,  dem 
Vereine  beizutreten,  und  dafs  der  Ausschufs  durch  die  Mehrheit  der 
Vereinsmitglieder  zu  wählen  sei)  läfst  sich  nicht  dahin  auslegen, 
dafs  jeder,  der  dem  Gewerbefache  angehöre,  ein  absolutes  Recht 


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Jean  Sigg,  Ein  Gesetz  über  Arbeilstarifc  und  Kollektivstreitigkciten.  363 

habe,  an  dem  Vereine  der  Arbeiter  oder  Unternehmer  dieses  Ge- 
werbes teilzunehmen.  Es  ist  anzuerkennen,  dafs  die  der  Genehmigung 
des  Regicrungsrates  unterliegenden  Statuten  gewisse  Aufnahme- 
bedingungen vorsehen  können,  die  sich  teilweise  von  selbst  ver- 
stehen ; es  will  sich  jedoch  der  Regierungsrat  die  Aufsicht  wahren, 
um  dem  Ostrazismus  und  dem  willkürlichen  Ausschlüsse  vorzu- 
beugen. Keinesfalls  kann  man  in  der  angezogenen  Bestimmung 
eine  Verletzung  der  Vereinsfreiheit  erkennen,  da  das  Gesetz  die 
Unternehmer-  und  Arbeitervereine  nicht  zwingt,  an  der  Feststellung 
der  Tarife  teilzunehmen,  und  es  steht  daher  den  Vereinen,  welche 
sich  den  Bedingungen,  von  deren  Erfüllung  das  Gesetz  diese  Teil- 
nahme abhängig  macht,  nicht  unterwerfen  wollen,  frei,  ihre  Mit- 
glieder sich  nach  Belieben  zu  wählen.“  Aus  allen  diesen  Gründen 
verwarf  das  Bundesgericht  die  Berufung,  indem  es  aussprach,  „es 
sei  zur  Zeit  nicht  erwiesen,  dafs  das  Gesetz  vom  IO.  Februar  1900 
die  verfassungsmäfsigen  Rechte  verletze.  Es  versteht  sich  indessen 
von  selbst,  dafs,  falls  sich  bei  dessen  Anwendung  eine  Beeinträchtigung 
der  durch  die  Verfassung  gewährleisteten  persönlichen  Rechte  er- 
gäbe, das  Recht  des  Bundesgerichtes,  sich  im  Falle  einer  Berufung 
zur  Sache  zu  äufsern,  völlig  unangetastet  bestehen  bleibt.“ 


Das  Gesetz  war  nunmehr  in  sicherem  Hafen  eingelaufen.  Es 
handelte  sich  jetzt  darum,  seine  Wirksamkeit  zu  erproben. 

Diese  Probe  liefs  nicht  lange  auf  sich  warten.  Das  Gesetz 
fand  erstmals  Anwendung  bei  einer  Streitigkeit  zwischen  den  Huf- 
schmiedarbeitern und  ihren  Meistern.  Es  sollte  ein  üblicher  Tarif 
geschaffen  werden.  Da  sich  die  Vertreter  beider  Parteien  nicht 
verständigen  konnten,  so  hatte  der  Regierungsrat  sich  eingemischt. 
Der  von  den  Arbeitern  verfafste  Tarifentwurf  lautete  folgender- 
mafsen : 

Tarif. 

Art.  1.  Sämtliche  früheren  Tarife  sind  aufgehoben. 

Art.  2.  Es  darf  kein  Arbeiter  bei  den  Meistern  in  Kost  und 
Wohnung  sein,  auch  dann  nicht,  wenn  diese  letzteren  in  gewissem 
Grade  ein  Geschäft  daraus  machen. 

Art.  3.  Die  tägliche  Arbeitszeit  beträgt  IO  Stunden,  sie  be- 
ginnt 6 Uhr  morgens  und  endigt  6 Uhr  abends  einschliefslich  einer 
halbstündigen  Frühstücks-  und  einer  ein  und  einhalbstündigen  Mittags- 
pause. 


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364 


Gesetzgebung:  Schweiz. 


Art.  4.  Es  bestehen  im  Gewerk  zwei  Arbeiterkategorieen : die 
Beschlagschmiede  und  die  Fufshalter. 

Art.  5.  Die  Arbeiter  werden  in  der  Weise  gelohnt,  dafs  der 
Beschläger  60  Centimes  und  der  Fufshalter  50  Centimes  für  die 
Stunde  erhält. 

Art.  6.  Alle  Arbeit,  die  vor  6 Uhr  morgens  und  nach  6 Uhr 
abends  oder  während  der  Mahlzeitpausen  verrichtet  wird,  ist  als 
Ueberstundenarbeit  zu  betrachten  und  nach  dem  Tarif  abzulohnen, 
welcher  für  die  tägliche  Arbeitszeit  gilt. 

Art.  7.  Die  Sonntagsarbeit  ist  gänzlich  abzuschaffen. 

Art.  8.  Die  Ablohnung  der  Arbeiter  hat  jeden  Sonnabend 
stattzufinden. 

Art.  9.  Das  Reinigen  der  Werkstätte  soll  während  der  Arbeits- 
zeit und  nicht  danach  geschehen,  5 oder  10  Minuten  vor  Schlufs 
der  Arbeitszeit.  — 

Die  Verhandlungen  ergaben  folgende  Beschlüsse: 

Art.  1 bedarf  keiner  Diskussion.  Art.  2 wird  mit  10  gegen 
4 Stimmen  abgelehnt,  da  die  Dreiviertelmehrheit  1 1 Stimmen  be- 
trägt. 

Da  unter  diesen  Umständen  keine  Einigung  zu  erzielen  war, 
so  war  die  Verhandlung  beendigt  und  der  Streitpunkt  durch  die 
Zentralkommission  der  Gewerbegerichte  zu  erledigen. 

Die  Intervention  des  Regierungsrates  fand  statt  am  29.  November 
1900,  jene  der  Zentralkommission  am  14.  Januar  1901,  nachdem 
einige  Verzögerungen,  wie  sie  jedem  ersten  Versuch  eigentümlich, 
das  Eingreifen  der  Gewerberichter  hinausgeschoben  hatten. 

Meister,  Arbeiter  und  Delegierte  erschienen,  wie  es  das  Gesetz 
vorschreibt.  Die  Verhandlung  ging  in  der  höflichsten  Weise  von 
statten. 

Es  wurde,  als  erster  auf  Grund  des  Gesetzes,  folgender  Tarif 
der  Hufschmiede  angenommen: 

Art.  1.  Die  normale  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  der  Huf- 
schmiede-Arbeiter wird  auf  zehn  Stunden  festgesetzt. 

Art.  2.  Hinsichtlich  der  Oeffnung  und  des  Schliefsens  der 
Werkstätte  hat  sich  der  Arbeiter  nach,  den  Bräuchen  des  Geschäftes 
zu  richten,  in  welchem  er  arbeitet. 

Art.  3.  Der  normale  Lohn  für  die  Arbeitsstunde  des  Beschlag- 
schmiedes beträgt  fiinfundfünfzig  Centimes. 

Art.  4.  Der  normale  Lohn  des  Heizers  (Schlägers  und  Fufs- 
haltersl  beträgt  pro  Arbeitsstunde  fünfundvierzig  Centimes. 


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Jean  Sigg,  Km  Gesetz  über  Arbeitstarife  und  Kollektivstreitigkeiten.  365 

Art.  5.  Die  Ueberstunden  werden  mit  dem  gleichen  Lohne 
vergütet  wie  die  gewöhnlichen  Stunden. 

Art.  6.  An  einem  normalen  Arbeitstage  von  zehn  Stunden 
müssen  der  Beschlagschmied  und  der  Heizer,  welche  zusammen 
arbeiten,  30  Füfse  beschlagen  oder  60  Hufeisen  schmieden. 

Art.  7.  Die  Werkstätten  werden  Sonntags  geschlossen,  es  sei 
denn,  dafs  am  Abend  vorher  plötzlich  Schneefall  oder  Glatteis  ein- 
getreten wäre. 

Art.  8.  Der  Arbeiter  ist  nicht  verpflichtet,  bei  seinem  Meister 
in  Kost  und  Wohnung  zu  sein. 

Art.  9.  Die  Ablohnung  findet  jeden  Sonnabend  statt. 

Art.  IO.  Der  gegenwärtige  Tarif  tritt  am  I.  Juli  1901  in  Kraft 
und  endigt  am  31.  Dezember  1904.  — 

Der  erste  Versuch  einer  Anwendung  des  Gesetzes  war  ge- 
lungen, zum  grofsen  Mifsfallen  derer,  welche  die  Nutzlosigkeit  des 
Gesetzes  prophezeiet  und  alle  Mittel  angewandt  hatten , es  zum 
Scheitern  zu  bringen. 

Nach  und  nach  lassen  jetzt  die  Vereine  die  verkehrten  An- 
schauungen fallen,  welche  sie  bezüglich  des  Gesetzes  hegten.  Sieht 
man  von  einigen  Fachvereinen  ab,  welche  sich  hinter  eine  absolute 
Unnachgiebigkeit  verschanzen,  so  läfst  sich  sagen,  dafs  der  Augen- 
blick nicht  mehr  fern  ist,  wo  die  organisierten  Arbeiter  erst  be- 
greifen werden,  welche  mächtige  Waffe  ihnen  der  Gesetzgeber  in 
die  Hand  gegeben  hat. 

Am  7.  September  1901  wiederum  ersuchten  die  Thondreher 
und  die  Thonwarenfabrikanten  des  Kantons  um  die  vom  Gesetz 
vorgesehene  Intervention.  Ich  bringe  nachstehend  wörtlich  das 
Protokoll  der  Sitzung  der  Zentralkommission  der  Gewerbegerichte, 
um  das  befolgte  Verfahren  möglichst  anschaulich  darzustellen. 

Erste  Abstimmung. 

Tarif  der  bedeckten  Waren. 

Von  den  Arbeitern  pro  Hundert  (gängige  Ware)  verlangter 
Preis:  25  Francs. 

. Gültige  Zettel:  23.  • 

Ja:  11. 

Nein : 1 2. 

Folglich  ist  der  von  den  Arbeitern  verlangte  Preis  nicht  zu- 
gestanden. 


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366 


Gesetzgebung : Schweiz. 


Zweite  Abstimmung. 

Preis  pro  Hundert  für  nicht  bedeckte  Waren. 

Von  den  Arbeitern  verlangter  Preis:  23  Francs. 

Gültige  Zettel : 24. 

Ja:  11. 

Nein:  13. 

Folglich  ist  der  von  den  Arbeitern  geforderte  Preis  nicht  an- 
genommen. 

Dritte  Abstimmung. 

Beibehaltung  des  zur  Zeit  gezahlten  Preises  für  bedeckte  Ware. 
Vorschlag  der  Herren  Unternehmer. 

Gültige  Zettel : 24. 

Ja:  IO. 

Nein:  14. 

Der  Vorschlag  ist  nicht  angenommen. 

Vierte  Abstimmung. 

Vorschlag  eines  Mitgliedes  der  Zentralkommission  der  Gewerbe- 
gerichte, den  Preis  pro  Hundert  bedeckter  Ware  auf  23  Francs 
festzusetzen. 

Gültige  Zettel:  24. 

Ja:  14. 

Nein:  10. 

Der  Vorschlag  ist  somit  angenommen. 

Fünfte  Abstimmung. 

Vorschlag  der  Unternehmer,  den  zur  Zeit  geltenden  Tarif  für 
die  nicht  bedeckten  Waren  aufrechtzuerhalten. 

Gütige  Zettel : 24. 

Ja:  10. 

Nein:  14. 

Der  Vorschlag  ist  abgelehnt. 

Sechste  Abstimmung. 

Vorschlag  eines  Mitgliedes  der  Zentralkommission  der  Ge- 
werbegerichte, den  Preis  pro  Hundert  nicht  bedeckter  Ware  auf 
21  Francs  festzusetzen. 

Gültige  Zettel:  24. 

Ja:  17. 

Nein : 7. 

Der  Vorschlag  ist  somit  angenommen. 


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Jean  S i g g , Ein  Gesell  Uber  Arbeitstarife  und  Kollcktivstrcitigkciten.  367 

Siebente  Abstimmung. 

Inkraftreten  und  Dauer  des  neuen  Tarifes. 

Eis  wird  mit  19  gegen  4 Stimmen  beschlossen,  dafs  der  neue 
Tarif  vom  1.  Januar  bis  31.  Dezember  1902  in  Kraft  bleiben  soll. 

Hinsichtlich  der  Mafse  erklären  die  Delegierten  der 
Unternehmer  und  Arbeiter,  dafs  sie  in  der  seit  1894  üblichen  Zu- 
sammenstellung der  Mafse  keine  Aenderung  verlangen. 

Vom  I.  Januar  1902  bis  31.  Dezember  1902  lautet  also  der 
Tarif  folgendermafsen : 

23  Francs  für  bedeckte  Ware  und 
21  „ für  nicht  bedeckte  Ware. 

Einmachetöpfe  und  -Tassen,  gewöhnliche  Teller,  Tassen  und 
Untertassen  werden  wie  bisher  mit  20  Francs  pro  Hundert  bezahlt. 

Hinsichtlich  der  Blumenvasen  findet  der  am  26.  März  1894  an- 
genommene und  ins  Handelsregister  eingetragene  Tarif  unverändert 
Anwendung,  desgleichen  die  allgemeine  Zusammenstellung  der  Mafse, 
welche  am  gleichen  Tage  angenommen  und  ebenfalls  ins  Handels- 
register eingetragen  ist. 

Ausgefertigt  in  4 Exemplaren. 

Es  ist  hierbei  hervorzuheben,  dafs  sowohl  bei  den  Hufschmieden, 
wie  bei  den  Thondrehern,  die  Einigung,  die  erste  Stufe  des  Ge- 
setzes, gescheitert  war. 

Einen  gleichen  Erfolg  hatte  der  Einigungsversuch  der  Dele- 
gierten des  Gewerks  der  Glasermeister  und  der  Rouleaumacher 
mit  denen  der  Syndikatskammer  der  Glasereiarbeiter,  welcher  am 
30.  September  1902  stattfand  und  wobei  die  Arbeiter  folgende 
Forderungen  stellten: 

1.  Mindestlohn  eines  Glasereiarbeiters,  Einrahmers 

oder  Rouleaumachers  pro  Stunde  ....  Fr.  0,55 

2.  Mindestlohn  pro  Stunde  Nachtarbeit  50  °/0  höher  „ 0,82 

3.  „ eines  zeitweilig  beschäftigten  Aus- 
hilfearbeiters   0,55 

NB.  Dieser  Satz  findet  jedoch  nur  Anwendung  auf  einen  Ar- 
beiter, der  vom  ersten  Tage  seiner  Beschäftigung  an  sich  als 
brauchbar  erweist. 

4.  Bei  Reisen  aufserhalb  des  Kantons  für  unbestimmte  Zeit 

fallen  alle  Unkosten  dem  Meister  zur  Last. 

5.  Reisevergütung Fr.  1,25 

6.  Bei  Arbeiten  auf  einer  in  weiterer  Entfernung  gelegenen 


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368 


Gesetzgebung : Schweiz. 


Arbeitsstätte  läuft  die  Arbeitszeit  des  Arbeiters  von 
seinem  Verlassen  der  Werkstätte  bis  zu  seinem  Wieder- 
eintreffen daselbst. 

Die  Zentralkommission  der  Gewerbegerichte  setzte  den  üb- 
lichen Tarif  folgendermal'sen  fest: 

Art.  I . Die  normale  tägliche  Arbeitszeit  beträgt  zehn  Stunden. 

Art.  2.  Die  Probezeit  beträgt  sechs  Tage. 

Art.  3.  Der  normale  Lohn  für  die  Arbeitsstunde  beträgt  fiinf- 
undfiinfzig  Centimes. 

Art.  4.  Ist  der  Arbeiter  genötigt,  anderwärts  als  zu  Hause 
Mittag  zu  essen,  so  erhält  er  eine  Entschädigung  von  einem  Francs 
fünfundzwanzig  Centimes  täglich. 

Art.  5.  Liegt  die  Arbeitsstätte  in  weiterer  Entfernung  von 
der  Werkstätte,  so  wird  die  Zeit  der  Hinkunft  und  Rückkunft  mit 
in  die  Arbeitszeit  eingerechnet. 

Art.  6.  Die  Reisespesen  des  Arbeiters,  welcher  genötigt  ist, 
aufserhalb  seines  Wohnortes  zu  übernachten,  fallen  dem  Meister  zur 
Last.  Es  können  jedoch  vor  jeder  Reise  hierüber  beliebige  Verein- 
barungen getroffen  werden.  Mangels  vorgängiger  Uebereinkunft 
beträgt  die  dem  Arbeiter  pro  Tag  zustehende  Reisevergütung 
3 Francs. 

Art.  7.  Für  Arbeitsstunden  zur  Nachtzeit  erhöht  sich  der  Lohn 
des  Arbeiters  um  fünfzig  Prozent. 

Art.  8.  Vorstehende  Bestimmungen  treten  am  ersten  Ok- 
tober neunzehn  hundertzwei  in  Kraft  und  sind  gültig  bis 
zum  e i n u n dd re i fsi gs t e n Dezember  neunzehnhundert- 
sechs. — 

Am  19.,  22.  und  27.  Oktober  1902  kamen  die  Klcmpner- 
arbeiter  an  die  Reihe,  welche  folgenden  Entwurf  eines  Reglements 
für  die  Bauklempner  aufgestcllt  hatten. 

Art.  1.  Die  normale  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  beträgt 
zehn  Stunden  für  das  ganze  Jahr;  sie  dauert  von  7 Uhr  morgens 
bis  61 .,  Uhr  abends  einschliefslich  einer  einundeinhalbstündigen 
Mittagspause. 

Art.  2.  Der  Mindestlohn  für  die  Stunde  beträgt  58  Centimes. 

Art.  3.  Reisen  betreffend.  — Tritt  der  Arbeiter  morgens  eine 
Reise  an  und  kehrt  erst  abends  zurück,  so  erhält  er  einen  Francs 
als  Entschädigung  für  das  Mittagessen;  mufs  er  auswärts  über- 
nachten, so  hat  der  Meister  alle  Tagesspesen  zu  tragen. 

Art.  4.  Die  Spesen  der  Hin-  und  Rückreise  nach  und  von 


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Jean  Sigg,  Kin  üeselz  Uber  Arbeitstarife  und  Kollektivstreitigkeilen.  ^69 

der  auswärts  belegenen  Arbeitsstätte  fallen  dem  Meister  zur  Last, 
und  die  hierfür  erforderliche  Zeit  wird  als  Arbeitszeit  gerechnet. 

Art.  5.  Die  Sonntagsarbeit  wird  abgeschafft. 

Art.  6.  Die  Arbeitsstunden  über  die  normale  Arbeitszeit  sind 
mit  dem  doppelten  Lohne  zu  bezahlen. 

Art.  7.  Im  Falle  höherer  Gewalt  müssen  die  Sonntagsarbeits- 
stunden doppelt  bezahlt  werden. 

Art.  8.  Für  die  Arbeit  des  Schneefegens  erhöht  sich  der 
Stundenlohn  um  50  Prozent. 

Art.  9.  Die  Akkordarbeit  wird  abgeschafft. 

Art.  10.  Die  Ablohnung  findet  jeden  F'reitag  statt. 

Art.  II.  Die  Arbeiter  dürfen  nicht  ohne  vorgehende  I4tägige 
Kündigung  entlassen  werden. 

Art.  12.  Die  zeitweilige  Entlassung  ist  verboten. 

Art.  1 3.  Der  Meister  hat  den  Arbeiter  ohne  Abzug  vom  Lohne 
gegen  Unfall  zu  versichern. 

Art.  14.  Der  Meister  hat  die  zur  guten  Ausführung  und  für 
die  Sicherheit  der  Arbeiten  erforderlichen  Werkzeuge  und  Geräte 
zu  liefern. 

Art  1 5.  Die  als  Werkstätten  dienenden  Räumlichkeiten  sind 
den  Bedürfnissen  der  Hygiene  und  der  Sauberkeit  entsprechend  ein- 
zurichten, wie  es  das  Gesetz  vorschreibt. 

Art.  16.  Der  infolge  Unfalls  erkrankte  Arbeiter  oder  die  aus 
seiner  Person  Berechtigten  erhalten  seinen  regelmäfsigen  Lohn. 

Art.  17.  Für  Krankenhaus-  oder  Arzneikosten  darf  dem  er- 
krankten Arbeiter  vom  Lohne  in  keinerlei  Weise  etwas  abgezogen 
werden. 

Art.  18.  Der  zur  vorübergehenden  militärischen  Dienstleistung 
eingezogene  Arbeiter  darf  dieserhalb  nicht  entlassen  werden.  — 

Der  Tarif  der  Zentralkommission  lautet  wie  folgt: 

Art.  1.  Die  Probezeit  beträgt  sechs  Tage. 

Art.  2.  Die  normale  tägliche  Arbeitszeit  beträgt  zehn  Stunden 
mit  einer  einundeinhalbstündigen  Mittagspause,  abgesehen  vom 
Winter,  in  welchem  die  Arbeitszeit  auf  neun  Stunden  herabgesetzt 
werden  kann. 

Art.  3.  Der  normale  Lohn  für  die  Arbeitsstunde  beträgt  acht- 
undfünfzig Centimes. 

Art.  4.  Befindet  sich  die  Arbeitsstätte  weit  von  der  Werk- 
stätte entfernt,  so  wird  die  zur  Hinkunft  erforderliche  Zeit  mit  in 

Archiv  für  so*.  GeseUgebung  u.  Statistik.  XVIII.  24 


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Gesetzgebung:  Schweiz. 


die  Arbeitszeit  eingerechnet.  Die  zur  Rückkehr  erforderliche  Zeit 
wird  nicht  eingerechnet. 

Art.  5.  Für  Arbeiten  am  Sonntag  tvird  der  Lohn  verdoppelt. 

Art.  6.  Der  Lohn  für  die  Beseitigung  des  Schnees  von  den 
Dächern  ist  ein  um  fünfzig  Prozent  erhöhter. 

Art.  7.  Für  die  Zeit  von  8 Uhr  abends  bis  6 Uhr  morgens 
wird  ein  doppelter  Stundenlohn  gezahlt. 

Art.  8.  Lst  der  Arbeiter  genötigt,  anderwärts  als  zu  Hause 
Mittag  zu  essen,  so  erhält  er  eine  Vergütung  von  einem  Francs 
fünfundzwanzig  Centimes  täglich. 

Art.  9.  Die  Reisespesen  des  Arbeiters,  der  genötigt  ist,  aufser- 
halb  seines  Wohnortes  zu  übernachten , fallen  dem  Meister  zur 
I-ast.  — 

Ferner  stellten  auch  die  in  der  Fabrik  arbeitenden  Klempner 
einen  Tarif  folgenden  Inhaltes  auf: 

Art.  1.  Die  normale  tägliche  Arbeitszeit  beträgt  zehn  Stunden 
während  des  ganzen  Jahres. 

Art.  2.  Jeder  Arbeiter  arbeitet  in  den  beiden  ersten  Wochen 
auf  Tagclohn. 

Art.  3.  Der  Mindestlohn  beträgt  55  Centimes  für  die  Stunde. 

Art.  4.  Der  Lohn  eines  Arbeiters  darf  für  10  Stunden  nicht 
unter  Fr.  5,50  betragen,  er  arbeite  auf  Tagelohn  oder  in  Akkord. 

Art.  5-  Für  die  Akkordarbeit  ist  ein  durch  gemeinsame  Ver- 
ständigung geschaffener  Tarif  in  der  Werkstätte  auszuhängen. 

Art.  6.  Die  Ablohnung  findet  jeden  Freitag  statt.  Hat  der 
Arbeiter  am  Lohnungstage  eine  Akkordarbeit  nicht  fertiggestellt, 
so  kann  er  eine  der  von  ihm  zur  Arbeit  gebrauchten  Stundenzahl 
entsprechende  Abschlagszahlung  verlangen,  wobei  die  Stunde  mit 
dem  Mindestlohn  von  55  Centimes  zu  bezahlen  ist. 

Art.  7.  Die  Sonntagsarbeit  wird  abgeschafft. 

Im  Falle  dringenden  Bedürfnisses  wird  sie  mit  dem  doppelten 
Lohne  bezahlt. 

Art.  8.  Es  darf  kein  Arbeiter  ohne  vorhergehende  14  tägige 
Kündigung  entlassen  werden. 

Art.  9.  Die  zeitweilige  Entlassung  ist  untersagt. 

Art.  10.  Der  Meister  liefert  die  zur  guten  Ausführung  und 
für  das  Gelingen  der  Arbeiten  erforderlichen  Werkzeuge  und  Geräte. 

Art.  n.  Die  als  Werkstätten  dienenden  Räumlichkeiten  sind 
den  Bedürfnissen  der  Hygiene  und  der  Sauberkeit  entsprechend  ein- 
zurichten, wie  es  das  Gesetz  vorschreibt. 


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Jean  Sigg,  Ein  Geseti  über  Arbeitstarife  und  Kollcktivstreitigkeiten.  37 1 

Art.  12.  Der  Meister  bat  den  Arbeiter  ohne  Lohnabzug  gegen 
Unfall  zu  versichern. 

Art  13-  Der  infolge  Unfalls  erkrankte  Arbeiter  oder  die  aus 
seiner  Person  Berechtigten  erhalten  seinen  regelmäfsigen  Lohn. 

Art.  14.  Für  Krankenhaus-  oder  Arzneikosten  darf  dem  er- 
krankten Arbeiter  vom  Lohne  in  keinerlei  Weise  etwas  abgezogen 
werden. 

Art.  1 5.  Der  zur  vorübergehenden  militärischen  Dienstleistung 
eingezogene  Arbeiter  darf  dieserhalb  nicht  entlassen  werden.  — 

Die  Zentralkommission  löste  diese  Streitfrage  durch  folgenden 
Tarif: 

Art.  t.  Die  Probezeit  beträgt  zwei  Wochen.  Während  dieser 
Zeit  wird  der  Arbeiter  nach  Stunden  bezahlt. 

Art.  2.  Die  normale  tägliche  Arbeitszeit  beträgt  mit  Unter- 
brechung durch  eine  einundeinhalbstündige  Mittagspause  zehn 
Stunden. 

Art.  3.  Der  normale  Stundenlohn  beträgt  fünfundliinfzig 
Centimes. 

Art.  4.  Am  Sonntag  wird  die  Arbeit  mit  dem  doppelten  Lohne 
bezahlt. 

Art.  5.  Die  Akkordarbeit  wird  nach  einem  vom  Unter- 
nehmer aufgcstellten  und  in  der  Werkstätte  ausgehängten  Tarife 
bezahlt. 

Art.  6.  Abgesehen  vom  Falle  höherer  Gewalt,  darf  der 
Arbeiter  keine  Einbufse  durch  zeitweilige  Betriebseinstellung  er- 
leiden. 

Art.  7.  Die  Kündigungsfrist  für  die  Entlassung  oder  den  Aus- 
tritt des  Arbeiters  beträgt  zwei  Wochen.  Die  Kündigung  hat 
am  1.  und  15.  oder  spätestens  am  darauffolgenden  Tage  zu  ge- 
schehen. 

Art.  8.  Die  militärische  Dienstleistung  darf  nicht  als  Grund 
der  Entlassung  oder  des  Austrittes  eines  Arbeiters  gelten. 

Art.  9.  Die  Ablohnung  findet  alle  vierzehn  Tage  Freitags  statt; 
am  vorhergehenden  Freitag  kann  der  Arbeiter  eine  Abschlagszahlung 
verlangen. 

Art.  10.  Die  vorstehenden  Bedingungen  treten  in  Kraft  am 
ersten  Januar  neunzehnhundertdrei  und  haben  als  übliche  Geltung 
bis  zum  einunddreifsigsten  Dezember  neunzehnhundertsieben. 

Die  im  Art.  6 des  Gesetzes  vom  10.  Februar  1900  vorgesehene 
Kündigungsfrist  wird  auf  6 Monate  festgesetzt. 

24* 


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372 


Gesetzgebung : Schweiz. 


Mangels  förmlicher  Kündigung  vor  dem  dreifsigsten  Juni  des 
Jahres  1907  oder  eines  der  folgenden  Jahre  bleiben  diese  Bedin- 
gungen von  Jahr  zu  Jahr  gültig,  mit  Beginn  vom  1.  Januar  1908. 
(Vgl.  Art.  6 des  Gesetzes  vom  IO.  Februar  1900.) 


Kinen  geringfügigen  Streitfall  zwischen  zwei  Hufschmiedemeistern 
und  ihren  Arbeitern  wegen  der  Sonntagsarbeit  erwähne  ich  ledig- 
lich, und  komme  nunmehr  zu  dem  grofsen  Konflikt  zwischen  der 
„Compagnie  Generale  des  Tramways  eiectriques  du  Canton  de 
Geneve“  und  dem  Syndikat  der  Angestellten  der  Sekundärbahnen, 
600  Mann  stark  und  bei  Beginn  des  Kampfes  bewundernswert 
organisiert. 

Dieser  Konflikt  hatte  einen  Gesamtstrike  aller  Arbeiter  Genfs 
zur  Folge,  welche  zwanzigtausend  an  der  Zahl  die  Arbeit  einstellten. 
Drei  Tage  lang  fast  war  im  wirtschaftlichen  Leben  der  Stadt  Genf 
völliger  Stillstand  eingetreten.  Es  erschien  keine  Tageszeitung. 
Zwischen  Soldaten  und  Arbeitern  kam  es  zu  Reibereien  und  Kämpfen; 
es  waren  sämtliche  Milizen  einberufen. 

Es  hatte  den  Anschein,  als  ob  hier  das  neue  Gesetz  versagen 
sollte.  Das  dem  nicht  also  war,  werde  ich  jedoch  im  nachstehenden 
zeigen. 

Dem  Gesetze  gemäfs  fand  am  31.  Juli  1902  in  der  Abteilung 
für  Handel  und  Industrie  ein  Einigungsversuch  statt,  bei  welchem 
die  Angestellten  ihre  sämtlichen  Forderungen  aufrechterhielten.  Diese 
Forderungen  waren : 

1.  Die  Syndikatskammer  beharrt  bei  der  in  ihrem  Schreiben 
vom  12.  Juli  1902  ausgesprochenen  Forderung  einer  Gehaltsskala 
mit  5 Gehaltsklassen  und  einem  Mindestbetrag  von  40  Centimes 
pro  Stunde,  und  zwar  mit 

a)  einem  Mindestlohn  für  die  folgenden  Angestellten:  Schaffner, 
Wattmen,  Wäscher,  Bahnwärter  mit  40  Centimes  pro  Stunde 
(5.  Klasse); 

b)  einem  Lohne  von  45  Centimes  pro  Stunde  für  die  genannten 
Angestellten  nach  dem  zweiten  Dienstjahre  (4.  Klasse); 

c)  einem  Lohne  von  48  Centimes  pro  Stunde  für  die  genannten 
Angestellten  nach  dem  vierten  Dienstjahr  (3.  Klasse); 

d)  einem  Lohne  von  50  Centimes  pro  Stunde  für  die 
genannten  Angestellten  nach  dem  sechsten  Dienstjahr 
(2.  Klasse); 


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Jean  Sigg,  Ein  Gesetz  Uber  Arbeitstarife  und  Kollcktivstrcitigkeiten.  373 

e)  einem  Lohne  von  55  Centimes  pro  Stunde  für  die  genannten 
Angestellten  nach  dem  achten  Dienstjahr  (I.  Klasse). 

2.  Uniform  betreffend.  Die  Syndikatskammer  beharrt  bei  ihrer 
Forderung  der  unentgeltlichen  Lieferung  einer  Winteruniform  und 
einer  Sommeruniform  (aus  leichtem  Stoff)  in  jedem  Jahre. 

Die  Syndikatskammer  beharrt  ferner  bei  ihrer  Forderung  be- 
treffs der  Capotes,  welche  allen  Bahnangestellten  unentgeltlich  zu 
liefern  sind. 

3.  Kntlassung  betreffend.  Die  Syndikatskammer  beharrt  bei  dem 
Verlangen  der  Beseitigung  der  jetzt  geübten  Art  der  Entlassung. 

Die  Syndikatskammer  erkennt  an,  da fs  die  Entlassung  als  ab- 
solute Ausnahmemafsregel  verhängt  werden  kann.  Für  diesen  Fall 
fordert  sie,  dafs  der  anstelle  des  entlassenen  Angestellten  eintretende 
Supernumerar  nach  demselben  Tarif  bezahlt  wird,  wie  der  von  ihm 
ersetzte  Beamte.  — 

Eis  kam  jedoch  keine  Einigung  zu  stände,  und  man  brachte 
nunmehr  nach  den  Vorschriften  des  Gesetzes  die  Sache  vor  die 
Zentralkommission  der  Gewerbegerichte,  welche  folgende  Lösung 
zu  stände  brachte: 

Bezüglich  der  Disziplinarstrafen. 

Erste  Abstimmung.  Es  wird  über  folgenden  Antrag  ab- 
gestimmt: 

Trifft  einen  Angestellten  eine  Geldstrafe,  Entlassung  oder  Kün- 
digung,  so  kann  er,  wenn  er  es  wünscht,  vom  Leiter  des  Unter- 
nehmens oder  von  der  Direktion  gehört  werden. 

Abgegebene  Stimmzettel:  29,  gültig  29;  ja:  29. 

Der  Antrag  ist  somit  einstimmig  angenommen. 

Bezüglich  der  Uniformen. 

Zweite  Abstimmung.  Es  wird  über  folgenden  Antrag 
abgestimmt : 

Die  vollständige  Winteruniform  für  das  Fahr-  und  das  Betriebs- 
personal , sowie  die  Capote  für  das  im  Bahndienst  beschäftigte 
Personal  werden  zur  Hälfte  von  der  Gesellschaft,  zur  Hälfte 
vom  Angestellten  bezahlt.  Das  Tragen  der  Capote  ist  für  die 
Bahnwärter  nicht  obligatorisch.  Die  Sommerkleidung  für  das 
Fahr-  und  Betriebspersonal  wird  von  der  Gesellschaft  unentgelt- 
lich geliefert. 

Diese  Kleidung  wird  nach  4 Monaten  Dienst  Eigentum  des 
Angestellten. 


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574 


Gesetzgebung : Schweiz. 


Abgegebene  Stimmzettel:  29,  gültig  29;  ja:  29. 

Der  Antrag  ist  somit  einstimmig  angenommen. 

BetreffendGchalt  der  Supernumerare. 

Dritte  Abstimmung.  Antrag  zur  Abstimmung. 

Es  bestehen  zwei  Klassen  von  Supernumeraren. 

1.  Die  nur  an  Sonntagen  und  Festtagen  beschäftigten  Super- 
numerare; 

2.  Die  ordentlichen  Supernumerare. 

Die  ersteren  werden  mit  fünf  Francs  pro  Tag  bezahlt.  Die 
ordentlichen  Supernumerare  erhalten  achtunddreifsig  Centimes 
pro  Arbeitsstunde  mit  einem  Mindestlohn  von  fünfzig  Franks 
pro  Monat,  unter  der  Bedingung,  dafs  sie  sich  zur  Verfügung  der 
Gesellschaft  halten. 

Abgegebene  Zettel:  29;  gültig:  29. 

Der  Antrag  ist  mit  24  Stimmen  gegen  ein  Nein  und  vier 
weifse  Zettel  angenommen. 

Betreffend  Gehaltsskala. 

Vierte  Abstimmung.  Es  gelangt  folgender  Antrag  eines 
Mitgliedes  der  Zentralkommission  zur  Abstimmung: 

Schaffner,  Wattmen,  Wäscher  und  Bahnwärter  werden  nach 
folgendem  Tarif  bezahlt : 

Im  ersten  Jahre  mit  achtunddreifsig  Centimes  pro  Stunde; 

„ zweiten  „ „ vierzig  „ „ „ 

„ dritten  „ „ zweiundvierzig  „ „ „ 

in  den  drei  nächsten  Jahren  mit 

fünfundvierzig  „ „ „ 

in  den  hierauf  folgenden  drei  Jahren 

mit  achtundvierzig  „ „ „ . 

Nach  Ablauf  von  neun  Jahren  ist  das 

Gehalt  mit  fünfzig  „ „ „ 

zu  berechnen. 

Den  ordentlichen  Supernumeraren  kommen  diese  Erhöhungen 
gleichfalls  zugute. 

Schaffner,  Wattmen,  Wäscher  und  Bahnwärter  werden  an  Ruhe- 
tagen wie  für  einen  zehnstündigen  Arbeitstag  bezahlt. 

Abgegebene  Zettel:  29;  gültig:- 29. 

Der  Antrag  ist  mit  27  Stimmen  gegen  ein  Nein  und  einen 
weifsen  Zettel  angenommen. 


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Jean  Sigg,  Ein  Gesetz  über  Arbeitstariie  und  Kollektivstreitigkciten.  37  j 

Betreffend  Inkrafttreten  der  gefafsten  Beschlüsse. 

Fünfte  Abstimmung.  Als  Tag  des  Inkrafttretens  wird  der 
erste  November  neunzehnhundertzwei  mit  28  Stimmen  gegen  einen 
weifsen  Zettel  festgesetzt. 

Betreffend  Geltungsdauer  der  Abmachungen. 

Sechste  Abstimmung.  Mit  28  Stimmen  gegen  einen  weifsen 
Zettel  wird  bestimmt,  dafs  die  obigen  Beschlüsse  in  Kraft  bleiben 
sollen  bis  zum  einunddreifsigsten  Dezember  neunzehnhundertsechs 
mit  der  gesetzlich  vorgesehenen  Kündigungsfrist.  — 

Diese  Lösung  fand  bei  der  Gesellschaft  wenig  Beifall.  Es 
waren  kaum  vierzehn  Tage  vergangen,  als  sie  44  Arbeiter  entliefs. 
Das  bedeutete  eine  förmliche  Verletzung  der  Beschlüsse  der  Zentral- 
kommission der  Gewerbegerichte  und  gleichzeitig  einen  neuen 
Konflikt. 

Jetzt,  wo  Arbeiter  und  Angestellte  sämtlich  in  Ausstand  traten, 
beging  der  Regierungsrat  einen  schweren  Mifcgriff.  Anstatt  die 
Anwendung  des  Gesetzes  zu  fordern,  bot  er  seine  Dienste  als 
Schiedsrichter  an.  Das  schiedsrichterliche  Verfahren  wurde 
von  den  Arbeitern  angenommen,  und  der  Regierungsrat  gab  ihnen 
■nach  einer  Woche  in  fast  allen  Punkten  recht.  Hierauf  stets 
.wachsendes  Mifsvergnügen  der  Gesellschaft,  verschiedene  Plackereien, 
Schwäche  des  Regierungsrates,  Strike  der  Angestellten,  dann  General- 
strike  — so  entwickelte  sich  das  Nachspiel  dieser  ganzen  Arbeiter- 
bewegung, welche  durchaus  nichts  gegen  das  Gesetz  beweist,  wie 
seine  Gegner  zu  behaupten  versuchten.  — 

Aus  den  von  mir  in  vorstehendem  kurz  angedeuteten  Thatsachen 
lassen  sich  verschiedene  bedeutsame  Folgerungen  ziehen.  Vor  allem 
wird  dem,  welcher  die  obige  Darstellung  einigermafsen  aufmerksam 
verfolgte,  nicht  entgangen  sein,  dafs  nicht  ein  einziges  Mal 
eine  Einigung  zustande  kam.  Und  dies  ist  ganz  erklärlich. 
Bei  der  ersten  Zusammenkunft  von  Angestellten  und  Unternehmern 
sind  die  Gemüter  noch  etwas  erhitzt,  ist  der  Eigensinn  noch  über- 
wiegend (denn  dieser  psychologische  Faktor  spielt  häufig  in  ge- 
wissen Konflikten  eine  wichtige  Rolle,  was  man  nie  aufser  acht 
lassen  darf).  Jeder  einzelne  hält  es  für  Ehrensache,  keinen  Deut 
von  dem  eingenommenen  Standpunkt  aufzugeben.  Dann  rechnet 
man  auch  sehr  auf  die  zweite  Instanz,  die  Zentralkommission  der 
Gewerbegerichte.  Ist  nun  deshalb  das  Rad  des  Einigungsversuches 
in  dem  Mechanismus  als  nutzlos  zu  beseitigen,  damit  das  Gesetz* 


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Gesetzgebung:  Schweiz: 


dem  man  nicht  ganz  mit  Unrecht  den  Vorwurf  der  Schwerfälligkeit 
machen  kann,  leichter  funktioniere?  Ich  glaube  es  nicht.  Dieses 
erste  Zusammentreffen  zwischen  Angestellten  und  Unternehmern 
unter  dem  Vorsitz  des  Leiters  der  Abteilung  für  Handel  und  In- 
dustrie gewährt,  wenn  es  auch  kein  Ergebnis  hat,  doch  wenigstens 
einen  klaren  Einblick  in  verschiedene  bisher  unklare  Dinge;  es  be- 
seitigt gewisse  Voreingenommenheiten , es  besänftigt  den  Starrsinn, 
von  welchem  ich  oben  sprach.  Und  dann  ermöglicht  es  auch  der 
einen  wie  der  anderen  Partei,  die  aufgeworfenen  fragen  nochmals 
zu  prüfen,  die  vorgebrachten  Argumente  zu  erwägen;  kurzum,  es 
ist  ein  erstes  Scharmützel,  nach  welchem  jeder  der  Streitteile  seine 
gesamten  Ansichten  nochmals  Revue  passieren  läfst.  Hierdurch 
erklärt  sich,  teilweise,  wenn  nicht  ganz,  dafs  einige  Tage  darauf, 
wenn  die  Parteien  vor  die  zweite  Instanz,  die  Zentralkommission 
der  Schiedsrichter,  kommen,  es  nie  lange  dauert,  bis  durch  einige 
wechselseitigen  Zugeständnisse  eine  Verständigung  erreicht  wird, 
wenigstens  dann,  wenn  nicht  eine  der  Parteien  geflissentlich  bösen 
Willen  an  den  Tag  legt. 

Was  das  Gesetz  selbst  anlangt,  so  bedarf  es  erst  noch  einiger 
Anwendungen,  ehe  man  sich  daran  macht,  es  abzuändern  oder  es 
gar  von  Grund  aus  neu  zu  gestalten.  Ohne  das  Gesetz  aber  hätten 
wir  in  Genf  sicherlich  vier  Strikes  gehabt,  welche  verhindert  wurden. 
Es  bedeutet  einen  ersten  Erfolg  und  einen  ersten  Schritt  auf  dem 
Wege  zu  einer  gründlichen  Organisation  der  Arbeit,  einen  ersten 
Versuch  auch  einer  rechtlichen  Regelung  der  wirtschaftlichen  Kon- 
flikte. Es  beeinträchtigt  in  keiner  Weise  dem  Arbeiter  sein  Recht, 
zu  arbeiten  oder  nicht  zu  arbeiten,  d.  h.  die  Arbeit  cinzustellen. 
Aber  der  Strike  selbst  ist,  wie  von  den  tüchtigsten  Forschern  an- 
erkannt wird,  nichts  weiter  als  ein  primitives  Mittel  der  Regelung 
der  sozialen  Beziehungen  zwischen  der  Arbeiterklasse  und  der  Unter- 
nehmerklasse. 

Dieses  rohe  und  mitunter  gewaltsame  Mittel,  welches  stets 
nutzlose  wirtschaftliche  Verluste  nach  sich  zieht,  durch  einen  minder 
kostspieligen  Prozefs  ersetzen,  — das  war  es,  was  die  Genfer  gesetz- 
gebende Gewalt  wollte. 

Ich  will  nicht  behaupten,  dafs  das  von  ihr  geschaffene  juristische 
Werkzeug  etwas  Vollkommenes  sei,  aber  es  lohnte  sich  der  Mühe, 
darauf  hinzuweisen,  um  hierdurch  vielleicht  einen  Meinungsaustausch 
darüber  zu  veranlassen. 


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DEUTSCHES  REICH. 


Schutz  der  Arbeiter  in  den  Tierhaar-  und 
Borstenindustrien. 

Von 

ADOLF  BRAUN. 

Schon  seit  vielen  Jahren  sind  unter  Arbeitern,  welche  sich  mit 
Hadern,  Lumpen  und  gewissen  tierischen  Rohstoffen,  namentlich 
Fellen,  Haaren,  Wolle  oder  Borsten  zu  beschäftigen  haben,  zuweilen 
eigentümlich  verlaufende  und  nicht  selten  zum  Tode  führende  Er- 
krankungen beobachtet  worden.  *)  Obgleich  der  Milzbrand  (Anthrax, 
pustula  maligna,  Carbunculus  contagiosus),  zu  den  am  frühesten 
bekannt  gewordenen  infektiösen  Tiererkrankungen  gehört, s)  suchte 
man  die  Ursache  der  eigentümlichen  Erkrankungen  in  der  Wirkung 
der  bei  diesen  Arbeiten  massenhaft  zu  tage  tretenden  Staubes.  Erst 
1877  wurde  die  „Hadernkrankheit“  von  Frisch  auf  .Milzbrandkeime 
zurückgeführt,  1889  hatte  der  Nürnberger  Arzt  Heinlein  das  Vorkommen 
von  Milzbranderkrankungen  bei  den  Arbeitern  der  I’inselindustrie 
festgestellt.  Es  wurden  von  da  ab  alljährlich  eine  Anzahl  Milzbrand- 
falle in  Schlachthöfen,  Fellhandlungen,  Gerbereien,  Rofshaarreinigungs- 
Anstalten  und  -Spinnereien,  Haartuchfabriken,  im  Tapczicrergewerbe, 
Bürstenmachereien,  Pinselfabriken,  Borstenzurichtereien,  Hutmache- 
reien,  Kunstdüngerfabriken,  Wollsortierereien  (in  England  seit  den 
1840er  Jahren  als  Woolsorters  disease  bekannt),  und  ähnlichen  Be- 


*)  Kühler,  Stabsarzt,  Dr.  K.,  Regierungsrat  im  k.  Gesundheitsamte,  Die 
Milzbrandgefahr  bei  Bearbeitung  tierischer  Haare  und  Borsten  und  die  zum  Schutze 
dagegen  geeigneten  Mafsnahmcn  im  XV.  Bande  der  Arbeiten  aus  dem  k.  Gesund- 
heitsamte S.  456.  Berlin  1899. 

*)  Koranyi,  Prof»  Dr.,  Zoonosen  I.  Abteilung  (Nothnagel,  Spezielle  Pathologie 
und  Therapie  V.  Band,  V.  Teil,  i.  Abteilung)  S.  2. 


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378 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


trieben  konstatiert.  Da  die  älteren  Aerzte  mit  der  Diagnose  dieser 
Erkrankungen  nicht  vertraut  gemacht  wurden,  auch  nur  einem  Teil 
der  jüngeren  Aerzte  Fälle  dieser  nur  an  den  Produktionsstellen  vor- 
kommenden und  meist  rasch  verlaufenden  Krankheiten  in  der  Studien- 
zeit vorgefuhrt  werden  konnten,  endlich  die  Unternehmer  aus  Furcht 
vor  Verschärfung  der  Mafsnahmen  der  Behörden  kaum  viel  zur 
Feststellung  dieser  Krankheitsursachen  thaten,  so  darf  wohl  ange- 
nommen werden,  dafs  die  Zahl  der  Erkrankungen  und  der  Todes- 
fälle infolge  von  Milzbrandinfektion  bedeutend  gröfser  sein  dürfte 
als  die  zur  Kenntnis  der  Behörden  gekommenen  Zahlen,  welche 
nun  in  den  Jahresberichten  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  registriert 
werden. ')  Gegenwärtig  vermindert  sich  die  Zahl  der  Milzbrand- 
erkrankungen, welche  Bedeutung  sie  aber  früher  besafs,  beweist  u.  a. 
der  folgende  Fall : eine  schlesische  Rolshaarspinnerei  hatte  in 

8 Jahren  bei  einer  durchschnittlichen  Zahl  von  35  Arbeitern  25  Er- 
krankungen und  1 1 Todesfälle  an  Milzbrand  zu  beklagen.’) 

In  Nürnberg,  dem  Zentrum  der  Pinselindustrie  nicht  blofs  des 
Deutschen  Reiches  haben  die  betroffenen  Arbeiter  zuerst  die  Auf- 
merksamkeit der  Behörden  auf  diese  schweren  Berufsgefahren  ge- 
lenkt. Am  11.  August  1894  wurde  in  einer  öffentlichen  Versamm- 
lung der  Arbeiter  der  Bürsten-  und  Pinselindustrie  eine  heute  noch 
wirkende  „Milzbrandkommission“  gewählt,  um  „diejenigen  Mittel  und 
Wege  aufzusuchen,  die  geeignet  erscheinen,  Erkrankungen  und  Todes- 
fälle durch  Milzbrandvergiftung  zu  verhüten". 3)  Bald  nach  ihrer 
Konstituierung  richtete  die  Kommission  eine  Eingabe  an  den  Stadt- 
magistrat Nürnberg,  aus  der  wir  die  folgenden  Sätze  wörtlich  an- 
fuhren : „Aerztlichen  Gutachten  zufolge  kann  durch  die  Desinfektion 
der  Rohprodukte  der  die  Krankheit  erzeugende  Milzbrandbacillus 
getötet  werden.  In  der  Erwägung,  dafs  die  Erkrankung  nicht  nur 
hier  am  Orte,  sondern  auch  anderwärts  schon  vorgekommen,  kann 
dieser  Seuche  nur  durch  Erlafs  eines  diesbezüglichen  Reichsgesetzes 
gesteuert  werden.  Bis  jedoch  der  deutsche  Reichstag  ein  derartiges 
Gesetz  zur  Beratung  bringt,  erachtet  es  die  Kommission  als  eine 
unbedingte  Notwendigkeit,  den  Stadtmagistrat  als  Sanitätsbehörde 


*)  Die  Jahresberichte  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  und  Bergbehörden  für  das 
Jahr  1901  führten  z.  B.  unter  Milzbrand  ca.  20  und  unter  Tiererkrankungen,  ca. 
40  bcz.  Stellen  an  auf  den  S.  34 1 u.  401  f.  im  IV.  (Register)  Band. 

*)  Kubier  a.  a.  O.  S.  469. 

*)  Fränkische  Tagespost  Nr.  188  vom  14.  August  1894. 


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Adolf  Braun,  Schutz  der  Arbeiter  in  den  Tierhaar-  und  Borstenindustrien. 


zu  veranlassen : durch  ortspolizeiliche  Vorschriften  die  Desinfektion 
der  Rohmaterialien  zu  bewerkstelligen;  bei  kompetenter  Stelle  zu 

veranlassen,  dafs  eine  derartige  Vorschrift  Reichsgesetz  werde “ 

Am  24.  September  1894  richtete  die  ..Milzbrandkommission“  eine 
Hingabe  an  das  Kaiserliche  Gesundheitsamt  in  Berlin.  In  derselben 
wird  auf  die  wiederholten,  durch  Milzbrandinfektion  verursachten 
Erkrankungen  und  Todesfälle  in  der  Bürsten-  und  Pinselindustrie 
und  auf  eine  auf  Veranlassung  der  „Milzbrandkommission“  erlassenen 
ortspolizeilichen  Verordnung  für  das  Gebiet  der  Stadt  Nürnberg 
hingewiesen.  Stabsarzt  Kübler  erwähnt  in  seiner  citierten  Abhand- 
lung diese  wichtigen  Anregungen  nicht,  wohl  aber,  dafs  im  Dezember 
1894  die  bayerische  Regierung  — unzweifelhaft  veranlafst  durch 
die  Anregungen  der  Nürnberger  Pinselarbeiter  — die  Frage  der 
Verhütung  des  Milzbrandes  bei  der  Reichsverwaltung  in  Fluls 
brachte.1)  Nach  längeren  Vorarbeiten  wurden  am  14.  und  1 5.  Juni 
1897  im  Kaiserlichen  Gesundheitsamte  unter  Zuziehung  von  hygie- 
nischen Sachverständigen,  sowie  von  Unternehmern  und  Arbeitern 
der  Rofshaarspinnercien,  der  Pinsel-  und  Bürstenindustrie  Beratungen 
über  die  zur  Milzbrandverhütung  geeigneten  Mafsregeln  gepflogen. 
Unter  den  zugezogenen  Arbeitern  war  auch  der  Pinselmacher  und 
spätere  Nürnberger  Arbeitersekretär  Konrad  Dom , dem  das 
Verdienst  nicht  abgesprochen  werden  kann,  die  Frage  unter  den 
Nürnberger  Arbeitern  in  Flufs  gebracht  zu  haben  und  ihr  auch  nach 
Verlassen  des  Berufes  die  eingehendste  Aufmerksamkeit  geschenkt 
zu  haben.  -)  Die  Ergebnisse  der  Beratung  *)  waren  Uebereinstimmung 
über  die  Notwendigkeit  der  Desinfektion  des  Rohmaterials  und  über 
die  hierbei  anzuwendenden  Methoden.  Die  Unternehmer  wollten 
nur  russisches  und  chinesisches  Material  der  Desinfektion  unter- 
worfen wissen , während  die  Arbeiter  schon  damals  die  Des- 
infektion des  gesamten,  auch  des  inländischen  Materials  forderten, 
u.  zw.  nicht  blofs  der  Schweinsborsten,  sondern  auch  der  Rots-, 
Kuh-  und  Ziegenhaare,  während  die  Unternehmer  die  Desinfektion 
ausländischer  Ziegenhaare  als  Chikane  betrachteten. 

Man  einigte  sich  über  die  Notwendigkeit  von  Vorschriften  über 


*)  K ü b I e r a.  a.  O.  S.  457. 

*)  Seiner  ausgezeichneten  Sammlung  des  einschlägigen  Materials  verdanke  ich 
die  Grundlagen  für  diese  Arbeit,  die  durch  mündliche  Auskünfte  des  Herrn  Dorn 
sehr  gefördert  wurde. 

3)  K.  G.  A.  Nr.  363097. 


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380 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


die  Reinhaltung  und  Lüftung  der  Betriebsräunie,  über  die  Reinigung 
der  Plätze  vor  den  Lagerräumen,  über  das  Untersagen  des  Essens 
und  Trinkens  in  den  Arbeitsräumen.  Die  Forderung  besonderer 
Speiseräume  wurde  nicht  unterstützt,  die  von  besonderen  Wasch- 
und  Ankleideräumen  zwar  für  berechtigt  anerkannt,  aber  für  die 
Aufnahme  in  eine  etwaige  Verordnung  nicht  empfohlen,  dem  Vor- 
schlag Dorns,  eine  Höchstarbeitszeit  festzusetzen  wurde  nicht  zuge- 
stimmt, dagegen  der  Ausschluß  jugendlicher  Arbeiter  von  der  Be- 
schäftigung mit  ungereinigtem  Material  empfohlen.  Vergeblich  war 
der  Versuch  Dorns,  die  Aufmerksamkeit  der  Kommission  auf  die 
gesundheitlichen  Gefahren  der  Hausindustrie  zu  lenken. 

In  einer  kurz  vor  Einberufung  der  Kommission  an  den  mittel- 
fränkischen Fabriken  und  Gewerbeinspektor  gerichteten  Eingabe 
hatte  die  Milzbrandkommission  der  Nürnberger  Arbeiter  auf  die 
Gefahr  der  Milzbrandinfektion  bei  den  Heimarbeitern  für  Pinsel- 
fabrikation aufmerksam  gemacht.  Der  Aufsichtsbeamte  hatte  in 
einem  Schreiben  vom  20.  April  18971)  diese  Gefahren  anerkannt, 
aber  erklärt,  zunächst  keinen  gangbaren  Weg  zu  sehen,  wie  diese 
Heimarbeit  unmöglich  gemacht  werden  konnte.  Am  17.  Januar 
1898  referierte  Dorn  in  einer  Nürnberger  Versammlung  der  Arbeiter 
der  Bürsten-  und  Pinselindustrie  *)  über  den  Entwurf  der  Verord- 
nung und  über  den  Widerstand,  den  die  Kleinmeister  und  Klein- 
fabrikanten dem  Erlasse  der  Verordnung  entgegensetzten  *)  behaup- 
teten sie  doch  sogar,  dafs  Vergiftungen  an  Milzbrand  nicht  vorkämen. 
Die  Resolution  dieser  Versammlung  ist  von  grofser  Wichtigkeit, 
da  die  Erfahrungen  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  ergeben  haben, 
dafs  die  Durchführung  der  dort  aufgestellten  Forderungen  in  vielen 
Fällen  eine  Milzbrandinfektion  verhindert  hätte.  Einen  Teil  der 
dort  aufgestellten  F'orderungcn  trägt  endlich  die  Bekanntmachung 
vom  22.  Oktober  1902  Rechnung,  freilich  in  dem  wesentlichsten 
Punkte  in  der  Forderung  der  Desinfektion  des  inländischen  Materiales 
ist  auch  heute  dem  begründeten  Wünschen  der  Arbeiter  nicht 
Rechnung  getragen  worden,  obgleich  die  Notwendigkeit  einer  Be- 
stimmung dieser  Art  selbst  von  den  Unternehmern  anerkannt  wurde  *) 

*)  Nr.  962  Fabriken-  und  Gewerbeinspektion  Nürnberg. 

*)  Siche  den  Bericht  der  Fränkischen  Tagespost  Jahrgang  1898  Nr.  18  vom 
22.  Januar  1898. 

a)  z.  B.  Zeitschrift  der  Bürsten-,  Pinsel-  und  Kammfabrikation  Jahrgang  1S9S, 
Nr.  14  u.  15. 

4)  Diese  Forderung  wurde  für  alles  in-  und  ausländische  Material  mit  Ansnahme 


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Adolf  Braun,  Schutz  der  Arbeiter  in  den  Tierhaar-  und  Borstenindustrien,  ^gj 

und  durch  die  Fabrikinspektoren  bestätigte  Todesfälle,  die  verur- 
sacht wurden  durch  Verarbeitung  inländischen  Materials,  den  un- 
genügenden Schutz  durch  die  deutsche  Tierseuchengesetzgebung  klar 
ergeben  haben.  In  dem  ersten  Entwürfe  zu  einer  Verordnung  über 
die  Einrichtung  und  dem  Betrieb  von  Rofshaarspinnereien  etc.  *) 
war  auch  die  Desinfektion  von  ausländischen  Ziegenhaaren  empfohlen 
worden.  Als  der  Entwurf  der  Kommission,  die  zu  seiner  Beurteilung 
zusammen  berufen  war,  vorgelegt  wurde,  war  das  Wort  Ziegen- 
haare gestrichen,  es  wieder  in  die  Liste  der  desinfektionspflichtigen 
Rohstoffe  einzureihen,  gelang  den  Vertretern  der  Arbeiter  nicht. 
Ebensowenig  Erfolg  hatte  ihre  Anregung  eines  Verbotes  haus- 
industrieller Verarbeitung  von  Tierhaaren  und  Borsten.  Auch  die 
neueste  Verordnung  verschliefst  sich  der  Wichtigkeit  dieser  An- 
regung, obgleich  die  Arbeiter  alle  Behörden  auf  diese  in  der  Haus- 
industrie doppelt  schweren  Gefahren  aufmerksam  gemacht  hatten. 
Der  Konferenz  im  Reichsgesundheitsamte  folgte  eine  weitere  *) 
im  Reichsamte  des  Innern,  und  dann  der  Erlafs  der  Bekanntmachung 
vom  28.  Januar  189g,  die  am  I.  Juli  1899  in  Kraft  trat. 

Die  Desinfektion  inländischer  Haare  und  Borsten  aller  Art  blieb 
ausgeschlossen , ausländische  Ziegenhaare  konnten  in  nicht  des- 
infiziertem Zustande  verarbeitet  werden.  Die  Verordnung  erfüllte 
ihren  Zweck  nicht,  die  beteiligten  Arbeiter  Nürnbergs,  die  in  dieser 
Frage  die  Führung  behielten,  protestierten  sofort  gegen  den  nicht 
ausreichenden  Schutz,  den  diese  Verordnung  bot.  Sie  erklärten  in 
einer  am  6.  März  1899  abgehaltenen  Versammlung8)  auf  Grund 
eines  Referates  des  Arbeitersekretärs  Dorn,  dafs  der  auf  auslän- 
disches Material  beschränkte  Desinfektionszwang  ungenügend  sei. 
Die  Versammlung  beschlofs  ferner,  an  den  Reichskanzler  eine  Denk- 
schrift zu  richten,  die  am  IO.  März  1899  abgesandt  wurde,  ln  der- 
selben wurde  die  Ausschreibung  eines  Preises  für  Auffindung  eines 
zweckentsprechenden  Desinfektionsmittels  empfohlen,  ferner  wurde 
die  Forderung  auf  Desinfektion  des  inländischen  Materials  wieder- 

der  Schweineborsten  in  einer  am  8.  März  1899  an  den  Bundesrat  gerichteten  Eingabe 
befürwortet,  siche  auch  die  Eingabe  der  Arbeiter  an  den  Reichskanzler  vom 
10.  März  1899. 

*)  S.  Entwurf  von  Vorschriften  über  die  Einrichtung  und  dem  Betrieb  der 
Kofshaarspinnereicn,  Haar-  und  Borstenzurichtereicn  sowie  der  Borsten-  und  Pinsel- 
machereien  (vom  Jahr  1897). 

*)  Januar  1898. 

a)  Fränkische  Tagespost  Nr.  6 2 vom  14.  März  1899. 


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382 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


holt,  endlich  wurde  die  Ausdehnung  der  Verordnung  auf  die  kleineren 
Betriebe  verlangt.  Eine  Antwort  auf  diese  Eingabe  war  an  die 
Petenten  nicht  eingelaufen.  Das  Ungenügende  der  Verordnung  ergab 
aber  die  Praxis. 

Fälle  von  Milzbrand  mufsten  in  den  Jahresberichten  der  Ge- 
weibeaufsichtsbeamten  festgcstellt  werden.  Der  schon  erwähnte 
Fall  einer  Milzbrandinfektion  bei  der  Verarbeitung  von  Ziegenhaaren 
veranlafste  den  Stadtmagistrat  von  Nürnberg  zur  Ergänzung  seiner 
ortspolizeilichen  Verordnung,  durch  die  nun  auch  Ziegenhaare  dem 
Desinfektionszwange  unterworfen  wurden.  Infektion  durch  Felle 
und  Haare  von  inländischen , milzbrandkranken  Tieren  wurden 
amtlich  festgestellt.  Im  Reichstage  wurde  von  den  Abgeordneten 
Nürnbergs  auf  die  Mängel  der  Verordnung  hingewiesen,  die  Milz- 
brandkommission der  Nürnberger  Pinselarbeiter  richtete  neuerdings 
Eingaben  an  den  Stadtmagistrat  der  Stadt  Nürnberg  und  an  den 
Reichskanzler.  In  diesen  Petitionen  wurde  hingewiesen,  dals  trotz 
der  Verordnung  Erkrankungen  und  Todesfälle  an  Milzbrand  vor- 
kämen, dafs  der  Schutz  gegen  die  Milzbrandgefahr  unzureichend  sei. 
Mit  Hinweis  auf  eine  am  13.  Mai  1901  stattgefundene  Versamm- 
lung ')  wurde  der  gleiche  Desinfektionszwang  für  das  inländische 
wie  für  das  ausländische  Material  gefordert,  ebenso  die  Einbeziehung 
der  Ziegenhaare  unter  den  Desinfektionszwang.  Wörtlich  heilst  es 
in  der  Eingabe  an  den  Stadtmagistrat,  dafs  gewünscht  wird,  dafs 
die  besonderen  nur  für  grofse  Betriebe  geltenden  Vorschriften  auf 
alle  ausgedehnt  werden,  da  gerade  in  den  kleineren  Betrieben  die 
hygienischen  Anforderungen  am  meisten  zu  wünschen  übrig  lassen. 
Des  weiteren  soll  auch  der  Heimarbeit  gröfsere  Aufmerksamkeit 
zugewendet  und  die  Verarbeitung  von  nicht  desinfizierten  Materials 
in  den  Wohnungen  der  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  verboten 
werden.  Auf  Grund  dieser  in  ähnlicher  Weise  in  einer  die  Ein- 
gabe an  den  Reichskanzler  gemachten  Vorschläge  wurden  Wünsche 
auf  Erlafs  einer  ortspolizeilichen  Verordnung  durch  den  Stadt- 
magistrat und  auf  Aenderung  der  Verordnung  vom  2t.  März  1899 
durch  den  Reichskanzler  ausgesprochen.  Auf  weitere  Wünsche, 
welche  mehr  die  Technik  der  Desinfektion  betreffen,  gehen  wir 
nicht  weiter  ein.  Endlich  wurde  eine  neue  Bekanntmachung  er- 
lassen, welche  am  1.  Januar  1903  in  Kraft  trat.8) 

')  Fränkische  Tagespost  Nr.  III  vom  14.  Mai  1901.  Reichs-Gesetzblatt  1902 
Nr.  43  S.  269 — 274  (Nr.  2900). 

*i  Reichs-Gesetzblatt  1902  Nr.  43  S.  269 — 274  (Nr.  2900). 


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Adolf  Braun,  Schutz  der  Arbeiter  in  den  Tierhaar-  und  Borstenindustrien.  385 

Die  infolge  dieser  Bemühungen  erlassene  Verordnung  vom 
22.  Oktober  1902  erfüllt  ihren  Zweck  leider  noch  nicht  in  ge- 
nügendem Mafse,  wenn  sie  auch  einigen  Fortschritt  gegenüber  ihrer 
Vorgängerin  aufweist.  Die  Verordnung  wurde  nun  ausgedehnt  auf 
diejenigen  Anlagen  in  denen  Ziegenhaare  zugerichtet  oder  ver- 
arbeitet werden.  Der  Desinfektionszwang  wurde  nun  auch  auf 
Ziegenhaare  ausgedehnt,  jedoch  blieb  das  inländische  Material  jeder 
Art  wie  bisher  vom  Desinfektionszwange  ausgeschlossen,  während 
in  Nürnberg  schon  seit  Jahren  die  inländischen  Rofshaare  und  seit 
dem  Jahre  1902  auch  die  inländischen  Ziegenhaare  desinfiziert  werden 
müssen.  Hinsichtlich  der  Desinfektionsverfahren  ist  ein  Fortschritt 
nicht  zu  verzeichnen.  Nach  wie  vor  werden  drei  Arten  von  Des- 
infektion zugelassen,  obgleich  die  Sachverständigen  dahin  überein- 
stimmen, dafs  blofs  eine  Desinfektion  mit  strömendem  Wasserdampfe 
mit  dem  nötigen  athmosphärischen  Ueberdruck  die  Milzbrandkeime 
sicher  vernichtet.  Während  bisher  jugendliche  Arbeiter  bei  der 
Ausführung  der  Desinfektion  in  Fabriken  nicht  beschäftigt  werden 
durften,  ist  dieses  Verbot  nun  auch  auf  alle  nicht  fabrikmäfsigen 
Betriebe  ausgedehnt  worden.  Die  formale  Einschränkung  dieser 
Bestimmung  in  der  Verordnung  vom  28.  Januar  1899  bis  zum 
1.  April  1909  ist  nun  weggefallen.  Eine  Zeitbeschränkung  findet 
also  nicht  mehr  statt.  Die  Abschliefsung  des  nichtdesinfizierten 
Materials  soll  nun  bedeutend  strenger  sein  als  bisher.  Während 
früher  dieses  Material  in  unter  Verschlufs  zu  haltenden  dichten 
Behältern  oder  Räumen  aufzubewahren  war,  wird  jetzt  be- 
stimmt, dafs  dies  nur  in  besonderen  unter  Verschlufs  zu  haltenden 
Räumen  aufzubewahren  ist.  Diese  Bestimmung  wird  dahin  ver- 
stärkt, dafs  das  Material  nur  auf  solchen  Zugängen,  und  Treppen 
in  diese  Räume  hinein  oder  aus  ihnen  herausgebracht  werden  darf, 
welche  von  den  mit  der  Bearbeitung  desinfizierten  oder  inländischen 
Materials  beschäftigten  Arbeitern  nicht  benutzt  werden.  Weitere 
räumliche  Scheidungen  und  hygienische  Mafsnahmen  sind  in  diesem 
wichtigen  § 9 der  Verordnung  aufgeführt.  Diese  Bestimmung  mufs, 
wenn  sie  strenge  durchgeführt  wird,  das  Aufhören  einer  nicht  ge- 
ringen Anzahl  von  Klein-  oder  Mittelbetrieben  zur  Folge  haben, 
welche  sich  die  teueren  Umbauten  und  Raumaufwendungen  nicht 
leisten  können.  Sonst  sind  eine  Reihe  von  Umstellungen  der  Be- 
stimmungen noch  zu  erwähnen.  Ausnahmen  von  der  Vorschrift 
im  § 9 soll  nach  dem  I.  Oktober  1903  nicht  gewährt  werden.  Ein 
Verbot  der  Heimarbeit  wie  ein  Gebot  allgemeiner  Desinfektions- 


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3»4 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


pflicht  bleiben  noch  immer  fromme  Wünsche.  Es  ist  leider  zu  be- 
fürchten, dals  auch  nach  Inkrafttreten  der  Verordnung  die  Arbeiter 
der  Haar-  und  Borstenindustrie  gegen  eine  Infektion  durch  Milz- 
brandsporen nicht  geschützt  sein  werden,  so  dafs  man  sich  endlich 
doch  entschliefsen  wird  den  von  Anfang  an  ausgesprochenen  Wün- 
schen der  Arbeiter  Rechnung  zu  tragen. 

Ein  tieferes  Eindringen  in  die  Geschichte  dieser  Verordnung 
würde  sich  lohnen,  weil  es  zeigen  würde  wie  selbst  auf  diesem 
Gebiete  der  Hygiene  widerstreitende  Interessen  der  Unternehmer 
und  der  Arbeiter  zu  beobachten  sind , und  wie  im  Deutschen 
Reiche  die  Rücksicht  auf  die  agrarischen  Wünsche  bis  in  das  Ge- 
biet elementarer  Sozialpolitik  ausschlaggebend  wirkt. 


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MISZELLEN. 

Die  Arbeitseinstellungen  und  Aussperrungen  in 
Oesterreich  während  der  Jahre  1894 — 1901. 

Von 

Dr.  CLEMENS  HEISS, 

in  Berlin. 

Seit  dem  Jahre  1891  wird  in  Oesterreich  eine  Statistik  über  die  im 
Gewerbebetriebe  vorkommenden  Arbeitseinstellungen  geführt.  Da  jedoch 
die  Nachweisungen  für  die  Jahre  1891  und  1892  nicht  im  Buch- 
handel erschienen  und  diejenigen  für  1894  gegenüber  den  Vorjahren  ') 
wesentlich  erweitert  sind,  ergiebt  sich  für  uns  die  Beschränkung  der 
Untersuchung  auf  die  Jahre  1894 — 1901  um  so  mehr,  als  die  im  Jahre 
1899  über  das  Jahr  1898  erschienene  Statistik  die  schon  im  Jahre  1894 
in  Aussicht  genommenen  Nachweisungen  der  Arbeitseinstellungen  und 
Aussperrungen  im  Bergbau  *)  für  die  Jahre  1894 — 1898  nachträgt  und 
so  für  diesen  Zeitraum  allein  durchweg  vergleichbare  und  vollständige 
Daten  vorliegen. 

Ueber  den  Umfang  der  Erhebungen  liestimmt  der  Erlafs  des  k.  k. 
Handelsministeriums  vom  7.  Dezember  1893 : 

„Die  Erhebungen  werden  nicht  lediglich  auf  die  Arbeits- 
einstellungen in  jenen  Betrieben,  deren  Rechtsverhältnis  in  der 
Gewerbeordnung  geregelt  ist,  zu  beschränken,  sondern  auf  alle 
übrigen  Unternehmungen  auszudehnen  sein,  insoweit  dieselben 
nicht  der  Aufsicht  des  k.  k.  Ackerbauministeriums  3)  unterstehen, 

’l  Die  Uebcrsichl  ftir  1893  bildete  eine  Beilage  der  „Statistischen  Monatsschrift“, 
Jahrgang  1894. 

Vgl.  Die  Arbeitseinstellungen  im  Gewerbebetriebe  in  Oesterreich  während 
des  Jahres  1894.  llerausgegeben  vom  Statistischen  Departement  im  k.  k.  Handels- 
ministerium. Wien  1896,  Alfred  Holder,  S.  3 Anm.  2. 

’)  Das  vom  k.  k.  Ackerbauministerium  gesammelte  Material  bezieht  sich  aus- 
Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  25 


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386 


Miszellen. 


oder  es  sich  nicht  um  den  Seegesetzen  unterliegende  See- 
schiffahrts-  oder  Seefischereibetriebe  handelt,  hinsichtlich  welcher 
die  analoge  statistische  Erfassung  etwa  vorkommender  Arbeits- 
einstellungen (lockouts,  sic!)  der  k,  k.  Seebehörde  bezw.  den 
Unterbehörden  derselben  übertragen  wurde.“ 

Ausgeschlossen  von  den  Erhebungen  sind  nur  die  iD  der  Land- 
wirtschaft vorkommenden  Arbeitseinstellungen  und  Aussperrungen. 

Die  Erhebungen  sind  an  der  Hand  von  Zahlblättern  von  den  poli- 
tischen Behörden  erster  Instanz  vorzunehmen  teils  durch  Ein- 
vernehmen der  Betriebsleitungen,  bezw.  der  Arbeiter,  teils  auf  Grund 
gewissenhafter  und  unparteiischer  Ermittlungen  der  ihnen  zur  Verfügung 
stehenden  Organe.  Für  jede  Arbeitseinstellung  oder  Aussperrung  ist  in 
der  Regel  ein  eigenes  Exemplar  des  Zählblattes  zu  verwenden.  Mehrere 
in  einem  politischen  Bezirke  gelegene,  von  ein  und  der- 
selben Strikebewegung  ergriffene  Unternehmungen  sind  nach  dem 
Erlafs  vom  12.  März  1895  'n  einem  Zählblatte  zu  behandeln,  sie  sind 
jedoch  namentlich  anzuführen  und  es  ist  davon  nur  dann  abzusehen, 
wenn  die  namentliche  Aufführung  wegen  ihrer  zu  grofsen  Anzahl  wirklich 
unthunlich  ist.  Die  Zahl  der  von  dem  Strike  nicht  ergriffenen  gleich- 
artigen Betriebe  in  dem  betreffenden  politischen  Bezirke  ist  unter 
allen  Umständen  anzugeben. 

Die  politischen  Behörden  erster  Instanz  haben  das  gesammelte 
Material  vierteljährlich  (neuerdings  monatlich)  den  Vorgesetzten  politischen 
Landesbehörden  vorzulegen.  Diese  übermitteln  die  eingegangenen  Zähl- 
blätter dem  Gewerbe-  bezw.  Schiffahrtsgewerbeinspektor,  der  darauf  seine 
Bemerkungen  einzutragen  hat,  worauf  die  Akten  an  die  Landesbehörden 
zurückgelangen  und  von  diesen  dem  Handelsministerium  vorgelegt  werden. 

Die  Bearbeitung  des  so  erhobenen  Materials  wurde  in  dem  Jahre 
1894 — 1896  vom  statistischen  Departement  im  k.  k.  Handelsministerium, 
von  1897  (erschienen  1899)  an  von  dem  am  1.  Oktober  1898  ins  Lehen 
getretenen  k.  k.  arbeitsstatistischen  Amte  im  Handelsministerium  vorge- 
nommen. Die  Gleichmäfsigkeit  der  Bearbeitung  ist  dadurch  gewahrt, 
dafs  der  Vorstand  des  Statistischen  Departements  (seit  1895)  Dr.  Victor 
Mataja  zum  Vorstand  des  arbeitsstatistischen  Amtes  ernannt  wurde. 

Eine  Definition  der  Arbeitseinstellung  enthält  weder  der  Erlafs  noch 
das  Zählblatt,  wohl  aber  heifst  es  in  einer  Anmerkung  des  letzteren  zu 
den  Aussperrungen:  „Aussperrungen  (lockouts),  d.  h.  von  den  Betriebs- 
inhabern zum  Behufe  der  Durchsetzung  ihrer  Wünsche  gegenüber  den 
Arbeitern  verfügte  Schliefsungen  der  Werkstätten.“  Nur  negativ  be- 
stimmen die  „Bemerkungen,  betreffend  die  Ausfüllung  des  Zählblattes: 

schliefslich  auf  die  Ausstände  beim  Bergbau.  Vgl.  „Die  Arbeitseinstellungen  und 
Aussperrungen  in  Oesterreich  während  des  Jahres  1898.  Herausgegeben  vom  Ar- 
beitsstatist. Amt  im  k.  k.  Handclministcriura“.  Wien  1899,  S.  5. 


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CI.  lleifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  387 

„Geringfügige  Arbeitsstreitigkeiten,  bei  welchen  keine  Ver- 
abredung und  kein  bestimmtes  Ziel  vorlag  und  eine  nur  mo- 
mentane Betriebsstörung  eintrat,  sind  nicht  nachzuweisen.  In 
diesbezüglich  zweifelhaften  Fällen  ist  jedoch  ein  Zählblatt  aus- 
zufüllen und  vorzulegen.“ 

Definiert  man  argumento  e contrario  nach  der  zu  den  Aussper- 
rungen im  amtlichen  Zählblatt  gegebenen  Erklärung  die  Arbeitseinstellung 
als  „die  von  den  Arbeitern  zum  Behufe  der  Durchsetzung  ihrer  Wünsche 
gegenüber  den  Unternehmern  veranstaltete  Niederlegung  der  Arbeit",  so 
wäre  die  Definition  offenbar  zu  weit.  Zu  einer  richtigen  Definition 
kommen  wir,  wenn  wir  aus  der  negativen  Anweisung  des  Zählblattes  noch 
das  über  die  Verabredung  Gesagte,  nicht  aber  das  über  eine  „blofs  mo- 
mentane Betriebsstörung“  Ausgeführte  herübernehmen.  Aus  den  in  dem 
amtlichen  Zählblatte  gegebenen  Anhaltspunkten  läfst  sich  also  folgende 
Definition  der  Arbeitseinstellung  geben : „Arbeitseinstellung  ist  die  von 
den  Arbeitern  zum  Behufe  der  Durchsetzung  ihrer  Wünsche  gegenüber 
den  Unternehmern  verabredete  Niederlegung  der  Arbeit.“  Setzen 
wir  hinter  dem  Worte  „verabredete"  in  vorstehender  Definition  noch  die 
Worte  oder  „gemeinsam  ausgeführte“  ein,  um  auch  die  spontan  ohne 
nachweisbare  Verabredung  ausbrechenden  Strikes  mit  zu  umfassen,  so 
dürfte  diese  aus  der  Praxis  hergeleitete  Definition  zutreffender  sein,  als 
die  von  der  Theorie  aufgestellten  Definitionen.  Stieda  z.  B.  definiert  im 
Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften  (2.  Aufl.,  Jena  1898  S.  730): 
„Man  versteht  unter  Arbeitseinstellung  die  gemeinsam  erfolgte,  freiwillige 
Niederlegung  der  Arbeit  seitens  der  in  einem  bestimmten  Berufe  be- 
schäftigten unselbständigen  Personen  in  der  Absicht,  ihren  Arl>eitsvertrag 
dadurch  günstiger  für  sich  zu  gestalten."  Diese  Definition  ist  offenbar 
zu  eng.  Denn  sie  schliefst  den  glücklicherweise  noch  nicht  praktisch  ge- 
wordenen, aber  namentlich  in  Frankreich  lebhaft  diskutierten  General- 
strike  aus.  Ferner  lassen  sich  Strikes,  wie  diejenigen,  bei  denen  es  sich 
um  Freigabe  des  1.  Mai,  Entlassung  mifsliebiger  Personen  handelt  oder 
wo,  wie  das  namentlich  in  England  sehr  häufig  vorkommt,  wegen  „ver- 
letzter Gefühle“  gestrikt  wird,  nur  dann  unter  diese  Definition  unter- 
bringen, wenn  man  den  Worten  Gewalt  anthut.  Und  es  ist  doch  kein 
Zweifel  darüber,  dafs  diese  Arbeitseinstellungen  sowohl  nach  dem  Sprach- 
gebrauch als  nach  Ansicht  der  Beteiligten  als  wirkliche  Strikes  anzu- 
sehen sind. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  keineswegs  als  Mangel  der  öster- 
reichischen Strikestatistik  anzusehen,  dafs  eine  amtliche  Festlegung  der 
Begriffe  „Strike“  und  „Aussperrung"  unterblieb.  Eine  für  alle  Vorkomm- 
nisse gleichmäfsig  verwendbare  Definition  dieser  Erscheinungen  des  wirt- 
schaftlichen Lebens  dürfte  auch  schwer  aufzustellen  sein ; vielfach  wird 
die  Entscheidung  darüber,  ob  ein  Strike  oder  eine  Aussperrung  oder 
vielleicht  überhaupt  keines  von  beiden  vorliegt,  nur  nach  den  besonderen 

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388 


Miszellen. 


Umständen  des  konkreten  Falles  zu  treffen  sein.  Deshalb  wurde  auch 
bei  der  in  der  2.  Sitzung  des  Arbeitsbeirats  des  arbeitsstatistischen  Amtes 
vorgenommenen  Beratung  des  Zählblattcs,  bei  der  Theoretiker  und 
Praktiker  von  beiden  Parteien  beteiligt  waren,  von  keiner  Seite  ein 
Wunsch  nach  einer  amtlichen  Formulierung  der  Begriffe  Arbeitseinstellung 
und  Aussperrung  laut. 

Auch  bezüglich  der  Dauer  der  nachzuweisenden  Arbeitsstreitigkeiten 
ist  mit  Recht  keine  ]>ositive  Bestimmung  getroffen.  Denn  es  kann  eine 
erfolgreiche  Arbeitseinstellung  von  kürzester  Dauer  sehr  wohl  gedacht 
werden.  Das  oben  nach  dem  amtlichen  Zählblatt  über  eine  „nur  mo- 
mentane Betriebsstörung“  Gesagte  gilt  ja  nur  von  geringfügigen  Arbeits- 
streitigkeiten , bei  denen  aufserdem  keine  Verabredung  und  kein  be- 
stimmtes Ziel  vorlag,  und  überdies  ist  in  zweifelhaften  Fällen  ein  Zähl- 
blatt auszufüllen  und  vorzulegen. 

Dafs  in  der  soeben  näher  präzisierten  Weise  als  geringfügig  anzu- 
sehende Arbeitsstreitigkeiten  von  der  Statistik  ausgeschlossen  sind,  kann 
man  nur  von  einem  einseitig  theoretischen  Standpunkt  aus  bedauern. 
Denn  derartige  Fälle  kommen  vielfach  gar  nicht  zur  Kenntnis  der  Be- 
hörde. Und  dann  ist  auch  wohl  zu  beachten,  dafs  die  unteren  Ver- 
waltungsbehörden, diese  Mädchen  für  alles,  was  alle  übrigen  Behörden 
nicht  thun,  doch  noch  eine  Menge  andere  Dinge  zu  thun  haben,  als 
Statistiken  zu  führen.  Wenn  man  ihnen  gar  zu  viel  zumutet,  dann  hat 
man  eben  auf  dem  Papier  nach  den  ausgegebenen  F.rlassen  und  Formularen 
eine  tadellos  vollständige  Statistik.  Sie  ist  aber  umso  unzuverlässiger.1) 

1 ) hatte  ich  anläßlich  der  Berufszählung  vom  Jahre  1895  allein  neben 
den  übrigen  Geschäften  eines  Amtmannes  mindestens  5 Zentner  Berufszählungslisten 
zu  revidieren  und  die  schon  sehr  detaillierte  Obcramtsliste  zusammenzustellen.  Als 
ich  damit  nicht  fertig  werden  konnte,  stellte  ich  auf  meine  Kosten  einen  Hilfsarbeiter 
dafür  an  und  nach  meiner  inzwischen  eingetretenen  Erkrankung  wurden  mir  die 
Kosten  hierfür  von  meinem  150  Mk.  monatlich  betragenden  Gehalt,  der  mir  auf 
den  Tag  13  Wochen  lang  weitergewährt  wurde,  abgezogen.  Andere  Beamte  haben 
die  Sache  allerdings  einfacher  und  vernünftiger  gemacht,  wie  ich  mich  später  bei 
Aufbereitung  des  gewonnenen  Materials  an  der  Zentralstelle  aus  der  Zahl  der  Re- 
visionsbemerkungen überzeugen  konnte.  Sie  haben  ihre  Revisionsarbeit  einfach  auf 
das  zur  Ausfüllung  der  Oberamtslisten  unbedingt  Erforderliche  und  das  Verschnüren 
der  Packete  nebst  obligatem  Erachtbrief,  im  Bürcaukratendeutsch  „Begleitbericht1' 
genannt,  beschränkt.  Dafs  eine  grofse  Zahl  von  Fehlem  von  der  mit  den  örtlichen 
Verhältnissen  nicht  vertrauten  Zentralbehörde  nicht  mehr  aufgefunden  werden  kann, 
liegt  auf  der  Hand.  Dafs  trotzdem  eine  so  grofse  Zahl  von  Revisionsbemerkungen 
notwendig  wurde,  wie  dies  wirklich  der  Fall  war,  berechtigt  mich  zu  der  Annahme, 
dafs  die  Revision  sich  auf  das  Allernotwendigste  beschränkte,  weil  eben  die  so  wie 
so  schon  mit  Geschäften  überhäuften  Verwaltungsbeamten  erster  Instanz  mit  dem 
besten  Willen  keine  Zeit  für  solch  zeitraubende  Arbeiten  linden. 


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CI.  Heifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  38g 

In  dem  Zählblatt  sind  nun  folgende  Punkte  aufgeftihrt: 

1.  Bezeichnung,  Kategorie  und  Standort  des  (bezw.  auch  Zahl  der) 
von  der  Arbeitseinstellung  betroffenen  Betriebes  (bezw.  Betriebe). 

2.  Angabe,  ob  und  wie  viele  dem  obigen  gleichartige  Betriebe  im 
Orte  (Bezirke)  vorhanden  sind,  bei  denen  eine  Arbeitseinstellung  nicht 
zu  verzeichnen  ist. 

3.  Anzahl  der  in  dem  obigen  Betriebe  bezw.  in  den  obigen  Be- 
trieben (Punkt  1)  unmittelbar  vor  dem  Beginne  der  Arbeitseinstellung 
beschäftigten  Arbeiter  (einschliefslich  der  Werkmeister.  Werkführer, 
Meister,  Vorarbeiter  u.  s.  w.),  getrennt  nach  Alter,  Geschlecht,  Ausbildung 
und  Verwendung  und  zwar 

Ia.  der  gelernten  Arbeiter, 

I b.  der  ungelernten  Arbeiter, 

Ic.  der  Lehrlinge, 

II  a.  der  unter  16  Jahre  alten  Arbeiter, 

II  b.  der  über  1 6 Jahre  alten  Arbeiter. ') 

4.  Haben  an  der  Arbeitseinstellung  teilgenommcn 

a)  alle  Arbeiter  des  obigen  Betriebes  (bezw.  der  obigen  Betriebe)  oder 

b)  alle  Arbeiter  bestimmter  fachlicher  Arbeitszweige  oder  Arbeits- 
stellungen und  welcher,  oder 

c)  war  die  Teilnahme  an  der  Arbeitseinstellung  eine  noch  weniger 
allgemeine?  Welche  Fachgruppen  und  Kategorieen  von  Arbeitern,  sowie 
welche  Anzahl  Arbeiter  in  jeder  derselben  war  in  diesem  Falle  beteiligt? 

Wie  grofs  war  demnach  in  dem  F'alle  b oder  c die  Gesamtzahl  der 
an  der  Arbeitseinstellung  teilnehmenden  Arbeiter? 

5.  a)  Höhe  des  von  den  Strikenden  unmittelbar  vor  Beginn  der 
Arbeitseinstellung  bezogenen  Wochenlohnes,  unterschieden  nach  den 
einzelnen  fachlichen  Arbeitszweigen  und  Arbeitsstellungen  (Kategorieen). 

b)  Tägliche  Arbeitsdauer  unmittelbar  vor  Beginn  der  Arbeits- 
einstellung. 

6.  a)  Unmittelbare  Veranlassung  der  Arbeitseinstellung. 

b)  Forderung  der  Strikenden  (möglichst  genau  spezifiziert  anzugeben, 
eventuell  unter  Anlehnung  an  in  Arbeiterversammlungen  etc.  gefafste 
Beschlüsse). 

7.  Datum  des  Beginns  und  der  Beendigung  der  Arbeitseinstellung. 

8.  a)  Art  der  Austragung  der  Arbeitseinstellung. 

b)  Ergebnis  der  Arbeitseinstellung. 

9.  Haben  Arbeitervereinigungen  (Fachvereine,  Gehilfenversammlungcn, 
ständige  Arbeiterausschüsse)  an  der  Organisation,  Durchführung  oder  Bei- 
legung der  Arl>eitseinstellung  teilgenommen  und  in  welcher  Weise? 

’)  Kilr  die  Rubriken  Ia  bis  II  b ist  je  eine  getrennte  Nachweisung  für  männ- 
liche und  weibliche  Arbeiter  verlangt. 


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390 


Miszellen. 


10.  Haben  sich  die  Arbeiter  (alle  oder  ein  Teil  derselben)  durch 
die  Arbeitseinstellung  eines  Kontraktbruches  schuldig  gemacht? 

1 1 . Sind  bei  der  Arbeitseinstellung  Störungen  der  öffentlichen  Ruhe, 
oder  andere  strafbare  Handlungen  und  welcher  Art  vorgekommen,  die 
ein  polizeiliches  Einschreiten  notwendig  machten? 

Wurden  Arbeiter  deshalb  gerichtlich  oder  polizeilich  schuldig  er- 
kannt und  wie  viele? 

12.  Haben  aus  Anlafs  der  Arbeitseinstellung  Ausweisungen  stattge- 
funden und  wie  viele? 

13.  a)  Anzahl  der  Personen,  welche  sich  zwar  nicht  selbst  an  der 
Arbeitseinstellung  beteiligten,  deren  Arbeit  aber  durch  dieselbe  oder  an- 
läfslich  derselben  unterbrochen  wurde,  unterschieden  nach  den  einzelnen 
fachlichen  Arbeitszweigen  und  Arbeitsstcllungen  (Kategorieen). 

b)  Dauer  des  Arbeitsentganges. 

14.  Summe  der  infolge  der  Arbeitseinstellung  den 

a)  an  derselben  beteiligten  Arbeitern, 

b)  im  Fragepunkte  1 3 genannten  Personen  entgangenen  Löhne. 

15.  Ist  ein  innerer  Zusammenhang  der  den  Gegenstand  der  obigen 
Nachweisung  bildenden  Arbeitseinstellung  mit  solchen  in  anderen  politi- 
schen Bezirken  (eventuell  im  Auslande  vorgefallenen)  erwiesen  und  mit 
welchen  ? 

Das  den  Beratungen  des  Arbeitsbeirats  zu  Grunde  gelegte,  durch 
Erlafs  des  k.  k.  Handelsministeriums  vom  22.  Februar  1899,  Z.  62766 
ex  1898  eingeführte  Zählblatt  enthält  im  wesentlichen  alle  im  vorstehenden 
aufgeführten  Punkte,  nur  in  anderer  Anordnung  und  Formulierung.  Um 
die  auch  in  der  bisherigen  Statistik,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  bereits 
durchgeführte  Unterscheidung  zwischen  Einzel-  und  Gruppenstrikes  besser 
durchfuhren  zu  können,  wurde  die  im  alten  Zählblatt  unter  i5  auf- 
geführte Frage  im  neuen  folgendermafsen  unter  4 formuliert: 

4.  Ist  ein  innerer  Zusammenhang  der  den  Gegenstand  der  vor- 
liegenden Nachweisung  bildenden  Arbeitseinstellung  mit  solchen  in  anderen 
Betrieben  (eventuell  in  anderen  politischen  Bezirken  oder  im  Aus- 
lande vorgefallenen)  erwiesen  und  mit  welchen? 

Die  Frage  nach  der  täglichen  Arbeitszeit  unmittelbar  vor  Beginn 
des  Strikes  wurde  dahin  näher  präzisiert,  dafs  die  effektive  tägliche 
Arbeitsdauer  (nach  Abzug  aller  Arbeitspausen)  zu  erheben  ist. 

Neu  sind  folgende  zwei  Fragen  hinzugekommen : 

„10.  Zahl  der  strikenden  Arbeiter,  welche  aus  Anlafs  der  Arbeits- 
einstellung 

a)  freiwillig  den  Arbeitsplatz  verlassen  haben: 

b)  entlassen  wurden : 

Zahl  der  neuaufgenotnmenen  Arbeiter: 

Bemerkungen,  ob  und  inwieweit  die  Arbeitsbedingungen  dieser 
letzteren  den  Forderungen  der  Strikenden  entsprechen: 


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CI.  Heifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  391 

i2.  Hat  der  Ausstand  eine  Betriebseinstellung  zur  Folge  gehabt: 

Im  ganzen  Etablissement  oder  in  welchen  einzelnen  Ab- 
teilungen oder  Dienstzweigen? 

In  welcher  Dauer? 

Falls  das  Zählblatt  sich  auf  mehrere  Betriebe  bezieht:  In 
wie  vielen  derselben  fand  die  Betriebseinstellung  statt?“ 

Neu  ist  ferner,  dafs  erhoben  werden  soll,  ob  es  sich  um  einen 
fabrikmäfsigen  Betrieb  handelt. 

Die  Frage  nach  dem  Kontraktbruch,  die  auch  in  der  deutschen 
Strikestatistik  einen  Stein  des  Anstofses  bildet,  hat  im  Arbeitsbeirat  die 
lebhaftesten  Debatten  hervorgerufen.  Von  Cemy  wurde  beanstandet, 
<iafs  nicht  ersichtlich  sei,  ob  der  Kontraktbruch  nach  der  Arbeitsordnung 
oder  nach  dem  Gewerbegesetz  gemeint  sei.  Der  Generalsekretär  der 
■Gewerkschaften  Hueber  war  der  Ansicht,  dafs  das  Koalitionsrecht  und 
das  Gewerbegesetz  bezüglich  dieser  F'rage  sich  widersprechen  und  die 
Behörden  darüber  noch  mit  sich  selbst  im  Widerspruch  seien.  Der  Abg. 
Dr.  Verkauf  wies  darauf  hin,  dafs  der  Kontraktbruch  zwar  nach  § 85 
der  Gewerbeordnung  strafbar  sei,  dafs  aber  der  § 82  a Fälle  aufführe, 
in  denen  Straflosigkeit  eintrete,  und  empfahl  daher,  dafs  ein  Kontrakt- 
bruch  nur  dann  angenommen  wird,  wenn  eine  Bestrafung  nach  § 85  der 
Gewerbeordnung  erfolgt  ist.  Es  wurde  dann  beschlossen,  nach  den  An- 
trägen Inaraa-Stemeggs , Philippovichs  und  Verkaufs  die  Frage  zu 
stellen,  ob  der  Arl>eitsvertrag  ein  Kündigungsrecht  enthalten  hat  und  die 
Arbeitseinstellung  oder  Aussperrung  unter  Anwendung  des  Kündigungs- 
rechts erfolgt  ist  bezw.  die  Niederlegung  der  Arbeit  vor  Ablauf  der 
Kündigungsfrist  erfolgt  ist,  und  die  Zahl  der  Bestrafungen  auf  Grund 
des  § 85  der  Gewerbeordnung  festzustellen. 

In  Oesterreich  kann  man  auch  diese  Frage  ruhiger  beurteilen,  was 
sich  schon  darin  zeigt,  dafs  von  keinem  Mitglied  des  Arbeitsbeirates 
die  Beseitigung  dieser  Frage  verlangt  wurde.  Dafs  man  diese  Frage  in 
Deutschland  zu  einer  Zeit,  wo  jenes  mit  dem  Namen  „Zuchthausvorlage“ 
gebrandmarkte  Attentat  auf  das  ohnehin  so  engherzige  Koalitionsrecht 
der  Arbeiter  geplant  und  zu  diesem  Zwecke  die  ganze  Strikestatistik  erst 
insceniert  wurde,  anders  beurteilen  mufste,  darüber  kann  man  sich  nicht 
wundern. 

Eine  praktische  Lösung  hat  das  Problem  in  dem  citierten  Erlafs 
vom  22.  Februar  1899  dadurch  gefunden,  dafs  dem  Hauptzählblatt  ein 
Einlageblatt  beigegeben  wurde.  Dieses  Einlageblatt  bezieht  sich  lediglich 
auf  Kontraktbruch  und  Versammlungen,  bezw.  Verbote  von  Versamm- 
lungen. Es  kann  dem  Hauptzählblatt  gleich  beigelegt  werden,  wenn 
dies  sofort  möglich  ist,  oder  es  ist  nach  Abschlufs  der  polizeilichen  und 
gerichtlichen  Untersuchung  nachzuliefern.  Auf  dem  Hauptzählblatt  ist 
ein  entsprechender  vorgedruckter  Vermerk  durch  Durchstreichen  zu  be- 
antworten. 


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392 


Miszellen. 


Noch  zwei  weitere  wichtige  Punkte  wurden  hauptsächlich  auf  Antrag 
des  Abgeordneten  Dr.  Verkauf  in  das  Zählblatt  aufgenommen : auch  nach 
der  Zahl  der  vorgenommenen  Arretierungen  und  Verhaftungen,  sowie 
nach  der  Anführung,  respektive  Charakterisierung  des  Thatbestandes  be- 
züglich der  verhängten  Strafen  zu  fragen,  sowie  die  Zahl  der  Abschiebungen 
und  Ausweisungen  festzustellen.  Des  weiteren  soll  auch  die  Zahl  der  Ver- 
sammlungen, sowie  der  etwaigen  Verbote  und  Auflösungen  ermittelt  werden. 

Das  neue  Zählblatt  hat  erstmals  auf  die  Erhebungen  der  Arbeits- 
einstellungen und  Aussperrungen  im  Jahre  1899  Anwendung  gefunden. 

Die  wörtliche  Wiedergabe  des  Erhebungsformulars  ohne  die  Er- 
läuterungen glaubten  wir  unseren  Lesern  nicht  ersparen  zu  dürfen,  da 
sonst  die  folgenden  Ausführungen  in  der  Luft  stehen  würden.  Eine  kri- 
tische Würdigung  fällt  aufserhalb  des  Rahmens  dieses  Referates.1)  Nur 
das  Urteil  eines  angesehenen  Gelehrten,  des  Professors  Stieda  wollen  wir 
hier  wiedergeben.  Stieda  sagt  im  1.  Band  des  Handwörterbuchs  der 
Staatswissenschaften  (2.  Aufl.)  S.  738  über  unsere  Statistik:  „Die  Ver- 
öffentlichungen ....  sind  mustergültig.  In  der  Uebersichtlichkeit  der 
Tabellen,  der  Vielseitigkeit  der  Gesichtspunkte,  in  die  sie  Einblick  er- 
öffnen, der  Klarheit  der  die  Ergebnisse  kurz  besprechenden  Einleitung 
können  sie  allen  Ländern  zur  Nachahmung  empfohlen  werden.“ 

Uelier  die  Ausdehnung  der  Ausstandsbewegung  giebt  folgende 
Uebersicht  Auskunft: 

Proz.  der  in  den  be- 


Arbeits- 

Beteiligte 

Strikendc 

teiligten  Betrieben 

Versäumte 

einstellungen 

Betriebe 

Arbeiter 

überh.  Beschäftigten 

Arbeitstage 

1894 

172 

2542 

67061 

69,47 

795416 

1895 

209 

874 

28652 

59,68 

300348 

1896 

305 

1 499 

66234 

65,73 

899939 

1897 

246 

851 

38467 

59,03 

368  098 

1898 

255 

885 

39658 

59,86 

323619 

1899 

31» 

1330 

54763 

60.23 

1029937 

1900 

303 

1003 

105 128 

67,29 

3483963 

1901 

270 

719 

24870 

38,5 

157744 

Ueber  die  Jahre  1891  bis  1896  liegen  noch  folgende  sich  auf  die 
Gewerbebetriebe  mit  Ausschlufs  des  Bergbaus  beschränkende  Daten  vor: 


Ausstände 

Beteiligte 

Betriebe 

Beschäftigte 

Arbeiter 

Slrikende 

1891 

104 

1917 

404S6 

14025 

1892 

IOI 

*5*9 

24621 

14123 

1893 

172 

1207 

45  539 

28  120 

1894 

*59 

2468 

60718 

44  075 

1895 

205 

869 

46036 

28026 

1896 

294 

*403 

57029 

36114 

’)  Vgl.  Mataja,  Die  Statistik  der  Arbeitseinstellungen  i.  d.  Jahrb.  filr  Nat- 
n.  Stat.  3.  F.,  Bd.  13,  S.  344—401. 


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CI.  H ei  fs,  Di«  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  393 

In  der  vorstehenden  Uebersicht  erscheinen  aufser  dem  letzten  Be- 
richtsjahre (1901)  die  Jahre  1891  und  1892  besonders  günstig;  letzteres 
Jahr  sogar  auch  dann  noch,  wenn  man  den  grofsen  Sinke  im  steirischen 
Kohlenbergbau  mit  ca.  2200  Strikenden  nochhinzurechnet.  Das  Jahr 

1895  we'st  'n  der  zweiten  Uebersicht  eine  mittlere  Strikebewegung  auf, 
während  es  in  der  ersten  die  niedrigste  Zahl  zeigt.  Die  höchste  Zahl 
zeigt  in  beiden  Uebersichten  das  Jahr  1894  und  1900  und  sie  fallt  also  in 
beiden  Fällen  zusammen  mit  dem  industriellen  Aufschwung.  Die  nächst- 
höchste Zahl  zeigt  in  beiden  Uebersichten  das  Jahr  1896,  das  in  der 
ersten  Uebersicht  zufolge  des  grofsen  Bergarbeiterstrikes  im  Ostrau- 
Karwiner  Revier  dem  Jahre  1894  fast  gleichkommt.  In  den  beiden 
folgenden  Jahren  ist  ein  erheblicher  Rückgang  der  Zahl  der  Strikenden 
zu  konstatieren,  dem  mit  den  Jahren  1899  und  1900  wieder  ein  ge- 
waltiges Emporschnellen  folgt.  Im  Jahr  1901  tritt  dann  wieder  ein  ge- 
waltiger Rückgang  ein.  Um  irgendwelche  allgemeinere  Schlüsse  zu 
ziehen,  dazu  ist  die  Beobachtungsperiode  zu  kurz.  Es  läfst  sich  auch  in 
den  bunt  wechselnden  Zahlen  keine  Regelmäfsigkeit  wahrnehmen.  Auf- 
fallend ist,  dafs  das  Jahr  1894  mit  der  zweithöchsten  Zahl  der  Strikenden 
und  der  betroffenen  Betriebe  die  geringste  Zahl  von  Arbeitseinstellungen 
nachweist.  Durchschnittlich  entfallen  im  Jahre  1894:390;  1895:137; 

1 896  : 21 7 ; 1897  und  1898  je  156;  1899 : 1 76 ; 1900 : 347  und  1901 : 92 
sinkende  Arbeiter  auf  eine  Arbeitseinstellung.  Das  Verhältnis  der  Arbeits- 
einstellungen zu  der  Anzahl  der  beteiligten  Betriebe  stellte  sich  in  den 
gleichen  Jahren  wie  1:14,60,  4,18,  4,74,  3,44,  3,47,  4,28,  1:3,31 
und  1 : 2,7.  Im  Jahre  1894  war  denn  auch  die  Beteiligung  am  Strike 
am  lebhaftesten.  Es  beteiligten  sich  nämlich  69,47  Proz.  aller  in  den 
beteiligten  Betrieben  beschäftigten  Arbeiter  am  Strike,  eine  ähnliche  In- 
tensität der  Strikebewegung  zeigt  nur  noch  das  Jahr  1896  mit  65,72  Proz. 
und  1900  mit  67,29  Proz.  Die  geringste  Beteiligung  weist  das  Jahr 
1901  mit  38,5  Proz.  auf.  In  allen  übrigen  Jahren  schwankt  das  Pro- 
zentverhältnis der  am  Strike  Beteiligten  um  60.  Die  Arbeiter  scheinen 
sich  also  um  so  lebhafter  am  Strike  zu  beteiligen,  einen  je  gröfseren 
Umfang  die  Bewegung  erlangt.  Dafs  sich  auch  in  diesem  Prozentver- 
hältnis kein  regelmäfsiges  Fortschreiten  wahrnehmen  läfst,  hängt  wohl 
damit  zusammen,  dafs  die  Organisation  der  Arbeiter  noch  zu  wenig  aus- 
gebaut ist. 

Die  hohen  Ziffern  des  Jahres  1900  sind  veranlafst  durch  die  grofse 
Austandsbewegung  im  Bergbau.  Läfst  man  nämlich  diesen  aufser  Be- 
tracht und  zieht  nur  die  übrigen  Erwerbszweige  in  Rechnung,  so  er- 
geben sich  strikende  Arbeiter  1894  44075,  1895  28026,  1896  36114 

1897  34835,  1898  32612,  1899  51286,  1900  26337,  *901  17374- 
Wenn  man  also  vom  Bergbau  absieht,  so  würde  1900  sogar  in  der 
ganzen  Reihe  die  zweitniedrigste  Ziffer  aufweisen. 

Von  Interesse  ist  auch  der  Anteil  der  einzelnen  Lander  (Ver- 


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394 


Miszellen. 


waltungsgebiete)  an  der  Strikebewegung.  Um  eine  gröfsere  Uebcrsicht- 
lichkeit  zu  erzielen,  beschränken  wir  uns  auf  die  Summe  der  strikenden 
Arbeiter  in  den  8 Beobachtungsjahren  zusammen  und  ordnen  die  Länder 
nach  ihrer  Bevölkerungsdichtigkeit,  wobei  wir  nur  Mähren  aufserhalb  der 
Reihenfolge  einzustellen  haben,  da  hier  die  Zahl  der  Strikenden  für 
mehrere  Jahre  mit  derjenigen  Schlesiens  zusammen  nachgewiesen  ist. 

Es  entfielen  in  den  Jahren  1894  bis  1901  zusammen  in  den  Ländern 


Einwohner 

Einwohner 

strikende  Arbeiter 

auf  den  qkm 

überhaupt 

zus.  in  8 Jahren 

1. 

Niederösterreich  . . 

• 148,6 

2 957  809 

79990 

2. 

Schlesien  .... 

1 29,8 

648918 

54578 

3- 

Mähren 

. 108,8 

2393012 

46  800 

4- 

Böhmen  .... 

. 11S.0 

6 118639 

164814 

s- 

Küstenland  .... 

• 91.5 

731675 

14422 

6. 

Galizien  ... 

• 9 t, 3 

7211512 

23289 

7- 

Bukowina  .... 

71,0 

709855 

329t 

8. 

Oberösterreich  . . . 

- 68,7 

823  593 

4905 

9- 

Steiermark  .... 

• 59-9 

1 341  7°i 

19526 

10. 

Krain 

51,0 

5°9  794 

1 ‘75 

1 1. 

Dalmatien  .... 

44,1 

572  907 

I 002 

12. 

Tirol  und  Vorarlberg 

. 3M 

345  106 

8845 

13. 

Salzburg 

. 26,1 

183329 

886 

Dafs  in  den  dünnbevölkerten  Bezirken  Strikes  seltener  Vorkommen, 
als  in  dichtbevölkerten,  kann  bei  einer  aufmerksamen  Prüfung  dieser 
Zahlen  nicht  überraschen.  In  dünnbevölkerten  Bezirken  ist  eben  in  der 
Regel  die  Industrie  weniger  entwickelt.  Eine  Ausnahme  machen  nur 
Steiermark  und  Tirol  und  Vorarlberg,  die  lrei  dünner  Bevölkerung  eine  ver- 
hältnisroäfsig  hohe  Strikeziffer  aufweisen.  Vergleicht  man  die  Einwohnerzahl 
und  diejenige  der  strikenden  Arbeiter,  so  findet  man,  dafs  auch  die  Kultur- 
entwicklung von  Einflufs  auf  die  verhältnismäfsige  Häufigkeit  von  Strikes 
bezw.  die  Zahl  der  strikenden  Arbeiter  ist.  Böhmen  weist  zwar  absolut  die 
höchste  Zahl  der  Strikenden  auf,  aber  im  Vergleich  zur  Bevölkerung  nimmt 
in  dieser  Hinsicht  unbedingt  Niederösterreich  die  erste  Stelle  ein  und 
Böhmen  rangiert  dann  erst  nach  Schlesien  und  Mähren.  Ebenso  weisen 
unter  den  Bezirken  mit  geringer  Bevölkerungsdichtigkeit  Tirol  und  Vorarl- 
berg und  Salzburg  gegenüber  den  kulturell  zurückstehenden  lindern, 
wie  Galizien,  Bukowina,  Kraiu  und  Dalmatien  eine  verhältnismäfsig 
höhere  Strikeziffer  auf. 

In  den  durch  besonders  hohe  Ziffern  der  Strikenden  ausgezeichneten 
Ländern  haben  sich  die  Verhältnisse  während  der  fünf  Beobachtungsjahre 
folgendermafsen  entwickelt.  Die  Zahl  der  strikenden  Arbeiter  betrug 


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CI.  Hcifs,  Die  Arbcitseinstellengen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901. 


1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

Niederösterreich 

33462 

l»534 

12  162 

5716 

4435 

3 583 

4172 

3926 

Mähren  ^ 

21 19s 

2 191  \ 

24  155 

2517 

2505 

15443 

7 752 

1 926 

Schlesien  j 

584  1 

'33° 

460 

I 025 

I9666 

589 

Böhmen  . . . 

10923 

7227 

20857 

15*5° 

19328 

28  98l 

54849 

7399 

Steiermark  . . 

212 

1 615 

1 956 

I SC>4 

4841 

2 020 

6576 

502 

ln  Steiermark  ist  bis  1898  eine  mit  einer  einzigen  geringen  Unter- 
brechung (1897)  stetige  Zunahme  der  Zahl  der  Strikenden  zu  beobachten; 
auf  einen  starken  Rückgang  im  Jahr  1899  folgt  ein  noch  viel  stärkeres 
Steigen  im  Jahr  1900,  dann  allerdings  ein  noch  viel  stärkerer  Rückgang 
im  letzten  Jahr.  In  Niederösterreich  dagegen  ist  die  Zahl  der  Strikenden  — von 
einem  unerheblichen  Steigen  im  vorletzten  Jahr  abgesehen  — in  stetigem,  un- 
unterbrochenem Rückgang  begriffen.  Die  Jahre  1895,  1897  und  rgoi  cha- 
rakterisieren sich  durchweg  als  verhältnismäfsig  ruhige  Jahre.  Dasselbe  trifft 
mit  Ausnahme  Böhmens  und  der  Steiermark  für  1898  zu.  1894  und  1896 
waren,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  die  Jahre  mit  der  lebhaftesten  Arbeiter- 
bewegung der  ganzen  Periode.  Im  Jahre  1894  beteiligten  sich  hieran  vor 
allem  NiederösteiTeich,  dann  Mähren  und  Schlesien,  während  Böhmen  die 
zweitniedrigste  Ziffer  in  der  ganzen  Beobachtungsperiode  aufweist;  im 
Jahre  1896  dagegen  war  die  Bewegung  am  lebhaftesten  in  Mähren, 
Schlesien  und  Böhmen,  während  sie  in  Niederösterreich  noch  hinter  dem 
verhältnismäfsig  ruhigen  Jahre  1895  zurückstand.  Die  starke  Strike- 
bewegung  des  Jahres  1 899  tritt  besonders  hervor  in  Mähren  und  Böhmen ; 
diejenige  des  Jahres  1900  in  den  Bergbauländern:  Böhmen,  Schlesien 
und  Steiermark.  1901  ist  die  Strikebewegung  gegenüber  dem  Vorjahr 
besonders  stark  in  Galizien  und  im  Küstenland. 

Von  den  in  den  nachgenannten  Jahren  vorgekommenen  Arbeits- 
einstellungen zählten  zu  den  G r u p p e n s t r i k e s , d.  h.  solchen,  bei  denen 
eine  Mehrzahl  von  Unternehmungen  durch  eine  und  dieselbe  Strikebe- 
wegung ergriffen  wurde  und  namentlich  ein  gemeinsames  Vorgehen  der 
in  den  verschiedenen  Unternehmungen  beschäftigten  Arbeiter  nachweisbar 
war:  1894  32  — 18,60  Proz.,  1895  36  = 16,74  Proz.,  189666  = 21,64 
Proz.,  1897  41  = 16,67  Proz.,  1898  52  = 20,39  Proz.,  1899  45  = 
14,47  Proz.,  1900  39  - 12,87  Proz.  und  iqoi  29  =-  10,7  Proz.  aller  im 
betreffenden  Jahre  vorgekommenen  Strikes.  Von  den  strikenden  Arbeitern 
entfielen  im  Jahre  1894  50982  = 76,02  Proz.,  1895  1 5 514  = 54,1 5 Proz., 
1896  40597=  61,29  Proz.,  1897  13600  = 35,36  Proz.,  1898  17227 
= 43,44  Proz.,  1899  27467  = 50,16  Proz.,  1900  73029  = 69,47  Proz. 
und  1901  5431  = 21,8  Proz.  aller  strikenden  Arbeiter  auf  die  Gruppen- 
strikes. 

Unter  Kinzelstrikes  versteht  die  österreichische  Statistik  solche, 
die  nur  eine  Unternehmung  oder,  wie  dies  beim  Bergbau  des  öfteren  vor- 
kommt,  mehrere  Betriebe  einer  Unternehmung  betreffen.  Einzelstrikes 
fanden  statt:  im  Jahre  1894  140  = 81,40  Proz.,  1895  174=83,26  Proz., 


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390 


Miszellen. 


1896  239  = 78,36  Proz.,  1897  205  = 83,33  Proz.,  *898  203  = 79,61 
Proz.,  1899  266  = 85,53  Pro*.,  1900  264  = 87,13  Proz.  und  1901 
24:  — 89,3  Proz.  aller  Strikes.  An  ihnen  waren  beteiligt:  1894  16079 
= 23,98  Proz.,  1895  13  i38  = 45-85  Proz.,  1896  25  637  = 38,71  Proz., 

1897  24  867  = 64,64  Proz.,  1898  22431  = 56,56  Proz.,  1899  27296  = 
49,84  Proz.,  1900  32099  = 30,53  Proz.  und  1901  19  439  = 78,2  Proz. 
aller  strikenden  Arbeiter. 

Während  demnach  hinsichtlich  der  Zahl  der  Strikefälle  die  Einzel- 
strikes  durchweg  überwiegen,  kommt  ihnen  hinsichtlich  der  Zahl  der 
strikenden  Arbeiter  eine  solch  hervorragende  Bedeutung  nur  in  den 
beiden  Jahren  1897,  1898  und  190  t zu.  In  den  übrigen  Jahren  über- 
wiegen in  dieser  Hinsicht  die  Gruppenstrikes  trotz  ihrer  geringen  Zahl,  atn 
stärksten  in  den  Jahren  1894,  1896  und  1900  mit  den  höchsten  Ziffern 
der  strikenden  Arbeiter. 

Folgende  Produktionszweige  waren  in  den  vergangenen  fiinf 
Jahren  am  stärksten  an  Ausständen  beteiligt: 


Prozent  aller  strikenden  Arbeiter 


1S94 

1895 

1S96 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

Bergbau 

Industrie  in  Steinen,  Er- 

34,^8 

2,19 

45,47 

9,44 

17,17 

6,35 

74,95 

30,1 

den,  Thon  uud  Glas 

9,58 

34,70 

4,86 

7,94 

11,33 

3,86 

0,55 

6,S 

Metallverarbeitung 

4,10 

12,89 

4.49 

4,08 

2,50 

4,49 

1,88 

5i5 

Erzeugung  vonMaschinen 
Industrie  in  Holz-  und 

0,29 

0,88 

3,n 

12,19 

6,23 

2,47 

0.49 

3,6 

Schnitzwaren  u.  Kaut- 
schuk   

14,60 

8,  iS 

9,02 

3,59 

3,22 

5,84 

1,32 

1 1.8 

Textilindustrie  .... 
Industrie  in  Nahrungs-  u. 

9,42 

14,26 

14,78 

29,31 

8,00 

55,24 

11,42 

10.7 

Gcnufsmitteln  s . . 

o,44 

1,80 

18,71 

0,54 

3,95 

6,09 

2,76 

0,22 

7,3 

Baugewerbe  .... 

22,33 

8,20 

12,98 

35,20 

•4,32 

4,61 

12.9 

Alle  übrigen  .... 

4,96 

6,42 

9,53 

16,52 

10,26 

4.67 

4.56 

11.3 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

100.0 

Prozent  aller  versäumten  Arbeitstage 

(Schicht 

en)  der  Strikenden 

1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

Bergbau 

Industrie  in  Steinen,  Er- 

28,81 

0,83 

33,80 

3,56 

16,91 

2,29 

88,08 

15,6 

den,  Thon  und  Glas 

3,90 

30,93 

5.28 

16,59 

13.98 

1,95 

0,28 

20,4 

Metallverarbeitung  . . 

4,76 

18,20 

4,87 

12,42 

3,31 

3.66 

0,26 

7,4 

Erzeugung  von  Maschinen 
Industrie  in  Holz-  und 

0,20 

0,56 

4,99 

n,33 

1 1,16 

1,89 

0,15 

4,8 

Schnitzwaren  u.  Kaut- 
schuk   

35,49 

18,08 

16,82 

4.47 

9,52 

4.76 

0,32 

21.7 

Textilindustrie  . . . 

Industrie  in  Nahrungs-  u. 

5,73 

11,27 

26,1 1 

26,45 

6,91 

77,10 

7,49 

8,0 

Gcnufsmitteln  . . . 

0,12 

0,38 

0,14 

1,92 

2,23 

0,46 

0,00 

7,4 

Baugewerbe  .... 

16,48 

9,50 

2,74 

io,35 

24.21 

5.54 

1,09 

3*5 

Alle  übrigen  .... 

4,5 1 ') 

10,25') 

5.25') 

12,91') 

11,77') 

2.35') 

2,27') 

1 1,2 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

100,0 

')  Dies  die  Ziffern  der  amtlichen  Publikation  l'Ur  das  Berichtsjahr  1900;  die 


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CI.  H ei fs , Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 190! . 397 

Weitaus  am  gröfsten  war  hiernach  die  Neigung  zum  Striken  im 
Bergbau  und  Baugewerbe;  hieran  schliefsen  sich  die  Textilindustrie,  die 
Industrie  der  Steine,  Erden,  Thon  und  Glas  und  die  Holzindustrie.  Der 
relative  Anteil  der  Holzindustrie  an  der  Gesamtausstandsbewegung  geht 
bis  zum  Jahr  1900  stetig  zurück,  um  alsdann  allerdings  wieder  plötzlich 
cmporzuschnellen ; derjenige  der  Maschinen-  und  Textilindustrie  steigt  von 
1894  bis  1897  stetig,  fällt  aber  dann  umso  stärker  im  folgenden  Jahre, 
um  bei  der  Textilindustrie  im  Jahr  1899  überhaupt  die  höchste  Zahl  zu 
erreichen,  worauf  bei  beiden  Industriezweigen  wieder  ein  starker  Rück- 
gang folgt. 

Ueber  die  absoluten  Zahlen  der  von  Strikes  in  den  genannten  In- 
dustriezweigen betroffenen  Betriebe,  der  darin  beschäftigten  Arbeiter  und 
der  Erfolge  der  Strikes  giebt  nachstehende  Uebersicht  Auskunft. 

(Siehe  die  Tabelle  auf  S.  398  u.  399.) 

Da  wir  die  umfangreiche  Tabelle,  die  für  die  einzelnen  Gewerbe- 
arten  eine  „beschreibende  Darstellung  der  Arbeitseinstellungen  gesondert 
nach  einzelnen  Fällen“  giebt,  nicht  wiedergeben  können,  heben  wir  aus 
derselben  für  die  einzelnen  Berufe  die  beutenderen  Strikes,  an  denen 
sich  mehr  als  200  Arbeiter  beteiligt  haben,  hervor. 

Im  Bergbau  entfielen  alle  liedeutenderen  Strikes  auf  den  Kohlen- 
bergbau; auf  die  daneben  nachgewiesenen  Naphthabergbaue  kam  nur 
im  Jahre  1898  1 Strike  mit  52,  1900  ein  solcher  mit  14  und  1901 
ein  solcher  mit  2291  strikenden  Arbeitern.  Die  Zinkbergbaue  hatten 
1899  2 Strikes  mit  to3  und  1900  1 Strike  mit  248  strikenden  Arbeitern. 

In  der  Industrie  in  Steinen,  Erden.  Thon  und  Glas  zeigten  die 
Ziegelwerke  die  stärkste  Arbeiterbewegung  mit  5474  Strikenden  im 
Jahre  1894,  9197  1895,  867  1896,  2157  1897,  164  1898,  1436  1899, 
160  iqoi,  während  im  Jahre  1900  kein  Strike  vorkam.  Hieran  schliefsen 
sich  die  Glasschleifereien,  bei  denen  in  den  Jahren  1894  und  1901  kein 
Strike  vorkam,  mit  157  Strikenden  im  Jahre  1895,  355  1896,  98  1897, 
2923  1898,  110  1899  und  88  1900;  in  den  Porzellan-  und  Steingut- 
fabriken kam  1894,  1898  und  1900  ebenfalls  kein  Strike  vor,  1895 
strikten  116,  1896  527,  1897  351,  1899  110  nnd  1901  43  Arbeiter. 
In  den  Glasfabriken  strikten  1894  345;  1895  214,  1896  335,  1897 
104,  1898  491,  1S99  170,  1900  163  und  1901  100  Arbeiter;  in  den 
Steinbrüchen  1894  141,  1895  I7>  1896  159,  1897  o,  1898  386,  1899 
213,  1900  34  und  1901  118  Arbeiter.  In  den  Steinmetzbetrieben 
strikten  1895  42,  1S96  155,  1897  311,  1898  161,  1809  20,  1900  116 
und  1901  1189  Arbeiter. 

Bei  der  Metallverarbeitung  ist  im  Jahre  1896  die  Strikebe- 
•wegung  der  Spengler  mit  1008  Strikenden  und  in  den  Metallwaren- 

für  1901  gibt  folgende  abweichende  Ziffer:  3,4;  4,8:  2.2;  14,0;  11,3;  2.0;  1.4  und 
1 1,2  ohne  einen  Grund  für  die  Abweichung  anzugeben. 


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CI.  H cifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  399 


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aufscrhulb  der  Klammern  bedeutet  die  Zahl  der  StrikefiÜlc. 


400 


Miszellen. 


fabriken  im  Jahre  1900  mit  1152  und  1895  mit  992  Strikenden  (1896 
110,  1898  101  und  1899  208)  am  lebhaftesten  gewesen.  1894  strikten 
925  Nagel-  und  Drahtstifterzeuger  (1901  429),  1895  971  Arbeiter  in  Emaille- 
werken, 1894  861  Arbeiter  in  Lampenfabriken,  1897  562  Arbeiter  der 
Luster-  und  Broncewaren-Erzeugung,  1895  4°2  und  1896  440  Schlosser- 
warenerzeuger und  1897  212  in  Bau-  und  Kunstschlossereien  beschäftigte 
Arbeiter.  In  4 Eisenmöbelfabriken  strikten  1 896  515;  in  Eisenwerken 
1895  504  und  1899  574  Arbeiter;  1897  171  und  1899  238  Arbeiter 
in  Feilenhauereien  und  Feilenschleifereien;  1899  349  Arbeiter  in  Gufs- 
stahlwerken  (1894  150  und  1897  1 3 1) ; 1899  225  in  Metallgiefsereien 
(1897  118).  Aufser  den  aufgeführten  vereinzelten  Fällen  kehrten  Ar- 
beiterbewegungen in  dieser  Industriegruppe  regelmäfsig  nur  in  den 
Eisengiefsereien  wieder,  wo  1894  479,  1895  390,  1896  229,  1897 
dagegen  nur  6,  1898  263,  1899  89,  1900  255  und  1901  113  Arbeiter 
strikten. 

In  der  Gruppe  derErzeugung  von  Maschinen,  Apparaten, 
Instrumenten  und  Transportmitteln  entfielen  die  bedeutend- 
sten Strikes  1897  auf  die  Schiffswerften  mit  3262  (1901  mit  318),  1898 
auf  die  Waffenfabriken  mit  1154,  1896  auf  die  Eisenbahnwerkstätten  mit 
1149,  1898  auf  die  Wagen-  und  Waggonfabriken  mit  841  (1900  120), 
1897  auf  die  Fahrräder-  und  Fahrräderbestandteile-F.rzeugung  mit  493, 
und  1899  mit  207,  1901  auf  die  Lokomotivfabriken  mit  482,  1896  auf 
die  Wagnereien  mit  218  und  1898  auf  die  Brückenwagenfabriken  mit  217 
Strikenden.  Eine  regelmäfsige  Strikebewegung  zeigen  in  dieser  Gruppe 
nur  die  Maschinenfabriken,  in  denen  1894  145,  1895  152,  1896  608, 
1897  796,  1898  146,  1899  900,  1900  108  und  1901  36  Arbeiter 

strikten.  Alle  übrigen  Strikes  in  dieser  Gruppe  waren  von  untergeord- 
neter Bedeutung. 

Bei  der  Industrie  in  Holz-  und  Schnitz  waren  und 
Kautschuk  zeigen  die  in  Tischlereien  und  Möbelfabriken  beschäftigten 
Arbeiter  eine  besonders  starke  Strikelust:  1894  strikten  9066,  1895 
596,  1896  1972,  1897  701,  1898  776,  1899  2206,  1900  708  und 
I901  2000.  In  den  Perlmutterdrehereien  strikten  1895  471,  1896  3091, 
1899  139,  1900  92  und  1901  409  Arbeiter.  Steinnufsknopf-  (Hora- 
knopf-lErzeuger  strikten  1894  120,  1895  143.  1896  448,  1897  83, 
1899  104  und  1900  11 ; Stock-  (Schirmstock-)Drechsler  1895  440  und 
1899  410.  In  Meerschaum-  und  Bemstcindrechslereien  strikten  1895 
252,  in  Sägewerken  1894  o,  1895  54,  1896  94,  1897  276,  1898  137, 
1899  137  und  1900  176  Arbeiter  und  endlich  in  Gummifabriken  1894 
412,  1895  180,  1896  66,  1897  o,  1898  80,  1899  o,  1900  259  und 
1901  126  Arbeiter. 

Bei  der  Industrie  in  Leder,  Häuten,  Borsten,  Haaren 
und  Federn  treten  hervor  die  Lederfabriken  und  Zurichtereien  mit 
584  strikenden  Arbeitern  im  Jahre  1894,  202  1896,  240  1897,  88 


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CI.  Hei  fs.  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894— 1901.  402 


1898,  167  1899,  354  1900  und  96  1901,  sowie  die  Gerbereien  mit  201 
strikenden  Arbeitern  1895,  82  1896,  491  1897,  o 1898,  64  1899,  164 
1900  und  42  1901. 

In  der  Textil-lndustrie  ist  die  Arbeiterbewegung  am  andauernd- 
sten und  lebhaftesten  in  den  Baumwollspinnereien  und  -Webereien.  Hier 
strikten  1894  1948,  1895  3266,  1896  3432,  1897  3350,  1898  532, 
1899  5710,  1900  7848  und  1901  1253  Arbeiter.  In  Flachsspinnereien 
und  -Webereien  strikten  1894  1107,  1895  223,  1896  455,  1897  5145, 
1898  198,  1899  1550,  1900  1039  und  1901  39  Arbeiter;  in  Schafwoll- 
spinnereien und  -Webereien  1894  648,  1895  54,  1896  1538,  1897  und 
1898  je  o,  1899  600,  1900  80  und  1901  283  Arbeiter;  in  den  Seiden- 
warenfabriken und  Seidenwebereien  1894  895,  1895  359,  1896  643, 

1897  99,  1898  914,  1899  222,  1900  1027  und  1901  581  Arbeiter; 

in  Jutespinnereien  und  -Webereien  1894  435,  1896  1295,  1302, 

1898  69,  1899  825,  1900  1500  und  1901  273  Arbeiter.  Vereinzelt 
sind  die  Strikes  der  Baumwollwaren-Erzeuger:  1896  1135,  1898  480 
und  1899  535;  der  Baum-  und  Schafwollwebereien  1897  392  und  1899 
17153;  der  Buntwebereien  1S99  332;  der  Druckfabriken  1896  527  und 
1898  126;  der  Leinen-  und  Baunuvollwebereien  1897  494;  der  Posa- 
mentierwaren-Erzeuger  1896  448;  der  Schafwollwaren-Erzeuger  1897  288, 
1898  200  und  1899  1174;  sowie  der  Teppichfabriken  1894  648  und 
der  Tuchfabriken  1894  334,  1898  357,  1899  1542  und  1900  229. 

Wie  sehr  die  Beurteilung  der  Wichtigkeit  eines  Strikes  allein  nach 
der  Zahl  der  Strikenden  täuschen  kann,  zeigt  ein  Beispiel  aus  der  Be- 
kleidungs-  und  Putz  Warenindustrie.  Die  Rubrik  „Wäsche- 
Erzeuger"  weist  in  der  ganzen  Gruppe  die  höchste  Zahl  der  Strikenden 
mit  X022  aus.  Nach  der  Spezialtabelle1)  handelt  es  sich  hier  um  eine 
Prager  Wäschefabrik,  in  der  sämtliche  1022  Arbeiter,  worunter  941 
weibliche  wegen  der  Entlassung  einer  Arbeiterin  wegen  Ungehorsams 
am  9.  November  strikten,  die  Entlassung  des  Direktors,  die  Wiederauf- 
nahme der  entlassenen  Arbeiterin  verlangten  und  am  darauffolgenden 
Tage  alle  die  Arbeit  wieder  aufnahmen,  ohne  dafs  ihre  Forderungen 
bewilligt  worden  wären.  Die  lebhafteste  Strikebewegung  weisen  hier  die 
„Schuhwaren- Erzeuger“  auf,  von  denen  1894  386,  1895  519,  1896  873, 
1897  167,  1898  62,  1899  503,  1900  834  und  1901  240  strikten.  In 
den  Schneidereien  traten  1896  und  1898  gröfsere  Arbeitseinstellungen 
auf  mit  382  und  249,  sowie  1899,  1900  und  1901  mit  173,  382  und 
1402  Strikenden;  in  den  Hutfabriken  1894  mit  208  und  1901  mit 
140  Strikenden;  bei  den  Handschuhmachern  1895,  1898  und  rooo  mit 
381,  131  und  186  Strikenden;  bei  den  Schuhoberteil-Erzeugern  1900 
mit  206  Strikenden;  und  endlich  bei  den  Fez-Erzeugern  1898  mit 
833  Strikenden. 

’)  Die  Arbeitseinstellungen  und  Aussperrungen  im  Gewerbebetrieb  in  Oesterreich 
während  des  Jahres  1896.  Wien  1898  S.  172  f. 

Archiv  für  toi  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  26 


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402 


Miszellen. 


Von  gleich  kurzer  Dauer  und  Veranlassung,  wie  der  eben  erwähnte- 
war  der  Strike  in  einer  Papier-Strohstoff-  und  Cellulosefabrik  im  Bezirk 
Graz,  an  dem  sich  ebenfalls  sämtliche  Arbeiter  beteiligten,  der  aber  nach 
eintägiger  Dauer  mit  Wiederaufnahme  des  entlassenen  Vertrauensmannes 
der  Arbeiter  und  Anerkennung  ihres  Koalitionsrechtes  endete.  *)  Eben- 
falls nur  auf  einen  Betrieb  erstreckte  sich  in  dieser  Gruppe  ein  Strike  in 
einer  Cigarrettenpapier-  und  Spielkartenfabrik  im  Jahre  1897,  an  dem 
sich  367  von  37 S Arbeitern  beteiligten.  Wichtiger  dagegen  ist  der 
Buchbinderstrike  im  Jahre  1898  mit  1095  Strikenden,  sowie  die  Strikes 
in  Papierfabriken  1895  mit  149,  1897  mit  659,  1898  mit  268,  1900 
mit  701  und  1901  mit  476  Strikenden.  Zu  erwähnen  ist  noch  die 
Kartonnagewaren-Erzeugung  mit  143  Strikenden  im  Jahr  1898,  400  1899 
und  106  1901. 

In  der  Industrie  in  Nahrungs-  undGenufsmittel  strikten 
1897  280  Arbeiter  in  einer  Tabakfabrik,  1898  von  2081  Arbeitern  in 
einer  Tabakfabrik  im  Bezirk  Feldbach  2 062  (sämtliche  aufser  den  Werk- 
führern und  Aufsehern);  1899  280  Arbeiter.  Nach  nur  dreitägiger  Dauer 
wurden  fast  sämtiche  Forderungen  bewilligt  und  alle  Arbeiter  nahmen 
die  Arbeit  wieder  auf. !)  Vereinzelt  ist  auch  ein  gröfserer  Müllerstrike 
im  Jahre  1895  mit  31 1 Strikenden.  In  Brauereien  kamen  in  sämtlichen 
5 Jahren  kleinere  Strikes  vor;  bedeutend  sind  nur  die  3 Strikes  vom 
Jahre  1897  mit  763  Strikenden.  Eine  lebhafte  Bewegung  zeigen  die 
Bäcker:  1894  strikten  237,  1895  187,  1896  208,  1897  476,  1898  194, 
1899  1219,  1900  129  und  1901  251. 

Im  Gast-  und  Schankgewerbe  kam  während  der  ganzen 
Periode  kein  bedeutender  Strike  vor. 

Auch  die  chemische  Industrie  zeigt  eine  geringe  Arbeiter- 
bewegung. 1894  strikten  in  einer  Leuchtgasfabrik  von  1 598  Arbeitern 
1264  ohne  Erfolg,  1896  in  2 chemischen  Fabriken  von  919  Arbeitern 
788  mit  teilweisem  Erfolg  und  1899  in  einer  Zündhölzchen-  und  Wichse- 
fabrik 260  Arbeiter  ohne  Erfolg  (1901  135).  Endlich  strikten  1901  in 
2 Oelfabriken  176  Arbeiter  mit  teilweisem  Erfolg. 

Die  hohe  Strikeziffer  im  Baugewerbe  entfallt  in  der  Hauptsache  auf 
die  Sammelrubrik  „Bauten  (Hoch-,  Wasser-  und  Eisenbahn-)".  1894 
strikten  in  dieser  Branche  von  18400  14499  Arbeiter  in  319  Betrieben. 
In  je  4 Strikes  hatten  sic  einen  vollständigen  und  keinen  Erfolg,  1 hatte 
teilweisen  Erfolg.  1895  strikten  in  104  Betrieben  von  S818  Arbeitern 
4 466  und  es  hatten  1 o Strikes  vollständigen,  3 teilweisen  und  6 keinen 
Erfolg.  1896  betrug  die  Zahl  der  Betriebe  121  mit  8497  beschäftigten 
Arbeitern  und  5321  Strikenden.  19  Strikes  waren  ohne  Erfolg,  11  von 
teilweisem  und  nur  6 von  vollständigem  Erfolg.  1897  strikten  in  67  Be- 

>)  a.  a.  O.  S.  SS  f. 

*)  L>ii*  Arbeitseinstellungen  u.  s.  w.  während  des  Jahres  1S98.  Wien  1S98  S,  b‘"2  1 


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CI.  Hcifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  403 

trieben  von  10  105  Arbeitern  4914.  Ohne  Erfolg  waren  14  Strikes, 
7 hatten  einen  vollständigen  und  9 einen  teilweisen  Erfolg.  1898  strikten 
in  106  Betrieben  von  19307  Arbeitern  11  781.  Es  waren  13  Strikes 
ohne  Erfolg,  während  22  einen  teilweisen  und  nur  5 einen  vollständigen 
Erfolg  hatten.*)  1899  strikten  in  67  Betrieben  7816  Arbeiter.  Er- 
folglos waren  1 3 Strikes , 7 hatten  vollen  und  1 2 teilweisen  Erfolg. 
1900  strikten  in  4 t Betrieben  4012  Arbeiter.  Ohne  Erfolg  waren 
10  Strikes,  3 hatten  vollen  und  6 teilweisen  Erfolg.  1901  endlich 
brachen  in  21  Betrieben  ebensoviel  Strikes  aus,  von  denen  5 vollen, 
6 teilweisen  Erfolg  hatten  und  10  erfolglos  blieben.  Beteiligt  waren 
hierbei  3155  Arbeiter.  Von  den  Zimmerern  strikten  1895  in  2 Betrieben 
von  750  Arbeitern  650  und  1898  in  87  Betrieben  von  2 746  Arbeitern 
1994.  Zimmemialer  strikten  1895  212,  Kanalräumer  1894  286  und  in 
demselben  Jahre  190  Dachdecker  (1900  756). 

Eine  bedeutendere  Buchdruckerstrikebewegung  fällt  nur  ins 
Jahr  1896  mit  365  Strikenden,  sowie  1899  mit  190,  t9oo  mit  195  und 
190t  mit  292  Strikenden. 

Im  Handel  zeigt  das  Jahr  1897  eine  lebhafte  Strikebewegung,  an 
der  sich  360  in  der  Spedition,  300  im  Holzhandel,  235  im  Kaffee- 
handel  und  200  im  Agrumenhandel  beschäftigte  Arbeiter  beteiligten. 
1898  strikten  dann  noch  220  im  Kohlenhandel  beschäftigte  Arbeiter, 
während  in  den  übrigen  Jahren  unserer  Beobachtungsperiode  erhebliche 
Arbeitseinstellungen  nicht  zu  verzeichnen  sind. 

Im  Verkehrswesen  sind  drei  Strikes  der  bei  Pferdeeisenbahnen 
beschäftigten  Arbeiter  aus  den  Jahren  2894,  1897  und  1901  mit  209, 
2190  und  200  Strikenden,  ein  Eiscnbahnerstrike  im  Jahre  1900  mit  510, 
sowie  ein  Strike  der  bei  der  Schiffsverladung  thätigen  Arbeiter  aus  dem 
Jahre  2897  mit  285  Strikenden  zu  nennen.  An  2 Strikes  in  der  Holz- 
flöfserei  beteiligten  sich  1901  165  Arbeiter.  In  20  landwirtschaftlichen 
Betrieben  strikten  1900  600  Arbeiter.  Endlich  verdient  noch  der  Wiener 
Feuenvehrstrike  vom  Jahre  1896  Erwähnung,  an  dem  sich  von  298  Ar- 
beitern 236  ohne  Erfolg  beteiligten. 

Wenn  wir  an  der  Hand  der  vorstehenden  Uebersicht  auf  diejenigen 
Gewerbszweige  zurückblicken,  in  denen  Arbeitseinstellungen  gröfseren 
Umfangs  mit  einer  gewissen  Regelmässigkeit  sich  wiederholen  (mindestens 
3 innerhalb  5 Jahren),  so  sind  es  vor  allem  die  modernen  Grofsbetriebe, 

1 1 In  methodologischer  Beziehung  ist  hier  zu  beanstanden,  dafs  die  Tabelle 
keine  Rubrik  für  Maurer,  Gypser,  Tüncher,  Erdarbeiter  und  Handlanger  auffuhrt, 
während  in  derselben  zu  finden  sind:  „Anstreicher  und  Lackierer,  Maler  und 
Lackierer,  Zimmermaler  und  Anstreicher“  je  gesondert.  Im  einen  Fall  wird  alles  in 
einen  Topf  geworfen,  im  anderen  liegt  eine  Spezialisierung  synonymer  Begriffe  vor, 
mit  der  auch  nichts  Rechtes  anzufangen  ist.  Vielleicht  ist  die  österreichische  Ge- 
werbegesetzgebung  schuld  an  diesem  Wirrwarr  r 

26* 


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404 


Miszellen. 


wie  der  Kohlenbergbau,  die  Grofsbetriebe  der  Textilindustrie:  Baum- 
woll-,  Flachs-,  Jute-  und  Schafwollspinnereien  und  Webereien,  Seiden- 
warenfabriken und  Seidenwebereien,  Ziegeleien,  Steinbrtiche,  Porzellan- 
und  Steingutfabriken,  Glasfabriken,  Maschinenfabriken,  Eisengiefsereien, 
Metallwarenfabriken,  Lederfabriken  und  Zurichtereien.  An  einzelnen 
eklatanten  Beispielen  haben  wir  gesehen,  wie  hier  das  tägliche  Zusammen- 
arbeiten in  demselben  Betriebe  ein  so  lebhaftes  Bewufstsein  der  Gemein- 
samkeit der  Interessen  erzeugt,  dass  eine  so  geringfügige  Veranlassung, 
wie  die  Entlassung  eines  einzelnen  Arbeiters,  die  Niederlegung  der  Arbeit 
von  Hunderten  von  Arbeitern  zur  Folge  haben  kann.  Ein  zweites  Mo- 
ment, das  den  Arbeitern  die  Gemeinsamkeit  ihrer  Interessen  zum  Be- 
wusstsein bringt,  ist  das  Zusammenwohnen  in  Städten.  Dies  trifft  zu  bei 
den  sich  regelmäfsig  wiederholenden  umfangreicheren  Arbeitseinstellungen 
im  Baugewerbe  und  in  Bäckereien,  sowie  teilweise  in  den  Tischlereien 
und  Möbelfabriken,  wo  beide  Momente  Zusammenwirken.  Seltener  kommt 
der  Fall  vor,  dafs  ohne  das  Zutreffen  dieser  beiden  Momente  die  unter 
das  Existenzminimum  herabgesunkenen  Löhne  die  verzweifelnden  Arbeiter 
zur  Arbeitseinstellung  drängen,  wie  dies  bei  den  Glasschleifern  im  Be- 
zirk Gablonz  und  Starkenbach  wiederholt  der  Fall  war.  Vom  letzten 
grofsen  Strike  im  Jahre  1898  wurden  26  Grofs-  und  169  Kleinbetriebe 
betroffen.  Der  ganze  Verlauf  dieses  höchst  interessanten  Strikes  recht- 
fertigt es,  wenn  wir  ihn  etwas  eingehender  behandeln.  ‘)  Die  allgemeine 
Lage  zur  Zeit  des  Ausbruchs  des  Strikes  wird  in  den  Berichten  der 
k.  k.  Gewerbeinspektoren  über  ihre  Amtsthätigkeit  im  Jahre  1898 
folgendermafsen  geschildert : i) 

„In  der  Gablonzer  Glasindustrie  hatten  die  Löhne  in  der  ersten 
Hälfte  des  Berichtsjahres  einen  Tiefstand  erreicht,  der  mit  den  Verhält- 
nissen unvereinbar  schien  und  zu  einer  Lohnbewegung  führte,  welche 
wenigstens  in  der  Perlen-  und  Krystalleriebranche  eine  Aufbesserung 
der  Löhne  zur  Folge  hatte.  Die  Ursachen  dieser  Lohnbewegung  waren 
sehr  verschieden.  Abgesehen  davon,  dass  die  Erzeugnisse  dieser  um- 
fangreichen und  vielgestaltigen  Industrie  — zumeist  Luxusartikel  — teil- 
weise nur  für  den  augenblicklichen  Bedarf  hergestellt  werden  und  gröfsten- 
teils  der  Mode  unterliegen,  wodurch  Ueberhäufungen  mit  Aufträgen  mit 
vollständiger  Geschäftslosigkeit  in  den  einzelnen  Branchen  allzuoft 
wechseln  und  aufsergewöhnliche  Preisschwankungen  entstehen,  hat  in  den 
letzten  Jahren  die  Entwicklung  der  arbeitsparenden  Methoden,  die  unbe- 
sonnene Konkurrenz  unter  den  bei  der  Erzeugung  beteiligten  Exporteuren, 
Lieferanten  und  Arbeitern,  das  Uebcrangebot  von  Arbeitskraft,  der  be- 
dauerliche Rückgang  der  Qualität  der  Erzeugnisse  u.  dgl.  zu  einer  all- 

')  Die  amtliche  Statistik:  Die  Arbeitseinstellungen  etc.  während  d.  J.  1898 
widmet  diesem  Strike  allein  20  Seiten  des  Anhangs  S.  287—307. 

*)  a.  a.  O.  S.  2S7. 


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CI.  Ilcifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  40  - 

gemeinen  geschäftlichen  und  Produktionskrise  geführt.  Diese  bedauer- 
lichen Zustände  haben  sich  namentlich  in  letzter  Zeit  bedeutend  ver- 
schärft, trotz  der  vorhergegangenen  Lohnkämpfe  und  Versuche,  durch 
Festsetzung  von  Minimallöhnen  dem  gewaltigen  Preisdrucke,  sowie  der 
Verschlechterung  und  Entwertung  der  Erzeugnisse  zu  begegnen,  und  bei 
den  einzelnen  Zweigen  der  Arbeiterschaft  einen  drückenden  Notstand 
herbeigeführt,  ln  den  zahlreichen  im  Monate  Mai  und  Juni  1898  ab- 
gehaltenen Glasarbeiterversammlungen  wurden  die  kritische  Lage  und 
die  Mittel  zur  Abhilfe  des  Notstandes  besprochen  und  im  allgemeinen 
die  Forderung  aufgestellt,  durch  eine  seitens  der  Regierung  einzuberufende 
Enquete  die  Arbeiter  und  Unternehmer  über  die  Verhältnisse  einzuver- 
nehmen und  auf  Grundlage  dieser  Enqufite  Mafsnahmen  zur  Regelung 
der  Lohne  und  Beseitigung  der  herrschenden  Uebelstände  zu  treffen. 

Die  Hohlglasperlcnarbeiter  (Bläser  und  Fertigmacher,  welche  den 
Massenartikel  — die  metallisierten  Formperlen  — erzeugen),  deren  Lage 
äufserst  kritisch  war,  traten  am  11.  Juni  in  Strike,  um  die  Bewilligung 
ihrer  Forderung:  Zahlung  der  Minimallöhne  vom  Jahre  1895,  welche 
vor  dem  Ausbruche  der  Bewegung  bis  auf  60  Proz.  des  früheren  Be- 
trages gesunken  waren,  zu  erlangen.  Bei  der  am  18.  Juni  bei  der  Be- 
zirkshauptmannschaft Gablonz  stattgehabten  Beratung  zwischen  den  Ex- 
porteuren, Lieferanten  und  Arbeitern  der  Perlenbranche  wurde  beschlossen, 
für  neue  Perlenaufträge,  d.  i.  für  Aufträge  vom  13.  Juni  1898  ab,  die 
Minimallöhne  des  Jahres  1895  zu  zahlen;  Birdie  Glasperlenaufträge,  die  vor 
dem  13.  Juni  gegeben  wurden,  haben  die  Exporteure  einen  10  prozentigen 
und  die  Lieferanten  einen  5 prozentigen  Aufschlag  gewährt.“ 

Der  inzwischen  ausgebrochene  Strike  der  Krystallglasschleifer  in 
Morchenstern,  Dessendorf,  Przichowitz,  Polaun  u.  s.  w.  wurde  in  ähnlicher 
Weise  unter  Vermittelung  der  Bezirkshauptmannschaft  Gablonz  durch 
Gewährung  der  Minimallöhne  vom  Jahre  1890  und  einiger  weiterer 
Vergünstigungen  am  29.  Juni  beigelegt. 

Die  Strikes  der  Flaconglas-  und  der  Serviettenringschleifer  waren 
ebenfalls  von  kurzer  Dauer,  aber  ohne  nennenswerten  Erfolg. 

Die  am  2.,  4.  und  5.  Juli  1898  zu  Gablonz  abgehaltene  EnquSte  über  den 
Notstand  in  der  Glasindustrie,  an  welcher  Vertreter  des  Ministeriums  des 
Innern,  des  Handelsministeriums,  der  Statthalterei  und  der  Bezirkshauptmann- 
schaft Gablonz  teilnahmen,  befafste  sich  am  ersten  Tage  mit  der  Formperlen- 
industrie, am  zweiten  mit  der  Krystalleriebranche  und  am  dritten  mit  der  Glas- 
ringindustrie. Bei  diesen  Verhandlungen  wurden  die  allgemeinen  Verhältnisse, 
sowie  die  Ursache  der  gegenwärtigen  Krise  durch  Einvernehmung  der  Ex- 
porteure, Lieferanten  und  Arbeiter  erläutert  und  den  betreffenden  Inter- 
essenten Gelegenheit  gegeben,  Vorschläge  über  Mittel  und  Wege  zur 
Behebung  der  Notlage  zu  machen.  Als  Resultat  der  Enqudte  über  die 
Formperlenindustrie  ist  die  Gründung  der  Produktivgenossenschaft  der 
Hohlperlenerzeuger  des  politischen  Bezirks  Gablonz  anzusehen.  Bis  zum 


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406 


Miszellen. 


20.  Oktober  1898  sind  der  Genossenschaft  ca.  800  Bläser  und  40  Lie- 
feranten als  Mitglieder  beigetreten.1)  Die  beteiligten  Perlenbläser  er- 
halten von  der  Genossenschaft  die  Formen  unentgeltlich.  Die  fertigen 
Perlen  werden  an  das  in  Gablonz  errichtete  Warenhaus  abgeliefert, 
welches  die  Erzeugnisse  an  die  Exporteure  verkauft.  Eine  erfolgreiche 
Thätigkeit  der  Genossenschaft  wurde  dadurch  gesichert,  dafs  der  Roh- 
glasfabrikant Jos.  Riedel  in  Polaun  für  eine  Reihe  von  Jahren  unver- 
zinslich und  für  die  spätere  Zeit  unter  sehr  günstigen  Bedingungen  ein 
Kapital  von  1 00  000  Fl.  zur  Verfügung  stellte,  wozu  die  Regierung  noch 
weitere  1 2 000  Fl.  beisteuerte.  Die  Erhaltung  der  errungenen  Löhne 
und  einer  guten  Qualität  der  Ware  sucht  die  Genossenschaft  dadurch 
zu  sichern,  dafs  sie  ihre  Mitglieder  verpflichtet,  nur  für  die  Genossen- 
schaft zu  arbeiten  und  damit  alle  ihr  nicht  beitretenden  Exporteure 
boykottiert.  Zur  Durchführung  der  hier  kurz  skizzierten  Grundgedanken 
hat  das  im  Anhänge  der  amtlichen  Statistik  abgedruckte  Statut  der  Ge- 
nossenschaft in  79  Paragraphen,  zu  denen  noch  eine  Geschäftsordnung 
kommt,  bis  ins  einzelnste  Detail  gehende  Bestimmungen  getroffen. 

Als  Fazit  dieses  bemerkenswerten  Strikes  ergiebt  sich,  dafs  durch 
fortgesetzten  Lohndruck  eine  solch  elende  Lage  der  Arbeiter  und  eine 
solch  minderwertige  Qualität  der  Ware  herbeigeführt  worden  war,  dafs 
sie  den  Fortbestand  der  Industrie  ernstlich  gefährdete  und  sogar  die 
Unternehmer  davon  überzeugte,  dafs  nur  durch  eine  Verbesserung  der 
Löhne  abgeholfen  werden  könne.  Diese  Ueberzeugung  ging  soweit,  dafs 
sogar  ein  Fabrikant  ein  gröfseres  Kapital  zur  nachhaltigen  Durchführung 
dieser  Mafsregel  zur  Verfügung  stellte.  Fürwahr  eine  bei  dem  Gros 
unserer  Fabrikanten  seltene  Höhe  der  Erkenntnis! 

Hinsichtlich  des  Alters,  Geschlechts  und  der  Qualifika- 
tion der  Arbeiter  geben  wir  folgende  Uebersicht,  die  sich  auf  29  Strike- 
falle  im  Bergbau,  von  denen  32  Betriebe  ergriffen  wurden,  und  auf  226 
Strikefälle  in  der  Industrie  (inkl.  Handel  und  Transportwesen),  von  denen 
853  Betriebe  im  Jahre  18984)  ergriffen  wurden,  bezieht: 

Wie  aus  den  Berichten  der  „Sozialen  Praxis“  (Jahrg.  VIII,  Sp.  241  ff.  und 
269  ff.  und  IX  Sp.  306)  zu  entnehmen  ist,  sind  die  Betriebsergebnisse  der  Genossen- 
schaft andauernd  günstig  gewesen.  Bei  der  Hauptversammlung  der  Produktiv- 
genossenschaft am  6.  Mai  1900  wurde  berichtet,  dafs  sich  der  Arbeitslohn  um 
375  °o  0)  gesteigert  hat;  so  bei  der  Mullperlc  von  2 auf  9*/t  Kr.  Die  Beschaffen- 
heit der  Ware  hat  sich  ganz  erheblich  gebessert;  während  früher  mit  Io  und  15  40 
Sekundaperlen  gerechnet  werden  mufste , beträgt  dieser  Prozentsatz  der  Produktion 
jetzt  blofs  I — 2 0 „.  Der  Warenumsatz  hat  sich  sehr  befriedigend  gestaltet  und  die 
Zahl  der  Mitglieder  stieg  von  700  auf  1237  (Soz.  Praxis,  IX.  Jahrg.  Xr.  36  vom 
7.  Juni  Sp.  932). 

*)  Die  Tabelle  findet  sich  letztmals  in  dem  fjuellenwerk  über  das  Jahr  1899. 
Hier  ist  aber  blofs  mehr  die  Zahl  der  strikenden  Arbeiter,  nicht  auch  diejenige  der 


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II.  Industrie  (inkl.  Handel  und  Transport).  1.  Bergbau 


<T  1.  H e ifs , Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  407 

Anzahl  der  in  den  ergriffenen  Betrieben 

vor  dem  Aus-  der  sinkenden  I3cr  von 


stände 

beschäf- 

Arbeiter 

den  Sin- 

tigten 

Arbeiter 

Proz.  der 

kenden  z. 

Proz. 

Proz. 

besch.  Ar- 

Mitfeiern 

ab- 

aller 

ab- 

der 

beiter  der- 

gezwunge- 

solut 

Ar- 

solut 

Stri- 

selben  Ka« 

nen  Ar- 

beiter 

k enden 

gorie 

beiter 

Grubenarbeiter : 

Häuer  .... 

3993 

39.67 

3225 

45.77 

80,77 

5° 

Förderer  . . . 

2626 

26.09 

2 230 

31.65 

84.92 

— 

Sauberer  (Gruben- 

jungen) . . . 

539 

5.35 

327 

4,64 

60,67 

31 

zusammen  . 

7 1 58 

71,11 

5:8; 

82,06 

80,76 

81 

Tagcarbciter: 

männnlich  . . 

2280 

22,65 

995 

>4,  >2 

43.64 

267 

weiblich  . . . 

43° 

• 4.27 

170 

2.41 

39.54 

2 

jugendlich . . . 

198 

‘.97 

99 

>,4> 

50,00 

6 

zusammen  . 

2908 

28,89 

1 264 

>7.94 

43.17 

275 

nach  dem  Alter 

unter  16  Jahr  m. 

198 

>.97 

99 

>,4> 

50,00 

6 

weiblich  . 

— 

— 

— 

— 

— 

zus.  . . 

19S 

>.97 

99 

>.4> 

50,00 

6 

über  16  Jahr  m. 

9438 

93.76 

6777 

96,18 

71,81 

348 

weiblich  . 

43° 

4.27 

>7° 

2,41 

39.54 

2 

zus.  . . 

9868 

98,03 

6947 

98,59 

70,40 

35° 

Gelernte  männlich . 

24245 

43.  >5 

>5  75° 

48.30 

64,96 

> 732 

weiblich  . 

6 629 

1 1,80 

5021 

15,40 

75.74 

450 

zus..  . 

”30874 

54,95 

20771 

63.69 

67.28 

2 182 

Ungelernte  männlich  . 

18633 

33,i6 

8891 

27.26 

47,72 

2 178 

weiblich  . 

_ 4 494 

7.64 

2338 

6,86 

52,12 

5?° 

zus.  . . 

22927 

40,81 

11  129 

34,13 

48.54 

2 728 

Lehrlinge  männlich  . 

2 234 

3,98 

577 

>,77 

25,83 

>9> 

weiblich  . 

'50 

0,27 

>35 

0,41 

90.00 

1 

zus.  . . 

2384 

4,24 

7>2 

2, iS 

29,87 

192 

nach  dem  Alter 

unter  16  Jahr  m. 

1897 

3,38 

500 

>,53 

26.36 

228 

weiblich  . 

913 

1,62 

3>o 

o,95 

3396 

104 

zus..  . 

2810 

5,00 

Sio 

2,48 

28.83 

332 

über  16  Jahr  m. 

43 11 5 

76,92 

24718 

75,8o 

57.20 

3 873 

weiblich  . 

10  160 

18,08 

7084 

21.72 

69,72 

897 

zus.  . . 

53375 

95,oo 

31  802 

97.52 

59.58 

4 770 

männlich 

54  748 

82,64 

32094 

8093 

58.62 

4 445 

weiblich  . . 

n 503 

>7,36 

7564 

19.07 

66.76 

1 003 

zusammen 

66251 

100,00 

39  658 

100,00 

59,86 

5 458 

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408 


Miszellen. 


Die  Zahl  der  männlichen  Arbeiter  überwiegt  in  den  von  den  Strikes 
ergriffenen  Betrieben  (82,64  Proz.)  gegenüber  den  weiblichen  bedeutend 
(17,36  Proz.).  Dagegen  beteiligten  sich  die  weiblichen  Arbeiter  stärker 
an  der  Strikebewegung  als  die  männlichen.  Es  strikten  von  ihnen 
65,76  Proz.,  während  von  den  männlichen  Arbeitern  nur  58,62  Proz. 
strikten,  so  dafs  ihr  Prozentanteil  an  der  Gesamtzahl  der  strikenden 
19,07  gegenüber  nur  17,36  Proz.  der  Gesamtzahl  der  beschäftigten  Ar- 
beiter beträgt.  Die  stärkere  Beteiligung  der  weiblichen  Arbeiter  an  den 
Arbeiterbewegungen  zeigt  sich  bei  den  industriellen  Arbeitern,  wo 
Frauenarbeit  allein  in  grüfserem  Umfang  in  Betracht  kommt,  bei  sämt- 
lichen hier  unterschiedenen  Kategorien.  Von  Einflufs  mag  dabei  der 
Umstand  sein,  dafs  das  Weib  als  Individuum  viel  weniger  entwickelt  ist, 
als  der  Mann  und  dafs  es,  wie  es  sich  auf  anderen  Gebieten  nicht  leicht 
dem  Zwange  der  Mode  zu  entziehen  vermag,  sich  auch  einer  gemein- 
samen Klassenbewegung  viel  leichter  anschliefst.  Diese  Charaktereigen- 
tümlichkeit des  Weibes  ist  so  scharf  ausgeprägt,  dafs  sie  dem  Manne 
gegenüber  trotz  mangelnder  Organisation  und  verkümmerter  Vereins- 
und Versammlungsfreiheit  den  Vorrang  abzugewinnen  vermochte. 

Durchweg  sind  ferner  die  gelernten  Arbeiter  an  der  Strikebewegung 
stärker  beteiligt,  als  die  ungelernten:  es  strikten  im  Bergbau  80,76  Proz. 
der  Grubenarbeiter  (1899  82,43)  und  nur  etwas  mehr  als  die  Hälfte  der 
Tagarbeiter  43,17  Proz.  (1899  17,57);  in  der  Industrie  67,28  Proz.  der 
gelernten  (1899  77,74)  und  nur  48,54  Proz.  (1899  21,49)  der  unge- 
lernten Arbeiter. 

Erhebliche  Unterschiede  zeigen  die  Zahlen  der  strikenden  jugend- 
liehen Arbeiter  im  Bergbau  und  in  der  Industrie,  während  in  ersterem 
50  Proz.  jugendliche  (1S99  3,19)  und  70,40  Proz.  (1899  96,81)  er- 
wachsene Arbeiter  sich  am  Strike  beteiligten,  waren  es  in  der  Industrie 
nur  28,83  Proz.  (*^99  2,71)  jugendliche  und  59,58  (1899  97,29)  Proz. 
erwachsene  Arbeiter. 

Die  Zahl  der  von  den  strikenden  zum  Mitfeiern  gezwungenen  Ar- 
beiter ist  recht  gering,  sie  beträgt  nicht  ganz  der  Strikenden  und 
*/lf  der  vor  Ausbruch  des  Strikes  beschäftigten  Arbeiter. 

Eine  Vergleichung  dieser  Verhältnisse  ist  für  die  Jahre  1894 — 1897 
wegen  mangelnder  Zahlen  ftir  den  Bergbau  nicht  möglich  und  wir 

vor  dem  Austande  beschäftigten  Arbeiter  nachgewiesen.  Da  die  Tabelle  pro  1S98 
instruktiver  ist,  haben  wir  diese  vorgezogen.  In  den  auf  1900  und  1901  bezüg- 
lichen Nach  Weisungen  scheint  ein  redaktionelles  Versehen  unterlaufen  zu  sein.  In  der 
Einleitung  S.  8 (bezw.  S.  7)  ist  der  auf  diese  Tabelle  bezügliche  erläuternde  Text 
(Von  den  Worten  „Was  die  Gruppierung  der  Arbeiterschaft  anbetriflft  bis  Anspruch 
machen“)  wörtlich  aus  dem  Vorjahr  übernommen,  aber  die  zu  der  Erläuterung  ge- 
hörige Tabelle  (Tabelle  111  A der  Nachweisungen  über  das  Jahr  1899)  fehlt. 

Quandoquin  dormitat  divus  llomcrus! 


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CI.  II  r i fs , I)ic  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  ^09 

müssen  sie  uns  mit  Rücksicht  auf  den  Raum  auch  ftir  die  Industrie  ver- 
sagen. 

Was  nun  Beginn  und  Dauer  der  Arbeitseinstellungen  anlangt, 
so  entfielen  die  Arbeitseinstellungen  auf  die  einzelnen  Jahreszeiten,  wie 


folgt: 

1894 

1895 

1896 

1897 

189S 

Ausst.1  Str.* 

Ausst.  Str. 

Ausst.  Str. 

Ausst.  Str. 

Ausst. 

Str. 

Frühjahr  . 77  51 257 

66  1 2 942 

112  17776 

96  20389 

108 

16631 

Sommer  . . 25  2902 

80  1 1 138 

91  10210 

69  9949 

74 

13028 

Herbst  . . 25  8410 

32  2864 

58  >7370 

45  4 377 

35 

6237 

Winter  . . 45  4492 

31  1 708 

44  20  878 

36  3752 

38 

3762 

1899 

1900 

1901 

Ausst. 

Str.  Ausst.  Str. 

Ausst. 

Str. 

Frühjahr  98 

26908 

115  20415 

86 

7 392 

Sommer  94 

10652 

72  6735 

81 

8443 

Herbst  80 

10528 

44  3 <38 

52 

4239 

Winter  39 

6675 

72  74840 

5' 

4796 

1 A umstände.  * Strikende. 

Für  alle  acht  Jahre  zusammen 
auf  das  Frühjahr  758  Ausständr 

entfallen 

• mit  1 73  7 1 0 strikenden  Arbeitern 

„ den  Sommer 

5*6 

„ 73057 

„ 

„ 

„ „ Herbst 

371 

..  57  >63 

„ 

„ 

„ „ Winter 

356 

„ 120903 

„ 

Im  Durchschnitt  nimmt  das  Frühjahr  sowohl  nach  der  Anzahl  der 
Ausstände  wie  nach  der  Zahl  der  sinkenden  Arbeiter  die  erste  Stelle 
ein,  während  sich  im  übrigen  mit  der  Temperatur  auch  die  Strikelust 
abzukühlen  scheint.  N'ur  das  Jahr  1000  macht  eine  Ausnahme.  Die 
vergleichsweise  grofse  Zunahme  an  Ausständen  in  den  Wintermonaten 
iqoo  wurzelt  nicht  nur  in  der  mächtigen  Strikebewegung  in  den 
böhmischen,  mährischen  und  schlesischen  Kohlenrevieren,  welche  im 
Januar  ihren  Anfang  nahm  und  sich  bis  ins  Frühjahr  hinzog,  sondern 
hängt  auch  zusammen  mit  einem  zahlreicheren  Auftreten  von  Strikes  in 
den  meisten  Industriezweigen. 

Die  meisten  Strikes  waren  von  sehr  kurzer  Dauer. 


Es  dauerten  in  Prozenten 


1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

I—  5 Tage 

51,16 

52,15 

51,80 

54,87 

55,69 

54,66 

55,12 

59,2 

6 — 10  „ 

20,35 

16.74 

13,77 

15,85 

16,47 

14,47 

18,48 

' 16,3 

6—25  „ 

37.2t 

31.57 

29.51 

32,92 

32,95 

26.4 

30,1 

3b9 

1—  3°  „ 

89,54 

85,16 

83  93 

81,04 

89,82 

85,20 

88,45 

93,7 

31 — 60  „ 

6,98 

9,57 

10.50 

4,88 

6.26 

9,03 

4-95 

5,5 

61  — 100  „ 

1,74 

4,79 

4,26 

2.45 

3,53 

4,8 1 

495 

0.8 

über  100  ,, 

1.74 

0,48 

1.31 

1,63 

o,39 

0,96 

1,65 

— 

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4io 


Miszellen. 


Hiernach  entfallen  mehr  als  die  Hälfte  aller  Ausstände  auf  jene  in 
der  Dauer  von  i — 5 Tagen,  was  zum  Teil  auf  die  vielen,  nur  kurz  an- 
dauernden alljährlich  in  den  Baugewerben  stattfindenden  Arbeitsein- 
stellungen zurückzuführen  ist.  Aehnliches  gilt  auch  für  den  Bergbau,  in 
welchem  sich  die  Ausstände  ebenfalls  nicht  hinzuziehen  pflegen. 

Die  durchschnittliche  Dauer  der  Ausstände  betrug: 


1894  12,34  Tage 

1895  13,00  ,. 

1896  15,00  „ 

1897  12,47 


1898  11,18  Tage 

1899  14.00  „ 

1900  14,56  „ 

1901  8,8  „ 


Der  längste  Strike  währte  im  Jahre  1894  136,  im  Jahre  1895  122, 
im  Jahre  1896  191,  im  Jahre  1897  211,  im  Jahre  1898  153  Tage,  im 
Jahre  1899  135  Tage,  im  Jahre  1900  270  und  im  Jahre  1901  95  Tage. 
Von  diesen  langdauernden  Strikes  sind  besonders  wichtig  diejenigen  in 
den  Porzellanfabriken  in  Dallwitz  (1896)  und  Aich  (1897),  bei  denen 
geringfügige  Veranlassungen  mit  grofser  Hartnäckigkeit  durchgefiihrtc 
Kämpfe  hervorriefen.  Die  eigentliche  Ursache  des  Strikes  war  in  beiden 
Fällen  die  Neuorganisierung  des  Betriebes,  der  sich  die  Arbeiter  wider- 
setzten und  die  Entlassung  des  neuangestellten  Direktors  verlangten. 
In  beiden  Fällen  wurde  die  Hauptforderung  der  Arbeiter  abgelehnt, 
während  in  Dallwitz  den  Arbeitern  untergeordnete  Zugeständnisse  gemacht, 
in  Aich  aber  sämtliche  Forderungen  verweigert  wurden,  ln  beiden 
Fällen  mufsten  die  wohlorganisierten  Arbeiter  unterliegen,  weil  sie  — 
wenn  wir  die  Aeusserungen  der  beiden  Parteien  richtig  interpretieren  — 
die  Aufrechterhaltung  einer  veralteten  Betriebsweise  forderten. 

Veranlassung  zur  Arbeitseinstellung  gaben  bei  den  in  den  acht 
Jahren  vorgekommenen  2071  Ausständen: 

Unzufriedenheit  mit  den  Lohnen 
Unzufriedenheit  mit  der  Arbeitsdauer 
Entlassungen  von  Arbeitern  . . . 

I.ohnreduktionen 

Unzufriedenheit  mit  der  Arbeits-  bezw 

Dienstordnung 

Verlängerung  der  Arbeitsdauer  . . 

Verhältnismäfsig  kamen  diese  5 Hauptursachen  in  den  8 Jahren: 

bei  Prozenten  aller  Strikes 

1894  1895  1896  1897  1898  1899  1900  1901 

30,81  42,58  45,00  47,15  48,63  45,98  50,17  43,0 

11,05  '4,83  21,97  19,11  21,17  23.47  22,77  17.0 


Unzufriedenheit  mit  den 

Lohnen  

Unzufriedenheit  mit  der 
Arbeitsdauer  . . . 


933 

mal  = 

45,0  Proz.  aller  Strikes 

406 

„ — 

*9.6  „ „ „ 

285 

„ — 

13,7  tt 

212 

= 

10.2  „ „ „ 

121 

•1  = 

5-8  .. 

50 

1.  = 

2,4 

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CI.  H e ifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  41  I 


Entlassungen  von  Arbci- 

1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

tern 

•9,77 

'4.83 

■3, «7 

13,01 

14,12 

12.86 

11,88 

•3.3 

Lohnreduktionen  . . . 

Unzufriedenheit  mit  der 

•3-37 

9.09 

9,18 

•o,57 

•2,94 

9,3* 

8,58 

10,4 

Arbeit»-  bezw.  Dienst- 
ordnung   

9.30 

3.83 

3,93 

7,3* 

7,84 

5.79 

4.62 

5,6 

Verlängerung  d.  Arbeit»- 

dauer  

2,91 

1.87 

2,3« 

2,03 

3.53 

1,29 

2,3' 

2,6 

in  Betracht. 

Die  Unzufriedenheit  mit  den  Lohnen  gewinnt  als  Veranlassung  von 
Strikes  stetig  an  Bedeutung,  noch  stärker,  wenn  auch  nicht  so  stetig  ist 
die  Steigerung  bei  der  Unzufriedenheit  mit  der  Arbeitsdauer,  während 
sich  bei  den  übrigen  Hauptursachen  von  Strikes  eine  bestimmte  Ten- 
denz nicht  nachweisen  läfst. 

Auf  die  Grofs-  und  Kleinbetriebe  verteilten  sich  — wenn  wir  die 
Strikes,  die  „zum  Teil  Grofsbetriebe“  betrafen,  wegen  ihrer  geringen  Zahl 
unberücksichtigt  lassen  — die  Hauptveranlassungen  folgendermafsen : 

Nur  Grofsbetriebe 


1894  1895  1896  1897  1S98  1899  1900  1901 

Zahl  Proz.  Zahl  Proz.  Zahl  Proz.  Zahl  Proz.  Zahl  Proz.  abs.  Proz.  abs.  Proz.  abs.  Proz. 

der  Strikefälle 

Eteduktion  der 


Lohne . . . 

•9 

• 3,67 

‘5 

9,80 

23 

11,27 

23 

•2,37 

26 

•4,05 

*7 

10,80 

20 

9.3° 

25 

• '.7 

U n.zuf  riedenheit 
m.  d.  Löhnen 

3» 

27,34 

61 

39.87 

86 

42,16 

83 

4 

44,62 

77 

41.62 

1 10 

44,00 

107 

49,77 

91 

42.5 

U n zn  f riedenheit 
mit  der  Ar- 
beitsdauer 

«3 

9,35 

12 

7,84 

29 

14.22 

28 

■ 5,05 

25 

•3.5« 

49 

19,60 

39 

18,14 

28 

•3.' 

HIfsliebige  Vor- 
gesetzte . . 

10 

7,19 

>3 

8,50 

iS 

S.82 

18 

9.68 

20 

10.81 

10 

4.00 

6 

2,79 

•5 

7,o 

Entlassung  von 
Arbeitern  . . 

33 

23.74 

*7 

•7,65 

33 

16,18 

*7 

•4,52 

21 

16,76 

33 

13.20 

29 

• 3.49 

26 

12,1 

Hierbei  ist  zu  bemerken,  dafs  nur  in  Grofsbetrieben 


1894 

1895 

1896 

1897 


139 

>53 

204 

1S6 


1898 

1899 

1900 

1901 


‘»5 

250 

21;  und 
214 


Strikefälle  vorkamen,  worauf  sich  die  Prozentzahlen  beziehen. 


Nur  in  Kleinbetrieben  ereigneten  sich 


1894 

27 

I898 

52 

1895 

44 

1899 

53 

1896 

73 

1900 

77  und 

1897 

5° 

1901 

47  Strikefälle. 

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412 


Miszellen. 


Davon  entfielen  auf  die  Hauptveranlassungen 

1894  1S95  1896  1897  1898  1899  1900  1901 


Reduktion  der 

abs. 

Proz. 

abs. 

Pros. 

abs.  Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs.  Pros 

Löhne  . . . 
Unzufriedenheit 

3 

1 1,1 1 

4 

9,09 

4 

5.48 

3 

4,00 

7 

13,46 

2 

3,77 

5 

6,49 

2 4; 

m.  d.  Löhnen 

Unzufriedenheit 
mit  der  Ar- 

»4 

51.58 

21 

47,73 

40  54, 80 

30 

60,00 

35 

67,3« 

29 

54.72 

38 

49,35 

19  40. 

beitsdauer 
Mifsliebige  Vor- 

3 

u, 11 

17 

38.64 

24  32,88 

■ 5 

30,00 

*7 

34.69 

20 

37.73 

47 

35, 06 

16  34« 

gesetzte  . . 

Entlassung  von 

1 

3,70 

1 

2.*7 

3 

4,ii 

t 

2,00 

1 

1,92 

1 

1,92 

3 6. 

Arbeitern . . 

1 

3.70 

3 

6,81 

6 

8,22 

5 

10.00 

5 

9.62 

7 

9,62 

6 

7.79 

8 17z 

Die  Reduktion  der  Löhne  ist  im  allgemeinen  häufiger  in  Grofsbe- 
trieben,  die  Unzufriedenheit  mit  den  Arbeitslöhnen  häufiger  in  Klein- 
betrieben die  Veranlassung  zu  Strikes;  mifsliebige  Vorgesetzte  und  Ent- 
lassungen von  Arbeitern  überwiegen  bei  den  Grofsbetrieben,  Unzufrieden- 
heit mit  der  Arbeitsdauer  bei  den  Kleinbetrieben,  was  in  der  Natur  der 
beiden  Betriebsformen  begründet  erscheint. 


Arbeitseinstellungen 
kamen  vor : 

mit 

überwiegend  gelernten  Arbeitern 

1894 

147 

1898  200 

1895 

163 

1899  255 

1896 

457 

1900  270  und 

1897 

194 

1901  228. 

Davon  entfielen  auf  die  Hauptveranlassungen : 


abs. 

1894 

Proz. 

I 

abs. 

1895 

Proz. 

abs. 

1896 

Proz. 

abs. 

1897 

Proz. 

1898 

abs.  Proz. 

1899 

abs.  Proz. 

abs. 

1900 

Proz. 

1901 

abs.  l“raz. 

Reduktion  der 
Löhne  . . . 

43 

15,65 

17 

10,43 

21 

8,17 

22 

u,34 

24 

12,00 

21 

8.24 

43 

8,52 

25  ll.a 

Unzufriedenheit 
m.  d.  Löhnen 

41 

47,89 

70 

44,94 

”3 

43,97 

81 

41,75 

95 

47.50 

115 

45, ,o 

134 

48.8g 

93  40.8 

Unzufriedenheit 
mit  der  Ar- 
beitsdauer 

15 

10,20 

22 

'3,5° 

59 

22,96 

36 

18, ; 6 

48 

24,00 

60 

23,53 

66 

24.44 

3*  16.7 

Mifsliebige  Vor- 
gesetzte . . 

11 

7,48 

9 

5.54 

20 

7,78 

14 

7,42 

16 

8,00 

io 

3.92 

5 

1,85 

iS  7,4 

Entlassung  von 
Arbeitern  . . 

3* 

21,77 

26 

15,95 

33 

1 2,84 

31 

15,80 

3° 

15,00 

38 

■4,90 

3> 

II,  48 

34  14.9 

Ueberwiegend  u n g 

eiernte 

Arbeiter  betrafen 

1894 

25 

1898 

55 

'895 

46 

1899 

56 

1896 

48 

1900 

33  und 

1897 

52 

1901 

42  Strikefallc. 

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CI.  Heifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  413 
Davon  entfielen  auf  die  Hauptvcranlassungen 


1894 

1895 

I896 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

etiuktion  der 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

l’roz. 

abs. 

Proz. 

abs.  Proz, 

Lohne . . . 

ruufriedenheit 

— 

2 

4>35 

7 

«4.58 

4 

7.69 

9 

16,36 

8 

•4.29 

3 

9,09 

3 7.1 

m.  d.  Löhnen 
nzufriedenheit 
mit  der  Ar- 

12 

48,00 

19 

41.3° 

26 

54.17 

35 

67.31 

29 

5a»73 

28 

50,00 

20 

60,61 

23  54,8 

bcilsdauer 
fifsliebige  Vor- 

4 

16,00 

9 

•9.57 

8 

16,67 

1 1 

21,15 

6 

10,91 

13 

23.21 

3 

9,09 

8 19,0 

gesetzte  . . 

-Zulassung  von 

5 

10,87 

1 

2,08 

5 

9,62 

5 

9.09 

t 

1.79 

I 

3.°3 

1 2,4 

Arbeitern  . . 

2 

8,00 

5 

10,87 

6 

12,50 

1 

1.92 

6 

10,91 

2 

3.-7 

5 

5»!5 

2 4,8 

Die  Unzufriedenheit  mit  den  Löhnen  trat  häufig  bei  den  über- 
wiegend ungelernten  Arbeitern,  die  Unzufriedenheit  mit  der  Arbeitsdauer, 
Entlassung  von  Arbeitern  bei  den  gelernten  Arbeitern  als  Strikeursache 
hervor.  Bei  den  Strikes  mit  überwiegend  weiblichen  Arbeitern,  die  wir 
ihrer  geringen  Zahl  wegen  nicht  besonders  aufführen,  spielte  die  Un- 
zufriedenheit mit  den  Löhnen  eine  Hauptrolle. 

Bei  einer  grofsen  Zahl  von  Arbeitseinstellungen  wird  nicht  blofs 
ein  Beweggrund  als  Veranlassung  angeführt,  sondern  eine  Mehrheit  von 
Motiven.  Das  Zusammenwirken  dieser  Motive  einheitlich  darzustellen 
ist  nicht  einfach,  weil  die  Kombinationen  sehr  vielseitig  sind.  In  den 
Publikationen  ist  sowohl  das  isolierte,  wie  das  kombinierte  Auftreten  der 
verschiedenartigsten  Veranlassungen  tabellarisch  dargestellt.  Jedoch  sind 
die  früheren  Veröffentlichungen  mit  denen  von  1898  ab  nicht  ver- 
gleichbar wegen  des  Hinzukommens  des  Bergbaus  in  letzterem  Jahre, 
und  die  Wiedergabe  dieser  kombinierten  Tabelle  auch  nur  fiir  ein  Jahr 
würde  zu  viel  Raum  beanspruchen.  Aus  der  Tabelle  für  1898  ')  ergiebt 
sich,  dafs  „Reduktion  der  Löhne“  in  28  Fällen  die  alleinige  Veranlassung 
bildete,  in  1 Falle  erscheint  sie  mit  „Behandlung  der  Arbeiter",  „Unzu- 
friedenheit mit  der  Arbeitsordnung“  und  „anderen  Veranlassungen"  ver- 
eint u.  s.  w. ; „Unzufriedenheit  mit  den  Löhnen“  tritt  in  65  Fällen  als 
alleinige  Veranlassung  auf,  in  3 Fällen  vereint  mit  „mifsliebige  Vor- 
gesetzte“, in  30  Fällen  vereint  mit  „Unzufriedenheit  mit  der  Arbeits- 
dauer". Die  weiter  aufgeführten  Veranlassungen  sind  unter  Angabe  der 
Zahl  ihres  Vorkommens  überhaupt:  Lohnauszahlung  (8),  Verlängerung 
der  Arbeitsdaucr,  auch  durch  Aufheben  der  Arbeitspausen  (9),  Unzu- 
friedenheit mit  der  Arbeitsdauer  (54),  mifsliebige  Vorgesetzte  (21),  Be- 
handlung der  Arbeiter  (9),  Entlassung  von  Arbeitern  (36),  Unzufrieden- 
heit mit  der  Arbeits-  bezw.  Dienstordnung  (20),  Aufnahme  neuer  Ar- 

l)  Kür  1899,  1900  und  1901  fehlt  in  dem  Qucllenwcrk  leider  die  Kombina- 
tionstabelle und  es  wird  auf  die  Einzeldarstellung  in  der  Tabelle  V verwiesen. 


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414 


Miszellen. 


beiter  (i),  Einführung  der  Akkordarbeit  (6),  Kürzung  der  Arbeitszeit  (*'), 
Unzufriedenheit  mit  der  Verpflegung  (r),  Unzufriedenheit  mit  der  zuge- 
teilten Arbeit  (i),  mifsliebige  Arbeiter  (8),  andere  Strikes  (5),  andere 
Veranlassung  (14)  bei  insgesamt  255  Strikefällen. 

Die  Forderungen  der  Strikenden  zerlegt  die  amtliche  Statistik 
in  drei  Hauptgruppen,  je  nachdem  sie  sich  auf  die  Lohnhöhe,  die  Arbeits- 
zeit oder  andere  Gegenstände  beziehen.  Lohnforderungen  kamen  im 
Jahre  zgor  ebenso  wie  in  den  Vergleichsjahren  1894  bis  1900  am 
häufigsten  vor,  nämlich  bei  164  Arbeitseinstellungen  mit  16535  striken- 
den Arbeitern.  Forderungen  inbetreff  der  Arbeitszeit  wurden  bei  72 
Ausständen  mit  8652  strikenden  Arbeitern  gestellt.  Unter  den  Lohn- 
forderungen stehen  die  auf  Erhöhung  der  Tagelöhne  und  Akkordsätze 
wie  in  den  Vorjahren  obenan,  indem  diese  Forderung  im  Jahre  1901 
bei  r 28  Ausständen  von  13535  strikenden  Arbeitern  erhoben  wurde. 
Im  Vergleich  zur  Gesamtheit  der  Ausstände  des  betreffenden  Jahres  er- 
giebt  sich  das  Auftreten  dieser  Forderung  1894  bei  54,65  Proz.,  1S95 
bei  51,20  Proz.,  Z896  bei  56,72  Proz.,  1897  bei  56,10  Proz.,  1898  bei 
54,90  Proz.,  Z899  bei  57,88  Proz.,  Z900  bei  60,73  und  >901  bei 
47,4  Proz.  aller  Strikes.  Insgesamt  wurde  diese  Forderung  in  r 145  von 
2071  Ausständen  der  8 Jahre  gestellt,  das  ist  in  55,3  Proz.  aller  Fälle. 

Von  den  übrigen  Lohnforderungen  tritt  nur  noch  die  Forderung  der 
Aufrechterhaltung  der  bestehenden  Löhne,  sowie  der  Bezahlung  der 
Feiertage,  höhere  Bezahlung  der  Ueberstunden  u.  s.  w.  hervor.  Erstere 
wurde  im  Jahre  zgor  28mal  von  2 4t 5 strikenden  Arbeitern,  die  zweite 
Forderung  Z4mal  von  z 891  strikenden  Arbeitern  gestellt 

Unter  den  Forderungen  betreffend  die  Arbeitszeit  ist  die  auf  Kürzung 
der  täglichen  Arbeitszeit  abzielende  die  häufigste.  Sie  wurde  im  Jahre 
1901  61  mal  von  7117  strikenden  Arbeitern  gestellt,  das  ist  bei  22,6 
Proz.  aller  Strikes  gegen  32,7  Proz.  im  Jahre  1900  33,76  Proz.  im 
Jahre  1899  25'9°  Proz.  im  Jahre  T898,  23,58  Proz.  im  Jahre  1897, 
31,48  Proz.  im  Jahre  1896,  24,88  Proz.  im  Jahre  1895  und  26,74  Proz. 
im  Jahre  1894.  In  allen  8 Jahren  wurde  diese  Forderung  in  583  Aus- 
ständen erhoben,  das  ist  bei  28, r Proz.  aller  Strikes.  Daneben  tritt 
die  Forderung  der  Kürzung  der  täglichen  Arbeitszeit  an  Samstagen 
oder  Montagen,  sowie  die  Forderung  der  Aufrechterhaltung  der  be- 
stehenden Arbeitszeit  häufiger  hervor,  und  zwar  im  Jahre  Z901  erstere 
6 mal  mit  r 185  strikenden  Arbeitern,  letztere  5 mal  mit  2497  strikenden 
Arbeitern. 

Von  der  dritten  Gruppe  der  Forderungen  machen  sich  jene,  welche 
die  Dienst-  bezw.  die  Arbeitsordnung  und  die  Wiederaufnahme  ent- 
lassener Arbeiter  betreffen,  am  meisten  bemerkbar,  erstere  wurde  im 
Jahre  lgoi  51  mal  von  7240  strikenden  Arbeitern,  d.  i.  bei  18,9  Proz. 
aller  Strikes,  letztere  37 mal  von  r 822  strikenden  Arbeitern,  d.  i.  bei 
13,7  Proz.  aller  Strikes  erhoben. 


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Cl.Heifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894—1901.  41  j 

Nach  Prozenten  der  Arbeitseinstellungen  des  betreffenden  Gewerbe- 
zweiges waren  im  Jahre  1901  die  Forderungen  der  Erhöhung  der  Schichten-, 
Tagelöhne  oder  Akkordsätze  besonders  häufig  im  Verkehrswesen  mit 
100  Proz.,  bei  der  chemischen  Industrie  mit  80,0,  der  Erzeugung  von  Ma- 
schinen u.  s.  w.  mit  66,7,  der  Textilindustrie  mit  60,7,  der  Nahrungs-  und 
Genufsmittelindustrie  mit  61,5,  dem  Baugewerbe  mit  58,3,  der  Industrie 
in  Steinen,  Erden,  Thon  und  Glas  mit  55,2  und  der  Bekleidungs-  und 
Putzwarenindustrie  mit  53,6  Proz.  Diese  Forderungen  waren  verhältnis- 
mäfsig  selten  in  der  Papierindustrie  mit  37,5  Proz.,  in  Zentralanlagen 
für  Kraftlieferung,  Beheizung  und  Beleuchtung  mit  33,3  Proz.  und 
Metallverarbeitung  mit  9,1  Proz.  In  der  Gast-  und  Schankwirtschaft, 
im  graphischen  Gewerbe  und  im  Handel  wurden  sie  überhaupt  nicht 
erhoben. 

Um  Aufrechterhaltung  der  bestehenden  Löhne  wurde  gekämpft  in 
der  Papierindustrie  in  100  Proz.,  in  der  Metallverarbeitung  in  36,4  Proz., 
in  den  Zentralanlagen  für  Kraftlieferungen  und  Beleuchtung  in  33,3  Proz., 
in  der  Bekleidungs-  und  Putzwarenindustrie  in  21,4  Proz.,  in  der  In- 
dustrie in  Holz-  und  Schnitzwaren  und  Kautschuk  in  11,1  Proz.,  in  der 
Textilindustrie  in  10,7  Proz.,  in  der  Industrie  in  Steinen,  Erden,  Thon 
und  Glas  in  6,9  Proz.,  während  die  chemische  Industrie,  das  Bau- 
gewerbe, sowie  der  Handel  und  das  Verkehrswesen,  die  Industrie  in 
Leder,  Häuten,  Borsten,  Haaren  und  Federn,  die  Erzeugung  von  Ma- 
schinen, Apparaten  u.  s.  w.,  die  Industrie  in  Nahrungs-  und  Genufs- 
initteln  und  die  graphischen  Gewerbe  überhaupt  nicht  um  diese  Forde- 
rung kämpften. 

Für  die  Aufrechterhaltung  der  bestehenden  Arbeitszeit  war  nur  in 
wenigen  Industriezweigen  zu  kämpfen,  nämlich  bei  der  Industrie  in 
Holz-  und  Schnitzwaren  und  Kautschuk  mit  7,4  Proz.,  beim  Bergbau  mit 
5,0  Proz.,  im  Baugewerbe  mit  4,2  Proz.,  sowie  in  der  Industrie  in  Steinen, 
Erden,  Thon  und  Glas  mit  3,4  Proz.  Am  zahlreichsten  waren  dagegen 
unter  den  auf  die  Arbeitszeit  gerichteten  Forderungen  diejenigen,  die  ihre 
Kürzung  bezweckten.  Am  häufigsten  wurde  diese  Forderung  erhoben  in 
der  Industrie  in  Nahrungs-  und  Genufsmitteln  in  76,9  Proz.  aller  Strike- 
fälle;  es  folgen  die  Papierindustrie  mit  37,5,  die  Bekleidungs-  und  Putz- 
warenindustrie mit  35,7,  das  Baugewerbe  und  die  Zentralanlagen  für 
Kraftlieferung,  Beheizung  und  Beleuchtung  mit  je  33,3,  die  Industrie  in 
Holz-  und  Schnitzwaren  und  Kautschuk  mit  25,9,  in  Leder,  Häuten, 
Borsten,  Haaren  und  Federn  mit  25,0,  die  Industrie  in  Steinen,  Erden, 
Thon  und  Glas  mit  20,7,  die  Metallverarbeitung  mit  18,2,  der  Bergbau 
mit  12,5,  die  graphischen  Gewerbe  mit  9,1  und  die  Erzeugung  von 
Maschinen,  Apparaten,  Instrumenten  und  Transportmitteln  mit  6,7  Proz. 
Gar  nicht  wurde  die  Forderung  erhoben  bei  der  chemischen  Industrie 
und  den  anderen  Gewerben,  im  graphischen  Gewerbe,  im  Gast-  und 
Schankgewerbe,  sowie  im  Handels-  und  Verkehrswesen.  Verhältnismäfsig 


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Miszellen. 


416 

selten  wurde  auch  die  Abschaffung  oder  Beschränkung  von  Sonn-  und 
Feiertagsarbeit  gefordert,  nämlich  in  der  Industrie  in  Nahrungs-  und 
Genufsmitteln  in  7,7  Proz.,  in  der  Bekleidungs-  und  Putzwarenindustrie 
in  7,1  Proz.,  und  im  Bergbau  in  5,0  Proz.,  während  diese  Forderung 
in  allen  übrigen  Industriezweigen  überhaupt  nicht  erhoben  wurde.  In 
sehr  zahlreichen  Industriezweigen  wurden  Forderungen  erhoben,  die  sich 
auf  die  Dienst-  oder  Arbeitsordnung,  auf  Vorkehrungen  an  den  Arbeits- 
räumen oder  Arbeiterwohnungen  bezogen  oder  die  Entfernung  von  Vor- 
gesetzten, die  Wiederaufnahme  Entlassener,  Nichtentlassung  von  Striken- 
den,  die  Entlassung  von  Strikebrechem  und  mifsliebigen  Arbeitern  und 
die  Anerkennung  oder  Einsetzung  von  Arbeitervertretungen  oder  Ver- 
trauensmännern verlangten.  Die  Freigabe  des  1.  Mai  wurde  nur  in 
10,7  Proz.  der  Strikes  der  Textilindustrie,  in  13,3  Proz.  der  Erzeugung 
von  Maschinen,  Apparaten,  Instrumenten  und  Transportmitteln,  in  1 2,5  Proz. 
der  Industrie  in  Leder,  Häuten,  Borsten,  Haaren  und  Federn  und  in 
2,5  Proz.  des  Bergbaues  gefordert.  Die  Einführung  der  Akkordarbeit  wurde, 
was  als  Unikum  erwähnt  werden  mag,  im  Jahre  1898  in  3,70  Strikefällen 
der  Industrie  in  Steinen  u.  s.  w.  und  in  16,67  Proz.  der  graphischen  Ge- 
werbe verlangt,  während  die  auf  Abschaffung  der  Akkordarbeit  gerichtete 
Forderung  weit  häufiger  hervortrat. ') 

Auf  Grofs-  und  Kleinbetriebe  verteilten  sich  die  Hauptforderungen 
folgendermafsen : 

I.  Nur  Grofsbetriebe  betrafen  1894  139,  1895  153,  1896  204, 
1897  186,  1898  185,  1899  250,  1900  215  und  1901  214  Strikes.  Davon 
entfielen : 


1894 

1895 

« 

896 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

auf  abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs.  Prw 

Aufrechterhaltg. 
d.  bestehenden 
Löhne  . . .16 

11, 5‘ 

17 

ll,l  1 

21 

10,29 

17 

9.14 

26 

14.05 

28 

1 1.20 

17 

791 

26 

12.. 

Erhöhung  der 
Schichtenlöhnc 
od. Akkordsätze  72 

51.80 

76 

4967 

1 1 1 

54,4  > 

104 

55,91 

88 

47.57 

143 

57,20 

141 

66.58 

99 

4*; 

Aufrechterhaltg. 
d.  bestehenden 
Arbeitszeit  . . 6 

4.32 

4 

2,61 

5 

2,45 

3 

1.61 

5 

2,70 

7 

2,80 

4 

1,86 

3 

m 

Kürzung  der  täg- 
lich. Arl>eitszeit  32 

23.02 

*7 

1 7.65 

25.49 

35 

18,82 

3' 

16,76 

74 

29,60 

62 

28,84 

43 

201 

Die  Arbeitsord- 
nungbetreffend 32 

23,02 

40 

26,14 

47 

23.04 

44 

23.66 

40 

21.62 

64 

25,60 

49 

22.79 

46 

21.« 

Wiederauf- 
nahme entlass. 
Arbeiter  . . 28 

20,14 

29 

18,95 

3i 

15,20 

26 

1398 

30 

16, 22 

35 

■4.00 

23 

10,70 

27 

irt 

*)  Für  1900  fehlen  die  bezüglichen  Yerhiiltniszahlen. 


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CI.  Heils,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1 894  —1901.  417 

II.  Nur  den  Kleinbetrieb  betrafen  1894  27,  1895  44,  1896  73, 

1897  50,  1898  52,  1899  53,  1900  77  und  1901  47  Strikes.  Davon  kamen 

1894  1895  1896  1897  1898  1899  1900  1001 


auf  abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

aks. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs.  Proz. 

if  rechte  rhaltg. 
L bestehenden 

-ohne  . 

4 

14,82 

4 

9.09 

4 

5,48 

2 

4,00 

s 

9,62 

2 

3.77 

6 

7,79 

2 

4,3 

ikihung  der 
xhichten-, 
agelöhne  oder 
Akkordsätze  . 

>7 

62,96 

*4 

54,55 

46 

63,01 

30 

60,00 

39 

75,0° 

33 

62,26 

34 

44,16 

22 

46,8 

ofrechtrrhaltg. 
L bestehenden 
Arbeitszeit  . 

I 

3.70 

I 

l,3o 

3 

6,4 

ürzung  der  täg- 
ikh.  .Arbeitszeit 

9 

33.33 

19 

43,18 

29 

39,73 

19 

38,00 

21 

40,39 

25 

47,17 

31 

40,26 

16 

34,0 

*ie  Arbeitsord- 
nung betreffend 

3 

I IyX  I 

3 

6.82 

4 

5,48 

7 

14,00 

5 

9,62 

8 

15,09 

IO 

12,99 

5 

10,6 

Wiederauf- 
nahme entlass. 
Arbeiter ... 

I 

3.70 

3 

6,82 

7 

9,59 

5 

10,00 

4 

7,69 

$ 

11,32 

5 

6,49 

8 

17,0 

Hieraus 

ergiebt  -sich, 

dafs 

die 

Forderung 

der 

Kürzung  der 

täg- 

liehen  Arbeitszeit  bei  den  Kleinbetriebe  betreffenden  Ausständen  im  Ver- 
hältnis viel  häufiger  vorkommt,  als  bei  den  nur  Grofsbetriebe  berührenden, 
während  bei  den  letzteren  wiederum  wesentlich  öfter  Fragen  der  Lohn- 
erhöhung und  namentlich  der  Aufrechterhaltung  der  bestehenden  Löhne 
sowie  der  Arbeitsordnung  oder  der  Wiederaufnahme  entlassener  Arbeiter 
den  Gegenstand  der  Forderungen  bildeten. 


Strikes  mit  überwiegend  gelernten  Arbeitern  kamen  vor  1894 
147,  1895  163,  1896  257,  1897  194,  1898  200,  1899  255,  1900  270 
und  1901  228.  Davon  entfielen 


1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

1899 

I900 

1901 

auf  abs. 

Aufrechterhaltg. 

bestehenden 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs.  Proz. 

höhne  . . .21 

trhohung  der 
Schichten-, 
Tagelöhne  oder 

14,29 

17 

10.43 

19 

7,39 

17 

8,76 

23 

1 1,50 

21 

8,24 

21 

7,78 

25 

1 1,0 

Akkordsätze  . 75 
■Aufrechterhaltg. 
d.  bestehenden 

51,02 

85 

52,15 

140 

54.47 

99 

5i,o3 

107 

53,50 

152 

59,61 

l6l 

59,63 

105 

46,1 

Arbeitszeit  . . 6 
Kürzung  der  tag- 

4,08 

2 

1,23 

4 

1,56 

3 

1.55 

I 

0,50 

5 

1,96 

5 

1,85 

6 

2,6 

lich.  Arbeitszeit  38 
^ Tbesserung  d. 

25,85 

37 

22,70 

84 

32,68 

46 

23,71 

59 

29,50 

91 

35.69 

92 

34,07 

53 

23,2 

•Arbeitsordnung  31 
AVitderauf- 
nähme  entlass. 

21,08 

37 

22,70 

5« 

19,84 

37 

19,07 

45 

22,50 

66 

25,88 

57 

21,11 

40 

17,5 

^beiter.  . . 25  17,01  26  15,95  34  13,23  29 

Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIU. 

14,95 

28 

24,00 

39 

15.29 

27 

26 

9,63 

34 

14.9 

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418 


Miszellen. 


Strikes  mit  überwiegend  ungelernten  Arbeitern  kamen  vor  1894 
*5.  1895  46,  1896  48,  1897  5a,  1898  55,  1899  56,  1900  33  und 
1901  42.  Davon  entfielen 


1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

auf 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

abs.  Pr 

Aufrechterhaltg. 
d.  bestehenden 
Löhne  . . . 

4 

8,70 

6 

12,50 

3 

5»77 

8 

14.55 

9 

16,07 

3 

9.09 

3 

Erhöhung  der 
Schichten-, 
Tagelöhne  oder 
Akkordsätze  . 

*9 

76,00 

22 

47, *3 

32 

66,67 

39 

75.°° 

33 

60,00 

28 

50,00 

23 

69.70 

*3 

Aufrechterhaltg. 
d.  bestehenden 
Arbeitszeit  . . 

1 

4.00 

2 

4,35 

1 

2,08 

4 

7,27 

2 

3.57 

Kürzung  der  täg- 
lich. Arbeitszeit 

8 

32.00 

*5 

32,61 

12 

25,00 

12 

23.08 

7 

'2,73 

14 

25,00 

7 

21,21 

8 

iaa 

Verbesserung  d. 
Arbeitsordnung 

4 

l6roo 

9 

19.57 

5 

10,42 

*7 

32,69 

7 

l*,73 

10 

17.86 

5 

' S> 1 5 

11 

26 1 

Wiederauf- 
nahme entlass. 
Arbeiter . . . 

4 

16,00 

7 

15.22 

4 

8.33 

2 

3,85 

6 

10,91 

2 

357 

4 

12,12 

3 

7.1 

Bei  den  Strikes  mit  überwiegend  ungelernten  Arbeitern  treten  die 
Forderungen  um  Aufrechterhaltung  der  bestehenden  Arbeitszeit  und  Löhne 
und  „Wiederaufnahme  entlassener  Arbeiter“,  bei  den  Strikes  mit  über- 
wiegend gelernten  Arbeitern  ebenfalls  die  beiden  ersten  Forderungen  zu- 
rück, während  hier  der  letzten  Forderung  eine  gröfsere  Bedeutung  zukommt. 

Hinsichtlich  der  Erfolge  der  Sinkenden  giebt  das  amtliche 
Quellenwerk  (S.  43)  für  die  Jahre  1894  — 1898  folgende  vergleichende 
Zusammenstellung. 

(Siehe  die  Uebersicht  auf  S.  4 19.) 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ist  zu  entnehmen,  dafs  die  Prozentzahl 
der  Strikes  mit  vollem  Erfolg  die  Prozente  der  auf  sie  entfallenden 
strikenden  Arbeiter  regelmäfsig  beträchtlich  übersteigt,  dafs  also  diese 
Strikes  durchschnittlich  nur  geringen  Umfang  hatten.  Nur  im  Jahre 
1897  wird  die  Differenz  relativ  klein  und  es  ist  dieses  Jahr  in  dieser 
Hinsicht  für  die  strikenden  Arbeiter  das  günstigste.  Daraus  jedoch,  dafs 
im  günstigsten  Falle  nur  20,1  Proz.  aller  strikenden  Arbeiter  einen 
vollen  Erfolg  erzielten,  schliefsen  zu  wollen,  die  Strikes  würden  in  der 
weitaus  überwiegenden  Mehrzahl  zu  Ungunsten  der  Arbeiter  ausfallen,  wäre 
ganz  verfehlt.  Denn  bei  gröfseren  Arbeitseinstellungen  ist  doch  der 
regclmäfsige  Verlauf  der,  dafs  die  Arbeiter  gewisse  Forderungen  auf- 
stellen und  dafs  nach  einer  gewissen  Zeit  im  Wege  des  Vergleichs  eine 
Einigung  zustande  kommt.  Der  Fall,  dafs  die  eine  oder  andere  der 
streitenden  Parteien  vollständig  unterliegt,  ist  doch  verhältnismäfsig  selten. 
Recht  ungünstig  erscheinen  die  Strikeergebnisse  für  die  Arbeiter,  wenn 


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CI.  Hcifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1S94 1901.  ^ IQ 


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')  mit  strikendon  *\rbeitcrn.  2)  ütrikenden  Arbeiter. 


420 


Miszellen. 


wir  die  Strikes  ohne  Erfolg  ins  Auge  fassen,  im  Jahre  1894,  insofern  in 
diesem  Jahre  53,54  Proz.  aller  strikenden  Arbeiter  keinen  Erfolg  hatten. 
Die  Verhältnisse  haben  sich  dann  aber  in  den  folgenden  Jahren  wesent- 
lich gebessert:  1895  fiel  die  Prozentzahl  auf  26,50,  stieg  dann  allerdings 
im  folgenden  Jahre  wieder  auf  32,60  und  im  nächstfolgenden  auf  36,50, 
fiel  aber  im  Jahre  1898  auf  25,18  Proz.,  1899  auf  17,80  Proz.  und 
erreichte  1900  mit  9,81  Proz.  den  niedrigsten  Stand,  um  allerdings  im 
letzten  Berichtsjahr  wieder  auf  einen  mittleren  Satz  von  32,1  Proz.  zu 
steigen.  Um  auf  eine  gewisse  Tendenz  oder  Gesetzmäfsigkeit  schliefsen 
zu  können,  dazu  ist  der  Beobachtungszeitraum  allerdings  zu  kurz,  wie- 
wohl es  nicht  unwahrscheinlich  ist,  dafs  mit  der  weiteren  Verbreitung 
und  Erstarkung  der  Arbeiterorganisationen  die  gänzlich  erfolglosen  Strikes 
seltener  werden  werden.  Denn  solche  Organisationen  sind  vorsichtiger 
bei  der  Erklärung  von  Strikes  und  widerstandsfähiger  bei  ihrer  Durch- 
führung. 

Schwieriger  ist  die  Frage,  welcher  Partei  die  Strikes  mit  teilweisein 
Erfolge  zu  gut  zu  schreiben  sind.  Das  Einfachste  wäre  zu  halbieren. 
Dies  würde  jedoch  nicht  das  Richtige  treffen.  Denn  wenn  die  Arbeiter 
auch  nur  eine  ganz  nebensächliche  ihrer  oft  sehr  zahlreichen  Forderungen 
haben  fallen  lassen,  ist  der  Strike  unter  denjenigen  mit  teilweisem  Erfolge 
zu  verrechnen,  während  er  doch  ganz  überwiegend  zu  gunsten  der  Ar- 
beiter ausgefallen  ist.  Da  in  der  Statistik  die  Forderungen  der  Striken- 
den nachgewiesen  werden,  so  wäre  eine  Lösung  des  Problems  darin  zu 
finden,  dafs  man  als  überwiegend  zu  gunsten  der  Arbeiter  ausgefallene 
Strikes  alle  diejenigen  ausscheiden  würde,  bei  denen  die  Hauptforde- 
rungen der  Strikenden  ganz  oder  zum  gröfseren  Teile  erfüllt  worden  sind. 
Hierbei  macht  sich  aber  die  Schwierigkeit  geltend,  im  einzelnen  Falle 
unter  den  verschiedenen  Forderungen  die  Hauptforderungen  zu  ermitteln. 
Soweit  hierbei  psychologische  Momente  in  Betracht  kommen,  entzieht 
sich  eine  solche  Untersuchung  der  Statistik.  Soweit  es  sich  jedoch  um 
materielle  Gesichtspunkte  handelt,  können  wir  die  von  der  amtlichen 
Statistik  ausgeschiedenen,  von  uns  oben  mitgeteilten  auf  die  Lohnhöhe 
und  die  Arbeitszeit  bezüglichen  Fordeningen  als  solche  Hauptforderungen 
gelten  lassen.  Da  nun  die  teilweisen  Erfolge  der  Strikenden  bezüglich 
dieser  Forderungen  ganz  erheblich  überwiegen , können  wir  von  den 
Strikes  mit  teilweisem  F.rfolge  zunächst  annehmen,  dafs  sie  überwiegend 
zu  gunsten  der  Arbeiter  ausgefallen  sind.  Eine  Lohnerhöhung  oder  eine 
Arbeitszeitverkürzung  kann  nun  aber  auch  wiederum  ganz  oder  — was 
wohl  die  Mehrzahl  der  Fälle  bilden  wird  — auch  nur  teilweise  gewährt 
werden.  Doch  wollte  man  auch  diese  Fälle  weiter  unterscheiden,  so 
würden  gar  oft  die  Hilfsmittel  der  Statistik  nicht  mehr  ausreichen.  Man 
denke  nur  an  einen  komplizierten  Lohntarif  in  einer  Buchdruckerei  oder 
Porzellanfabrik!  Wir  wollen  deshalb  der  österreichischen  Statistik  keinen 
Vorwurf  daraus  machen,  dafs  sie  ihre  Untersuchungen  nicht  auch  auf 


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CI.  Heils,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  42I 

diese  Detailfragen  ausgedehnt  hat.  An  sich  ist  die  Sache  ja  auch  von 
untergeordneter  Bedeutung.  Denn  wie  die  gemäfsigtcn  Komschutzzöllner 
behaupten,  die  Komzölle  hätten  nicht  die  Aufgabe,  die  Kornpreise  zu 
erhöhen,  sondern  eine  weitergehende,  die  einheimische  Landwirtschaft 
gefährdende  Verbilligung  der  Getreidepreise  zu  verhüten,  so  ist  u.  E. 
die  nachhaltige  Wirkung  des  Strikes  die,  dafs  sie  eine  weitere  Ver- 
schlechterung der  Arbeitsbedingungen  verhüten,  wenn  sie  auch  den  aus- 
gesprochenen Zweck  verfolgen,  eine  Verbesserung  der  Arbeitsbedingungen 
herbeizuführen.  Gar  mancher  erfolglose  Strike  hat  wenigstens  für  die 
gleichartigen  Betriebe,  die  vom  Strike  verschont  geblieben  sind,  diese 
Wirkung  gehabt. 

Um  zu  sehen,  in  welchem  Umfang  solche  Forderungen  der  Arbeiter, 
die  sich  nicht  auf  die  Lohnhöhe  oder  Arbeitszeit  beziehen,  bei  denen 
also  mehr  jene  psychologischen  Momente  mitspielen,  in  Betracht  kommen, 
wollen  wir  aus  den  Nachweisungen  für  das  Jahr  1901  diejenigen  heraus- 
heben, bei  denen  das  Klassenbewufstsein  der  Arbeiter  das  Hauptmotiv 
bildet.  Im  genannten  Jahre  wurde  die  Entfernung  von  Vorgesetzten 
27  mal  von  4451  Arbeitern  gefordert,  7 mal  vollständig  bewilligt 
und  20  mal  abgelehnt.  Die  Wiederaufnahme  Entlassener  wurde  37  mal 
von  1822  Arbeitern  gefordert,  9 mal  vollständig,  2 mal  teilweise  be- 
willigt und  26  mal  abgewiesen.  Nichtentlassung  von  Strikenden  wurde 
23  ntal  von  3667  Arbeitern  gefordert,  16  mal  vollständig,  1 mal  teilweise 
bewilligt  und  6 mal  abgewiesen.  Die  Entlassung  von  Strikebrechem 
und  mifsliebigen  Arbeitern  wurde  13  mal  von  1417  Arbeitern  gefordert, 
2 mal  vollständig,  1 mal  teilweise  bewilligt  und  jo  mal  abgewiesen.  Die 
Freigabe  des  1.  Mai  wurde  7 mal  von  766  Arbeitern  gefordert,  1 mal 
bewilligt  und  6 mal  abgelehnt.  Die  Anerkennung  oder  Einsetzung  von 
Arbeitervertretungen  bezw.  Vertrauensmännern  wurde  7 mal  von  635 
Arbeitern  gefordert,  5 mal  vollständig,  1 mal  teilweise  bewilligt  und  1 mal 
abgelehnt. 

Von  besonderem  Einflufs  auf  die  Erfolge  der  Strikes  waren  die 
Wiener  Arbeitseinstellungen.  Im  Jahre  1894  hatten  die  Wiener  Strikes 
zwar  eine  bedeutende  Ausdehnung,  aber  wenig  Erfolg ; hingegen  weist 
1895,  wieder  durch  die  Wiener  Strikeresultate  beeinflufst,  hinsichtlich  der 
Erfolge  ein  für  die  Strikenden  günstiges  Ergebnis  auf.  1896  waren  die 
Strikes  in  Wien  wieder  zahlreicher,  der  Erfolg  jedoch  geringer.  1897 
sind  in  Wien  weniger  Ausstände  vorgefallen,  die  durchschnittlich  be- 
deutendsten entfallen  auf  die  Gruppe  der  teilweise  erfolgreichen.  Im 
Jahre  1898  sind  in  Wien  um  6 Ausstände  mehr  als  im  Jahre  1897 
vorgcfallcn;  die  Zahl  der  gänzlich  erfolglosen  ist  jedoch  in  beiden 
Jahren  gleich.  Im  Jahr  1899  verringerte  sich  die  Zahl  der  Wiener 
Strikes  wiederum  um  6 {von  52  auf  46),  erreichte  aber  1900  wieder  die 
gleiche  Zahl  w'ie  1898.  Die  Zahl  der  erfolglosen  Strikes  war  hier 
1900  (21)  am  geringsten,  die  der  Strikes  mit  vollem  Erfolg  am  gröfsten. 


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')  Vgl.  Auch  oben  die  Tabelle  S.  419. 


422 


Miszellen. 


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Im  Jahre  19ÖI  ist  die  Zahl  der  in  Wien  vorgekomnienen  Strikes  gleich  jener  des  Jahres  1900,  der  von 
den  Sinkenden  erzielte  Erfolg  ist  jedoch  gegen  das  Vorjahr  zurückgegangen. 

Kür  das  ganze  übrige  Staatsgebiet  (exklusive  Wien)  erhält  man  folgendes  Verhältnis: 

Es  endeten 


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CI.  H ei  fs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  423 


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6.3 


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424 


Miszellen. 


Die  ungünstigsten  Resultate  für  die  Strikenden  weisen  hiernach  die 
Industrie  in  Holz-  und  Schnitzwaren  und  Kautschuk  und  das  Baugewerbe 
im  Jahre  1894  und  die  Textilindustrie  im  Jahre  1897  auf.  Dieser 
letztere  Mifserfolg  ist  besonders  auf  die  grofse  Arbeitseinstellung  im 
Aupathale  zurückzuführen.  Die  günstigsten  Resultate  weist  hinsichtlich 
der  Zahl  der  erfolglos  Strikenden  die  Industrie  in  Steinen,  Erden,  Thon 
und  Glas  auf. 

Vergleicht  man  die  Erfolge  der  Ausstandsbewegung  des  Jahres  1901 
mit  den  Durchschnittserfolgen  des  ganzen  Zeitraums  1894  — 1901,  so 
zeigt  sich,  dafs  in  dem  Zeitraum  von  1894 — 1901  insgesamt  2071  Strikes 
gezählt  wurden,  von  welchen  419  mit  vollem,  871  ohne  und  781  mit 
teilweisem  Erfolg  der  Ausständigen  endeten ; von  den  in  diesem  Zeit- 
raum im  ganzen  strikenden  424833  Arbeitern  kommen  37689  auf  die 
Ausstände  mit  vollem  Erfolge,  1 17  154  auf  die  erfolglosen  und  269900 
auf  die  Ausstände  mit  teilweisem  Erfolg.  Es  entfallen  also  auf  die 
Ausstände 

1894 — 1901  1901 


Proz. 

Proz.  der 

Proz. 

Proz.  der 

der 

strikenden 

der 

strikenden 

Fälle 

Arbeiter 

Fälle 

Arbeiter 

mit  vollem  Erfolg  . . . 

20,3 

8,9 

20,7 

20,1 

ohne  Erfolg 

42,1 

*7.5 

43.o 

32,1 

mit  teilweisem  Erfolg  . . 

37.6 

63,6 

36.3 

47,8 

Das  Jahr  1901  entspricht  demnach,  was  die  Zahl  der  Fälle  anlangt, 
fast  genau  dem  Durchschnitt.  Rücksichtlich  der  strikenden  Arbeiterschaft 
überragt  es  bedeutend  den  Durchschnitt  in  der  ersten  Kategorie,  d.  i. 
beim  vollen  Erfolg,  ist  auch  noch  höher  bei  den  Strikes  ohne  Erfolg 
und  bleibt  bei  den  Ausständen  mit  teilweisem  Erfolge  erheblich  hinter 
dem  Durchschnitt  zurück. 

Von  ganz  besonderem  Interesse  ist  die  Frage,  ob  der  Grad  der 
Vollständigkeit  der  Beteiligung  an  einer  Arbeitseinstellung  für  den 
Erfolg  der  Strikenden  von  Einflufs  ist.  Dieser  Frage  widmet  die  amt- 
liche Statistik  eine  ausführliche  Tabelle  (IV  E.  S.  1 1 2 ff  ),  in  der  I.  für  die 
Einzelstrikes,  II.  für  Gruppenstrikes  und  III.  für  die  Einzel-  und  Gruppen- 
strikes  die  unvollständigen  und  alle  Strikes  für  die  Jahre  1894 — 1901 
nach  der  Anzahl  der  Fälle  und  der  strikenden  Arbeiter  insgesamt  und 
dann  gegliedert  in  solche  mit  vollem,  teilweisem  und  ohne  Erfolg  je 
wieder  nach  der  Anzahl  der  Fälle  und  beteiligten  Arbeiter  unter  Angabe 
des  l’rozentverhältnisses  nachgewiesen  werden.  In  den  drei  Hauptkate- 
gorieen  (Einzel-,  Gruppen-  und  Einzel-  und  Grup]>enstrikes)  werden  die 
unvollständigen  Strikes  wieder  gegliedert  in  solche,  ' 

a)  bei  denen  die  Zahl  der  gezwungen  Feiernden  gleich  ist  der 
Zahl  der  nicht  strikenden  Arbeiter,  und  andere 


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CI.  Hcifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  425 

b)  mit  einzelnen  vollständig  strikenden  Arbeiterkategorieen  und 
andere 

c)  sich  den  vollständigen  nähernde  und  andere. 

Unter  den  sub  c)  angeführten  werden  solche  Ausstände  verstanden, 
bei  denen  die  Zahl  der  gezwungen  Feiernden  gleich  ist  der  Zahl  der 
nicht  strikenden  Arbeiter,  oder  bei  denen  einzelne  Arbeiterkategorieen 
vollständig  strikten  oder  (bei  Gruppenstrikes)  auch  nur  in  einzelnen  Be- 
trieben der  Ausstand  ein  vollständiger  war.1)  Das  Schlufsergebnis  dieser 
umfangreichen  Tabelle  ist,  dafs  von  den  vollständigen  Strikes  endeten : 

Mit  vollem  Erfolg  Mit  teilweisem  Erfolg  Ohne  Erfolg  d.  Strikenden 


Proz. 

mit  Proz. 

Proz. 

mit  Proz. 

Proz. 

mit  Proz. 

der 

der  strikenden 

der 

der  strikenden 

der 

der  strikenden 

Fälle 

Arbeiter 

Fälle 

Arbeiter 

Fälle 

Arbeiter 

1894 

59.26 

81,5« 

25.93 

16,64 

14,81 

1,85 

1895 

58,62 

39.85 

20,70 

41,55 

20,68 

18,60 

1896 

23,73 

6,38 

40,68 

58,61 

35,59 

35.0' 

1897 

3°.44 

56,18 

32,61 

26,81 

36.95 

17,01 

1 898 

22,22 

8,92 

51,11 

72.85 

26,67 

18,23 

1899 

21,82 

12,51 

50.91 

67,91 

27.27 

>9.58 

1900 

17.78 

2.73 

51.11 

70.50 

31.1t 

26,77 

1901 

34,1 

37,7 

50,0 

55-4 

>5.9 

6,6 

Von  den  unvollständigen  Strikes  dagegen  endeten: 

Mit 

vollem  Erfolg 

Mit  teilweisem  Erfolg 

( )hne 

Erfolg 

Proz. 

mit  Proz. 

Proz. 

mit  Proz. 

Proz. 

mit  Proz. 

der 

der  strikenden 

der 

der  strikenden 

der 

der  strikenden 

Fülle 

Arbeiter 

Fälle 

Arbeiter 

Fälle 

Arbeiter 

1894 

18,62 

3i95 

28,28 

38,79 

53-1° 

57,26 

1895 

21,66 

10,64 

25-56 

62,23 

52,78 

27, «3 

1896 

20,33 

4.33 

35,36 

63,43 

44,3' 

32.24 

1897 

■4,5° 

9.34 

38,00 

51,10 

47,5° 

39.56 

1898 

18,09 

8,17 

39,05 

64,34 

42,86 

27.46 

1899 

14,06 

9.80 

43.75 

72,72 

42,19 

17,48 

1900 

20.54 

4,82 

43,80 

86.86 

35-66 

8,32 

1901 

18,2 

>5.4 

33,6 

45,8 

48,2 

38,8 

*)  Diese  Erklärung  der  den  vollständigen  sich  nähernden  Strikes  wird  in  Anm.  1 
S.  112  ff.  gegeben.  Hiernach  — wenn  die  in  der  Anmerkung  gegebene  Definition 
genau  wäre  — mufs  c = a -f-  b sein,  was  aber  durchweg  mit  den  aufgefiihrten 
Zahlen  nicht  stimmt.  Der  Widerspruch  ist  auch  im  einleitenden  Text  nicht  gelöst. 
Es  ist  also  aus  dem  vorliegenden  Material  nicht  mit  Sicherheit  festzustellcn.  was  unter 
„sich  den  vollständigen  nähernden"  Strikes  zu  verstehen  ist. 

Zur  Aufklärung  dieser  dunklen  Stelle  sei  aus  dem  einleitenden  Text  S.  32 
folgender  Satz  wörtlich  angeführt : „Etwas  Aehnliches,  jedoch  in  geringerem  Mafse 


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426 


Miszellen. 


Wie  nicht  anders  zu  erwarten,  gestalten  sich  die  Ergebnisse  bei  den 
vollständigen  Strikes  ganz  wesentlich  günstiger  flir  die  Strikenden.  Hinsicht- 
lich der  erfolglosen  Strikes  waren  die  Jahre  1894  und  1901  die  günstigsten, 
1896  das  ungünstigste  flir  die  vollständigen  Strikes,  während  die  übrigen  5 
Jahre  nur  geringe  Abweichungen  von  einander  zeigen.  Flir  die  unvoll- 
ständigen Strikes  dagegen  waren  die  ungünstigsten  Jahre  bei  weitem 
1894  und  dann  1897  und  1896,  während  1899  und  1900  die  beiden 
günstigsten  Jahre  für  die  strikenden  Arbeiter  waren. 

Hinsichtlich  der  an  unvollständigen  Einzel-  und  Gruppenstrikes  be- 
teiligten Arbeiter  ergeben  sich  folgende  Prozentzahlen  für  die  erfolg- 
losen Strikes: 


a)  bei  denen  die  Zahl 
der  gezwungen  Feiern- 
den gleich  ist  der  Zahl 
der  nicht  strikenden 

1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

Arbeiter 

20,05 

12,84 

5,20 

14,47 

21,34 

1,29 

36,62 

26,0 

andere 

b)  mit  einzelnen  vollstän- 
dig strikend.  Arbeiter- 
kategorieen oder  voll- 
ständigem Ausstande 

60,47 

28,80 

34,15 

46,19 

30.74 

20.52 

5,66 

42,7 

in  einzelnen  Betrieben 

69,09 

22,06 

37.68 

39,87 

21,73 

16,12 

15,18 

33.3 

andere 

c)  sich  den  vollständig 

25.96 

40,91 

29,69 

40,38 

42JO 

20,85 

2,68 

46,4 

nähernden  .... 

69,09 

22,99 

37,66 

39.22 

25.43 

14,97 

15,12 

31,1 

andere 

25,96 

39,04 

29,54 

40,35 

37.5° 

26.31 

2,56 

52.5 

In  der  Rubrik  a)  sind  die  Resultate  flir  die  Strikenden  bei  Aus- 
ständen, bei  denen  die  Zahl  der  gezwungen  Feiernden  gleich  ist  der  Zahl 
der  nicht  strikenden  Arbeiter  fast  durchweg  günstiger  als  bei  den  anderen 
Strikes.  In  der  Rubrik  b)  sind  die  Resultate  bei  den  Strikes  mit  einzelnen 
vollständig  strikenden  Arbeiterkategorieen  oder  vollständigem  Ausstande 
in  einzelnen  betrieben  nur  in  den  Jahren  1894,  1896  und  1000  für  die 

gilt  auch,  wenn  man  die  Ausstände  mit  vollständig  stinkender  Arbeiterkategorie 
oder  mit  vollständigem  Strike  in  einzelnen  Betrieben  (also  b),  dann  die  in  den  Ta- 
bellen der  Kürze  halber  als  sich  den  vollständigen  nähernde  Strikes  bezeichnten 
Ausstände  (das  ist  jene,  bei  welchen  sich  auch  nur  einer  der  früher  genannten  Um- 
stände — Unterbrechung  der  Arbeit  aller  nicht  selbst  strikenden  Arbeiter  (wohl  a) 
und  vollständiger  Ausstand  wenigstens  einer  Arbeiterkategorie  oder  in  einzelnen  Be- 
trieben — ergab)  mit  den  übrigen  vollständigen  Strikes  vergleicht.“  Hiernach  wären 
unter  a)  alle  Strikes  aufgeführt,  bei  denen  sich  die  Unterbrechung  der  Arbeit  aller 
nicht  selbst  strikenden  Arbeiter  ergab,  was  aus  dem  Text  der  Tabelle  nicht  ersicht- 
lich ist.  Es  scheint  hier  ein  Fehler  unterlaufen  zu  sein.  Die  ganze  S.  32  und  die 
erste  Hälfte  der  S.  33  der  Einleitung  ist  im  Vergleich  mit  den  Tabellen  unver- 
ständlich. 


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<1.  Heifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1S94 — 1901. 

Strikenden  ungünstiger  als  bei  anderen  Strikes. . Die  rätselhafte  Rubrik  c) 
verläuft  in  dieser  Hinsicht  parallell  mit  der  Rubrik  b). 

Die  Erfolge  der  Strikes  hinsichtlich  ihrer  Dauer,  des  Geschlechtes 
der  beteiligten  Arbeiter,  ob  es  gelernte  oder  ungelernte  Arbeiter  waren, 
weiter  zu  untersuchen  bietet  im  vorliegenden  Falle  wenig  Interesse. 
Erwähnung  dagegen  verdient,  dafs  die  Strikes  mit  Intervention  von  Ar- 
beitervertretungen bei  den  Fällen  ohne  Erfolg  mit  stark  unterdurch- 
schnittlichen Ziffern  vertreten  sind,  also  für  die  Arbeiter  weit  günstiger 
verliefen  als  solche  ohne  solche  Interventionen.  Der  Ausgang  der  Ab- 
wehrstrikes  stellt  sich  wesentlich  günstiger  dar  als  jener  der  Angriffs- 
strikes;  die  Ausstände,  die  nur  Grofsbetriebe  betrafen,  endeten  für  die 
Strikenden  häufiger  ungünstig,  als  die  nur  oder  auch  Kleinbetriebe  be- 
rührenden Ausstände. 

Ueber  das  Schicksal  der  ausständigen  Arbeiter  nach  Beendigung 
des  Strikes  giebt  nachstehende  Uebersicht  Auskunft. 

(Siehe  die  Uebersicht  auf  S.  428.) 

„Diese  Tabelle  schliefst  freilich  eine  kleine  Ungenauigkeit  in  sich“, 
bemerkt  hierzu  der  amtliche  Bericht  S.  35,  „indem  Gruppenstrikes  vor- 
kamen, bei  denen  die  Arbeiterschaft  in  einigen  Betrieben  etwas,  in  anderen 
gar  nichts  erreichte : weil  aber  nicht  immer  bekannt  ist,  wie  viele  Ar- 
beiter auf  den  ersteren  Teil  und  wie  viele  auf  den  letzteren  kommen, 
so  erscheinen  alle  Teilnehmer  an  diesen  Ausständen  unter  die  Gruppe 
b'i  eingereiht.  Wenn  aber  auch  genaue  Daten  über  diese  Fälle  vorlägen, 
so  könnte  sich  keineswegs  das  Endresultat  der  Berechnung  wesentlich 
ändern.  Leider  ist  es  nicht  möglich,  in  dieser  Darstellung  die  ver- 
schiedenen Arbeiterkategorieen  getrennt  zu  behandeln,  weil  über  die 
entlassenen  und  sonstwie  ausgeschiedenen  Arbeiter  nur  summarische  An- 
gaben vorliegen.“ 

Auf  die  Frage,  wie  oft  die  einzelnen  Forderungen  während  des 
ganzen  Zeitraums  von  1894 — 1901  Erfolg  hatten  und  namentlich  wie 
vielen  Arbeitern  dieser  Erfolg  zu  gute  kam,  giebt  uns  die  vorliegende 
Statistik  leider  keine  Antwort.  Sie  fuhrt  die  einzelnen  Forderungen  für 
die  einzelnen  Jahre  auf,  gegliedert  danach,  ob  sie  in  Einzel-  oder  Gruppen- 
strikes erhoben  wurden,  kombiniert  sie  aber  nicht  mit  dem  Erfolge.  In 
dieser  Hinsicht  sind  wir  auf  die  alte  vage  Unterscheidung  zwischen  An- 
griffs- und  Abwehrstrikes  angewiesen  und  auch  die  Wiedergabe  dieser 
Zahlen  verlohnt  sich  nicht,  da  sie  sich  nur  auf  die  StrikefÜlle  und  nicht 
auf  die  Zahl  der  strikenden  Arbeiter  beziehen.  Eine  Ergänzung  der 
Daten  der  früheren  Jahre  durch  Hinzurechnung  der  Strikeergebnisse  für 
den  Bergbau  ist  leider  auch  nicht  möglich,  da  in  dem  vorhandenen 
Material  die  Zahl  der  Arbeiter,  die  an  dem  Erfolge  beteiligt  waren,  nicht 
nachgewiesen  ist  und  eine  blofse  Nachweisung  der  Strikefälle  die  Mühe 
der  Berechnung  kaum  lohnt. 


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428 


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Von  den  strikenden  Arbeitern 


CI.  Heifs,  Dir  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  429 

Die  folgende  Uebersicht  über  die  Hauptforderungen  der  Strikenden 
(s.  oben  S.  4 1 4 ff.)  bezieht  sich  daher  für  die  Jahre  1894  — 1897  nur  auf 
die  Gewerbebetriebe,  während  sie  1898  auch  den  Bergbau  mitumfafst. 

(Siehe  die  Uebersicht  auf  S.  430  u.  431.) 

Die  auf  Erhöhung  des  Lohnes  und  Verkürzung  der  Arbeitszeit  ge- 
richteten Forderungen  überwiegen  weitaus  alle  anderen  an  Bedeutung. 
Während  aber  die  Bedeutung  der  auf  Erhöhung  der  Löhne  gerichteten 
Forderungen  mit  Ausnahme  der  Jahre  1896,  1899  und  1901  in  stetiger 
Zunahme  begriffen  ist,  trifft  bei  der  auf  Verkürzung  der  Arbeitszeit  ge- 
richteten für  die  Zeit  von  1894  — 1898  das  Gegenteil  zu.  In  den 
beiden  letzten  Jahren  gewinnt  aber  diese  Forderung  wieder  überwiegende 
Bedeutung  und  erreicht  1900  den  höchsten  Stand  in  der  ganzen  Beob- 
achtungsperiode, um  dann  aber  im  letzten  Jahre  auf  den  tiefsten  Stand 
zurückzusinken.  Besonders  günstig  war  das  Bestreben  der  Strikenden  nach 
Lohnerhöhung  in  den  Jahren  1901,  1900,  1898,  1899,  1895  und  1896,  be- 
sonders ungünstig  in  den  Jahren  1894  und  1897.  Dagegen  hatten  die 
Strikenden  mit  der  Aufrechterhaltung  der  bestehenden  Löhne  1 895,  1900 
und  1898  die  ungünstigsten  Erfolge,  1901,  1894,  1897,  1899  und  1896 
dagegen  günstige.  Die  Bestrebungen  nach  Verkürzung  der  Arbeitszeit, 
die  im  Jahre  1894  noch  fast  gänzlich  erfolglos  gewesen  waren,  zeigen 
1895  aufserordentlich  günstige,  von  1896  an  zwar  weniger  günstige, 
aber  doch  überwiegend  für  die  Strikenden  vorteilhafte  Resultate  mit  der 
Tendenz,  sich  zu  bessern  bis  zum  Jahr  1899;  im  Jahre  1900  tritt  ein 
starker  Rückschlag  ein,  so  dafs  das  Ergebnis  dem  Jahr  1 896  gleichkommt. 
Im  Jahre  1901  sind  sodann  diese  Ergebnisse  am  allerungünstigsten  für 
die  Strikenden  innerhalb  der  ganzen  Beobachtungsperiode  seit  1894.  Die 
zur  Aufrechterhaltung  der  bestehenden  Arbeitszeit  unternommenen  Strikes 
zeigen,  wenn  man  die  erfolglosen  Strikes  ins  Auge  fafst,  von  Anfang  an 
ganz  aufserordentlich  günstige  Resultate,  die  bis  zutn  Schlufs  der  Periode 
unausgesetzt  sich  verbessern.  Nur  das  Jahr  1899  macht  hiervon  eine 
Ausnahme.  Das  Jahr  1901  erscheint  mit  seiner  grofsen  Zahl  von  er- 
folglosen Strikes  mit  als  das  ungünstigste.  Ziemlich  ungünstig  ist  auch 
das  Jahr  1896  mit  seiner  grofsen  Zahl  von  Strikes  mit  nur  teilweisem 
Erfolge.  Dagegen  fielen  die  zur  Beseitigung  von  Vorgesetzten  unter- 
nommenen Strikes  mit  einziger  Ausnahme  des  Jahres  1899  durchweg 
ganz  überwiegend  zu  Ungunsten  der  Strikenden  aus ; am  günstigsten  ist 
sonst  noch  das  Jahr  1897.  Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit  der 
Wiederaufnahme  Entlassener,  wobei  das  Jahr  1897  noch  wesentlich 
günstiger  war  als  bei  der  eben  erwähnten  Forderung.  Die  F'orderung 
wurde  nur  in  den  Jahren  1896,  1898  ganz  besonders  stark  aber  1900 
von  einer  verhältnismäfsig  gröfseren  Anzahl  von  Strikenden  (17,20,  16,50, 
56,47  Proz.)  erhoben,  jedoch  in  allen  drei  Jahren  mit  überwiegend  un- 
günstigem Erfolg. 

Während  die  auf  die  Lohnhöhe  und  die  Arbeitszeit  gerichteten 


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430 


Miszellen, 


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CI.  Hcifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  431 


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*)  Für  1894  nicht  besonders  nachgewiesen. 

*}  sc.  aller  strikenden  Arbeiter. 

*)  sc.  der  wegen  des  betreffenden  Motivs  strikenden  Arbeiter. 


432 


Miszellen. 


Forderungen  in  der  Regel  zu  Beginn  des  Strikes  gestellt  werden  und 
auch  unter  den  Veranlassungen  die  Hauptrolle  spielen,  kann  die  For- 
derung der  Wiederaufnahme  Entlassener  ebensowohl  die  Veranlassung 
zu  einem  Strike  geben,  als  auch  erst  im  Verlauf  des  Strikes  auftreten, 
wenn  z.  B.  die  Leiter  des  Strikes  entlassen  worden  sind.  Dagegen 
werden  die  auf  Schutz  der  Strikenden  gegen  Entlassung  und  auf  Ent- 
lassung von  Strikebrechem  gerichteten  Forderungen  in  der  Regel  erst 
im  Verlauf  des  Strikes  erhoben  werden.  Man  wird  sie  wohl  mehr  als 
Nebenforderungen  bezeichnen  können.  Verhältnismäfsig  am  stärksten 
tritt  die  erste  dieser  Forderungen  in  den  Jahren  1895,  1896,  1897,  1899 
und  ganz  besonders  1900  auf,  die  zweite  ist  durchweg  von  untergeord- 
neter Bedeutung,  von  der  geringsten  im  Jahre  1900.  Die  Erfolge  der 
ersten  Forderung  sind  sehr  schwankend,  aber  durchweg  ganz  erheblich 
günstiger,  als  die  der  zweiten,  die  durchschnittlich  für  mehr  als  80  Proz. 
der  Strikenden  ungünstig  ausfiel. 

Die  auf  die  Freigabe  des  1.  Mai  gerichtete  Forderung  haben  wir 
mithervorgehoben,  weil  sich  in  ihr  das  Klassenbewufstsein  der  Arbeiter 
ganz  besonders  dokumentiert.  Nur  im  Jahre  1894  wurde  diese  Forde- 
rung von  einer  erheblichen  Anzahl  von  Arbeitern  gestellt  und  zwar  mit 
überwiegend  ungünstigem  F.rfolg.  1895  war  die  Beteiligung  und  der 
Erfolg  am  ungünstigsten.  1896  stieg  die  Beteiligung  und  der  Erfolg. 
1897  ging  die  Beteiligung  fast  wieder  um  die  Hälfte  zurück,  während 
der  Erfolg  stieg.  1 898  mehrte  sich  die  Beteiligung  nur  unmerklich, 
während  der  Erfolg  ein  durchschlagender  war.  1899  und  1900  stieg 
wieder  die  Beteiligung,  während  der  Erfolg  ungünstiger  wurde.  1901 
gelangten  Beteiligung  und  Erfolg  auf  dem  Gefrierpunkt  an. 

Zu  erwähnen  ist  noch,  dafs  jede  Forderung  so  oft  gezählt  wurde, 
als  sie  erhoben  wurde  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  daneben  noch  andere 
Forderungen  gestellt  worden  sind.  Die  einzelnen  Forderungen  sind  zwar 
in  den  einzelnen  Jahrgängen  der  Statistik  miteinander  kombiniert,  jedoch 
erstreckt  sich  diese  Kombination  nicht  auch  auf  die  Erfolge. 

Mit  Recht  wird  man  einzelne  Forderungen,  wie  z.  B.  die  Nicht- 
entlassung Strikender,  oder  die  Entlassung  von  Strikebrechem  als  Ausflufs 
des  Solidaritätsgefiihls  der  Arbeiter  bezeichnen  können.  Dagegen  ist 
es  unzulässig,  aus  einer  Abnahme  der  Zahl  der  Strikenden,  die  diese 
Forderungen  stellen,  auf  einen  Rückgang  des  Solidaritätsgefühls  zu 
schliefsen.  Denn  die  Gefahr , die  durch  diese  Forderungen  beseitigt 
werden  soll,  kann  durch  das  erstarkte  Solidaritätsgeluhl  der  Arbeiter  so 
gering  geworden  sein , dafs  die  Erhebung  solcher  Forderungen  nicht 
mehr  notwendig  erscheint.  Es  sind  dies  so  komplizierte  Verhältnisse, 
dafs  hier  die  Mittel  der  Statistik  notwendig  versagen  müssen. 

Ueber  die  Höhe  der  erzielten  Lohnaufbesserung  fehlen  die  Daten 
für  das  Jahr  1894  überhaupt  und  für  die  Jahre  1895,  1896  und  1897 
für  die  Arbeitseinstellungen  im  Bergbau. 


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CI.  H e ifs,  I>ie  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  433 


Im  Jahre  1895  betrug  die  Lohnerhöhung  in  1 Fall  3 — 10  Proz.,  in 
4 Fällen  5 — 6 Proz.,  in  je  1 Fall  6 — 11  und  7 — 25  Proz.,  in  11  Fällen 
S — 121,  Proz.,  worunter  je  1 Fall  mit  10 — 13  und  10 — 15  Proz.,  in 

1 Fall  I21/, — 25  Proz.,  in  je  1 Fall  13,  14 — 25,  16  und  16 — 19  Proz., 
in  2 Fällen  20 — 25  Proz.,  in  je  1 (zusammen  also  in  9)  Fällen  20- — 30, 
20 — 40,  20 — 50,  23,  25,  25 — 30,  25 — 40,  30  und  43  Proz.  und  war 
in  20  F'ällen  prozentuell  unbestimmbar. 

Im  Jahre  1896  betrug  die  Lohnaufbesserung  in  je  1,  zusammen  in 
10  Fällen  zwischen  2 */,  und  4*/*  — 15  Proz.,  in  6 Fällen  5 — 7 Proz.,  in 
je  1,  zusammen  in  9 Fällen  zwischen  5 — 10  und  7 '/. — 2 5 Proz.,  wiederum 
in  je  1 Fall  7*/s — 10  und  8 Proz.,  in  12  Fällen  10  Proz.,  in  je  1, 
zusammen  in  4 Fällen  zwischen  10 — 15,  18,  20  und  10 — 50  Proz.,  in 

4 Fällen  ii1/» — I2'/s  Proz-»  in  1 Fall  1 4 '/4 — i6'/9  Proz.,  in  3 Fällen 
15  Proz.,  in  je  1 Fall  iS — 40  und  18 — 20  Proz.,  in  3 F'ällen  20,  in 

2 22,  in  3 30,  in  4 40  und  in  1 Falle  50 — S 4 */B  Proz.  und  war  in 
28  Fällen  prozentual  unbestimmbar. 

Ira  Jahre  1897  stellte  sich  die  Lohnerhöhung  auf  2 */4 — 3*4  Proz. 
in  1 Fall,  5 Proz.  in  5,  5 — 10  Proz.  in  2 F'ällen,  zwischen  5 — 12,  15, 
17  und  20,  51/» — 7,  6 und  77 — 2 2 “7  Proz.  in  je  1,  zusammen  in 

7 F'ällen,  10  Proz.  in  5 Fällen,  zwischen  10 — 17,  10 — 30  und  16 */*  bis 
25  Proz.  in  je  1,  zusammen  in  6 F'ällen,  20  Proz.  in  2 Fällen,  20  — 25t 
25,  25  — 30  und  35  Proz.  in  je  1,  zusammen  in  4 Fällen  und  war  in 
35  Fällen  prozentuell  unbestimmbar. 

Im  Jahre  1898  betrug  die  Lohnaufbesserung  1 7« — 2 und  3 bis 
6-s  Proz.  in  je  1 F'all,  4 Proz.  in  2 F'ällen,  4’ / 4,  4 ’/s — 14,  5,  5 — 10, 

5 — 20,  57.»  5 Vs“  8 Vs»  7—14.  7 — »5.  7 ’/a  — 10>  8—10,  8—30  und  87, 
Proz.  in  je  1,  zusammen  in  13  F'ällen,  10  Proz.  in  3 F'ällen,  10  - 13 */,,  10 — 15, 
jo  — 20,  10 — 30,  10 — 50,  ios/„,  11  und  12  — 14  Proz.  in  je  1,  zusammen 
in  8 F'ällen,  14  Proz.  in  2 Fällen,  15  und  i64/„ — 25  Proz.  in  je  1 Fall, 
20  Proz.  in  5 Fällen  und  20 — 28,  20 — 40,  25,  25 — 30  und  33  Proz. 
in  je  1 zusammen  in  5 Fällen  und  war  in  43  Fällen  prozentuell  unbe- 
stimmbar. 

1899  stellte  sich  die  Lohnaufbesserung  auf  4 Proz.  in  1 Fall, 
5 Proz.  in  7 Fällen,  5 — 77,  Proz.  in  1 Falle,  5 — 10  Proz.  in  5,  5 bis 
15  Proz.  in  2,  5 — 45  und  57, — 147,  Proz.  in  je  einem  Falle,  6 Proz. 
in  2 Fällen,  6 — 7,  6 — 15  und  7 Proz.  in  je  1 Fall,  8 Proz.  in  2 Fällen, 

8 — 12  Proz.  in  1 F'all,  1 o Proz.  in  18  F'ällen,  1 o — 1 2 Proz.  in  1 Fäll, 
10 — 15  Proz.  in  2 F'ällen,  10 — 30,  11  — 16,  12  und  13  — 15  Proz.  in 
je  1 Fall,  15  Proz.  in  2 F'ällen,  15  — 20  Proz.  in  1 Fall,  20  Proz.  in  3 
und  25  Proz.  in  2 Fällen. 

Im  Jahr  1900  betrug  die  Lohnaufbesserung  2 — 5 Prozent  in 
2 Fällen,  in  je  1 Fall  2 */s — 5 ,/4 , 2 '/, — 20,  3,  3—  87a  und  4 7s  ^roz., 
5 Proz.  in  1 1,  5 — 10  Proz.  und  5 — 15  Proz.  in  je  2 Fällen,  5 */,,  5*/s 
bis  137s  und  6 — 7 Proz.  in  je  i Fäll,  6 — 10  Proz.  in  2 Fällen,  6 ljt, 

Archiv  für  io»,  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  2o 


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434 


Miszellen. 


6 6 ’/,,  7 und  7 — 15  l’roz.  in  je  1 Fall,  7 — 20  Proz.  in  2 Fällen, 
7 */B  und  7 */„  Proz.  in  je  1 Fall,  8 Proz.  in  2 Fällen,  9 — 18  und  9*/10 
Proz.  in  je  1 Fall,  10  i’roz.  in  15  Fallen,  in  zusammen  19  Fallen 
schwankte  sie  zwischen  10  und  20  Proz.,  20  Proz.  und  darüber 
(Maximum  30  Proz.)  betrug  sie  in  zusammen  9 F'ällen. 

Endlich  im  Jahr  1901  ergab  die  Lohnaufbesserung  2 — 3 Proz.  in 
1 Fall,  3 Proz.  in  2 Fällen;  4 1 — 7 Proz.  in  1 ; 5 Proz.  in  2;  6 — 8, 
7,  81., — 1 2 bezw.  14V.  und  9 Proz.  in  je  1 ; 10  Proz.  in  9;  10 — 15, 
10 — 18 s/4,  10  — 20,  10 — 30,  10 — 5 3 */3  und  io1/, — n1/,  Proz.  in  je  1; 
121/.,  Proz.  in  2;  13,  1 4 — 20  Proz.  in  je  1;  15  Proz.  in  2;  20  Proz. 

in  5 und  30 — 40,  33’/, — 40  und  48  Proz.  in  je  einem  Fall.  „Schon  mit 
Rücksicht  auf  die  grofse  Anzahl  der  zuletzt  erwähnten  Falle“,  wird 
in  der  jeweiligen  Publikation  bemerkt,  „sowie  auch  in  Anbetracht 
sonstiger  Schwierigkeiten  in  anderen  Fällen  mufs  darauf  verzichtet 
werden,  einen  detaillierten  Ausweis  über  die  Anzahl  der  an  den 
einzelnen  Lohnerhöhungen  partizipierenden  Arbeiter  zusammenzustellen.“ 
Da  es  sich  hier  um  einen  der  Hauptpunkte  der  Strikestatistik 
handelt,  wäre  es  im  Interesse  der  Sache  sehr  zu  wünschen,  dafs  sich 
diese  F’ormel  in  den  künftigen  Publikationen  nicht  mehr  wiederholt, 

sondern  dafs  zum  mindesten  die  Zahl  der  Arbeiter  in  den  Fällen  ange- 

geben wird,  wo  solche  Schwierigkeiten  nicht  vorliegen  und  diese  letzteren 
soviel  als  möglich  überwunden  werden. 

(Siche  die  L'cbersicht  auf  S.  435.) 

Welch  iibermäfsig  lange  Arbeitszeiten  auch  gegenwärtig  noch  Vor- 
kommen, geht  daraus  hervor,  dafs  im  Jahre  1901  die  Arbeitszeit  infolge 
von  Strikes  herabgesetzt  wurde  in  je  1 F'alle  von  18  (!)  auf  12  */„  von 
1 4 auf  1 2 ; von  1 4,  1 3 und  1 1 auf  1 1 Stunden  und  von  1 2 auf  1 1 ’/» 

Von  1 1 1/3  wurde  sie  in  je  einem  Fall  auf  11,  1 o 1 , und  10  und  von 

ii1/,  auf  io1/, ; in  5 Fällen  von  11  auf  1 o */„,  in  2 von  11  auf  10,  in 
3 von  io1/.,  auf  10,  in  einem  von  10 */,  auf  9 1 /2 ; in  je  3 Fällen  von 
10  auf  91/,  und  9 */4,  in  2 von  10  auf  9;  in  je  1 F'all  von  10  auf  8 
und  von  9’ auf  9,  in  2 Fällen  von  91/«  auf  8* und  endlich  in  einem 
F'all  von  9 auf  81/,.  Stunden  herabgesetzt.  Die  günstigsten  Resultate  weist 
in  dieser  Hinsicht  das  Jahr  1896  auf,  wo  von  58  Fällen  in  33  die  Ar- 
beitszeit auf  weniger  als  10  Stunden  verkürzt  wurde. 

Eine  wichtige  F'rage  betrifft  die  Verluste  und  Opfer,  welche  die 
Arbeitseinstellungen  den  Unternehmern  und  Arbeitern  verursacht  haben. 
F'ür  die  Bemessung  der  den  einzelnen  Produktionszweigen  zugefugten 
Schäden  kommen  neben  der  Anzahl  der  Ausstände  selbst  die  Zahl  der 
strikenden  Arbeiter,  die  Zahl  der  gezwungen  Feiernden  und  die  An- 
zahl der  versäumten  Arbeitstage  in  Betracht.  Die  Jahre  1894 — 1901 
geben  in  dieser  Hinsicht  folgendes  Bild; 

(Siche  die  Ucbersicht  auf  S.  436.) 


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Die  Verkürzung  der  täglichen  Arbeitszeit  machte  aus 


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261435512600U81390OIO536  2S  9364  73813610696  9676  56  28362  22  595  57;  12  319  8500  33  2606  1964 


436 


Miszellen. 


Zahl  der  strikenden  Ar- 

1894 

1895 

1S96 

1897 

1898 

1899 

I9CX> 

1001 

beiter 

67061 

28632 

66234 

38467 

39658 

54  763 

105  128 

Zahl  d.  gezwungen  feiern- 

den  Arbeiter .... 

7562 

2062 

3473 

2858 

5458 

5 374 

7 737 

114 

Versäumte  Arbeit  stage  der 

ersteren 

795  72> 

300348 

899939 

368  O96 

323619 

1 029937 

3413963 

ij7» 

Versäumte  Arbeitstage  der 

letzteren 

100312 

25261 

37945 

33  392 

29254 

106248 

191753 

52W 

zusammen  . 

896033 

325609 

937884 

40  1 488 

352  873 

1 136  185 

3675715 

18973 

Die  Zahl  der  gezwungen  Feiernden  zeigt  in  den  einzelnen  Jahren 
recht  erhebliche  Differenzen  in  ihrem  Verhältnis  zur  Zahl  der  strikenden 
Arbeiter.  Sie  beträgt  in  ihrem  Minimum  in  dem  sehr  lebhaften  Strike- 
jahr  1896  wenig  über  */t0  der  strikenden  Arbeiter  und  steigt  in  ihrem 
Maximum  im  Jahre  1898,  einem  Jahre  mit  mittlerer  Strikebewegung, 
auf  noch  nicht  ganz  */,.  Wenn  man  bedenkt,  dafs  es  sich  hier  um  das 
äufserste  Mittel  in  dem  fortwährenden  Ringen  zwischen  Kapital  und 
Arbeit,  um  den  Kriegszustand  handelt,  so  mufs  man  sagen,  dafs  die  Zahl 
der  nicht  direkt  an  dem  Kampfe  Beteiligten,  sondern  gegen  ihren  Willen 
von  seinen  Folgen  Ergriffenen  verhältnismäfsig  doch  sehr  gering  ist.  Und 
zudem  handelt  es  sich  nicht  um  ganz  Unbeteiligte.  Hat  der  Strike  Er- 
folg, so  kommt  er  in  der  Regel  auch  den  gezwungen  Feiernden  zugute. 
Dies  dürfte  aus  betriebstechnischen  Gründen  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
zutreffen,  bei  denen  der  Erfolg  in  einer  Verkürzung  der  Arbeitszeit  be- 
steht. Aber  auch,  wo  eine  Lohnerhöhung  erzielt  wird,  dürften  diese 
gezwungen  Feiernden,  die  bei  den  Unternehmern  ja  ganz  besonders  be- 
liebt sind,  in  der  Regel  nicht  leer  ausgehen.  Andererseits  dürften  die 
Falle,  in  denen  wegen  Erfolglosigkeit  der  Schaden  der  gezwungen  Feiern- 
den keinen  Ausgleich  findet,  durch  jene  Fälle  mehr  als  aufgewogen 
werden,  in  denen  ein  erfolgreicher  Strike  weit  über  den  Kreis  der  an 
ihm  Beteiligten  hinaus  eine  Verbesserung  der  Arbeitsbedingungen  zur 
Folge  hat.  *)  Gar  mancher  einer  besseren  Einsicht  zugängliche  Unter- 
nehmer, dem  seine  ökonomischen  Mittel  die  Durchführung  ermöglichen, 
wird  erst  durch  einen  Strike  von  der  Wahrheit  des  Satzes  überzeugt, 
dafs  die  niedrigste  Arbeitszeit  beim  höchsten  Lohne  für  den  Unter- 
nehmer am  rentabelsten  ist,  und  handelt  dann  auch  danach.  Wenn  man 
von  den  dauernden  Schädigungen  der  Arbeiter  auch  durch  einen  erfolg- 
reichen Strike  so  viel  Wesens  macht,  so  übersieht  man  dabei,  dafs  ein 
Strike,  der  die  Solidarität  der  Arbeiter  in  besonderer  Stärke  in  die  Er- 
scheinung treten  läfst  — und  mag  er  auch  erfolglos  sein  — der  ganzen 
Arbeiterschaft  zugute  kommt.  Die  Möglichkeit  eines  Strikes,  diese  be- 

*)  In  manchen  Fällen  mußten  übrigens  die  Unternehmer  die  Löhne  an  die 
gezwungen  Feiernden  weiter  bezahlen,  so  dafs  diese  überhaupt  keinen  Schaden 
hatten. 


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CI.  H c i fs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  437 


ständige  Drohung  wird  in  Verbindung  mit  einer  günstigen  Konjunktur 
dem  Unternehmer  vieles  abzwingen,  was  er  ohne  eine  solche  Möglich- 
keit nicht  gewähren  würde.  Allerdings  ist  dabei  die  Voraussetzung  die, 
dafs  die  Arbeiter  ihre  Forderungen  im  richtigen  Zeitpunkt  stellen  und 
nicht  über  das  Ziel  hinausschiefsen.  Dies  wird  aber  von  den  organisierten 
Arbeitern  eingesehen  und  in  dem  Strikereglement  der  Zentralkommission 
der  Gewerkschaften  heifsblütigen  Elementen  gegenüber  nachdrücklich  be- 
betont. Diese  günstigen  indirekten  Folgen  der  Strikes  mufs  man  im  Auge 
behalten,  wenn  man  daran  geht,  den  Lohnausfall  der  Strikenden  zu  be- 
rechnen. Nimmt  man  durchweg  einen  Taglohn  von  3 Mk.  an,  wras  nach 
den  in  den  Spezialtabellen  angegebenen  Daten  über  Wochenlöhne  vor 
dem  Ausstand  jedenfalls  nicht  zu  niedrig  gegriffen  ist,  so  berechnet  sich 
der  Lohnausfall  für  die  Strikenden  und  gezwungen  Feiernden  folgender- 
mafsen : *) 


1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

1899 

1900 

1901 

rrsäurate  Ar- 
beitstage der 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Strikenden 
enäumte  Ar- 
beitstage der 
^zwungen 

2387163 

901  044 

2699817  I 1042SS 

970857 

308981 1 

10451  889 

473  *3* 

Feiernden  . 

300936 

75  783 

■13835 

100  176 

87  762 

3‘8  744 

575*59 

9604s 

:üsammcn  . 

2 688  099 

976827 

2813652  1204464 

1 058619 

3408555 

1 1 025  148 

569  277 

*)  „Ungemein  schwierig“,  bemerkt  die  amtliche  Publikation  ^S.  42),  fallt  auch 
eine,  wenngleich  nur  annähernd  befriedigende  Veranschlagung  des  durch  die  Strikes 
verursachten  Lohnausfalles,  selbst  abgesehen  von  den  Mängeln,  welche  dem  der  Be- 
arbeitung zugeführten  Material  hinsichtlich  der  genauen  und  erschöpfenden  Dar- 
stellung der  Lohnverhältnisse  anhaften. 

Diese  Schwierigkeiten  entspringen  insbesondere  dem  Umstande,  dafs  ein  Teil 
der  strikenden  Arbeiter  (wegen  Entlassung  etc.)  die  Arbeit  in  der  Unternehmung 
nicht  wieder  aufnimmt  und  hinsichtlich  dieser  Personen  eben  dieses  Sachverhaltes 
halber  nur  der  Tag  der  Unterbrechung  der  Arbeit  fcststcht,  nicht  aber  der  Zeit- 
punkt, in  welchem  sie  einen  neuen  Arbeitsplatz  gefunden  haben.  Läfst  man  nun 
diese  die  Arbeit  bei  ihrem  früheren  Arbeitgeber  nicht  wieder  aufnehmenden  Arbeiter 
aufser  Ansatz,  so  ist  die  berechnete  Lohneinbufsc  der  Wirklichkeit  gegenüber  zu 
gering.  Bezieht  man  auch  sie  in  die  Berechnung  ein,  so  bleibt  nichts  anderes 
übrig,  als  auch  für  sie  den  Lohnausfall  bis  zum  Ende  des  Strikes  in  Anschlag  zu 
bringen.  Die  auf  diese  Weise  gefundene  Ziffer  giebt  aber  dann  nicht  so  sehr  die 
finanziellen  Opfer  der  Strikenden  (die  eben  rücksichtlich  des  genannten  Teiles  der 
Arbeiterschaft  völlig  unberechenbar  sind),  sondern  ist  nur  geeignet,  ungefähr  den 
Verdirnstentgang  zu  veranschaulichen,  welcher  die  arbeitende  Klasse  als  Ganzes  wäh- 
rend der  Strikedauer  durch  die  Vakanz  anderenfalls  verfügbarer  Arbeitsplätze  trifft 
[womit  unsere  Schätzung  im  Text  gerechtfertigt  erscheint],  wobei  es  sich  dann 


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438 


Miszellen. 


Ein  Lohnausfall  von  i — 3 Millionen  oder  gar  1 1 Millionen,  wie 
im  Jahre  1900,  jährlich  wird  mancher  sagen  ist  schon  ein  recht  be- 
trächtlicher Verlust  für  die  einzig  auf  ihre  Arbeitskraft  angewiesenen 
Arbeiter  und  eine  grofse  Schädigung  des  Volkseinkommens.  Doch 
halten  wir,  da  zuverlässige  Angaben  über  den  gesamten  verdienten 
Lohn  fehlen,  diesen  1 — 3 Millionen  Mk.  Lohnausfall  die  Thatsache 
gegenüber,  dafs  nach  der  deutschen  Produktionsstatistik  der  Wert  der 
Ganzfabrikate  der  Textilindustrie  allein  (also  abgesehen  von  den  Garnen ) 
1915  Millionen  Mk.  beträgt,  so  müssen  wir  zugeben,  dafs  der  durch 
Strikcs  verursachte  Lohnausfall  verschwindend  klein  ist.  Dies  ergiebt 
auch  eine  Berechnung  des  Lohnausfalls  auf  den  Kopf  der  an  Strikes 
überhaupt  (direkt  oder  indirekt)  beteiligten  Arbeiter.  Dieser  betrug 

1 894  36  Mk 

1895  32  „ 

1896  40  „ 

1897  29  „ 

Das  über  Strikeunterstützungen  durch  die  Gewerkschaften  beige- 
brachte Material  ist  leider  ganz  unzulänglich,  die  an' die  Gewerkschafts- 
kommission in  den  drei  Jahren  vor  1896  für  Strikes  abgeführten  Bei- 
träge betrugen  45400  tl.  Für  die  Jahre  1897  und  1898  liegen  be- 
gleichbleibt, ob  diese  durch  den  Ausstand  frei  gewordenen  Arbeitsplätze  in  der  Folge 
durch  die  ursprünglichen  Inhaber  oder  durch  andere  Personen  eingenommen  werden. 

Vollständig  entgehen  der  Veranschlagung  in  beiden  Fällen  jene  Modifikationen, 
welche  der  auf  die  gedachte  Weise  berechnete  Lohnverlust  durch  gewisse  andere 
Momente  erfährt,  wie  z.  B.  durch  die  Gelegenheit  zu  einem  etwaigen  anderweitigen 
Verdienst  der  Strikcnden  während  der  Dauer  der  Arbeitseinstellung,  durch  späteren 
erhöhten  Verdienst  infolge  intensiveren  Betriebes  zur  Wcttmacbung  des  Produktions- 
ausfalles u.  dgl.  mehr. 

Unter  aller  somit  gebotenen  Reserve  sei  daher  bemerkt,  dafs  die  Berechnung 
des  durch  Ausstände  verursachten  Lohnausfalles  — unter  Rücksichtnahme  auf  die 
Anzahl  der  beteiligten  Arbeiter  in  den  einzelnen  Strikephasen  bei  Arbeitseinstellungen 
mit  wechselnder  Beteiligung  für  alle  strikcnden  Arbeiter  den  Betrag  von  rund 
397000  Kronen  (für  1901]  ergiebt,  wovon  ca.  51900  Kronen  auf  die  gänzlich 
erfolgreichen,  250200  Kronen  auf  die  teilweise  erfolgreichen  und  94900  Kronen 
auf  die  erfolglosen  Ausständc  entfallen.  Auf  jene  Arbeiter,  welche  die  Arbeit  in 
der  Unternehmung  wieder  aufnahmen,  kommen  im  ganzen  vom  genannten  Betrag 
345000  Kronen,  und  zwar  ca.  47400  Kronen  bei  den  vollständig  erfolgreichen, 
214200  Kronen  bei  den  teilweise  erfolgreichen  und  83400  Kronen  bei  den  er- 
folglosen Ausständen.“  Für  1900  war  der  auf  alle  strikcnden  Arbeiter  entfallende 
Lohnentgang  mit  10414000  Kronen  berechnet  worden.“ 

ln  ähnlicher  Weise  wird  hier  der  Lohnverlust  der  gezwungen  Feiernden  auf 
69300  Kronen  berechnet. 


1898  23  Mk. 

1899  56  „ 

1900  98  „ und 

1901  20  „ 


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<’  1.  H eifs,  Oie  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — -1901.  439 

sondere  nach  Berufen  und  Ländern  gegliederte  Nachweise  vor,  die  die 
„gesammelten“  und  „erhaltenen“  Gelder  besonders  aufliihren,  ohne  dafs 
dabei  ersichtlich  gemacht  wäre,  was  unter  diesen  beiden  Ausdrucken  zu 
verstehen  ist.  Insgesamt  wurden  hiernach  im  Jahre  1897  11150  fl. 

41  kr.  gesammelt  und  9 723  fl.  3 kr.  erhalten  und  im  Jahre  1898 
7431  fl.  43  kr  gesammelt  und  6815  fl.  79  kr.  erhalten.  Wie  grofs 
die  jedenfalls  viel  höheren  Beiträge,  die  die  Zentrale  der  Gewerkschafts- 
kommission nicht  passierten,  waren,  erfahren  wir  leider  nicht.  Nur  ganz 
beiläufig  wird  bemerkt,  dafs  die  Gewerkschaft  der  Porzellanarbeiter  für 
die  beiden  Strikes  in  Aich  und  Dallwitz  allein  die  Summe  von  120000  fl. 
aufgebracht  hat.  Nach  dem  Rechenschaftsbericht  der  Gewerkschafts- 
kommission für  den  3.  Gewerkschaftskongrefs  wurden  im  Jahre  1899, 
insoweit  verläfsliche  Zahlen  zu  eruieren  waren,  ausgezahlt: 

Von  den  Industriegruppen  für  eigene  Strikes  aufgebracht  . 182600  Kr. 

Von  der  Gewerkschaftskommission  in  Wien  aufgebracht  . . 153786  „ 

..  ..  Prag  „ . . 23059  „ 

Die  Gesamtsumme,  die  für  Strikeunterstützungen  innerhalb  der  Jahre 
1897 — 99  aufgebracht  und  verteilt  wurde,  beträgt  590596  Kronen. 
Auch  diese  Daten  erscheinen  unzulänglich.  Es  ist  allerdings  begreiflich, 
dafs  die  Arbeiterorganisationen  nicht  leicht  dazu  bereit  sind,  durch  An- 
gabe genauen  statistischen  Materials  den  Stand  ihrer  Kriegskassen  offeu- 
zulegen. 

Darüber,  wie  sich  die  Wirkungen  der  Strikes  vom  Standpunkte  der 
Unternehmer  aus  gestalten,  wurden  in  den  Jahren  1897  bis  1901  be- 
sondere Erhebungen  vorgenommen.  Im  Jahre  1901  wurden  an  154 
einzelne  Etablissements  besondere  Fragebogen  hinausgegeben,  von  denen 
120  antworteten.  Von  diesen  haben  56  Schaden,  64  keinerlei  Schaden 
erlitten.  In  24  Fällen  bestand  der  Schaden  in  einem  später  wieder  aus- 
geglichenen Produktionsausfall,  in  32  Fällen  in  einem  später  nicht  wieder 
ausgeglichenen  Produktionsausfall,  bezw.  in  dem  Verlust  von  Bestellungen, 
in  10  Fällen  bestand  er  in  Schaden  an  Material  u.  dgl.,  in  15  Fällen 
in  Nachteilen  aus  dem  Personalwechsel  und  in  8 Pallen  in  anderem. 

In  gleicher  Weise  wurden  in  den  Jahren  1897 — 1901  ')  an  die 
Handels-  und  Gewerbekammern  über  429  (403)  Betriebe  Fragebogen 
versendet,  worauf  im  Jahr  1901  über  379  (189)  Betriebe  Antworten  ein- 
liefen. Von  diesen  haben  321  (1 10)  Schaden,  58  (79)  keinerlei  Schaden 
erlitten.  In  220  (26)  Fällen  bestand  der  Schaden  in  einem  später  wieder 
ausgeglichenen  Produktionsausfall,  in  84  (84)  F'ällen  in  einem  später 
nicht  wieder  ausgeglichenen  Produktionsausfall,  bezw.  in  dem  Verlust 
von  Bestellungen,  in  o (21)  Pallen  bestand  er  in  Schaden  an  Material 
u.  dgl.;  in  o (36)  Fällen  in  Nachteilen  aus  dem  Personalwechsel,  in 

’)  Die  Zahlen  für  1897  sind  durchweg  in  Parenthese  beigesetzt. 


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440 


Miszellen. 


17  (1)  Fällen  in  anderem.  In  Ziffern  wurde  der  Schaden  geschätzt 
von  den  einzelnen  Betrieben  direkt  in  25  bezw.  34  Fällen  und  er  be- 
trug 75602  Kronen  bezw.  386710  fl.,  von  den  Handels-  und  Gewerbe- 
kammern in  53  bezw.  20  Fällen,  wo  er  322500  Kronen  bezw.  19985  fl. 
betrug. 

Das  arbeitsstatistische  Amt  macht  für  die  Jahre  1897  bis  1901 
noch  genauere  Mitteilungen  über  die  Schädigungen  der  Unternehmer 
durch  einzelne  Strikes  nach  ihren  eigenen  Berichten  bezw.  denjenigen 
der  Handels-  und  Gewerbekammern,  bemerkt  aber  hierzu  ausdrücklich, 
dafs  diese  Angaben  nicht  weiter  kontrolliert  werden  konnten.  Sie  machen 
jedoch  fast  durchweg  einen  wahrheitsgetreuen  Eindruck,  sodafs  ihre  kurze 
Erwähnung  gerechtfertigt  sein  dürfte.  Ueber  Verminderung  der  Kund- 
schaft oder  allgemeinen  Rückgang  des  Gewerbes  infolge  von  Ausständen 
klagen  namentlich  handwerksmäfsige  Betriebe,  wie  z.  B.  die  Hufschmiede 
in  Graz,  die  namentlich  auch  noch  darüber  klagen,  dafs  die  vom 
Lande  neu  aufgenommenen  Gehilfen  zum  grofsen  Teile  eine  ge- 
ringere Leistungsfähigkeit  aufwiesen,  die  Schneider  in  Gablonz  und 
Przemysl,  die  Schuhmacher  in  Teplitz,  von  denen  die  Kundenschuh- 
macher schwerer  litten  als  die  sogenannten  Marktschuhmacher,  die 
Bäckereien  von  Judenburg,  Leoben  und  Graz.  Hier  bestand  die 
Schädigung  in  der  Einführung  fremden  Brotes  aus  Marburg  und  Bruck. 
Der  Absatz  der  heimischen  Bäckermeister  wurde  dadurch  geschädigt, 
dafs  sich  diese  Brotsorten  seit  dem  Strike  am  Markte  erhielten. 
Der  Bauarbeiterausstand  in  Kolomea  und  der  Ziegeleiarbeiterausstand  in 
Jaroslau  hatte  ein  Verderben  der  Waren  im  Gefolge,  während  ihm  die 
Weifsgerber  in  Niemes  durch  gemeinsame  Aufarbeitung  der  dem  Ver- 
derben ausgesetzten  Waren  zu  begegnen  wufsten.  Der  Bauarbeiteraus- 
stand in  Marburg  hatte  einen  allgemeinen  Rückgang  der  Baulust  zur 
Folge  und  in  Mödling  und  Meran  konnten  die  verzogenen  Arbeiter 
nicht  wieder  ersetzt  werden.  Beim  Bauarbeiterausstand  in  Meran  wird, 
was  von  besonderem  Interesse  ist,  von  Kosten  berichtet,  welche  durch 
Reisevergütungen  etc.  an  von  auswärts  beschaffte  Arbeitskräfte  er- 
wuchsen, sowie  von  Nachteilen  daraus,  dafs  manche  bewährte  Arbeiter, 
die  weder  unmittelbar  gegen  ihre  Arbeitgeber,  noch  gegen  den  Strike 
auftreten  wollten,  es  vorzogen,  den  Arbeitsplatz  zu  verlassen  und  anders- 
wo Verdienst  zu  suchen.  Solche  Schädigungen  der  Produktion  durch 
Personalwechsel,  die  in  der  Regel  besonders  empfindlich  zu  sein  pflegen, 
werden  durch  eine  starke  Organisation  der  Arbeiter  am  wirksamsten  ver- 
hindert, da  sie  dem  Arbeiter  allein  den  nötigen  Rückhalt  gewährt  gegen 
eine  nach  Beilegung  des  Strikes  zu  befürchtende  willkürliche  Ent- 
lassung. 

Besonderes  Interesse  verdient  noch,  was  über  die  Ausstände  der 
Braungeschirrtöpfereien  in  Znaim  und  der  Schwarzglasdruckereien  in 
Gablonz  berichtet  wird.  In  beiden  Fällen  handelt  es  sich  um  absterbende 


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CI.  Ilcifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894  — 1901.  44 j 

Jndustrieen.  Die  Besatzsteine  waren  aufser  Mode  gekommen  und  durch 
den  Strike  wurde  die  Unhaltbarkeit  dieser  Industrie  nicht  erst  verursacht, 
sondern  aufgedeckt.  Ebenso  war  das  Braungeschirr  durch  das  Emaille- 
geschirr und  den  immer  billiger  werdenden  Porzellan-  und  Steingutaus- 
schufs  schon  lange  bedrängt.  Wenn  daher  durch  den  Verlust  einzelner 
Absatzgebiete  ein  derartiger  Mangel  an  Arbeit  eintrat,  dafs  die  gelernten 
alten  Arbeiter  sich  einem  ganz  anderen  Industriezweige  zuwenden  mufsten, 
so  mag  das  für  sie  sehr  hart  sein,  aber  der  Strike  ist  nicht  die  Ursache 
dieses  wirtschaftlichen  Erkrankungsprozesses,  sondern  er  hat  nur  seinen 
Verlauf  beschleunigt  und  dadurch  eine  raschere  Gesundung  ermöglicht. 
Der  Ausstand  der  Musikinstrumentenmacher  in  Graslitz  hatte  eine  Ver- 
doppelung des  Preises  der  Perinetmaschinen  zur  Folge,  wodurch  die 
Produktionsfähigkeit  gegenüber  der  französischen  Konkurrenz  in  einer 
Weise  geschädigt  wurde,  dafs  die  gestörten  Absatzverbindungen  nicht 
leicht  wieder  herzustellen  sein  dürften.  Der  Ausstand  der  Textilarbeiter 
in  Jägemdorf  hatte  den  Verlust  des  Saisongeschäftes  für  Sommerwaren, 
erheblichen  Preisrückgang  für  die  vor  dem  Strike  angefangenen  und 
dann  abbestellten  Waren  sowie  Materialschaden  zur  Folge.  Der  Aus- 
stand der  Schuhmachergehilfen  in  Trient  veranlafste  die  Einfuhr  aus- 
ländischer Ware,  die  auch  nach  dem  Strike  fortdauerte.  Der  Ausstand 
der  Brtinner  Textilarbeiter,  der  gröfste  in  dieser  Branche,  hatte  durch- 
gehend eine  vollständige  Betriebseinstellung  zur  Folge.  Dazu  kam 
mannigfacher  Schaden  an  Maschinen  und  Material,  sowie  ein  Produktions- 
ausfall von  1 a bis  1 , der  Jahresproduktion  und  Stärkung  der  englischen 
Konkurrenz. 

Von  einzelnen  Unternehmern  wird  sogar  berichtet,  dafs  ihr  Ver- 
hältnis zu  den  Arbeitern  nach  dem  Strike  ein  befriedigenderes  ge- 
worden sei. 

Neben  dem  unmittelbar  durch  den  Ausstand  verursachten  Schaden  wird 
auch  in  mannigfachen  Fällen  eine  Benachteiligung  über  die  Strikezeit  hinaus 
als  Folge  des  Strikes  bezeichnet,  so  durch  die  erhöhten  Betriebskosten  infolge 
der  an  die  Arbeiter  gemachten  Zugeständnisse,  durch  gestörte  Absatzver- 
bindungen, durch  eine  länger  dauernde  Betriebsreduktion,  verursacht  durch 
die  Schwierigkeiten  bei  der  Ergänzung  des  Personals.  Der  hauptsäch- 
lich in  den  Textilbetrieben  durchgesetzte  Zehnstundentag  soll  nach  der 
Mehrzahl  der  eine  Auskunft  gewährenden  Arbeitgeber  einen  8 — io  pro- 
zentigen  Produktionsrückgang  zur  Folge  gehabt  haben.  Zahlreiche  Firmen 
sprachen  sich  auch  über  die  Ursachen  des  Ausbruches  des  Strikes,  sowie 
dessen  moralische  Rückwirkungen  aus.  In  ersterer  Hinsicht  wird  häufig 
des  Einflusses  von  nicht  dem  eigenen  Arbeiterstande  entsprungenen  Agi- 
tationen gedacht.  In  der  zweiten  Hinsicht  ist  die  Zahl  der  Firmen, 
welche  auf  eine  Stabilisierung  der  Verhältnisse  nach  dem  Strike  hin- 
wiesen, die  z.  B.  inbezug  auf  die  Sicherung  der  Lieferungsfähigkeit 
günstig  einwirke,  nicht  geringer  als  die  jener,  welche  von  einer  dem 


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442 


Miszellen. 


Strike  noch  nachfolgenden  Erbitterung  oder  Gährung  zu  berichten  wissen. 
Es  wird  auch  mehrfach  erwähnt,  dafs  die  Arbeiter  eine  bessere  Disziplin 
aufweisen  oder  arbeitswilliger  sind  etc.  Zumeist  handelt  es  sich  dabei 
um  gänzlich  oder  im  wesentlichen  erfolglose  Strikes. 

Hei  92  unter  den  im  Jahre  1901  vorgefallenen  270  Arbeitseinstel- 
lungen werden  Arbeiterentlassungen  verzeichnet.  Die  Zahl  der 
Entlassenen  betrug  1215  (1900,  2658,  1899  1704,  189S  1284,  1897 
2127,  1896  2454,  1895  1633,  1894  2985),  der  aus  anderen  Gründen 
Ausgeschiedenen  601  (1900  4906,  1899  1979,  1898  10S8,  1897  644, 
1896  1533,  1895  725,  1894  1182),  der  neu  Aufgenommenen  771 
(1900  4346,  1899  1 1 1 5,  1898  1343,  1897  1565,  1896  1389,  1895 
1073,  1894  2175).  Der  aus  Anlafs  der  Ausstände  entstandene  Arbeiter- 
wechsel, welcher,  wie  unser  Bericht  bemerkt,  nicht  blofs  als  die  Inter- 
essen der  Strikenden  schädigend  gelten  kann,  sondern  auch  als  eine 
dem  Industriebetrieb  erwachsene  Benachteiligung  in  Betracht  kommt,  war 
demnach  durchaus  nicht  unbedeutend. 

Ueber  die  Vermittlungsthätigkeit  der  staatlichen  Organe  wird  in 
den  jeweiligen  Publikationen  auf  die  Kolonne  1 2 der  chronologischen 
Striketabelle  verwiesen.  Diese  Tabelle  ist  aber  so  unübersichtlich,  dafs 
man  über  die  Art  der  staatlichen  Vermittlung  und  überhaupt  darüber, 
wie  oft  sie  in  Anspruch  genommen  wurde,  keine  Anschauung  bekommen 
kann,  wenn  man  diese  Tabelle  nicht  vorher  auszählt.  In  dieser  Beziehung 
wjre  eine  bessere  Aufbereitung  des  gewonnenen  Rohmaterials  zu  wünschen. 
Eine  Auszählung  der  Ergebnisse  für  1901  (bezw.  1900  und  1898  ')  er- 
giebt,  dafs  bei  den  wiederholt  erwähnten,  in  diesen  Jahren  überhaupt  vor- 
gekommenen 270  (303,  258)  Strikefällen  in  84  (107,  in)  Fällen  irgend 
eine  Vermittlungsthätigkeit  in  Anspruch  genommen  wurde.  Das  öster- 
reichische Gesetz  hat  also  trotz  seiner  Unzulänglichkeit  den  guten  Erfolg 
gehabt,  dafs  die  Thätigkeit  der  Vermittlungsorgane  verhältnismäfsig  doch 
recht  häufig  in  Anspruch  genommen  wird.  Am  häufigsten  wurde  die 
Vermittung  des  Gewerbeinspektorats : 26  (26,  28)mal  und  der  Gewerbe- 
behörde 23  (21,  25) mal  in  Anspruch  genommen  und  in  weiteren  11 
(25,  28)  Fällen  vermittelten  beide  Behörden  gemeinsam,  während  die 
Bergbehörde  nur  16  (12,  17)  mal  und  3 (7,  7)  mal  gemeinsam  mit  der 
politischen  Behörde  vermittelte.  In  0(5,  3)  Fällen  vermittelte  der  Bürger- 
meister, in  1 (4,  o)  Fällen  der  Ackerlauminister,  in  1 (2,  o)  Fällen  das 
Gewerbegericht,  in  je  o (i,  o)  Falle  der  Justizminister,  der  Magistrat  und 
das  Gewerbeinspektorat ; die  Gewerbebehörde,  das  Gewerbeinspektor.it 
und  die  Handels-  und  Gewerbekammer;  die  Gewerbebehörde,  das  Ge- 
werbeinspektorat und  der  Bund  der  Industriellen;  das  Einigungsamt: 
die  Polizeibehörde;  der  Gemeinde  Vorstand  und  der  Verein  zur  Wahrung 
der  Industrie-  und  Handelsinteressen;  in  je  1 weiteren  lall  der  Gewerbe- 

*)  Je  in  Klammern  angegeben. 


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CI.  Heifs,  Die  Arbeitseinstellungen  u.  Aussperrungen  i.  Oesterreich  1894 — 1901.  '443 

Inspektor  und  Bürgermeister;  die  Gewerbebehörde,  die  Seebehörde  und 
die  Polizeidirektion ; die  Gewerbebehörde  und  die  Statthalterei. 

Die  Berichterstattung  über  die  im  Zusammenhang  mit  Ausständen 
erfolgten  Bestrafungen  ist  deshalb  durchaus  unvollständig,  weil  sie  zu 
einer  Zeit  erfolgt,  zu  der  die  Gerichtsverhandlungen  in  der  Regel  noch 
nicht  zum  Abschlufs  gekommen  waren,  weshalb  wir  von  ihrer  Wiedergabe 
absehen. 

Für  das  Jahr  1900  wird  erstmals  und  zwar  auf  die  frühren  Jahre 
zurtickgreifend  über  wiederholte  Strikes  berichtet.  Berücksichtigt 
inan  nur  die  Anzahl  der  Betriebe,  die  in  den  Jahren  1895  bis  1901 
wiederholt  von  Strikes  betroffen  wurden,  von  denen  keiner  später  als 
ein  Jahr  nach  Schlufs  des  vorhergehenden  zum  Ausbruch  gelangte,  so 
wurden  im  ganzen  Beobachtungszeitraum  von  2 Strikes  143,  von  3 22, 
von  4 4,  von  5 2,  von  6 4 Betriebe  und  7,  8 und  9 sich  in  der  an- 
gegebenen Weise  wiederholenden  Strikes  je  1 Betrieb  betroffen.  Die 
Veranlassungen,  Forderungen  und  Erfolge  dieser  Strikes  darzustellen, 
wurde  einen  zu  grofsen  Raum  beanspruchen.  Es  sei  nur  soviel  bemerkt, 
dafs  sich  bei  jenen  143  zweimaligen  Strikes  ein  und  dieselbe  Veranlassung 
47  mal  wiederholte,  was  immerhin  einen  Schlufs  auf  die  Hartnäckigkeit 
der  kämpfenden  Parteien  zuläfst. 

Aussperrungen  kamen  im  Jahre  1901  3,  1900  10,  dagegen 
1898  überhaupt  nicht  vor.  Die  Hauptursache  der  Aussperrungen  hat 
bisher  die  Maifaier  gebildet,  im  Jahre  1898  fiel  aber  der  1.  Mai  auf 
einen  Sonntag. 

Die  wichtigsten  Daten  der  Aussperrungen  von  1894 — 1901  lassen 
sich  in  folgender  Uebersicht  zusaramenfassen : 


Von  den  ausgesperrlen 
Arbeitern 


Zahl  der 

BetroflF. 

Be- 

Aus- 

Das  ist 

nahmen 

wurden 

ver- 

wurden 

Aus- 

Be- 

schäf- 

ge- 

1‘roz.  der 

d.  Arbeit 

ent- 

liefsen 

neu  auf- 

Sperr- 

ungen 

triebe 

tigte 

sperrte 

Beschäf- 

tigten 

wieder 

auf 

lassen 

den 

Betrieb 

genom 

men 

1894 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1895 

8 

«7 

45*' 

2317 

5>, *5 

2 183 

134 

— 

— 

1896 

IO 

2 1 1 

6847 

5445 

79,5* 

4589 

724 

132 

— 

1897 

II 

12 

3 >47 

I 712 

54,4° 

1 647 

5« 

7 

3° 

1898 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1899 

5 

38 

5671 

3457 

60,96 

3448 

4 

5 

— 

1900 

IO 

58 

5 3*4 

4036 

75.81 

3703 

701 

32 

294 

1901 

3 

3 

429 

302 

70,4 

302 

— 

— 

— 

Die  österreichische  Strikestatistik  ist,  wenn  wir  auf  das  Gesamtbild 
unserer  Betrachtungen  zurückblicken,  geeignet,  diese  so  komplizierten 


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444 


Miszellen. 


wirtschaftlichen  Vorgänge,  wie  es  die  Arbeitseinstellungen  und  Aus- 
sperrungen sind,  nach  den  verschiedensten  Seiten,  nach  ihren  Ursachen, 
Zielen,  Begleiterscheinungen  und  Folgen  klar  zu  beleuchten.  Wenn 
einmal  die  Statistik  über  eine  gröfsere  Reihe  von  Jahren  vorliegt,  dürften 
sich  aus  ihr  wohl  auch  gewisse  (lesetzmäfsigkeiten  ableiten  lassen.  Bei 
der  Kürze  des  uns  vorliegenden  Beobachtungszeitraumes  wäre  ein  solcher 
Versuch  verfehlt. 


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Die  deutschen  Stadtgemeinden  und  ihre  Arbeiter. 

Von 

Dr.  k.  flesch, 

Stadlrat  in  Frankfurt  a.  M. 

Das  fünfzigste  Stück  der  von  Brentano  und  I.otz  herausgegebenen 
Münchener  volkswirtschaftlichen  Studien,  bringt  unter  obigem  Titel  eine 
261  Seiten  starke  Arbeit  von  Dr.  Paul  Mombert. 

Es  ist  ein  nützliches  Buch,  dessen  Verfasser  bei  Auswahl  des 
Themas  für  seine  Erstlingsschrift  wohl  beraten  war.  Ein  grofses,  schwer 
zu  beschaffendes  Material  ist  gesammelt;  viele  der  Fragen,  zu  denen  es 
anregt,  sind  gestellt  und  zu  beantworten  gesucht:  und  so  wird  durch 
das  Buch  der  Weg  gewiesen  zu  einem  Gebiet  der  öffentlichen  Ver- 
waltung, das  bisher  von  der  Verwaltungswissenschaft  und  der  Sozialpolitik 
gleichmäfsig  unberührt  gelassen  war. 

Oder,  richtiger  gesagt:  die  Schrift  Momberts,  ebenso  wie  die  etwas 
früher  erschienene,  einen  ähnlichen  Stoff  behandelnde  Schrift  Kliens  *) 
sind  Beweise  dafür,  wie  die  privatrechtliche  Flut  allmählich  abtlacht,  die, 
aus  dem  Glauben  der  Juristen  an  die  Allmacht  des  formalen  Rechts  und 
die  Bedeutungslosigkeit  der  „biofs'  thatsächlichen  Besitzesunterschiede  ent- 
springend, weite  Gebiete  des  öffentlichen  Lebens  überschwemmt  hat.  Indem 
die  Flut  aber  zurücktritt,  werden  neue  Arbeitsfelder  frei;  und  Mombert,  der 
eines  derselben  — das  Verhältnis  der  Stadtgemcinden  zu  ihren  Arbeitern  — 
zu  bebauen  sucht,  kann  nunmehr  sozialpolitische  Gesichtspunkte  geltend 
machen,  wo  man  bisher  nichts  wahrgenommen  hatte,  und  wo  die  meisten 

*)  Klien:  Minim;) Hohn  und  Arhcitcrbcamtcntum  (Abhandlungen  des  staats- 
wissenschaftlichen Seminars  zu  Jena,  hcrausgegeben  von  Picrstorff,  232  S.)  behandelt 
einen  ähnlichen  Stoff ; jedoch  giebl  er  das  Material  bezüglich  der  Arbeiter  im  Dienst 
deutscher  Kommunalvenvaltungen  nicht  in  der  gleichen  Vollständigkeit  wie  Mombert, 
enthält  aber  dafür  sehr  interessante  Angaben  über  den  Minimallohn  in  seinen  ver- 
schiedenen Erscheinungsformen,  insh.-s.  auch  Uber  die  Art,  wie  er  im  Ausslandc 
(England,  Schweiz,  Holland!  Hingang  in  die  Kommunalvcrwaltung  gefunden  hat. 


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446 


Miszellen. 


nichts  vorhanden  geglaubt  hatten,  als  das  gleichförmige  Nebeneinander 
einer  Anzahl  von  Arbeitsverträgen,  deren  juristischen  Inhalt  Niemand 
prüfte,  und  deren  Wirkung  auf  das  Gedeihen  der  Arbeiter  von  Niemandem, 
am  wenigsten  von  denen,  für  welche  die  Arbeiter  ihre  Kraft  anstrengten, 
beachtet  ward. 

Ohne  Bild  zu  sprechen:  I)afs  der  Staat,  mit  dem  ja  die  Gemeinden 
gleichen  Wesens  sind,  gegen  seine  Arbeiter  besondere  — nicht  juristische 
aber  volkswirtschaftliche  — Verpflichtungen  hat,  die  weiter  gehen,  als  die, 
welche  etwa  einem  kleinen  Handwerksmeister  gegen  seine  Gesellen  zu- 
gemutet »erden  können,  ist  eine  alte  Erkenntnis.  Zeugnis  dafür  ist  z.  B. 
die  formell  noch  in  Gesetzeskraft  befindliche  prcufsische  Verordnung 
betr.  die  bei  dem  Bau  von  Eisenbahnen  beschäftigten  Handarbeiter  vom 
21.  Dezember  1846  mit  ihren  noch  heute  vielfach  mustergültigen  Vor- 
schriften über  Lohnabrechnungen,  Abschlagszahlungen,  Bauaufsicht,  Arbeiter- 
vertretung,  Beschwerderecht  der  Arbeiter  bei  willkürlicher  „Ausschliefsung 
von  der  Arbeit“ ; ferner  über  Krankenversicherung,  Beförderung  der 
Sparsamkeit  durch  unentgeltliche  Annahme  und  Verwaltung  von  Spar- 
geldern, Sonntagsruhe  u.  s.  w.  Aber  jene  Erkenntnis  war  allmählich  ab- 
handen gekommen.  Als  ich  1894  in  der  Zeitschrift  der  Zentralstelle 
für  Arbeiterwohlfahrts-Einrichtungeu  die  Verordnung  besprach  *)  und  daraus 
Folgerungen  zog  für  die  Aufgaben  der  Gemeinden  als  Arbeitgeber,  war 
ihr  Inhalt  auch  erfahrenen  Verwaltungsmännern  völlig  unbekannt;  und 
die  Prinzipien,  auf  denen  sie  beruht,  erschienen  als  etwas  völlig  Neues. 
Und  auch  als  ich  im  Mai  1897  auf  der  Konferenz  der  Zentralstelle 
für  A.W.E.  zu  Frankfurt  a.  M.  über  kommunale  und  Wohlfahrtsein- 
richtungen zu  referieren  hatte  *)  konnte  ich  zwar  mitteilen,  dafs  die  Stadt 
Frankfurt  a.  M.  gerade  damals  „allgemeine  Bestimmungen  für  die  Arlreiter 
der  städtischen  Verwaltung“  erlassen  habe,  welche  wenigstens  einen  An- 
fang des  sozialpolitisch  Erforderten  enthielten;  aber  ich  war  nicht  im- 
stande, auch  nur  eine  deutsche  Stadt,  einen  Reichs-  oder  Staatsbetrieb  zu 
nennen,  in  der  bisher  etwas  Aehnliches  versucht  war. 

Dagegen  hat  sich  allerdings  aufs  Erfreulichste  die  Erwartung  erfüllt, 
die  ich  damals3)  aussprach,  dafs  jene  Bestimmungen  zweifelsohne  frucht- 
bringend und  anregend  auch  über  das  Weichbild  der  einzelnen  Stadt 
hinaus  wirken  würden.  Die  Mombertsche  Schrift  behandelt  die  Arbeits- 
bedingungen , welche  über  50  Städten  zur  Zeit  „ihren“  Arbeitern  be- 
willigen, und  sie  benutzt  fast  ausschliefslich  solches  Material,  das  ent- 

’)  Vgl.  Zcitschr.  f.  A.W.E.  vom  15.  Juli  1894;  mein  Aufsatz:  Die  Gemeinden 
als  Arbeitgeber. 

*)  Vgl.  Schriften  der  Zentralstelle  für  AAV.E.  Heft  12.  Kommunale  Wobl- 
fahrtseinrichtungen  S.  5 — 75. 

*)  Vgl.  mein  Referat  a.  a.  O.  S.  4,  24,  70. 


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K.  Flesch,  Die  deutschen  Stadtgemeinden  und  ihre  Arbeiter. 


447 


standen  ist  nach  den  Frankfurter  Bestimmungen1),  und  wenn  irgendwo, 
ist  hier  das  post  hoc  ergo  propter  hoc  am  Platz.  Dagegen  benutzt 
Mombert  sonstige  Litteratur  nur  wenig;  er  hat  fast  keine  Vorarbeiter 
in  der  Wissenschaft;  und  auch  die  Agitation  der  Interessentenverbände, 
die  auf  anderen  Gebieten  der  Sozialpolitik  die  eigentliche  Triebkraft 
war  bezw.  ist  (man  denke  an  die  Gewerkschaften,  die  Mietervereine,  die 
Handlungsgehilfenvereine),  setzt  hier  nur  in  der  allerletzten  Zeit  ein 
Der  Verband  der  Gemeindearlreiter  ward  zwar,  wie  dem  jüngst  er- 
schienenen Geschäftsbericht5)  zu  entnehmen  ist,  am  i.  Oktober 
1896  begründet,  hielt  aber  seine  erste  Generalversammlung  erst  im 
April  1900. 

F,s  geschieht  keineswegs  lediglich  im  historischen  Interesse,  wenn 
diese  Thatsachcn  hier  festgestellt  werden.  Wer  beurteilen  will,  was  bisher 
geschehen  ist,  um  den  Arbeitsvertrag  mit  Arbeitgebern  des 
öffentlichen  Rechts  seiner  besonderen  Natur  entsprechend  zu  ent- 
wickeln, der  wird  nie  aufser  acht  lassen  dürfen,  dafs  diese  Entwicklung 
erst  vor  ganz  wenig  Jahren  begonnen  hat;  dafs  sie  den  Anstofs  ge- 
nommen hat  weder  aus  theoretischen  Forderungen  der  Wissen- 
schaft noch  aus  dem  Drängen  der  Nächstbeteiligten , der  städtischen 
Arbeiter;  und  dafs  sie  bisher  sich  ausschliefslich  auf  die  Städte  be- 
schränkt hat. 

1.  Es  ist  ja  gewifs  reichlich  überschwänglich,  wenn  Klien  über  die 
„bewundernswürdige  Frankfurter  I-ohntafel“  spricht :l);  andererseits  aber 
würde  doch  Mombert  vermutlich  manches  unnötig  schroffe  Urteil,  das 
er  über  einzelne  Bestimmungen  dieser  oder  jener  städtischen  Arbeits- 
ordnung, über  einzelne  Meinungsäufserungcn  in  diesem  oder  jenem 
Magistratsbericht  gefällt  hat,  wesentlich  gemildert  haben,  wenn  er  genügend 
berücksichtigt  hätte,  seit  wie  kurzer  Zeit  erst  diese  ganze  Sache  in  den 
Gesichtskreis  der  städtischen  Verwaltungen  getreten  ist;  und  wie  schwer 
es  naturgemäfs  ist,  bis  die  vielköpfigen  kommunalen  Körperschaften  Be- 
schlüsse fassen,  die  für  die  Steuerzahler  von  schwerwiegender  Bedeutung 
sind;  die  weder  zur  Durchführung  eines  Staatsgesetzes  notwendig  sind, 

')  Vgl.  die  Anlage  111  der  M.schcn  Schrift,  S.  250 — 261:  Verzeichnis  der 
benutzten  Drucksachen,  das  mit  Ausnahme  einiger  Arbeitsordnungen  für  Gas-  und 
Wasserwerke  ausschliefslich  nur  solche  Städte  (Statistiken  über  die  I-agr  der 
städtischen  Arbeiter,  Betriebsordnungen,  I.ohntafeln,  Dienstvorschriften  u.  s.  w.  ent- 
hält, die  nach  1S97  datieren. 

*)  Die  Bewegung  der  städtischen  Arbeiter  1900  bis  ultimo  Dezember  1902, 
Geschäftsbericht,  erstattet  vom  Verbandssekretär  Bruno  l’ocrsch  (Berlin  1903,  Verlag 
Bruno  Pocrsch). 

’j  Lindemann  in  seiner  Besprechung  der  Mombcrlschen  und  der  Klicnschen 
Schrift  (Minimallohn  und  Arbciterbeamtentum)  spottet  hierüber  (I.  i n d em  a n n , Fort- 
schritte der  kommunalen  Sozialpolitik,  Sozialistische  Monatshefte  1903  S.  53). 


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44« 


Miszellen. 


noch  einem  unmittelbar  verspürten  städtisciien  Bedürfnis  entsprechen; 
die  in  der  öffentlichen  Meinung,  uDter  den  Wählern  der  Magistrat  und 
Stadtverordnete  sogar  lebhaft  angefochten  sind,  und  die  seitens  der 
lokalen  Arbeiterpresse  etc.  vielfach  in  der  geschmacklosesten  Weise  ver- 
kleinert, als  ganz  unerheblich  oder  gar  schädlich  für  die  Arbeiter  hin- 
gestellt werden.  Nimmt  man  noch  hinzu,  dafs  es  für  eine  Stadt  gar 
nicht  leicht  ist,  sich  genaue  und  zuverlässige  Kunde  von  dem  zu  schaffen, 
was  in  der  anderen  Gemeinde  geschieht,  so  kann  es  schon  an  sich  kein 
Wunder  nehmen,  wenn  da  oder  dort  in  den  Denkschriften  der  Magistrate 
oder  Gemeinderäte  Ansichten  auftauchen,  die  wissenschaftlich  überholt  sind, 
oder  vielleicht  sogar  auch  den  Erfahrungen  widerstreiten,  die  da  oder  dort 
in  der  Praxis  gemacht  worden  sind.  Andererseits  aber  wird  die  Formulierung 
einer  einzelnen  Bestimmung  z.  B.  wegen  Urlaubsgewährung  oder  wegen 
Zusammensetzung  des  Arbeiterausschusses  stets  da,  wo  sie  zuerst  ver- 
sucht wird,  ängstlicher  und  enger  sein,  als  da,  wo  man  bereits  ein  Vor- 
bild aus  einer  anderen  Stadt  benutzen  konnte;  — und  es  raufs  bei  Be- 
urteilung jeder  Vorschrift  stets  auch  gefragt  werden,  inwieweit  die  dem 
Wortlaut  nach  in  ihr  enthaltenen  Härten  etwa  seit  ihrem  Bestehen  durch 
die  Praxis  bereits  ausgeglichen  sind.  Indem  Mombert  diesem  chrono- 
logischen Moment  viel  zu  wenig  Beachtung  schenkt , mindert  er  den 
Wert,  den  seine  fleifsigen  und  gewissenhaften  Zusammenstellungen  und 
Vergleichungen  der  in  den  einzelnen  Städten  bestehenden  Vorschriften 
sonst  hätten.  Dafs  vollends  eine  gerechte  Würdigung  des  bisher  Er- 
reichten ganz  unmöglich  ist,  wenn  man  als  F'olie  für  die  jetzt  bestehenden 
Bestimmungen  einfach  irgend  welche  idealen  Forderungen,  und  nicht 
zugleich  auch  die  früher,  d.  h.  bis  vor  sieben  Jahren,  bezüglich  der 
städtischen  Arbeiter  vorhandenen  Zustände  benutzt,  versteht  sich  von 
selbst. 

2.  Die  Ursachen  anlangend,  durch  welche  die  Städte  zur  besseren 
Regulierung  des  Arbeitsvertrags  mit  ihren  Arbeiten  veranlafst  werden, 
so  ward  bereits  gesagt,  dafs  damit  nicht  etwa,  wie  bei  manchen  hygie- 
nischen Reformen  (Kanalisation,  Wasserleitungen  etc.)  Forderungen  ge- 
nügt ward,  die  die  Wissenschaft  aufgestellt  hatte.  Die  Wissenschaft  hat 
bisher  diese  Fragen  kaum  behandelt ; meine  oben  erwähnten  beiden  Ab- 
handlungen dürften  fafst  die  ersten  Versuche  auf  diesem  Gebiet  sein. 
Andererseits  ist  es  aber  auch  falsch,  wenn  der  „Verband  der  in  den  Ge- 
meindebetrieben  beschäftigten  Arbeiter,,  dem  Verband  das  Verdienst  ru- 
schreiben will,  und  z.  B.  auch  andeutet,  dafs  „die  vorzügliche  Schrift 
des  C.  Mombert“  eine  indirekte  Folge  seiner  Thätigkeit  sei,  ’)  woven 
Mombert  selbst,  der  der  „Bewegung  und  Organisation  der  deutschen  Ge- 
meindearbeiter"  einen  kurzen  Abschnitt  (Kap.  X S.  206 — 213)  widmet, 
kein  Wort  sagt.  Ebenso  ist  es  auch  ganz  falsch,  wie  es  an  anderer 

*)  Vgl.  den  citierlen  Bericht  S.  82. 


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K.  Flesch,  Die  deutschen  Stadtgemeinden  und  ihre  Arbeiter. 


449 


Stelle  des  angeführten  Berichts  (S.  78)  heifst:  „dafs  bisher  allein  die 
Sozialdemokraten,  mit  ganz  wenig  Ausnahmen,  in  wirksamer  Weise  die 
Interessen  der  städtischen  Arbeiter  vertreten  hätten".  Die  Behauptung, 
die  sich  überdies  als  Nachsatz  zu  der  Erklärung,  dafs  die  Organisation 
„sich  nicht  von  vornherein  einer  bestimmten  Partei  verschreibe“  sehr 
eigentümlich  ausnimmt,  mag  einem  überzeugten  Anhänger  der  sozial- 
demokratischen Partei  nicht  Uebel  genommen  werden  ; — wie  ja  über- 
zeugte und  gläubige  Anhänger  irgend  einer  Religion  gern  alles  Gute, 
was  in  ihrem  Bereich  geschieht,  auf  den  Einflufs  ihrer  Dogmen  zurück- 
führen. 

Aber  die  Behauptung  steht  doch  in  ganz  direktem  Widerspruch  zu 
der  Thatsache,  dafs  in  den  städtischen  Vertretungen,  welche  die  Be- 
stimmungen erliefsen,  Sozialdemokraten  überhaupt  nicht  vertreten 
waren  (so  in  Frankfurt  a.  M.),  oder  doch  nur  durch  verschwindend 
wenige  Mitglieder.  Viel  eher  Recht  hat  schon  Lindemann,  der  l)  die 
Arbeitsordnungen,  Alterspensionen  etc.  der  städtischen  Verwaltungen 
erklärt  als  „Resultanten  entgegenwirkender  Kräfte",  als  „Konzessionen, 
die  unter  dem  Einflufs  der  Arbeiterbewegung  gemacht  wurden,  wobei 
auch  soziale  Einsicht  und  wirkliche  Arbeiterfreundlichkeit  ebenso  mitwirkend 
gewesen  sind,  wie  andererseits  das  Bestreben,  die  städtische  Arbeiter- 
schaft fester  in  die  Hand  zu  bekommen".  Genauer  und  vorsichtiger 
noch  wäre  es  gewesen,  wenn  er  ausdrücklich  darauf  aufmerksam  gemacht 
hätte,  dafs  die  „Arbeiterbewegung“  und  die  „wirkliche  Arbeiterfreundlich- 
keit“, die  ja  selbstverständlich  keine  „entgegenwirkenden  Kräfte“  sind, 
auch  nicht  einfach  betrachtet  werden  dürfen  als  Ursache  und  Folge. 
Beide  stehen  vielmehr  in  einer  Art  geschwisterlichem  Verhältnisse ; sie 
sind  gemeinsame  Wirkungen  der  von  I .assalle  angefachten  Agita- 
tion, der  grofsten  deutschen  Kulturbewegung  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts. 

Die  von  Mombert  besprochenen  Arbeitsbedingungen  finden  jetzt 
Majoritäten  in  fast  allen  Magistraten  und  Stadtverordnetenversammlungen, 
nicht  weil  vielleicht  die  Zahl  der  Mitglieder  etwas  gewachsen  ist,  die  der 
sozialdemokratischen  Partei  angehören,  oder  nahestehen ; und  auch  nicht, 
weil  man  der  sozialdemokratischen  Presse,  oder  den  Beschlüssen  der 
„Versammlungen  der  städtischen  Arbeiter  nachgiebt,  — in  denen  ja  bei 
der  Schwäche  des  Verbands  die  städtischen  Arbeiter  fast  nicht  vertreten 
sind ! — sondern  weil  immer  mehr  Mitglieder  gewählt  werden,  die,  welches 
auch  ihre  politische  Ansicht  sei,  doch  davon  überzeugt  sind, 
dafs  die  Arbeiter  Anspruch  und  Recht  auf  bessere  Lebensbedingungen 
haben : und  dafs  den  Städten,  weil  sie  von  den  Risiken  des  Privatunter- 
nehmers frei  sind,  nicht  einmal  die  Entschuldigungen  zur  Seite  stehen, 

')  a.  a.  O.  S.  55. 

Archiv  für  §oz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVI II  29 


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450 


Miszellen. 


auf  die  sich  jener  berufen  kann,  wenn  er  an  sich  nützliche  und  not- 
wendige Arbeitsbedingungen  verweigert. 

Die  Agitation  und  Organisation  scheint  hier,  bei  den  städtischen 
Arbeitern,  den  Reformen  nachzueilen  und  nicht,  wie  sonst,  voranzugehen,  *) 
und  dies  entspricht  der  Thatsache,  dafs  der  Marxismus,  der  in  Deutsch- 
land die  Arbeiter  bisher  fast  ausschlicfslich  beherrschte,  und  dessen  Ver- 
schiedenheit vom  I.assallischen  .Standpunkt  wohl  in  Zukunft  wieder  mehr 
beachtet  werden  wird,  zu  einseitig  das  Verhältnis  des  Industriearbeiters 
zum  industriellen  Unternehmer  berücksichtigt. 

3.  Bisher  sind  es  fast  ausschliefslich  Städte  gewesen,  die  Arbeits- 
bedingungen der  von  Mombert  besprochenen  Art  geschaffen  haben, '-) 
und  Mombert  nimmt  diesen  rein  muuicipalen  Charakter  der  Bewegung 
denn  auch  als  etwas  ganz  Selbstverständliches;  die  ganze  Angelegenheit 
erscheint  ihm  als  speziell  zum  Gebiet  der  städtischen  Verwaltung 
gehörig.  Richtiger  ist  es  wohl,  wenn  man  in  dieser  Beschränkung  nicht 
ein  Definitionsmerkmal,  sondern  einfach  einen  Beweis  dafür  erblickt,  wie 
sehr  die  ganze  Entwicklung  noch  in  ihren  Anfangsstadien  sich  befindet. 
Formal  juristisch  ist  der  Arbeitsvertrag  stets  derselbe,  einerlei  ob  der 
Arbeitgeber,  d.  h.  derjenige,  der  sich  Arbeitskräfte  zu  verschaffen  sucht, 
ein  Privatmann,  oder  eine  juristische  Person,  eine  Gesellschaft  oder  Ge- 
nossenschaft reich  oder  arm  ist.  Der  innere  Grund,  weshalb  die  Arbeits- 
bedingungen, welche  speziell  die  Städte  ihren  Arbeitern  gewähren,  in 
neuerer  Zeit  vielfach  andere  sind,  als  in  Handel  und  Gewerbe  sonst 
üblich,  liegt  nicht  in  der  Qualifikation  der  Arbeiter ; sondern  ausschliefs- 
lich in  der  besonderen  Eigenart  des  anderen  Kontrahenten,  der  Stadt. 

’)  Mombert  bemerkt  mit  Recht  (S.  220),  dafs  gerade  die  Städte,  welche  zur  Zeit 
noch  am  weitesten  zurück  sind,  von  ihm  überhaupt  nicht  behandelt  werden  konnten, 
weil  Erhebungen  über  die  I.agc  der  Arbeiter  u.  s.  w.  dort  nicht  veröffentlicht  sind. 

*)  Von  den,  den  Städten  zunächst  sichenden  Organisationen  des  öffentlichen 
Rechts,  den  Bezirken,  Kreisen,  Provinzen,  die  alle  in  den  ihnen  zugewiesenen  Ver- 
waltungszwcigcn  (Wegebau,  Armenpflege,  Anstaltsverwallung)  ansehnliche  Arbeiter- 
scharen beschäftigen,  ist  bisher  nur  eine  — die  kommunalständische  Verwaltung  des 
Regierungsbezirks  Wiesbaden  dem  Beispiel  der  Städte  gefolgt.  Ich  hatte  dortseibst 
bereits  1898  als  Berichterstatter  der  Finanzkommission  des  Komniunatlandtages  die 
Nachahmung  der  im  Jahr  vorher  in  Frankfurt  a.  M.  getroffenen  Einrichtungen  an- 
geregt; und  es  ist  dann  auch  wenigstens  ein  grofser  Teil  derselben  — namentlich 
Gewährung  von  Anwartschaft  auf  Pension,  Reliktenlürsorge,  ein,  allerdings  an  viel- 
fache beschränkende  Voraussetzungen  gebundener  Ersatz  des  Lohnausfailes  bei  Krank- 
heit und  sonstiger  Behinderung  — den  ständigen  Arbeitern  gewährt  worden.  Der 
erste  hierüber  vom  1-andcsausschufs  dem  Kommunallandtag  erstattete  Bericht  vom 
7.  März  1899  (Verhandlungen  des  33.  Kommunallandtages  S.  388  ff.  enthält  eine, 
auch  neben  dem  Mombertschen  Buch  noch  interessante  Zusammenstellung  der  da- 
mals in  sieben  Städten  getroffenen  Einrichtungen. 


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K.  Flcsch,  Die  deutschen  Stadtgemeinden  und  ihre  Arbeiter.  ^ c j 

Diese  ist  frei  von  manchem  Drang  und  manchem  Risiko  anderer  Arbeit- 
geber; und  sie  . ist  weseneins  mit  der  Quelle  allen  Rechts,  mit  dem  Staat. 
Sie  hat  daher  die  Möglichkeit,  und,  von  dem  Standpunkt  aus,  dafs 
Zweck  des  Staates  die  „Wohlfahrtspflege“  ist,  ')  auch  die  Pflicht,  den 
Mängeln  entgegenzuwirken,  welche  der  Arbeitsvertrag  jetzt  für  beide 
Kontrahenten  — den  Arbeitgeber  und  Arbeiter  — aufweist,  und  denen 
gegenüber  andere  Arbeitgeber  allerdings  vielfach  zu  schwach,  und  viel- 
fach zu  gleichgültig  sind. 

Alles  dies  gilt  aber  natürlich  nicht  nur  für  die  Städte;  sondern 
ganz  ebenso  für  die  Reichs-  und  Staatsbetriebe,  die  übrigen  Selbstver- 
waltungskörper (Provinzen,  Kreise,  Gemeinden),  und  für  die,  dem  wirt- 
schaftlichen Konkurrenzkampf  entrückten  Korporationen  (Kirchen,  Stif- 
tungen etc.).  Mit  vollem  Recht  verordnet  daher  bereits  die  oben  erwähnte 
preufsischc  Verordnung  betr.  die  bei  dem  Bau  von  Eisenbahnen  be- 
schäftigten Handarbeiter  vom  21.  Dezember  1846  (g  26),  dafs  ihre  Be- 
stimmungen auch  auf  andere  öffentliche  Bauausführungen  (Kanal-  und 
Chausseebauten)  Anwendung  finden  sollen,  welche  von  den  Regierungen 
dazu  geeignet  befunden  werden.  *)  Ja,  sie  geht  noch  weiter,  und  be- 
zeichnet eine  wichtige  weitere  Etappe  auf  dem  zu  durchlautenden  Weg. 
indem  sie  ausdrücklich  anordnet  (§  24),  dafs  als  Eisenbahnarbeitcr  gelten 
„alle  für  den  Bahnbau  beschäftigten  Arbeiter,  sie  mögen  von  den  Eisen- 
bahnen unmittelbar  oder  von  den  Entrepreneurs  angestellt  sein.  Im 
letzteren  Fall  mufs  in  den  betreffenden  Entreprisekontrakten  bestimmt 
werden , inwieweit  die  aus  gegenwärtigen  Vorschriften  entspringenden 
Verpflichtungen  auf  den  Entrepreneur  übergeht,  während  die 
F.isenbahndirektion  für  deren  Erfüllung  verantwortlich 
bleib  t.“ 

Man  sieht,  die  moderne  Forderung  der  Aufnahme  von  Arbeiter- 
schutzbestimmungen in  die  Submissionsbedingungen,  und  die  Gleich- 
stellung der  direkt  städtischen  Arbeiter  mit  den  indirekt  städtischen, 
ist  bereits  vor  sechzig  Jahren  in  ein  noch  heute  geltendes  Gesetz  auf- 
genommen. 

Aus  dem  bisher  Gesagten  ergiebt  sich  aber  nicht  nur,  wie  weit 

*)  Vgl.  den  Eingang  der  Reichsverfassung,  nach  welchem  das  Reich  ist  ein 
ewiger  Bund  zum  Schutz  des  Bundesgebiets  und  des  innerhalb  desselben  gültigen 
Recht»  sowie  zur  Pflege  der  Wohlfahrt  des  deutschen  Volks. 

l)  Auch  die  anscheinend  mit  dem  Prinzip  nicht  im  Einklang  stehende  Vor- 
schrift des  g 27  (Ausschlufs  der  Bestimmungen  für  „Handarbeiter,  welche  bei  hand- 
werksmäfsig  auszuführenden  Arbeiten  beschäftigt  werden'*)  ist  offenbar  nur  eine 
Folge  der  damals  — vor  60  Jahren ! — gewifs  verzeihlichen  irrtümlichen  An- 
schauung — , als  ob  die  Arbeitgeber  dieser  Arbeiter  wohl  stets  selbst  kleine,  öko- 
nomisch schwache  Gcwcrbslcute  seien;  die  Ausnahme  bestätigt  also  die  Regel. 

29* 


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452 


Miszellen. 


zurück  die  Bewegung  noch  ist,  die  zur  Zeit  lediglich  in  einigen  Städten 
den  direkt  seitens  der  Stadtverwaltungen  eingestellten  Arbeiter  zu  gut 
gekommen  ist;  sondern  es  ergiebt  sich  auch  ihre  eigentliche  Bedeutung 
und  Ziel. 

Sie  hat  nichts  zu  thun  mit  dein  sog.  Municipalsozialismus,  mit  den 
Bestrebungen  der  Städte,  der  Allgemeinheit  und  insbes.  den  Aermeren 
durch  kommunale  Einrichtungen  und  Veranstaltungen  Vorteile  zuzufuhren, 
welche  sonst  dem  Einzelnen  unerreichbar  wären.  Denn  sie  betrifft 
lediglich  eine  bestimmte,  abgegrenzte  Zahl  von  Personen,  und  diese 
nicht  auf  Grund  ihrer  Eigenschaft  als  Einwohner  der  Stadt,  sondern  auf 
Grund  des  Privatrechtsverhältnisses,  in  dem  sie  zufällig  und  möglicher- 
weise vorübergehend,  zur  Stadt  stehen. 

Ebensowenig  kann  aber  als  Ziel  bezeichnet  werden  die  Verwandlung 
der  städtischen,  staatlichen,  kommunaLständischen  etc.  Arbeiter : „Arbeiter- 
beamte“ wie  dies  Mombert  in  Anlehnung  an  Klien  anzunehmen  scheint.  ') 
Das  Wesentliche  des  Beamtentums  sind  ja  nicht  die  pekuniären  Ver- 
pflichtungen, die  der  Staat  als  Arbeitgeber  den  Berufsbeamten  gegenüber 
in  der  Regel  übernimmt  (Gehaltszahlung,  Pflicht  zur  Gewährung  von 
Pension  und  Reliktenfürsorge) ; und  auch  nicht  jene  Bestimmungen, 
welche  ihm  die  willkürliche  Lösung  des  Arbeitsvertrags  erschweren 
(Disziplinarverfahren  etc.'i.  Wesentlich  sind  vielmehr  die  besonderen 
Verpflichtungen,  welche  der  Beamte,  also  der  Arbeiter,  — insoweit 
das  Beamtenverhältnis  überhaupt  ein  Vertragsverhältnis  ist  ä)  — zu  über- 
nehmen hat. 

Diese  besonderen  Verpflichtungen  — „zur  fortgesetzten  Leistung 
ungemessener  Dienste  einer  bestimmten  Art“,  zutn  „Gehorsam  gegen  die 
Vorgesetzten  Dienstbehörden“,  zu  dem  „besonderen  Verhalten  auch  aufser- 
halb  der  Dienstverrichtungen"  s)  werden  stets,  von  jeder  Staatsregierung, 
einerlei  aus  welcher  Partei  dieselbe  hervorgegangen  ist,  in  Anspruch  ge- 
nommen werden,  und  um  so  energischer,  je  lebhafter  die  politischen 
und  wirtschaftlichen  Gegensätze  innerhalb  des  .Staatslebens  hervortreten. 
Aber  die  Gefahr,  dafs  jene  durch  das  Wesen  des  Staats  gebotene  Ver- 
pflichtungen degenerieren  zur  „Unterdrückung  jeder  „Selbständigkeit“, 
„Knechtung  des  Untergebenen“,  Dünkel  gegen  das  Publikum“  besteht 
allerdings. 

Es  ist  eine  völlig  ungerechtfertigte  Verallgemeinerung,  wenn  Linde- 
mann *)  in  dieser  vereinzelt  auftretenden  Degeneration  den  von  Klien 
gerühmten  „eigentümlichen  Geist“  des  Beamtentums  erblickt;  von  dem 

Klien,  Minimallolin  und  Arbeiterbeamtentum,  Jena  1901.  Mombert  S.  2 1 4. 

*)  Bekanntlich  wollen  einzelne  Staatsrechtsichrer,  z.  B.  Bornhak,  den  Staatsdienst 
überhaupt  nicht  als  Vertragsverhältnis  anerkennen. 

Vgl.  Bornhak,  preußisches  Staatsrecht  II,  S.  55. 

*)  So  I. indemann  a.  a.  O.  S.  55. 


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K.  F 1 e s c li , Die  deutschen  Stadtgemeinden  und  ihre  Arbeiter. 


453 


die  städtische  Arbeiterschaft  nichts  wissen  wollen.  Aber  es  ist  doch 
zweifellos  dafs,  eben  weil  jene  Degeneration  möglich  und  nicht  ohne 
Beispiel  ist,  es  nicht  einmal  wünschenswert  wäre,  das  Beamtenverhältnis 
mit  seinen  eigentümlichen  Verpflichtungen  weiter  auszudehnen,  als  durch 
die  eigentümliche  Natur  der  Staatsaufgaben  absolut  gesondert  ist.  Im 
Arbeitsvertrag  sind  de  jure  die  Unabhängigkeit  und  die  Wahrung  der 
Persönlichkeit  besser  gewahrt,  als  im  Beamtenverhältnisse,  wo  sie  de  jure 
Einbufsen  erleiden. ') 

Es  kann  also  nicht  darauf  ankommen,  generell  das  privatrechtliche 
Arbeitsverhältnis  in  ein  öffentlich  rechtliches  Beamtenverhältnis  itber- 
zu  fuhren. 

Die  Schaffung  der  „Arbeiterbeamten''  würde  aber  überdies  im  besten 
Fall  einem  kleinen  Teil  der  in  der  Stadt  wohnenden  Arbeiter  — den 
bei  Aemtern  oder  amtsähnlichen  Betrieben  Beschäftigten  — zugute 
kommen;  und  sie  würde  nicht  nur  möglicherweise  zu  Gegensätzen 
zwischen  dieser  neuen  bevorzugten  kleinen  Arbeiterschicht  und  ihren 
Klassengenossen  führen,  sondern  ganz  sicher  zur  schwersten  Unzufrieden- 
heit der  privaten  Arbeitgeber,  die  ja  das  Mafs  ökonomischer  Sicherheit, 
dessen  die  aus  den  Steuererträgnissen  ausgelohnten  städtischen  Arbeiter 
geniefsen,  ihren  Arbeitern  gar  nicht  leisten  können,  und  vielfach  selbst 
nicht  geniefsen.  2) 

Wir  glauben  hiernach,  dafs  das  Schlagwort  vom  Arbeiterbeamtentum 
die  Sache,  um  die  es  sich  handelt,  nicht  trifft.  Was  in  einigen  Städten 
geändert  wurde,  ist  der  Arbeitsvertrag  der  Arbeiter  einer  gewissen  Art 
von  Arbeitgebern : und  was  erstrebt  werden  mufs,  ist  die  Umgestaltung 
des  Arbeitsvertrags,  wie  er  zur  Zeit  üblich  ist,  nicht  nur  bei  gewissen 

*)  de  facto  steht  es  bckantlich  vielfach  umgekehrt,  Uebrigens  hat  der  Ge- 
setzgeber selbst  den  Gemeinden  die  Möglichkeit  gewährt,  die  Zahl  der  Beamten  im 
eigentlichen  Sinn  zu  beschränken  (vgl.  das  preufsische  Gesetz  betr.  die  Anstellung 
der  Kommunalbeamten  vom  30.  Juli  1899). 

*}  In  den  oben  erwähnten  Verhandlungen  des  Kommunallandtags  des  Re- 
gierungsbezirks Wiesbaden  war  cs  relativ  leicht,  den  ständig  beschäftigten  Arbeitern 
Anwartschaft  auf  Pension  und  Reliktenfursorge  zu  verschaffen.  Als  ich  aber  des 
weiteren  auch  die  Auszahlung  des  Tagelohns  während  der  auf  Wochentage  fallenden 
Feiertage  verlangte,  blieb  der  Antrag  trotz  der  Berufung  auf  das  Beispiel  Frankfurts 
und  anderer  Städte  in  der  Minderheit.  Die  Gegner  erklärten  ganz  direkt,  dafs  die 
Gewährung  der  Feicrtagszahlung  zu  Berufungen  führen  werde,  nicht  nur  seitens  der 
Arbeiter,  die  etwa  bei  kleineren  Gemeinden  bedienstet  seien,  sondern  vor  allem 
seitens  der  Arbeiter  bei  Privatarbeitgebern  auf  dem  flachen  Lande,  die  nicht  würden 
verstehen  können,  weshalb  sic  schlechter  behandelt  werden  sollten,  als  die  auf  der 
Chaussee  beschäftigten  Arbeiter  des  Regierungsbezirks.  Die  ländlichen  Arbeitgeber, 
insbes.  die  kleinbäuerliche  Bevölkerung  würden  aber  zu  solchen  Leistungen  vielfach 
überhaupt  nicht  imstande  sein. 


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454 


Miszellen. 


anderen  Arbeitgebern,  die,  ebenso  wie  jene,  dem  öffentlichen  Recht  an- 
gehören, sondern  bei  sämtlichen  Arbeitgebern.  Mit  anderen  Worten: 
das  Problem,  um  das  es  sich  handelt,  ist  nicht  blofs  die  Beseitigung 
des  Unterschieds,  der  besteht  zwischen  dem  Anstellungsverhältnis  der 
Personen,  durch  welche  der  Staat  seine  verfassungsmäfsigen,  öffentlich 
rechtlichen  Aufgaben  erfüllt,  und  denjenigen  anderen  Personen,  welche 
er  in  seinen  wirtschaftlichen  Unternehmungen  beschäftigt,  — sondern 
die  Fürsorge  dafür,  dafs  der  Arbeitsvertrag  generell  die  ihm  nach  Maß- 
gabe unserer  Wirtschaftsordnung  im  Interesse  der  Arbeiter  zugewiesenen 
Funktionen  besser  erfülle,  als  dies  zur  Zeit  der  Fall  ist.  Dafs  in  dieser 
Beziehung  die  rechtliche  Beordnung  des  Arbeitsvertrags  schwere  Mängel 
aufweist,  ist  jetzt  wohl  allgemein  anerkannt  Der  Arbeitsvertrag  ist  das 
einzige  Mittel,  welches  dem  Unvermögenden  zur  Fristung  seiner  F..\i stenz 
zu  Gebote  steht  — und  dieses  Mittel  versagte,  wenigstens  bis  zur 
Schaffung  der  Yersicherungsgesetze,  sofort,  sowie  der  Arbeiter  erkrankte 
oder  im  Beruf  verunglückte.  Er  ist  andererseits  das  einzige  Mittel, 
welches  der  Unternehmer,  sei  er  Privatperson  oder  Person  des  öffent- 
lichen Rechts,  hat,  um  sich  die  notwendigen  Arbeitskräfte  zur  Ausführung 
seiner  Aufgaben  zu  verschaffen.  Es  ist  notwendig  und  vom  Gesetz  be- 
absichtigt, dafs  er  dem  Unternehmer  Macht  über  den  Arbeiter  giebt, 
aber  es  ist  nicht  zu  leugnen,  dafs  infolge  der  Bedürftigkeit  des  Arbeiters, 
infolge  der  Furcht,  die  er  naturgemäfs  vor  einer  gegen  seinen  Willen 
erfolgenden  Auflösung  das  Arbeitsverhältnisses  hat,  diese  Macht  des 
Unternehmers  in  einer  Art  gesteigert  werden  kann,  welche  leicht  zu 
Arbeitsbedingungen  führt,  an  «lenen  wenigstens  die  der  Privatkon- 
kurrenz entrückten  Unternehmer  des  öffentlichen  Rechts  selbst 
keinerlei  Interesse  haben.  Beseitigen,  oder  für  alle  Arbeiter  mindern 
kann  diese  Mifsbräuche  nur  der  Wille  Aller,  d.  h.  das  Gesetz,  und  in 
abgeschwächtem  Grade  die  Sitte.  Die  Aenderung  vorbereiten,  feststellen, 
in  wieweit  sie  nach  den  gegebenen  Verhältnissen  möglich  ist,  können 
aber  und  sollen  nach  den  ihnen  obliegenden  Verpflichtungen  speziell  die 
Arbeitgeber  des  öffentlichen  Rechts,  weil  sie  frei  sind  von  den  Be- 
schränkungen, denen  die  Privatunternehmer  durch  den  wechselseitigen 
Konkurrenzkampf  unterliegen. 

Hierin  liegt  die  innere  Begründung  der  Forderung,  dafs  die  Staats- 
betriebe Musterbetriebe  sein  sollen,  und  hieraus  ergeben  sich  auch  die 
Aufgaben,  welchen  die  Arbeitsverträge  genügen  müssen,  die  seitens  dieser 
Betriebe  ihren  Arbeitern  vorgelegt  werden. 

Dafs  die  zur  Zeit  für  den  Arbeitsvertrag  bestehende  rechtliche 
Regelung  mangelhaft  ist,  zeigt  sich  insbesondere  darin,  dafs  der  Ar- 
beitgeber die  Möglichkeit  hat , dem  Arbeitnehmer  Bedingungen  aufzu- 
legen, kraft  deren  derselbe  zu  geringes  Entgelt  erhält,  zu  viel 
Zeit  aufwenden  mufs,  und  in  seiner  persönlichen  Freiheit 
beschränkt  wird  auch  über  Zweck  und  Inhalt  des  Arbeits- 


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K.  Klcsch,  Die  deutschen  Stadtgemeinden  und  ihre  Arbeiter. 


455 


Vertrags  hinaus.1)  Welche  Mittel  der  Gesetzgeber  anzuwenden 
hätte,  um  diesen  Mängeln  entgegenzuarbeiten,  um  das  vom  Recht 
vorausgesetzte  Gleichgewicht  zwischen  den  beiden  Kontrahenten  im 
Arbeitsvertrag  herzustellen,  braucht  hier  nicht  untersucht  zu  werden. 
Jedenfalls  kann  die  öffentliche  Verwaltung  Eines  thun,  was  der  von  der 
Kot  des  wirtschaftlichen  Kampfes  bedrängte  Privatunternehmer  nicht  ver- 
mag : sie  kann  auf  das  Uebermafs  von  Macht  verzichten,  dessen  sie 
nicht  bedarf ; sie  kann  sich  selbst  beschränken  und  binden  bezüglich 
der  Art  der  Entlohnung  (Lohntafeln)  wie  bezüglich  der  Arbeitszeit,  der 
Arbeitsbedingungen  (Arbeitsordnungen)  und  bezüglich  der  Grenzen  und 
Formen,  in  welchem  sie  das  stärkste  Zwangsmittel  des  Arbeitgebers  — 
die  Drohung  mit  Entlassung  — zur  Anwendung  bringen  will. 

Ob  diese  Bindung  erfolgt  durch  Gewährung  gerichtlich  erzwingbarer 
Rechte  oder  nur  durch  Gewährung  von  Anwartschaften,  oder  durch 
einseitige,  juristisch  bedeutungslose  ist  materiell  ziemlich  gleichgültig; 
öffentliche  Verwaltungen,  die  unter  der  Kontrolle  der  Presse,  der  poli- 
tischen Körperschaften,  der  Stadtverordnetenversammlungen  etc.  stehen, 
können  auch  blofse  Anwart-  schäften  (auf  Pension  etc.)  oder  freiwillig 
abgegebene  Erklärungen  nicht  willkürlich  unerfüllt  lassen.  Andererseits 
aber  sind  manche  der  zu  beordnenden  Punkte,  die  prinzipiell  gerade 
die  gröfste  Wichtigkeit  haben,  den  hergebrachten  Auffassungen  so  fremd, 
dafs  es  begreiflich  ist,  wenn  die  Verwaltungen  sich  in  der  Möglichkeit 
von  Aenderungen  nicht  beschränken  wollen ; man  denke  nur  an  die 
Vorschriften,  welche  den  Lohn  für  Verheiratete  und  Ledige  verschieden 
bestimmen,  oder  welche  die  Verwaltung  bei  der  Entlassung  von  Arbeitern 
beschränken  und  binden. 

Im  übrigen  soll  hier  selbstverständlich  nicht  auf  den  möglichen 
Inhalt  der  Arbeitsordnungen  der  Arbeitgeber  des  öffentlichen  Rechts, 
oder  auf  den  thatsächlichen  Inhalt  der  von  Mombert  ausführlich  dar- 
gestellten städtischen  Arbeitsordnungen  eingegangen  werden. 

Es  handelt  sich  um  Beseitigung  von  Uebelständen,  die  allen  Arbeits- 
Verträgen,  nicht  nur  denen  der  städtischen  Arbeiter  anhaften.  Was  bisher 
geschehen  ist,  sind  Versuche,  gewissermafsen  Experimente  im  kleinen; 
sie  beruhen  auf  dem  freiwilligen  Gewähren  einzelner  Arbeitgeber,  die, 
weil  sie  „juristische“,  also  zeitlich  unbeschränkte,  nicht  physische,  kurz- 
lebige Personen  sind,  auch  durch  Rücksichten  auf  die  Beendigung  des 
Betriebs,  die  Notwendigkeit  einer  Liquidation,  Erbteilung  etc.  nicht  ge- 
hemmt sind.  Die  einzelnen  Bestimmungen  haben  zur  Stütze  nicht  den, 
im  Gesetz  zum  Ausdruck  gelangenden  Willen  des  Staats,  und  noch  nicht 
einmal  die,  in  der  Sitte  sich  manifestierende  Volksüberzeugung.  Im 
Gegenteil,  das  Gesetz  hindert  nicht,  und  die  Sitte  gestattet  ohne  Mifs- 
billigung,  dafs  der  „Tagelohn"  aufhört  an  Festtagen,  seien  es  auch  die 

*)  Vgl.  meine  Sclirifl:  Zur  Kritik  des  Ar  bei  ts  Vertrags  (Jena,  Gustav  Fischer,  1901). 


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Miszellen. 


456 

sonst  heiligst  geachteten  kirchlichen  Feiertage ; dafs  die  Arbeitszeit  in 
einem  Mafse  ausgedehnt  wird,  die  dem  Arbeiter  die  Möglichkeit  des 
Familienlebens  fast  benimmt;  dafs  der  Arbeiter  bei  jeder  dem  Arbeit- 
geber unlieben  Handlung,  habe  sie  auch  mit  dem  Arbeitsvertrag  nicht 
das  Mindeste  zu  thun,  von  der  Arbeit  ausgeschlossen  wird. 

Jede  neue  städtische  Arbeitsordnung,  — die  ja  gegen  den  Willen 
der  städtischen  Vertretungen  nicht  zustande  kommen  kann  — ist  ein 
beweis,  dafs  sich  hier  eine  Aenderung  der  Sitten  vorbereitet,  und 
ein  Schritt  auf  dem  Weg,  der  zur  Reform  des  Rechts  des  Arbeits- 
vertrags führt.  Was  auf  diese  Art  geschehen  kann,  ist  natürlich  nicht 
unbegrenzt;  und  mufs  darauf  gefafst  sein,  gemifsdeutet  zu  werden,  ins- 
besondere von  denjenigen,  für  welche  das  Dogma  ist,  dafs  eine  Aende- 
rung des  Rechts  des  Arbeitsvertrags,  unmöglich  sei ; dafs  Hilfe  für  die 
Arbeiter  nur  dadurch  erwachsen  könne,  dafs  der  Arbeitsvertrag  beseitigt, 
und  die  auf  den  lirbeitsvertrag  begründete  Volkswirtschaft  durch  eine 
auf  dem  Gesellschaftsvertrage  begründete  ersetzt  werde. 

Es  gab  eine  Zeit,  in  der  man  um  Dogmen  kämpfte,  weil  man  glaubte, 
dafs  von  den  Dogmen,  von  den  Glaubenssätzen  über  die  letzten  und 
unbeweisbaren  Dinge  das  Handeln  in  der  Gegenwart  unmittelbar  abhänge. 
Diese  Zeit  ist  auf  dem  Gebiet  der  Religion  vorüber  und  sie  beginnt  zu 
weichen  auch  auf  dem  Gebiet  der  Volkswirtschaft  und  Sozialpolitik.  Je 
mehr  man  sich  überzeugt,  dafs  die  F'rage,  ob  unsere  Wirtschaftsordnung 
in  alle  Zukunft  dauernd  auf  den  Arbeitsvertrag  zu  gründen  sei,  gleich- 
gültig ist  für  die  Aufgaben,  die  der  Gegenwart  zufallen,  um  so  mehr 
wird  die  Arbeit,  welche  die  Gemeinden  jetzt  verrichten,  und  durch 
welche  die  Möglichkeit  der  Beseitigung  gewisser  mit  dem  Arbeitsvertrag 
verbundener  Uebelstände  innerhalb  des  Arbeits Vertrags  geprüft 
wird , in  ihrer  Bedeutung  anerkannt  werden,  und  ein  Feld  der  gemein- 
samen Thätigkeit  aller  Parteien  werden.  Die  Mombertsche  Schrift  aber 
hat  das  Verdienst,  das  thatsächliche  Material,  das  hierüber  bisher  be- 
schafft ist,  ausführlich  zusammengestellt,  und  leicht  zugänglich  gemacht 
zu  haben. 


Druckfehlerverzeichnis. 


Auf  S. 

235,  Zeile  23  von 

oben  soll  cs  statt 

„15 Millionen4  heifsen:  „25  Millionen** 

b 

B 

=43,  n 21  n 

B 

b n 

„ 

„1898“  heifsen : „1899“; 

b 

B 

243,  * =4  „ 

„ 

B B 

B 

„409  Mark4  heilsen:  „904  Mark“. 

B 

„ 

25°,  „ 4-6  „ 

„ 

B B 

B 

b°/o“  heifsen:  ; 

B 

B 

261,  „ 6 „ 

B 

B B 

B 

„Brackhaus4  heifsen:  „Backhaus“; 

b 

„ 

272,  „ 2 „ 

„ 

« B 

„ 

„darunter“  heifsen:  „darüber“. 

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Zur  Koalitionsfreiheit. 

Von 

M.  v.  SCHULZ, 

Vorsitzendem  des  Gewerbegerichts  zu  Berlin. 

Unter  der  Koalitionsfreiheit  versteht  man  das  Recht, 
nach  Belieben  zusammenzutreten,  um  Forderungen  bezüglich  des 
Lohnes  oder  sonstiger  Punkte  des  Arbeitsvertrages  aufzustcllcn  und 
durchzusetzen.1)  Koalition  ist  sodann  diejenige  Verbindung, 
welche  zur  Krlangung  günstiger  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  ein- 
gegangen ist.2)  Die  Arbeitgeberverbände  befinden  sich  in  so  gut 

*)  Stieda  in  Conrads  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften  Bd.  V,  2.  Auf- 
lage S.  120.  Uebcr  die  vorhandenen  Arbeitcrbcrufsvcrcine  und  deren  Mitglicderzahl 
siehe  van  der  Bor  gilt,  Die  Weiterbildung  des  Koalitionsrcchts  der  gewerblichen 
Arbeiter  in  Deutschland.  Berlin  1899  S.  17  u.  18,  Conrads  Handbuch  der  Staats- 
wissenschaften Bd.  IV,  S.  6 1 2 ff. ; K u 1 c m a n n , Die  Gewerkschaftsbewegung ; L c g i c n , 
Das  Koalitionsrccht ; über  christliche  Gewerkschaften  s.  Albrecht,  Handbuch 
der  Sozialen  Wohlfahrtspflege  in  Deutschland  Bd.  I,  S.  175,  181  ff.  und  Bd.  II, 
S.  215  ff.;  Heft  2 der  Schriften  der  Gesellschaft  für  Soziale  Reform:  die  Arbciter- 
berufsvercine ; Ad.  Braun,  Littcratur  von  und  über  Gewerkschaften  in  diesem 
Archiv  Bd.  XVIII,  S.  204fr.;  Sydow,  Die  gesetzliche  Anerkennung  der  Bcrufs- 
vercinc  in  Soz.  Praxis  XII,  S.  172  fr.;  endlich  Bibliographie  des  Bulletin  des  inter- 
nationalen Arbeitsamts  zu  Basel. 

Lot  mar  in  diesem  Archiv  Bd.  XV’,  S.  48;  „Koalitionen  sind  Verbin- 
dungen von  Arbeitgebern  oder  Verbindungen  von  Arbeitnehmern,  hingegen  regel- 
mäfsig  nicht  auch  Verbindungen  von  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern“  (entgegen- 
gesetzte Interessen!).  Wir  haben  solche  Ausnahmen  in  Berlin  erlebt  beim  Strike 
der  Konfektionsarbeiter  und  beim  Strike  der  Linoleumleger.  Bei  dem  grofsen  sogen. 
Konfcktionsstrikc  kämpften  die  Zwischcnmcistcr  mit  ihren  Arbeitern  und  den  Ar- 
beitern der  Grofsuntcrnchmcr  Schulter  an  Schulter  gegen  die  Unternehmer.  Aehn- 
lich  war  der  Thatbcstand  beim  Linolcumlcgcrstrike.  Neuerdings  macht  in  England 
Archiv  fiir  soz,  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XV11I.  3^ 


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45» 


M.  v.  Schulz, 


wie  ungestörtem  Genufs  der  Koalitionsfreiheit. *)  Die  Berufs- 
vereine der  Arbeiter  sind  zur  Zeit  nicht  in  einer  gleichen  glück- 
lichen Lage. 

Bei  Beratung  der  Novelle  zur  Gewerbeordnung  von  1891 
liefs  die  Reichsregierung  in  der  Reichstagskommission  erklären,  dafs 
das  „Koalitionsrecht“  der  Arbeiter  nach  I-age  der  Sache  für  dieselben 
nicht  entbehrt  werden  kann.  Wir  werden  unten  noch  darauf  zurück- 
kommen, dafs  die  bestehende  Koalitionsfreiheit  der  Arbeiter  nicht 
nur  unentbehrlich  ist,  sondern  dringenden  Ausbaues  bedarf.  Nur 
wenn  die  Vereine  der  Arbeitnehmer  dieselben  Freiheiten  haben 
werden,  welche  bereits  die  Arbeitgeberverbände  geniefeen,  nur  wenn 
die  beiderseitigen  Organisationen  gleich  kräftig  sein  werden,  wird 
die  Tätigkeit  der  Einigungsämter  der  Gewerbegerichte  den  Gewerbe- 
treibenden dauernden  Nutzen  bringen. 


eine  „Trade  Allianc“  genannte  Koalition  von  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  viel 
von  sich  reden.  Jene  stellen  nur  Gewerkschaftler  ein,  diese  boykottieren  die  Preis- 
drücker. Siehe  darüber  Schm  oller:  Ucber  Organe  für  Einigung  und  Schieds- 
sprüche in  Arbeitsstreitigkeiten.  Verlag  der  künigl.  Akademie  der  Wissenschaften. 
In  Kommission  bei  Georg  Reimer  S.  9;  Bernstein,  Neue  Formen  gewerblicher 
Verbindung  in  England  (Jahrg.  17  der  Neuen  Zeit  1899  erste  Hälfte  S.  229  tT.  und 
H.  W.  Macrosty,  Trusts  and  the  State,  London  1901  (Grant  Richards).  Achn- 
liche  Verabredungen  haben  auch  schon  vor  dem  Berliner  Einigungsamt  stattgefunden. 
Siehe  „Das  Berliner  Gewerbegericht“,  Verlag  von  Franz  Siemcnroth,  Berlin  1903 
S.  369  u.  Anm.  4.  Bezüglich  des  Tarifvertrages  zwischen  dem  Solinger  Schcrcn- 
fabrikantenverein  und  dem  Scherenschleifervcrcin,  vgl.  Kulemann  a.  a.  O.  S.  670. 

Im  übrigen  haben  trotz  bestehender  Verbote  oder  Strafbestimmungen  die 
Arbeiter  es  von  jeher  verstanden,  wenn  sic  es  für  erforderlich  hielten,  sich  zu  koa- 
lieren. Die  Arbeitgeber  sind  des  ungeachtet  den  Arbeitern  gegenüber  im  wesent- 
lichen Vorteil  schon  dadurch,  dafs  die  Arbeitgeber  die  wirtschaftlich  stärkere  Partei 
und  im  Gegensatz  zu  den  Arbeitern  weniger  an  Anzahl  sind.  Infolgedessen  wird 
es  ihnen  viel  leichter,  Koalitionen  zu  schliefsen  (Hcrkner,  Die  Arbeiterfrage. 
Berlin  1894  S.  249).  Es  ist  dabei  vorauszusehen,  welcher  von  beiden  Teilen  ge- 
wöhnlich das  Uebergewicht  behält  und  den  anderen  zur  Erfüllung  seiner  Be- 
dingungen zwingt.  Die  Arbeitgeber  können  Lohnbewegungen  etc.  viel  länger  aus- 
halten  (Adam  Smith,  Wealth  of  nations,  übersetzt  von  Löwenthal,  Berlin  1879  bei 
Elwin  Staude  S.  70  u.  71).  Siche  hierzu  Franz  Oppenheimer,  Kapital  und 
Arbeiternot  in  „Der  Grofsbetrieb“.  Freier  Verlag,  Berlin,  15.  Februar  1902  Nr.  14, 
S.  228  letzter  Absatz  und  Reichstag  des  Norddeutschen  Bundes,  Sitzung  am  14.  Ok- 
tober 1867  S.  41 1 Sp.  2.  Die  Erfahrung  lehrt,  dals  junge  Koalitionen  meist  als 
ihre  Aufgabe  den  Kampf  und  nicht  die  Aufrechterhaltung  des  Friedens  ansehen. 

*)  Löwcnfcld  in  diesem  Archiv  Bd.  XIV,  S.  485  ff. 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


459 

Wir  wollen  zunächst  nachstehend  in  kurzen  Umrissen  eine 
Geschichte  des  sog.  Koalitionsrechtes  geben. 

Beginnen  wir  mit  der  Zunftzeit.  •)  Schon  damals  bestanden 
Gcsellenverbände,  welche  ursprünglich  zu  ganz  anderen  Zwecken 
wie  die  modernen  Arbeiterorganisationen  gegründet  waren.  *)  Später 
benutzten  aber  auch  sie  die  Stärke  ihrer  Gemeinschaft,  um  für  die- 
selben Fragen  einzutreten,  welche  heute  bei  den  Bewegungen  der 
Arbeiter  eine  wichtige  Rolle  spielen  (Verbesserung  der  Löhne, 
der  Arbeitszeiten,  der  Behandlung  etc.).  *)  Als  Kampfesmittel  be- 
dienten sich  die  Zunftgesellen  des  Strikes  und  des  Aufstandes. 4) 
Die  Zunftmeister  richteten  gegen  ihre  Gesellen  wenig  aus,  eben- 
sowenig wie  zunächst  Reichs-  und  Landesgesetze  diese  niederzu- 
halten vermochten.  ®)  Die  Gesellenunruhen  hörten  nicht  auf.  Dazu 
kamen  Mifsbräuche  der  Gesellen  (Schwelgereien,  Verrufserklärungen 
von  Mitgesellen  und  Meistern  etc.),  welche  sich  allmählich  ein- 
geschlichcn  hatten.  Alle  diese  Umstände  führten  endlich  zu  dem 
Reichsgesetz  vom  1 6.  August  1731,  der  Reichszunftordnung.®)  Das 
Gesetz,  welches  auf  energisches  Betreiben  Preufsens  zustande  ge- 
kommen war,  zerstörte  die  Macht  der  Verbände  der  Gesellen  und 

*)  Ucbcr  den  Charakter  des  Zunftwesens  von  seiner  Entstehung  bis  zum  Verfall 
siehe  Böhmert,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Zunftwesens.  Leipzig  1862,  S.  25  ff. 

*)  Schoenlank  in  Conrads  Handwörterbuch  Bd.  IV,  S.  183:  „Brüderschaft 
und  Gesellschaft“;  Will,  Koalitionsrecht  der  Arbeiter  in  Elsafs-Lothringen  S.  3. 

*)  So  wird  von  zwei  Tarifverträgen  der  Weber  in  Speicr  aus  den  Jahren  1351 
und  1361  berichtet,  zu  welchen  lediglich  unter  dem  Druck  von  Ausständen 
die  Meister  sich  hatten  nötigen  lassen.  (Stahl,  Das  deutsche  Handwerk  S.  339 
u.  340;  Lot  mar,  Der  Arbeitsvertrag  Bd.  I,  S.  758  und  Schoenlank  a.  a.  O. 
S.  186  u.  187. 

*)  Mäscher,  Das  deutsche  Gewerbewesen  von  der  frühesten  Zeit  an.  Pot  dam, 
Verlag  von  Eduard  Döring  1866  S.  344,  Schoenlank  a.  a.  O.  S.  190,  Brentano, 
Die  Arbeitcrgilden  Bd.  I 1871  S.  78. 

Siehe  über  Koalitionsverbote  zuerst  durch  Karl  den  Grofsen,  Franz  Oppen- 
heimer, Grofsgrundeigentum  S.  253,  dann  durch  Sachsenkaiser  (ebendort  S.  318, 
vgl.  auch  S.  457). 

ft)  Die  Versuche  durch  alle  möglichen  Gcwaltmafsregeln,  Verbote,  Ausweisungen, 
Strafen  u.  s.  w.  die  Regungen  der  Gesellenvercine  zu  unterdrücken  mifsglückten. 
Gesellen,  welche  die  Arbeit  einstclltcn,  bedrohte  man  beispielsweise  mit  dem  Ohren- 
abschneiden  (Mäscher  a.  a.  O.  S.  227;  Schoenlank  a.  a.  O.  S.  190). 

®)  Den  letzten  Anlafs  zum  Einschreiten  des  Reiches  bot  der  Aufstand  der 
Tuchknappen  in  Lissa  (Mäscher  a.  a.  O.  S.  34;  Schoenlank  a.  a.  O.  S.  192  u. 
Meyer,  Geschichte  der  preufsischen  Handwerkerpolitik  Bd.  II  1888  S.  34  ff. 

30* 


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M.  v.  Schulz, 


460 

ihre  Koalitionsfreiheit.  Von  nun  an  stellte  die  „Kundschaft",1) 
welche  die  Reichszunftordnung  einführte,  die  Gesellen  unter  die 
strenge  Aufsicht  der  Meisterschaft  und  der  Obrigkeit. 

In  Preufsen  bemühte  man  sich,  das  Gesetz  von  1731  sofort 
durchzuführen.  Auf  seiner  Grundlage  wurden  die  Generalprivilegien 
für  die  Kur-  und  Neumark  und  die  Handwerksordnung  vom  10.  Juni 
1732  für  Ostpreufsen  geschaffen.  Eine  ein  besonderes  Schriftstück 
bildende  Handwerksordnung  für  die  Kur-  und  Neumark,  wie  eine 
solche  für  Ostpreufsen  vorliegt,  gab  es  nicht.  Die  Handwerks- 
ordnung für  Preufsen  stimmt  aber  inhaltlich  mit  den  Generalprivi- 
legien überein. 2)  Die  Vorschriften  über  die  „Kundschaft"  wurden 
wiederholt.  Ueber  das  Verbot  der  Koalition  spricht  sich 
Art.  XXXI 8)  der  Handwerksordnung  für  Ostpreufsen  folgender- 
mafsen  aus: 

„Wann  die  Gesellen  unter  irgends  einigem  Prätext  hinftihro  einen 
Aufstand  zu  machen,  folglich  sich  zusammen  rotliren.  und  entweder  die  an 
Orth  und  Stelle  noch  bleibende  so  lange  bifs  ihnen  in  diesem  oder  jenem 
unbilligen  und  unzulässigen  Begehren  gefuget  worden,  den  Meistern  die 
Arbeit  und  den  Gehorsahm  zu  versagen,  oder  selbst  hauffenweisc  auszu- 
treten, oder  anders  dergleichen  rebellisches  Unwesen  sich  unterstehen 
würden,  so  sollen  dergleichen  Freveler  und  bofshaffte  Verächter  dieser 
Unserer  Handwerks-Ordnung  nicht  allein  wie  oben  Art.  XXI  schon  er- 
wehnet,  mit  Gcfängnifs-  Zucht-Haufs,  und  Vestungs -Baustrafe 4)  beleget, 
sondern  auch  nach  Beschaffenheit  der  Umbstände,  und  hochgetriebener  Re- 
nitente, auch  würklich  verursachten  Unheils  am  Leben  gestraffet  werden. 
Falls  nun  die  Stadt-Magistrate  sie  allein  zu  bändigen  nicht  vermöchten, 
haben  sie  davon  alsofort  ihren  ausführlichen  Bericht  an  Unsere  Preufsischc 
Krieges-  und  Domainen-Cammer  zu  erstatten,  damit  dieselbe  das  nötbige 
darauf  veranlassen,  und  allenfalls  die  Sache  an  Unsere  höchste  Persohn 
zu  weiterem  Verfügen  bringen  könne.  Sölten  derglciche  ausgetretene 


*)  Siehe  darüber  in  diesem  Archiv  Bd.  XIV  S.  1 50  ff.  und  „das  Gcwcrbcgericbt 
Berlin“  S.  8.  Die  Kundschaft  war  ein  von  der  Gewerkschaft  ausgestelltes 
Führungsattest  für  die  Wanderschaft  und  zugleich  Legitimation  für  den 
wandernden  Gesellen.  Vgl.  noch  L)r.  Rüffer,  Das  gewerbliche  Recht  des  allge- 
meinen Preufsischcn  Landrechts  und  die  Preufsische  gewerbliche  Gesetzgebung  von 
1810  und  1811.  Tübingen,  H.  Lauppsche  Buchhandlung  1903,  S.  192  Anm.  l u. 
S.  322.  Dazu  Goldschmidt  in  Annalen  des  Deutschen  Reichs  1901  S.  333. 

*)  Meyer  a.  a.  O.  S.  97. 

*)  Meyer  a.  a.  O.  S.  343. 

4)  Strafen  für  Schimpfen  und  Auftreiben  der  Gesellen,  welchen  „Übeln  Ver 
haltens  wegen“  die  Kundschaft  einbchaltcn  worden. 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


461 


aufrüh rische  Gesellen  in  des  Heil.  Römischen  Reichs  oder  andere  Lande 
gepflüchtet  und  darinnen  anzutrefien  sein;  So  wird  des  Orths  Obrigkeit 
im  Römischen  Reich  sic  auf  geschehene  Requisition,  nach  Maafsgebung 
obgcdachten  Kayserlichen  erneuerten  Handwerks-Constitution '),  zur  Ver- 
halt zu  bringen  und  entweder  zurück  zu  liefern,  oder  sic  wenigstens 
sclbsten  bchörig  zu  bestraflen  nicht  unterlassen : Gestalt  wir  dann  auch 
wollen,  und  K rafft  dieses  ernstlich  befehlen,  dafs  an  keinem  Orth  Unsres 
Königreichs,  dahin  dergleichen  muthwillig  aufstehende,  oder  ausgetretene 
Handwercks  Pursche  ihre  Zußucht  nehmen  möchten,  denen  selben  einiger 
Aufenthalt,  so  wenig  in  Wirths-I  läusern,  als  sonst  in  andern  Häusern  ge- 
stattet, oder  sie  mit  Speise  und  Trank  versehen,  sondern  vielmehr  gegen 
die  frevelnde  Handwercks-Purschc  sowohl  als  gegen  derselben  Heelcr,  als 
Mithelfer  der  Auffrührigcn,  mit  obigen  Strafen  verfahren  werden  soll.“  *) 

Aus  den  Gewerbeordnungen  Friedrich  Wilhelm  I.  hat  das  All- 
gemeine Preufsische  Landrecht  a)  das  Koalitionsverbot  und  die  Vor- 
schriften bezüglich  der  Kundschaft  übernommen.  Hiernach  be- 
stimmte die  preußische  Allgemeine  Gewerbeordnung  vom  17.  Januar 
1845  folgendes: 

§ 1 8 1 . Gewerbetreibende,  welche  ihre  Gehilfen,  Gesellen  oder  Ar- 
beiter, oder  die  Obrigkeit  zu  gewissen  Handlungen  oder  Zugeständnissen 
dadurch  zu  bestimmen  suchen,  dafs  sie  sich  miteinander  verabreden, 
die  Ausübung  des  Gewerbes  einzustellcn,  oder  die  ihren  Anforderungen 


*)  Reichsgcsetz  vom  16.  August  1731. 

*)  Andere  Staaten  folgten  dem  Beispiele  Preufsens.  Das  Reichsgesetz  von 
1731  wurde  übrigens  mehrmals  den  Gesellen  Deutschlands  in  Krinnerung  gebracht. 
Die  Neigung  der  Gesellen  zu  Vereinigungen  scheint  somit  sich 
immer  wieder  bemerkbar  gemacht  zu  haben.  Schoenlank  a.  a.  O. 
S.  192  u.  193. 

*)  Th.  II  Tit.  8 §§  335  ff.  und  §§  396  ff.  und  Dr.  R üffer  a.  a.  O.  S.  197.  Die 
Gesellen  gehörten  zur  Zunft  und  waren  in  allen  ihren  Angelegenheiten  der  Auf- 
sicht der  Acltesten  und  des  Beisitzers  unterworfen.  Sie  bildeten  unter  sich  keine 
besondere  „Kommune“  oder  privilegierte  Gesellschaft.  F.in  Vcrsammlungs- 
recht  hatten  sie  nur,  soweit  die  Zunftartikel  oder  die  Polizeigesetze  dies  gestatteten. 
Jede  Versammlung  war  vorher  den  Acltesten  anzuzeigen.  G o 1 d sc h m i d t a.  a.  O.  S.  433. 

Aus  der  Gesetzgebung  von  1810  und  1811  ist  noch  zu  vermerken,  dafs,  wenn 
zwar  Lehrbrief  und  Kundschaft  für  den  zünftigen  Gesellen  fortbestanden,  an 
deren  Stelle  für  den  unzünftigen  Gesellen  das  durch  die  Obrigkeit  beglaubigte 
Zeugnis  des  Lehr-  oder  Lohnherrn  mit  gleicher  Gültigkeit  trat.  Dr.  R üffer  a.  a.  O. 
S.  322.  Siehe  noch  Locning  in  den  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik  LXXVI 
S.  257  und  Rosenberg,  Das  Vereinsrecht  des  Bürgerl.  Gesetzbuchs  und  die  Ge- 
werkschaftsbewegung. Berlin  1903  S.  6. 


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462 


M.  v.  Schulz 


nicht  nachgebenden  Gehilfen,  Gesellen  oder  Arbeiter  zu  entlassen  oder  zu- 
rückzuweisen, ingleichen  diejenigen,  welche  zu  einer  solchen  Verab- 
redung andere  auffordern,  sollen  mit  Gefängnis  bis  zu  einem 
Jahre  bestraft  werden. 

§ 182.  Gehilfen,  Gesellen  oder  Fabrikarbeiter,  welche  entweder  die 
Gewerbetreibenden  selbst,  oder  die  Obrigkeit  zu  gewissen  Handlungen 
oder  Zugeständnissen  dadurch  zu  bestimmen  suchen,  dafs  sie  die  Ein- 
stellung der  Arbeit  oder  die  Verhinderung  derselben  bei  einzelnen  oder 
mehreren  Gewerbetreibenden  verabreden,  oder  zu  einer  solchen  V er  - 
ab  re  d u n g andere  auffordern,  sollen  mit  Gefängnis  bis  zu  einem 
Jahre  bestraft  werden. 

Diese  Bestimmung  ist  auch  anzuwenden  auf  Arbeiter,  welche  bei  Berg- 
und  Hüttenwerken,  Landstrafsen,  Eisenbahnen,  Festungsbauten  und  anderen 
Öffentlichen  Anlagen  beschäftigt  sind. 

§ 183.  Die  Bildung  von  Verbindungen  unter  Fabrikarbeitern,  Ge- 
sellen, Gehilfen  oder  Lehrlingen  ohne  polizeiliche  Erlaubnis  ist,  sofern 
nach  den  Krimin algcsetzcn  keine  härtere  Strafe  eintritt, 
an  den  Stiftern  und  Vorstehern  mit  Geldbufse  bis  zu  fünfzig 
Thalcrn  oder  Gefängnis  bis  zu  vier  Wochen,  an  den 
übrigen  T eilnehmern  mit  Geldbufse  bis  zu  zwanzig 
Thalern  oder  Gefängnis  bis  zu  vierzehn  Tagen  zu 
ahnden.  *) 

Die  Kundschaft  konnte  freilich  neben  der  durch  die  Ge- 
werbeordnung zur  Geltung  gebrachten  Gewerbefreiheit  nicht  be- 
stehen bleiben.  Sie  wurde  durch  das  Zeugnis  ersetzt,  welches 
dem  Gesellen  auf  sein  Verlangen  auszuhändigen  ist.’) 

*)  Zu  den  §§  181  — 183  siche  Entwurf  eines  allgemeinen  Gewerbepolizei- 
gesetzes nebst  Motiven,  gedruckt  Berlin  1837  bei  A.  W.  Hayn  S.  25,  26,  und  117. 
Die  §§  181  und  182  untersagen  lediglich  die  Verabredung  (Koalition)  zur  Aus- 
sperrung und  zum  Strike.  Sic  verbieten  ni c h t Koalitionen  der  Arbeitgeber  und 
Arbeiter,  welche  andere  Zwecke  wie  Strike  und  Aussperrung  verfolgen.  Mit  den 
Verbindungen  des  § 183  sind  augenscheinlich  im  Gegensatz  zu  den  Verab- 
redungen des  § 182  d a u c rn  d e Vereinigungen  gemeint,  welche  von  polizeilicher 
Genehmigung  abhängig  sein  sollten.  Diesen  Verbindungen  waren  natürlich  durch 
§ 182  Strikevcrabredungen  ebenfalls  verwehrt.  Vgl.  noch  § 185  II  20  des  preufs. 
allgemeinen  Landrccbts  und  §§  98  und  99  des  preufsischcn  Strafgesetzbuches  vom 
14.  April  1851  und  dazu  Art.  II  des  EinfÜhrungsgesetzes.  §§  181  u.  182  bestimmen 
die  Bestrafung  der  „Nötigung",  sind  aber  durch  § 240  des  Reichsstrafgesetzbuches 
aufgehoben  (Soziale  Praxis  v.  2.  April  1903  Sp.  7 1 7)  falls  dies  nicht  bereits  durch 
die  $}§  152  u.  153  der  Reichsgewerbeordnung  geschehen  ist  Hierüber  noch  unten. 

*)  § 142  der  preufs.  Gewerbeordnung  und  hier  Anm.  3 S.  461  a.  E. 

In  der  Folge  wurde  die  preufsische  Verfassung  unter  dem  31.  Januar  1850  er- 


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Zur  Koalitionsfreiheit 


463 


Inzwischen  rührten  sich  die  Freunde  der  Koalitionsfreiheit  fleifsig. 
Bereits  1861  und  1865  wurde  im  preufsischen  Abgeordnetenhause 

lassen.  Artikel  29  u.  30  derselben  gewähren  das  freie  Versa'mmlungs-  und  Vereins- 
recht. Siehe  hierzu  Verordnung  über  die  Verhütung  eines  die  gesetzliche  Freiheit 
und  Ordnung  gefährdenden  Mifsbrauchs  des  Vcrsammlungs-  und  Vereinigungsrechtes 
vom  II.  März  1850  (preufs.  Vercinsgcsetz). 

Der  Ansicht,  dafs  die  Verfassung  Koalitionsverbote  „und  -cinscbränkungen  ein 
für  allemal  aufser  Kraft  gesetzt  habe  (Stic da  a.  a.  O.  S.  124,  siehe  auch  Reichs- 
tag vom  4.  März  1903,  273.  Sitzung  S.  8375  (B)  und  S.  8385  (D)),  ist  in  der  Gesetz- 
gebung nicht  zur  Geltung  gelangt  (Nordd.  Allgem.  Zeitung  vom  6.  u.  10  März  1903 
(Hauptblatt),  dazu  Reichstag  des  Norddeutschen  Bundes  am  14.  Oktober  1867  S.  401 
Sp.  I und  Art.  107  der  Verfassung).  Denn  sonst  hätten  nicht  im  § 3 des  Gesetzes 
vom  24.  April  1854  betr.  die  Verletzungen  der  Dienstpflichten  des  Gesindes  und  der 
ländlichen  Arbeiter  die  Koalitionen  des  Gesindes,  der  Schiffsknechtc  und  Dienstleutc 
verboten  werden  können.  Das  Gesetz  ist  noch  nicht  beseitigt  und,  soweit  § 3 in 
Betracht  kommt,  wichtig  für  Gärtnergehilfen,  welche  von  einigen  zu  dem  Ge- 
sinde bezw.  zu  den  ländlichen  Arbeitern  gerechnet  werden  (M.  v.  Schulz  in  den 
Schriften  der  Gesellschaft  für  soziale  Reform  Heft  6 S.  6).  Ueber  den  Kontrakt- 
bruch und  seine  Bestrafung  s.  Anm.  4 S.  467  und  M.  v.  Schulz  a.  a.  O.  Anm.  II. 
Auch  in  dem  Gesetz  vom  21.  Mai  1860  betr.  die  Aufsicht  der  Bergbehörden 
über  den  Bergbau  und  das  Verhältnis  der  Berg-  und  Hüttenarbeiter  hatte  man 
(§§  *6 — 20)  für  Bergwerkseigentümer,  deren  Stellvertreter  und  für  Bergleute  Koalitions- 
verbotc  in  Anlehnung  an  die  Bestimmungen  der  preufs.  Gewerbeordnung  angeordnet. 
(Gesetz-Sammlung  für  die  Königl.  Preufsischen  Staaten  1860  S.  205.) 

In  jüngster  Zeit  sollte  bei  Beratung  der  neuen  Seemannsordnung  in  der  Kom- 
mission den  Seeleuten  die  Koalitionsfreiheit  der  §§  152  u.  153  Reichsgewerbeordnung 
verliehen  werden.  Die  Reichstagsmehrheit  hat  ihnen  dieses  Recht  versagt,  nachdem 
die  Reichsregierung  erklärt  hatte,  dafs  in  Rücksicht  auf  Disziplin  und  Autorität  eine 
Seemannsordnung,  welche  den  Seeleuten  die  Koalitionsfreiheit  einräume,  von  ihr  nicht 
angenommen  werden  würde.  Vgl.  hierzu  Reichstag  des  Norddeutschen  Bundes 
Sitzung  am  14.  Oktober  1867  S.  397  Sp.  I,  S.  403  Sp.  1,  S.  405  Sp.  2 a.  E. 

Eis  wird  behauptet,  dafs  die  Bestimmungen  der  Preufsischen  Gewerbeordnung, 
welche  die  Koalitionsfreiheit  der  Eisenbahnarbeiter  zum  Strike  ausschlicfsen  (§  182 
Abs.  2 u.  Anm.  1 S.  462)  durch  die  Gewerbeordnung  für  den  Norddeutschen  Bund  vom 
Jahre  1869  nicht  aufgehoben  seien.  Vergl.  zur  Widerlegung  Soziale  Praxis  IX 
Sp.  1080  ff.  und  XI  Sp.  128  ff.  u.  Sp.  161  ff.,  „das  Gewerbegericht  Berlin“,  Verlag 
von  Franz  Sicmenroth  1903  S.  38  ff.  und  Vossische  Zeitung  vom  17.  März  1903.  Bei 
dem  „Gewerbebetrieb  der  Eisenbahnuntemehmung“  des  § 6 Gewerbeordnung  hat 
der  Gesetzgeber  nur  an  den  Unternehmer  gedacht.  Die  Eisenbahnarbeiier  sind 
gewerbliche  Arbeiter,  denen  die  Koalitionsfreiheit  zusteht.  Wenn  ein  Eliscnbahn- 
unternehmer  Für  seinen  Betrieb  Arbeiter  annimmt,  so  gehört  diese  Thätigkeit  aller- 
dings zu  seiner  Unternehmung.  Man  wird  aber  nicht  sagen  wollen,  dafs  jene  Eisen- 
bahnarbeiter mit  ihrem  Arbeitgeber  zusammen  den  „Gewerbebetrieb  einer  Elisenbahn- 


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464 


M.  v.  Schulz 


über  die  Aufhebung  der  die  Koalitionsfreiheit  der  Arbeiter  be- 
schränkenden §§  181  ff.  der  prcufsischen  Gewerbeordnung  ver- 

unternehmung“  austtben.  Die  Eisenbalmarbeitcr  sind  vielmehr  die  Mittel,  deren 
sich  der  Unternehmer  bedient,  um  sein  Gewerbe  zu  betreiben,  ähnlich  wie  er  zu 
seinem  Betriebe  der  Maschinen  u.  s.  w.  benötigt.  Uebcrdies  sprechen  die  Motive 
zur  G.O.  für  den  Norddeutschen  Bund  von  einer  umfassenden  Gewerbe- 
ordnung welche  die  Gewerbegesetz g c b u n g c n im  Sinne  der  ...  Herstellung 

gleich mäfsiger  Grundsätze  für  das  ganze  Bundesgebiet“  umgestaltcn  sollte. 
Ferner  wird  dort  bemerkt,  dafs  „für  alle  Teile  des  Bundesgebiets  . . . die  Aufhebung 
der  Koalitionsverbote  ein  anerkanntes  Bedürfnis  sei.  Wenn  cs  dann  in  den  Motiven 
S.  7 weiter  heifst: 

durch  diese  Bestimmungen  ist,  soweit  cs  sich  um  gewerbliche 
Arbeiter  handelt,  den  Gesichtspunkten  entsprochen,  welche  für  den 
Reichstag  bei  Voticrung  des  Entwurfes  eines  Gesetzes  über  Koalitionen 
von  Arbeitern  und  Arbeitgebern,  sowie  über  die  Aufhebung  der  Beschrän- 
kungen der  freien  Verwertung  der  Arbeitskräfte  im  Jahre  1S67  leitend 
waren, 

so  sollte  damit  nur  darauf  hingewiesen  werden,  dafs  entgegen  den  Wünschen  des 
Reichstages  von  1867  die  Koalitions verböte  für  die  landwirtschaftlichen  Ar- 
beiter und  Tagelöhner,  bestehen  bleiben.  § 1 des  Entwurfes  lautet  a.  A. : 
„Alle  Verbote  und  Strafbestimmungen  gegen  Arbeitgeber  oder  Arbeiter  sämtlicher 
Gcwerbszwcige  mit  Ausnahme  der  Seeschiffahrt  und  des  Gesinde- 
dienstes, einschliefslich  jedoch  der  Landwirtschaft . . . , des  Tagelohndienstes  u.  s.  w.“ 
lieber  eine  Ausnahme  der  Eisenbahnunternehmungen  ist  nicht  einmal  während  der 
Verhandlungen  debattiert.  Eisenbahnuntcmchmungcn  gehören  also  zu  den  „samt- 
1 ichen  Ge werbsz weigen“.  Bez.  der  ländlichen  Arbeiter  s.  noch  Loening  a. a. O.  S.  314 
und  Lot  mar  in  diesem  Archiv  Bd.  XV  S.  58. 

Es  würde  endlich  verfehlt  sein,  daraus,  dafs  in  dem  § 182  der  preul'sischcn 
Gewerbeordnung  neben  den  Gesellen,  Gehilfen  und  Fabrikarbeitern  die  Eiscn- 
bah  narbeiter  besonders  genannt  sind,  entnehmen  zu  wollen,  dafs  die  preufsischc 
Gewerbeordnung  diese  als  gewerbliche  Arbeiter  nicht  angesehen  hat.  Im  § 182 
Abs.  2 heifst  cs,  dafs  „Arbeiter,  welche  bei  Berg-  oder  Hüttenwerken,  Landstrafscn, 
Eisenbahnen,  Festungsbauten  und  anderen  öffentlichen  Anlagen  beschäftigt  sind, 
sich  nicht  zu  Arbeitseinstellungen  verabreden  dürfen.“  Als  man  den  Absatz  2 fest- 
setzte, mufs  das  öffentliche  Interesse  allein  leitend  gewesen  sein  („öffentliche  An- 
lagen"). Denn  zu  den  „Arbeitern“  des  Absatz  2 gehören  auch  nach  dem  Wort- 
laut der  Bestimmung  „Gesellen  und  Gehilfen“  sowohl  der  Unternehmer  der  in  dem 
betreffenden  Absatz  genannten  Anlagen  als  auch  der  etwaigen  Zwischenunternehmer, 
die  bereits  durch  Abs.  1 § 182  von  der  „Verabredung“  abgehalten  werden  sollen 
(Vossische  Zeitung  vom  17.  März  1903). 

Wenn  Eisenbahnarbeiter  nicht  als  gewerbliche  Arbeiter  angesehen 
werden  dürfen  (siche  v.  Land  mann,  Kommentar  zur  Gewerbeordnung  4.  Auflage 
Bd.  I S.  67  ff.J,  dann  hat  freilich  Heine  mann  in  der  Sozialen  Praxis  vom  2.  April 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


465 


nandelt.  *)  Alsdann  legte  in  der  außerordentlichen  Session  des 
Landtages  von  1866  die  preufsische  Regierung  einen  Gesetzentwurf2) 
vor,  welcher  im  § I die  Aufhebung  der  erwähnten  Bestimmungen 
aussprach,  im  § 2 eine  dem  heutigen  § 152  Abs.  2 Reichsgewcrbc- 
ordnung  entsprechende  Vorschrift  enthielt,  während  § 3 wörtlich 
dem  heutigen  § 153  gleichlautend  war.  Der  Entwurf  wurde  nicht 
Gesetz. 

Hiernach  stellten  im  ersten  Reichstage  des  norddeutschen  Bundes 
1867  die  Abgeordneten  Schulze-Delitzsch  und  Becker  den  Antrag 
auf  Beseitigung  des  Koalitionsverbotes.  Der  von  den  Abgeordneten 
vorgelegte  Entwurf  gelangte  mit  der  Einschränkung,  dafs  für  d i e 
Schiffahrt  und  den  Gesindedicnst  a)  das  Verbot  aufrecht 
erhalten  wurde,  zur  Annahme.  Es  sollte  die  Koalitionsfreiheit  den 
Arbeitgebern  und  Arbeitern  sämtlicher  Gewerbszweige  einschliefs- 
lich  der  Landwirtschaft  und  des  Berg-  und  Hüttenbetriebes  ge- 
währt sein. 

Im  folgenden  Jahre  kam  die  Vorlage  zu  einer  Gewerbeordnung 
für  den  norddeutschen  Bund  an  den  Reichstag,  *)  welche  aber  nicht 
erledigt  wurde.  Die  Vorlage  mufste  deshalb  1 869  erneuert  werden. 
Sie  führte  zur  Gewerbeordnung  vom  2i.tJuni  1869  und  zur  Auf- 
hebung der  Koalitionsverbote.  Die  Paragraphen  der  Entwürfe  haben 
nachstehenden  Inhalt: 

§ i6S.  Verabredungen  unter  Gewerbetreibenden,  welche  daraut 
gerichtet  sind,  ihre  Gehilfen,  Gesellen  oder  Arbeiter  zu  gewissen  Hand- 
lungen oder  Zugeständnissen  dadurch  zu  bestimmen,  dafs  sie  die  Arbeit 
cinstellen , oder  die  ihren  Anforderungen  nicht  nachgebenden  Gehilfen, 
Gcsclle.n  oder  Arbeiter  entlassen  oder  zurückw’cisen,  sind  nichtig. 

Verabredungen  unter  Gehilfen,  Gesellen  oder  Fabrikarbeitern, 
welche  darauf  gerichtet  sind,  Gewerbetreibende  dadurch  zu  gewissen 
Handlungen  oder  Zugeständnissen  zu  bestimmen,  dafs  sie  die  Arbeit  ein- 
stellen, oder  dieselben  verhindern,  sind  nichtig. 


1003  Sp.  716  IT.  durchaus  Recht  mit  seiner  Darlegung,  dafs  erst  § 240  R.St.G,  den 
Eisenbahnarbeitern  die  Schranke  zur  vollen  Koalitionsfreiheit  hinweggeräumt 
hat.  Siehe  hier  Anm.  1 a.  E.  S.  462  u.  v.  Land  mann  Bd.  II  S.  496. 

*)  Sticda  a.  a.  O.  S.  125  u.  126. 

*)  Stcnogr.  Berichte  Über  die  aufscrordcnllichc  Session  von  1866  Bd.  1.  S.  1 4 1 ff. 
und  Goltdammcr,  Archiv  für  Strafrecht.  46.  Jahrg.  S.  379  ff. 

*)  Siche  Anm.  2 S.  462  u.  Gold  Schmidt  a.  a.  O.  S.  441  u.  442. 

4)  Reichstag  des  Norddeutschen  Bundes  Nr.  43,  I.  Legislaturperiode,  Sitzungs 
Periode  1S68,  S.  36,  Begründung  S.  7. 


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466 


M.  v.  Schulz 


Diejenigen  Bestimmungen  der  Landesgezetzc,  welche  Verabredungen 
der  vorbezeichneten  Art  unter  Strafe  stellen,  treten  aufser  Kraft. 

§ 169.  Wer  andere  durch  Anwendung  körperlichen  Zwanges,  durch 
Drohungen,  durch  Ehrverletzung  oder  durch  Verrufserklärung  bestimmt 
oder  zu  bestimmen  sucht,  an  solchen  Verabredungen  (§  168)  teil 
zu  nehmen,  oder  ihnen  Folge  zu  leisten,  oder  andere  durch  gleiche  Mittel 
hindert  oder  zu  hindern  sucht,  von  solchen  Verabredungen  zurück- 
zutreten, wird  mit  Gefängnis  bis  zu  drei  Monaten  bestraft,  sofern  nach 
dem  allgemeinen  Strafgesetz  nicht  eine  härtere  Strafe  cintritt. 

In  der  Begründung  von  1869 ')  ist  bemerkt: 

„Durch  die  §§  168  und  169  wurden  die  bestehenden  Koa- 
litionsbeschränkungen für  den  gewerblichen  Unternehmer 
und  Arbeiter  beseitigt,  dagegen  bleibt  den  Koalitions Verabre- 
dungen der  staatliche  Schutz  vorenthalten  und  der  im  Interesse 
der  Freiheit  notwendige  Schutz  gegen  den  Mifsbrauch,  die  freie 
Entschliefsung  durch  Drohungen  und  Anmafsung  von  Gewalt  zu 
beeinträchtigen,  wird  in  einer  Strafbestimmung  gesucht. 

Durch  diese  Bestimmungen  ist,  soweit  es  sich  um  ge- 
werblich eArbeitcrhandclt,  den  Gesichtspunkten  entsprochen, 
welche  für  den  Reichstag  bei  Votierung  des  Entwurfs  eines  Gesetzes 
über  Koalitionen  von  Arbeitern  und  Arbeitgebern,  sowie  über  die 
Aufhebung  der  Beschränkungen  der  freien  Verwertung  der  Arbeits- 
kräfte im  Jahre  1867  leitend  waren.  Die  Ausdehnung  jener  Be- 
stimmungen auf  die  Bergbauunternehmer  und  Berg- 
arbeiter*) ist  durch  § 1 70  ausgesprochen. 

Das  Alinea  2 des  § I des  vom  Reichstage  angenommenen 
Gesetzentwurfs  findet  in  Alinea  I und  2 des  § 168  vorliegenden 
Entwurfs  seine  Erledigung.  Die  von  § 3 jenes  Entwurfs  beabsichtigte 
Aufhebung  der  im  letzten  Alinea  der  § 165  *)  vorliegenden  Ent- 
wurfs aufrecht  erhaltenen  Strafbestimmung  dagegen  fand  Bedenken, 

')  Nr.  13  Reichstag  des  NordcuUchcn  Bundes,  I.  Legislaturperiode,  Sitzungs- 
periode  1869  S.  85. 

*)  Siche  Anm  2 S.  463. 

*)  § 165  lautet:  Mit  Geldbufse  bis  zu  10  Thalern  oder  Gefängnis  bis  zu  acht 
Tagen  wird  bestraft: 

1.  u.  s.  w. 

Dieselbe  Strafe  findet  gegen  Gesellen,  Gehilfen  und  Fabrikarbeiter  Anwendung, 
welche  ohne  gesetzliche  Gründe  eigenmächtig  die  Arbeit  verlassen,  oder  ihren  Ver- 
richtungen sich  entziehen  oder  sich  groben  Ungehorsams  oder  beharrlicher  Wider- 
spenstigkeit schuldig  machen.  Siehe  dazu  dieses  Archiv  Rd.  XI  S.  787  ff. 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


467 


weil  dieselbe  den  einzigen  Weg  zum  wirksamen  Schutze  des  Arbeits- 
vertrages gegen  willkürliche  Verletzung  von  seiten  des  Arbeiters 
darbietet,  und  gegenüber  der  Aufhebung  der  Koalitionsbeschränk- 
ungen ein  wirksamer  Schutz  des  Arbeitsvertrages  von  der  Gesetz- 
gebung nicht  vernachlässigt  werden  darf." 

Bei  der  zweiten  Beratung  des  Entwurfs  wurde  der  § 168 
(jetzt  § 146)  in  folgender  Fassung  angenommen : *) 

Alle  Verbote  und  Strafbestimmungen  gegen  Arbeitgeber  oder  Ar- 
beitnehmer wegen  Verabredungen  und  Vereinigungen  zum 
Behufc  der  Erlangung  günstiger  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen,  insbe- 
sondere mittels  Einstellung  der  Arbeit  oder  Entlassung  der  Arbeiter, 
werden  aufgehoben. 

Jedem  Teilnehmer  steht  der  Rücktritt  von  solchen  Vereinigungen 
und  Verabredungen  frei  und  cs  findet  aus  letzteren  weder  Klage 
noch  Einrede  statt.*) 

Für  den  Gesindedienst  und  den  Dienst  derjenigen  Personen, 
welche  von  dem  Besitzer  eines  Landgutes  oder  einer  anderen  Ac kc r- 
oder  Forstwirtschaft  in  den  ihm  gehörigen  oder  auf  dem  Gute  be- 
findlichen Gebäuden  und  gegen  einen  im  voraus  bestimmten  Lohn  behufs 
der  Bewirtschaftung  für  den  Zeitraum  von  mindestens  einem  Jahre  oder 
gegen  mindestens  dreimonatliche  Kündigung  vertragsmäfsig  angenommen 
sind,  behält  es  sein  Bewenden  bei  den  bezüglichen  Bestimmungen  der 
Landesgesetzc.  s) 

§ 169  (§  147)  blieb  unverändert  bis  auf  Abänderung  des  Allegats 
(§  168)  in  (§  146). 

Der  von  der  Regierung  gewünschte  letzte  Absatz  des  § 165 
(§  143)  wurde  gestrichen.*) 


*)  Nr.  148  Reichstag  des  Norddeutschen  Bundes,  I.  Legislaturperiode,  Sitzungs- 
periode 1869.  Zusammenstellung  des  Entwurfs  einer  G.O.  ftir  den  Norddeutschen 
Bund  (Nr.  13  der  Drucksachen  mit  den  bei  der  zweiten  Beratung  gefafsten  Be- 
schlüssen (§  17  der  Geschäftsordnung)  S.  59. 

*)  Abänderungsanträge  Nr.  15 1 Reichstag,  Laskcr,  Dr.  Meyer  (Thom)  S.  2 Nr.  9 
zum  Entwurf  einer  G.O. 

*)  Zusatzantrag  (eventuell)  zu  dem  Abänderungsan trage  Nr.  151  der  Druck- 
sachen, laufende  Nummer  9 in  beiden  Fassungen.  — Dr.  Friedenthal,  Graf  Kleist. 

4)  Abänderungsanträge  Nr.  15 1 III,  Schulze,  Dr.  Wigard,  Dr.  Hirsch.  Siehe  im 
übrigen  Reichstag  33.  Sitzung  am  3.  Mai  1869,  S.  775  ff. 

Dafür  ist  durch  § 124  b G.O.  eine  Bufsc  cingefiihrt.  Siehe  v.  Land  mann, 
Kommentar  zur  Gewerbeordnung  4.  Autl.  Bd.  II,  S.  201  ff.  und  dazu  Loewcn- 
f e 1 d in  Bd.  III  S.  462  ff.  dieses  Archivs ; L o c n i n g in  Conrads  Handwörterbuch 
Bd.  I S.  993  ff- 


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468 


M.  v.  Schulz, 


Während  der  dritten  Beratung  erhielt  der  § 146  (jetzt  152) 
die  noch  heute  bestehende  Fassung.  *) 

Alle  Verbote  und  Strafbestimmungen  gegen  Gewerbetreibende, 
gewerbliche  Gehilfen,  Gesellen  oder  Fabrikarbeiter  wegen 
Verabredungen  und  Vereinigungen  zum  ßchufc  der  Erlangung 
günstiger  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen,  insbesondere  mittels  Einstellung 
der  Arbeit  oder  Entlassung  der  Arbeiter  werden  aufgehoben. 

Jedem  Teilnehmer  steht  der  Rücktritt  von  solchen  Vereinigungen  und 
Verabredungen  frei,  und  es  findet  aus  letzteren  weder  Klage  noch  Ein- 
rede statt. 

§ 147  (jetzt  § 153)  wurde  unverändert  angenommen.*) 

Zu  den  beiden  Koalitionsparagraphen  hat  sich  der  zweite  Straf- 
senat des  Reichsgerichts  in  einem  Urteil  vom  25.  April  1902  wie 
folgt  geäufsert: 

„Durch  den  § 152  der  Gewerbeordnung  sollte  der  sog. Koalitions- 
freiheit bundesgesetzliche  (reichsgesetzliche ) Geltung  verschafft  werden. 
Auf  der  anderen  Seite  hat  der  Gesetzgeber  die  Freiheit  der  Be- 
teiligung und  Nichtbeteiligung  an  Koalitionen  nicht  nur  dadurch 
anerkannt,  dafs  er  die  Freiheit  des  Rücktritts  von  Koalitionen  aus- 
sprach und  Klagen  und  Einreden  aus  denselben  versagte,  sondern 
es  auch  für  geboten  gehalten,  ihr  noch  einen  besonderen  Schutz 
durch  Strafbestimmungen  gegen  den  sog.  Terrorismus  der  auf  der- 
selben Seite  des  Lohnkampfes  Stehenden  gegen  ihre  Genossen  zu 
gewähren.  Dafs  nach  dem  Willen  desjenigen  Faktors  der  Gesetz- 
gebung, welcher  den  Gesetzentwurf  ausgearbeitet  und  vorgelegt  hat, 
dieser  Schutz  der  Beteiligungsfreiheit  soweit  reichen  sollte,  wie  die 


')  Nr.  226  Reichstag  des  Norddeutschen  Bundes:  Abänderungsvorschläge  zur 
G.O.  (Nr.  148  der  Drucksachen,  Dr.  Fricdenthal  u.  s.  w. 

*)  Reichstag,  46.  Sitzung  am  26.  Mai  1869,  S.  1114  fr. 

Durch  Annahme  des  Fricdenthalschen  Antrages  wurde  die  Fassung  des  § 146 
zweiter  Beratung,  welche  die  Befreiung  von  den  Schranken  des  Koalitionsrechtes 
und  des  Kontraktbruches  auf  a 1 1 e Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer,  ausgenommen 
das  Gesinde  und  eine  gewisse  Art  ländlicher  Arbeiter  auszudehnen 
bezweckte,  beseitigt. 

Siche  hierzu  Ilerkner  a.  a.  O.  S.  109. 

Bezüglich  der  Debatten  über  die  sogen.  Koalitionsparagraphen  vgl.  Reichstag 
vom  17.  Marz  1S69,  S.  1 1 7 Sp.  1,  S.  120  Sp.  I,  vom  18.  März  1869  S.  137  Sp.  1, 
S.  139  Sp.  2,  vom  1.  Mai  1869  S.  735  Sp.  2,  vom  3.  Mai  1869  S.  775  a.  E.  und 
S.  777. 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


469 

Koalitionsfreiheit,  ergiebt  sich  deutlich  bei  Ansicht  der  — den 
§§  152  und  153  des  Gesetzes  entsprechenden  — §§  168  und  169 
des  dem  Reichstage  vorgelcgten  Entwurfs  der  Gewerbeordnung, 
von  welchen  auch  der  erstere  nur  das  Wort  „Verabredungen“  ent- 
hält, so  dafs  der  in  dem  letzteren  vorkommende  Ausdruck  „solche 
Verabredungen  (§  168)“  ein  erschöpfendes  strafrechtliches  Korrelat 
zu  den  Bestimmungen  des  ersteren  bildet.  Auch  die  Motive  des 
Entwurfs  lassen  von  einer  gegenteiligen  Absicht  nichts  erkennen. 
Durch  einen  Abänderungsantrag  zweier  Abgeordneten  wurde  in  dem 
§168  der  Vorlage,  abgesehen  von  anderen  erheblichen  Aenderungen, 
das  Wort  „Verabredungen"  durch  die  Worte  „Verabredungen 
und  Vereinigungen“  (im  ersten  Absatzei  und  „Vereinigungen  und 
Verabredungen"  (im  zweiten  Absätze)  ersetzt.  Eine  Erläuterung, 
aus  welcher  der  Grund  dieser  Aenderung  oder  der  Sinn,  welchen 
die  Antragsteller  mit  dem  von  ihnen  zugesetzten  Ausdrucke  „Ver- 
einigungen" im  Gegensätze  zu  dem  Vorgefundenen  Ausdrucke  „Ver- 
abredungen" verbunden  haben,  entnommen  werden  könnte,  ist  nicht 
gegeben,  auch  fehlt  es  an  jeder  Erläuterung  in  den  Verhandlungen 
des  Reichstags  in  der  Sitzung  vom  3.  Mai  1869,  in  welcher  der 
§ 168  in  der  Fassung  des  Abänderungsantrags  angenommen  wurde. 
Eine  entsprechende  Aenderung  der  Fassung  des  § 169  des  Ent- 
wurfs war  von  den  beiden  Antragstellern  nicht  beantragt;  es  ist 
bei  den  Verhandlungen  auch  keine  Rede  davon  gewesen,  ob  die 
Aenderung  des  § 168  nicht  eine  Aenderung  des  § 169  nach  sich 
ziehen  müsse.  Der  § 169  wurde  in  den  Verhandlungen  von  seiten 
einiger  Parteien  bekämpft,  welche  die  Aufstellung  besonderer  Straf- 
bestimmungen überhaupt  ablehnten;  dem  trat  der  eine  der  beiden 
Urheber  des  zu  § 168  gestellten  Abänderungsantrages  mit  Aus- 
führungen entgegen,  in  welchen  er  den  Schutz  der  Freiheit  der 
Beteiligung  durch  Strafbestimmungen  als  ein  notwendiges  Korrelat 
der  Koalitionsfreiheit,  welche  man  in  § 168  geben  wollte,  bezeichnete; 
ohne  solchen  würde  die  Freiheit  der  Vereinigung  in  Vereinigungs- 
zwang umgewandelt  werden.  Davon , dafs  der  Schutz  der  Be- 
teiligungsfreiheit sich  mit  der  Koalitionsfreiheit,  wie  sie  sich  auch 
gerade  nach  dem  von  diesem  Redner  gestellten  Abänderungsantrage 
gestalten  sollte,  nicht  vollständig  decken  sollte,  findet  sich  weder 
in  seinen  Aeufserungen,  in  denen  er  sich  häufig  des  Ausdrucks 
Vereinigungen  bedient,  noch  in  denjenigen  anderer  Redner  eine 
Andeutung. 

Der  § 169  ist  demnächst  ohne  Veränderung  angenommen, 


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M.  v.  Schulz, 


sodafs  der  § 153  des  Gesetzes  den  genauen  Wortlaut  der  Vorlage 
aufweist. 

Die  Hinzufügung  des  Wortes  Vereinigungen  im  § 168  der 
Vorlage  mag  den  Antragstellern  ratsam  erschienen  sein,  um  aufser 
Zweifel  zu  setzen,  dafs  nicht  nur  Verabredungen  für  einzelne  Fälle 
von  Lohnkampf,  Verabredungen  vorübergehender  und  lokaler  Natur, 
sondern  auch  Vereine,  Vereinigungen,  welche  die  gleichartigen 
Zwecke  auch  in  künftig  auftauchenden  Fällen  des  Lohnkampfes  zu 
fördern  bezweckten  und  überhaupt  eine  auf  möglichst  günstige  Ge- 
staltung der  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  gerichtete  Tätigkeit  all- 
gemeiner Art  entfalten  wollten,  frei  sein  sollten.  *)  Ob  der  Zusatz 
gerade  notwendig  war,  ob  nicht  wegen  des  jeder  Vereinigung  inne 
wohnenden  Moments  der  Verabredung  der  Ausdruck  Verabredung 
im  Sinne  der  Antragsteller  weit  genug  gereicht  hätte,  mag  unent- 
schieden bleiben;  Vereinigungen  entstehen  durch  Verabredung,  mit 
dem  Worte  wird  die  Gesamtheit  der  durch  eine  Verabredung  zu 
einer  loseren  oder  festeren  Organisation  zusammengeschlossenen  Per- 
sonen bezeichnet,  während  von  dem  Bestehen  einer  Verabredung 
in  der  Sprache  des  gewöhnlichen  Lebens  mehr  gesprochen  zu 
werden  pflegt,  wenn  von  dem  Inhalte  des  Vereinbarten  die  Rede 
ist.  Die  durch  Verabredung  entstandenen  Vereinigungen  treffen 
ihrerseits  fortdauernd  in  gegebenen  Fällen  Verabredungen  ; der  Aus- 
druck trifft  auch  dann  zu,  wenn  Beschlüsse  von  den  Organen  der 
Vereinigung  gefafst  werden , insofern  sich  die  Angehörigen  der 
letzteren  denselben  mit  freiem  Willen  fügen.  Andererseits  erscheinen 
diejenigen,  welche  in  einem  einzelnen  Falle  eine  Verabredung  dar- 
über, wie  jeder  einzelne  sich  verhalten  soll,  getroffen  haben,  hier- 
durch untereinander  vereinigt.  Die  mit  den  beiden  Ausdrücken  zu 
verbindenden  Begriffe  sind  mithin  nichts  weniger  als  bestimmt  von- 
einander zu  scheiden;  um  so  mehr  fehlte  es  auch  an  jedem  inneren 
Grunde,  die  Freiheit  der  Xichtbeteiligung  nicht  auch  in  Beziehung 
auf  Vereinigungen  zu  schützen;  der  Zwang  zur  Beteiligung  an  Ver- 
einigungen würde  wesentlich  auf  einen  Zwang  zur  Beteiligung  auch 
an  Verabredungen  hinauslaufen.  s) 


*)  Vgl.  aber  Locning  a.  a.  O.  S.  265  u.  318,  Schalhorn  in  der  Soz.  Praxis 
v.  16.  Juli  1903  Sp.  1107,  Goldschmidt  S.  442  u.  Will  S.  34,  38  u.  40. 

*)  Siehe  hierzu  Löwenfeld  a.  a.  O.  S.  556. 

Im  Gegensatz  zur  Ansicht  des  Reichsgerichts  wurde  im  § 1 des  Entwurfes  eines 
Gesetzes  zum  Schutze  des  gewerblichen  Arbeitsverhältnisses  es  für  erforderlich  er- 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


471 


Ist  hiernach  der  übereinstimmende  Wille  der  beiden  Faktoren 
der  Gesetzgebung,  den  Schutz  gegen  Terrorismus  der  Koalitions- 
freiheit homogen  zu  gestalten,  nicht  zu  bezweifeln,  so  kann  es  nur 
als  eine  nicht  ganz  sorgfältige  Redaktion  des  vom  Gesetzgeber  Ge- 
wollten angesehen  werden,  dafs  man  der  Aenderung  des  einen  Pa- 
ragraphen nicht  auch  eine  Aenderung  des  anderen,  der  auf  ihn 
Bezug  nimmt,  hat  folgen  lassen.“ 

Dem  Reichsgericht  ist  es  nicht  gelungen,  zweifellos  nachzu- 
weisen, dafs  § 153  einen  Redaktionsfehler  enthält.  Selbst  wenn 
man  auf  dem  Standpunkt  steht,  dafs  der  Richter  unbedingt  befugt 
ist,  derartige  Fehler  zu  korrigieren,  so  kann  man  dies  nur 
unter  der  Voraussetzung  ihres  zweifellosen  Nachweises')  zu- 
lassen. 

Bei  Ausarbeitung  des  Entwurfes  unserer  jetzigen  Gewerbe- 
ordnung ist,  wie  bekannt,  die  preufsische  Gewerbeordnung  benutzt 
worden.  Die  §§  181,  182  und  183  der  letzteren  dienten  augen- 
scheinlich zur  Grundlage,  als  man  die  Aufhebung  der  Koalitions- 
Verbote  festsetzte.  Die  „Verbindungen“  (=  Vereinigungen)  der 
Gesellen,  waren  in  Preufsen  von  polizeilicher  Erlaubnis  abhängig, 
also  direkt  nicht  verboten.  Der  Verbindungen  der  Gewerbetreibenden 
— aufser  Innungen  — gedenkt  die  preufsische  Gewerbeordnung 
an  keiner  Stelle.  Dagegen  durften  damals  Arbeitgeber  und  Arbeiter 
„Verabredungen“,  welche  Aussperrungen  undStrikes  im  Auge  hatten, 
nicht  treffen. 

Die  oben  erwähnten  beiden  Abgeordneten  werden  nun  zu 
ihrem  Ergänzungsantrage  bewogen  worden  sein,  um  für  die  Zukunft 
einwandslos  die  Verabredungen  und  ständigen  Vereinigungen 
der  Arbeitgeber  und  der  Arbeiter,  von  allen  Straffesseln  und  Ver- 
boten für  etwaige  Aussperrungen  und  Strikes  zu  befreien.  Viel- 
leicht haben  die  Antragsteller  nur  an  die  ständigen  Ver- 
bindungen (Berufsvereine  der  Arbeiter  und  Arbeitgeberverbände) 
gedacht,  vielleicht  schwebten  ihnen  Vereinigungen  der  Arbeit- 
geber und  Arbeiter  dir  den  einzelnen  Fall  2)  vor,  welche  — durch 

achtet,  neben  dem  Ausdrucke,  „Verabredungen“  noch  den  Ausdruck  „Vereinigungen" 
zu  gebrauchen.  Siehe  dazu  van  der  Borght  a.  a.  O.  S.  41  a.  E. 

*)  Sontag,  Die  Redaktionsversehen  des  Gesetzgebers  S.  33.  Dazu  Laband 
in  der  deutschen  Juristenzeitung  VIII.  Jahrg.  S.  301  ff. 

*)  Wir  erinnern  hier  beispielsweise  an  den  Berliner  Konfcktionsstrike,  an  welchem 
organisierte  und  nichtorganisiertc  Arbeiter  sich  beteiligt  hatten.  Lot  mar  in  diesem 
Archiv  Bd.  XV,  S.  56.  Siehe  auch  S.  457  Anna.  2. 


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M.  v.  Schulz, 


die  Verabredungen  erzeugt  — Niederlcgung  der  Arbeit  oder  Ent- 
lassung der  Arbeiter  beschliel'scn.  Es  ist  dies  nicht  mehr  feststellbar, 
ebensowenig,  wie  man  heute  noch  ermitteln  wird,  aus  welchen 
Gründen  eine  Ergänzung  der  § 1 53  nicht  beliebt  worden  ist  und 
ob  man  etwa  die  dauernden  Verbindungen  in  der  Werbung  von 
Mitgliedern  nach  keiner  Richtung  hin  behindern  wollte.  Strikes  und 
Aussperrungen  sind  verpönt.  Arbeitgeber  und  Arbeiter  gegen  eine 
Nötigung  zur  Beteiligung  an  diesen  vorübergehenden  Unternehmungen 
zu  bewahren,  mag  nahe  gelegen  haben. 

Nur  dann  sind  allenfalls  die  mit  den  Ausdrücken  „Verabredungen“, 
„Vereinigungen“  zu  verbindenden  Begriffe  „nichts  weniger  als  be- 
stimmt voneinander  zu  scheiden“,  wenn  derartige  vorüber- 
gehende Koalitionen  zur  Erlangung  günstiger  Lohn-  und  Arbeits- 
bedingungen in  Frage  kommen.  Anders  bei  Berufsvereinen.  Diese 
verfolgen  auch  Zwecke  gemeinsamer  Berufs-  und  Standesinteressen, 
welche  nicht  auf  Verbesserung  der  Arbeitsverträge  gerichtet  sind, 
und  an  deren  Eirreichung  sogar  ein  allgemeines  Interesse  be- 
stehen kann.  Hier  ist  die  Trennung  der  Begriffe  ausführbar.  In 
der  Rechtsprechung  hat  man  bisher  Unterschiede  gemacht  und 
unter  „Verabredungen“  einzelne  bestimmte  Lohnkämpfe,  unter 
Vereinigungen  die  allgemeinen  Organisationen  der  Arbeiter 
verstanden. 

Demzufolge  gelangte  die  Strafe  des  § 153  nur  zur  Anwendung, 
wenn  die  Beteiligung  an  einem  speziellen  Strike,  nicht  aber  der 
Beitritt  zu  den  Organisationen  der  betr.  Arbeiter  erzwungen  werden 
sollte. ') 

Das  Urteil  des  Reichsgerichts  engt  also  die  Koalitions- 
freiheit ein. 2) 


’)  Soziale  Praxis  vom  29.  Mai  1902  Sp.  916,  vom  20.  November  1902  Sp.  202. 
Dazu  Soziale  Praxis  vom  12.  Juni  1902  Sp.  970. 

*)  Erwähnenswert  ist,  dafs  der  Arbeiter,  welche  in  diesem  Urteil  der  Er- 
pressung und  des  Vergehens  gegen  § 153  für  schuldig  erachtet  wurde,  von  seinem 
Kollegen,  den  er  zum  Eintritt  in  die  Organisation  nötigen  wollte,  im  Wege  des 
Civilprozesses  belangt  und  durch  das  Gericht  verurteilt  worden  ist,  eine  Entschä- 
digung an  den  Kläger  zu  zahlen.  Das  Urteil  des  Civilgerichls  führt  aus: 

„Die  Ersatzpflicht  des  beklagten  folgt  aus  § 826  des  Bürgerlichen  Gesetz- 
buches. Der  Beklagte  hat  dem  Kläger  den  Schaden  unzweifelhaft  vorsätzlich  zu- 
gefügt,  und  zwar  in  einer  gegen  die  guten  Sitten  verstofsenden  Weise.  Denn  es 
verstöfst  gegen  die  guten  Sitten,  wenn  jemand,  um  seine  eigenen  oder  seiner  Ge- 
nossen wirtschaftliche  oder  politische  Interessen  zu  fördern,  seine  augenblickliche 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


473 


Es  ist  Thatsache,  dafs  bei  den  organisierten  Arbeitern  aller 
Schattierungen  Erbitterung  gegen  die  zeitigen  Koalitionsbestimmungen 
und  gegen  die  auf  Grund  des  § 153  der  Gewerbeordnung  statt- 
findende Rechtsprechung  *)  vorhanden  ist.  Die  Arbeiter  sind  der 
Meinung,  dafs  bei  der  Handhabung  der  Koalitionsgesetze  — viel- 
leicht unbewufst2)  — ihre  Gleichberechtigung  mit  den  Arbeitgebern 
nicht  gewahrt  wird. 


L'cbcrlcgcnfaeit  dazu  mifsbraucht,  einen  Vertrag,  der  den  berechtigten  wirtschaftlichen 
Interessen  anderer  dient,  entgegen  dem  Willen  der  Vertragschliefsendcn,  zur  Auf- 
lösung zu  bringen,  zumal  wenn,  wie  hier,  infolgedessen  der  eine  Vertragsteil  brot- 
los und  in  eine  augenblickliche  Notlage  versetzt  wird.  Das  aber  hat  Beklagter 
gerade  gewollt.  Er  wollte  den  Kläger,  weil  er  seinem  Ansinnen  sich  nicht  fügte, 
schädigen,  ihn  aus  seiner  Stellung  bringen  und  damit  brotlos  machen.  Das  war 
ein  widerrechtliches,  mit  den  guten  Sitten  nicht  verträgliches  Verhalten,  zumal  von 
irgend  welcher  (moralischer)  Verbindlichkeit  des  Klägers  seinen  Arbeitskollegen 
gegenüber,  einer  „Organisation“  beizutreten,  nicht  die  Rede  sein  kann,  vielmehr  der 
freien  Entschlicfsung  des  Klägers  in  nicht  zu  rechtfertigender  Weise  Gewalt  ange- 
than  werden  sollte.“  (Siehe  Bl.  für  Rechtspflege  vom  ll.  November  1902  S.  106 
u.  107). 

Demgegenüber  mufs  bemerkt  werden,  dafs  die  Arbeiter  cs  für  unmoralisch 
halten,  wenn  ein  Mitarbeiter  nicht  ihrer  Gewerkschaft  beitritt  und  an  ihren  gemein- 
samen Kämpfen  und  Sorgen  nicht  teilnimmt.  Sie  glauben  moralisch  zu  handeln, 
wenn  sie  sich  w'cigcrn,  mit  einem  solchen  Arbeiter  zusammenzuarbeiten.  (§  826 
B.G.B.  und  Entsch.  des  Reichsgerichts  in  Civilsachen  Bd.  48,  S.  125).  Andere 
Stände  denken  ähnlich.  Siehe  z.  B.  bezüglich  des  Geraer  Aerztestrikes  die  Medi- 
zinische Reform  vom  3t.  Januar  1903,  S.  40.  (Vgl.  dazu  Reichstag,  Aktenstück 
Nr.  347  (Gesetzentwurf  zum  Schutze  des  gewerblichen  Arbeitsverhältnisses)  S.  2241 
Sp.  I a.  A.  und  Locwenleld  a.  a.  O.  S.  530). 

Uebrigens  wird  die  Bedingung  des  Arbeitsvertrages,  dafs  der  Arbeiter  seiner 
Gewerkschaft  fern  bleibe , als  gegen  die  guten  Sitten  verstofsend  angesehen. 
Lot  mar  a.  a.  O.  S.  115  u.  218  und  Anm.,  ferner  Soziale  Praxis  XI  Sp.  1076  u. 
XII  Sp.  718  (§  138  B.G.B.) , Sigel,  Der  gewerbliche  Arbeitsvertrag  S.  47 
Anm.  3,  S.  161  Anm.  45  und  Köhne,  Die  Arbeitsordnungen  S.  237.  Siehe  aber 
„Gewerbegericht“  Jahrg.  VII  Sp.  201,  Jahrg.  VIII  Sp.  21,  Anm.  und  die  Ausfüh- 
rungen des  Vertreters  der  preufs.  Regierung  im  Hause  der  Abgeordneten  (29.  Sitzung 
am  24.  Februar  1903  S.  1901  ff.).  Vgl.  dazu  Reichstag  vom  4.  März  1903,  273.  Sitzung 
S.  8375  ff.  und  Soziale  Praxis  v.  30.  Juli  1903  Sp.  1*59. 

*)  Siehe  dazu  Loewcnfeld  in  diesem  Archiv  Bd.  XIV,  S.  602. 

*)  Loewcnfeld  a.  a.  O.  S.  540  weist  nach  dieser  Richtung  hin  auf  „eine 
bedauerliche  Unkenntnis  der  Verhältnisse  der  modernen  Arbeiterbevölkerung  in 
Deutschland  und  der  treibenden  Ursachen  ihrer  Koalitionsbestrebungen“.  „Die  Ent- 
deckungsreisen innerhalb  des  eigenen  Volkes  und  Landes  und  der  eigenen  Zeit  sind 
Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVI II.  3 1 


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474 


M.  v.  Schulz, 


Auf  der  anderen  Seite  dann  wieder  die  nicht  unberechtigten 
Klagen  der  Arbeitgeber  über  Ausschreitungen  einzelner  Arbeiter 
bei  Strikes.  *)  Der  Ruf  nach  Aenderung  bezw.  Verbesserung  der 
Koalitionsparagraphen  kann  daher  niemals  verstummen.  Die  einen 
erstreben  volle  Koalitionsfreiheit,  die  anderen  Beschränkung  derselben 
und  besonders  Verschärfung  der  Vorschriften  des  § 153  der  Ge- 
werbeordnung. s) 

van  der  Borght  schlägt  zur  Weiterbildung  des  Koalitionsrechtes 
einen  Zusatz  zum  t;  152  vor.  Dieser  Zusatz  würde,  so  fuhrt  er  aus, 

ja  viel  weniger  beliebt,  als  die  Durchquerung  Grönlands  oder  Afrikas  oder  die 
Aufdeckung  der  Zustände  der  Eiszeit.  Es  ist  bemerkenswert,  dafs  die  letzteren  in 
vielen  Kreisen  bekannt  sind,  während  Gleiches  von  ersteren  nicht  gesagt  werden 
kann.  An  ihnen  sollten  aber  Staat  und  Gesellschaft  ein  dringenderes  und  näheres 
Interesse  haben,  als  an  den  Thaten  und  Werken  der  Polar-  und  Urgeschichtsforscher, 
deren  hohen  Verdiensten  dieser  Vergleich  durchaus  keinen  Abbruch  thun  soll.“ 

Siehe  noch  Herkncr  in  den  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik.  Verhand- 
lungen von  1897  (LXXVI)  S.  332:  „Kein  Mensch  ist  empfindsamer  für  die  Kränkung 
seiner  Rechte  als  wie  gerade  der  Arbeiter.  Wenn  er  in  seinem  Rechte  sich  ver- 
letzt fühlt,  dann  wird  er  erbittert,  und  diese  Erbitterung  ist  eine  viel  nachhaltigere 
als  wie  etwa,  wenn  er  über  einen  zu  geringen  Lohn  klagt.“  (Verhandlungen  1S90 
S.  159.) 

*)  wie  wir  sie  in  dem  Entwurf  eines  Gesetzes  zum  Schutze  des  gewerblichen 
Arbeitsverhältnisses  vom  26.  Mai  1899  aufgezählt  finden.  Es  ist  ein  Fehler,  diese 
Ausschreitungen  den  Koalitionen  zur  Last  zu  legen.  „Wer  mit  den  Koalitionen 
und  ihren  Vertretern  in  beständiger  Fühlung  ist,  wer  die  tägliche  Arbeit  kennt,  die 
in  diesen  Vereinen  und  Versammlungen  geleistet  wird,  der  wird  zwar  über  Aus- 
schreitungen auch  nicht  hinwegsehen,  er  wird  in  ihnen  aber  das  erblicken,  was  sie 
sind:  die  bedauerlichen,  vielleicht  zu  häufigen  Ausnahmen.  Wer  hingegen  mit  den 
Koalitionen  von  Berufswegen  nur  zusammenstöfst,  sobald  sie  sich  Ausschreitungen 
zu  schulden  kommen  lassen,  der  wird  von  ihnen  die  Vorstellung  haben,  dals  sic, 
wo  er  ihnen  auch  begegnen  mag,  immer  etwas  Böses  im  Schilde  führen.“ 
Jastrow  in  den  Jahrbüchern  für  Nationalökonomie  und  Statistik,  dritte  Folge 
Bd.  18  (LXXIII)  S.  86.  Vgl.  hierzu  Locwenfcld  a.  a.  O.  S.  542,  aber  auch 
Gierke  in  den  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik  (Verhandlungen  von  18971 
S.  397- 

*)  Wiederholte  Versuche  einer  Revision  dieser  Bestimmungen  sind  bisher  stets 
gescheitert.  Siche  Reichstag,  Aktenstück  Nr.  347  (Gesetzentwurf  zum  Schutze  des  ge- 
werblichen Arbeitsverhältnisses)  S.  2239  Begründung;  v.  Schicker,  G.O.  Bd.  I S. 925 
Anm.  1;  Her  kn  er  a.  a.  O.  S.  119;  dieses  Archiv  Bd.  XIV  S.  471fr.;  vgl.  auch 
noch  die  Verhandlungen  des  Reichstages  von  Januar,  Februar  und  Juni  1896  über 
die  von  Abgeordneten  eingebrachten  Gesetzentwürfe,  das  Recht  der  Versammlung 
und  Vereinigung  und  das  Recht  der  Koalition  betreffend. 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


475 


auszusprechen  haben,  dals  Arbeitervereine  zur  Wahrnehmung  ge- 
meinsamer Berufsinteressen  und  Vereine  der  Arbeitgeber  zur  Wahr- 
nehmung ihrer  Interessen  gegenüber  den  Arbeitern  und  deren  Ver- 
einigungen von  den  landesgesetzlichen  Verboten  und  Strafbestimm- 
ungen befreit  werden  und  dafs  gegen  ihre  Eintragung  in  das  Ver- 
einsregister der  in  § 6l  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches  *)  vorgesehene 
Einspruch  nicht  erhoben  werden  kann,  wenn  sie  folgende  Bedingungen 
erfüllen : 

I.  Der  Verein  mufs  sich  durch  seine  Satzungen  verpflichten, 
vor  Eröffnung  einer  von  ihm  geplanten  Arbeitseinstellung 
oder  Arbeiteraussperrung  das  bestehende  zuständige  oder 
ein  für  diesen  Fall  von  der  für  Errichtung  von  Gewerbe- 
gerichten zuständigen  Behörde  besonders  zu  bildendes 
Einigungsamt  anzurufen  und  sich  auch  im  weiteren  Verlauf 
der  Arbeitseinstellung  oder  Arbeiteraussperrung  dem  Ver- 
fahren vor  dem  Einigungsamt  nicht  zu  widersetzen.  s) 


*)  Der  Paragraph  lautet:  „Wird  die  Anmeldung  zugelassen,  so  hat  das  Amts- 
gericht sie  der  zuständigen  Verwaltungsbehörde  mitzutcilen. 

Die  Verwaltungsbehörde  kann  gegen  die  Eintragung  Einspruch  erheben,  wenn 
der  Verein  nach  dem  öffentlichen  Vercinsrecht  unerlaubt  ist  oder  verboten  werden 
kann  oder  wenn  er  einen  politischen,  sozialpolitischen  oder  religiösen  Zweck 
verfolgt.“  Lot  mar  in  diesem  Archiv  Bd.  XV,  S.  65  u.  Gold  Schmidt  S.  537. 

Bezüglich  der  Einwirkung  des  B.G.B.  auf  die  Koalitionen  s.  van  der  Borght 
S.  25  ff.  und  Loewenfcld  a.  a.  O.  S.  476,  endlich  Soziale  Praxis  XII  Sp.  172  u. 
173.  In  der  Sitzung  des  Reichstages  vom  24.  März  1903  wurde  übrigens  eine  Re- 
solution angenommen,  die  für  die  nächste  Session  Vorlegung  eines  Gesetzentwurfes 
verlangt,  welcher  die  Rechtsfähigkeit  der  Berufsvereine  auf  Grundlage  des 
Bürgerlichen  Gesetzbuches  regelt.  Ferner  erfolgte  die  Annahme  einer  Re- 
solution, nach  welcher  ein  Gesetzentwurf  vorzulegen  ist  Über  Berufsvereine 
und  deren  Berechtigung  zur  Verbesserung  der  Lage  der  Arbeiter  auch  Veränderungen 
der  Gesetzgebung  zu  erstreben.  Vgl.  noch  Soz.  Praxis  vom  21.  Mai  1903  Sp.  902 
und  903,  „das  Gewerbegericht  Berlin“  S.  382,  R os e n berg  a.  a.  O.  S.  8 ff., 
Loening  a.  a.  O.  S.  277  ff.,  Sc  ha  1 hör  n a.  a.  O.  Sp.  1109  und  M.  v.  Schulz 
ebendort  Sp.  1050,  dazu  v.  Schulze-Gaevernitz  a.  a.  O.  Bd.  II  S.  240. 

*)  van  der  Borght  S.  2o,  21,  23,  25.  Siche  über  die  von  dem  Berliner 
Gewerbegericht  ins  Leben  gerufenen  Schlichtungskommissionen  v.  Schulz, 
Kommentar  zum  Gewerbegerichtsgesetz  S.  167  und  in  diesem  Archiv  Bd.  XIV,  S.  681 
u.  682,  ferner  Soziale  Praxis  vom  13.  Dezember  1901  Sp.  29 1 ff.,  v.  22.  Mai  1902 
Sp.  900  und  Schalhorn  in  der  Sozialen  Praxis  vom  15.  Jannar  1903  Sp.  434. 

Ueber  das  Abkommen  des  norwegischen  Arbeitgeberverbandes  und  der  Landes- 
organisation der  norwegischen  Gewerkvereine,  welches  Einigungsämter  und  Schieds- 

3>* 


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476 


M.  v.  Schulz, 


2.  Die  Satzungen  des  Vereins  müssen  die  Zweckbestimmung 
der  einzuziehenden  Beiträge  und  des  anzusammelnden  Ver- 
mögens genau  bezeichnen ; für  den  Fall  der  satzungswidrigen 
Verwendung  der  Vereinsmittel  mufs  das  Gesetz  die  Ein- 
ziehung des  Vermögens  zu  Gunsten  von  Einrichtungen,  die 
den  Arbeitern  zugute  kommen,  androhen  und  die  erforder- 
lichen Einzelheiten  dieserhalb  regeln. 

Hierzu  bemerken  wir,  dafs  nach  den  Erfahrungen,  welche  bei 
dem  Berliner  Gewerbegericht  gemacht  worden  sind,  schon  heute 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  Arbeitseinstellungen  und  Aussperr- 
ungen möglichst  zu  vermeiden  suchen.  ’)  Wenn  das  Einigungsamt 
zu  Berlin  eine  Anzahl  von  Vergleichen  vor  Ausbruch  der  Strikes  zu- 
stande gebracht  hat,  so  ist  dies  mit  der  thatkräftigen  Hilfe  der 
Organisationen  und  ihrer  Führer  zu  danken.  Soweit  sie  vor  dem 
Einigungsamt  zu  verhandeln  hatten,  fanden  sich  die  Parteien  ferner 
regelmäl’sig  zur  Bildung  von  sog.  Schlichtungskommissionen  bereit. 
Diese  Kommissionen  sind  berufen,  alle  Differenzen,  soweit  sie 
nicht  vor  das  Gewerbegericht  als  Prozefegericht  gehören,  möglichst 
zu  beseitigen.  2)  Es  wurde  ferner  bisher  fast  ausnahmslos  verabredet, 
dafs,  falls  die  Schlichtungskommission  die  Parteien  nicht  ausgleicht, 
dieselben  gehalten  sein  sollen,  binnen  einer  bestimmten  Frist  das 
Einigungsamt  als  letzte  Instanz  anzurufen.  Soweit  also  Berlin  in 
Betracht  kommt,  ist  von  einem  Teil  der  Gewerbetreibenden  schon 
Fürsorge  getroffen,  dafs  es  so  leicht  zu  einem  Strike  und  zu  einer 
Aussperrung  nicht  kommt.  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  handeln 
aus  freien  Stücken  so  wie  sie  sich  nach  van  der  Borght  durch 
Satzungen  verpflichten  sollen.  Der  Vorschlag  des  Schriftstellers 
dürfte  nicht  nach  dem  Geschmack  mancher  Arbeitgeber  sein,  welche 
— in  Verbänden  vereinigt  — es  für  richtig  halten,  die  Vermittlung 
des  Gewerbegerichts  grundsätzlich  abzulehnen.  8) 

gerichte  zur  Behandlung  von  Streitigkeiten  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitern  vor- 
sieht, vgl.  Bulletin  des  Internationalen  Arbeitsamts  Bd.  I,  S.  7t»  u.  701. 

*)  Grundsätzlich  lehnen  die  Arbeiterorganisationen  die  L'nterstützung  jeder 
Lohnbewegung  ab,  die  gegen  ihre  Ucberzeugung  und  gegen  die  in  den  Strike- 
reglements  niedergelegtcn  Krfahrungen  und  Vorschriften  geführt  wird.  Loewcn- 
feld  a.  a.  O.  S.  595;  siehe  auch  Kulemann  a.  a.  O.  S.  224.  Im  übrigen  sind 
die  Gewerkschaften  keineswegs  aussc  h 1 ie  fsli  ch  S t ri  ke  v er  ein  e , wie  be- 
reits oben  im  Text  bemerkt  worden,  s.  Rosenberg  a.  a.  O.  S.  17  Anm.  8. 

*)  Vgl.  Anm.  2 S.  475  u.  „das  Gewerbegericht  Berlin“  S.  317  ff: 

’)  L otmar  in  diesem  Archiv  Bd.  XV,  S.  36  ff.  u.  S.  40.  Acbnlich  s.  Z.  in 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


477 


Bei  fakultativen  Vorschriften  wie  bislang  werden  die  wider- 
strebenden Arbeitgeber  auch  in  Zukunft  nicht  daran  denken,  mit 
den  Arbeitern  vor  dem  Einigungsamt  zu  verhandeln.  Sie  werden 
schon  zur  Einrichtung  von  paritätischen  Schlichtungskommissionen 
sich  nicht  bequemen,  da  eine  Gleichberechtigung1)  der  Arbeiter 
ihnen  von  Uebel  scheint.  Ohne  Zwang*)  wird  man  nur  Unvoll- 
kommenes erreichen.  Es  würde  aber  nicht  genügen,  zu  den  bis- 
herigen Bestimmungen  des  § 1 52  die  von  van  der  Borght  geforderten 
Zusätze  zu  machen. 

I. otmar3)  kennzeichnet  den  heutigen  Stand  der  deutschen 
Koalitionsgesetzgebung  trefflich  folgendermafsen : 

„Die  gesetzliche  Koalitionsfreiheit  ist  nur  Unverbotenheit  und 


England.  Vgl.  darüber  v.  Schulzc-Gacvcrnitz,  Zum  sozialen  Frieden  II.  Bd. 
S.  235  u.  239. 

*)  Programm  der  Reich. sregierung:  Anerkennung  der  Gleichberech- 
tigung der  Arbeiter,  Soziale  Praxis  vom  29.  Januar  1903  Sp.  465  fr.  Vgl.  auch 
Roesikc,  Die  Gleichberechtigung  der  Arbeiter,  in  der  Sozialen  Praxis  vom 
3.  u.  IO.  April  1902  Sp.  689  fr.  bezw.  714  IT.  Siehe  hierzu  Soziale  Praxis  vom 
22.  Mai  1902  Sp.  901,  vom  10.  Juli  1902  Sp.  1085,  „Gewerbegericht“  Jahrg.  VII, 
Sp.  204  und  Jastrow,  Sozialpolitik  und  Vcrwaltungswisseaschaft,  Bd.  I,  S.  531. 

*)  Brentano  hat  bereits  die  zwangsweise  Organisation  der  Heim- 
arbeiter verlangt,  um  deren  Lage  zu  verbessern.  Siehe  des  näheren  Schwied- 
1 a n d , Ziele  und  Wege  einer  Heimarbeitsgesetzgebung,  Wien  1903,  S.  109  IT.,  hierzu  auch 
Loewcnfeld  in  diesem  Archiv  Bd.  XIV,  S.  475  ff.  Der  Autor  sagt  unter  anderem : 
„Dafs  der  Staat  anstatt  in  das  wirtschaftliche  Getriebe  direkt  einzugreifen,  die 
Selbsthilfe  zu  organisieren  sucht,  ist  eine  Erscheinung,  welche  im  modernen  Deutsch- 
land häufig  ist.  . . . Die  Formen,  in  welchen  dies  geschieht,  sind  mannigfaltig.  Es 
genügt  hier  darauf  hinzuweisen,  dafs  der  Staat  den  dem  „Mittelstände“  angchörigen 
Warenverkäufern  dadurch  zu  helfen  sucht,  dafs  er  denselben  das  Recht  de* 
Zwangs  zur  Organisation  verleiht,  vgl.  die  Handwerkcrnovelle  vom  26.  Juli 
1897  §§  100  ff.  u.  Will  S.  37  u.  38.“ 

Es  ist  erforderlich,  dafs  der  Staat  die  Organisation  schafTt  für  diejenigen,  welche 
sich  einer  bestehenden  Organisation  nicht  unterordnen  wollen  bezw.  unfähig  sind, 
sich  selbst  eine  Organisation  zu  geben.  Siehe  auch  Sch  mol  ler  a.  a.  O.  S.  12  und 
Kulemann  a.  a.  O.  Vorwort  XIII,  endlich  Will  S.  26  u.  142  a.  E. 

Die  Organisationen  eines  Gewerbes  werden  bei  Lohnbewegungen  sich  den 
Majoritätsbeschlüssen  ihrer  Mitglieder  zu  fügen  haben.  (Soziale  Praxis  vom  21.  Mai 
1903,  Sp.  922,  vom  30.  Juli  1903  Sp.  1174  a.  E.).  Unregelmäfsigkciten  wären  durch 
behördliche  Ordnungsstrafen  zu  ahnden. 

*)  In  diesem  Archiv  Bd.  XV,  S.  58  ff.  u.  63. 


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478 


M.  v.  Schulz, 


Straflosigkeit:  die  Koalition  ist  frei,  nämlich  vogelfrei  und  ein 
Koalitionsrecht  ist  noch  zu  schaffen.“ 

Hieran  hat  die  Aufhebung  des  Verbindungsverbots  *)  im  wesent- 
lichen nichts  geändert.  Auf  Grund  recht  altertümlicher  Vereins- 
und Versammlungsgesetze  der  meisten  Einzelstaaten  Deutschlands 
dehnen  die  Behörden  den  Begriff  der  politischen  Vereine  weit  aus, 
so  dafs  die  Berufsvereine  des  Schutzes  des  § 152  häufig  entbehren. 
Es  mufs  daher,  wie  dies  von  verschiedenen  Rednern  im  Reichstage 
erst  jüngst  wieder  betont  worden  ist,  ein  allgemeines,  freies,  einheit- 
liches Vereinsrecht  im  Reiche  durchgeführt  werden.2)  Ferner  ist 
nicht  blofs  volle  Koalitionsfreiheit,  sondern  gesetzlicher  Koa* 
litions  zwang8)  zu  befürworten  mit  der  Mafsgabe,  dafs  es  jedem 
unbenommen  ist,  sich  einer  der  bestehenden  Vereinigungen  anzu- 
schliefscn.  Alle  diejenigen  Arbeitgeber  und  Arbeiter,  welche  einer 
vorhandenen  Verbindung  nicht  beitreten,  sind,  soweit  angängig,  zur 
Bildung  je  einer  besonderen  Organisation  anzuhalten.  Sämtliche 
Organisationen  sind  zu  verpflichten,  sich  Satzungen  im  Sinne  van 
der  Borghts  und  der  vor  dem  Berliner  Gewerbegericht  geschlossenen 

*)  Reichsgesetz  vom  IX.  Dezember  1899  (R.G.B1.  S.  699).  Vgl.  dazu 
van  der  Borght  S.  12  u.  13  und  Toennies,  Vereins-  und  Vcrsamnilungsrccht 
wider  die  Koalitionsfreiheit  im  Heft  5 der  Schriften  der  Gesellschaft  für  soziale 
Reform;  endlich  Soziale  Praxis  XII,  Sp.  89  ff.  u.  200  u.  Rosenberg  a.  a.  O.  S.  48. 

*)  Loening  a.  a.  O.  S.  417;  Soziale  Praxis  XII  Sp.  1109  u.  1110. 

*)  Siehe  Anm.  2 S.  477.  Dagegen  Loening  a.  a.  O.  S.  316. 

Ueber  den  Ausbau  des  Koalitionsrechts  äufserte  sich  der  Abgeordnete  Dr. 
Hitze  1893  *m  Reichstage  folgendermafsen : . Ich  bin  oben  der  Ansicht,  dafs 

nicht  darin  der  Weg  der  Reform  liegt,  dafs  der  Arbeitgeber  oder  der  Staat  mit 
Reprcssivmafsregeln  gegen  die  Arbeiter  vorgeht,  sondern  darin,  dafs  wir  das 
Koalitionsrecht  gesetzlich  ausbauen.  Wenn  wir  gesetzlich  anerkannte,  im 
Rahmen  gesetzlicher  Formen  geschaffene  Arbeiterorganisationen  haben,  dann  können 
wir  diesen,  namentlich  den  Vorständen  auch  die  entsprechende  Verantwortung  zu- 
schreibcn.  Nur  auf  solchem  Wege  werden  wir  dahin  kommen,  auch  dem  Massen- 
vertragsbruch entgegenzutreten.  Wir  können  ganz  gut,  wenn  die  Arbeiter  im 
Rahmen  gesetzlicher  Organisation  z.  B.  Fonds  ansammeln,  um  im  Falle  des  Strikes 
sich  zu  unterstützen,  zur  Bedingung  und  Pflicht  machen  . . . nur  unter  Innchaltung 
des  Vertrages  und  erst  dann  in  den  Strike  einzutreten,  wenn  alle  Mittel  eines 
schiedsrichterlichen  Ausgleichs  erschöpft  sind“  (Reichstag  vom  21.  Januar  1893). 
Es  wäre  tief  zu  beklagen,  wenn  es  infolge  der  Ereignisse  in  den  Niederlanden  den 
Gegnern  der  Koalitionsfreiheit  gelänge,  Reichsregierung  und  Reichstag  zu  einer  Be- 
schränkung der  bestehenden  Koalitionsfreiheit  zu  veranlassen.  Will  a.  a.  O.  S.  92. 
Vgl.  dazu  v.  Schulze-  Gacvcrnitz  a.  a.  O.  S.  251  u.  252. 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


479 


Vergleiche  (Schlichtungskommission,  Einigungsamt)  zu  geben.  Die 
Organisationen  und  ihre  Leiter  wird  man  für  Ausführung  der 
Satzungen  haftbar  machen  können.  Es  wären  von  den  Vereinen 
Kautionen  zu  hinterlegen,  welche  für  alle  Verfehlungen  ihrerseits 
und  ihrer  Mitglieder  in  erster  Linie  zivilrechtlich  in  Anspruch  zu 
nehmen  sind.  Auch  gegen  den  Vorschlag  zu  2.  van  der  Borghts 
wird  kaum  ein  begründetes  Bedenken  erhoben  werden,  da  das 
Streben  in  der  Hauptsache  auf  Erreichung  des  Koalitionsrechtes 
zu  richten  ist.  Das  Koalitions recht  würde  allein  schon  eine 
erspriefsliche  Entwicklung  der  einigungsamtlichen  Thätigkeit  der 
Gewerbegerichte  verbürgen.  Da  kräftige  sich  gegenüberstehende 
Organisationen  nur  äufserst  schwer  an  Ausstände  bezw.  Aussperrungen 
herangehen,  so  würde  durch  die  wirkliche  Koalitionsfreiheit,  welche 
die  Berufsvereine  erstarken  läfst,  eine  gewisse  Gewähr  geboten,  dafs 
Strikes  und  Aussperrungen  möglichst  vermieden  werden.1)  Ein  weiterer 


*)  Der  Kegel  nach  wird  man  zunächst  daran  festhalten,  dafs  eine  Zwangsvoll- 
streckung der  einigungsarotlichcn  Schiedssprüche  zu  unterbleiben  hat  Ob  eine  Aus- 
nahme zuzulassen  ist  bei  Gewerben,  welche  für  die  Licht-  und  Wasserbeschaffung 
und  für  die  Unterhaltung  des  öffentlichen  Verkehrs  zu  sorgen  haben,  dürfte  ernst- 
lich zu  erwägen  sein.  Siche  van  der  Borght  a.  a.  O.  S.  33  ff.  und  Herkncr 
a.  a.  O.  S.  252  fr.  Hierzu  Schm  oller  a.  a.  O.  S.  IO  u.  12  und  Franz  Oppen- 
heimer in  der  Sozialen  Praxis  XI  Sp.  476  u.  477  und  in  dem  Heft  der  Zeitschrift 
für  Sozialwissenschaft.  Januar  1902  Sp.  28,  über  das  Werk  von  Albert  Met  in  „Le 
Socialisme  sans  Doctrincs“  (Paris  1901).  Ueber  das  Koalitionrecht  in  den  Ver- 
einigten Staaten  Soz.  Praxis  Xll  Sp.  639.  Es  sind  hier  aber  die  Bedenken  des 
Vertreters  der  preufsischcn  Regierung  und  der  Reichsregierung  im  Abgeordneten- 
hause und  im  Reichstage  (Ilaus  der  Abgeordneten,  Sitzung  am  23.  Februar  1903 
und  am  folgenden  Tage  und  Reichstag  vom  4.  März  1903)  bezüglich  der  Koalitions- 
freiheit der  Eisenbahnarbeiter  in  Rücksicht  zu  ziehen.  Vgl.  übrigens  Soziale  Praxis 
vom  21.  Mai  1903  Sp.  91 1 u.  912  über  den  zu  Ungunsten  der  Strikcnden  ver- 
laufenen Ausstand  der  Eisenbahner  in  Australien. 

Die  Soziale  Praxis  vom  5.  März  1903,  Sp.  616  führt  hierzu  aus:  „Eine  grund- 
sätzliche Lösung  des  Dilemmas  scheint  uns  nur  auf  einem  Wege  möglich : Nicht 
durch  Beseitigung  des  Koalitionsrechts  der  Eisenbahner  und  nicht  durch  ein  neues 
Ausnahmegesetz  gegen  die  Sozialdemokraten  . . . der  einzige  Ausweg  scheint  uns, 
mehr  und  mehr  die  Arbeiter  der  Staatsbetriebe  mit  den  vollen  Rechten  der  angc- 
stellten  Beamten  auszustatten:  Sicherung  der  Existenz,  Aufrücken  in  Lohn  und 
Rang  nach  dem  Dienstalter,  Versorgung  im  Alter  u.  s.  w.  Dafür  müssen  sie  aber 
auch  die  Pflichten  der  Beamten  in  vollem  Umfang  auf  sich  nehmen.“  Loeni  ng  a.  a.  O. 
S.  314. 

Bei  Durchführung  dieser  Vorschläge  würde  man  allerdings  der  Sorge  über 


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480 


M.  v.  Schalt, 


Fortschritt  wäre,  dafs  fernerhin  einzelne  Verbände  der  Arbeitgeber 
ihre  Mitglieder  nicht  mehr  hindern  können,  vor  dem  Einigungsamt 
zu  verhandeln  und  mit  ihren  Arbeitern  sich  zu  vergleichen.  *)  Man 
hätte  es  ferner  dann  durchgesetzt,  dafs  zukünftig  Arbeiter  wie  Arbeit- 
geber nicht  mehr  veranlafst  werden  können,  an  Koalitionen  nicht 
teilzunehmen.  Dann  würden  auch  „die  eine  gesunde  Entwicklung 
der  Arbeiterfachvereine  schädigenden  und  den  Klassenhafs  in  höchst 
staatsgelahrlicher  Weise  schürenden  Verabredungen  vieler  Arbeit- 
geber, Mitglieder  der  Gewerkvereine  nicht  aufzunehmen"  *)  unmöglich 
gemacht  worden  sein.  Wenn  durchweg  Organisationen  der  Arbeit- 
geber und  Arbeiter  ins  Leben  gerufen  sein  werden,  so  würden  end- 
lich die  vereinbarten  Tarifverträge  von  da  ab  sämtliche 
Arbeitgeber  und  Arbeiter  eines  Gewerbebetriebes  binden.  *) 

Wir  kommen  nunmehr  zum  § 153,  dem  Strafparagraphen. 
Hier  hat  Löwenfeld  nachgewiesen,  dafs  das,  was  dieser  Paragraph 

einen  Ausstand  der  Staalsciscnbahnnrbeitcr  enthoben.  Was  soll  man  aber  mit  den 
Arbeitern  der  Privatbahnen  anfangen  - Auf  welche  Weise  bewahrt  man  die  Be- 
völkerung, dafs  nicht  einst  ein  Ausstand  der  Kohlenarbciter  und  Gasarbeiter, 
Kohlen-  und  Iichtnot  hervorruft? 

Für  derartige  regclmäfsig  grofsen  Streitigkeiten  wünscht  Schmollcr  S.  II 
einen  Ausbau  der  Gesetzgebung  in  dem  Sinne,  dafs  „passende  Oberhöfe  entstehen» 
und  dafs  auf  das  Anrufen  einer  legitimierten  Seite  auch  die  andere  erscheinen 
m u fs.“  Es  dürfte  hier  nicht  der  augenblicklich  bestehende  Besprechungszwang  vor 
dem  Einigungsamt  genügen.  Vcrhandlungszwang  ist  notwendig.  Siche  M. 
v.  Schulz,  Kommentar  zum  Gewerbegerichtsgesetz  S.  166  und  Vossische  Zeitung 
vom  17.  März  1903  (Leitartikel).  Versuche,  dem  Einigungsamt  das  Recht  zu  ver- 
leihen, bindende  Urteile  auszusprechen  scheiterten  in  London  (Soziale  Praxis 
vom  29.  Dezember  1898,  Sp.  350  u.  35 1 ) und  in  den  Niederlanden  (Soziale 
Praxis  vom  4.  September  1902,  Sp.  1267).  Ueber  den  Wert  solcher  Zwangs- 
schiedsgerichte in  Neuseeland  s.  Soziale  Praxis  vom  25.  September  1902,  Sp.  1375 
u.  1374.  Dazu  Soziale  Praxis  vom  16.  Juli  1903,  Sp.  Il  18.  Endlich  über  die 
Vollstreckbarkeit  der  Schiedssprüche  der  Einigungsämtcr  Jastrow  a.  a.  ().  S.  526  ff. 
Mit  Recht  hebt  übrigens  Schm  oller  a.  a.  O.  S.  6 hervor,  dafs  für  die  Einigungs- 
ämter stets  das  Wichtigste  sein  mufs,  „nicht  dafs  ein  Schiedsspruch,  und 
sei  er  der  weiseste,  den  Parteien  oktroyiert  wird,  sondern  dafs 
dieselben  sich  verständigen.  Brentano  a.  a.  O.  Bd.  I S.  304  u.  307,  Bd.  II 
S.  281  a.  E. 

*)  Siehe  Soziale  Praxis  vom  22.  Mai  1902,  Sp.  901  und  vom  10.  Juli  1902, 
Sp.  1085,  und  Jastrow  a.  a.  O.  S.  531. 

*)  Herkncr,  S.  249. 

*)  Siehe  Soziale  Praxis  IX  Sp.  S81  ft*,  und  Rosenberg  a.  a.  O.  S.  13. 


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Zur  Koalitionsfreiheit. 


481 


— unter  ausdrücklichem  Vorbehalt  der  Verfolgung  nach  ge- 
meinem Strafrecht  — „als  körperlichen  Zwang,  Drohung,  Verrufs- 
erklärung *)  bezeichnet  und  unter  seine  besondere  Strafe  stellt  . . . 
vom  Standpunkte  des  gemeinen  Strafrechts  aus  straflos,  für  alle 
Bevölkerungsklassen  straflos  ist,  auch  für  die  Arbeiter, 
wenn  es  sich  nicht  um  Koalitionen  handelt,  für  alle  anderen  als 
die  im  § 153  gemeinten  Bevölkerungsklassen  auch  dann  straflos, 
wenn  es  sich  um  Beförderung  ihrer  Koalitionen  durch  solche 
Mittel  handelt." 

Was  andere  Staatsbürger  ungestraft  thun  dürfen,  mufs  auch  den 
gewerblichen  Arbeitern  und  Arbeitgebern  bezüglich  ihrer  Koalitionen 
erlaubt  werden.  Alle,  welche  — an  Strikes  bezw.  Aussperrungen 
beteiligt  — sich  strafbar  machen,  treffe  das  allgemeine  Strafgesetz. 
Keine  Ausnahmegesetze , welche  diejenige  Klasse , gegen  welche 
sie  gerichtet  sind,  zur  Bitterkeit  aufreizen.  Aus  diesen  Gründen 
können  wir  den  Vorschlägen  van  der  Borghts,  2)  welche  auf  Beibe- 
haltung des  § 153  und  seine  Ergänzung  hinzielen,  nicht  folgen. 
Nicht  Ausbau  des  Strafparagraphen,  Beseitigung  desselben  ist  an- 
zustreben.a)  Nur  aus  dem  Boden  der  Koalitionsfreiheit  wird  die  Gleich- 

*)  Ueber  Verrufserklärung  s.  Loewcnfeld  in  diesem  Archiv  Bd.  XIV, 
S.  509  ff.  Dazu  bezüglich  der  Anwendung  des  § 826  B.G.B.  Entsch.  des  Reichs- 
gerichts in  Civilsachen  Bd.  51  (Neue  Folge  Bd.  I)  S.  369  und  deutsche  Juristen- 
zeitung vom  1.  März  1903  S.  114  fr.  Vgl.  noch  Soziale  Praxis  vom  io.  Juli  1902, 
Sp.  1076;  endlich  Hilse  im  Archiv  fiir  Strafrecht  Bd.  37  S.  277  ff. 

Ueber  schwarze  Listen  s.  M.  v.  Schulz,  G.G.G.  S.  40,  264,  267 ; ,, Gewerbe- 
gericht“ VIII,  Sp.  17;  Reichstag  vom  29.  Januar  1896  S.  625  (B). 

Ueber  Kontrollbücher  und  sogen,  schwarze  Listen  der  Berliner  Tischlermeister 
vor  dem  Einigungsamt  s.  Soziale  Praxis  vom  7.  Februar  1901,  Sp.  472  ff.  Die  Ver- 
rufserklärung durch  schwarze  Listen  fallt,  wie  ich  jetzt  im  Gegensatz  zu  meinem 
Kommentar  zum  Gewerbegerichtsgesetz  S.  267  berichtigend  bemerken  mufs,  nicht 
unter  die  Strafbestimmung  des  § 153  Reichsgewerbeordnung.  Ueber  die  Schadens- 
ersatzklage eines  Arbeiters  wegen  Verrufserkliirung  durch  die  schwarze  Liste  des 
Berliner  Mctallindustriellcnverbandes  s.  Vorwärts  vom  7.  Juni  1903  (2.  Beilage). 

*)  S.  52  ff.  Soweit  nicht  Strafgesetze  verletzt  sind,  werden  auch  hier  Ordnungs- 
strafen gegen  die  Koalition  und  ihre  Mitglieder  ausreichen  — unbeschadet  civil- 
rcchtlicher  Ansprüche  der  Verletzten. 

Bei  einer  Organisation  aller  werden  „Zwang,  Drohung  und  Verrufserklärung“ 
allmählich  abnehmen,  um  schliefslich  ganz  zu  verschwinden. 

s)  Jüngst  ist  von  32  Arbeitnehmerbeisitzern  des  Berliner  Gewerbegerichts  be- 
antragt worden,  dafs  das  Gewerbegericht  bei  den  gesetzgebenden  Körperschaften  des 
Reichs  auf  Abänderung  der  Koalitionsbestimmungen  vorstellig  werden  solle.  Es  wird 


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M.  v.  Schulz,  Zur  Koalitionsfreiheit. 


Berechtigung  des  Arbeiterstandes  emporwachsen.  Nur  die  Gleich- 
berechtigung l)  der  Arbeiter  wird  die  bestehenden  Gegensätze 
zwischen  ihnen  und  den  Arbeitgebern,  wenn  nicht  überbrücken,  so 
doch  wesentlich  mildern. 


vor  allem  Beseitigung  der  Koalitionsbeschränkungen  („Aufhebung  der  §§  152  u.  153 
G.O.“)  gewünscht.  Schalhorn  in  der  Sozialen  Praxis  vom  16.  Juli  1903  Sp.  1105  ff. 
und  Keichsarbeitsblatt  Nr.  4 S.  309.  Die  Verhandlungen  des  Ausschusses  des  Ge- 
werbegerichts und  das  Ergebnis  derselben  werden  im  Keichsarbeitsblatt  veröffentlicht 
und  in  der  Sozialen  Praxis,  dem  Publikationsorgan  des  Berliner  Gewcrbegeriehts, 
besprochen  werden.  Schalhorn  hält  übrigens  die  gewünschte  Beseitigung  des 
§153  für  augenblicklich  nicht  recht  zweckmäfsig:  Um  die  nicht  geringe  Anzahl 
der  Gegner  jeden  Ausbaues  der  Koalitionsfreiheit  nicht  zu  sehr  aufzustacheln,  wird 
es  sich  empfehlen,  hier  nur  schrittweise  vorzugehen.  Siehe  dazu  Brentano  in  den 
Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik,  Leipzig,  Dunkcr  & Humblot  1890  S.  129; 
ferner  ebendort  1897  (LXXVI)  Locning  S.  269,  Jastrow  S.  380,  Quid  de 
S.  403,  endlich  Lot  mar  in  diesem  Archiv  Bd.  XV,  S.  117.  Vgl.  noch  Sc  h a 1 h orn 
in  der  Sozialen  Praxis  vom  16.  Juli  1903  Sp.  1107  fr.  und  über  die  englischen  Ver- 
hältnisse v.  Schulz e-Gaevernitz  a.  a.  O.  S.  245  und  Brentano,  Die  Arbeitcr- 
gilden,  Bd.  II  S.  306. 

Der  Kongrcls  christlicher  Arbeitervereine  hat  neulich  beschlossen,  dem  §153 
sei  ein  Zusatz  zu  geben.  Es  solle  die  Verhinderung  an  dem  legitimen 
Gebrauch  der  Koalitionsfreiheit  unter  Strafe  gestellt  werden  (Soziale 
Praxis  XIII  Sp.  107  u.  108). 

*)  Anm.  1 S.  477  u.  Soziale  Praxis  XIII  Sp.  30  u.  108. 

Diejenigen,  welche  von  einer  Gleichberechtigung  der  Arbeiter  und  von  ihren 
Berufsvereinen  nichts  wissen  wollen,  behaupten  unter  anderem,  dal's  der  Niedergang 
der  englischen  Industrie  besonders  durch  die  Schuld  der  Trade  Unions  hervorge- 
rufen sei.  Es  erscheint  dies  arg  übertrieben  (Litteralur  s.  Soziale  Praxis  XIII 
Sp.  180  Anm.  4).  Vgl.  auch  Th.  Rothstcin  in  der  Neuen  Zeit,  Jahrg.  22  Bd.  I. 
Heft  Nr.  2 u.  ff. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 

Von 

Dr.  HERMANN  LEVA', 

• in  Berlin. 


Die  landarbeiterfrage  beschäftigt  heute  die  öffentliche  Dis- 
kussion in  England  in  immer  steigendem  Mafse.  Die  amtlichen 
Berichte  und  zahlreichen  wissenschaftlichen  Veröffentlichungen  über 
die  Lage  der  I andarbeiter  sind  jedoch  kaum  in  erster  Linie  der 
Absicht  entsprungen,  entscheidende  Mafsregcln  zur  Verbesserung 
der  sozialen  läge  der  Landarbeiter  herbeizuführen.  Wie  wir  sehen 
werden,  ist  die  soziale  Lage  der  arbeitenden  Klassen  auf  dem 
Lande  in  England  eine  relativ  erfreuliche,  und  in  der  Regel  sind 
es  die  nicht  erfreulichen  Zustände,  welche  die  Sozialpolitiker  oder 
die  Regierung  zum  Gegenstände  eingehender  Untersuchungen  machen. 
So  stehen  bei  der  Diskussion  über  die  Landarbeiterfrage  nicht  so 
sehr  die  jene  Frage  selbst  berührenden  Probleme  im  Vordergrund, 
als  vielmehr  Probleme,  welche  ein  viel  allgemeineres  Interesse  er- 
heischen, als  man  es  für  jenen  so  im  Abnehmen  begriffenen  Bruch- 
teil der  englischen  Bevölkerung  erwarten  könnte.  Vor  allem  ist  es 
ein  Bevölkerungsproblem,  das  man  durch  ein  genaues  Ein- 
dringen in  die  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  zu  klären  sucht;  und 
zwar  ein  Bevölkerungsproblem,  das  heute  fast  alle  civilisiertcn 
Staaten  aufs  lebhafteste  beschäftigt,  nämlich  das  Problem  der  Ab- 
wanderung vom  Lande  in  die  Städte.  Der  Landarbeiter  spielt  bei 
dieser  Abwanderung  die  Hauptrolle.  Um  die  Gründe  zu  verstehen, 
die  ihn  zur  Landflucht  veranlassen,  ist  es  nötig  seine  I age  und  sein 
Leben  auf  dem  Lande  zu  kennen.  Freilich  ist  die  Betrachtung 
der  Landarbeiterfrage  durchaus  nicht  allein  genügend,  um  die  Ur- 
sachen der  Abwanderung  zu  verstehen.  Die  Lage  der  Landwirt- 
schaft, die  Lage  der  städtischen  und  industriellen  Gewerbe  und 


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484 


Hermann  L e v y , 


andere  Momente  sind  nicht  minder  bedeutsam  für  die  Abnahme 
der  I Landbevölkerung.  Aber  die  englische  Landarbeiterfrage  weist 
so  viele  Beziehungen  zu  der  Frage  der  Landflucht  auf,  dafs  wir  sie 
zum  Ausgangspunkt  für  die  Erörterung  jenes  Problems  nehmen 
können.  Dabei  glauben  wir  ruhig  behaupten  zu  können,  dafs  wir 
von  unserer  Betrachtung  manches  lernen  können,  was  auch  für  die 
Beurteilung  der  deutschen  Verhältnisse  von  Interesse  ist. 


Die  neueste  Veröffentlichung  über  die  ländlichen  Arbeiterver- 
hältnisse in  England  ist  ein  Vortrag  von  A.  Wilson  Fox,  der  nun- 
mehr zum  Druck  gelangt  ist  *)  Fox  ist  ein  führendes  Mitglied 
des  Labour  Department  des  englischen  Board  of  Trade  und  er  hat 
sich  bereits  in  seinem  amtlichen  Berichte  über  die  ländlichen  Ar- 
beitslöhne vom  Jahre  1900  als  eine  Autorität  auf  diesem  Gebiete 
erwiesen.  Auch  seine  jüngste  Veröffentlichung  beweist  von  neuem, 
wie  glänzend  er  das  grofse  Gebiet  nationalökonomisch  und  statis- 
tisch beherrscht.  Bevor  wir  jedoch  die  wichtigen  Darlegungen  des 
englischen  Beamten  hier  wiedergeben,  wollen  wir  für  einige  Augen- 
blicke einen  Rückblick  in  die  Geschichte  des  englischen  Land- 
arbeiters thun.  Wir  werden  dann  erkennen,  dafs  viele  aus  der 
Gegenwart  der  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  schwer  zu  er- 
klärenden Thatsachen  in  der  Vergangenheit  der  englischen 
Agrargeschichte  ihre  Analyse  finden. 

Wir  wollen  bis  zu  jenem  Zeitpunkt  der  Geschichte  zurück- 
gehen, in  welcher  die  grofse  Masse  jener  ländlichen  Arbeiter  ent- 
steht, die  uns  heute  als  die  Regel  in  England  begegnen.  Wir 
wollen  zurückgehen  auf  jene  Epoche,  in  welcher  sich  der  grofse 
Umschwung  in  der  sozialen  Stellung  der  Landarbeiter  vollzieht,  in 
welcher  er  von  einem  Land  besitzenden  Arbeiter  zu  einem  aus- 
schlieLslichen  I Lohnarbeiter  wird.  Es  fuhrt  uns  dann  unsere  Be- 
trachtung in  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts. 

Die  Lage  des  englischen  Landarbeiters  in  der  ersten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts  bis  etwa  zum  Jahre  1765  war  eine  äufserst 
glückliche.  Die  Agrarschriftstcller  jener  Zeit  preisen  die  I-age  des 
lLandarbeiters,  und  spätere  Autoren  verweisen  oft  auf  jene  „goldene 


*)  Vgl.  The  Journal  of  the  Royal  Statistical  Society.  London  1903.  Bd.  66, 
Teil  II,  S.  273fr.  A.  Wilson  Fox,  „Agricultural  Wages  in  England  in  Wales 
during  the  last  fifty  years.“ 


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Landarbeiterfrage  und  Landducht  in  England.  485 

Zeit"  der  ländlichen  Arbeiterklasse. ')  In  einem  späteren  amtlichen 
Berichte  lesen  wir : *) 

„Vor  1775  war  der  Landarbeiter  in  äulserst  glücklicher  Lage. 
Seine  Löhne  gaben  ihm  die  Möglichkeit  über  die  zur  Befriedigung 
seiner  Lebensbedürfnisse  nötigen  Güter  in  zufriedenstellender  Weise 
zu  verfügen.  Seine  Grundrente  war  niedriger,  seine  Kleidung,  seine 
Schuhe,  sein  ganzes  Leben  billiger  als  früher.  Auch  hatte  er  das 
Recht,  sich  von  dem  Gemeinde-  und  Oedlande  Holz  zu  holen,  und 
dazu  die  Möglichkeit  Grund  und  Boden  zu  ererben,  ja  mit  der  Zeit 
ein  kleines  Pachtgut  zu  übernehmen.“ 

Diese  Möglichkeit  ist  der  Hauptvorteil  in  der  Lage  des  Land- 
arbeiters jener  Zeit.  Entweder  pachtet  er  direkt  einige  Parzellen, 
vielleicht  2 — 4 Acres  (d.  i.  0,9 — 1 ,8  ha)  von  dem  Grundbesitzer 
oder  Pächter  oder  er  ist  selbst  der  Eigentümer  des  von  ihm  be- 
wirtschafteten Bodens.  In  beiden  Fällen  hat  er  in  der  Regel  ein 
Nutzungsrecht  auf  der  Gemeindeweide  zur  Fütterung  seiner  Kuh, 
seiner  Schweine  und  seines  Geflügels.  Auf  seinem  Ackerland  baut 
er  zuweilen  ein  Teil  seines  benötigten  Brotgetreides,  in  dem  Ge- 
müsegarten meist  Kohl  oder  Kartoffeln.4)  Andererseits  ist  er  Ar- 
beiter auf  den  angrenzenden  Pachthöfen  und  Bauerngütern.  Seine 
Löhne  aber  setzen  ihn  instand,  sich  all  das  reichlich  anzuschaffen, 
was  er  nicht  selbst  zur  Befriedigung  seiner  Bedürfnisse  produziert. 

Dieser  glückliche  Zustand  des  englischen  I.andarbeiters  erfahrt 
in  der  Mitte  der  60  er  Jahre  des  18.  Jahrhunderts  eine  einschnei- 
dende Aenderung. 

Schlechte  Getreideernten  führen  bei  einer  schnell  wachsenden 
Bevölkerung  vom  Jahre  1765  zu  einem  bis  dahin  und  vor  allem 
im  Vergleich  zu  den  ersten  60  Jahren  des  18.  Jahrhunderts  unge- 
wohnten Steigen  der  Getreidepreise.  Der  Getreidebau  gewinnt  mehr 
und  mehr  an  Rentabilität.  Als  mit  dem  Jahre  1792  die  franzö- 
sischen Kriege  beginnen,  sieht  sich  England  bei  jedem  schlechten 
Ernteausfall  einer  Hungersnot  gegenüber,  da  die  Kriegswirren  jeden 
regelrechten  Getreidehandel  mit  dem  Kontinent  verhindern.  Dieser 

*)  Vgl.  u.  a.  George  Glower,  Observations  on  the  present  State  of  Pau- 
perism  in  England.  London  1817.  The  Pamphletcer  Vol.  X,  S.  388/89  u.  S.  392. 

*)  Report  on  the  Women  and  Children  Employment  Commission  186S.  §251. 

*)  Vgl.  W.  Hasbach,  Die  englischen  Landarbeiter.  Leipzig  1894.  S.  47 
und  91  ff. 

Vgl.  ferner  R.  E.  Prothero,  Th«  Pionecrs  and  Progress  of  english  Farming. 
London  1888,  passim. 


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486 


Hermann  Levy, 


Zustand  erreicht  seinen  Höhepunkt  mit  dem  Eintritt  der  Napoleo- 
nischen  Kontinentalsperre,  die,  gleich  einem  Prohibitivzoll,  die  be- 
nötigte Getreidezufuhr  den  Engländern  abschneidet.  Man  sicht  sich 
gezwungen,  die  fehlende  kontinentale  Zufuhr  durch  den  heimischen 
Getreidebau  zu  ergänzen.  So  erreicht  der  Getreidepreis,  bei  äufserst 
ungünstigen  Ernten,  in  der  Zeit  von  1806 — 1813  den  doppelten,  oft 
dreifachen  Stand  des  Preises  der  ersten  drei  Viertel  des  18.  Jahr- 
hunderts. *) 

In  dieser  Zeit  nun  versucht  man  alles  zur  Verfügung  stehende 
fand,  oft  Sümpfe,  Moräste  und  Heiden,  dem  Ackerbau  dienstbar 
zu  machen.  Der  Getreidebau  und  der  Getreideverkauf  im  grofsen 
wird  das  Hauptziel  aller  I .andwirte.  Das  grofse  Ackerbaugut  ist 
das  Ideal  des  1 .andlords  und  des  Pächters.  Die  kleinen  Güter,  die 
nur  für  den  eigenen  Bedarf  Getreide  produzieren,  werden,  wie 
Prothero  es  ausgedrückt  hat,  zum  Anachronismus.*) 

Die  Sucht  aber,  möglichst  viel  Land  dem  Getreidebau  i m 
grofsen  zu  widmen,  fuhrt  zu  zwei  für  die  Lage  des  I.and- 
arbeiters  sehr  verhängnisvollen  Thatsachen:  erstens  zur  Expropria- 
tion des  Landarbeiters  von  der  bisher  gepachteten  Scholle.  Der 
Grundbesitzer  nimmt  seine  Parzellen  von  ihm,  reifst  die  Hütte  des 
Arbeiters  nieder  und  schlägt  das  so  frei  werdende  Land  zu  dem 
Pachtgut  des  Grofspächters.  *)  Dieser  zahlt  ihm  mit  jeder  neuen 
Getreidepreissteigerung  höhere  Renten;  der  Kötter,  der  fast  aus- 
schlicfslich  für  den  eigenen  Bedarf  produzierte  und  von  den 
hohen  Getreidepreisen  als  Brotkonsument  sogar  geschädigt  wurde, 
war  aufserstande , irgend  eine  Rentensteigerung  zu  ertragen.  Er 
wird  zum  landbcsitzlosen  Tagelöhner. 

Zweitens  führt  die  steigende  Rentabilität  des  Getreidebaues  im 
grofsen  zur  Expropriation  des  landeignenden  Arbeiters.  Mit  den 
steigenden  Getreidepreisen  beginnt  die  Zeit  der  rapide  zunehmenden 
Einhegung  und  Aufteilung  von  Gemeindeland. 4)  Die  spärlichen 
Reste,  welche  der  Landarbeiter  erhielt,  wenn  er  überhaupt  seine 
Nutzungsrechte  an  der  Gemeinweide  nachweisen  konnte,  ermög- 
lichten ihm  nicht  mehr,  sein  Vieh  in  zureichender  Weise  zu  er- 


*)  Vgl.  Hermann  Levy,  Die  Not  der  englischen  Landwirte  zur  Zeit  der 
hohen  Getreidezöllc.  Stuttgart  1903,  S.  3 — IO. 

*)  Vgl.  Prothero  a.  a.  O.  S.  65. 

*)  Vgl.  Hasbach  a.  a.  O.  S.  106  u.  I07. 

*)  Vgl.  Levy  a.  a.  O.  S.  3 u.  8. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England.  487 

nähren.  Er  verkaufte  und  wurde  ebenfalls  zum  Tagelöhner  ohne 
Land. 

So  entsteht  das  besitzlose  ländliche  Arbeiterproletariat  in 
England. 

Die  Agrarschriftsteller  jener  Zeit  erblickten  zunächst  in  jener 
Wandlung  der  Lage  des  Landarbeiters  einen  Vorteil.  Sie  vertraten 
den  Standpunkt  des  grofsen  Getreide  bauenden  Pächters,  dessen  tech- 
nische Ueberlegenheit  über  den  kleinen  Landwirt  sie  nicht  genug  loben 
konnten.  Der  Landarbeiter,  so  meinten  sie,  werde  von  dem  Wechsel 
der  Dinge  keinen  Schaden  haben.  Denn  die  Blüte  und  der  Auf- 
schwung des  Getreidebaues  im  grofsen  werde  eine  so  starke  Nach- 
frage nach  Arbeitskräften  erzeugen,  dafs  der  Landarbeiter  weit 
höhere  Löhne  als  ehedem  beziehen  und  demgemäfs  für  den  Verlust 
seines  Landes  Ersatz  finden  werde.  Im  übrigen  sprachen  sie  auch 
stets  die  Hoffnung  aus,  dafs  auch  nach  den  Einhegungen  und  der 
Bildung  grofser  Pachtgüter  der  I^ndarbeiter  einige  Acres  Land  zu 
pachten  imstande  sein  werde,  dafs  es  ja  im  Interesse  der  Grund- 
besitzer und  Pächter  liege,  das  Wohlbefinden  ihrer  Arbeiter  zu 
fördern.  So  argumentierten  Arthur  Young,  Sinclair  und  viele 
andere.  *) 

Wie  falsch  ihre  Argumente  waren,  zeigt  uns  zunächst  die  eine 
Thatsache,  dafs  erst  in  den  letzten  30  Jahren,  zur  Zeit  sinkender 
Getreidepreise  das  Allotmentsystem  d.  h.  das  System  der  von  Land- 
arbeitern bewirtschafteten  Parzellenbetriebe  eine  nennenswerte  Aus- 
dehnung gefunden  hat. 

Die  unmittelbare  Folge  der  von  uns  geschilderten  Vorgänge 
im  18.  Jahrhundert  war  nicht  eine  Besserung,  sondern  die  denkbar 
traurigste  Verschlechterung  der  I-age  der  I .andarbeiter.  Freilich  er- 
zeugte die  Bildung  grofser  Pachtgüter  eine  gröfsere  Nachfrage  nach 
Tagelöhnern.  Aber  das  Arbeitsangebot  der  expropriierten  Land- 
arbeiter und  der  zu  Lohnempfängern  gewordenen  Kleinpächter  war 
noch  grofser.  Es  beginnt  eine  Zeit,  in  der  wir  nichts  von  der  in  der 
Geschichte  der  Landwirtschaft  niemals  enden  wollenden  Klage  der 
Landwirte  über  Arbeitermangel  hören.  Die  ländlichen  Arbeitsmärkte 
sind  überfüllt,  der  Landwirt  bekommt  Arbeiter,  so  viel  er  will. 


*)  Vgl.  Arthur  Young,  The  Farmers  Leiters  to  the  People  of  England. 
London  1771,  Vol.  I,  S.  108 — HO.  Vgl.  First  Report  from  the  sclect  Committee 
appointed  to  takc  into  considcration  the  cultivation  and  improvement  of  the  waste, 
unineloscd  and  unproductivc  Lands  of  the  Kingdom.  London  1796,  S.  12. 


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488 


Hermann  Lc  vy, 


Die  natürlichen  Folgen  dieses  erdrückenden  Arbeitsangebots 
ist  das  Sinken  der  Löhne.  Absolut  zwar  zeigen  die  Geldlöhne 
eine  Steigerung.  Aber  verglichen  mit  dem  Preis  der  Lebensmittel 
sind  sie  gefallen.  So  steigen  z.  B.  die  Weizenpreise  in  der  Zeit 
von  1760 — 1813  um  130  Proz.,  die  ländlichen  Löhne  nur  um 
60  Proz. ')  Auch  tritt  das  Mifsverhältnis  zwischen  Brotpreis  und 
Arbeitslohn  in  jener  Zeit  deutlich  zu  Tage.  Man  versucht  alles 
Mögliche , um  die  Parallelbewcgung  zwischen  Arbeitseinkommen 
und  Brotpreis  künstlich  herzustellen.  Fs  entsteht  das  sog.  Lohn- 
zuschufssystem.  Die  Gemeinden  stellen  Lohnskalen  auf,  welche 
das  Lohnminimum  angeben,  wie  es  dem  jeweiligen  Brotpreis  zu 
entsprechen  habe.  Verdient  der  Arbeiter  nicht  den  so  fixierten 
Ideallohn,  so  schiefst  die  Gemeinde  aus  der  Armenkasse  das  zur 
Fristung  seiner  F.xistenz  Nötige  zu.  Wie  grofs  diese  Zuschüsse  ge- 
wesen sind  und  wie  wenig  also  die  Löhne  mit  den  Brotpreisen 
Schritt  hielten,  zeigt  uns  das  enorme  Anwachsen  der  Armensteuer 
in  jener  Zeit. s)  Ueberall  hören  wir  Klagen  über  das  ungenügende 
Steigen  der  Löhne  bei  exorbitanten  Brotpreisen.  Der  Landwirt 
kürze  doch  seinem  Pferd  nicht  das  Quantum  Hafer,  wenn  dieser 
teurer  werde,  meint  Nathaniel  Keilt;*)  warum  solle  der  Land- 
arbeiter weniger  Brot  essen,  wenn  dieses  im  Preise  steige?  Die 
Schriften  von  Davies 4)  und  Sir  F.  Eden 5)  enthüllen  uns  die 
traurige  Lage  der  Landarbeiter  zu  Ende  des  18.  Jahrhunderts. 

Auch  Arthur  Young  erkennt  im  Jahre  1 77 1 an,  dafs  der  Land- 
arbeiter sich  weit  weniger  für  seinen  Lohn  kaufen  könne  als  früher. 
„Vor  einigen  Jahren,“  meint  er,*)  „konnten  sie  Brot,  Käse,  Bier  etc 
weit  billiger  kaufen  als  jetzt,  während  ihr  Geldlohn  derselbe  war.“ 
Er  sieht  aber  hierin  keinen  Nachteil.  Er  war  bekanntlich  der  An- 
sicht, dafs  niedriger  Ixihn  hohe  Arbeitsleistung  bedeute  und  so  sah 

*)  Vgl.  I. evy  a.  a.  O.  S.  28. 

*)  Vgl.  ebenda  S.  27  u.  29. 

*)  Vgl.  N.  Kcnt,  General  View  of  Üie  Agriculturc  of Norfolk.  Norwich  1796, 
S.  173. 

4)  Vgl.  Davies,  The  Casc  of  Labourers  in  Husbandry.  London  1795. 
S.  24  u.  25. 

ft)  V’gl.  Sir  F.  Eden,  The  State  of  the  Poor.  3 Bde.  1797.  Bd.  I passim 
u.  S.  404. 

•)  Vgl.  Arthur  Young  a.  a.  O.  S.  204.  Die  Zeit  billiger  Lebensmittel  von 
1715 — 1765  war  eine  Periode  relativ  hoher  Löhne  gewesen.  Vgl.  J.  E.  Th.  Rogers. 
Work  and  Wages.  London  1885,  S.  121. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England.  4&9 

er  in  der  Verschlechterung  der  Lage  des  Landarbeiters  eher  einen 
Vorteil  als  einen  N'achteil. 

Die  Möglichkeit  aber,  selbst  einige  Acres  Land  zu  bewirt- 
schaften, wurde  immer  mehr  zu  einem  Postulat.  Mit  Schmerzen 
sahen  die  kühnen  Vorkämpfer  der  Einhegungen  ein,  wie  sehr  sie 
sich  geirrt  hatten.  So  schreibt  Arthur  Young,  der  in  den  70er 
Jahren  des  18.  Jahrhunderts  die  Einhegungen  als  einen  Segen  für 
die  Landarbeiter  erklärt  hatte,  bereits  im  Jahre  1801 :’) 

„Man  möge  ja  nicht  denken,  dafs  ich  damit  irgend  etwas  All- 
gemeines gegen  die  Einhegungen  sagen  will.  Das  einzige,  was  ich 
sagen  wollte,  ist,  dafs  diejenigen  Arbeiter,  die  in  diesen  Ge- 
meinden Kühe  hielten,  sie  nach  den  Einhegungen  nicht 
länger  halten  konnten:  dafs  anstatt  den  Armen  Eigentum 
zu  geben,  oder  es  zu  erhalten  oder  ihnen  dazu  zu 
verhelfen,  gerade  das  Gegenteil  stattgefunden  hat 
Da  dieses  Uebel  aber  nicht  notwendigerweise  mit  den  Einhegungen 
verbunden  war,  so  ist  es  ein  Uebel  gewesen,  das  man  leicht  hätte 
verhindern  können  und  das  in  Zukunft  sehr  sorgsam  verhindert 
werden  sollte." 

Aber  diese  Worte  waren  in  den  Wind  gesprochen,  ebenso  wie 
die  guten  Ratschläge  des  Ackerbauministeriums,  wenn  es  alle  mög- 
lichen Anleitungen  zur  Errichtung  guter  Arbeiterhäuser  mit  Feld- 
gärten u.  dergl.  anfertigen  liefs.  Die  Grundbesitzer  und  Pächter 
Helsen  oft  nur  zu  deutlich  durchblicken,  warum  sie  nichts  von  den 
Allotments  (d.  h.  Parzellen  für  Landarbeiter)  wissen  wollten,  wenn 
sie  darauf  verwiesen,  dafs  diese  den  Arbeiter  von  der  Arbeit  auf 
dem  fremden  Gute  abhalten  würden.  Sie  waren  froh  eine  Ar- 
beiterklasse zu  besitzen,  die  auf  nichts  weiter  zu  rechnen  hatte,  als 
den  täglichen  Lohn.  So  war  es  dem  Pächter  möglich,  die  für  den 
Landarbeiter  ungünstigen  Verhältnisse  des  Arbeitsmarktes  voll  aus- 
zunutzen  und  seine  durch  die  hohen  Getreidepreise  schon  enorm 
gesteigerten  Ueberschüsse  noch  durch  billige  Arbeitslöhne  zu  er- 
höhen. 

Kein  Wunder,  dafc  in  jener  Zeit  die  Landarbeiter  massenhaft 
der  erblühenden  Industrie  zuströmten.  W'as  die  Lage  der  Land- 
arbeiter gewesen  wäre,  wenn  ihnen  sich  diese  Zufluchtsstätte  nicht 
geböten  hätte,  läfct  sich  kaum  ausdenken,  indem  ja  trotz  dieses 
Abflufskanalsder  ländliche  Arbeitsmarkt  immer  noch 

*)  Annals  of  Agriculture.  Bd.  36,  S.  5 15. 

Archiv  für  »oz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  3 2 


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490 


Hermann  Levy, 


überfüllt  war.  Man  lese  nur  die  Beschreibung  bei  Marshall 
von  dem  Landarbeiter,  der  in  Ermanglung  von  Brot  sich  oft  mit 
rohen  Saubohnen  als  Tagesmahlzeit  begnügen  mufste. ')  Aehnliche 
Schreckensbilder  aber  lassen  sich  aus  den  Schriften  der  damaligen 
Zeit  beliebig  vermehren. 

Die  Abwanderungen  vom  I^ande  waren  sichtbar  genug,  um 
das  öffentliche  Interesse  bald  aufs  heftigste  zu  erregen.  Es  ent- 
stand eine  laute  Klage  über  die  „Entvölkerung“  des  platten  lindes, 
eine  Klage,  die  nicht  minder  lebhaft  als  heute  von  allen  Seiten  dis- 
kutiert wurde.  Die  Dichter,  wie  z.  B.  Goldsmith  in  seinem  Epos 
„Das  verlassene  Dorf“,  und  die  Maler,  wie  Whcatley  und  andere, 
machten  die  „Landflucht“  zum  Gegenstand  ihrer  künstlerischen 
Schöpfungen.  Vor  allem  aber  war  die  Frage  der  Entvölkerung  des 
platten  Landes  das  Hauptthema  der  Sozialpolitiker  jener  Zeit.  Eis 
gab  Schriftsteller,  die  ganz  ähnlich  wie  die  heutigen  englischen 
Bodenreformer  „die  monopolisierenden“  Grundbesitzer  angriffen  und 
den  Staat  aufforderten,  eine  bestimmte  Gröfse  für  den  landwirt- 
schaftlichen Betrieb  festzusetzen,  um  so  die  ökonomische  Entwick- 
lung zum  Grofsbetriebe  in  der  Landwirtschaft  und  damit  die  Ge- 
fahr der  Abwanderung  zu  hemmen. 

Vor  allem  war  es  Dr.  Price,  der  unter  vielen  Anderen  dem 
Großbetrieb  und  den  Einhegungen  den  Vorwurf  machte,  dafs  sie 
das  Land  entvölkerten.  Er  schreibt  bereits  im  Jahre  1773,  *)  dafs 
„die  Bewohner  der  niedergerissenen  Hütten  vom  Land  nach  London 
und  andern  Städten  ziehen,  um  dort  verdorben  zu  werden  oder 
unterzugehen". 

Auch  Arthur  Young,  der  Hauptverteidiger  des  landwirtschaft- 
lichen Grofsbetriebs,  sah  mit  Schrecken,  wie  die  Bevölkerung  vom 
Lande  in  die  Städte  strömte.  Ebenso  wie  heute  der  Landwirt  über 
das  „unglückselige"  Fahrrad  klagt,  das  den  jungen  Burschen  in 
wenigen  Stunden  der  Fabrikstadt  zufuhrt,  meint  Young  im  Jahre 

1772:  3) 

„Die  jungen  Männer  und  Mädchen  in  den  Landdörfern  richten 
ihre  Augen  auf  London,  als  letztes  Ziel  ihrer  Hoffnungen.  Sie  treten 


*)  Vgl.  Mars  hall,  The  Rural  Economy  of  the  Midland  Counties.  Vol.  II. 
London  1790.  S.  217  u.  218.  • 

*)  Vgl.  R.  Price,  Obscrvations  on  reversionary  payments.  3 ed.  London 

1773,  S.  36. 

*)  Vgl.  Arthur  Young  a.  a.  O.  S.  353 — 354. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 


49« 


in  Dienst  auf  dem  Lande  zu  fast  keinem  anderen  Zwecke,  als  Geld 
zu  verdienen,  um  nach  London  zu  gehen.  Das  war  nicht  so  leicht, 
als  die  Landkutsche  noch  4 bis  5 Tage  brauchte,  um  hundert  Meilen 
zu  fahren.  Damals  waren  die  Kosten  der  Fahrt  hoch.  Aber  jetzt! 
Ein  junger  Bursche,  hundert  Meilen  von  London  entfernt,  springt 
morgens  auf  den  Kutschkasten  und  ist  dir  8 bis  9 Schillinge  am 
Abend  in  der  Stadt.  Das  ist  ein  grofser  Unterschied.  Durch  den 
verbilligten  Verkehr  ist  die  Zahl  derer,  die  London  gesehen  haben, 
um  das  Zehnfache  gestiegen,  und  natürlich  klingen  so  die  Ge- 
schichten von  zehnmal  mehr  Prahlhänsen  in  den  Ohren  des  Land- 
volks, um  sie  zu  verführen,  ihre  sauberen,  gesunden  Felder  zu 
Gunsten  eines  schmutzigen,  stinkenden  und  lärmenden  Ortes  zu 
verlassen." 

Und  wunderbar  sind  die  Vorschläge,  die  nun  der  Verfasser 
macht,  um  den  Zug  nach  der  Stadt  aufzuhalten.  Es  sei  thöricht, 
meint  er,1)  schlechte  Stralsen  herbeizuwünschen , um  die  Ab- 
wandernden ans  Land  zu  fesseln.  Auch  könne  man  keinem  ver- 
bieten, in  London  zu  leben,  ohne  mit  einem  solchen  Verbote  „die 
Natur  der  Freiheit"  zu  verletzen.  „Aber,“  fährt  er  fort,  „wenn  man 
sie  für  ihr  Leben  in  London  tüchtig  bezahlen  läfst,  so  entspräche 
das  ganz  meinen  Ideen.  Anstatt  alles  Mögliche  auszudenken,  um 
London  mit  billigen  Nahrungsmitteln  zu  versorgen,  soll  man  sie  ver- 
teuern.“ Ein  merkwürdiges  Rezept  1 Aber  es  ist  im  Grunde  ge- 
nommen nichts  anderes,  als  wenn  man  heute  in  einzelnen  Ländern 
durch  hohe  Getreidezölle  das  Fortschreiten  des  überwiegenden  In- 
dustriestaats zu  hindern  sucht. 

Wir  wollen  hier  nicht  alle  Schriftsteller  erwähnen,  die  in  Flug- 
blättern und  Büchern  die  ländliche  Entvölkerung  jener  Zeit  dar- 
gestellt haben.  Nur  noch  Chalmers  sei  genannt.  Er  spricht  in 
seinem  bekannten  Werke  in  der  im  Jahre  1802  erschienenen  Auf- 
lage von  dem  „forcing  cottagers  into  towns“  und  meint:2) 

„Wir  .verdanken1  dem  unvorteilhaften  Wechsel  unserer  modernen 
Landwirtschaft  sehr  viel.  Durch  das  Zusammenschlagen  von  Pacht- 
gütern in  dem  enormen  Mafse,  wie  es  geschieht,  durch  die  Ver- 
treibung der  Kötter  aus  ihren  Besitzungen,  durch  das 
Verlangen,  viel  Nutzen  mit  wenig  Arbeitskosten  zu  machen,  hat 

’)  Young  a.  a.  O.  S.  355 — 356. 

*)  Chalmers,  An  Estimate  on  the  comparative  Strength  of  Great  Britain. 
London  1802,  S.  318. 

3** 


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492  Hermann  Levy, 

dieses  System  in  der  Landwirtschaft  die  Gegenden,  in  denen 
es  vorherrscht,  entvölker t.“ 

Wir  könnten  diesen  Beispielen  noch  zahlreiche  andere  hinzu- 
fugen. Vor  allem  zeigen  uns  die  langen  Ausführungen  der  Graf- 
schaftsberichte des  damaligen  Ackerbauministeriums  über  die  Frage 
der  Entvölkerung  des  platten  Landes  resp.  der  Abnahme  der  I Land- 
bevölkerung, dafs  die  ganze  Frage  von  eminent  aktuellem  Interesse 
war.  Die  Statistik,  welche  man  beibrachte,  um  zu  beweisen,  dafs 
der  Grofsbetrieb  das  Land  nicht  entvölkert  habe,  ist  nach  heutigen 
Begriffen  völlig  unbrauchbar.  Was  aber  war  das  Resultat,  welches 
die  unangefochtene  Bevölkerungs-  und  Berufsstatistik  im  Jahre  1811 
brachte?  Das  Resultat  war,  dafs  im  Jahre  1 8 1 1 nur  mehr  35,2  °/o 
grofsbritannischer  Familien  an  der  Landwirtschaft,  dagegen  44,4  °/# 
an  der  Industrie  — und  dem  Handel  interessiert  waren.  Ein  sehr 
interessantes  Resultat  1 Denn  welche  Bedeutung  man  auch  bei  der 
Analyse  dieser  Zahlen  der  Landwirtschaft  als  abstoßendem,  oder 
der  Industrie  als  anziehendem  Faktor  zuerteilt,  eins  stellen  sie  klar: 
dafs  zu  einer  Zeit,  als  die  Landwirtschaft  und  insbesondere  der 
Getreidebau  in  England  seine  höchste  Blüte  genofs  und  der  nationale 
Ackerbau  fast  ausschliefslich  das  Land  versorgte,  der  Uebergang 
zum  überwiegenden  Industriestaat  nicht  ausblieb.  Die  Grundbe- 
sitzer schwelgten  in  den  hohen  Renten,  die  sich  von  1792  bis  1813 
verdoppelten  und  verdreifachten,  die  Pächter  wurden  reich,  die 
ganze  kontinentale  Landwirtschaft  sah  mit  Staunen  auf  die 
glänzende  Entwicklung  des  getreidebauenden  Grofsbetriebs  in  Eng- 
land — und  doch  war  all  das  Kapital,  was  der  Landwirtschaft  zu- 
strömte, nicht  imstande,  den  Arbeiter  auf  dem  Lande  zu  halten, 
und  die  Klagen,  dafs  die  Landbevölkerung  abnehme,  ertönten  in 
gleicher  Weise  wie  heute. 

Die  30  Jahre,  welche  auf  den  Friedensschlufs  von  1815  folgten, 
verbesserten  die  Lage  des  Landarbeiters  nur  in  einzelnen  kurzen 
Perioden.  Um  die  hohen  Preise,  die  zur  Zeit  des  Krieges  und  der 
schlechten  Ernten  geherrscht  hatten,  weiterhin  sich  zu  sichern, 
hatte  die  Agrarpartei  im  Jahre  1815  hohe  Kornzölle  eingefuhrt 
Diese  erreichten  zwar  nicht  das  gewünschte  Ziel.  Sie  vermochten 
den  Getreidepreis  nicht  auf  der  Höhe  zu  erhalten,  die  man  erwartet 
hatte.  Sie  erweckten  nur  falsche  Hoffnungen,  verleiteten  die  Pächter 
zu  extravaganten  Pachtverträgen  und  führten  mit  Ausnahme  weniger 
Jahre  zu  einer  Not  der  Landwirte,  wie  sie  die  englische  Landwirt- 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 


493 


schaft  bisher  nicht  wiedergesehen  hat. l)  Die  Lage  des  Landarbei- 
ters war  zunächst  noch  relativ  erträglich,  weil  er  ja  Lohnzuschüsse 
aus  der  Armenkasse  bezog  und  so  der  unzureichende  Lohn  die 
nötige  Ergänzung  fand.  Aber  selbst  bei  diesem  Lohnzuschufs- 
systeme  war  die  Lage  der  Landarbeiter  in  Jahren  hoher  Getreide- 
preise noch  immer  sehr  schlecht.  Die  hohen  Getreidepreise 
brachten  regelmäfsig  industrielle  Krisen  stärkster  Art  mit  sich,  so 
z.  B.  in  den  Jahren  1817  und  1818  und  in  den  4 Jahren  nach 
1828.  ln  solchen  Zeiten  stockte  der  Zug  der  unbeschäftigten 
Landarbeiter  in  die  Städte.  *)  Auch  war  es  nur  zu  klar,  dafs  die 
allgemeinen  Schrecken  erregenden  ländlichen  Brandstiftungen  zu 
Anfang  der  30er  Jahre  auf  die  Verzweiflung  der  hungernden 
Landarbeiter  zurückzuführen  waren.  Die  Landwirte  selbst  betrach- 
teten in  jener  Zeit  ein  Abströmen  von  Landarbeitern  in  industrielle 
Berufe  als  einen  Segen;  denn  ohne  dafs  dieses  Abströmen  die 
Löhne  in  nennenswerter  Weise  beeinflufste,  befreite  es  doch  das 
Land  von  Bettlern  und  arbeitslosen  Vagranten  und  entlastete  so 
die  ländliche  Armensteuer.  So  meinte  der  Inspektor  der  Güter  des 
Herzogs  von  Bedford,  Mr.  Th.  Bennctt,  im  Jahre  1 836 : „Ich  glaube, 
wir  haben  augenblicklich  durch  das  Fortschreiten  der  Birmingham- 
Eisenbahn  Vorteile  gehabt.  Viele  haben  dort  Anstellung  gefunden, 
manche  sind  in  die  Manufakturdistrikte  gezogen  und  oft  sehr  be- 
friedigt gewesen,  dafs  sie  dies  gethan  haben.“  Die  ländlichen 
Löhne  seien,  so  führt  er  weiter  aus,  dadurch  nicht  verändert  worden. 
Die  Abwanderung  hätte  den  Arbeitsmarkt  nur  von  der  „Ueber- 
sättigung"  befreit.  •)  In  den  30er  Jahren  wurden  in  Büchern  und 
Flugschriften  lebhaft  über  die  immer  stärker  werdende  Auswan- 
derung debattiert,  welche  das  letzte  Rettungsmittel  der  hungernden 
Landarbeiter  bildete.  Die  Freihändler  bejammerten  die  Auswan- 
derung als  die  Folge  der  Getreidczölle.  Demgegenüber  erwiderte 
man  mit  dem  Argumente,  dafs  die  Auswanderung  ja  eigentlich 
nichts  anderes  sei,  als  „Freihandel  in  Arbeitern,“  indem  das  eine 
Land  seinen  Ueberflufs  an  Arbeitern  in  dasjenige  sende,  welches 

■ *)  Levy  a.  a.  O.  passim. 

*)  In  der  Schrift  „The  Proccedings  of  the  Labourers  Friend  Society“  vom 
Jahre  1832.  S.  7 heifst  cs  über  die  Landarbeiter:  „Die  gegenwärtige  Lage  unserer 
Industrie  schliefst  alle  Hoffnung  aus,  dafs  ihnen  dort  Arbeit  zu  teil  wird.  Der  in- 
dustrielle Arbeitsmarkt  ist  bereits  überlastet.“ 

*)  Vgl.  Report  on  the  State  of  Agriculture  1836  qu.  8197 — 8198;  ebenda  qu. 
9590  IT. 


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494 


Hermann  Lcvy, 


sie  benötige.  *)  Eine  schwache  Entschuldigung  dafür,  dafs  England 
mit  jedem  Jahr  der  künstlich  gesteigerten  Nahrungsmittelpreise 
weniger  imstande  war.  seine  wachsende  Bevölkerung  zu  ernähren. 

Geradezu  furchtbar  aber  wurde  die  Lage  der  Landarbeiter,  als 
die  Lohnzuschüsse  im  Jahre  1834  mit  dem  neuen  Armensteuergesetz 
beseitigt  wurden.*)  ln  den  Jahren  1837 — 1845  vermochte  der 
ländliche  Arbeitslohn  nicht  nur  nicht  entsprechend  den  hohen  Ge- 
treidepreisen zu  steigen,  nein  er  sank  noch  unter  das  Niveau,  das 
er  zur  Zeit  niedriger  Weizenpreise  in  den  Jahren  1833 — 36  inne- 
gehabt hatte.  Die  Ursache  war  klar.  Die  Industrie  geriet  in  den 
Jahren  hoher  Brotpreise  in  die  schrecklichsten  Krisen.  Die  Arbeiter- 
entlassungen mehrten  sich  in  der  Zeit  von  1837 — 1842  von  Tag 
zu  Tag,  die  Armenhäuser  in  den  Städten  waren  überfüllt,  das 
schrecklichste  Elend  herrschte  in  den  Strafsen,  in  den  Arbeiter- 
häusern und  Spitälern.  Angesichts  des  überfüllten  städtischen 
Arbeitsmarkts  stockte  die  Abwanderung  der  Arbeiter  vom  Lande. 
Die  Folge  mufste  die  sein,  dafs  auch  auf  dem  Lande  der  Arbeiter- 
überflufs  den  Lohn  auf  ein  jämmerliches  Minimum  herabdrückte. 
Kartoffeln  waren  die  Mahlzeit  des  Landarbeiters,  oft  aber  auch 
wilde  Pflanzen,  Steckrüben  und  angefaulte  Aepfel.  „Man  mufs 
sich  erinnern,"  so  schreibt  Richard  Heath,3)  „dafs  von  den  jämmer- 
lichen Löhnen,  die  sie  empfingen,  nicht  eine,  sondern  sehr  häufig 
vier  oder  fünf  Leute  zu  leben  hatten.  Das  war  nur  möglich,  indem 
man  den  Brot-,  Speck-  und  Bierverbrauch  einschränkte  und  an  ihre 
Stelle  Haferschleim,  Kartoffeln  und  Reisspeisen  setzte  mit  einem 
Absud  von  ausgekochten  Theeblättern.  Aber  selbst  dies  war 
schwierig  unter  den  wechselnden  Preisen,  welche  unter  dem  Schutz- 
zollsystem herrschten.  Ein  alter  Mann  erzählte  mir,  dafs  er  sich 
an  die  Zeit  erinnere,  in  welcher  das  Brot,  das  sie  zu  essen  hatten, 
fast  schwarz  war  und  so  hart,  dafs  sie  es  mit  dem  Beil  zerhauen 
mufsten.  Zu  solchen  Zeiten  und  an  dunklen  Wintertagen  waren 
die  Eltern  froh,  wenn  sie  die  Mägen  ihrer  Kinder  mit  einer  Flüssig- 
keit angefüllt  hatten,  die  aus  heifsem  Wasser,  grobem  braunen 
Zucker  und  ein  wenig  Milch  bestand,  und  wenn  sie  sie  dann  ins 
Bett  stecken  konnten,  um  bis  zum  anderen  Morgen  ihr  Schreien 

*)  R.  W.  Horton,  M.  P.,  An  Inquiry  into  the  Causcs  and  Remedics  of 
Pauperism.  London  1830,  S.  33. 

*)  Die  Belege  für  die  folgenden  Angaben  linden  sich  bei  Le vy  a.  a.  O. 
S.  98  — 101. 

*)  Vgl.  Heath,  The  English  Pacsant.  London  1893,  S.  45» 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 


495 


nach  Nahrung  nicht  mehr  zu  hören.  ,Kein  Wunder,'  sagte  Cobbett 
zu  einem  Arbeiter,  ,kein  Wunder,  dafs  ihr  alle  dünn  seid  wie  Eulen, 
und  dafs  ihr  Sohn,  der  19  Jahre  alt  ist,  und  5 Fufs  9 Zoll  lang, 
zu  schwach  ist,  um  wie  ein  Mann  zu  arbeiten,  wie  Sie  mir  letzten 
Sommer  sagten.  Kein  Wunder,  dafs  seine  Kniec  unter  ihm  schlottern, 
und  dafs  er  eine  Stimme  wie  ein  Mädchen  hat,  anstatt  imstande 
zu  sein,  einen  Sack  Weizen  zu  schleppen  und  über  einen  hohen 
Zaun  zu  springen.'  “ 

Die  ungesunde  Ernährungsweise  des  Landarbeiters  führte  zum 
Ausbruch  furchtbarer  Krankheiten,  die  Beschäftigungslosigkeit  zur 
Landstreicherei  und  zu  Verbrechen.  Viele,  die  in  ihrer  Verzweiflung 
vom  Lande  in  die  Städte  strömten,  um  dort  Arbeit  zu  suchen, 
blieben  krank  am  Wege  liegen  oder  mufsten  unmittelbar  nach 
ihrer  Ankunft  in  die  Spitäler  gebracht  werden.  Dies  war  die 
Weise,  in  der  die  Kornzölle  und  die  künstlich  gesteigerte  Renta- 
bilität des  Getreidebaues  die  Bevölkerung  auf  dem  Lande  fest- 
hielten. 

All  dies  änderte  sich,  als  im  Jahre  1846  die  Kornzöllc 
beseitigt  wurden.  Der  Freihandel  führte  zu  einem  ungeahnten  Er- 
blühen der  englischen  Industrie  und  des  Handels.  Die  Arbeiter- 
löhne erfuhren  eine  unmittelbare  Steigerung.  Damit  erfuhr  aber 
auch  der  ländliche  Arbeitermarkt  eine  Entlastung;  massenhaft 
strömten  die  Arbeiter  den  Städten  zu,  und  ihre  Brüder  auf  dem 
Lande  sahen  nunmehr  nach  so  langer  Zeit  entsetzlichsten  Elends 
eine  bessere  Zeit  aufdämmern. 

Aber  auch  in  der  Landwirtschaft  lagen  die  Ursachen  der  bis 
auf  den  heutigen  Tag  immer  stärker  zunehmenden  Abwanderung. 
Der  Freihandel  hatte  zu  einem  Aufblühen  der  bisher  völlig  ver- 
nachlässigten Viehzucht  geführt.  Die  ewige  Weide  erfuhr  in  der 
Zeit  von  1867  bis  1900  eine  Ausdehnung  von  mehr  als  5 Millionen 
Acres.  Die  Getreideanbaufläche  erfuhr  zwar  in  den  ersten  30 
Jahren  nach  Aufhebung  der  Kornzölle  keine  wesentliche  Minderung, 
sie  ist  aber  dann  von  1874  bis  1900  um  ca.  2 Millionen  Acres 
zurückgegangen.  *) 

Es  ist  klar,  dafs  der  Uebergang  zu  einer  ausgedehnteren  Vieh- 
zucht Landarbeiter  massenhaft  eliminierte.  Aber  wie  verschieden 
in  ihrer  Wirkung  war  diese  Elimination  im  Vergleich  zu  der, 


*)  Vgl.  Statistical  Abstracts  of  the  United  Kingdom.  No.  28,  S.  1 19  und 
No.  48,  S.  184. 


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496 


Hermann  L e v y , 


welche  die  Ausdehnung  des  Getreidebaues  bis  1 846  verursacht  hatte. 
Die  übermäfsige  Ausdehnung  des  Getreidebaues  hatte,  wie  wir  sahen, 
einmal  zur  Kntstehung  des  überwiegenden  Grofsbetriebs  geführt. 
Dieser  hatte  die  Expropriation  des  Landarbeiters  aus  einem  eigenen 
oder  gepachteten  Landwirtschaftsbetriebe  verursacht  und  so  ein 
Ueberangebot  von  Arbeitskräften  hervorgerufen.  Ferner  war  die 
Ausdehnung  des  Getreidebaues  auf  Grund  steigender  Getreidepreise 
erfolgt.  Diesen  aber  war  nicht  eine  entsprechende  Lohnsteigerung 
gefolgt-  Vor  allem  war  zur  Zeit  der  künstlich  herbeigeführten  Ge- 
treidepreissteigerung, wie  wir  zeigten,  eine  genügende  Abwanderung 
von  Landarbeitern  in  industrielle  Berufe  nicht  möglich,  während 
andererseits  der  Getreide  bauende  Grofsbetrieb  aufserstande  war, 
die  Landarbeitermasse  in  zureichender  Weise  zu  beschäftigen.  Er 
konnte  in  keiner  Weise  dem  Arbeiter  einen  Ersatz  bieten  für  den 
Verlust  des  Einkommens  aus  der  eigenen  oder  gepachteten  Scholle, 
die  er  bis  zur  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  fast  allgemein 
innegehabt  hatte. 

Ganz  anders  aber  lagen  die  Dinge,  als  die  zunehmende  Weide- 
wirtschaft Arbeiter  eliminierte.  Das  Erblühen  der  Viehzucht 
nach  1846 J)  bedeutete  nicht  für  die  Bevölkerung  ein  „notwendiges 
Uebel“,  wie  die  einst  durch  die  Kontinentalsperre  und  die  Schutz- 
zollpolitik hervorgerufene  Ausdehnung  des  Getreidebaues.  Die 
steigenden  Fleischpreise  waren  vielmehr  das  Zeichen  industriellen 
Wohlstandes.  Sie  waren  die  Folge  der  hohen  industriellen  Löhne, 
welche  den  Arbeiter  bei  niedrigen  Brotpreisen  instand  setzten, 
mehr  und  mehr  animalische  Nahrung  zu  geniefsen.  Die  Elimination 
von  Landarbeitern  durch  die  Weidewirtschaft  war  für  diese  kein 
Schade,  indem  ihnen  der  Uebergang  in  industrielle  Berufe  reich- 
lichen Ersatz  bot.  Andererseits  aber  sahen  sich  die  weiterhin  auf 
dem  Lande  bleibenden  Arbeiter  nicht  durch  das  Freiwerden  von 
Arbeitsstellen  geschädigt,  indem  der  verminderten  Nachfrage  nach 
Landarbeitern  durch  die  Möglichkeit  der  Abwanderung  ein  vermin- 
dertes Angebot  gegenüberstand. 

Mit  dem  Jahre  1846  beginnt  ein  Umschwung  in  dem  Ver- 
hältnis von  Landarbeitcrangebot  und  [.andarbeiternachfrage.  War 
bisher  stets  das  Angebot  stärker  gewesen  als  die  Nachfrage  und 
hatten  die  Landwirte  auf  den  vier  landwirtschaftlichen  Parlaments- 
ausschüssen in  der  Zeit  von  1815 — 1846  fast  kaum  über  Arbeiter- 

*)  Vgl.  Lcvy  a.  a.  O.  S.  113. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 


497 


mangel  geklagt,  so  bekam  jetzt  die  Nachfrage  nach  Landarbeitern 
das  Uebergewicht  und  es  wurde  zur  Ausnahme,  einen  Landwirt 
nicht  über  Arbeitermangel  klagen  zu  hören.  Man  schlage  das 
jüngst  erschienene  Werk  von  Rider  Haggard  über  Rural  England 
auf1)  und  man  wird  wenigen  Seiten  begegnen,  in  denen  nicht  die 
Landwirte  über  starken  Arbeitermangel  klagen. 

Dieser  Wandlung  der  Dinge  nun  ist  das  Steigen  der  länd- 
lichen Löhne  nach  1846  zuzuschreiben.  Nach  der  von  Wilson  Fox 
zusammengestellten  Tabelle  betrug:5) 


der  VVochcnlohn  in  Geld  auf  67  von 


Im  Jahre 

Wilson  Fox  untersuch 
sh  d 

1850 

9 

31/« 

tS6o 

10 

II 

1868 

12 

o'/* 

1870 

it 

IO1/, 

1880 

13 

*7« 

1892 

■3 

5 

1898 

■3 

87, 

Diesen  Zahlen  entsprechen  mit  unwesentlichen  Abweichungen 
die  Lohnangaben , welche  frühere  Autoritäten  auf  landwirtschaft- 
lichem Gebiete  über  die  Lohnsätze  gemacht  haben , vor  allem 
Caird,  Purdy,  Little,  Druce  u.  a.  Diese  Thatsache  spricht  in  hohem 
Mafse  für  die  Richtigkeit  der  von  Wilson  Fox  angegebenen  Zahlen, 
welche  freilich  nur  das  Resultat  von  67  als  typisch  angenommenen 
Pachtgütern  darstellen. 

Folgen  wir  nun  weiter  der  sehr  interessanten  Darstellung  der 
englischen  Beamten.  Bei  der  Beurteilung  der  Steigerung  der  länd- 
lichen Geldlöhne  ist  vor  allem  zu  bedenken,  wie  sehr  sich  die 
Preise  der  notwendigsten  Konsumartikel  in  England  seit  1850  ver- 
billigt haben  und  wieviel  mehr  sich  daher  der  Landarbeiter  für  die- 
selbe von  ihm  verdiente  Geldeinheit  anzuschafifen  vermag.  Mehl 
ist  25 — 30  Proz.,  Zucker  60 — 70  Proz.,  Thee  65 — 70  Proc.,  Käse 
25  Proz.  und  Kartoffeln  8 Proz.  billiger  geworden.  Animalische 
Nahrungsmittel,  welche  bis  1846  der  Landarbeiter  nur  als  Delika- 
tesse kannte,  werden  jetzt  tagtäglich  von  der  Landarbeiterfamilie 


*)  H.  Rider  Haggard,  Rural  England.  London  1902.  2 Bde. 

*)  Die  folgenden  Angaben  über  die  Lohn-  und  Lebcnsverhältnissc  der  Land- 
arbeiter bis  S.  5c»  sind  der  Darstellung  von  Wilson  Fox  entnommen,  mit  Aus- 
nahme derjenigen  Angaben,  für  welche  eine  andere  Quelle  ausdrücklich  citiert  ist. 


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498 


Hermann  Levy 


reichlich  genossen.  Das  Menu  eines  Landarbeiters  in  Essex  war 
in  der  Regel  vor  50  Jahren : 

Frühstück:  Brot  — oft  trocken  — gelegentlich  Butter  oder 
Käse. 

Mittagessen : Brot  und  Käse.  Sonntags  manchmal  Schweine- 
fleisch oder  Speck.  Dazu  Thce. 

Abends : Gemüsepudding  (manchmal  Rüben , Karotten  und 
Pastinake);  bei  besonderen  Gelegenheiten  etwas  Schweine- 
fleisch. 

Etwas  besser  scheint  die  Nahrung  in  Norfolk  und  Suffolk  ge- 
wesen zu  sein,  wo  der  Genufs  von  Milch  und  Speck  häufiger  war. 
Heute  geniefst  dagegen  der  englische  Landarbeiter  in  reichlichem 
Mafse  Fleisch,  Fisch,  Jam,  Thce,  Butter,  Obst,  Eier,  Kaffee,  Kakao, 
Rosinen  und  Kuchen  und  zwar  frisches  Fleisch  in  den  nördlichen 
Grafschaften  fast  täglich. 

Die  wichtigste  Konsequenz  dieser  Veränderungen  für  den 
Landarbeiter  ist  die  Thatsache,  dafs  die  Frauen-  und  Kinder- 
arbeit in  der  Landwirtschaft  heute  rapide  abnimmt.  Dies  be- 
zeugen verschiedene  amtliche  Berichte,  welche  über  jene  Frage 
Aufklärung  geben.  Mit  den  steigenden  Löhnen  des  Mannes 
und  der  steigenden  Kaufkraft  derselben  ist  die  Landarbeiter 
frau  ihrem  Haushalte  wieder  gewonnen  worden.  Früher  mufste 
sie  in  grauer  Morgenstunde  aus  dem  Schlafe,  den  Kindern  und 
sich,  bevor  sie  an  die  Arbeit  ging,  das  Frühstück  zubercitcn,  dann 
eine  beträchtliche  Strecke  gehen  oder  laufen,  bis  sie  an  den  Ort 
ihrer  Arbeitsthätigkeit  kam.  Kehrte  sie  abends  zurück,  so  war  sie 
mit  Haushaltspflichtcn  überhäuft,  die  bis  in  die  tiefe  Nacht  dauerten. 
Heute  ist  die  Landarbeiterfrau  im  stände,  ein  wenigstens  nicht  so 
menschenunwürdiges  Dasein  zu  fuhren.  Auch  kann  sie  sich  ihren 
Kindern  widmen,  während  früher  die  weitverbreitete  Kinderarbeit 
jede  rcgelmäfsige  Erziehung  derselben  unmöglich  machte. 

Die  Veränderung  der  Lage  des  ländlichen  Arbeiters  aber  be- 
steht nicht  nur  in  einem  Steigen  der  Löhne  und  deren  Kaufkraft. 
Sie  besteht  auch  in  der  Verbesserung  gewisser  Lebensbedingungen, 
die  mit  dem  Arbeitsvertrage  in  engem  Zusammenhänge  stehen: 
nämlich  in  der  Verbesserung  der  Wohnungsverhältnisse.  Man  hat 
in  Deutschland  bei  der  Diskussion  über  Kornzölle  und  Landarbeiter- 
frage oft  an  die  Insten  erinnert  und  gemeint,  da  diese  einen  An- 
teil am  Erdrusch  des  Getreides  hätten,  so  seien  sie  auch  an  hohen 
Kornzöllen  interessiert.  Dieses  Argument,  ganz  abgesehen,  dafs  es 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 


499 


nur  für  gewisse  Teile  Deutschlands  zutreffen  würde,  ist  völlig  ver- 
fehlt. Denn  es  handelt  sich  bei  der  Sozial  re  form  nicht  allein 
um  die  Lohnfrage,  sondern  um  alle  Lebensverhältnisse 
des  Arbeiters,  also  z.  B.  um  die  Wohnungsfrage.  Nun  ist  klar,  dafs 
solange  das  Arbeitsangebot  auf  dem  Lande  so  grofs  ist,  dafs  jeder 
jeder  Landwirt  leicht  neue  Arbeiter  bekommt,  wenn  die  alten  un- 
zufrieden sind,  kein  Landwirt  daran  denken  wird,  den  Arbeitern 
gute  Wohnungen  zu  bauen,  wenn  man  sie  dazu  haben  kann,  die 
alten  weiter  zu  bewohnen.  Dies  geschieht  erst,  wenn  man  den  ab- 
wandernden Arbeiter  festzuhalten  und  ihm  daher  sein  Heim  zu 
verschönern  sucht.  So  hat  sich  auch  in  England  mit  dem  steigen- 
den Einflufs  des  Arbeiters  beim  Abschlüsse  des  Arbeitsvertrages  ein 
Wandel  in  der  Ausgestaltung  der  Wohnungsverhältnisse  vollzogen. 

Oft  findet  man  noch  in  demselben  Dorfe  zwei  Typen  von 
Arbeiterhäusern  vertreten : den  alten  Typus  und  den  neuen.  Win- 
zige Räume,  die  überfüllt  sind,  kleine  Fenster,  hühnerleiterartige 
Treppen,  Rufs  und  Schmutz,  mangelnde  Wasserleitung,  mangelnde 
Reparaturen  aller  Art  — das  sind  die  Kennzeichen  der  alten  Ar- 
beiterhütte. In  dem  neuen  Arbeiterhaus  sind  dagegen  oft  3 Schlaf- 
zimmer, eine  Küche,  ein  Waschhaus,  eine  Speisekammer  u.  s.  w. 
vorhanden.  Gesundheit,  Schamgefühl,  Sauberkeit  und  Bequemlich- 
keit kann  in  ihm  erhalten  bleiben.  Erstaunlich  ist  das  Resultat  der 
folgenden  Tabelle,  welche  zeigt,  wieviel  Prozent  der  Bevölkerung 
in  den  hauptsächlich  landwirtschaftlichen  Grafschaften  Englands  zu 
dritt  oder  mehr  in  einem  Raume  schlafen.  Der  Prozentsatz 
betrug 


in  der  Grafschaft 

im  Jahre  1891 

im  Jahre  1901 

Differenz 

Westmoreland  . . . 

4,88 

2. So 

2,08 

Lincoln 

4.30 

2,52 

1,78 

Norfolk 

5.98 

3.64 

2,34 

Suffolk 

5.93 

3,46 

2,47 

Berkshire  . . . . 

4.83 

2,42 

2,4' 

Sussex 

2.94 

1,84 

2,10 

Hampshire  .... 

. 2.65 

i.63 

1,02 

Glouccstersbire . . . 

. 8,21 

4.91 

3,3« 

Somerset 

4.67 

2,82 

',85 

Devon 

. 10,31 

7.8i 

2,50 

Cornwall 

. 6,60 

3,95 

2,65 

Diese  Tabelle  ist  der  deutlichste  Beweis  für  die  Verbesserung, 
welche  in  den  Wohnungsverhältnissen  der  Landarbeiter  stattge- 
funden hat. 


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500 


Hermann  Lcvy, 


Dem  immer  wachsenden  Wohlbefinden  des  Landarbeiters  aber 
entsprach  eine  Steigerung  in  seiner  Arbeitsleistung.  Zum  Beweise 
möchte  ich  nur  an  die  Geschichte  der  Landarbeiter  erinnern,  welche 
aus  den  südlichen  Grafschaften  Englands  in  die  nördlichen  wan- 
delten. *)  Der  ländliche  Lohn  ist  im  Süden  Englands  weit  niedriger 
als  im  Norden,  wo  die  grofse  Masse  der  Fabrikstädte  und  Bergwerke 
die  grüfste  Anziehungskraft  auf  die  ländliche  Arbeiterklasse  ausübt. 
Aber  die  Landarbeiter,  die  aus  detn  Süden  kamen,  um  ebenfalls  die 
hohen  Löhne  zu  verdienen,  waren  aufscrstande  die  Arbeit  zu  leisten, 
die  die  nördlichen  Arbeiter  verrichteten.  Sie  mul'sten  wieder  nach 
dem  Süden  zurückkehren. 

Dies  Beispiel  zeigt  erstens,  wie  die  Höhe  des  Lohnes  und  die 
bessere  Lebenshaltung  die  Arbeitsleistung  des  Landarbeiters  ge- 
steigert hat.  Andererseits  zeigt  sich  hier  die  gute  Seite  jener  Ab- 
wanderungsmöglichkeit in  die  grofsen  Städte.  Denn  auf  diese  ist 
der  hohe  Lohn  und  die  hohe  Leistungsfähigkeit  des  nordenglischen 
Landarbeiters  zurückzufuhren. 

Und  damit  kommen  wir  wieder  auf  die  Schlufsausführungen 
von  Wilson  Fox  zurück.  Was  ist  die  Ursache  gewesen,  dafs  in 
den  letzten  50  Jahren  jene  enorme  Verbesserung  in  der  I-age  des 
englischen  Landarbeiters  stattgefunden  hat?  „Er  ist  jetzt  imstande,“ 
so  schreibt  Fox,  „seine  Arbeit  auf  anderen  als  nur  landwirtschaft- 
lichen Märkten  zu  verkaufen,  und  er  hätte  dies  wahrschein- 
lich grade  so  Vorjahren  gethan,  wenn  er  dazu  die 
Möglichkeit  gehabt  hätte.  Er  geht  dahin,  wo  er  die  höch- 
sten Löhne  verdienen  kann,  und  er  unterscheidet  sich  hierin  nicht 
von  irgend  einer  anderen  Klasse  der  Gesellschaft."  „Vor  50  oder 
60  Jahren  begann  der  Landarbeiter  seinen  Beruf  mit  6 oder 
7 Jahren.  Er  wuchs  auf:  unerzogen,  beschränkt,  ohne  Unter- 
nehmungsgeist." „Ebenso  das  junge  Mädchen.“  „Damals  hatte  der 
Pächter  ein  vollkommenes  Monopol  auf  dem  Arbeitsmarkte.  Er 
konnte  so  viele  arbeiten  lassen,  wie  er  wollte  und  diese  so  lange 
wie  er  wollte.  — Aber  jedes  Ding  hat  seine  Zeit.  Jetzt  befindet 
er  sich  im  Wettbewerb  mit  anderen  Arbeitgebern,  und  der  Land- 
arbeiter kann  seine  Arbeit  und  seinen  Arbeitgeber  sich  selbst 
auswählen." 

Wenn  wir  zurückblicken  auf  unsere  historische  Darstellung  und 

1)  Vgl.  Brodrick,  English  Land  and  English  Landlords.  London  : SS I , 
S.  229. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England.  JOI 

wenn  wir  nunmehr  imstande  sind,  den  ganzen  Fortschritt  zu  wür- 
digen, der  sich  in  der  Lage  der  ländlichen  Arbeiterklasse  seit  1850 
vollzogen  hat,  so  drängt  sich  uns  unwillkürlich  die  Frage  auf:  Wie 
hat  jener  Fortschritt  auf  die  F.ntwicklung  der  ländlichen  Abwande- 
rung gewirkt,  hat  er  sie  zu  hemmen  vermocht  oder  nicht? 

Wir  haben  bereits  angedeutet,  dafs  die  Verbesserung  der  länd- 
lichen Arbeiterverhältnisse  in  keiner  Weise  den  Zug  nach  der  Stadt 
aufgehalten  hat.  Im  Gegenteil,  England  ist  heute  das  Land  Europas, 
in  welchem  jener  Abwanderungsprozefs  wahrscheinlich  am  stärksten 
vor  sich  geht. 

Die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  betrug  nach  dem 
Census  von  (einschließlich  der  Vorarbeiter  und  Aufseher  u.  s.  w.):1) 


1871 

938  53° 

1881 

849  829 

1891 

774  762 

1901 

631  728 

Wir  sehen : in  dem  Dezennium,  welches  mit  der  letzten  Zäh- 
lung abschliefst,  hat  eine  Abnahme  der  Landarbeiter  um  ca.  18% 
stattgefunden. 

Was  ist  die  Ursache  dieser  Abwanderung  gewesen  ? Die  Be- 
antwortung dieser  Frage  weist  grofse  Schwierigkeiten  auf.  Sicher- 
lich ist  der  Uebergang  zur  Weidewirtschaft,  das  Umwandeln  von 
Acker-  in  Weideland  ein  Umstand  gewesen,  der  in  vielen  Gegenden 
Landarbeiter  überflüssig  gemacht  hat.  Ebenso  hat  die  Einführung 
der  Maschinen  gewirkt.  Aber  wie  Vandervelde  in  seinem  lesens- 
werten Werke  sehr  treffend  erklärt:1)  „Oft  hat  die  Auswanderung, 
durch  andere  Umstände  verursacht,  die  technischen  Umformungen 
in  der  Landwirtschaft  herbeigeführt  und  ist  denselben  voraus- 
gangen.  Oft  sind  andererseits  die  technischen  Veränderungen 
vorausgegangen  und  haben  die  Abwanderung  verursacht.“ 
In  der  Erkenntnis  der  jeweiligen  Ursache  und  Wirkung  .liegt  die 
Schwierigkeit  Dabei  erscheint  es  ziemlich  unzweifelhaft,  dafs,  was 
die  Frage  der  Einführung  von  Maschinen  anbelangt,  die  Steigerung 
der  Löhne  oder  was  gleichbedeutend  ist  die  Abwanderung  vom 
Land  das  Primäre  gewesen  ist.  Anders  steht  es  mit  der  Frage 
der  Umwandlung  von  Acker-  in  Grasland. 

*)  Vgl.  die  entsprechenden  Bände  des  Census  of  England  and  Wales  (Occu- 
pations  of  the  People). 

9)  Emil  Vandervelde,  L’cxodc  rural  et  le  retour  ä la  Campagne.  Paris 
1903,  S.  105. 


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502 


Hermann  L e v y , 


Hier  müssen  wir  zunächst  bedenken,  dafs  es  für  viele  Land- 
wirte in  jedem  Falle,  gleichviel  ob  die  Löhne  niedrig  oder  hoch 
waren,  bei  den  sinkenden  Getreidepreisen  rentabel  war,  ihr  Acker- 
land zu  ewiger  Weide  niederzulegen.  Es  thaten  dies  vor  allem  die- 
jenigen Landwirte,  welche  unfruchtbare  Ackerböden  zur  Zeit  der 
guten  Getreidekonjunktur  gepachtet  hatten.  Der  sinkende  Getreide- 
preis machte  die  rentable  Bewirtschaftung  dieser  unergiebigen  Acker- 
böden selbst  bei  Mehrverwendung  von  Kapital  und  Arbeit  in  den 
Boden  unmöglich.  Andererseits  gingen  die  Gewinnste  aus  der  Vieh- 
zucht nach  1879  weit  weniger  zurück  als  die  aus  dem  Ackerbau, 
und  damit  war  schon  die  Zweckmäfsigkeit  der  Umwandlung  ge- 
geben. Hier  also  ging  die  Umwandlung  entschieden  der  Abwande- 
rung voraus,  indem  sie  Landarbeiter  eliminierte. 

Andererseits  ist  zu  bedenken,  dafs  es  nicht  immer  der  Ueber- 
gang  zu  einer  ewigen  Weidewirtschaft  war,  durch  welchen  die 
Landwirte  das  Kostenelement:  Arbeitslohn  zu  vermindern  suchten. 
Die  Landwirte  führten  vielmehr  vielfach  ein  Anbausystem  ein,  bei 
welchem  sie  3,  4 oder  5 Jahre  lang  das  I,and  als  Wiese  be- 
nutzten, um  es  dann  erst  wieder  mit  Getreide  zu  bestellen. 
Dieses  System  der  „vorübergehenden“  Weidewirtschaft  bedeutete 
natürlich  ebenfalls  eine  grofse  Ersparnis  an  Arbeitslöhnen.  Weniger 
Arbeiter  wurden  benötigt  und  mehr  wurden  in  andere,  vor  allem 
in  industrielle  Berufe  getrieben. 

Aber  nichts  wäre  einseitiger,  als  der  Thatsache,  dafs  die  Weide- 
wirtschaft Landarbeiter  eliminiert  hat,  ein  allzu  grofses  Gewicht  für 
die  Frage  der  Landflucht  einzuräumen.  Denn  die  Abwanderung 
vom  Lande  ist  in  England  keineswegs  lokaler  Natur.  Sie  hat  nicht 
nur  da  stattgefunden,  wo  man  zur  Weidewirtschaft  überging.  Sie 
ist  nicht  in  jenen  Grafschaften  stärker  gewesen,  wo  die  Ausbildung 
der  Viehzucht  die  besten  Vorbedingungen  fand,  als  in  jenen,  wo  die 
Landwirte  selbst  bei  sinkenden  Preisen  noch  weiter  mit  Nutzen  Ge- 
treide bauen  konnten.  Die  Landflucht  ist,  wie  Graham  in  seinen 
Studien  hervorhebt,  eine  Thatsache,  die  man  in  jedem  landwirt- 
schaftlichen Distrikt  Englands  beobachten  kann.1)  Und  weiter!  Die 
jüngsten  Untersuchungen  Rider  Haggards  über  die  Lage  der  eng- 
lischen Landwirtschaft  beschäftigen  sich  fast  überwiegend  mit  der 
Landarbeiterfrage  und  dem  Abwanderungsproblem.  Obschon  ich 
seine  Darstellungen  oft  nicht  frei  von  einem  mehr  oder  weniger  be- 

')  Vgl.  P.  Anderson  Graham,  The  Rural  Exodus.  London  1892,  S.  9. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 


503 


absichtigten  Pessimismus  finden  kann,  so  können  wir  ihm  doch  im 
grofsen  Ganzen  zugeben,  dafs  der  Arbeitermangel  heute  eine  schwere 
Sorge  des  englischen  Landwirts  bildet.  Seine  Beobachtungen  zeigen 
uns,  dafs  es  durchaus  nicht  immer  derLandwirt  ist,  welcher  Ar- 
beiter fortschickt,  weil  er  zur  Weidewirtschaft  übergegangen  ist. 
Im  Gegenteil  1 In  Haggards  Buch  begegnen  uns  Hunderte  von  Land- 
wirten, die  dringend  Arbeiter  benötigen  und  laut  darüber  klagen, 
dafs  alle  jungen  Leute  abwandern,  obschon  sie  bei  den  Pächtern 
der  Umgegend  reichlich  Arbeit  finden  könnten.  *)  Ja,  Haggard  be- 
zeichnet sogar  den  Arbeitermangel  als  eine  Hauptursache,  weshalb 
der  englische  Getreidebau  ein  „unrentables  Gewerbe“  sei.*)  Warum 
wandert  der  Landarbeiter,  der  in  einzelnen  Weidedistrikten  keine 
genügende  Arbeit  findet,  nicht  in  jene  landwirtschaftlichen  Distrikte, 
wo  der  grofsc  Arbeitermangel  herrscht,  von  dem  Haggard  auf  fast 
jeder  Seite  seines  Buches  spricht?  Warum  wandert  er  lieber  nach 
London,  Birmingham  oder  Manchester? 

Wir  sehen : so  stark  der  Einflufs  ist,  welchen  ökonomische 
Strömungen  in  der  englischen  Landwirtschaft,  vor  allem  der  Ueber- 
gang  zur  Weidewirtschaft,  auf  die  Landflucht  gehabt  haben,  sie  er- 
klären die  Stärke  derselben  nur  teilweise.  Es  sind  Momente  thätig, 
welche  mit  dem  Angebot  und  der  Nachfrage  nach  Arbeitern  auf 
dem  Lande  nichts  zu  thun  haben.  Es  ist  die  Anziehungskraft  der 
Städte,  nicht  die  mangelnde  Nachfrage  in  der  Landwirtschaft, 
welche  einen  grofeen  Teil  der  Landarbeiter  von  den  Feldern 
treibt. 

Worin  besteht  die  Anziehungskraft  der  Stadt? 

Es  ist  da  zunächst  auf  den  Unterschied  der  industriellen  und 
ländlichen  Löhne  zu  verweisen.  Obschon  der  Arbeiter  heute  auf  dem 
Lande  regelmäfsig  seine  13 — 14  sh  in  der  Woche  verdient,  und  ob- 
schon sich  seine  Geldeinkünfte  oft  durch  Nebenverdienst,  Ernte- 
arbeit etc.  auf  17 — 18  sh  steigern,  so  ist  er  doch  imstande,  in 
industriellen  Berufen  24 — 28  sh  zu  verdienen.  Das  bildet  schon 
einen  grofsen  Anreiz,  in  die  Städte  zu  ziehen.  Aber  ich  möchte 
nicht  behaupten  den  gröfsten.  Denn  der  englische  Landarbeiter 
weife  heutzutage  recht  wohl,  dafs  er  in  der  Stadt  für  allerlei  Be- 
dürfnisse z.  B.  vor  allem  für  die  Wohnung  mehr  bezahlen  mufs,  als 


')  Vgl.  Haggard  a.  a.  O.  z.  B.  Uber  Sussex  Bd.  I,  S.  105  u.  106;  vgl.  Uber 
Lincolnshire  Bd.  II,  S.  222,  ebenso  Uber  Oxfordshire  S.  112;  vgl.  auch  S.  539. 

*1  Vgl.  ebenda  S.  541. 


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504 


Hermann  L e v y , 


auf  dem  Lande.  Es  sind  in  der  Regel  noch  andere  Erwägungen 
als  die  des  absolut  höheren  Geldlohnes,  welche  den  Landarbeiter 
vom  Land  in  die  Stadt  treibt. 

Die  ganzen  Arbeitsverhältnisse  und  Arbeitsbedingungen  er- 
scheinen ihm  in  der  Industrie  oder  in  den  städtischen  Berufen  er- 
freulicher als  auf  dem  Lande.  Ein  AgrarschriftstcIIer,  Robert  Scott 
Burn,  der  selbst  als  Pächter  Erfahrungen  in  grofser  Zahl  gesammelt 
hat,  schreibt  über  die  ländliche  Arbeiterfrage:1) 

„Während  in  städtischen  Distrikten  oder  in  den  Vororten 
gröfserer  Städte  die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  grofse  Ausdehnung 
gefunden  hat  und  augenscheinlich  weiter  finden  wird,  so  hat  sich 
dieses  System  bis  jetzt  noch  nicht  auf  die  ländlichen  Gegenden 
erstreckt.  So  müssen  Arbeiter,  die  auf  Gütern  oder  mit  landwirt- 
schaftlicher Arbeit  beschäftigt  sind,  so  lange  am  Tage  arbeiten,  wie 
ihre  Väter  und  Vorväter.  Aber  der  Arbeitstag  des  Landarbeiters 
ist  nicht  nur  lang,  sondern  auch  unbestimmt  in  seiner  IJLnge,  vor 
allem  auf  Gütern,  wo  viel  Vieh  gehalten  wird.  Es  bleibt  immer 
irgendeine  Arbeit  übrig,  die  gethan  werden  mufs,  zu  welcher  Tages- 
stunde es  auch  sei,  wenn  es  auch  noch  so  spät  ist.  Und  die  Extra- 
arbeit, die  man  dem  Arbeiter  giebt,  bringt  diesem  nicht  einmal  den 
Trost  eines  Extralohnes,  den  er  für  die  „Ueberstunden“  in  den 
Städten  im  allgemeinen  beanspruchen  kann.  Der  städtische  Arbeiter 
pflegt  über  lange  Arbeitszeit  zu  klagen  und  er  würde  sofort  einen 
„Strike"  angefangen,  wenn  man  ihm  seinen  geliebten  halben  Feiertag 
am  Samstag  Nachmittag  nehmen  wollte.  Wenn  er  sich  doch  einmal 
bewufst  würde,  welch  langen,  arbeitsschweren  Tag  sein  Kamerad 
auf  dem  Lande  durchzumachen  hat.  Wenn  er  nur  „den  Stunden- 
plan“ auf  einigen  Gütern  lesen  könnte,  welcher  den  Arbeiter  um 
halbfünf  an  die  Arbeit  ruft,  um  ihn  erst  um  sieben  Uhr  abends  wieder 
zu  entlassen,  und  dann  erst,  wenn  die  Pferde  ihre  Streu  bekommen 
haben.  Wenn  der  städtische  Arbeiter  von  alledem  nur  eine 
schwache  Ahnung  haben  würde,  so  würde  er  sich,  anstatt  über  sein 
Los  zu  klagen,  gratulieren,  wenn  er  es  mit  dem  seines  Kameraden 
auf  dem  I .andc  vergliche." 

Aber  noch  andere  Momente,  als  die  bisher  genannten,  veran- 
lassen den  englischen  Landarbeiter  zur  Landflucht. 

Vor  allem  ist  die  Verschiedenartigkeit  des  landwirtschaftlichen 
Berufes  von  den  meisten  anderen  Berufen  eine  Thatsche,  die  die 

')  R.  Scott  Bum,  Systematic  Small  Farming.  London  1886,  S.  43. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 


SOS 


Erwägung  des  Landarbeiters,  vor  allem  des  jungen  Arbeiters,  stark 
beeinflufst.  Die  Arbeit  im  Stalle  und  im  Hofe,  das  Düngerfahren 
oder  Kuhmelken,  das  sind  Arbeiten,  die,  wenn  auch  vielleicht  ge- 
sünder als  die  Arbeit  in  Fabriken,  dem  I^andarbeiter  unvergleichlich 
viel  niedriger  erscheinen  als  diese.  Der  vom  Kohlenrufs  beschtvärzte 
Gruben-  oder  Fabrikarbeiter  ist  ihm  immer  noch  eine  angenehmere 
Erscheinung  als  der  Landarbeiter  in  seinen  schweren,  schmutzigen 
Zugstiefeln,  seinen  Lederhosen  und  seinen  schwieligen,  harten 
Händen. 

Dazu  kommt  der  Unterschied  in  dem  ganzen  Leben  des  städ- 
tischen oder  industriellen  Arbeiters  gegenüber  dem  des  ländlichen. 
Der  Landarbeiter  bleibt  „Arbeiter“  auch,  wenn  er  seine  Arbeit  be- 
endet hat.  Ein  jeder  im  Dorfe  weifs,  dal's  er  Arbeiter  ist,  der  Wirt, 
bei  dem  er  trinkt,  der  kleine  Kaufmann,  bei  dem  er  einkauft  und 
alle  anderen  Dorfbewohner.  Der  städtische  oder  industrielle  Arbeiter 
ist  Arbeiter  nur  solange  er  „arbeitet“.  Ist  die  Arbeit  beendet,  so 
wechselt  er  seine  alte  Arbeiterklcidung  gegen  eine  bessere,  elegantere 
um,  die  ihm  die  Billigkeit  der  grofsen  Stadt  ohne  grofsen  Aufwand 
verschafft.  Mit  dieser  Umwandlung  fühlt  er  sich  bereits  als  ein 
halber  „gentleman".  Dann  geht  er  in  irgend  eines  der  vielen 
Musiklokale  oder  in  eine  Kneipe,  trifft  Bekannte  oder  macht  Be- 
kanntschaften, die  ihn  alle  nicht  wie  den  Arbeiter  „Tom“  oder 
„Jack“,  sondern  wie  einen  „Herrn“  behandeln.  Der  ländliche  Arbeiter 
hat  in  der  Regel  keine  andere  Zerstreuung  für  seine  Abende  als 
die  Kneipe  des  Dorfes.  Er  hat  keinen  Hydepark,  in  dem  er  an 
den  Sonntagen  des  Sommers  umsonst  ein  Konzert  hören  und  er 
hat  keine  Gelegenheit  Ausflüge  zu  machen  und  sein  Vaterland 
kennen  zu  lernen.  Der  Industriearbeiter,  der  in  Büreaus,  Magazinen 
oder  Läden  beschäftigte  Arbeiter,  kann  die  freie  Zeit  vom  Samstag 
Mittag  bis  Montag  früh  zu  einem  jener  „Wochenendausflüge“  be- 
nutzen, für  die  die  englischen  Flisenbahngesellschaften  stets  enorm 
billige  Fahrgelegenheit  bieten.  Der  Landarbeiter  darf  nie  so  lange 
von  dem  Gute  entfernt  bleiben.  Auch  haben  die  städtischen  Arbeiter 
ihre  Kriketpartien,  die  ihnen,  wie  ja  allen  Engländern,  besonders 
am  Herzen  liegen.  In  den  kleinen  Dörfern  ist  von  solchen  Be- 
lustigungen selten  die  Rede,  die  Landarbeiter  sind  fast  nie  an  ihnen 
beteiligt. 

Eine  weitere  Zerstreuung,  die  zugleich  in  hohem  Grade  bildend 
auf  den  Stadtarbeiter  wirkt,  sind  die  zahlreichen  Versammlungen 
und  Vorträge,  die  er  besuchen  kann.  Und  es  giebt  wenige,  die 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  33 


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506 


Hermann  I.cvy, 


nicht  an  solchen  Versammlungen  mehrere  Male  im  Jahre  teilnehmen, 
es  sei  an  Versammlungen , in  denen  allgemeine  ethische  Fragen 
diskutiert  werden  oder  an  solchen,  die  speziell  sozialpolitische  oder 
wichtige  Tagesfragen  zum  Gegenstand  haben,  ln  solchen  Ver- 
sammlungen gewinnt  das  Selbstbewufstsein  des  Arbeiters  als  Bürger, 
er  wird  zum  Denken  veranlafst  und  entwickelt  vielleicht  Fähig- 
keiten, deren  er  sich  auf  dem  Lande  nie  bewufst  geworden  wäre, 
weil  ihm  dort  jede  Gelegenheit  fehlte,  sie  auszubilden  oder  zu  be- 
thätigen. 

So  sehen  wir:  die  Lage  des  Landarbeiters  ist  schlechter  als 
die  des  Industrie-  oder  Stadtarbeiters  und  zwar  schlechter  bezüglich 
seiner  Stellung  als  Lohnempfänger,  als  Arbeiter,  als  Mitglied  der 
Gesellschaft  und  schliefslich  als  Mensch,  insofern  er  nicht  imstande 
ist,  seinen  Bildungskreis  in  der  gleichen  Weise  wie  der  städtische 
Arbeiter  zu  erweitern.  Sollen  wir  es  dem  Landarbeiter  verdenken, 
wenn  er,  um  seine  Stellung  in  all  diesen  Beziehungen  zu  verbessern, 
die  „sauberen,  gesunden  Felder“  und  die  gute  Landluft  aufgiebt  und 
abwandert?  Im  Gegenteil,  es  ist  diese  Flucht  des  Landarbeiters  als 
das  Resultat  eines  Strebens  nach  Verbesserung  seiner  materiellen 
und  geistigen  Existenzbedingungen  als  etwas  kulturell  durchaus  Ge- 
sundes anzusehen. 

Auch  diejenigen,  welche  in  der  Landflucht  ein  grofses  Uebel 
sehen,  weil  sie  die  Stellung  der  Pächter  erschwert,  können  nicht 
leugnen,  dafs  die  Abwanderung  zum  grofsen  Teil  der  wachsenden 
Einsicht  des  Arbeiters  zuzuschreiben  ist,  dafs  er  materiell  und  kulturell 
sich  als  Arbeiter  in  anderen  als  landwirtschaftlichen  Berufen  besser 
steht.  „Die  bessere  Erziehung  war  die  Hauptursache  der  Ab- 
wanderung" meinte  Cläre  Sewell  Read,  ein  sehr  starker  Vertreter 
des  Pächterinteresses, *)  „je  mehr  zivilisiert  der  Mann  wurde,  um 
so  mehr  wurde  er  zum  Klub-  und  Gesellschaftsmensch“.  Danach 
kann  man  entweder  die  Abwanderung  als  etwas  Erfreuliches  oder 
die  „bessere  Erziehung"  als  etwas  Unerfreuliches  betrachten.  Und 
mit  der  letzteren  Auffassung  dürften  diejenigen  Landinteressenten, 
welche  sich  auf  Kosten  des  kulturellen  Fortschritts  dumme  und 
billige  Landarbeiter  sichern  wollen,  sicherlich  nicht  auf  den  Beifall 
des  englischen  Volkes  und  seiner  Staatsmänner  rechnen.  Nur  ein 
egoistischer  denkender  Interessent  kann  die  Vorteile  leugnen,  welche 


*)  Vgl.  The  Journal  of  the  Royal  Statistical  Society  of  England.  Bd  . 56 
1893.  S.  437- 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 


507 


die  Möglichkeit  der  Abwanderung  der  englischen  Landbevölkerung 
gebracht  hat.  Demgegenüber  ist  nicht  zu  verkennen,  dafs  sie  die 
Lage  der  ländlichen  Arbeitgeber  vor  allem  seit  dem  Auftreten  der 
überseeischen  Konkurrenz  bedeutend  erschwert  hat. 

Aber  wir  dürfen  hier  nicht  zu  schwarz  sehen.  Denn  erstens 
hat  das  Gesetz,  dafs  hoher  Arbeitslohn  höhere  Arbeitsleistung  be- 
deutet, sich  auch  in  der  englischen  Landwirtschaft  erfüllt.  Denken 
wir  nur  an  die  verschiedene  physische  Beschaffenheit  der  Arbeiter 
in  Südengland  und  Nordengland  und  die  verschiedene  Leistungs- 
fähigkeit derselben,  die  allein  auf  die  Verschiedenheit  der  Lohnhöhe 
und  der  damit  zusammenhängenden  verschiedenen  Ernährungsweise 
zurückzuführen  ist.  Wo  der  Landwirt  aber  für  den  höheren  Lohn, 
den  er  zu  zahlen  hatte,  nicht  in  einer  entsprechend  höheren  Arbeits- 
leistung Ersatz  fand,  da  hat  die  Anwendung  von  arbeitserparenden 
Maschinen  eingesetzt  und  die  Wirkung  der  steigenden  Löhne  für 
den  Landwirt  abgeschwächt.  Schließlich  müssen  wir  bedenken,  daß 
die  landwirtschaftliche  Krisis  im  allgemeinen  wohl  durch  das  Steigen 
der  Löhne  verschärft  wurde,  dafs  sie  aber  keineswegs  durch  ein 
Stagnieren  derselben  hätte  verhindert  werden  können.  Die  Agrar- 
krisis der  80er  und  90  er  Jahre  war  die  Folge  der  infolge  der  aus- 
ländischen Konkurrenz  immer  mehr  sinkenden  Getreidepreise.  Der 
tiefe  Weizenpreis  machte  es  unmöglich,  die  unfruchtbaren  Böden 
weiter  mit  Getreide  zu  bebauen,  wie  man  es  ein  Jahrhundert  lang 
mit  fast  unterbrochenem  Gewinn  gethan  hatte.  Die  Grundrente 
fiel,  aber  die  Pachtrente  vermochte  sich  den  verminderten  Ueber- 
schüssen  nicht  sogleich  anzupassen.  Sie  wurde  erst  allmählich 
herabgesetzt , nachdem  unzählige  Pächter  an  übertnäfsigen  Pacht- 
rentcnverpflichtungen  zu  Grunde  gegangen  waren.  ‘)  Dieser  Prozels 
wurde  vielleicht  durch  das  Steigen  der  Löhne  beschleunigt,  aber  ein 
gleichbleibender  Lohn  hätte  ihn  nicht  verhindern  können. 

Demgegenüber  sind  die  Vorteile,  welche  die  Landarbeiterbevöl- 
kerung Englands  durch  die  Abwanderung  und  das  dementsprechende 
Steigen  der  Löhne  gehabt  hat,  so  sichtbar,  dafs  sie  die  Schwierig- 
keiten, in  welche  die  Landwirte  durch  die  Landflucht  versetzt  sind, 
weit  aufwiegen.  „Wünscht  irgend  jemand,"  so  fragt  Fox,  „zu  der 
Periode  der  20  er  oder  50  er  Jahre  zurückzukehren,  wo  der  Arbeits- 


*)  Vgl.  Final  Report  of  her  Majeslys  Commissioners  appointed  to  inquire 
inlo  the  Subject  of  agricultural  Depression.  London  1897.  Abschnitt  VII:  Kents 
as  a Cause  of  Depression.  Der  Verfasser  des  Berichtes  ist  F.  A.  Channing,  M.  P. 

33* 


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Hermann  Lcvy, 


508 

markt  aufserhalb  der  nördlichen  Grafschaften  so  überfüllt  war,  dafs 
die  Arbeiter  keine  genügende  Beschäftigung  finden  konnten  f“ 

Aber  so  viel  Erfreuliches  wir  über  die  Lage  der  Landarbeiter 
in  England,  vor  allem  im  Vergleich  zu  früheren  Zeiten,  berichten 
konnten  und  so  sehr  wir  der  Abwanderung  den  Hauptanteil  an  dem 
heutigen  Wohlstand  der  ländlichen  Arbeiterklasse  zuschreiben  müssen, 
wir  können  doch  nicht  umhin,  die  Landflucht  als  solche  zu  be- 
dauern. Es  ist  unzweifelhaft,  dafs  es  für  die  physische  und  mora- 
lische Gesundheit  der  Menschen  und  der  Arbeiter  besser  wäre,  auf 
dem  Lande  zu  leben  als  in  den  Städten.  Ein  jeder  Sozial politiker 
würde  wohl  zugeben,  dafs  die  Arbeiterbevölkerung  eines  Landes 
ein  ungleich  gedeihlicheres  Leben  auf  dem  Lande  als  in  der  Stadt 
fuhren  würde.  Ein  jeder  würde  sich  über  eine  wachsende  Quote 
der  Landbevölkerung  im  Staate  von  Herzen  freuen,  vorausgesetzt, 
dafs  dieselbe  auf  dem  Lande  denselben  Lohn  und  dieselben  An- 
nehmlichkeiten des  materiellen  und  kulturellen  Lebens  genösse  wie 
in  der  Stadt,  vorausgesetzt,  dafs  sie  nicht  gezwungen 
auf  dem  Lande  bliebe,  sondern  in  dem  Bewufstsein, 
dafs  dieBeschäftigung  auf  dem  Lande  die  wünschens- 
werte und  befriedigendste  sei.  Fragen  wir  uns  daher  am 
Schlufs  unserer  Ausführungen : ist  eine  Möglichkeit  vorhanden,  die 
Bevölkerung  dem  Lande  zurückzugewinnen  und  welches  ist  diese 
Möglichkeit  ? 

Es  giebt  nicht  nur  in  Deutschland,  sondern  auch  in  England 
Viele,  welche  der  landwirtschaftlichen  Krise  in  erster  Linie  die  Land- 
flucht zuschreiben.  Der  Pächter,  so  meinen  sie,  verdiene  nicht 
genug,  um  die  Löhne  bezahlen  zu  können,  bei  denen  der  Land- 
arbeiter auf  dem  Lande  bliebe.  Wenn  man  aber  den  Getreidebau 
wieder  rentabel  machte,  wie  er  es  früher  war,  wenn  man  wieder 
zum  Anbau  derjenigen  Ackerböden  überginge,  die  man  in  den 
letzten  25  Jahren  habe  aufgeben  müssen,  dann  werde  der  Landwirt 
mehr  Arbeiter  benötigen,  ihnen  gute  I.öhne  zahlen  können  und  sie 
dem  Lande  erhalten.  „Das  Einzige,  was  die  Abwanderung  aufhalten 
kann,  ist  ein  Aufleben  der  Landwirtschaft,"  erklärte  Mr.  Read,  ein 
Vertreter  des  Grofpächterinteresses,  und  es  ist  unzweifelhaft,  dafs 
er  mit  „Landwirtschaft“  den  Getreidebau  meinte.1)  So  hat  denn 
auch  die  Frage  der  ländlichen  Abwanderung  in  der  jüngsten  Dis- 
kussion über  die  eventuelle  Einführung  von  Getrcidezöllen  in  Eng- 


*)  Vgl.  Anmerkung  S.  506. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 


509 


land  eine  Rolle  gespielt.  So  grofs  aber  ist  im  allgemeinen  bei  allen 
Politikern  die  Sorge  über  die  immer  stärker  werdende  Landflucht, 
dafs  selbst  der  freihändlerische  Sir  E.  Grey  meinte,  „wenn  die  ge- 
schätzten Herren  von  der  Opposition  einen  Zoll  dieser  Art  bean- 
spruchen mit  der  Begründung,  dafs  er  den  landwirtschaftlichen 
Distrikten  heilsam  sein  und  bewirken  werde,  das  Volk  wieder  auf 
das  Land  zurückzubringen,  so  würden  sie  damit  ein  viel  stärkeres 
Argument  haben  als  irgend  eines,  das  sie  vorgebracht  haben". 

Dieses  Argument  ist  denn  auch  in  den  letzten  Wochen  oft  zur 
Begründung  von  Getreidezöllen  ausgesprochen  worden.1) 

Noch  immer  spukt  der  Geist  des  alten  Youngschen  Rezeptes 
vom  Jahre  1772:  wenn  ihr  die  Leute  auf  dem  Lande  festhalten 
wollt,  dann  müfst  ihr  dem  Volk  in  den  Städten  die  Nahrungsmittel 
verteuern.  Arthur  Young  war  aufrichtig  genug,  sich  einfach  und 
deutlich  für  das  Pächterintcresse  auszusprechen,  dem  alles  daran  lag, 
einen  überfüllten  ländlichen  Arbeitsmarkt  zu  haben.  Die  heutigen 
Landinteressenten  wünschen  genau  dasselbe,  aber  um  es  zu  erreichen, 
werden  sic  als  ein  Hauptmotiv  für  die  Einführung  von  Kornzöllen 
die  „Einschränkung  der  Landflucht“  in  den  Vordergrund  stellen, 
um  so  das  Interessentenmäfsige  in  ihrer  Forderung  zu  verdecken. 
Die  Liberalen  und  die  Gegner  des  Schutzzollsystems  werden  aber 
wohl  weise  genug  sein,  um  auf  eine  solche  Argumentation  nicht 
,,hereinzufallcn“.  Denn  was  zeigt  die  geschichtliche  Entwicklung 
der  Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England? 

Wir  sahen  einerseits,  dafs  die  Landflucht  besonders  stark  zu 
werden  begann  gerade  in  derjenigen  Zeit,  als  der  englische  Getreide- 
bau die  höchsten  Ueberschüsse  abwarf  und  die  gröfste  Ausdehnung 
fand.  Der  Grofsbetrieb,  die  rentable  Betriebsform  für  den  Getreide- 
bau, verdrängte  den  Kleinbetrieb  und  machte  den  landbesitzenden 
Arbeiter  zum  besitzlosen  Tagelöhner,  ohne  ihm  dafür  eine  hin- 
reichende Beschäftigung  auf  dem  Gute  des  Grofspächters  zu  ge- 
währen. 

Andererseits  sahen  wir,  dafs  unter  dem  Regime  der  Kornzölle 
die  Bevölkerung  freilich  auf  dem  I-ande  blieb;  nicht  aber  weil  die 
Bedingungen  für  sie  auf  dem  Lande  gute  waren,  sondern  indem  sie 
die  Unmöglichkeit,  einen  besseren  Arbeitsmarkt  aufzusuchen,  m i t 
Gewalt  auf  dem  Lande  festhielt  und  den  schlechtesten 
Bedingungen  unterwarf.  Jedenfalls  zeigte  es  sich  in  derZeit 

')  Vgl.  z.  B.  H.  Trcmayne,  Protection  and  the  Farmer.  London  1903.  S.  96. 


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5io 


Hermann  I.cvy, 


von  1760  bis  1846  deutlich,  dafs  der  Anbau  der  schlechten  und 
schlechtesten  Böden  zur  Deckung  des  heimischen  Getreidebedarfs 
nicht  imstande  war,  den  Landarbeitern  Beschäftigung  und  Löhne  zu 
verschaffen,  wie  sie  ihren  bescheidensten  Ansprüchen  entsprochen 
hätten.  Andererseits  sahen  wir,  dafs  von  der  Zeit  ab,  wo  England 
nur  mehr  da  Getreide  baute,  wo  es  unter  fast  denselben  Kosten 
wie  auf  den  jungfräulichen  Böden  Amerikas  produziert  werden 
konnte,  der  Landarbeiter  bei  sinkenden  Kosten  seiner  Ernährung 
steigende  Geldlöhne  bezog  und  seine  I-age  von  Jahr  zu  Jahr  ver- 
besserte. Die  Ursache  dieser  verbesserten  Lage  aber  war  die  Ab- 
wanderung. Anstatt  den  unfruchtbaren  Boden  zu  bebauen,  der  bei 
Mehraufwand  von  Kapital  und  Arbeit  nur  relativ  abnehmende  Er- 
träge lieferte,  strömen  nunmehr  die  Arbeiter  in  die  Städte,  um  dort 
dasjenige  zu  produzieren,  was  immer  zu  denselben  oder  gar  ab- 
nehmenden Kosten  produziert  werden  kann.  Indem  sie  diese 
Produkte  gegen  das  billige  Getreide  des  Auslandes  eintauschen, 
sind  sie  imstande  sich  zu  ernähren  und  ihre  Lebenslage  zu  bessern. 

Wir  wollen  nicht  erörtern , ob  Kornzölle  den  englischen 
Landwirten  helfen  würden.  Kein  Land  hat  die  Schädlichkeit  von 
Getrcidezöllcn  und  besonders  ihre  schädigende  Wirkung  auf  die 
Lage  der  Landwirte  so  gründlich  erprobt  wie  England.  Aber  setzen 
wir  voraus,  es  gelänge  durch  Kornzölle  wieder  die  unfruchtbaren 
Ackerböden,  die  man  in  den  letzten  Jahrzehnten  aufgegeben  hat, 
anzubauen.  Sicherlich  würden  dann  absolut  mehr  Arbeiter  in  der 
Landwirtschaft  Beschäftigung  finden  als  jetzt,  sicherlich  würden  mehr 
auf  dem  Lande  bleiben  — aber  sicherlich  nur,  weil  mit  der  Ein- 
führung des  Zollschutzes  der  Abflufs  in  industrielle  Berufe  nicht 
mehr  so  stark  sein  würde  als  jetzt.  Sic  würden  gezwungen 
bleiben.  Und  mit  Recht  fragt  Wilson  Fox:  „Unter  welchen 
Bedingungen  sollen  die  Arbeiter  auf  dem  Lande  bleiben?  In 
gröfseren  Massen,  überfüllten  Häusern,  niedrigen  Löhnen  und  un- 
regelmäfsiger  Beschäftigung  oder  in  geringerer  Zahl  und  unter  den 
entgegengesetzten  Lebensbedingungen?  Ist  letzteres  der  Fall,  wenn 
der  Pächter  oder  wenn  der  Arbeiter  das  Uebergewicht  auf  dem 
Arbeitsmarktc  hat  ?“  Kornzölle  einführen  aber  hiefse  nichts  weiter 
als  durch  eine  künstliche  Beschränkung  der  Landflucht  den  Arbeits- 
markt zu  Gunsten  des  Landwirts  und  zu  Ungunsten  des  Arbeiters 
beeinflussen. 

Ist  cs  nun  möglich,  dem  Lande  seine  Bevölkerung  zu  erhalten, 
ohne  dafs  jene  schädlichen  Folgen  eintreten  würden,  wie  sie  einst 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England.  5 I £ 

das  englische  Schutzzollsystem  gezeitigt  hat  und  wieder  zeitigen 
würde,  wenn  man  es  von  neuem  einführte  ? Ist  die  Erhaltung  der 
Landbevölkerung  ohne  Anwendung  künstlicher  Mittel  möglich  und 
zwar  so  möglich,  dafs  sie  eine  materielle  und  kulturelle  Besserung 
ihrer  Lage  bedeutet  ? YVir  zweifeln  nicht  daran.  Aber  wie  soll  dies 
geschehen  ? 

Wir  haben  gesehen,  dafs  die  starke  Entwicklung  der  Land- 
flucht zu  der  Zeit  in  England  begann,  als  man  den  Landarbeiter 
von  einem  kleinen  Pächter  oder  Bodeneigentümer  zum  besitzlosen 
Tagelöhner  machte.  Nicht  als  ob  die  damalige  Entwicklung  des 
englischen  Grofsbetriebs  in  der  Landwirtschaft  die  einzige  Ursache 
für  die  steigende  Abwanderung  gewesen  wäre.  Die  Anziehungs- 
kraft der  Städte  und  Industrie  war  gewifs  die  Haupttriebfeder  für 
die  Landflucht.  Aber  ebenso  gewifs  hätte  die  Abwanderung  im 
18.  und  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  niemals  den 
starken  Grad  erreicht,  wenn  die  Zahl  der  kleinen  Landwirte  nicht 
durch  das  Zusammenschlagen  der  Pachtgüter,  den  Verlust  der 
Parzellen  und  durch  die  Einhegungen  beständig  vermindert  worden 
wäre.  Auch  die  englischen  Kleinbauern  gingen  in  jener  Zeit  zu 
Grunde.  Sie  verkauften  ihren  Kleinbesitz,  um  grofse  Güter  zu 
pachten.  Denn  es  war  bei  den  steigenden  Getreidepreisen  rentabler 
geworden,  ein  grofser  Pächter  als  ein  kleiner  Bauer  zu  sein. ') 
Hatten  aber  auf  dem  kleinen  Bauerngut  der  Bauer  und  seine  Söhne 
die  Hauptarbeit  verrichtet,  so  hatte  der  zum  Grofspächter  gewordene 
Bauer  nurmehr  die  Leitung  des  Gutes  zu  besorgen.  Die  Arbeit 
verrichteten  Lohnarbeiter,  und  seine  Söhne  benötigte  er  nicht  mehr. 
Sie  konnten  Kaufleute,  kleine  Fabrikbesitzer  u.  s.  w.  werden,  also 
in  die  Städte  abwandern. 

All  diese  Umstände  haben  die  Abwanderung  enorm  verstärkt. 
Die  steigende  Rentabilität  des  Getreidebaues  im  Grofsen  schuf  den 
landwirtschaftlichen  Grofsbetrieb.  Der  landbesitzende  oder  land- 
pachtende  Arbeiter  mufste  seine  Scholle  hergeben,  der  kleine  Bauer 
verkaufte,  die  kleinen  Pächter  wurden  durch  grofse  ersetzt.  Heut- 
zutage, wo  der  Getreidebau  in  England  immer  mehr  an  Rentabilität 
einbüfst,  bedauert  der  Grundbesitzer,  dafs  seine  Vorfahren  die  kleinen 
Güter  zu  wenigen  grofsen  zusammenschlugen.  *)  Sie  rissen  die 

*)  Vgl.  meinen  Aufsatz:  „Der  Untergang  kleinbäuerlicher  Betriebe  in  England“ 
in  Conrads  Jahrbüchern,  August  1903.  Heft  II,  S.  145  flf. 

T)  Vgl.  Report  Small  Holdings  1889,  qu.  53,  desgl.  Shaw  Lcfcvre,  Agraria n 
Tcnurcs.  London  1893,  S.  39- 


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Hermann  L e v y , 


kleinen  Farmhäuser  nieder  und  ihre  Nachkommen  scheuen  vor  den 
Ausgaben  zurück,  um  sie  wieder  aufzurichten.  Dennoch  er- 
scheint es  unzweifelhaft,  dafs  mit  der  steigenden 
Rentabilität  der  Viehzucht  und  Kleinkultur  die 
Chance  für  den  Kleinbetrieb  zu*,  die  für  den  Grofs- 
betrieb  abnimmt.  Es  erscheint  immer  wünschenwerter , den 
kapitalintensiven  Grofsbetrieb  durch  einen  arbeitsintensiven  Klein- 
betrieb zu  ersetzen.  So  gewinnt  der  Kleinbetrieb  ökonomisch  immer 
mehr  an  Bedeutung. 

Seine  sozialpolitischen  Vorteile  aber  sind  unbestreitbar.  Der 
I^andarbeiter,  der  seinen  Garten  hat  und  ein  Stück  Weide  mit  ein 
oder  zwei  Kühen,  einige  Schweine,  Hühner  und  Gänse  u.  s.  w.  be- 
sitzt, wird  ungleich  lieber  auf  dem  Lande  bleiben  als  der  besitzlose 
Tagelöhner.  Seine  landwirtschaftliche  Beschäftigung  auf  dem  eigenen 
oder  wenigstens  für  eigenen  Vorteil  bewirtschafteten  Boden  ist  ihm 
eine  Freude  und  Erholung  in  weit  gröfserem  Mafse  als  die  Abend- 
und  Nachmittagunterhaltungen  der  Stadt,  bei  denen  er  seine  er- 
sparten Gelder  wieder  hergiebt.  Andererseits  hat  er  die  berechtigte 
Hoffnung  vor  Augen,  durch  F'leifs  und  Sparsamkeit  sich  zu  einem 
„kleinen  Pächter“  aufzuschwingen.  Durch  die  Bewirtschaftung  eines 
eigenen  oder  gepachteten  Stückchen  landes  fühlt  er  sich  unabhängig 
und  weit  über  jenem  Arbeiter,  der  lediglich  auf  dem  Gute  des 
Grofspächters  arbeitet. 

Man  hat  nun  aus  zwei  Gründen  gemeint,  dafs  die  Ausbreitung 
der  Parzellenbetriebe  oder  Allotments  keine  Zukunft  hätte.  Einmal 
wandte  man  sich  gegen  die  ökonomische  Leistungsfähigkeit  der 
Allotments.  So  hat  z.  B.  Graham  in  seinem  bekannten  VV'erke  ein 
ziemlich  ungünstiges  Urteil  über  die  Parzellenbetriebe  gefällt.  Er 
hat  jedoch  in  erster  Linie  von  Parzellenbetrieben  gesprochen,  in 
denen  Ackerbau  getrieben  wird.1)  Und  es  ist  in  der  That  der  Acker- 
bau die  schwächste  Seite  des  Parzellenlandwirts.  Die  Erfolge,  die  man 
einst  von  der  Spatenkultur  für  den  Getreidebau  erwartete,  sind  im 
grofsen  Ganzen  ausgeblieben.  Will  aber  der  kleine  Parzellenlandwirt 
seinen  Acker  pflügen,  so  mufs  er  in  der  Regel  Pferd  und  Gerät- 
schaften von  dem  gröfseren  Nachbargut  mieten.  Ob  sich  in  England  für 
solche  kleinen  Ackerbauparzellen  Genossenschaften  zum  Ausleihen 
von  Pferden,  Pflügen  und  Gerätschaften  organisieren  lassen,  ist  frag- 
lich, auch  darin  möchte  ich  Graham  recht  geben.  Aber  der  Acker- 

*)  Vgl.  Graham  a.  a.  O.  S.  119  u.  HO. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England.  ^ j ^ 

bau  ist  ja  gar  nicht  die  Domäne  des  kleinen  Landwirts.  Sein 
Hauptproduktionsgebiet  ist  die  Viehzucht  und  die  Klein- 
k u 1 1 u r.  In  diesen  Produktionszweigen  ist  der  Arbeitseifer  und  die 
Arbeitsintensität  des  kleinen  Wirtes  ein  Vorteil,  den  der  grofse 
Landwirt  durch  Kapital,  Maschinerie  u.  s.  w.  nicht  ersetzen  kann. 
Aber  freilich  mit  der  Arbeitsintensität  allein  ist’s  nicht  gethan. 
Diesem  Vorteil  des  Kleinbetriebs  stehen  Nachteile  gegenüber,  welche 
der  Grofsbetrieb,  wenn  er  sich  mit  der  Viehzucht  und  Kleinkultur 
befafst,  nicht  aufweist.  Die  Nachteile  des  Kleinbetriebs  liegen  in 
der  mangelhaften  Art,  wie  er  seine  Produkte  absetzt.  Solange  der 
Kleinbetrieb  kleine  Quantitäten  an  die  nachbarliche  Bevölkerung 
detailistisch  verkauft,  ist  er  jedenfalls  in  der  Molkereiwirtschaft,  dem 
Gemüse-  und  Obstbau  u.  s.  w.  dem  Grofsbetrieb  zumindest  gleich- 
gestellt. Sobald  er  aber  für  grofse  Absatzmärkte  produziert,  unter- 
liegt er  der  Konkurrenz  des  Grofsbetricbs,  der  im  grofsen  produ- 
ziert und  im  grofsen  verkauft.  Es  bezieht  sich  dies  vor  allem  auf 
diejenigen  Produktionszweige,  die  in  der  Verwertung  tierischer  Pro- 
dukte bestehen,  und  ebenso  auf  den  Obst-  und  Gemüsebau,  auf 
die  Geflügel-  und  Schweinezucht  und  auf  den  Eierverkauf.  Einer- 
seits hat  der  Kleinbetrieb,  z.  B.  in  der  Butterproduktion,  nicht  die 
nötigen  Maschinen,  wie  z.  B.  Pintrahmungsmaschinen,  um  eine  gleich- 
mäfsige  gute  Ware  regelmäfsig  zu  versenden.  Andererseits  hat  er 
bei  dem  Versand  weit  gröfscre  Unkosten  als  der  grofse  Landwirt, 
der  grofse  Quantitäten  sendet.  Die  natürliche  Folge  ist,  dafs  die 
ganz  kleinen  Landwirte  in  England  heute  nur  einen  lokalen  Absatz- 
markt haben,  der  oft  überfüllt  ist,  ohne  dafs  ein  Abflufs  für  die 
überflüssigen  Produkte  vorhanden  ist.  Aber  dieser  Nachteil  läfst 
sich  nun  vortrefflich  durch  genossenschaftliches  Vorgehen  beseitigen. 
Die  Molkereigenossenschaft  ermöglicht  es  selbst  dem  kleinsten  Land- 
wirt, der  vielleicht  nur  eine  Kuh  hat,  seine  Butter  ebenso  weit  zu 
versenden  wie  der  gröfste,  oder  seine  Milch  sterilisiert  zu  verschicken 
oder  aus  den  entlegensten  Grafschaften  den  Londoner  Markt  mit 
vorzüglichem  Rahm  zu  versorgen.  Ebenso  bietet  ihm  das  genossen- 
schaftliche Vorgehen  die  Möglichkeit,  seine  sonstigen  Produkte  im 
Zusammenschlufs  mit  anderen  in  grofsen  Massen  und  zu  ebenso 
billigen  Frachtsätzen  zu  versenden  wie  der  Grofslandwirt.  Die  ge- 
nossenschaftliche Organisation  bietet  dem  kleinsten  Landwirt  die- 
selbe Chance  in  Bezug  auf  Produktion  und  Absatz  im  grofsen,  wie 
sie  der  grofse  Landwirt  hat,  und  dazu  kommt  der  Vorteil,  dals  der 
Kleinbetrieb  den  Grofsbetrieb  durch  intensivere  Arbeitsleistung  über- 


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5 »4 


Hermann  Lcvy, 


trifft.  Die  ökonomischen  Eigenschaften  des  Kleinbetriebs,  der  sich 
auf  genossenschaftlicher  Basis  organisiert,  bieten  also  allen  Anlafs, 
an  eine  glänzende  Entwicklung  desselben  zu  glauben.  Und  es  ist 
in  hohem  Grade  erfreulich,  wie  erfolgreich  die  englische  Agricultural 
Organization  Society  den  Gedanken  des  kooperativen  Zusammen- 
schlusses schon  vielen  kleinen  und  kleinsten  Landwirten  beizubringen 
verstanden  hat. 

Aber  wir  wollen  noch  einen  anderen  Einwand  gegen  die 
Parzellenbetriebe  der  Landarbeiter  hören.  Er  ist  alt.  Man  sagt, 
der  Arbeiter  werde  durch  die  Arbeit  auf  dem  eigenen  Boden  zu 
sehr  von  der  Arbeit  auf  dem  fremden  Gute  abgelenkt.  Der  grofse 
Pächter  werde  ihn  daher  fortschicken,  während  andererseits  das 
Gut  des  Arbeiters  zu  klein  sei,  um  ihn  vollständig  zu  erhalten. 
Dieser  Einwand  verträgt  sich  wenig  mit  der  lauten  Klage  der 
Pächter  nach  Arbeitern.  Sollte  es  ihnen  nicht  doch  vielleicht  auf 
die  Dauer  lieber  sein,  einen  ständigen  Arbeiter  zu  haben,  auf  den 
sie  sich  verlassen  können  und  der  ihr  Gut  kennt,  als  jeden  be- 
liebigen Arbeiter,  dessen  sie  gerade  habhaft  werden?  Und  während 
sie  gerade  nach  jungen  Arbeitskräften  suchen  und  behaupten,  nur 
die  alten  Leute  blieben  noch  auf  dem  I .and,  wäre  es  nicht  Vorteils 
genug,  wenn  die  Parzellenbetriebe  ihnen  wieder  junge  Arbeitskräfte 
lieferten?  Und  würden  diese  jungen  Arbeiter,  trotzdem  sie  eigenes 
Land  hätten,  nicht  auf  den  grofsen  Gütern  besser  arbeiten  als  die 
alten  I.ohnarbeiter  ohne  Land?  Es  ist  nicht  nur  in  Deutschland 
der  Fall,  dafs  der  Landwirt  in  einem  gewissen  patriarchalisch-feuda- 
listischen Verhältnis  zu  seinen  Arbeitern  stehen  möchte,  obschon 
es  in  der  englischen  Sprache  kein  „Du"  und  „Sie“  giebt.  Der 
englische  Landwirt  sieht  es  oft  ungern,  dafs  seine  Arbeiter  auch 
„halbe“  Landwirte  sind.  Aber  er  hat  nunmehr  nur  die  Wahl: 
Arbeiter  mit  Land  oder  Land  — ohne  Arbeiter. 

Ueberall  besteht  in  England  eine  starke  Nachfrage  nach  Allot- 
ments oder  Parzellenbetrieben.  Die  kleinen  Güter  bringen  aner- 
kannterweise eine  weit  höhere  Pachtrente  pro  Acre  als  grofse 
Güter.1)  Auch  zeigt  die  Betriebsstatistik  von  1895  eine  Zunahme 
der  kleinen  Güter  gegen  derjenigen  von  1885. 3)  Die  Parzellen- 
betriebe unter  I Acre  (0,45  ha)  haben  sich  in  der  Zeit  von 

!)  Vgl.  Report  Small  Holdings  qu.  625  ff. 

*)  Vgl.  Returns  as  to  the  number  and  size  of  agricultural  holdings  in  the  ycar 
1895  p.  XIV. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England.  ij  j ij 

1873  bis  1895  sogar  von  242542  auf  473714,  also  fast  um 
iooui0  vermehrt.1)  Diese  Parzellenbetriebe  aber  werden  freilich 
keineswegs  immer  von  I .andarbeitern  bewirtschaftet.  Kleine  Hand- 
werker, zurückgezogene  Kaufleute,  Fabrikarbeiter  u.  s.  w.  bilden 
vielleicht  noch  einen  gröfseren  Prozentsatz  der  Bewirtschafter  jener 
Allotments.  Daher  haben  jene  Zahlen  für  unsere  Betrachtung 
nicht  eine  vollwertige  Bedeutung.  Auch  wäre  es  wünschenswert, 
einige  Aufschlüsse  über  die  Allotments  von  I,  2 und  3 Acres  zu 
besitzen,  die  landwirtschaftlich  bedeutsamer  sind.  Dafs  der  Land- 
arbeiter ein  leidenschaftlicher  Freund  der  Allotments  ist,  kann  nicht 
geleugnet  werden.  Auch  die  englische  Regierung  gelangte  zu  der 
Ueberzeugung,  dafs  angesichts  der  grofsen  Nachfrage  nach  Allot- 
ments, besonders  von  seiten  der  Landarbeiter,  etwas  für  die  Ent- 
wicklung der  Parzellenbetriebe  gethan  werden  müsse.  Auf  beson- 
deres Betreiben  von  Joseph  Chamberlain  und  Jesse  Collings  gingen 
im  Jahre  1887  und  im  Jahre  1890  Gesetze  durch,  welche  die  Bil- 
dung von  Parzellenbetrieben  durch  Vermittlung  der  Lokalbehörden 
erleichtern  sollten.  Auch  der  Small  Holdings  Act  von  1892,  der 
hauptsächlich  die  Wiederbelebung  eines  Bauernstandes  bezweckte, 
sollte  ein  Mittel  bilden,  um  die  Abwanderung  vom  Lande  einzu- 
schränken. Mr.  Chaplin,  der  damalige  Landwirtschaftsminister,  er- 
klärte ausdrücklich, s)  als  er  die  Bill  einbrachte,  man  könne  die 
Landflucht  dadurch  einschränken,  dafs  man  der  Landbevölkerung 
mehr,  als  es  jetzt  der  Fall  sei,  Gelegenheit  gäbe,  in  ihrem 
eignen  Interesse  und  für  ihren  eigenen  Nutzen  auf  dem 
Lande  zu  arbeiten.  Auch  die  jungen  Leute  würden  viel  gröfserc 
Lust  empfinden,  auf  dem  Lande  zu  bleiben,  wenn  sie  die  Aussicht 
hätten,  durch  ihren  eigenen  Fleifs  einmal  ein  kleines  Gut  zu  über- 
nehmen. 

Im  allgemeinen  aber  hat  weder  der  Allotments  Act  und  noch 
weit  weniger  der  Small  Holdings  Act  die  Erfolge  gehabt,  die  man 
wünschte.  Weit  mehr  als  der  Staat  oder  die  Lokalbehörde  kann 
der  Grundbesitzer  und  der  Pächter  thun.  Aber  nur  zu  oft  ist  der 
grofse  Pächter  der  Entwicklung  von  Allotments,  wie  wir  hörten, 
feindlich  gesinnt.  Ja  es  mag  sogar  häufig  Vorkommen,  dafs  der 
Grofspächter  seinen  Einflufs  in  der  Lokalverwaltung  dazu  benutzt, 
die  Bildung  von  Parzellenbctrieben  zu  verhindern,  wo  eine  Anwen- 

*)  Vgl-  ebenda  S.  62. 

*)  Vgl.  G.  Shaw  Lcfevrc  a.  a.  O.  S.  79 — 80. 


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5r6 


Hermann  L e v y , 


düng  der  genannten  Gesetze  erwünscht  wäre.  Dies  ist  sicherlich 
ein  Grund,  weshalb  die  Erfolge  des  Allotment-Aktes  nicht  den  Er- 
wartungen voll  entsprachen.  Andererseits  steht  der  Güteragent  des 
Grundbesitzers  in  der  Regel  dem  Grofspächter  näher  als  dem 
kleinen  Landwirt  oder  Arbeiter.  Der  Güteragent  aber,  der  für  den 
Grundbesitzer  den  Pachtvertrag  mit  dem  Pächter  abschlielst  und 
alle  anderen  Geschäftsfragen  regelt,  hat  wiederum  einen  nicht  zu 
unterschätzenden  Einflufs  auf  die  Entschlielsungen  des  Grundbe- 
sitzers. Da  aber  in  England  der  Grundbesitz  nicht  nur  kapi- 
talistischer Eigenschaften  wegen  begehrt  wird,  sondern  noch  weit 
mehr  als  in  anderen  lindern  um  der  sozialen  und  politischen  Vor- 
teile willen,  so  spielt  die  ökonomische  Notwendigkeit  in  den  Ent- 
schliefsungen  des  Grundbesitzers  nicht  immer  die  Hauptrolle.  Wären 
die  Grundbesitzer  lediglich  Kapitalisten,  so  hätten  sie  sicherlich  in 
weit  gröfserem  Mafsstabe  die  Bildung  von  Kleinbetrieben  und 
Allotments  gefördert.  Aber  nur  wenige  kümmern  sich  um  der- 
gleichen. Sie  haben  kein  Interesse  lur  derartige  „Experimente“, 
wie  die  Verkleinerung  der  Betriebe  oder  die  Bildung  von  Parzellen- 
wirtschaften. Sie  überlassen  die  Kontrolle  über  ihre  Güter  einem 
Güteragenten.  Dieser  aber  hat  lieber  mit  einigen  Grofspächtern 
zu  thun  als  mit  vielen  kleinen  Leuten,  die  in  jedem  Monat  mit  einem 
anderen  Anliegen  kommen.  So  wird  der  natürliche  ökonomische 
Entwicklungsprozefs  der  Dinge  gehemmt.  Aber  dennoch  wird  die 
Landflucht  nicht  eher  eingeschränkt  werden,  als  der  Landarbeiter, 
wie  Aldermann  Winfrey  ganz  richtig  bemerkt,1)  „etwas  besitzt, 
was  über  den  Wochenlohn  vom  Samstag  Abend  hinausgeht“.  Wo 
die  Entwicklung  der  Parzellen-  und  Kleinbetriebe  voranschreitet, 
da  wächst  auch  die  Zahl  der  auf  dem  Lande  wohnenden  Bevöl- 
kerung. Um  nur  ein  Beispiel  zu  erwähnen,  das  Sir  Robert  Edg- 
cumbe  im  Jahre  1902  veröffentlichte.  „Ich  will  nur  weniges  über 
die  Vorteile  kleiner  Güter  mit  Rücksicht  auf  die  ländliche  Be- 
völkerungsfrage sagen,“  so  erklärte  cr.s)  „Als  ich  das  Gut  (Rew 
Farm,  Dorchester,  Dorset)  im  Jahre  1888  kaufte,  lebte  der  Pächter 
auf  demselben  mit  3 Arbeitern  und  ihren  Familien.  Damals  war 
die  Bevölkerung  auf  dem  Gute  21.  Seit  jener  Zeit  haben  ver- 
schiedene Käufer  14  Häuser  erbaut  und  aufserdem  sind  die  vier 


ä]l  Vgl.  Report  of  Procecdings  at  the  fifth  Congress  of  the  International 
Cooperative  Alliance.  London  1902,  S.  343. 

’)  Kbenda  S.  369  u.  367. 


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Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 

Arbeiterhäuser  und  das  Gutshaus  der  Besitzung  ebenfalls  bewohnt 
und  zwar  die  4 Arbeiterhäuser  von  4 getrennten  kleinen  Eigen- 
tümern und  ihren  Familien.  So  beträgt  jetzt  die  Bevölkerung  auf 
dem  Gute  ungefähr  80  Seelen  und  wird  weiter  wachsen,  wenn 
weitere  Häuser  gebaut  werden.“  Weiter  erklärte  er:  „Die  kleinen 
Landwirte  (überwiegend  Landarbeiter)  der  Rew  Farm  drückten  ihre 
völlige  Zufriedenheit  mit  ihrer  Lage  aus  und  beständig  werde  ich 
gefragt:  „Wann  wird  ein  anderes  Gut  in  kleinen  Parzellen  verkauft, 
der  und  der  möchte  gern  ein  Stückchen  Land  haben  r"  Wenn 
solche  Unternehmungen  in  den  letzten  Jahren  in  der  englischen 
Landwirtschaft  in  grofsem  Mafsstabe  stattgefunden  hätten,  so  hätte 
dies  die  Abnahme  der  ländlichen  Bevölkerung  zu  hemmen  ver- 
mocht. Dafs  aber  für  solche  Unternehmungen  auf  breiter  Basis 
Platz  genug  ist,  das  ergiebt  sich  aus  der  einfachen  Thatsache,  dafs 
wir  jährlich  kleinere  landwirtschaftliche  Produkte  im  Wert  von 
36000000  £ importieren,  nämlich  Eier,  Käse,  Hühner,  Enten, 
Schinken,  Speck  u.  s.  w.“ 

Wir  sehen : nachdem  ein  Jahrhundert  lang  der  landwirtschaft- 
liche Grofsbesrieb  und  der  besitzlose  Landarbeiter  das  Charak- 
teristikum der  englischen  Betriebsverfassung  gewesen  ist,  beginnt 
nunmehr  eine  Reaktion,  eine  Rückkehr  zu  jener  Agrarverfassung, 
in  der  die  Mehrzahl  der  in  der  Landwirtschaft  Thätigen  selbständige 
oder  teilweise  selbständige  Landwirte  waren.  Der  Umwandlungs- 
prozefs  vollzieht  sich  natürlich  sehr  langsam.  Die  ökonomische 
Voraussetzung  dieser  Umwandlung,  die  sinkende  Rentabilität  des 
Getreidebaues  im  grofsen,  die  steigende  Rentabilität  von  Viehzucht 
und  Kleinkultur  ist  in  England  gegeben,  solange  es  daran  festhält, 
dem  Getreidebau  keinen  künstlichen  Schutz  zu  gewähren.  Von 
dem  Augenblick  an,  wo  der  Arbeiter  mehr  für  sein  Brot  bezahlen 
müfcte,  würde  die  Konsumtion  von  Fleisch,  Eiern,  Milch,  Butter  u.  s.  wT. 
eine  Einschränkung  erfahren,  während  gerade  die  gesteigerte  Kon- 
sumfahigkeit  der  Arbeiterbevölkerung  für  diese  Artikel  die  land- 
wirtschaftliche Produktion  des  Kleinbetriebes  begünstigt.  Weiter 
aber  mufs  das  Genossenschaftswesen  in  England  zur  Entfaltung  ge- 
langen, um  die  Ökonomische  Leistungsfähigkeit  der  kleinen  Land- 
wirte zu  erhöhen  und  sie  ihren  ausländischen  Konkurrenten,  die 
genossenschaftlich  organisiert  sind,  gleich  zu  stellen.  Schliefslich 
aber  ist  es  nötig,  dafs  die  Grundbesitzer  zu  der  Erkenntnis  ge- 
langen, dafs  es  ihre  moralische  Pflicht  ist,  ihr  Land  so  zu  ver- 
werten, wie  es  dem  Volk  den  größtmöglichsten  wirtschaftlichen 


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:}l8  Hermann  Levy,  Landarbeiterfrage  und  Landflucht  in  England. 

Nutzen  gewährt.  Sie  sollen  es  an  diejenigen  verpachten,  die  unter 
den  heutigen  wirtschaftlichen  Grundbedingungen  das  meiste  aus 
dem  I^and  herauszuarbeiten  imstande  sind.  Nichts  erscheint  er- 
wünschter, als  wenn  die  reichen  Grundbesitzer  Englands  dem 
Streben  nach  dem  gröfstmöglichsten  Gewinn  mehr  huldigen 
würden , wenn  sie  lediglich  die  kapitalistische  Bedeutung  ihres 
Grundbesitzes  im  Auge  hätten.  Anstatt  das  Land  aus  Bequem- 
lichkeit, Unkenntnis  oder  gesellschaftlichen  Gründen  an  grol'se 
Pächter  zu  vergeben  und  diesen  allerlei  pekuniäre  Konzessionen  zu 
machen,  um  die  abnehmende  Rentabilität  ihrer  Grofsbetriebe  zu 
stützen,  sollten  sie  es  an  die  kleinen  Leute  geben,  da  wo  deren 
Betriebe  heute  ökonomisch  bessere  Chancen  haben  als  die  des 
grofsen  I^mdwirts.  Dann  würden  sie  sich  dem  schweren  Vorwurf 
entziehen,  dafs  sie  die  Rentabilität  der  Landwirtschaft  aus  Nach- 
lässigkeit oder  des  Luxus  wegen  verringert  haben,  indem  sie  einen 
ökonomisch  rückständigen  Betrieb  aus  nichtkapitalistischen  Gründen 
begünstigten.  Sie  haben  eines  der  Mittel  in  der  Hand,  um  das 
englische  Volk  dem  Lande  zurückzugewinnen. 


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Wohlfahrtseinrichtungen  der  Arbeitgeber. 

Von 

Dr.  PAUL  MOMBERT 

in  Karlsruhe  i.  B. 


Unter  Wohlfahrtseinrichtungen  wird  man  im  allgemeinen  die- 
jenigen Anstalten  verstehen,  die  ohne  einen  öffentlich  rechtlichen 
Anspruch  zu  gewähren,  das  Ziel  verfolgen,  die  wirtschaftliche  und 
soziale  Lage  der  unbemittelten  Volksschichten  zu  bessern.  Im  Hin- 
blick auf  die  Stellung  der  Unterstützten  zu  den  Trägern  dieser 
Einrichtungen  lassen  sich  zwei  Formen  derselben  unschwer  unter- 
scheiden. 

Einmal  kann  die  Verbindung  beider  lediglich  in  dem  rein 
äufserlichen  Moment  bestehen,  dafs  der  eine  Teil  die  Unterstützungen 
erhält,  die  von  dem  anderen  ausgegangen  sind ; ob  dies  letztere  der 
Staat,  die  Gemeinde,  irgend  eine  Korporation  oder  ein  Privater 
sind,  ist  für  die  ökonomische  Lage  der  Unterstützten  ohne  wesent- 
liche Bedeutung. 

Dieser  ersteren  Form  der  Wohlfahrtseinrichtungen , die  ein 
rein  charitatives  Gepräge  trägt,  steht  nun  aber  eine  andere  gegen- 
über, die  sich  dadurch  auszeichnet,  dafs  der  Träger  dieser  Anstalten 
zugleich  der  Arbeitgeber  der  Unterstützten  ist. 

Während  im  erstgenannten  Falle,  die  soziale  Bedeutung  dieser 
Einrichtungen  lediglich  darin  besteht,  dafs  sie  unmittelbar  zur 
Hebung  der  wirtschaftlichen  und  sozialen  Lage  der  Unterstützten 
beitragen,  ist  bei  den  letztgenannten  noch  eine  andere  Wirkung 
festzuhalten. 

Sobald  nämlich  derartige  Anstalten  vom  Arbeitgeber  selbst 
ausgehen,  kann  unter  Umständen  das  Vertragsverhältnis,  in  dem 


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520 


Paul  Mombert, 


der  Arbeiter  zu  jenem  steht,  in  sehr  hohem  Grade  beeinflufst 
werden. 

Im  folgenden  soll  nur  von  diesen  letztgenannten,  die  kurz  als 
„Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen  — denn  zum  Unterschied  von  den 
ersteren  erstrecken  sie  sicl|  lediglich  auf  Arbeiter  und  ihre  An- 
gehörige — bezeichnet  werden  sollen,  die  Rede  sein. 

Die  Rechtfertigung  für  eine  derartige  Untersuchung  liegt  darin, 
dafs  gerade  neuerdings  wieder  diese  Einrichtungen  in  starker  Zu- 
nahme begriffen  sind,  und  dafs  in  sehr  vielen  Kreisen  immer  noch 
die  Ansicht  sehr  verbreitet  ist,  auf  diesem  Wege  Erspriefsliches  zur 
Lösung  der  „Arbeiterfrage“  beizutragen.  *) 

Darüber  kann  kein  Zweifel  bestehen,  dafs  der  einzelne  Arbeit- 
geber es  in  hohem  Grade  in  der  Hand  hat,  durch  seine  individuelle 
Einwirkung  einen  günstigen  Einflufs  auf  die  Lage  seiner  Arbeiter 
auszuüben,  ebensowenig  wie  darüber,  dafs  auf  diesem  Wege  schon 
manches  Gute  geschaffen  worden  ist  und  noch  viel  mehr  ge- 
schaffen werden  kann. 

Es  wäre  aber  mehr  als  voreilig,  nun  ohne  weiteres  eine  jede 
sogen.  Arbeiterwohlfahrtseinrichtung  seitens  des  Arbeitgebers  als 
eine  Wohlthat  für  seine  Angestellten  zu  begrüfsen  und  in  ihr 
kritiklos,  wie  es  nur  allzuhäufig  geschieht,  einen  neuen  Schritt  auf 
dem  Wege  sozialer  Reform  zu  erblicken.  Man  darf  derartige  An- 
stalten nicht  allein  nach  der  Wirkung  beurteilen,  die  sie  auf  die 
Lage  speziell  der  Arbeiter  haben,  denen  sie  gerade  zugute  kommen; 
eine  derartige  Kirchturmspolitik  ist  hier  nicht  am  Platze. 

Will  man  in  dieser  Frage  klar  sehen,  und  die  Möglichkeit  haben, 
die  Spreu  von  dem  Weizen  zu  sondern,  so  mufs  man  die  Rolle  be- 
trachten, welche  diese  Einrichtungen  — nicht  dem  einzelnen  Ar- 


*)  So  kann  man  in  einer  neuerdings  erschienenen  Schrift  folgenden  Satz 

lesen : 

„Nur  bei  immer  weiterer  Entfaltung  der  von  dem  Prinzip  der  Charitas  durch- 
drungenen privaten  Reformbestrebungen  wird  der  grofsherzige  und  fruchtbare  Ge- 
danke der  Sozialreform,  welcher  eine  unversiegbare  Quelle  des  Trostes  und  der 
Hoffnung  für  die  Arbeiter  ist,  auch  für  die  fernere  Zukunft  zur  Lösung  der  Frage 
der  Arbeit  und  zur  Beseitigung  und  zur  Verhütung  dos  Elends  beitragen.“ 

(Rollek  und  Ziegler,  Private  Wohlfahrtspflege  für  Fabrikarbeiter,  Beamte 
und  ihre  Familien  . . . 1902,  herausgegeben  vom  Bcrgischen  Verein  für  Gemeinwohl 
S.  XIX).  Wo  im  folg,  auf  die  Bergischc  Stahlindustricgesellschaft  Bezug  genommen 
wird,  ist  dieses  Buch  als  Quelle  benutzt. 


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Wohlfahrtseinrichtungcn  der  Arbeitgeber.  £21 

beiter  gegenüber  — sondern  im  Rahmen  der  gesamten  Arbeiter- 
frage überhaupt  spielen.  *) 

Es  ist  bekannt,  dafs  ein  guter  Teil  dessen,  was  man  heute 
gemeinhin  als  Arbeiterfrage  zu  bezeichnen  pflegt,  seine  Haupt- 
ursache in  der  schwachen  ökonomischen  Position  hat,  in  der  der 
Arbeiter  sowohl  beim  Abschlufs  des  Arbeitsvertrags  als  auch  wäh- 
rend der  ganzen  Dauer  des  Arbeitsverhältnisses  sich  dem  Arbeit- 
geber gegenüber  befindet. 

Die  Gründe  dafür  sind  zu  bekannt,  als  dafs  sie  hier  noch  ein- 
mal wiederholt  zu  werden  brauchten. 

Wenn  mar  heute  allgemein  die  Verelendungstheorie  zum  alten 
Eisen  geworfen  hat,  wenn  man  heute  mit  Fug  und  Recht  von 
einem  Aufsteigen  der  Arbeiterklasse  reden  kann,  so  hat  dies  seine 
vornehmste  Ursache  darin,  dafs  es  der  Arbeiterschaft  durch  engen 
Zusammenschlufs  und  durch  einheitliches  planmäfsiges  Vorgehen 
gelungen  ist,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ihre  ökonomische 
Stellung  dem  Arbeitgeber  gegenüber  zu  kräftigen.  Wenn  man 
also  in  dieser  Stärkung  der  ökonomischen  Position  des  Arbeiters 
eine  der  gröfslen  wirtschaftlichen  Fortschritte  der  letzten  drei  Jahr- 
zehnte erblicken  mufs  und  in  dem  Fortgang  dieser  Entwicklung 
das  vorzüglichste  Mittel,  um  auch  in  Zukunft  ein  weiteres  Auf- 
steigen der  Arbeiterklasse  zu  gewährleisten,  so  ist  damit  zugleich 
auch  der  Mafsstab  gegeben,  um  die  Rolle  zu  beurteilen,  welche 
diese  Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen  im  Rahmen  der  Arbeiter- 
frage spielen. 

Die  Fragestellung  ist  also  zunächst  die,  ob  diese  Wohlfahrts- 
anstalten die  ökonomische  Abhängigkeit  des  Arbeiters  vom  Arbeit- 
geber stärken  oder  schwächen. 

Zunächst  sollen  eine  Reihe  von  Beispielen  zeigen,  inwiefern 
überhaupt  ein  solcher  Zusammenhang  besteht. 

Eine  der  Hauptformen,  in  denen  sich  die  Fürsorge  der  Arbeit- 
geber für  ihre  Angestellten  zeigt,  ist  die  Erstellung  von  Wohnungen 

')  Dieser  Zusammenhang  ist  schon  ries  öfteren  behandelt  worden.  Ks  sei  hier  » 
nur  erwähnt: 

L.  Brentano,  Gewerbe  II.  Teil  in  Schönbergs  Handbuch  d.  polit.  Ockonomie. 

I.  Aurt. 

Her  kn  er,  Arbeiterfrage  II.  und  III.  Aufl.  Kapitel  „Wohlfahrtseinrichtungen 
der  Arbeitgeber**. 

Derselbe,  „Arbciterwohlfährtseinrichtungen“.  Sozialpolitisches  Zentralblatt.  Berlin 
Bd.  1 Nr.  20. 

Archiv  für  so*,  üesetsgebung  u.  Statistik.  XVIII.  34 


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522 


I'aul  Momlictl, 


für  dieselben.  Wohl  in  den  meisten  Fällen  wird  eine  solche  vom 
Arbeitgeber  zur  Verfügung  gestellte  Wohnung  dem  Arbeiter  in 
hygienischer  und  ästhetischer  Hinsicht  nicht  zu  unterschätzende 
Vorteile  bieten,  es  wird  sie  auch  vielfach  zu  einem  relativ  billigen 
Preise  erhalten.  Aber  diesen  Vorzügen  stehen  auf  der  anderen 
Seite  recht  grofse  Nachteile  gegenüber. 

Es  liegt  ja  in  der  Natur  der  Sache,  dals  ein  solcher  Arbeiter 
der  eine  derartige  Wohnung  besitzt,  unter  den  Folgen  einer  Auf- 
lösung des  Arbeitsverhältnisses  viel  schwerer  zu  leiden  hat,  als 
wenn  er  eine  andere  Wohnung  besäfse.  In  dem  Augenblick,  in  dem 
er  — freiwillig  oder  unfreiwillig  — seine  Stellung  verläfst,  wird  er 
wohl  in  den  seltensten  Fällen  sofort  wissen , wo  er  eine  neue 
finden  soll;  in  unserem  Falle  nun  mufs  er  sich  aufser  einer  neuen 
Stellung  noch  eine  neue  Wohnung  suchen  und  gleichzeitig  die 
nicht  unbeträchtlichen  Umzugskosten  aufbringen.  Diese  Nachteile 
liegen,  wie  bereits  betont,  in  der  Natur  der  Sache. 

Vielfach  verschärft  treten  diese  aber  dort  auf,  wo  es  offen- 
sichtlich ist,  dals  der  Arbeitgeber  mit  der  Erstellung  von  Arbeiter- 
wohnungen den  Zweck  verfolgt,  das  Abhängigkeitsverhältnis  in  dem 
der  Arbeiter  sich  schon  so  wie  so  befindet,  noch  zu  vergröfsern. 
Diese  Absicht  zeigt  sich  in  der  unverfrorendsten  Weise  dort,  wo 
nur  eine  sehr  kurze  Kündigungsfrist  besteht. 

Der  Mietvertrag  der  der  Firma  Krupp  gehörigen  Kohlenzechen 
„Hannover“  enthält  die  Bestimmung,  dals  die  Wohnung  mit  dem 
Tage  geräumt  werden  mufs,  an  dem  der  Arbeiter  seine  Stellung 
verläfst. ') 

Die  gleiche  Bestimmung  gilt  für  das  Logierhaus  der  Gulsstahl- 
fabrik  in  Essen.  Auch  hier  hat  die  Entlassung  ohne  weiteres  das 
Ausscheiden  aus  der  Gemeinschaft  zur  F’olge.  *) 

F.benso  kann  in  dem  Junggesellenheim  der  Farbenfabriken  von 
Bayer  & Co.  in  Elberfeld  das  Mietverhältnis  jederzeit  ohne  Ein- 
haltung einer  Kündigungsfrist  gelöst  werden.  ’) 

Wie  es  bei  den  übrigen  Arbeiterwohnungen  der  Firma  Krupp, 
speziell  in  Essen,  in  dieser  Beziehung  gehandhabt  wird,  ist  uns 


*)  Der  Micts  vertrag  ist  abgedruckt  bei  Kley,  „Bei  Krupp“.  Leipzig  1899.  S.  76. 
a)  Al  brecht,  Handbuch  der  sozialen  Wohlfahrtspflege  in  Deutschland“  1902. 
Anlagen  S.  50. 

a)  ».Wohlfahrtseinrichtungen  der  Farbenfabriken  von  Bayer  & Co.“  Erläute- 
rungen zur  Ausstellung  derselben  in  Düsseldorf  1902. 


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Wohlfahrtseinrichtungen  der  Arbeitgeber. 


523 


nicht  bekannt ; jedoch  läfct  der  Umstand,  dafs  in  den  Kohlenzechen 
„Hannover"  und  in  dem  Junggesellenheim  in  Essen  keine  Kündi- 
gungsfrist für  aus  dem  Dienst  scheidende  Arbeiter  besteht,  den 
Schlufs  zu,  dafs  für  die  Arbeiterwohnungen  in  Essen  dieser  Brauch 
auch  allgemein  üblich  ist  Dabei  mufs  man  bedenken,  dafs  wohl 
in  der  Mehrzahl  aller  Fälle,  speziell  für  die  ungelernten  Arbeiter, 
für  die  Auflösung  des  Arbeitsverhältnisses  keine  Kündigungsfrist 
besteht,  der  Arbeiter  also  mit  seinen  Angehörigen  von  einem 
auf  den  anderen  Tag  auf  die  Strafse  gesetzt  werden  kann.  So  kann 
laut  der  dortigen  Fabrikordnung  § 8 *)  bei  den  Elberfelder  Farben- 
fabriken das  Arbeitsverhältnis  von  beiden  Teilen  jederzeit  ohne 
Aufkündigung  gelöst  werden.  Das  gleiche  gilt  für  die  Filiale  dieser 
Fabrik  in  Leverkusen. 

§ 5 der  Miets-  und  Hausordnung  der  Augsburger  Kammgarn- 
spinnerei in  Augsburg  hat  folgenden  Wortlaut: 

„Die  gewöhnliche  gegenseitige  Kündigungsfrist  beträgt  vier 
Wochen.  Die  Direktion  behält  sich  jedoch  vor,  diese  Frist  in 
besonderen  Fällen  zu  verkürzen  oder  zu  verlängern.  Die  Woh- 
nung mufs  zur  festgesetzten  Zeit  geräumt  sein.“  s) 

Da  die  Miets-  und  Hausordnung  keinerlei  Bestimmungen  dar- 
über enthält,  die  darauf  schliefsen  läfst,  dafs  für  die  Verkürzung 
der  Kündigungsfrist  das  Einverständnis  des  Mieters  notwendig  ist, 
so  ergiebt  sich,  dafs  dieser  hierin  vollständig  vom  Arbeitgeber  ab- 
hängig ist. 

Analog  liegen  die  Verhältnisse  bei  der  „Bergischen  Stahl- 
industriegesellschaft. 

„Verläfst  der  Mieter  die  Arbeit  derselben,  so  ist  die  Kündigung 
für  die  Wohnung  hierdurch  von  selber  ausgesprochen ; will  der 
Mieter  noch  einige  Zeit  wohnen  bleiben,  so  hat  er  eine  diesbezüg- 
liche besondere  Vereinbarung  mit  dem  Wohlfahrtsbureau  zu  treffen."8) 

Aehnliche  Wirkungen  können  die  den  Arbeitern  seitens  der 
Fabrik  zur  Erstellung  eigener  Häuser  gewährten  Darlehen  haben. 

Es  kann  dies  in  einer  ganz  liberalen  Weise  geschehen,  so  dafs 
die  Nachteile,  die  den  Arbeitern  daraus  erwachsen,  wenn  auch 
nicht  beseitigt,  so  doch  stark  herabgemindert  werden  können.  Ein 
Beispiel  hierfür  bieten  die  „Satzungen  der  Grund-  und  Hauserwerbs- 


*)  a.  a.  O.  S.  15. 

*)  Alb  recht  a.  a.  O.  Anlagen  S.  323. 

*)  R o 1 1 0 k und  Ziegler  ...  a..a.  O.  Anhang  S.  99. 

34* 


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524 


Paul  Monbert, 


kasse"  für  die  Arbeiterschaft  der  I.ederwerke  von  Cornelius  Heyl 
in  Worms. ') 

Wird  hier  von  der  einen  oder  anderen  Seite  die  Auflösung 
des  Arbeitsverhältnisses  herbeigeführt,  so  wird  wohl  die  zweite 
Hypothek,  die  dem  Arbeiter  von  der  Fabrik  auf  sein  Anwesen  ge- 
währt ist,  fällig;  er  ist  aber  nicht  gezwungen,  die  fällige  Summen 
sofort  zu  zahlen,  sondern  er  hat  dies  bis  längstens  am  Ende  des 
auf  den  Austritt  folgenden  Kalenderquartals  zu  thun,  oder  kann 
seine  Schuld  durch  wochenweise  Abzahlungen  von  mindestens 
2 Mk.  tilgen. 

Wohl  kann  ein  Arbeiter,  zumal  wenn  er  stellenlos  ist,  hier- 
durch in  eine  bedrängte  Lage  kommen ; aber  diese  Bestimmungen 
erscheinen  im  rosigsten  Lichte  denen  gegenüber,  die  wir  bei  der 
durch  ihre  „Wohlfahrtseinrichtungen"  so  sehr  „berühmten“  Firma 
Friedrich  Krupp  in  Essen  antreffen. 

Die  Sicherung  des  Darlehens  erfolgt  durch  Eintragung  der 
ersten  Hypothek  auf  Grundstück  und  Gebäude;  die  Schuld  wird  in 
Ratenzahlungen , die  bei  der  Lohnauszahlung  abgezogen  werden, 
abgetragen.  „Das  Kapital  oder  der  noch  rückständige  Rest  des- 
selben wird  sofort  und  ohne  Rücksicht  auf  die  gestatteten  Raten- 
zahlungen und  ohne  Kündigung  fällig": 

„Wenn  der  Schuldner  wegen  Vergehens  gegen  die  Arbeits- 
ordnung oder  andere  Dienstvorschriften  zur  Strafe  entlassen  wird, 
oder  aus  dem  Dienste  der  Firma  innerhalb  der  ersten  zehn  Jahre 
freiwillig  ausscheidet."  *) 

Derartige  Einrichtungen  dienen  mehr  der  Wohlfahrt  des  Unter- 
nehmers als  der  des  Arbeiters.  In  ihnen  hat  man  eines  der  gröfsten 
Hindernisse  zu  erblicken,  die  einem  allmählichen  Aufsteigen  der 
Arbeiterklasse  in  den  Weg  treten.  Der  Arbeiter  gerät  hier  in  eine 
derartige  ökonomische  Abhängigkeit  vom  Unternehmer,  dal's  der 
sogen,  „freie  Arbeitsvertrag"  zur  Farce  wird.  Die  Furcht  von  einem 
auf  dem  anderen  Tag  mit  Weib  und  Kind  auf  die  StraOse  gesetzt 
zu  werden,  zwingt  iljn,  widerspruchslos  alle  vom  Arbeitgeber  ein- 
seitig festgesetzten  Arbeitsbedingungen  anzunehmen  und  hindert 
ihn,  sich  gegen  eine  Verschlechterung  derselben  durch  den  Strike 
zu  wehren. 

*)  Al  brecht  a.  a.  O.  Anlagen  S.  422. 

*)  Al  brecht  a.  a.  O.  Anlagen  S.  319. 


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Wohlfahrtscinrichtungen  der  Arbeitgeber. 


525 

Aehnliche  Wirkung  können  aber  auch  andere  sogen.  Wohl- 
fahrtseinrichtungen haben. 

Ein  Beispiel  bietet  das  Statut  der  freiwilligen  Zuschufskasse  für 
die  Mitglieder  der  Betriebskrankenkasse  der  Bleifarbenfabrik  von 
W.  Lcydendeker  & Co.  in  Köln  und  Köln-Ehrenfeld. 

Mitglieder  dieser  Kasse  müssen  ein  Eintrittsgeld  von  1 Mk. 
und  einen  Wochenbeitrag  von  25  Pfg.  zahlen.  Der  Austritt  aus 
der  Kasse  steht  jedem  frei,  jedoch  ohne  Anspruch  auf  Rückver- 
gütung einmal  geleisteter  Beiträge  und  des  Eintrittsgeldes.  Auch 
hat  der  freiwillig  Ausgeschiedene  keinerlei  Anspruch  auf  Kassen- 
leistungen. Das  Ausscheiden  aus  dem  Betrieb  der  Firma  bedingt 
gleichzeitig  den  Ausschlufs  aus  dieser  Zuschufskasse.  Der  Aus- 
geschiedene hat  noch  für  4 Wochen  den  Anspruch  auf  die  Leistungen 
der  Kasse,  wenn  er  für  diese  Zeit  seine  Beiträge  weiterzahlt. ') 

Analoge  Bestimmungen  enthalten  die  Statuten  der  Privatunter- 
stützungskasse der  „Harburger  Gummi-  und  Kamm-Kompagnie“. 
Die  Beiträge  betragen  je  nach  der  Höhe  des  Lohnes  10 — 35  Pfg. 
pro  Woche;  für  verheiratete  Arbeiter  15  Pfg.  mehr,  da  von  der 
Kasse  auch  Witwen-  und  Waisengeld  gezahlt  wird.  Mit  dem  Aus- 
tritt aus  der  Fabrik  erlischt  jedoch  jeder  Anspruch  auf  die 
Leistungen  der  Kasse;  ebenso  auf  gänzliche  oder  teilweise  Rück- 
erstattung der  gezahlten  Beiträge.  Nur  wenn  das  betreffende  Mit- 
glied länger  als  5 Jahre  zur  Kasse  beigetragen  hat,  wird  ihm  die 
Hälfte  der  seit  Ablauf  der  ersten  5 Jahre  seiner  Mitgliedschaft  ge- 
zahlten Beiträge  zurückerstattet.  ■) 

In  welcher  Weise  derartige  Bestimmungen  die  Bewegungsfrei- 
heit des  Arbeiters  lähmen,  liegt  auf  der  Hand. 

Analoges  gilt  für  die  so  vielfach  bestehenden  Pensionskassen. 
Häufig  müssen  die  Arbeiter  dazu  Beiträge  zahlen,  die  oft  recht 
hoch  sind  und  ihnen  beim  Dienstaustritt  nicht  zurückgezahlt  werden. 
(So  bei  Krupp  2'/s  "in  vom  Arbeitsverdienst,  soweit  derselbe  6 */.,  Mk. 
für  den  Tag  oder  2000  Mk.  für  das  Jahr  nicht  übersteigt.) s) 

Aber  auch  dort,  wo  keine  Beiträge  gezahlt  werden,  schränken 
diese  Kassen  die  Bewegungsfreiheit  des  Arbeiters  in  sehr  hohem 
Grade  ein. 

Dafs  vielfach  dies  in  der  Hauptsache  der  Zweck  derartiger 


J)  Al  brecht  a.  a.  O.  Anlagen  S.  393. 
*)  Alb  recht  a.  a.  O.  S.  435. 

3)  Kley  a.  a.  O.  S.  109. 


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536 


Faul  Mombcrt. 


Kassen  ist,  zeigen  folgende  Sätze,  die  Werner  von  Siemens  in 
seinen  „Lebenserinnerungen  (S.  252)  ausspricht: 

„Freilich  die  Freiheit  zu  striken  wird  dem  Arbeiter  durch  die 
Pensionbestimmungen  wesentlich  beschränkt,  denn  bei  seinem  frei- 
willigen Austritt  verfallen  statutenmäfsig  seine  Altersrechte  . . . 
Jede  Fabrik  sollte  eine  solche  Pensionskasse  bilden,  zu  der  die  Ar- 
beiter nichts  beitragen,  die  sie  aber  trotzdem  selber  verwalten, 
natürlich  unter  Kontrolle  der  F'irma.  Auf  diese  Weise  liefse  sich 
der  Strikemanie,  welche  die  Industrie  und  besonders  die  Arbeiter 
selbst  schwer  schädigt,  am  besten  entgegentreten.“  *) 

Noch  andere  Formen  von  „Wohlfahrtseinrichtungen"  sind  hier 
zu  nennen.  In  ihrem  Jahresbericht  vom  Jahre  1900  teilt  die  badische 
Fabrikinspektion  mit,  dal's  eine  Fabrik  im  Murgthal  ihren  Taglohn- 
arbeitern nach  Ablauf  des  ersten  Dienstjahres  für  jeden  Tag  eine 
Prämie  (satt  Lohnzuschlag)  von  10  Pfg.,  welche  sich  bei  mehr  als 
zweijähriger  Dauer  des  Arbeitsverhältnisses  auf  15  Pfg.  und  bei 
mehr  als  dreijährigem  Ausharren  auf  20  Pfg.  erhöht,  zahle.  Diese 
, .Prämien"  werden  jedoch  erst  beim  Austritt  bzw.  nach  Ablauf 
des  vierten  Dienstjahres  thatsächlich  ausbezahlt,  worauf  dann  an 
Stelle  der  Prämie  eine  ordentliche  Lohnerhöhung  von  28  Pfg.  täg- 
eintreten  soll. 

„In  Wirklichkeit  — wird  in  dem  Bericht  mit  Recht  bemerkt  — 
stellen  die  Prämien  Lohnbeträge  dar,  welche  von  der  Firma  ein- 
behalten werden,  um  den  Arbeiter  in  eine  ihm  nachteilige  Ab- 
hängigkeit zu  bringen.“  Aehnliche  Prämiensysteme  finden  sich  in 
der  deutschen  Industrie  sehr  häufig. 

Diese  Beispiele  mögen  zunächst  genügen  um  zu  zeigen , in 
welch  hohem  Grade  durch  derartige  Wohlfahrtseinrichtungen  die 
Bewegungsfreiheit  der  Arbeiter  eingeschränkt  werden  kann. 

Vielfach  ist  wohl  bei  derartigen  Anstalten  die  Absicht  mafs- 
gebend  gewesen,  Selbständigkeitsbestrebungen  der  Arbeiter  einen 
Riegel  vorzuschieben  und  auf  diese  Weise,  wie  W.  v.  Siemens  sagt: 
„das  friedliche  Verhältnis  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer 
zu  sichern“. 

Die  Ausgaben,  welche  durch  derartige  Wohlfahrtseinrichtungen 
hervorgerufen  werden,  rentieren  sich  also  mitunter  recht  gut.  Die 
Arbeiter  werden  sich  hüten,  einer  Verschlechterung  ihrer  Arbeits- 
bedingungen durch  einen  Strike  entgegenzutreten  oder  den  Versuch 


’)  Berlin,  1901.  VI.  Aufl. 


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Wohlfahrtseinriehtungen  der  Arbeitgeber. 


527 


zu  machen,  Lohnsteigerungen  auf  diesem  Wege  zu  erreichen.  Ent- 
weder müssen  sie  sofort  dann  ihre  Wohnungen  räumen  oder  sie 
gehen  einer  Reihe  anderer  Vorteile  (Kasseneinrichtungen  . . .)  oder 
der  Beiträge  verlustig,  die  sie  vielleicht  jahrelang  unter  grofsen 
Opfern  entrichtet  haben. 

Auf  die  Weise  bedeuten  also  die  Wohlfahrtsanstalten  unter 
Umständen  für  den  Arbeitgeber  eine  grofse  Ersparnis;  denn  er  ist 
so  in  der  Lage,  niedrige  Löhne  zu  zahlen. 

Folgende  Worte  rühren  von  einem  der  „sachkundigsten  Ver- 
treter dieser  Fabrikantenphilantropie“  dem  oberelsässischen  Fabri- 
kanten K.  Grad  her: 

„Der  Unterschied  der  Löhne  zwischen  der  Normandie  und 
dem  Elsafs  beruht  namentlich  auf  dem  Unterschiede  der  [.ebens- 
mittelpreise, die  im  nördlichen  Frankreich  viel  höher  sind  als  im 
Elsafs.  Andererseits  sehen  sich  die  Industriellen  des  Nordens,  um 
die  Arbeiter  zu  erhalten,  genötigt,  sie  durch  den  Reiz  höherer 
Löhne  anzulocken,  und  wissen  sie  vielleicht  nicht  genug 
durch  Unterstützungs-  und  Pensionskassen  zu  fesseln, 
wie  sie  in  allen  Fabriken  des  Elsafs  zum  Vorteil  der  Arbeitgeber 
wie  der  Arbeiter  bestehen.  Diese  Philantropie  ist  seitens 
des  Industriellen  unserer  Gegend  ein  gutes  Ge- 
s c h ä f t."  *) 

Man  würde  nun  aber  sehr  vielen  Unternehmern  bitter  Unrecht 
thun,  wenn  man  ganz  allgemein  bei  ihnen  solche  Beweggründe 
voraussetzen  wollte.  Sicherlich  giebt  es  eine  sehr  grofse  Zahl, ' die 
mit  den  edelsten  Absichten  an  die  Gründung  derartiger  Wohlfahrts- 
einrichtungen herangegangen  sind  und  dabei  das  einzige  Bestreben 
hatten,  der  wirtschaftlichen  und  sozialen  Not,  die  sie  tagtäglich  um 
sich  sahen,  nach  Kräften  abzuhelfen  und  weder  Geld  noch  Mühe 
scheuten  um  dieses  Ziel  zu  erreichen. 

Es  läfst  sich  auch  noch  eine  dritte  Reihe  von  Beweggründen 
auffinden,  die  an  der  Wiege  derartiger  Anstalten  gestanden  haben 
mögen. 

Vielfach  sind  es  wohl  in  erster  Linie  weder  humanitäre  Er- 
wägungen noch  die  Absicht,  die  Abhängigkeit  ihrer  Arbeiter  zu 
vergröfsern  gewesen,  welche  derartige  Einrichtungen  ins  Leben  ge- 


*)  Herkncr,  „Die  oberelsässisrhe  Haumwollenindustric  und  ihrr  Arbeiter“ 
1887,  S.  23t. 


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528 


Paul  Mombcrt, 


rufen  haben.  Sehr  häufig  war  es  wohl  das  eigene  wohlverstandene 
Interesse  des  Arbeitgebers. 

An  manchen  Orten  fallt  es  den  Industriellen  schwer,  tüchtige 
Arbeitskräfte  zu  bekommen  und  sich  zu  erhalten.  Man  sucht  dieses 
Ziel  durch  Prämien,  Gewinnbeteiligung  oder  andere  Vergünstigungen 
zu  erreichen.  Vielfach  kann  ein  Unternehmer,  wenn  er  sich  die 
erforderliche  Anzahl  von  Arbeitern  heranziehen  und  erhalten  will, 
den  Bau  von  Arbeiterwohnungen  gar  nicht  umgehen. 

Wenn  auch  diese  letzgenannten  Gründe  ebenso  wie  natürlich 
die  humanitären  Erwägungen  völlig  einwandfrei  und  jenen  an  erster 
Stelle  genannten  gegenüber  sehr  vorteilhaft  abstechen,  so  können 
auch  sie  grofse  Bedenken  hervorrufen. 

Denn  die  gute  Absicht  ihres  Gründers  schliefst  cs  nicht  aus, 
dals  die  Wirkung  dieser  Anstalten  auf  die  ökonomische  Lage  des 
Arbeiters  die  gleiche  ist,  wie  bei  den  erstgenannten  Fällen. 

Wenn  auch  hier  die  Absicht  „Herr  im  eigenen  Hause“  zu  sein 
und  zu  bleiben,  nicht  offen  zu  Tage  tritt  und  den  Hauptanstofs  zu 
der  Errichtung  solcher  Anstalten  gegeben  hat,  so  braucht  dies  an 
den  Folgen  für  die  Arbeiter  nichts  zu  ändern. 

Es  sind  dies  diejenigen  Falle,  und  sie  treten  wohl  am  zahl- 
reichsten auf,  in  denen  der  Unternehmer  der  Ansicht  huldigt,  dafs 
es  im  Interesse  des  Arbeiters  liege,  wenn  sein  Verhältnis  zum  Ar- 
beitgeber die  Gestalt  eines  „Patronagesystems“  annimmt  und  dafs 
seine  vergröfserte  Abhängigkeit  kein  zu  hoher  Kaufpreis  für  alle 
jene  Wohlfahrtseinrichtungen  sei. 

Diese  Bestrebungen  haben  vor  allem  die  Eigentümlichkeit,  dafs 
alle  Vorteile,  die  den  Arbeitern  gewährt  werden,  einen  ausge- 
sprochenen Charakter  der  Wohlthätigkeit  an  sich  tragen ; ein  Rechts- 
anspruch wird  nicht  gewährt;  in  der  Regel  ist  alles  „dem  billigen 
Ermessen“  des  Arbeitgebers  überlassen. 

ln  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  er  auch  wohl  alle  oder  doch 
den  gröfsten  Teil  der  Kosten  auf  seine  Tasche  übernehmen. 

Nun  ist  ja  sicher  zuzugeben,  dafs  eine  derartige  Vermengung 
der  Arbeiter-  mit  der  Armenfrage  — denn  um  etwas  anderes 
handelt  es  sich  im  Grunde  dabei  nicht  — in  sehr  vielen  Pallen 
durchaus  am  Platze  ist  Ueberall  dort  nämlich,  wo  man  es  mit 
einer  Arbeiterbevölkerung  zu  thun  hat,  die  auf  einem  sehr  tiefen 
geistigen  Niveau  steht,  ohne  dafs  die  geringste  Hoffnung  vorhanden 
ist,  dafs  sie  in  absehbarer  Zeit  sich  aus  eigener  Kraft  in  die  Höhe 


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Wohlfahrtseinrichtungen  der  Arbeitgeber. 


529 


zu  ringen  vermöchte.  Dort  ist  dann  die  soziale  VVohlthätigkeit  der 
besitzenden  Klassen  ein  Kulturfaktor  ersten  Ranges;  denn  hier 
handelt  es  sich  darum,  die  Arbeiter  erst  an  ein  menschenwürdiges 
Dasein  zu  gewöhnen,  ihnen  gewissermafsen  erst  die  einfachsten  Be- 
dürfnisse anzuerziehen.  *) 

lieber  diese  Zeiten  sind  wir  aber  in  Deutschland  zum  guten 
Teil  schon  hinaus;  vor  allem  in  jenen  Gegenden  (Rheinland  — 
Westfalen),  die  den  Hauptsitz  jener  Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen 
bilden.  Ueberall  macht  sich  das  mit  Erfolg  gekrönte  Streben  der 
Arbeiterschaft  bemerkbar,  aus  eigener  Kraft  in  die  Höhe  zu  kommen. 
Hier  erntet  dann  der  Arbeitgeber  — mögen  seine  Absichten  noch 
so  gute  sein  — keinen  Dank,  wenn  er  die  Arbeiterfrage  inner- 
halb seiner  Fabrik  mittels  eines  Systems  „wohlwollender  Bevor- 
mundung“ lösen  will. 

Ein  bezeichnendes  Beispiel  für  derartige  Bestrebungen  bilden 
die  Wohlfahrtseinrichtungen  der  „Bergischen  Stahlindustrie“. 

Pis  ist  anzuerkennen,  dafs  hier  in  der  That  ein  System  von 
Wohlfahrtseinrichtungen  im  herkömmlichen  Sinne  besteht,  wie  es 
ausgebildeter  und  umfangreicher  kaum  gedacht  werden  kann.  Aber 
der  Geist,  der  hindurchweht,  ist  ein  durch  und  durch  patriarchalischer. 

„Alles  für  das  Volk,  nichts  durch  das  Volk." 

Der  nahezu  50x3  Seiten  starken  Denkschrift  ist  nicht  zu  ent- 
nehmen, dafs  irgendwie  ein  Arbeiterausschuls  besteht;  der  § 616 
des  B.G.B.  der  dem  Arbeiter  auch  für  die  Zeit  Lohnanspruch  ge- 
währt, in  der  er  durch  einen  in  seiner  Person  liegenden  Grund  fiir 
kurze  Zeit  an  der  Arbeit  verhindert  ist,  ist  in  der  Arbeitsordnung 
durch  Privatvertrag  beseitigt.  Ganz  abgesehen  davon,  was  ja  bei 
Privatunternehmungen  schwer  durchführbar  ist,  dafs  den  Arbeitern 
ein  Rechtsanspruch  auf  ihren  Ruhegehalt  nicht  zusteht,  heifst  es  in 
dem  Statut  ausdrücklich,  dafs  die  Pension  nur  auf  jederzeitigen 
Widerruf  und  längstens  auf  ein  Jahr  bewilligt  wird.  Dafs  der  Be- 
zug oder  die  Veringerung  der  Unterstützung  aber  nicht  nur  von 
der  finanziellen  Lage  der  Kasse  abhängt,  ergiebt  der  Wortlaut  des 
§ 15  des  betreffenden  Statuts: 

„Die  einmal  bewilligte  Pension,  das  Witwen-  und  Waisengeld 
kann  auch  jederzeit  geändert,  oder  wieder  entzogen  werden ; nament- 
lich aus  Gründen,  die  in  der  Person  des  Pensions-,  Witwen-  und 
Waisengeldempfanger  liegen.“ 

•)  Vgl.  Herkncr,  Sozialpolit.  Zcntralblatt“  a.  a.  «). 


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53° 


Faul  Mombcrt, 


Auf  die  bureaukratischen  Formalitäten,  die  alljährlich  bei  der 
Neugewährung  der  Unterstützung  nötig  sind,  soll  hier  nicht  ein- 
gegangen werden. 

Sehr  gerühmt  wird  in  dieser  Denkschrift  die  Wirksamkeit  der 
Zwangssparkasse  für  jugendliche  Arbeiter.  Diesen  werden  zwangs- 
weise Abkürzungen  am  Lohn  gemacht,  und  die  so  einbehaltenen 
Summen  zinstragend  für  sie  angelegt;  aufser  dem  Zins  von  4°0 
wird  noch  eine  Prämie  von  2 °/0  gewährt. 

Während  am  I.  Okt.  1888  die  wöchentlichen  Sparbeträge 
bei  73  (37,2  #/„  der  Sparer)  freiwilligen  Sparern  105  Mk.  und  bei 
122  (62,8%  der  Sparer)  Zwangssparern  96,50  Mk.  betrugen, 
waren  es  am  30.  Juni 

bei  400  (50,1  #/#  der  Sparern)  freiwilligen  Sparern  952,50  Mk.,  bei 
277  (40,9  u/0  der  Sparer)  Zwangssparern  225,25  Mk. 

Ich  glaube,  diese  starke  Zunahme  der  freiwilligen  Sparer  zeigt, 
dafs  eine  Zwangssparkasse  eine  unnötige  Einrichtung  ist. 

Die  Erfahrung  hat  gezeigt,  dafs  eine  6°/0  Verzinsung  (inkL 
Prämie)  Anreiz  genug  zum  Sparen  bietet,  um  den  Zwang  ent- 
behren zu  können;  ist  es  doch  bekannt,  welch  grofse  Erbitterung 
eine  noch  so  gut  gemeinte  Bevormundung  hier  hervorruft  und  dal's 
schon  manche  Zwangssparkasse  zu  Strikes  geführt  hat. 

Sehr  oft  erscheinen  auch  solche  „Wohlfahrtseinrichtungen1' 
unter  dem  anspruchsvollen  Namen  der  Gewinnbeteiligung: 

Eine  kleine  Metallwarenfabrik  des  Schwarzwaldes  hatte  ihren 
Arbeitern  Gewinnbeteiligung  versprochen,  ohne  aber  die  Höhe  des- 
selben irgendwie  bestimmt  festzusetzen.  Diese  bleibt  dem  Ermessen 
des  Geschäftsinhabers  überlassen,  der  auch  das  Versprechen  jeder- 
zeit widerrufen  kann.  Den  Arbeitern  steht  kein  Recht  zu,  durch 
Einsicht  in  die  Bilanz  sich  von  der  Höhe  des  Geschäftsgewinnes 
zu  überzeugen.  „Es  bleibt  daher  von  der  angeblichen  Gewinn- 
beteiligung nichts  anderes  übrig  als  bestenfalls  ein  Weihnachts- 
oder Neujahrgeschenk  nach  dem  Belieben  der  Firma.  Solche 
„Wohlthaten  bleiben  natürlich  ohne  den  gewünschten  Erfolg;  auch 
braucht  man  sich  über  die  berechtigte  Kritik  derselben  in  Ar- 
beiterkreisen nicht  zu  wundern,  wenn  man  den  Sachverhalt  näher 
kennt.“  *) 

In  die  gleiche  Kategorie  gehört  auch  die  sogen.  „Gewinn- 

*)  Bericht  der  bad.  Fabrikinspektion  für  das  Jahr  1900  S.  45. 


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Woh  1 fah rtsc  in  rieh  t ungcn  der  Arbeitgeber.  ^1 

beteiligung  bei  der  Munitionsfabrik  von  Braun  & Bloem  in 
Düsseldorf. ') 

Die  Beteiligung  der  Arbeiter  richtet  sich  nicht  nach  dem  Ge- 
winn, sondern  nach  dem  Absatz.  Die  Beträge  werden  halbjährlich 
ausgezahlt ; auf  dieselben  haben  nur  diejenigen  Anspruch,  welche 
über  3 Monate  bei  der  Fabrik  im  Dienst  gewesen  sind. 

Unpünktliches  Kommen,  sowie  grobe  Verstöfse  gegen  die 
Fabrikordnung  ziehen  teilweisen  oder  ganzen  Verlust  der  Be- 
teiligung nach  sich.  Dafs  im  übrigen  die  einzelnen  Arbeiter  in 
dieser  Form  nur  recht  geringfügige  Beträge  erhalten,  ergiebt  sich 
daraus,  dafs  die  Firma  an  etwa  90  Werkmeister  und  Arbeiter  jähr- 
lich 3900  Mk.  als  „Gewinnbeteiligung"  auszahlt. 

Im  Hinblick  auf  das  bisher  ausgefuhrte  sei  an  die  Worte 
Schmollers,  in  seinen  Untersuchungen  über  „Wesen  und  Verfassung 
der  grol'sen  Unternehmungen"  erinnert: 

„Fast  überall,  wo  der  Arbeitgeber  sie  unvermittelt  einführen 
will  und  seien  sie  noch  so  günstig  für  die  Arbeiter,  wie  Gewinn- 
beteiligung, Suppenanstalten,  Wohnungszuweisung,  Bäder  etc.,  da 
begegnen  sie  leicht  dem  Widerwillen,  ja  dem  Verdacht  der  Arbeiter, 
dem  Mifstrauen  und  der  Mifsstimmung.  Die  Leute  wollen  sich 
auch  zu  ihrem  Wohl  nicht  kommandieren  lassen.  F.s  kann  heute 
nur  gedeihen,  was  der  versteht,  dem  es  gereicht  wird.  Es  wird 
verstanden,  wenn  man  die  Arbeiter  selbst  heranzieht,  sie  mitwirken 
läfst  an  der  Entstehung,  die  Einrichtung  als  von  ihnen  geschaffen 
erscheinen  läfst. 

Dazu  mufs  man  aber  mit  den  Vertrauenspersonen  der  Arbeiter 
beraten,  Komitees  derselben  möglichst  die  Sache  in  die  Hand 
geben.“  *) 

Es  sind  noch  eine  recht  geringe  Anzahl  von  Arbeitgebern,  die 
sich  zu  einem  derartigen  Standpunkt  durchgerungen  haben.  So 
darf  es  aber  auch  kein  Wunder  nehmen,  wenn  jene  Unternehmer  ftir 
ihre  Anstalten,  die  ihren  Ursprung  oft  der  menschenfreundlichsten 
Gesinnung  verdanken,  so  wenig  Dank  ernten.  Kann  doch  auch 
der  Sozialpolitiker  diesen  Wohlfahrtseinrichtungen  nur  mit  sehr  ge- 
teilten Gefühlen  gegenüberstehen. 

Die  bisherigen  Ausführungen  haben  sich  vor  allem  mit  der  prinzi- 


J)  Wohlfahrtspflege  in  den  Provinzen  Rheinland  und  Westfalen,  llerausgcg. 
von  A.  Hoffmann  und  H.  Simon.  Düsseldorf  1902  S.  77. 

a)  Zur  Sozial-  lind  Gewerbepolitik  der  Gegenwart.  1890.  S.  427. 


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532 


Paul  Mombcrl, 


piellen  Bedeutung  der  Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen  für  den  Ar- 
beiter beschäftigt  und  demgemäfs  auch  nur  jene  betrachtet,  die  das 
Arbeitsverhältnis  als  solches  beeinflussen  können. 

Es  giebt  aber  auch  eine  grofse  Zahl  von  Wohlfahrtsanstalten, 
die  in  dieser  Beziehung  jenseits  von  „Gut  und  Böse"  stehen  und 
nach  keiner  Richtung  hin  das  Arbeitsverhältnis  beeinflussen.  Es  sei 
hier  nur  an  Einrichtungen  zur  billigeren  und  bequemeren  Be- 
schaffung der  Lebensmittel,  an  Bibliotheken,  Lesehallen,  Kranken- 
und  Rekonvaleszentenanstalten  erinnert , ferner  an  alle  jene  Ein- 
richtungen, die  in  der  Hauptsache  den  Angehörigen  des  Arbeiters 
zugute  kommen,  wie  Wöchnerinnenanstalten,  Kinderhorte,  Hand- 
arbeits-  und  Haushaltungsschulen  und  ähnliches.  Dafs  derartige 
Anstalten  sehr  segensreich  wirken,  wird  von  keiner  Seite  bestritten; 
gerade  deshalb  erübrigt  es  sich  aber  auch,  näher  auf  diese  einzu- 
gehen. 

Oben  wurde  bereits  an  einer  Reihe  von  Beispielen  auf  die 
Wirkung  mancher  Wohlfahrtseinrichtungen  auf  das  Arbeitsverhältnis 
hingewiesen;  es  wurde  dort  bereits  gesagt,  dafs  sehr  vielen  An- 
hängern dieser  Anstalten  deren  Wirkungen  recht  wohl  bekannt 
seien,  dafs  sie  aber  die  segensreichen  Folgen  der  ersteren  so  hoch 
anschlagen,  dafs  sie  die  verstärkte  Abhängigkeit  des  Arbeiters  als 
keinen  zu  hohen  Kaufpreis  dafür  ansehen.  Es  wurde  dort  bereits 
darauf  hingewiesen,  dafs  dieser  Standpunkt  unrichtig  sei,  weil  der- 
artige Wohlfahrtscinrichtungen  nicht  allein  die  Abhängigkeit  des 
Arbeiters  vergröfsern,  sondern  im  Zusammenhang  damit  es  ihm 
auch  unmöglich  machen  oder  doch  stark  erschweren,  bessere  Ar- 
beitsbedingungen zu  erkämpfen. 

Trotzdem  legt  es  aber  jener  Standpunkt  nahe,  der  Frage,  wie 
grofs  eigentlich  die  den  Arbeitern  gebotenen  Vorteile  sind  und 
welche  Unkosten  daraus  den  Arbeitgebern  erwachsen,  noch  etwas 
näher  zu  treten. 

Leider  ist  das  zur  Beantwortung  dieser  F'rage  zu  Gebote 
stehende  Material  recht  dünn  gesäet. 

Recht  interessant  ist  das  über  die  Arbeiterwohnungen  der 
„Bergischen  Stahlindustrie“  mitgeteilte. 

Der  Mietzins  für  Arbeiterwohnungen  beträgt: 

a)  Für  eine  Etagen wohnung  von  3 Räumen  nebst  Zubehör 
192  Mk.  bezw.  im  Speicher  168  Mk.  jährlich. 

b)  Für  eine  Etagenwohnung  von  4 Räumen  nebst  Zubehör 
276  Mk.  bezw.  im  Speicher  216  Mk.  jährlich. 


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Wohlfahrtseinrichtungon  der  Arbeitgeber. 


533 


Zieht  man  noch  in  Betracht,  dafs  laut  Mietsvertrag  der  Mieter 
verpflichtet  ist,  die  Wohnung  im  Jahr  wenigstens  einmal  auf  seine 
Kosten  neu  weifsen  zu  lassen,  dafs  die  Reinigung  der  Schornsteine, 
der  Abtrittsgruben  auf  seine  Kosten  erfolgt,  dafs  er  die  Kosten  für 
die  Wassermiete  tragen  mufe,  so  ergiebt,  dafs  die  Mietspreise  als 
recht  hohe  zu  veranschlagen  sind. 

Ob  und  inwieweit  diese  Wohnungen  dem  Arbeiter  in  ästhe- 
tischer und  hygienischer  Hinsicht  besondere  Vorteile  bieten,  ent- 
zieht sich  der  Beurteilung  der  Aufsenstehenden.  Um  zu  zeigen, 
was  billige  Mietspreise  sind,  seien  zum  Vergleich  diejenigen  der 
Firma  Kalle  & Co.  in  Biebrich  a.  Rhein  (Chemische  Fabrik)  an- 
geführt. ') 

Die  Miete  beträgt  dort  monatlich : 

für  eine  Zweizimmerwohnung  6 Mk. 

„ „ Drei  „ „ 9,5  „ 

„ „ Vier  „ „ 13,5  „ 

in  dem  dortigen  Heim  für  ledige  Arbeiter  wird  einschlielslich 
Wäsche  wöchentlich  i Mk  Miete  bezahlt. 

Dafs  die  Altersunterstützungcn  der  „Bergischen  Kleineisen- 
industrie" sehr  fragwürdige  Vorteile  bieten,  ist  oben  gezeigt  worden ; 
auch  quantitativ  leisten  sie  nichts  Hervorragendes. 

Bei  einem  jährlichen  Durchschnittsverdienst  von  1000  Mk.  er- 
hält ein  Arbeiter  nach  z.  B.  30  jähriger  Dienstzeit 

vnm  Reich 319  Mk. 

von  der  Firma  . . . . J31  „ 

Sa.  . 550  Mk. 

Für  'Arbeiter  bei  der  Firma  Kalle  & Co.  wurde  unter  den 
gleichen  Voraussetzungen  erhalten 

vom  Reich 319  Mk. 

von  der  Firma  ....  630  „ 

940  Mk. 

Hier  beginnt  auch  der  Anspruch  auf  Pension  bereits  nach  fünf- 
jähriger, bei  der  „Bergischen  Stahlindustrie“  erst  nach  zehnjähriger 
Dienstzeit. 


')  „Die  Einrichtungen  der  Firma  Kalle  \ Co.,  Bichrich  a.  Rh.  /um  Wöhle 
ihrer  Arbeiter11  1901. 


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534 


Paul  Mombert, 


Damit  hier  ein  Arbeiter  einschlielslich  Reichsrente  die  Hälfte 
seines  Arbeitsverdienstes  als  Ruhegehalt  bezieht,  muls  er  bereits 
20  Jahre  in  den  Diensten  der  Firma  gestanden  haben.  Im  Alter 
von  71  Jahren  und  nach  50 jähriger  Dienstzeit  beträgt  der  Ruhe- 
gehalt einschlielslich  Invalidenrente  vonseiten  des  Reichs  650  Mk. 
oder  noch  nicht  einmal  des  Jahresarbeitsverdienstes.  ’) 

Man  sieht,  dafs  keine  Rede  davon  sei,  dafs  die  hier  gebotenen 
Vorteile  die  verschärfte  Anhängigkeit  des  Arbeiters  aufwiegen;  viel 
eher  kann  dies  bei  der  Firma  Kalle  & Co.  zugegeben  werden,  wo 
unter  den  oben  genannten  Voraussetzungen  ein  Arbeiter  bereits 
nach  45  jähriger  Dienstzeit  die  1 löchstpension  mit  900  Mk.,  zu  der 
dann  noch  die  Rente  von  seiten  des  Reichs  hinzukommt,  erhält. 

Auch  die  Pensionen  bei  Krupp  sind  in  Anbetracht  der  hohen 
Beiträge,  welche  die  Arbeiter  zahlen  müssen  und  mit  Rücksicht 
darauf,  dafs  die  Pensionsberechtigung  erst  durch  eine  20jährige  Zu- 
gehörigkeit zur  Kasse  erworben  wird,  nicht  als  hoch  zu  be- 
zeichnen. *) 

Das  gleiche  gilt  von  dem  sogen.  Prämiensystem,  das  sich 
sehr  häufig  vorfindet  und  das  den  Zweck  verfolgt,  im  eigenen  wohl- 
verstandenen Interesse  des  Arbeitgebers  durch  Gewährung  von 
Lohnprämien  oder  Dienstalterszulagen  diesem  „einen  Stamm  tüch- 
tiger und  zuverlässiger  Arbeiter  zu  erhalten.“ 

Auch  hier  giebt  es  Fälle,  wo,  wie  gerne  anerkant  wird,  dem 
Arbeiter  pekuniär  grofse  Vorteile  geboten  werden. 

Bei  den  Farbenfabriken  von  Bayer  & Co.  in  Elberfeld  betragen 
diese  Prämien  nach  3 Jahren  25  Mk.  nnd  steigen  dann  fortwährend, 
bis  sie  nach  50  Dienstjahren  400  Mk.  erreichen. 

Diese  Prämie  sind  derart  hohe,  dafs  der  Arbeiter  innerhalb  der 
25  ersten  Dienstjahre  im  ganzen  960  und  im  Verlauf  von  50  Dienst- 
jahren 2600  Mk.  erhält.  Diese  Prämien  werden  in  Form  von  Spar- 
kassenbüchern ausgezahlt.  *) 

Demgegenüber  sei  auf  die  Prämien  der  königlich  preufsischen 
Eisenbahnwerkstätten  hingewiesen;  sie  betragen  hier4) 

M Ks  ist  hier  die  sehr  günstige  Annahme  gemacht,  dafs  der  Arbeiter  bereits 
von  seinem  16.  Lebensjahre  an  der  Invalidenversicherung  angehörte. 

*)  Nur  solche  Arbeiter,  welche  während  mindestens  15  Jahren  in  der  Gufs- 
stahlfabrik  besonders  schwere  Arbeit  verrichtet  haben,  erhalten  bereits  nach  dieser 
Zeit  im  Falle  der  Erwerbsunfähigkeit  Pensionsberechtigung.  Kley  a.  a.  O.  109. 

*)  VVohfahrtseinrichtungen  der  Farbenfabriken  ...  a.  a.  O.  S.  33. 

*)  Wohlfahrtscinrichtungen  in  den  Provinzen  ...  a.  a.  O.  S.  75. 


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VVohlfahrtseinrichtungcn  der  Arbeitgeber. 


S3S 


nach  25  Dieastjahren  y)  Mk. 

„ 35  « 5°  .. 

„ 50  „ 60  „ 

Es  ergicbt  sich  aus  diesen  wenigen  hier  angeführten  Beispielen 
dafe  die  Frage,  ob  die  Wohlfahrtseinrichtungen  ein  vollwertiges 
Aequivalent  für  die  vergröfserte  Abhängigkeit  der  Arbeiter  seien, 
sich  nicht  ohne  weiteres  beantworten  läfst.  Eine  Reihe  der  an- 
geführten Beispiele  haben  gezeigt,  dafs  das  Gebotene  ganz  unzu- 
länglich ist:  und  wenn  auch  in  manchen  Fällen  diese  Wohlfahrts- 
einrichtungen dem  Arbeiter  recht  viel  bieten,  so  können  wir  doch 
nicht  beurteilen,  ob  nicht  auf  der  anderen  Seite  z.  B.  nicht  recht 
niedere  Löhe  gezahlt  werden.  Denn  es  wäre  ein  Irrtum  anzu- 
nehmen, dafs  die  Sicherstellung,  welche  den  Arbeitern  durch  solche 
Anstalten  vielfach  gewährt  wird,  eine  beträchtliche  Erhöhung  der 
Lohnquote  bedeuten.  Denn  man  muls  immer  bedenken,  dafs  das 
durch  derartige  Wohlfahrtseinrichtungen  Gebotene  immer  nur  ein- 
zelnen Arbeitern  zugute  kommt  und  dals  eine  grofse  Zahl  davon 
unberührt  bleiben.  So  kommt  cs,  dafs  mit  Summen,  die  man  im 
Vergleich  zu  den  gezahlten  Löhnen  als  recht  geringfügig  bezeichnen 
mufs,  recht  erkleckliches  geleistet  werden  kann. 

So  betrugen  bei  der  Firma  Kalle  & Co-,  die  durch  ihre  Wohl- 
fahrtscinrichtungen,  wie  bereits  mehrfach  hervorgehoben,  ihren  Ar- 
beitern quantitativ  recht  viel  bietet,  die  gesamten  jährlichen  Aus- 
gaben für  diese  Anstalten  noch  nicht  5 °/0  der  in  dieser  Zeit  ge- 
zahlten Lohnsumme;  auf  den  Kopf  eines  Arbeiters  kamen  52  Mk. 

Man  sieht,  die  so  oft  gehörte  Behauptung,  dafs  die  Wohlfahrts- 
einrichtungen den  Arbeiter  reichlich  für  seine  vergröfserte  Ab- 
hängigkeit entschädigten,  kann  nicht  als  stichhaltig  angesehen 
werden;  es  mag  einzelne  Fälle  geben,  wo  dies  zutrifft,  in  dieser 
Allgemeinheit  aber  ist  diese  Ansicht  unzutreffend. 

Auch  der  Umstand,  dafs  die  Arbeiter  selbst  oft  die  Vorteile 
dieser  Wohlfahrtseinrichtungen  gerne  in  Anspruch  nehmen,  spricht 
nicht  gegen  die  an  ihnen  geübte  Kritik.  Hören  wir,  was  ein  so 
ausgezeichneter  Kenner  der  Arbeiterverhältnisse,  wie  der  kürzlich 
verstorbene  Vorstand  der  badischen  Fabrikinspektion  Dr.  Wörishoffer 
darüber  sagt: 

„Die  ungenügende  Bezahlung  mancher  Arbeiterschichten  läfst 
es  begreiflich  erscheinen,  dafs  sie  nach  jedem  augenblicklichen  Vor- 
teil im  Interesse  ihrer  Familien  begierig  greifen,  ungeachtet  des  auf 
dem  Grunde  ihres  Gefühlslebens  vorhandenen  Dranges  nach  freier 


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536 


Paul  Mombert, 


Bewegung  in  einer  Lage,  die  sie  von  den  empfangenen  YVohlthaten, 
als  welche  sie  die  genannten  Veranstaltungen  ansehen,  unabhängig 
macht.  Die  Lösung  wird  auch  hier  darin  liegen,  dafs  die  als  VVohl- 
thaten  der  Arbeitgeber  angesehenen  Wohlfahrtseinrichtungen  in  ge- 
nossenschaftliche Unternehmungen  der  Arbeiter  übergefiihrt  werden. 
Die  jetzigen  Aufwendungen  des  Arbeitgebers  für  diese  Zwecke 
brauchen  deswegen  den  Arbeitern  nicht  verloren  zu  gehen.  Sie 
können  in  dem  Mafse,  in  welchem  die  Arbeiter  sich  zur  genossen- 
schaftlichen Verfolgung  gemeinsamer  wirtschaftlicher  Zwecke  mehr 
befähigt  erweisen,  als  es  jetzt  der  Fall  ist,  zu  Lohnaufbesserungen 
verwandt  werden.  Hierzu  fehlt  es  ja  auf  weiten  Gebieten  nicht  an 
begründetem  Anlasse.  Wo  es  sich  um  Elitearbeiter  handelt,  findet 
man  jetzt  schon  einzelne  Anlagen,  die  an  Wohlfahrtseinrichtungen 
nur  gelegentlich  etwas  und  dann  nur  das  allernötigste  leisten,  die 
aber  ihre  Arbeiter  besser  bezahlen  als  andere  Anlagen  der  gleichen 
Art.  Derartige  Betriebe  geniefsen  bei  den  Arbeitern  ohne  Rück- 
sicht auf  ihre  Parteistellung  das  meiste  Ansehen."  ') 

Leider  gestattet  das  zu  Gebote  stehende  Material  nicht,  der 
Frage,  die  Wörishoffer  hier  streift,  näher  zu  treten  und  die  sonstigen 
Arbeitsbedingungen  dieser  Betriebe  wie  Lohnhöhe,  Länge  der  Ar- 
beitszeit u.  s.  w.  zu  betrachten.  Es  ist  kein  gutes  Zeichen,  dafs  in 
all  den  vielen  Berichten,  in  denen  — sogar  mitunter  etwas  auf- 
dringlich — an  der  Hand  der  ins  Leben  gerufenen  Wohlfahrts- 
anstalten das  soziale  Empfinden  der  Betriebsleiter  gepriesen  wird, 
über  diese  wichtigen  Punkte  so  gut  wie  nichts  enthalten  ist. 

Neben  dem  Mals  von  Freiheit,  das  er  seinen  Arbeitern  gewährt, 
sind  es  gerade  die  Höhe  des  Lohnes  und  die  länge  der  Arbeitszeit, 
die  den  besten  Prüfstein  für  das  soziale  Verständnis  eines  Arbeit- 
gebers abgeben ; denn  wenn  man  unter  Arbeiterwohlfahrtseinrich- 
tungen die  Mafsnahmen  versteht,  durch  welche  der  Arbeitgeber 
durch  sein  individuelles  Einwirken  die  wirtschaftliche  und  soziale 
Lage  seiner  Angestellten  bessern  kann,  so  sind  die  Höhe  des 
Lohnes  und  die  Länge  der  Arbeitszeit  diejenigen  Punkte,  an  denen 
ein  derartiges  Streben  am  ersten  einzusetzen  hat.  Dafs  man  auch 
von  anderer  Seite  diese  Auffassung  teilt,  geht  daraus  hervor,  dal> 
die  neueste  Publikation  des  österreichischen  Arbeitsamtes,  welche 
die  Wohlfahrtseinrichtungen  der  privaten  Arbeitgeber  behandelt,  der 


’)  Bericht  der  badischen  l-abrikinspektion  Ihr  das  Jahr  1895,  S.  111. 


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Wohlfahrteeinrichtungen  der  Arbeitgeber.  537 

Frage  des  Lohnes  und  der  Länge  der  Arbeitszeit  zwei  umfangreiche 
Kapitel  widmet.  *) 

Wenn  es  auch  nur  weniges  ist,  das  wir  den  verschiedenen 
Schriften  über  Wohlfahrtseinrichtungen  über  diese  beiden  so  wich- 
tigen Punkte  entnehmen  können,  so  genügt  doch  dies  wenige  um 
zu  sehen,  wie  viel  hier  noch  zu  thun  übrig  ist. 

In  der  „Bergischen  Stahlindustrie“,  die  ein  eigenes  Wohlfahrts- 
bureau besitzt  und  deren  Wohlfahrtseinrichtungcn  Kollek  und  Ziegler 
ein  nahezu  5c»  Seiten  dickes  Buch  gewidmet  haben,  beträgt  die 
Länge  der  Arbeitszeit  ausschliefslich  der  Pausen : 

Im  Sommer  für  jugendliche  Arbeiter  gljt  Stunden,  für  er- 
wachsene Arbeiter  io*/4  Stunden;  im  Winter  für  jugendliche  Ar- 
beiter auch  91/«,  für  erwachsene  Arbeiter  IO '/*  Stunden.  Für  Nacht- 
arbeiter Sommer  und  Winter  ausschliefslich  einer  einstündigcn  Pause 
1 1 Stunden. 

Was  die  Löhne  anlangt,  so  wissen  wir  nur,  dals  bei  der  In- 
validenversicherung 6 °/#  der  gesamten  Arbeiterschaft  (jugendliche 
Arbeiter)  in  die  Lohnklasse  II  (350 — 550  \lk.),  91  °/#  in  die  Lohn- 
klasse IV  (850 — 1150  Mk.)  fallen;  3 der  Arbeiter  sind  nicht 
versicherungspflichtig,  da  sie  unter  16  Jahre  alt  sind.  Der  Lohn- 
klasse  V (über  1 1 50  Mk.)  gehören  also  keine  Arbeiter  an. 

So  notdürftig  und  ungenügend  diese  Angaben  auch  sind,  sie 
zeigen  doch,  dafs  von  einer  guten  Bezahlung  keine  Rede  sein  kann. 

Es  ist  recht  schön  und  gut,  dafs  man  für  den  Arbeiter  und 
seine  Angehörigen  in  den  Zeiten  sorgt,  wo  sie  krank  und  erwerbs- 
unfähig sind;  weit  wichtiger  aber  als  dies  ist  es,  dafs  er  einen  Lohn 
erhält,  der  ihm  eine  auskömmliche  Lebenshaltung  ermöglicht,  und 
dafs  die  Arbeitszeit  nicht  so  lange  bemessen  ist,  dafs  er  in  sittlicher 
und  hygienischer  Beziehung  darunter  zu  leiden  hat. 

Gerade  aber  in  den  Gegenden,  in  denen  jene  Arbeiterwohl- 
fahrtseinrichtungen so  häufig  anzutreffen  sind,  lassen  Arbeitslohn 
und  Arbeitszeit  sehr  zu  wünschen  übrig.  Diese  sind  aber  die 
Punkte,  von  denen  in  erster  Linie  das  Aufsteigen  der  Arbeiterklasse 
abhängt.  In  dieser  Beziehung  haben  die  Arbeitgeber,  denen  das 
Wohl  ihrer  Angestellten  aufrichtig  am  Herzen  liegt,  ein  reiches 
Feld  ihrer  Bethätigung  vor  sich.  Leider  zeigt  aber  die  Erfahrung, 


*)  Die  VVohUahrteemricbtungcn  der  Arbeitgeber  zu  Gunsten  ihrer  Angestellten 
und  Arbeiter  in  Oesterreich,  bis  jetzt  erschienen  I.  Teil:  Wohlfahrtscinrichtungen 
der  Eisenbahnen.  Wien  1902  u.  1903. 

Archiv  für  »o*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVfll.  35 


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Paul  Mora  b er  t,  Wohlfahrtseinrichtungen  der  Arbeitgeber. 


dafs  Fortschritte  in  dieser  Richtung  nur  in  den  seltensten  Fällen 
der  Initiative  der  Arbeitgeber  selbst  entspringen  und  dafs  die  Ar- 
beiterschaft nur  durch  einheitliches  Vorgehen  und  engen  Zusammen- 
schlufs  sich  Verbesserungen  auf  diesem  Gebiete  erringen  kann.  Es 
wurde  aber  im  vorangegangenen  mehrfach  darauf  hingewiesen,  wie 
sehr  jene  Wohlfahrtseinrichtungen  diesen  Zusammenschlufs  der 
Arbeiterschaft  erschweren,  und  mit  welch  grofsem  Mifstraucn  man 
ihnen  deshalb  gegenübertreten  mufs,  zumal  bekannt  ist,  dafs  in 
vielen  Fällen  weniger  die  Fürsorge  für  die  Arbeiter,  als  die  be- 
wufste  Absicht,  sie  in  eine  verschärfte  Abhängigkeit  zu  bringen, 
an  der  Wiege  derartiger  Anstalten  gestanden  hat.  Wo  im  ein- 
zelnen Fall  das  eine  oder  andere  Ziel  vorgeschwebt  hat,  läfst 
sich  nur  in  den  seltensten  Fällen  für  den  Aufsenstehenden  beant- 
worten; aber  ausschlaggebend  für  die  Beurteilung  dieser  Einrich- 
tungen sind  allein  ihre  Wirkungen  und  diese  bilden  unzweifelhaft  ein 
grobes  Hindernis  für  das  Aufsteigen  der  Arbeiterklasse. 

Anmerkung.  Obiger  Aufsatz  ist  bereits  Ende  November  1902  abgeschlossen 
worden.  Ich  kann  deshalb  nur  anmerkungswcisc  auf  einiges  seitdem  neu  erschienene 
eingehen.  Zunächst  sei  die  Schrift  v.  Erd  inan  ns,  „Die  Wohlfahrtspflege“» 
Jena  1903,  erwähnt,  die  diese  Fragen  jedoch  mehr  systematisch  als  kritisch  be- 
handelt und  die  wirtschaftliche  Bedeutung  nur  unzureichend  berücksichtigt.  Man 
vgl.  ferner  die  Arbeit  Piepers,  „Die  Lage  der  Bergarbeiter  im  Ruhr- 
revier“. Stuttgart  1903,  der,  was  die  dortigen  Zechen  Wohnungen  anlangt,  alle  von 
mir  hervorgehobenen  Nachteile  derselben  (a.  a.  O.  S.  205)  für  den  Arbeiter  bestätigt. 
Ein  neues  Beispiel  einer  derartigen  „Wohnungsftirsorge“  bringt  der  Bericht  der 
Badischen  Fabrikinspektion  1903,  S.  55:  $ 4 des  Mictsvertrages  einer 
Seidenweberei  in  Rheinfclden  schreibt  vor:  „Es  müssen  per  Wohnung  mindestens 
drei  Personen  in  der  Fabrik  von  X.  Y.  Z.  beschäftigt  sein.  Wo  dies  bei  der  eigenen 
Familie  des  Mieters  nicht  zutrifft,  so  ist  er  verpflichtet  Arbeiter  oder  Arbeiterinnen 
aus  dem  Geschäfte  des  Vermieters  in  Kost  und  Logis  zu  nehmen.  Kostgeld  und 
Miete  unterliegen  der  Genehmigung  von  X.  Y.  Z.“  Ein  eingehendes  Material  über 
diese  oben  berührten  Fragen  bieten  ferner  die  betreffenden  Abschnitte  des  Dämmer- 
sehen  „11  andbuchs  derArbciter  wohlfahr  t“.  Es  fehlt  jedoch  den  betreffenden 
Kapiteln  jede  Kritik.  Dafs  auch  in  den  Kreisen  der  Privatbcamtcn  ähnliche  Stimmung 
gegenüber  den  Wohlfahrtscinrichtungcn  wie  in  Arbeiterkreisen  herrscht,  zeigt  die 
Schrift  von  Fluistens,  „Die  staatliche  Pensionsversicher ung  der 
Privat  beamten“,  Berlin  1903,  S.  19  ff.  Sein  Urteil  über  die  llauskassen,  welche 
viele  Firmen  „zu  Gunsten“  ihrer  Angestellten  errichtet  haben,  fafst  der  Verf.  in  den 
Satz  zusammen : „Diese  Kassen  sind,  das  mufs  auch  an  dieser  Stejle  auf  das  nach- 
drücklichste betont  werden,  weiter  nichts  als  ein  Mittel,  die  Stellung  des  Unter- 
nehmers zu  stärken  und  ihn  billig  in  den  Ruf  eines  humanen  Arbeitgebers  zu  bringen.“ 

Eine  vorzügliche  Darstellung  der  Gründe,  die  Wörishofler  zu  seiner  ablehnenden 
Haltung  derartigen  Wohlfahrtseinrichtungen  gegenüber  veranlafsten,  findet  sich  bei 
Dr.  Fuchs,  „Friedrich  W ö rish  o f fc  r“ , Karlsruhe  1903,  S.  45  ff. 


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Die  Reichstagwahlen  von  1898  und  1903. 

Eine  statistische  Studie 

von 

ADOLF  BRAUN 

in  Nürnberg. 

Die  politischen  Massenerscheinungen  sind  trotz  des  lebhaften 
Interesses,  das  sie  beanspruchen,  mit  den  zwar  nicht  ausreichenden, 
aber  an  einzig  unparteiischen  Mitteln  der  statistischen  Methode  noch 
wenig  erforscht.  Die  amtliche  Statistik  der  Reichstagswahlen  be- 
schränkt sich  auf  eine  Feststellung  der  absoluten  und  relativen 
Zahlen,  die  in  jedem  Wahlkreise  für  den  Vertreter  oder  Partei  ab- 
gegeben werden,  Kombinationen  werden  vollkommen  vermieden. 
Die  amtliche  Statistik  hat  es  unterlassen,  das  Material  der  Wahl- 
statistik mit  bevölkerungs-,  wirtschafts-,  sozial-,  kriminalstatistischen 
und  anderen  Daten  zu  kombinieren;  dem  Privatstatistiker  ist  dies 
nicht  möglich,  weil  die  Zahlen  der  amtlichen  Statistik  nach  völlig 
verschiedenen  geographischen  Gesichtspunkten  ausgesondert  werden 
wie  die  Daten  der  Reichstagswahlstatistik.  Ich  habe  an  anderer 
Stelle  ')  die  methodische  Seite  dieser  Präge  erörtert,  hier  soll  nur 
an  einem  Versuch  gezeigt  werden,  dafs  sich  auch  ausschliefslich  mit 
den  Elementen  der  Reichstagwahlstatistik  eine  Reihe  bemerkens- 
werter Resultate  erzielen  lassen.  Ich  bemühe  mich , lediglich 
die  Zahlen  sprechen  zu  lassen  und  die  Parteien  in  ihrer  Ent- 
wicklung zwischen  den  beiden  letzten  Wahlgängen  wie  in  ihrem 
Vorwärts-  beziehentlich  Rückwärtsschreiten  gegenüber  anderen 
Parteien  vorzuführen.  Ich  sehe  dabei  ganz  ab  von  der  Wieder- 
holung der  in  der  amtlichen  Veröffentlichung  mitgeteilten  absoluten 
Zahlen. 


’)  Neue  Zeit  (Stuttgart)  XXI,  2 [1903)  S.  412  fr. 


35* 


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540 


Adolf  Braun, 


Die  charakteristische  Erscheinung  der  Wahl  vom  16.  Juni  1903 
war  eine  aufserordentlich  stärkere  Wahlbeteiligung  gegenüber  der 
vorangegangenen  Wahl  im  Jahre  1898.  Dies  sieht  man  deutlich 
aus  der  folgenden  Tabelle.  Die  Wahlbeteiligung  betrug  in  ...  . 
Kreisen,  in  denen  im  ersten  Wahlgange  die  höchste  Stimmenzahl 
hatte  der  Kandidat  der 


Unter 

40  ”0 

40—50 

0, 

0 

50 60 

01 

Io 

60 — 70 
•/. 

70—80 

% 

8O- 

0 

-90 

0 

90 IOO 

% 

Summa 

1898 

1903 

98 

°3 

98 

03 

98 

03 

98  03 

98 

□ 

□ 

m 

1S9S 1903 

Sozialdemokratie 

2 

26 

9 

44  1 52 

14 

57 

— 

2 

S7 

122 

Deutsche  Volkspartci 

— 

— 

— 

— 

— 

2 

3 ! :t 

— 

1 

— 

4 

Freisinnige  Volkspartei 

— 

— 

— 

l 

2 

— 

2 

— 

6 4 

2 

1 

— 

— 

12 

6 

Freisinnige  Vereinigung 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

1 

2 | 

1 

— 

— 

— 

4 

1 

Nationalliberale  Partei 

— 

— 

3 

— 

2 

1 

>9 

5 

10  1(1 

3 

8 

— 

— 

37 

* J 

Zentrum 

— 

— 

>5 

2 

3» 

8 

36 

17  I 48 

4 

13 

— 

— 

104 

1» 

Antisemiten 

— 

— 

3 

— 

5 

3 

3 

— 

2 4 

— 

1 

— 

— 

'3 

8 

Reichspartei 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

9 

l 

11  10 

s 

6 

— 

— 

*5 

11 

Deutsch-Konservativ 

I 

— 

2 

— 

9 

5 

26 

13 

24  34 

3 

WJ 

— 

— 

«5 

12 

Elsässer 

— 

— 

2 

— 

I 

1 

3 

3 

2 1 

2 

4 

— 

— 

10 

9 

Polen 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

2 

— 

8 5 

5 

12 

— 

1 

15 

18 

Welfen 

— 

— 

— 

1 

— 

3 

3 

2 1 

1 

1 

— 

— 

7 

5 

Nationalsoziale 

— 

— 

— 

— 

— 

— 



— 

— 

— 

— 

Bund  der  Landwirte 

— 

— 

— 

2 

— 

2 

— 

1 1 2 

— 

— 

— 

— 

5 

Bauernbund 

I 

— 

— 

— 

3 

— 

1 

3 

— 1 

— 

— 

— 

5 

i 

Verschiedene  Parteien 

— 

— 

2 

4 

2 

— 

— 

— 1 — 

— 

— 

4 

4 

2 

25 

64 

'35 

'3i  ' 

40 

397 

— 

5 

22 

72 

181 

114 

3 

397 

Es  gab  im  Jahre  1903  keinen  Wahlkreis  mit  einer  Beteiligung 
von  weniger  als  40  Proz.  der  Wähler  (1898  : 2)  eine  Wahlbeteiligung 
von  40  bis  50  Proz.  gab  es  im  Jahre  1903  blofs  in  5 Wahlkreisen, 
im  Jahre  1898  in  25  Wahlkreisen.  Eine  Wahlbeteiligung  von  50 
bis  60  Proz.  im  Jahre  1903  in  22  Wahlkreisen,  im  Jahre  1898  in 
64  Wahlkreisen,  eine  Wahlbeteiligung  von  60  bis  70  Proz.  in  72 
Wahlkreisen  im  Jahre  1903,  in  135  dagegen  im  Jahre  1898. 
Während  also  eine  Beteiligung  von  weniger  als  70  Proz.  in  99 
Wahlkreisen  im  Jahre  1903  festgestellt  wurde,  war  eine  solche  im 
Jahre  1898  für  224  Wahlkreise  festzustellen.  In  13 1 Wahlkreisen 
betrug  im  Jahre  1898  die  Wahlbeteiligung  70  bis  80  Proz,  im  Jahr 
1903  dagegen  in  18 1 Wahlkreisen.  Noch  schärfer  weicht  die 
stärkere  Wahlbeteiligung  ab  in  der  Gruppe  der  Wahlkreise  mit 
80  bis  90  Proz.;  hier  haben  wir  blofs  40  im  Jahre  1898,  dagegen 
114  im  Jahre  1903.  Eine  Wahlbeteiligung  mit  90  bis  100  Proz. 


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Die  Reichstagwahlen  von  1898  und  1903. 


541 


konnte  1898  überhaupt  nicht  festgestellt  werden,  sie  war  aber  am 
16.  Juni  1903  in  3 Wahlkreisen  nachzuweisen.  Bei  den  verschie- 
denen Parteien  zeigt  sich  die  verstärkte  Wahlbeteiligung  in  un- 
gleicher Weise,  einiges  ist  in  dieser  Hinsicht  aus  der  vorstehenden 
Tabelle  zu  entnehmen. 

Diese  giebt  auch  eine  Zusammenstellung  der  relativen  Mehr- 
heiten : die  gröfste  Steigerung  zeigt  sich  bei  den  Sozialdemokraten, 
ein  Anschwellen  der  relativen  Mehrheiten  von  87  (1898)  auf  122 
(1903)  Wahlkreise;  dann  folgen  die  Polen  mit  der  Steigerung  von 
15  auf  18,  das  Zentrum  von  104  auf  105.  Nichts  geändert  hat 
sich  bei  der  deutschen  Volkspartei,  bei  den  National-sozialen  und 
bei  den  „verschiedenen  Parteien";  alle  übrigen  wiesen  eine  starke 
Verminderung  ihrer  Wahlkreise  mit  relativen  Mehrheiten  auf,  wie 
dies  aus  den  Summenzahlen  zu  ersehen  ist.  Das  Vorschreiten,  be- 
ziehentlich die  Stabilität  oder  der  Rückgang  der  Parteien  hinsicht- 
lich der  Kreise  mit  relativen  Mehrheiten  ist  deutlicher  zu  ersehen 
aus  der  folgenden  Zusammenstellung,  in  der  die  Zahl  der  Wahl- 
kreise mit  stärkster  Stimmenzahl  jeder  Partei  im  ersten  Wahlgange 


im  Juni  1898  mit  IOO  angenommen  ist.  Danach  hätten  im 
1903  relative  Mehrheiten  aufzu weisen  die 

Jahre 

Sozialdemokratische  Partei 

140,2 

der  bayerische  Bauernbund  . 

80,0 

Polen 

120,0 

die  Welfen 

7M 

das  Zentrum 

100,9 

die  Reichspartei 

68,0 

die  deutsche  Volkspartei,  die 

die  Antisemiten  und  Christlich- 

Nationalsozialen  und  die 

soziale 

61,5 

„Verschiedenen“  .... 

100,0 

die  freisinnige  Volkspartci 

50,0 

die  Deutsch-Konservativen 

95.7 

der  Bund  der  Landwirte  . . 

40,0 

die  Elsässer 

90,0 

die  freisinnige  Vereinigung 

25tO 

die  nationalliberale  Partei 

81,1 

Cum  grano  salis  sind  vorstehende  Zahlen  zu  beurteilen.  Sie 
reichen  nicht  aus,  um  die  relative  Stärke  der  Parteien  bei  den  Wahlen 
von  1898  und  1903  zu  erkennen,  wohl  aber  um  sich  über  die 
Festigkeit  ein  Bild  zu  schaffen,  mit  der  sie  in  den  verschiedenen 
Wahlkörpern  Wurzel  gefafst  haben. 

Weniger  die  natürliche  Bevölkerungsbewegung  als  die  soziale 
Wandetbewegung  haben  eine  aufserordentlich  starke  Ungleichheit 
der  Wahlkreise  geschaffen.  Seit  1867  besteht  in  Norddeutschland, 
seit  1871  in  Süddeutschland  die  Abgrenzung  der  Wahlkreise  un- 
verändert. Einzelne  sind  in  der  Volkszahl  zurückgegangen,  in  der 
Mehrzahl  hat  diese  sich  aber  vermehrt,  zum  Teil  fast  versieben- 


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542 


Adolf  Braun 


facht , so  in  Berlin  VI,  in  Teltow-Beeskow-Charlottenburg.  Wie 
die  verschiedene  Volksdichtigkeit  der  ursprünglich  — von  den 
Kleinstaaten  abgesehen  — gleich  starken  Bevölkerung  der  Reichs- 
tagswahlkreise in  den  Wahlen  von  1898  und  1903  auf  die  Wahl- 
beteiligung wirkte,  ersieht  man  aus  der  nachstehenden  Zusammen- 
stellung: 


Wahl- 

Unter 

40- 

0 

5° 

50- 

0 

60 

60 

0 

7° 

70  - SO 
Ol 

80-90 

Ol 

90- 

0 

IOO 

Summa 

berechtigte 

IO 



0 

0 

0 

0 

0 

I898 

«903 

98 

03 

98 

03 

98 

03 

98 

03 

98 

03 

03 

18984903 

bis 

0 

0 

0 

0 

N 

8 



16 

8 

17 

12 

21 

16 

9 

18 

71 

54 

2o  — 

25  OOO 

1 

— 

1 

23 

6 

42 

26 

3« 

61 

8 

14 

— 

2 

116 

110 

25- 

30  000 

I 

— 

4 

1 

12 

3 

40 

20 

27 

34 

>3 

29 

— 

— 

97 

87 

3°— 

35  000 

— 

— 

2 

1 

4 

2 

l6 

7 

25 

30 

3 

ln 

— 

— 

5° 

55 

35- 

40  OOO 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

9 

4 

IO 

16 

1 

11 

— 

— 

2t 

31 

40  — 

45  OOO 

— 

— 

— 

— 

2 

— 

2 

7 

10 

3 

11 

— 

— 

14 

31 

45  — 

50  OOO 

— 

— 

— 

— 

I 



4 

3 

1 

4 

— 

— 

6 

9 

5° — 

55  000 

— 

— 

— 

— 

3 

1 

1 

2 

> 

3 

— 

1 

6 

7 

55 — 

60  OOO 

— 

— 

— 

— 

2 

— 

— 

1 

1 

1 

— 

— 

3 

2 

60 — 

65  OOO 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

I 

3 

— 

4 

— 

— 

2 

7 

65- 

*T/-\ 

70  OOO 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

— 

I 

■ 

1 

— 

— 

1 

i 

/U 

75— 

75  000 

80  OOO 













I 

l 







2 

1 

80- 

85  OOO 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

1 

85 — 

90  OOO 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

2 

— 

— 

1 

3 

9° — 

95  «00 

— 

— 

— 



— 

— 

— 

— 

— 

0 

— 

— 

— 

— 

95 — 

loo  OOO 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

I 

— 

I 

— 

— 

— 

2 

2 

100  — 

125  000 

' 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

I 

1 

— 

I 

— 

— 

1 

3 

125— 

I 50  OOO 

• 

— - 

— 

— 

— 

2 

— 

— 

— 

1 

— 

2 

1 

über 

50  OOO 

— 

— 

— 

— 

- 



— 

1 

— 

— 

— 

1 

• 2- 

25 

60 

136 

133 

4‘ 



397 

>umniA  ’• 

— 

3 

20 

72 

183 

116 

3 

397 

Die  Tabelle  ergiebt  vor  allem,  dafs  es  im  Jahre  1898  noch  284, 
1903  blofs  noch  251  Wahlkreise  mit  weniger  als  30000  Wahl- 
berechtigten gab.  Kommen  auch  in  den  kleinsten  Wahlkreisen  die 
relativ  schwächsten  Wahlbeteiligungsziffern  vor,  so  finden  wir  doch 
auch  eine  Verdoppelung  der  Kreise  mit  der  zweitstärksten  Wahl- 
beteiligung bei  den  Wahlkreisen  mit  weniger  als  20000  Wahlbe- 
rechtigten. Wohl  finden  wir  noch  stärkere  Steigerungskoeffizienten 
in  den  dichter  besetzten  Wahlkreisen,  aber  trotzdem  bleibt  die 
starke  Wahlbeteiligung  in  dieser  Gruppe  von  Wahlkreisen  höchst 
bemerkenswert  und  auffallend;  sie  erklärt  sich  aus  der  Zugehörig- 
keit der  hochindustriellen  Kleinstaaten  zu  dieser  Gruppe,  in  denen 
bürgerliche  Parteien  mit  der  Sozialdemokratie  sehr  harte  Wahlkämpfe 
führten.  Aus  den  fetten  Zahlen,  welche  die  in  jeder  Gruppe  häu- 


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Die  Reichstag  wählen  von  1898  und  1905. 


543 


figste  Wahlbeteiligungsstärke  hervorheben,  erkennt  man  ebenso  wie 
aus  dem  gesamten  Zahlenbilde,  dafs  es  bei  der  letzten  Reichstags- 
wahl vor  allem  eine  nicht  von  vielen  Ausnahmen  durchbrochene  Regel 
war,  dafs  mit  der  gröfseren  Zahl  der  Wahlberechtigten,  nicht  blofs 
wie  selbstverständlich  die  absolute  Zahl  der  abstimmenden,  sondern 
auch  die  relative  Wahlbeteiligung  wuchs.  Die  Steigerung  der 
Volkszahl  in  den  Wahlkreisen  hängt  fast  immer  mit  dem  rascheren 
Gange  der  Industrialisierung  zusammen,  diese,  aber  auch  schon  die 
stärkere  Zusammenballung  der  Bevölkerung  führt  zu  lebhafterem 
geistigen  und  speziell  politischem  Leben,  zum  Hervortreten  sozialer 
und  damit  politischer  Gegensätze , zu  einem  Wetteifer  der  ver- 
schiedenen Richtungen  bei  der  Wahl  und  damit  zu  gesteigerter 
Wahlbeteiligung.  Die  Ausnahmen  von  der  Regel  erklären  sich  aus 
dem  hervorstechendem  Uebcrwiegen  einer  Partei,  welche  sowohl  den 
Eifer  der  Parteigänger,  deren  Richtung  der  Sieg  gewifs  ist,  ebenso 
mindert  wie  den  ihrer  Gegner. 

Ein  unerwartetes  Ergebnis  ergab  die  Untersuchung  des  Ein- 
flusses der  Zahl  der  Kandidaten  auf  die  Stärke  der  Wahlbeteiligung. 
A priori  sollte  man  annchmen,  dafs  mit  der  Zahl  der  Kandidaten, 
die  Wahlbeteiligung  steigen  müsse,  denn  erstens  wird  jeder  Wähler 
bei  gröfserer  Zahl  von  Kandidaten  eher  einen  finden,  der  seinen 
Anforderungen  an  einen  Reichstagsabgeordneten  entsprechen  würde, 
und  dann  wird  der  Eifer  der  gröfseren  Zahl  von  Wahlkoinites 
mehr  Wähler  an  die  Wahlurne  fuhren,  als  eine  geringere  Zahl  von 
Organisationen,  die  sich  im  Wahlkampfe  bethätigt. 

Den  erwarteten  Aufschlufs  giebt  die  nachstehende  Tabelle 
nicht : 


Unter 

40 

‘ 

5° 

io— 60 

OLl— 70 

70 — So 

80-90 

90- 

-IOO 

Wahlbeteiligung 

4°  "0 

0 

t. 

Of 

>0 

ot 

so 

% 

0/ 

0 

f* 

Summa 

in 

Wahlkreiien 

189S  1903 

98 

°3 

98  03 

98  [ 03 

98  »3 

öS  03 

03 

1398(1903 

bei  einem  Kandidaten 

1 : 1 

I 

1 1 

1,  2 Kandidaten 

— 

4 

— 

4 — 

.)  2 

9 8 

1 lü 

— 

1 

22  19 

— 

— 

1 i 

— 

18  6 

38  24 

35  47 

Ki  41 

— 

1 

u8,122 

t*  4 ft 

l 

— 

4 

2 

iS  9 

52  27 

5 1 s» 

15  1 42 

— 

— 

141  [ 189 

->  5 

— 

— 

5 

i 

13  3 

.iä  l’; 

34  37 

9 j 14 

— 

— 

93  1 71 

„ 6 
..  7 

I 

1 



i\  1 

2 f — 

10  3 

4 4 

1 6 

1 

20  | 15 
2 — 

Summa 

2 

45 

60 

138 ! 

•33’ 

41 

__ 

397 

— 

3 

20 

72 

ISS 

116 

3 

397 

1 

I 


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S44 


Adolf  Braun, 


Wir  finden  merkwürdigerweise  unter  den  Zahlen  für  das  Jahr 
1898  Wahlkreise  mit  blofs  einem  und  mit  sieben  Mandatswerbern, 
welche  in  dieselbe  Gruppe  von  Stärke  der  Wahlbeteiligung  ge- 
hören, für  das  Jahr  1903  fehlen  Wahlkreise  mit  mehr  als  sechs 
Kandidaten,  der  Wahlkreis  mit  einem  Kandidaten  gehört  1898 
wie  1903  in  die  gleiche  Gruppe.  Bei  der  Wahl  vom  Jahre  1903 
kam  in  den  Wahlkreisen  mit  blofs  zwei  Kandidaten  eine  stärkere 
Wahlbeteiligung  zum  Ausdruck  als  in  allen  anderen  Gruppen,  während 
bei  der  Wahl  vom  Jahre  1898  eine  stärkere  Wahlbeteiligung  durch 
eine  grölsere  Zahl  von  Parteien,  die  um  die  Mandate  rangen,  hervor- 
gerufen wurde.  Es  rührt  diese  auffallende  Verschiedenheit  jeden- 
falls in  erster  Linie  von  dem  Umstande  her,  dafs  das  Volk  im 
Jahre  1903  durch  eine  alle  Gemüter  bewegende  Frage  in  zwei 
Hauptgruppen  geschieden  war,  so  dafs  für  viele  Wähler  die  weiteren 
Parteiunterschiede  weniger  entscheidend  waren,  während  bei  der 
Wahl  vom  Jahre  1898  der  Kampf  der  vielen  Parteien  schroffer  zum 
Ausdruck  kam,  weil  es  an  einer  ähnlichen  Wahlparole  fehlte.  In  den 
übrigens  nicht  vielen  (19)  Wahlkreisen  mit  blols  zwei  Kandidaten 
stand  ein  Freund  der  Schutzzollpolitik  einem  Gegner  derselben,  ein 
bürgerlicher  einem  sozialdemokratischen  Kandidaten  gegenüber,  es 
handelt  sich  auch  vielfach  um  Kreise  im  Königreiche  Sachsen, 
die  auch  aus  anderen  Gründen  eine  scharfe  Wahlbeteiligung  auf- 
wiesen. 

Die  Zahl  der  aus  der  amtlichen  Wahlstatistik  nachweisbaren 
Kandidaten  betrug  im  Jahre  1898  1552,  im  Jahre  1903  etwas 
weniger:  1526.  Bei  beiden  Wahlen  war  die  Zahl  der  Wahlkreise 
mit  vier  Kandidaten  die  gröfste  (1898:  141=35,5  Proz.;  1903: 
1 69  — 42,6  Proz.  aller  Wahlkreise).  So  überwog  die  Zahl  der 
Wahlkreise  mit  vier  Kandidaten  im  Jahre  1903  die  der  in  gleicher 
Weise  umworbenen  Bezirke  im  Jahre  1898.  Fast  gleich  blieb  die 
Zahl  der  Kreise  mit  weniger  als  vier  Kandidaten  (1898:  14 1; 
1903:  142),  desto  interessanter  ist,  dafs  die  Zahl  der  Wahlkreise 
mit  mehr  als  vier  Kandidaten  im  Jahre  1903  in  allen  Gruppen 
hinter  denen  vom  Jahre  1898  erheblich  zurückblieb. 


1903 

1898 

Ueber 

vier  Kandidaten 

hatten  86  (21,66  Pro*.)  115  (28.97  Proz.j 

ti 

fünf 

■1 

„ 71  (>7,89  „ 

) 93  (23,43  ..  ) 

11 

sechs 

.. 

..  'S  (3.7*  .. 

) 20  (5.04  ) 

sieben 

it 

„ — (0,00  „ 

) 2 (0,005  ..  ) 

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Die  Rcichstagwablen  von  1898  und  1903. 


545 


Die  vorstehende  Tabelle  giebt  ferner  noch  ein  besonderes  Bild 
über  die  stärkere  Wahlbeteiligung.  Im  Jahre  1903  wies  die  Wahl- 
statistik keinen  Wahlkreis  mit  einer  Wahlbeteiligung  von  weniger 
als  40  Proz.  auf  und  blofs  3,  in  denen  noch  nicht  die  Hälfte  der 
Wähler  zur  Urne  gingen.  Gruppieren  wir  etwas  anders  als  in  der 
obenstehenden  Tabelle,  so  erhalten  wir  das  folgende  anschauliche  Bild, 

1903  1898 

Zahl  der  Wahlkreise  mit  einer  Beteiligung  absol.  Proz.  absol.  Proz. 


bis  zu  50  Proz 3 0,008  27  6,80 

»on  50—70  91  23,17  196  49,37 

von  70—80  „ 183  46,10  133  33,50 

Uber  80  „ 119  30,72  41  10,33 


In  mehr  als  % aller  Wahlkreise  war  im  Jahre  1903  die  Be- 
teiligung eine  stärkere  als  70  Proz.,  dagegen  wurde  diese  von  nicht 
viel  mehr  als  */s  der  Wahlkreise  im  Jahre  1898  erreicht. 

Die  Stärke  der  Wahlbeteiligung  kam  den  Parteien  nicht  in 
gleicher  Weise  zu  gute,  wie  die  folgende  Tabelle  nachweist : 


bei  den  Parteien 

eine 

Mehrung 

eine 

Minde- 

rung 

• 

•O  V i 0 tj 

a 3T.J 
e 's  £ « 

45 

O 
C *o 

rt  ■r. 

»-  > 
S5 

Stimmenzahl  in 
....  Kreisen. 

wzialdemokratic  . . 

380  330 

10 

60 

absolute  Mehrung 

V.  370. 

relative  Mehrung 

V. 

270  Wahlkreisen 

tatsche  Volkspartei 

>5  >3 

39 

41 

» 

Minderung 

„■  24, 

11 

Minderung 

„ 

28 

’reisinnige  „ 

85  67 

106 

124 

»1 

>1 

21, 

11 

11 

57 

„ Vereinigung 

29  20 

37 

46 

w 

„ 

„ 8, 

ii 

11 

11 

26 

Wionallibcralc  . . 

161  121 

74 

114 

Mehrung 

„ 87, 

11 

Mehrung 

„ 

7 

-entrum 

248  165 

31 

114 

»t 

„ 217. 

11 

„ 

11 

51 

Antisemit.  (Chr.  Soz.) 

481  41 

81 

88 

II 

Minderung 

„ 33, 

17 

Minderung 

11 

47 

tatsch  Konservativ. 

102 1 74 

64 

92 

Mehrung 

„ 3«. 

II 

11 

18 

ieichspartei  . . . 

32  21 

35 

46 

Minderung 

3, 

• 1 

„ 

11 

25 

Elsässer 

6 4 

8 

10 

„ 2, 

II 

6 

i*olen 

S*  39 

9 

22 

Mehrung 

..  43. 

II 

Mehrung 

„ 

17 

Welfen 

11  6 

11 

16 

„ °l 

II 

Minderung 

10 

„ 

Bund  der  Landwirte 

431  42 

26 

27 

..  17, 

II 

Mehrung 

Bauernbund  . . . 

16  14 

31 

33 

Minderung 

„ 15, 

Minderung 

19 

,, 

Nztionadsoziale  - . 

16  16 

10 

10 

II 

Mehrung 

..  6, 

” 

Mehrung 

6 

** 

Eine  absolute  Zunahme  von  Wahlkreisen  mit  gesteigerten 
Stimmenzahlen  weisen  sieben  Parteien  (Sozialdemokraten,  Zentrum, 


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546 


Adolf  Braun, 


Nationalliberale,  Polen,  Deutsch-Konservative,  Bund  der  Landwirte 
und  Nationalsoziale  *)  auf,  einer  Steigerung  ihrer  Wahlkreise  mit 
erhöhtem  prozentualen  Anteil  an  den  abgegebenen  Stimmen  können 
sich  sechs  Parteien  rühmen  (Sozialdemokraten,  Zentrum,  Polen, 
Bund  der  I .andwirte,  Nationalliberale,  Nationalsoziale).  Der  abso- 
luten Mehrung  stehen  relative  Minderungen  gegenüber  bei  den 
Deutsch-Konservativen,  bei  den  Welfen  geht  ein  absolutes  Gleich- 
bleiben ihrer  Wahlkreise  mit  einer  relativen  Minderung  der 
Stimmenzahl  in  io  Wahlkreisen  parallel. 

Angeschlossen  sei  die  Tabelle  der  Wahlkreise,  welche  die  im 
ersten  Wahlgange  erzielten  absoluten  Mehrheiten  der  Abstimmenden, 
nicht  der  Wahlberechtigten,  veranschaulicht: 


Es  siegten  im  ersten  Wahlgange 

1898 

1903 

die  Sozialdemokraten 

3* 

56 

„ deutsche  Volkspartci 

— 

| — 

„ freisinnige  Volkspartci 

1 

— 

„ „ Vereinigung 

1 

I — 

„ nationallibcralc  Partei 

9 

6 

das  Zentrum 

83 

85) 

die  Antisemiten 

5 

2 

,,  Reichspartei 

1 1 

6 

„ Deutsch-Konservativen 

40 

33 

„ Elsässer 

8 

6 

„ Polen  . . . 

13 

14 

„ Welfen 

— 

1 

„ Nationalzozialen 

— | 

1 

der  Bund  der  Landwirte j 

2 

| 

„ Bauernbund 

4 

3 

Summa  . 

169 

215 

lm  Jahre  1903  ergaben  die  Wahlen  in  46  Wahlkreisen  mehr 
als  1898  die  absolute  Mehrheit  der  Abstimmenden  für  eine  Partei, 
die  I lälfte  dieser  Wahlkreise  hat  die  Sozialdemokratie  erobert,  sonst 
weisen  einen  Fortschritt  blofs  das  Zentrum , die  Sozialdemokratie 
und  die  Polen  auf. 

Das  Ergebnis  der  Haupt-  und  Stichwahlen  in  Beziehung  zu 
den  Prozentanteilen  der  siegenden  Parteien  an  den  abgege- 
benen Stimmen  ersieht  man  aus  der  nachstehenden  Zusammen- 
stellung: 

*)  Die  Reihenfolge  entspricht  stets  der  Zahl  der  Wahlkreise,  die  in  Betracht 
kommen,  s.  Tabelle. 


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Die  Reichstagwahlen  von  1898  und  1903. 


547 


Es  sind  gewählt 
die  Abgeordneten 
der 

mit 

weniger 

»1«  3°*« 

30- 

0 

-40 

0 

40- 

U 

-5° 

0 

50—60 

0/ 

Io 

60  -70 

0/„ 

1 0 

70- 

0 

-80 

0 

SO  — OO 
Io 

90-100 

0/ 

Io 

Summa 

der  im 

ersten  Wahlgange  abgegebenen  Stimmen 

1 SoS 

1903 

9« 

03I98 

03 

9» 

OJ 

98 

03 

<jS 

03 

98 

«3 

9» 

«3 

I*“8  I90J 

Sozialdemokratie 

2 

5 

23 

30 

22 

43 

7 

9 

3 

4 



57 

81 

Deutsch.  Volks  parle) 

2 

1 

4 

« 

2 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

8 

7 

Freisinnigen  „ 

s 

9 

M 

8 

5 

3 

I 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

28 

20 

„ V.-nimgunu 

2 

2 

7 

K 

2 

1 

I 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

12 

9 

Naüonalliber.  Partei 

9 

8 

13 

1!) 

15 

17 

7 

6 

2 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

46 

?0 

des  Zentrums  . . . 

I 

2 

5 

2 

'3 

8 

20 

22 

*3 

IS 

11 

17 

15 

21 

24 

II 

102 

11)1 

der  Antisemiten  . . 

3 

3 

2 

2 

3 

4 

2 

1 

2 

1 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

13 

11 

T.  Reichspartei  . . 

1 

1 

6 

3 

5 

!! 

9 

6 

— 

1 

2 

— 

— 

— 

— 

— 

-3 

19 

„ Dtsch-Konscrv. 

— 

2 

7 

6 

IO 

14 

20 

18 

9 

6 

6 

3 

4 

5 

1 

5° 

55 

EUtinner  . . . 

— 

1 

2 

2 

l 

1 

3 

3 

2 

1 

2 

— 

* 

IO 

9 

„ Polen  .... 

— 

1 

— 

— 

— 

i 

2 

2 

4 

(i 

7 

6 

i 

— 

M 

16 

„ Welt«  a . . . 

2 

1 

2 

1 

5 

4 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

9 

ß 

„ Nationalsozialcn 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

’ 

— 

1 

des  Bundes  d.  Landw. 

2 

1 

2 

2 

— 

— 

2 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

6 

3 

des  Bauernbundes  . 

— 

1 

— 

— 

t 

1 

1 

3 

3 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

5 

0 

Unbestimmt  . . 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

_ _ 

— 

8 

4 

Zusammen  1S9S 

„ 1903 

3° 

33 

64 

61 

S6 

84 

88 

1IHI 

43 

46 

32 

31 

22 

■ 

26 

24 

13 

397  | 

397 

< 

Die  höchsten  Relativzahlen  weisen  auf  das  Zentrum,  die  Deutsch- 
Konservativen,  die  Elsässer,  dann  folgen  die  Polen  und  Sozialdemo- 
kraten, hierauf  die  Nationalliberale  Partei  und  die  Reichspartei.  Ein 
Eingehen  auf  die  Verschiebungen  zwischen  den  Wahlen  von  1898 
und  1903  sowie  auf  den  sonstigen  Inhalt  dieser  Tabelle  müssen 
wir  uns  leider  aus  Raumrücksichten  versagen.  Ergänzt  wird  die 
Tabelle  durch  die  nun  folgende: 

(Siche  die  Tabelle  auf  S.  548,  2.) 

Die  Verschiebungen  der  Parteien  werden  da  unter  anderen 
Gesichtspunkten  veranschaulicht,  und  zwar  unter  denen,  welche  Tür 
die  Wahlkämpfe  z.  T.  bedeutungsvoller  sind  als  die  absoluten  und 
die  relativen  Zahlen.  Wir  glauben , dafs  hier  das  Zahlen- 
bild so  deutlich  spricht,  dafs  sich  eine  Kommentierung  erübrigen 
durfte. 

Einen  kursorischen  Ueberblick  über  das  geographisch  erweiterte 
oder  eingeengte  Gebiet  für  die  einzelnen  Parteien  gewährt  die  nach- 
stehende Uebersicht,  welche  auch  zeigt,  dafs  die  Hauptsitze  der 
Parteien  1898  und  1903  die  gleichen  waren  blofs  bei  den  Sozialdemo- 
kraten, der  Reichspartei,  den  Antisemiten  und  beim  bayerischen 
Bauernbund. 


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548 


Adolf  Braun 


Parteien 

Es  wurden 
Stimmen 
abgegeben  in 
Wahlkreisen 
am  16.  Juni 

Höchster 

%-Satz 

Niedrigster 

°/0-Satz 

im  Wahlkreis 

1898 

19<>3 

1898 

‘903 

1898 

1903 

Sozialdemokratie  . . . 

385 

390 

73.« 

77.0 

Berlin  IV 

Berlin  IV 

0,2 

0.1 

Adelnau-Schildbcrg 

Wirsitz-Schubin 

Deutsche  Volkspartci  . 

49 

34 

42.7 

35,9 

Böblingen 

Strafsburg  (Land) 

0,2 

0,1 

Donauwörth 

Buchen- W ertheim 

Freisinnige  „ 

164 

141 

53.‘ 

46.1 

Bingen 

Löwenberg 

0,1 

0,2 

Tecklenburg 

Falkenbcrg 

„ Vereinigung 

53 

40 

52.3 

46,6 

Bremen 

Zabern 

0,3 

1.2 

Piritz 

Tecklenburg 

Nationalliberale  . . . 

167 

20  t 

57,6 

67,3 

Wolmirstedt 

Wittmund-Aurich 

0,1 

0,5 

Breslau  (Stadt) 

Mayen-Ahrweiler 

Zentrum 

236 

2B4 

99.3 

98,3 

Daum-Prüm 

Geilenkirchen 

0,2 

0,1 

Rosenberg  i.  Westpr. 

Randow 

Deutsch- Konservative  . 

‘35 

127 

87,5 

90,7 

Pr.  Holland 

Kreuzburg 

0,2 

0,5 

Biberach 

Adelnau-Koblenz 

Reichspartei  .... 

52 

43 

78,3 

62,2 

Mansfeld 

Mansfeld 

0,7 

0,2 

Heiligenstadt 

Neifse 

B.  Bauernbund  . . . 

35 

37 

67,0 

57,5 

Pfarrkirchen 

Pfarrkirchen 

0,3 

0,6 

Buchen-Werland 

Eichstädt 

Bund  der  Landwirte 

3> 

47 

59,7 

38,4 

Pvritz-Saalzig 

Crailsheim 

0,2 

0.3 

Erlangen-Fürth 

Düsseldorf 

Polen 

40 

57 

81.8 

79,7 

Adelnau-Schildbcrg 

Werse  hen 

0,1 

0.1 

Elbing-Marienburg 

Magdeburg  Stadt) 

Elsässer  

>4 

11 

86,2 

98,0 

Schlettstadt 

Saarburg 

0,3 

14,1 

Zabern 

Mühlhausen 

Welfen 

18 

20 

47,3 

4öt4 

Uelzen-Lüdrow 

Melle- Diepholz 

1 1,2 

0,4 

Neuhaus  a.  d.  0. 

Norden-Emden 

Antisemiten  .... 

116 

70 

76,1 

67.8 

Kassel  3 

Kassel  3 

0,1 

0.1 

Dortmund-Hörde 

Trier 

Nationalsoziale  . . . 

<4 

15 

23,9 

25.2 

Oldenburg  i.  H. 

Marburg 

0,1 

0,2 

Obertaunus 

Hamburg- OsL 

Es  war 

die 

stärkste 

18981903 

zweit- 

dritt- 

viert- 

fünft- 

scchst- 

über- 

haupt 

nicht 

ver- 

treten 

98  03 

stärkste 

Partei 

98 

°3 

98 

03 

98 

03 

98 

03 

98 

°3 

Sozialdemokratie  . . . 

86 

122 

1 12 

105 

129 

115 

44 

41 

13 

6 

1 

1 

1a  7 

Deutsche  Volkspartei  . . 

4 

4 

IO 

8 

12 

7 

1 1 

9 

10 

2 

2 

3 

348  364 

Freisinnige  ,,  . . 

12 

6 

43 

31 

62 

63 

26 

30 

•9 

8 

1 

3 

234  256 

„ Vereinigung  . 

4 

1 

18 

23 

‘7 

10 

10 

4 

4 

1 

— 

1 

344  357 

Nationalliberair  .... 

38 

30 

69 

93 

35 

57 

>9 

16 

3 

6 

3 

— 

230  195 

Zentrum 

I04 

105 

2> 

27 

3° 

38 

49 

70 

24 

21 

3 

3 

162  133 

Antisemiten  (Christ.  Soz.) 

12 

8 

6 

15 

32 

17 

41 

21 

21 

11 

4 

2 

281  323 

Reichspartei 

2 5 

17 

18 

15 

9 

9 

1 

2 

— 

- 

— 

344  354 

Deutsch-Konservative  . . 

64 

61 

40 

34 

16 

21 

10 

7 

4 

2 

2 

— 

261  272 

Welfen 

7 

5 

2! 

3 

6 

3 

4 

6 

2 

— 

1 

378  377 

Elsässer  

10 

9 

1 

I 

1 

3S.i  386 

Bund  der  Landwirte  . 

5 

2 

8 

3 

I 1 

14 

3 

22 

3 

7 

— 

— 

367  349 

Polen 

>5 

18 

9 

13 

3 

3 

4 

11 

5 

10 

4 

2 

357  34" 

Bauernbund 

5 

4 

21 

15 

2 

7 

5 

7 

3 

5 

— 

— 

361  359 

Litauer 

— 

— 

1 

- 

1 

1 

2 

1 

— 

— 

— 

393  395 

Dänen 

1 

1 

— 

_ 

I 

— 

2 

2 









393  394 

Nationalsoziale  .... 

— 

— 

II 

1 

5 

7 

.6 

6 

2 

4 

— 

2 

383  377 

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Die  Reichslagwahlen  von  1898  und  1903. 


549 


Die  relativen  Verschiebungen  der  Parteien  kann  man  zahlen- 
mäfsig,  genauer  als  es  bisher  möglich  war,  aus  nachstehender 
Tabelle  ersehen.  Der  Stimmenanteil  der  Parteien  betrug  bei  den 
Hauptwahlen  in  den  Jahren  1898  und  1903: 

(Siehe  die  Tabelle  auf  S.  550  und  551.) 

Zur  Kommentierung  der  vorstehenden  Zahlengruppierung  ist 
nicht  viel  zu  bemerken.  Im  Jahre  1903  waren  in  mehr  Wahlkreisen 
als  im  Jahre  1 898  vertreten  die  Sozialdemokraten,  die  Nationalliberalen, 
das  Zentrum,  der  Bund  der  1 andwirte,  der  bayerische  Bauernbund, 
die  Polen,  Welfen  und  die  Nationalsozialen.  Aus  einer  Reihe  von 
Wahlkreisen,  in  denen  sie  noch  im  Jahre  1898  vertreten  waren, 
verschwanden  die  deutsche  und  die  freisinnige  Volkspartei,  die  frei- 
sinnige Vereinigung,  die  Antisemiten  und  die  Christlichsozialen, 
die  beiden  konservativen  Parteien,  endlich  die  Elsässer.  Nach  der 
Ausdehnung  ihres  Verbreitungsgebietes  ')  gruppierten  sich  die  Parteien 
im  Jahre  1903  (die  Zahlen  für  1898  finden  sich  in  Klammern) 
folgendermafsen : I . Sozialdemokraten  ( 1),  2.  Zentrum  (2),  3.  National- 
liberale (3),  4.  Freisinnige  Volkspartei  (4),  5.  Deutschkonservative 
(5),  6.  Antisemiten  und  Christlichsoziale  (6),  7.  Polen  (10),  8.  Bund 
der  Landwirte  (12),  9.  Reichspartei  (8),  10.  Freisinnige  Vereinigung 
(7),  11.  Bauernbund  (11),  12.  Deutsche  Volkspartei  (9),  13.  Welfen 

(13) ,  14.  Nationalsoziale  (15),  15.  Elsässer  (14).  Bei  den  Gruppen 
über  50  Proz.  verschwinden  die  Parteien  nach  und  nach.  Auch  im 
folgenden  geben  wir  die  Zahlen  für  das  Jahr  1898  in  Klammern 
wieder.  95  bis  100  Proz.  erreichte  das  Zentrum  in  7 Wahlkreisen 

(14)  die  Elsässer  in  einem  (o),  90  bis  95  Proz.  erreichten  die 
Deutschkonservativen  in  einem  Wahlkreise  (o),  75  bis  80  Proz. 
erzielten  die  Sozialdemokraten  in  einem  Wahlkreise  (o),  die  Polen  3 
(1898  gleichfalls  3 und  aufserdem  einen  Wahlkreis  mit  80  bis  85 
Proz.),  65  bis  70  Proz.  erzielten  die  Nationalliberalcn  in  einem 
Wahlkreise  (o),  die  Antisemiten  in  einem  Wahlkreise  (1898  schon 
einen  Wahlkreis  mit  75  bis  80  Proz.),  60  bis  65  Proz.  war  der  in 
einem  Wahlkreise  erreichte  Höchstpunkt  der  Reichspartei  (1898 
hatte  sie  in  2 Wahlkreisen  75  bis  80  Proz.  erzielt),  der  Bauernbund 
konnte  nur  einen  Wahlkreis  mit  55  bis  60  Proz.  bei  der  letzten 
Abstimmung  feststellen  (1898  hatte  er  einen  Wahlkreis  mit  60 
bis  65  Proz.  und  2 mit  65  bis  70  Proz.).  In  keinem  Wahlkreis  er- 
reichten die  absolute  Mehrheit  alle  bisher  nichtgenannten  Parteien. 


*)  Die  Gröfse  desselben  gemessen  an  der  Zahl  der  Wahlkreise. 


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550 


Adolf  Braun, 


0 IO 

10— 15 

I.5- 

-20 

20—2; 

1*5- 

-30 

30—35 

35-40 

Parteien 

0 /• 

/ 

Io 

% 

»/. 

0 

0 

% 

0/ 

Io 

0 

Io 

1898 1903 

98 

03 

98  03 

98 

03 

98  03 

98 '03 

98  03 

98  03 

Sozialdemokratie 

12 1 7 

136  113 

30  32 

38 

27 

23  26 

29 

28 

27  32 

19  27 

Deutsche  Volkspartei  . . . 

348  I 3(53 

28  18 

5 I 1 

1 

4 

5 2 

2 

2 

4 6 

2 1 

Freisinnige  Volkspartei 

233  ; 25(5 

58 

62 

2(5  14 

18 

15 

17  18 

20 

16 

n 10 

6|3 

Freisinnige  Vereinigung  . . 

344 ' 867 

15 

6 

6 3 

5 

2 

10  9 

5 

4 

4 4 

5 < 

Nationalliberale 

230  196 

3° 

44 

10  | 13 

<3 

25 

19  1 25 

24 

27 

i,  26 

i<V  10 

Zentrum 

161  133 

76 

95 

10  1 8 

12 

17 

10  13 

s 

13 

8 6 

8 7 

Antisemiten  (Christi.  Sozial.) 

281  327 

69 

31 

91  7 

13 

7 

8 5 

4 

4 

1 3 

3 3 

Keichspartci 

345  351 

4 

2 

4 2 

3 

4 

6 5 

s 

O 

2 2 

6 3 

Deutsch-Konservative  . . 

262  270 

24 

12 

— (5 

5 

1» 

9 !> 

1 1 

15 

16  9 

12  9 

Bund  der  Landwirte  . . . 

367  350 

1 I 

27 

— 1 6 

4 

6 

3 6 

5 

1 

3 1 

I 1 1 

Bauernbund 

362  360 

7 

8 

1 ! 7 

1 

t 

3|  K 

4 

3 

6 1 

3 h 

Polen 

357  340 

15 

25 

— 1 3 

— 

_ 

— 3 

2 

2 

2 3 

- 2 

Elsässer  . . 

383  .(*(; 

I 

— 

— 1 

— 



— 

— 

2 — 

> 1 

Welfen 

378  377 

— 

5 

3 . % 

5 

5 

3 1 

1 

1 

1 2 

« - 

Nationalsozial 

3S4  | 382 

9 

11 

1 ■ 1 

I 

1 

2 1 

1 

1 

45 — 50  Proz.  als  Höchstleistung  erlangte  die  freisinnige  Volkspartei 
(1898  wies  sie  einen  Wahlkreis  mit  50 — 55  Proz.,  und  3 mit  45 — 50 
Proz.  auf),  die  freisinnige  Vereinigung  kam  nur  in  einem  Wahl- 
kreise mit  45 — 50  Proz.  in  die  Stichwahl  (1898  hatte  sie  in  je 
einem  Wahlkreise  50  — 55  und  45 — 50  Proz.),  die  Welfen]  hatten 
in  einem  Wahlkreise  45-— 50  Proz.  (t),  mit  35 — 40  Proz.  als  Höchst- 
leistung mufste  sich  die  deutsche  Volkspartei  begnügen  (1898  je  2 
Wahlkreise  mit  35 — 40  und  mit  40 — 45  Proz.),  auch  der  Bund  der 
Landwirte  hatte  nur  einen  Wahlkreis  mit  35  —40  Proz.  (1898  hatte 
er  in  je  einem  Wahlkreise  35 — 40,  45 — 50,  50 — 55,  55 — 60  Proz. 
der  Stimmen  erzielt).  Die  Nationalsozialen  erhielten  in  einem 
Wahlkreise  (o)  25 — 30  Proz.  Auch  sonst  zeigt  die  vorstehende 
Tabelle  mit  grofser  Deutlichkeit  die  innerhalb  eines  Zeitraums  von 
5 Jahren  erfolgten  mannigfachen  Verschiebungen  in  der  politischen 
Stellung  der  gesamten  Nation.  Eine  Kommentierung  im  einzelnen 
mufs  ich  mir  ersparen  und  auf  das  Tabellenbild  verweisen.  Die  Be- 
ziehungen zwischen  ökonomisch  fortschreitenden  und  zurück- 
bleibenden Wahlkreisen  und  den  Parteien,  die  in  denselben  ver- 
treten sind,  lassen  sich  blofs  auf  einem  Umwege  feststellen : durch 
die  Kombination  der  Stärke  der  Parteien  mit  den  nach  der  Zahl 
der  Wahlberechtigten  gruppierten  Wahlkreisen.  Da  die  meisten 
Wahlkreise  zur  Zeit  der  Reichsgründung  die  annähernd  gleiche 
Volkszahl  hatten,  so  läfst  sich  die  Ungleichheit  in  der  gegenwärtigen 
Volkszahl  im  wesentlichen  zurückführen  auf  die  soziale  Wander- 


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Die  Reichstagwahlcn  von  1898  und  1903.  j'l 


—4? 

45“ 

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55 

60 

60— 

-65 

65- 

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-75 

75- 

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98 

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98 

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98 

98 

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98 

03 

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°3 

98 

°3 

28 

2S 

2(1 

15 

25 

S 

18 

6 

2 

1 

7 

3 

3 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

3 

2 

T 

— 

— 



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— 

— 

— 



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— 

— 

— . 

— 

— 

— 



4 

l 

I 

I 

— 

— 

— 

• 

— 

— 

— 

— 

- — 

— • 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

14 

u 

11 

6 

4 

1 

1 

2 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

13 

6 

ll 

18 

9 

8 

9 

10 

4 

7 

7 

11 

4 

5 

6 

11 

9 

11 

9 

7 

14 

7 

4 

4 

2 

1 

2 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

i 

2 

5 

8 

5 

1 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

2 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

13 

12 

1 

12 

1 

15 

8 

1 

3 

6 

l 

3 

5 

6 



3 



— 

— 

3 

3 

1 

2 



1 

— 

— 

1 

I 

4 

1 

5 

1 

2 

2 

2 

1 1 

1 

1 

2 

2 

2 

2 

4 

4 

3 

3 

3 

1 

— 

1 1 

1 1 

1 1 

1 1 

3 

1 

1 

- 

— 

— 

— 

— 

bewegung,  die  wieder  verursacht  ist  durch  die  verstärkte  Industria- 
lisierung der  Gebiete  mit  über  durchschnittlicher  Zahl  der  Wahl- 
berechtigten. Innerhalb  der  engen  dem  Statistiker  in  dieser  Hin- 
sicht gezogenen  Grenzen  findet  sich  das  Material  der  Reichstags- 
wahlen gruppiert  in  folgenden  Tabellen : 

(Siehe  die  Tabelle  auf  S.  552  u.  55^.) 

Der  Vergleich  der  Wahlkreise  zeigt  merkwürdige  Verschiebungen, 
die  Zahl  der  schwächstbevölkerten  sinkt  rasch,  so  der  mit  weniger 
als  30000  Wahlberechtigten  von  284  im  Jahre  1898  auf  251,  somit 
um  11,6  Proz.  Die  Zahl  der  Wahlkreise  mit  über  30000  Wahl- 
berechtigten steigt  dagegen  von  113  auf  146,  somit  um  29,2  Proz. 
Die  Verschiebungen  im  einzelnen  sind  aus  der  vorstehenden  Tabelle 
zu  erkennen.  Da  die  kleinsten,  zum  Teil  hochindustriellcn,  Bundes- 
staaten selbständige  Wahlkreise  bilden,  so  erklärt  es  sich,  dafs  die 
Sozialdemokratie  in  14  der  kleinsten  Wahlkreise  (1898:  11)  mit 
25  bis  75  Proz.  abgegebenen  Stimmen  vertreten  ist,  in  39  (55) 
Kreisen  konnte  sie  nur  bis  25  Proz.  der  Stimmen  aufbringen. 
AehnHch  liegt  das  Verhältnis  in  den  Wahlkreisen  mit  20 — 30000 
Wahlberechtigten.  Ihre  Stärke  kommt  erst  in  Erscheinung  in  den 
dichter  bevölkerten  Bezirken.  Während  sie  in  den  Wahlkreisen  mit 
weniger  als  30000  Wahlberechtigten  blols  in  12  (4:  mehr  wie 
50  Proz.  der  Stimmen  aufbringen  konnte,  so  in  den  Kreise:)  mit 
mehr  wie  30000  Einwohnern  in  44  (29).  Aehnlichc  Verschiebungen 
lassen  sich  auch  feststellen  für  die  Gruppe  der  Wahlkreise,  wo  die 


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552 


Adolf  Braun 


In  den  Kreisen  mit 


erhielten  °,0 


Wahlberechtigten 

Sa. 

189g 

Sa. 

1903 

die  Sozialdemokraten 

0 

o — 5 

5- 

-25 

25-50 

50—75 

übtrj; 

1898 

1903 

98 1 03 

98 

03 

98  03 

98 

03 

98  03 

weniger  als  20000 

71 

54 

5 

2S  17 

27 

22 

9 

12 

2 

2 

20000—  30000 

213 

>97 

7 

7 

58  40 

89 

87 

57 

53 

2 

10 



30000 — 40000 

7* 

86 

— 

— 

io  11 

I I 

»7 

39 

45 

1 1 

16 

1 ” 

40000—  50000 

20 

3° 

— 

— 



1 

2 

‘3 

15 

6 

13 

— ! — 

50000—  60000 

9 

9 

— 

— 

' 

1 

1 

3 

5 

5 

3 

— i — 

60000 — 70  000 

3 

7 

— 

— 



1 

2 

— 

— 

2 

6 

— 1 — 

70  000—  80  000 

4 

3 

— 

— 



1 

— 

2 

2 

1 

1 

— j — 

80000 — 90000 

I 

4 

2 

1 

2 

— . — 

90000  — 100000 

2 

2 

1 

2 

1 

— . — 

100  000 — 12^000 

I 

3 

— 

— 



- 

— 

I 

— 

— 

2 

— 1 1 

125000 — 150000 

2 

I 

1 

1 

1 

— 

— | — 

über  150000 

I 

-1  — 

1 

die  freisinnige  Vereinigung 

weniger  als  20  000 

7' 

54 

S4 

48 

3 

2 

12 

4 

2 



_ - 







20000 — 30000 

213 

197 

188 

177 

7 

1 

6 

10 

12 

u 

— 

— 

— 

- 

30000 — 40000 

7 1 

86 

62 

75 

1 

1 

7 

4 

1 

6 

— 

— 

— 

- 

40000 — 50000 

20 

3° 

18 

28 

— 

— 

2 

1 

— 

I 

— 

— 

— 

50000—  60000 

9 

9 

9 

8 

60  OOO  "O  OoO 

3 

7 

3 

6 

1 

70000 — 80000 

4 

3 

4 

3 

80000—  90000 

1 

4 

1 

4 

90  OOO — 100  OOO 

2 

2 

2 

2 

XOoOOO— 125  OOO 

1 

3 

1 

3 

125000— 150000 

2 

1 

2 

1 

über  150000 

' 

1 

die  Antisemiten 

weniger  als  20000 

7* 

54 

55 

43 

4 

2 

6 

3 

4 

5 

I 

1 

'1- 

20000 — 30000 

213 

197 

■72 

177 

17 

3 

iS 

10 

S 

7 

I 

— 

— ! 

30000 — 40000 

7* 

86 

40 

71 

16 

5 

11 

6 

2 

3 

2 

1 

— i — 

40000-  50000 

20 

3° 

7 

18 

4 

8 

8 

4 

1 

2 

— 

— 

— — 

50000 — 60000 

9 

9 

4 

6 

3 

1 

2 

2 

— 

— 

— 

— 

— — 

60000 — 70000 

3 

7 

— 

5 

2 

— 

1 

1 

— 

1 

— 

— 

— 1 — 

70000 — 80000 

4 

3 

2 

— 

2 

1 

— 

2 

80000 — 90000 

1 

4 

— 

3 

1 

1 

90  000 — 1 00  000 

2 

2 

— 

1 

— 

1 

2 

— 

— 

— 

— 

— 

— | — 

100000 — 123  000 

1 

3 

1 

1 

— 

2 

125  000  — 150  000 

2 

1 

— 

1 

1 

— 

1 

über  150000 

1 

1 

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Die  Reichstagwahlen  von  1898  und  1903. 


553 


der  Stimmen: 


die  deutsche  Volkspattei 


die  freisinnige  Volkspartci 


o — 0—5  5-25 

1S0S  19.  > 3 08  03  öS  03 


30 
7 
7 
2 
4 

fl-  1 

1 


50—75  über  75 
98  I 03  98  I 03 


554 


Adolf  Braun, 


In  den  Kreisen  tnit 

erhielten 

% 

Wahlberechtigten 

Sa. 

1898 

Sa. 

1903 

die 

Nationalsozialen 

O 

0-5 

5—25 

25—50 

50- 

“75 

über  75 

1898 

•903 

98  03 

98  03I 

98  03 

98 

°3 

98 

03 

weniger  als  20000 

7* 

54 

68  I 

54 

2 — 

I » 



20000 — 30000 

213 

197 

207 

191 

1 2 

5 4 

— — 

— 

— 

— 

— 

30000 — 40000 

7* 

86 

69 

79 

2 3 

— 4 

— — 

— 

— 

— 

— 

40000 — 50000 

20 

3° 

20 

28 

— 1 2 



— ! — 

— 

— 

— 

— 

50000 — 60000 

9 

9 

8 | 

9 

— 1 — 

I 

— — 

— 

— 

— 

60000 — 70000 

3 

7 

3 

6 

— 1 

■ 

— 1 — 

— 

— 

— 

70000 — 80000 

4 

3 

3 | 

3 

l - 

| 

— — 

— 

— 

— 

— 

80000 — 90000 

1 

4 

1 

4 



— 

— 

— 

— 

90000 — 100000 

2 

2 

2 

2 

— — 

— — 

— 

— 

— 

— 

1 00  000 — 1 2 5 000 

I 

3 

I 

1 

I ~ 

— — 

— 

— 

— 

125000 — 150000 

2 

1 

2 | 

i 

— — 

— ! — 

— — 

— 

— 

— 

— 

über  150000 

I 

1 

die 

I*'l  süsser 

weniger  als  20000 

71 

54 

65 

50 

I 





1 

1 

2 3 

2 



20000—  30000 

213 

197 

206 

192 

— 

— 

— 

3 

2 

3 1 

I 

8 

30000 — 40000 

7‘ 

86 

70 

84 

— 

— 

— 

1 

1 

1 

— 1 — 

— 

— 

40000—  50000 

20 

3° 

20 

30 

— 

— 

— 

— 

— 

— — 

— 

— 

50000 — 60000 

9 

9 

9 

9 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— — 

— 

— 

60000 — 70000 

3 

7 

3 

7 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 1 — 

— 

— 

70000—  80000 

4 

3 

4 

3 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

80000 — 90000 

1 

4 

1 

4 

— 

— 

— 

— 

— 

— — 

— 

— 

90000  — 100000 

2 

2 

2 

— 

— 

— 

— 

— 

— i — 

— 

— 

100000 — 125000 

I 

3 

1 

3 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

125000 — 150000 

2 

I 

2 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 1 — 

— 

— 

über  150000 

1 

1 

Sozialdemokratie  25  bis  50  Proz.  der  Stimmen  auf  ihre  Kandidaten 
vereinigte.  Das  ganze  entgegengesetzte  Bild  zeigen  die  vor- 
stehenden Tabellen  für  das  Zentrum  und  vor  allem  für  die  deutsch- 
konservative Partei,  für  die  Reichspartei,  die  Elsässer,  Polen,  Welfen, 
den  Bauernbund  und  den  Bund  der  Landwirte,  ähnlich  liegt  auch 
das  Verhältnis  für  die  Nationalsozialen  und  für  die  Antisemiten. 
Einen  Uebergang  bildet  die  freisinnige  Vereinigung,  stärker  als  diese 
ist  in  den  dichtbevölkerten  Bezirken  vertreten  die  freisinnige  Volks- 
partei und  die  Nationalliberalen.  Auf  die  Betrachtung  von  Einzel- 
heiten kann  ich  mich  mit  Rücksicht  auf  den  begrenzten  Raum 
nicht  einlassen,  aber  ich  bin  überzeugt,  daß  die  vorstehende  Tabelle 


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Die  Keichstagwihlen  von  1898  und  1903. 


SS5 


der  Stimmen : 


so  manchen  Aufschlufs  über  die  Beziehung  von  Volksdichtigkeit  und 
Stärke  wie  Art  der  politischen  Parteistellung  innerhalb  der  Be- 
völkerung gewähren  würde.  Selbstverständlich  sind  diese  Be- 
ziehungen nicht  unbekannt  gewesen,  doch  die  zahlenmäfsige  Fest- 
stellung wird  manches  Licht  auf  die  interessante  Frage  werfen. 

Zu  den  wenigen  Kombinationen,  die  die  amtliche  Statistik  er- 
möglicht, wenn  auch  nicht  gruppiert,  gehört  die  über  Konfession. 
Wahlbeteiligung  und  Stärke  der  Parteien  in  den  einzelnen  Wahl- 
kreisen. Ueber  letztere  geben  die  nachstehenden  Tabellen  Auf- 
schlufs : 

i** 


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556 


Adolf  Braun 


waren  .sozialdemokratische  Stimmen 

ln  den  Kreisen  mit  o 0 — 2o  20 — 40  40 — 60  60 — 80  80 — 100 


1898  1903  98  03  98  03  98  | 03  98  I 03  98  j 03 


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50—55 

55—60 
60—65 
65-70 
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75—80 
80—85 
85—90 
90—95 
95 — 100 


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Die  Reich stag wühlen  von  1898  und  1903. 


557 


Stimmen  der  deutschen  Volkspartci 

Stimmen  der  freisinnigen  Volkspartei 

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558 


Adolf  Braun 


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126 

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Die  Keichstagwahlen  von  1898  und  1903. 


559 


Stimmen  der  Polen 


Stimmen  der  Welfen 


560 


Adolf  Braun, 


Wenn  es  auch  sicherlich  unrichtig  ist  von  konfessionellen  Parteien 
im  Deutschen  Reiche  zu  sprechen,  so  ist  es  doch  eine  Thatsache, 
die  ja  auch  durch  die  vorstehenden  Tabellen  bestätigt  wird,  dafc 
einige  Parteien  ausschließlich  in  Gegenden  mit  überwiegend  prote- 
stantischer Bevölkerung,  andere  in  denen  mit  überwiegend  katho- 
lischer Bevölkerung  ihre  Anhänger  haben.  Zu  den  Parteien,  welche 
fast  ausschliefslich  in  protestantischen  Gegenden  einen  namhaften 
Anhang  haben , gehören  die  drei  linksliberalen  Gruppen , die 
deutsche,  die  freisinnige  Volkspartei  und  die  freisinnige  Vereinigung, 
denen  sich  auch  hier  die  Nationalsozialen  anschlossen,  dann  die 
Welfen,  der  Bund  der  Landwirte,  auch  die  Deutschkonservativen 
und  die  Reichspartei,  wenn  auch  beide  in  katholischen  Bezirken 
eine  ansehnliche  Zahl  von  Anhängern  besitzen,  ln  katholischen  Be- 
zirken sind  fast  ausschliefslich  vertreten  die  Elsässer,  dann  folgen 
die  Polen,  dann  erst  das  Zentrum.  Ohne  Unterschied  der  Kon- 
fession, wenn  auch  stärker  in  den  mehr  protestantischen  Bezirken, 
treten  auf  die  Nationalliberalen  und  die  Sozialdemokraten.  Eine 
nur  unbedeutende  Verstärkung  der  Sozialdemokratie  ist  in  den 
katholischen  Bezirken  festzustellen  und  zwar  auch  in  den  fast  rein- 


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Die  Reichstagwahlen  von  1898  und  1903. 


561 


katholischen  Bezirken,  die  rasche  Entwicklung  der  Sozialdemokratie, 
welche  die  letzte  Reichstagswahl  in  Erscheinung  gebracht  hat. 
kommt  im  wesentlichen  zum  Ausdruck  in  den  mehr  protestan- 
tischen Bezirken  und  vor  allem  in  den  Wahlkreisen  mit  überwiegend 
protestantischer  Bevölkerung. 

Bei  der  deutschen  Volkspartei  zeigt  unsere  Tabelle  einen  stär- 
keren Rückgang  in  den  mehr  katholischen  als  in  den  mehr  prote- 
stantischen Bezirken.  Die  freisinnige  Volkspartei  hat  in  den  katho- 
lischen Bezirken,  relativ,  fast  günstigere  Ergebnisse  als  in  den  prote- 
stantischen Bezirken  wobei  aber  in  Betracht  zu  ziehen  ist,  dafs  sie 
nur  in  einem  mehr  katholischen  Wahlkreise  mehr  als  20  Proz.  der 
Stimmen  aufweisen  konnte.  Während  die  freisinnige  Vereinigung 
im  Jahre  1898  noch  in  5 mehr  katholischen  Bezirken  Stimmen 
zählen  konnte,  gelang  dies  im  Jahre  1903  blofs  noch  in  2 Wahl- 
kreisen, relativ  boten  die  protestantischen  Kreise  bessere  Aussichten 
wie  die  katholischen.  Die  nationalliberale  Partei  hat  zwar  in  einer 
grölseren  Anzahl  mehr  katholischer  Kreise  im  Jahre  1903  Stimmen 
vereinigt  als  im  Jahre  1898,  aber  mehr  wie  40  Proz.  der  Stimmen 
hatte  sie  1898  in  12  mehr  katholischen  Wahlkreisen,  im  Jahre  1903 


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562 


Adolf  Braun, 


blofs  in  9,  aber  auch  in  den  mehr  protestantischen  Wahlkreisen 
konnte  sie  im  Jahre  1898  25  mit  mehr  als  40  Proz.  aufzählen,  im 
Jahre  1903  blofs  noch  22. 

Das  Zentrum  ist  im  Jahre  1903  in  zwei  mehr  protestantischen 
Wahlkreisen  mit  40  bis  60  Proz.  der  Stimmen  aus  der  Urne  hervor- 
gegangen, im  Jahre  1898  nur  in  einem  dieser  Bezirke,  auch  in  den 
protestantischen  Bezirken  mit  20 — 40  Proz.  Zentrumstimmen  zeigt 
sich  eine  Verschiebung  zu  gunsten  dieser  Partei.  Im  Jahre  1898 
giebt  es  25,  im  Jahre  1903  27  Wahlkreise  dieser  Art,  ganz  erheblich 
ist  die  Zahl  der  mehr  protestantischen  Wahlkreise  gestiegen,  in 
denen  weniger  wie  20  Proz.  Stimmen  für  das  Zentrum  abgegeben 
wurden,  so  rührt  dies  von  der  Aufstellung  von  Zählkandidaturen 
her,  es  ist  besonders  beachtenswert,  dafs  die  Zahl  der  Wahlkreise 
mit  O — 20  Proz.  der  Stimmen  für  die  Zentrumspartei  von  25  auf 
42  in  dem  Zeitraum  von  1898  bis  1903  gestiegen  war.  Die  Zahl  der 
Wahlkreise  in  mehr  protestantischen  Bezirken,  in  denen  das  Zentrum 
überhaupt  nicht  verteten  war,  sank  ganz  erheblich,  merkwürdiger- 
weise bedeutend  stärker  als  in  der  absolut  natürlich  kleinen  Zahl 
der  Wahlkreise  mit  mehr  katholischer  Bevölkerung,  in  denen  das 
Zentrum  keine  Vertretung  hatte. 

Bei  der  Reichspartei  läfst  sich  ein  erheblicher  Rückgang  in  den 
nichtkatholischen  Bezirken  fcststellcn,  aus  8 dieser  Bezirke  ver- 
schwand sie,  dagegen  war  sie  in  zwei  mehr  protestantischen  Be- 
zirken, in  denen  sie  1898  noch  nicht  vertreten  war,  im  Jahre  1903 
aufgetreten,  aufserdem  sind  Veränderungen  in  der  relativen  Stärke 
festzustellen,  über  die  aber  auf  die  Tabelle  verwiesen  werden  mufs. 
Die  deutschkonservative  Partei  hat  keine  Stimmen  in  neun  mehr 
katholischen  und  in  zwei  mehr  protestantischen  Wahlkreisen  im 
Jahre  1903  verzeichnen  können  als  im  Jahre  1898,  aufserdem  weist 
sie  einen  starken  relativen  Rückgang  in  den  mehr  katholischen  und 
eine  eher  entgegengesetzte  Tendenz  in  den  mehr  protestantischen 
Gegenden  auf.  Die  ausgesprochen  antisemitischen  Richtungen  haben 
in  den  mehr  katholischen  Gegenden  niemals  festen  Fufs  gefalst. 
sie  haben  im  Jahre  1903  noch  viel  Terrain  verloren,  das  sic  1898 
besetzt  hatten,  erheblich  gröfscr  noch  im  Hinblick  auf  die  Zahl 
der  Wahlkreise,  in  denen  für  sie  überhaupt  Stimmen  abgegeben 
wurden,  ist  ihr  Rückgang  in  den  mehr  protestantischen  Bezirken. 
Die  Zahl  der  Wahlkreise,  in  denen  für  den  Bund  der  Landwirte 
Stimmen  abgegeben  wurden,  sank  gegenüber  dem  Jahre  1898  im 
Jahre  1903  erheblich  in  den  katholischen  Bezirken,  stieg  aber  dafür 


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Die  Rcichstagwahlcn  von  1898  und  1903. 


563 


in  den  mehr  protestantischen  Bezirken,  während  die  relative  Stärke 
dieser  Richtung  sowohl  in  den  mehr  katholischen  als  in  den  mehr 
protestantischen  Bezirken  Einbufse  erlitt.  Der  Bayerische  Bauern- 
bund verlor  in  den  mehr  katholischen  Bezirken  an  Terrain,  gewann 
aber  dafür  einiges  in  den  Wahlkreisen  mit  überwiegend  protestan- 
tischer Bevölkerung. 

Die  Nationalsozialen  hatten  1898  in  3,  1903  blofs  in  2 mehr 
katholisch  bevölkerten  Kreisen,  1898  in  10,  1903  in  16  mehr  pro- 
testantisch bevölkerten  Bezirken  Stimmen  zählen  können.  Die  Zahl 
der  mehr  katholischen  Wahlkreise,  in  denen  die  „Elsässer"  vertreten 
waren,  ging  von  13  auf  II  zurück,  1898  erhielten  sie  auch  in  einem 
mehr  protestantisch  bevölkerten  Wahlkreise  Stimmen,  die  bei  der 
Wahl  von  1903  verschwunden  waren.  Die  Polen  zählten  1898 
blofs  in  21,  1903  aber  in  31  mehr  katholisch  bevölkerten  Wahl- 
kreisen Stimmen,  auch  die  Zahl  der  mehr  protestantisch  bevölkerten 
Wahlkreise  mit  polnischen  Stimmen  mehrte  sich  von  1898  (19)  auf 
1903  (26)  um  7.  Die  W elfen  waren  weder  1898  noch  1903  in  den 
mehr  katholischen  Wahlkreisen  vertreten,  1898  zählten  sie  in  19, 
1903  aber  in  20  Wahlkreisen  Stimmen. 

Wir  schließen  mit  diesen  Betrachtungen  unsere  rein  statistische 
Darstellung  der  Ergebnisse  der  Reichtagswahlstatistik.  Wir  glauben 
im  wesentlichen  erschöpft  zu  haben,  was  sich  mit  den  Elementen 
der  amtlichen  Reichtagswahlstatistik  kombinieren  läfst,  abgesehen 
von  den  Angaben  über  die  Wahlberechtigten. 


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GESETZGEBUNG. 

ITALIEN. 

Das  neue  italienische  Gesetz  betr.  die  Frauen- 
und  Kinderarbeit. 

Eingeleilet  von 

Prof.  CARLO  F.  FERRARIS, 

in  Padua. 

Das  Gesetz  vom  n.  Februar  1886,  Nr.  3657,  betr.  die  Kinder- 
arbeit, war  der  dürftige  Anfang  der  Arbeiterschutzgesctzgebung  in 
Italien.  Das  Gesetz  hat  sich  sehr  bald  als  ungenügend  heraus- 
gestellt, um  so  mehr  als  es  der  gröfsten  Zahl  der  in  den  Gewerben 
und  Bergwerken  beschäftigten  Kinder,  d.  h.  jenen  über  12  Jahre, 
keinen  Schutz  gewährte  und  keine  Bestimmung  über  die  Frauen- 
arbeit enthielt.  Doch  sind,  trotz  der  vielen  den  gesetzgebenden 
Kammern  vorgelegten  Gesetzentwürfe,  sechzehn  Jahre  verflossen, 
bis  ein  neues  ausgedehnteres  Gesetz,  jenes  vom  19.  Juni  1902, 
Nr.  242,  zustande  gekommen  ist. 

Die  Redaktion  dieses  Gesetzes  ist  nicht  gerade  glücklich  aus- 
gefallen, nicht  nur  wegen  der  Schwierigkeit  des  zu  regelnden  Gegen- 
standes, sondern  auch  wegen  der  entgegenstehenden  Meinungen 
der  verschiedenen  politischen  Parteien.  Alle  waren  darüber  einig, 
dafs  ein  neues  Gesetz  absolut  nötig  war,  aber  die  Forderungen  der 
sozialistischen  Partei  waren  vielleicht  übertrieben,  während  die 
anderen  Parteien  befürchteten,  der  langsam  fortschreitenden,  obgleich 
ziemlich  viel  versprechenden  gewerblichen  Entfaltung  des  lindes 
neue  I lindernisse  in  den  Weg  zu  legen  und  insbesondere  die  Arbeits- 
losigkeit zu  vermehren. 

So  ist  das  Gesetz  als  eine  Art  Kompromifs  zwischen  den  ent- 
gegenstehenden Strömungen  entstanden.  Wir  werden  nun  die 
Hauptbestimmungen  desselben  systematisch  darstellen. 


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C.  F Ferraris,  Das  neue  ital.  Gesetz  betr.  die  Frauen-  u.  Kinderarbeit. 


I.  Grenzen  der  Anwendung  des  Gesetzes. 

Das  Gesetz  betrifft  eigentlich  nur  das  Gewerbe,  das  Baugewerbe 
und  die  Stein-Sand-Pozzolanbrüche  (cave),  Bergwerke  und  Tunnels; 
Ackerbau  und  Handel  bleiben  ausgeschlossen. 

Doch  enthält  das  Gesetz  eine  allgemeine  Bestimmung,  welche 
die  Beschäftigung  von  Kindern,  die  das  I ;.  Altersjahr  noch  nicht 
zurückgelegt  haben,  und  von  minderjährigen,  d.  h.  noch  nicht 
21  Jahre  alten  Frauen  bei  allen,  auch  aufserhalb  der  obengenannten 
Betriebe  ausgeübten,  gefährlichen  oder  ungesunden  Arbeiten,  mit 
einigen  Ausnahmen,  die  unten  (sub  II,  b,  c und  sub  III,  2,  a)  an- 
gegeben sein  werden,  verbietet. 

Auch  allgemeine  Bedeutung  haben  die  Bestimmungen  über  die 
Hygiene  und  die  Sicherheitsmafsregeln  der  Betriebe  (s.  unten 
sub  IV,  4),  wo  Frauen  und  Kinder  beschäftigt  werden. 

Das  Gesetz  unterscheidet  nicht  zwischen  Klein-  und  Grofs- 
betrieb,  Heimarbeit  und  Fabrikarbeit,  so  dafs  die  Ausführung  des- 
selben ziemlich  schwer  sein  würde,  und  es  zu  befürchten  ist,  dafs 
die  zu  grofse  Ausdehnung  seine  Wirksamkeit  beeinträchtigt. 


II.  Bestimmungen  für  die  Kinder  beider  Geschlechter. 

a)  Allgemeines  Verbot.  Die  Kinder  können  vor  der 
Vollendung  des  12.  Altersjahres  nicht  beschäftigt  werden;  ausnahms- 
weise ist  gestattet,  die  zur  Zeit  des  Inkrafttretens  des  Gesetzes 
schon  beschäftigten,  welche  das  IO.  Altersjahr  zurückgelegt  haben, 
bei  der  Arbeit  zu  behalten. 

b)  Unterirdische  Arbeiten.  Das  Verbot  der  Beschäftigung 
bei  unterirdischen  Arbeiten  in  Brüchen,  Bergwerken  und  Tunnels 
dauert  für  die  Kinder  bis  zur  Vollendung  des  1 3.  Altersjahres : und 
drei  Jahre  nach  dem  Erlasse  des  Gesetzes  wird  das  Verbot,  wenigstens 
in  den  Brüchen,  Bergwerken  und  Tunnels,  wo  keine  mechanische 
Traktion  in  Gebrauch  ist,  bis  zur  Vollendung  des  14.  Altersjahres 
anwendbar  sein,  was  um  so  mehr  nötig  ist,  da  in  den  Schwefel- 
Bergwerken  ohne  mechanische  Traktion  nach  alter  Unsitte  das 
Tragen  des  Minerals  von  unten  bis  zur  Oberfläche  den  Kindern 
auferlegt  ist!  Ausnahmsweise  finden  diese  Bestimmungen  keine 
Anwendung  auf  die  Kinder,  die  zur  Zeit  des  Erlasses  des  Gesetzes 
schon  1 1 Jahre  alt  und  beschäftigt  sind.  Jedenfalls,  wenn  die 
unterirdischen  Arbeiten  gefährlich  oder  ungesund  sind,  dann  kommt 


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Gesetzgebung:  Italien. 


das  weitere  Verbot  hinzu,  dafs  die  Kinder,  um  dabei  beschäftigt 
werden  zu  können,  mindestens  1 5 Jahre  alt  sein  sollen  (s.  sub.  c). 

Beiläufig  zu  bemerken  ist,  dafs  eine  unten  (III,  I,  a)  zu  er- 
wähnende Klausel,  die  Frauen  jedes  Alters  betreffend,  die  Kinder 
weiblichen  Geschlechtes  von  den  unterirdischen  Arbeiten  ausschliesst 

c)  Gefährliche  oder  ungesunde  Arbeiten.  Die  Be- 
schäftigung der  Kinder  bei  denselben  ist,  auch  aufserhalb  der  ge- 
werblichen Anstalten,  Brüche,  Bergwerke  und  Tunnels,  bis  zur  Voll- 
endung des  1 5.  Altersjahres  verboten.  Welche  Arbeiten  als  gefähr- 
liche oder  ungesunde  zu  betrachten  sind,  soll  ein  kgl.  Dekret,  nach 
Anhörung  des  oberen  Beirates  für  Gesundheitswesen  und  des  Bei- 
rates für  Gewerbe  und  Handel  (s.  u.  sub  IV,  5),  feststellen : Aus- 
nahmen von  dieser  Regel  können  erlassen  werden,  aber  zugleich  sind 
die  Vorsichtsmafsregeln  und  Bedingungen,  unter  welchen  dann  die 
noch  nicht  1 5 Jahre  alten  Kinder  zu  jenen  Arbeiten  zugelassen  sein 
können,  zu  bestimmen. 

d)  Nachtarbeit.  Den  Kindern  unter  1 5 Jahren  ist  die  Nacht- 
arbeit verboten.  Ueber  den  Begriff  der  Nachtarbeit  s.  u.  sub  IV,  1. 

e)  Dauer  der  täglichen  Arbeit.  Die  Kinder,  welche  das 
10.,  aber  noch  nicht  das  12.  Altersjahr  vollendet  haben,  können 
nicht  mehr  als  8 Stunden  in  den  24  des  Tages  beschäftigt  werden ; 
ebenso  nicht  mehr  als  11  Stunden  die  Kinder  vom  12.  bis  zum 
1 5.  vollendeten  Altersjahre. 

Der  Minister  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  kann,  zeitlich 
und  ausnahmsweise,  nach  Anhörung  des  provinzialen  Beirates  für 
Gesundheitswesen  (s.  u.  sub  IV,  5)  gestatten,  dafs  die  tägliche 
Arbeitszeit  der  Kinder  zwischen  dem  12.  und  dem  15.  vollendeten 
Altersjahre  bis  zum  Maximum  von  12  Stunden,  wenn  es  aus 
technischen  und  ökonomischen  Rücksichten  nötig  ist,  verlängert  werde. 

f)  Ruhepausen.  Die  tägliche  Arbeit  der  Kinder  soll  von 
einer  oder  mehreren  Ruhepausen  unterbrochen  werden;  diese  sollen 
im  ganzen  mindestens  eine  Stunde  dauern,  wenn  die  Arbeit  6,  aber 
nicht  8 Stunden  übersteigt,  mindestens  anderthalb  Stunde,  wenn 
die  Arbeit  8,  aber  nicht  1 1 Stunden  übersteigt,  und  2 Stunden, 
wenn  die  Arbeit  1 1 Stunden  übersteigt. 

In  keinem  Falle  darf  die  Arbeit  der  Kinder  mehr  als  6 Stunden 
ohne  Unterbrechung  dauern. 

g)  Ruhetag.  Den  Kindern  bis  zum  15.  vollendeten  Alters- 
jahre soll  wöchentlich  ein  ganzer  Ruhetag  (24  Stunden)  gestattet 
werden. 


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G F.  Ferraris,  Das  neue  ital.  Gesetz  betr.  die  Frauen-  u.  Kinderarbeit. 


h)  Arbeitsbuch.  Die  Kinder  vor  der  Vollendung  des 
1 5.  Altersjahres  können  nur  dann  beschäftigt  werden,  wenn  sie  mit 
einem  Arbeitsbuche  und  einem  auf  dem  Arbeitsbuche  geschriebenen 
ärztlichen  Zeugnis,  aus  dem  ihre  Gesundheit  und  ihre  Fähigkeit 
zu  der  ihnen  bestimmten  Arbeit  hervorgeht,  versehen  sind. 

Das  Arbeitsbuch  soll  dem  in  der  Ausführungs -Verordnung  des 
Gesetzes  bezeichnetcn  Muster  entsprechen,  den  Gemeinden  vom 
Ministerium  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  verschafft  und 
unentgeltlich  dem  Arbeiter  durch  den  Bürgermeister  der  Gemeinde, 
wo  jener  seinen  gewöhnlichen  Aufenthalt  hat,  überreicht  werden. 

Das  Arbeitsbuch  soll  angeben:  die  Geburtszeit  des  Kindes, 
dafs  es  geimpft  worden  ist,  dafs  es  gesund  und  zu  der  ihm  an- 
gewiesenen Arbeit  fähig  anerkannt  worden  ist,  dafs  es  den  niederen 
Kurs,  d.  h.  die  ersten  drei  Jahre  der  Volksschule  nach  den  Be- 
stimmungen des  Gesetzes  über  den  obligatorischen  Elementar- 
unterricht besucht  und  die  Prüfungen  überstanden  hat. 

Den  Kindern,  welche  zur  Zeit  des  Erlasses  des  Gesetzes  jenen 
Kurs  nicht  absolviert  haben,  wird  eine  dreijährige  Periode  gestattet, 
um  jene  Bedingung  zu  erfüllen. 

Die  ärztliche  Prüfung  und  das  genannte  Zeugnis  werden,  ohne 
Kosten  seitens  des  Arbeiters,  vom  amtlichen  Arzte  der  Gemeinde 
(ufficiale  sanitario  comunale)  geleistet.  Die  Kosten  für  die  erste 
und  die  zufällig  notwendigen  weiteren  ärztlichen  Prüfungen  werden 
von  den  Gemeinden  getragen. 

Alle  die  genannten  Urkunden  sind  stempelfrei. 

III.  Besondere  Bestimmungen  für  Frauen. 

1.  Frauen  jedes  Alters. 

a)  Es  ist  ihnen  die  unterirdische  Arbeit  bei  den  Brüchen,  Berg- 
werken und  Tunnels  verboten. 

b)  Fünf  Jahre  nach  dem  Erlasse  des  Gesetzes  trifft  sie  das 
Verbot  jeder  Nachtarbeit.  Während  dieser  fünf  Jahre  sollen  die  in 
Nachtarbeit  beschäftigten  mit  dem  Arbeitsbuche,  von  dem  oben 
(sub  II,  h)  die  Rede  war,  versehen  sein. 

c)  Ihre  tägliche  Arbeitszeit  kann  nie  12  Stunden  übersteigen 

d)  Die  täglichen  Ruhepausen  sind  für  sie  z.  Teil  dieselben  wie 
für  die  Kinder,  d.  h.  die  Ruhepausen  sollen  im  ganzen  mindestens 
eine  Stunde  dauern,  wenn  die  Arbeit  6,  aber  nicht  8 Stunden  über- 
steigt, mindestens  anderthalb  Stunde,  wenn  die  Arbeit  8,  aber  nicht 


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Gesetzgebung : Italien. 


1 1 Stunden  übersteigt,  und  2 Stunden,  wenn  die  Arbeit  1 1 Stunden 
übersteigt.  Dagegen  findet  auf  die  volljährigen  (d.  h.  vom  voll- 
endeten 2i  Altersjahre  an)  keine  Anwendung  die  Klausel,  dafs  die 
Arbeit  nicht  mehr  als  6 Stunden  ohne  Unterbrechung  dauern  kann : 
für  die  minderjährigen  s.  unten  sub  2,  a. 

e)  Auch  ihnen,  wie  den  Kindern,  soll  wöchentlich  ein  ganzer 
Ruhetag  (24  Stunden)  gestattet  werden. 

2.  Minderjährige  Frauen. 

Auf  die  minderjährigen,  d.  h.  noch  nicht  21  Jahre  alten  Frauen, 
sind,  aufser  den  sub  1 angeführten  Bestimmungen,  noch  die  folgen- 
den anwendbar: 

a)  Ihre  Ausschliefsung  von  den  gefährlichen  oder  ungesunden 
Arbeiten,  ihre  ausnahmsweise  Beteiligung  daran,  die  Ruhepausen 
bei  der  täglichen  Arbeit  (einschliefslich  der  Klausel,  dafs  für  sie  die 
Arbeit  nicht  6 Stunden  ohne  Unterbrechung  dauern  kann)  und  der 
obligatorische  Besitz  eines  Arbeitsbuches  sind  für  sie  ganz  gleich 
wie  für  die  Kinder  geregelt  (s.  oben  sub  II,  c,  f,  h). 

b)  Die  Nachtarbeit  ist  ihnen  verboten.  Vorläufig,  d.  h.  für  die 
ersten  fünf  Jahre  nach  dem  Erlasse  des  Gesetzes,  findet  diese  Be- 
stimmung auf  jene  minderjährigen  Frauen  keine  Anwendung,  welche 
zur  Zeit  des  Erlasses  des  Gesetzes  schon  das  1 5.  Altersjahr  zurück- 
gelegt haben  und  beschäftigt  sind. 

c)  Das  Ministerium  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  ist  er- 
mächtigt, während  drei  Jahre  nach  dem  Erlasse  des  Gesetzes,  mit 
Zustimmung  des  provinzialen  Beirates  für  Gesundheitswesen,  zu  ge- 
statten, dafs  an  Stelle  der  gegenwärtig  in  gewerblichen  Anstalten 
beschäftigten  minderjährigen  Frauen  andere  minderjährige  Frauen 
mit  vollendetem  1 5.  Altersjahre  treten. 

3.  Wöchnerinnen. 

Die  Wöchnerinnen  können  regelmäfsig  nur  nach  einem  Monate 
nach  der  Entbindung  beschäftigt  werden ; früher  nur  in  Ausnahme- 
fällen, aber  jedenfalls  nur  wenigstens  nach  drei  Wochen,  wenn  aus 
einem  Zeugnis  des  Gesundheitsamtes  der  Gemeinde,  wo  sie  ihren 
gewöhnlichen  Aufenthalt  haben,  erhellt,  dafs  ihr  Gesundheitszustand 
ihnen  erlaubt,  die  von  ihnen  gesuchte  Arbeit  ohne  Schaden  zu 
verrichten. 


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C.  F.  Ferraris,  Das  neue  ital.  Gesetz  betr.  die  Frauen-  u.  Kinderarbeit.  569 

4.  Säugende  Frauen. 

Die  Errichtung  eines  besonderen  Zimmers,  wo  die  Arbeiterinnen 
die  Kinder  nähren  können,  ist  in  den  Fabriken,  wo  mindestens 
fünfzig  Frauen  beschäftigt  sind,  obligatorisch,  fakultativ  in  den 
anderen ; den  säugenden  Arbeiterinnen  soll  immer  gestattet  sein, 
entweder  in  dem  besonderen,  der  Fabrik  zugehörigen  Zimmer  die 
Kinder  zu  nähren  oder  zu  diesem  Zwecke  sich  von  der  Fabrik 
zeitlich  zu  entfernen,  alles  in  der  Art  und  in  den  Stunden,  welche 
das  innere  Fabrikreglemcnt  bestimmen  wird  und  unbeschadet  der 
vom  Gesetze  vorgeschriebenen  Ruhepausen  (s.  oben  sub  III,  1,  d 
und  2,  a). 

IV.  Besondere  Normen  und  Organe  zur  Ausführung 
des  Gesetzes. 

1.  Begriff  der  Nachtarbeit. 

Als  solche  wird  jene  betrachtet,  welche  zwischen  20  und  6 Uhr 
vom  1.  Oktober  bis  zum  31.  März,  und  zwischen  21  und  5 Uhr 
vom  1.  April  bis  zum  30.  September  stattfindet.  *)  Wo  die  Arbeit 
in  zwei  Arbeiterschichten  verteilt  ist,  kann  sie  um  5 Uhr  beginnen 
und  bis  23  Uhr  dauern. 

Der  Minister  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  ist  ermächtigt, 
mit  Zustimmung  des  provinzialen  Beirates  für  Gesundheitswesen, 
die  obengenannten  Grenzen  der  Nachtarbeit  in  den  Ortschaften,  wo 
es  für  besondere  klimatische  und  Arbeitsverhältnisse  nötig  wird,  zu 
verändern. 


2.  Ankündigungen  der  Betriebe. 

Wer  bei  den  vom  Gesetze  und  von  der  Ausfiihrungs -Verord- 
nung bczeichneten  Arbeiten  Frauen  jeden  Alters  und  Kinder,  die 
noch  nicht  das  15.  Altersjahr  vollendet  haben,  beschäftigt,  soll  jedes 
Jahr  in  den  von  der  Ausfiihrungs -Verordnung  bestimmten  Formen 
davon  regelmäfsige  Mitteilung  machen.  Man  soll  auch,  im  Laufe 
des  Jahres,  jede  Veränderung  wegen  dauernder  Aufhebung  der 
Arbeiten,  Wechsels  der  Firma,  Einführung  von  mechanischen  Trieb- 
kräften, oder  anderer  von  der  Verordnung  vorausgesehenen  Ursachen, 

*)  Die  Stunden  werden  offiziell  in  Italien  von  Mitternacht  bis  Mitternacht,  d.  h. 
mit  1 bis  24,  gezählt : so  20  Uhr  bedeutet  8 Ubr  Nachmittag,  6 Uhr  bedeutet  6 Uhr 
Vormittag,  u.  s.  w. 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  37 


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Gesetzgebung : Italien. 


anzeigen.  Die  Ankündigung  soll  im  doppelten  Exemplar  bei  der 
Präfektur  der  Provinz  (eine  Präfektur  besteht  in  dem  Hauptorte 
jeder  der  69  Provinzen  des  Königreichs),  wo  der  Betrieb  seinen 
Sitz  hat,  stattfinden;  die  Präfektur  soll  sogleich  dieselbe  dem 
Ministerium  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  übersenden,  und 
ein  Register  mit  den  aus  den  Ankündigungen  gezogenen  Notizen 
führen. 

3.  Innere  Reglements  der  Betriebe. 

Die  inneren  Reglements  der  vom  Gesetze  betroffenen  Betriebe 
sollen  den  Bestimmungen  desselben  und  der  Ausführungs -Verord- 
nung (s.  unten  sub  7)  entsprechen,  mit  dem  Vidi  des  Bürgermeisters, 
als  Zeichen  ihrer  Rechtsgültigkeit,  versehen  und  an  einem  Platze 
ausgehängt  sein,  wo  die  Lektüre  den  Interessenten  und  den  Auf- 
sichtsbehörden (s.  unten  sub  5)  leicht  wird. 

4.  Hygiene  und  Sicherheit  der  Betriebe. 

Bei  allen  Betrieben,  wo  Kinder  und  Frauen  beschäftigt  sind 
(und  so  auch  bei  jenen,  welche  von  dem  besprochenen  Gesetze 
nicht  besonders  betroffen  sind),  und  unbeschadet  der  Bestimmungen 
anderer  Gesetze  und  Verordnungen,  sollen  die  Eigentümer,  Ver- 
walter, Direktoren,  Unternehmer  und  Submittenten  in  den  Arbeits- 
und zugehörigen  Räumen,  sowie  in  den  Schlaf-,  Säuge-  und  Eis- 
zimmern die  nötigen  Vorkehrungen  zum  Schutz  der  Hygiene,  der 
Sicherheit  und  der  Sittlichkeit  nach  den  Bestimmungen  der  Ver- 
ordnung ergreifen  und  ausführen  lassen. 

5.  Organe  der  Ausführung  des  Gesetzes. 

Die  Ausführung  des  Gesetzes  steht  dem  Ministerium  für  Acker- 
bau, Gewerbe  und  Handel  zu,  welches  die  nötige  Aufsicht  durch 
die  Gewerbeinspektoren,  die  Ingenieure  und  Hilfsingcnicure  der 
Bergwerke  und  die  Behörden  der  gerichtlichen  Polizei  ausübt. 

Die  mit  dem  Aufsichtsdienst  beauftragten  Personen  haben  freien 
Eintritt  in  die  gewerblichen  Anstalten,  Bergwerke,  Brüche  und 
Tunnels,  registrieren  die  Uebertrctungen  der  Bestimmungen  des  Ge- 
setzes und  der  Ausführungs -Verordnung,  und  setzen  davon  die  zu- 
ständigen gerichtlichen  und  administrativen  Behörden  für  die  nötigen 
Mafsregcln  in  Kenntnis.  Sie  sind  zur  Geheimhaltung  der  ihnen 
bekannt  gewordenen  Fabrikationsprozesse  verpflichtet. 

In  der  Ausführung  des  Gesetzes  soll  die  Regierung  für  einige 


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C.  F.  Ferraris,  Das  neue  ital.  Gesetz  betr.  die  Frauen-  u.  Kinderarbeit.  - J 1 

ausdrücklich  hervorgehobene  Vorkehrungen  das  Gutachten  einiger 
Beiräte  einholcn.  Das  Gesetz  unterscheidet  dabei  zwischen  Zu- 
stimmung (parere  favorevole)  und  Anhörung.  Die  Zustimmung 
bindet  die  Regierung,  so  dafs  eine  vom  Beirate  gemifsbilligte  Be- 
stimmung fallen  gelassen  werden  mufs,  dagegen  bei  der  Anhörung 
bleibt  immer  die  Regierung  in  ihren  Entschlüssen  frei. 

Die  vom  Gesetze  genannten  Beiräte  sind,  aul'ser  dem  Staats- 
rate, die  folgenden : 

a)  Der  Beirat  für  Gewerbe  und  Handel. 

Er  ist  dem  Ministerium  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel 
beigeordnet  und  hat  zahlreiche  Mitglieder,  d.  h.  einige  von  der 
Regierung  unter  den  Grundeigentümern,  Industriellen,  Professoren 
der  ökonomischen  und  technischen  Wissenschaften  ernannte  Räte, 
Delegierte  der  Handelskammern,  Vertreter  anderer  ökonomischen 
Körperschaften,  hohe  Behörden  des  Ackerbau-  und  des  Finanz- 
ministeriums. 

b)  Der  obere  Beirat  für  Gesundheitswesen. 

Er  ist  dem  Ministerium  des  Inneren  beigeordnet,  und  ist  aus 
Aerzten,  Chemikern,  Pharmazeuten,  Tierärzten,  Ingenieuren,  Juristen, 
hohen  Verwaltungsbeamten  zusammengesetzt. 

c)  Der  provinziale  Beirat  für  Gesundheitswesen. 

Er  ist  der  Präfektur  in  jeder  der  69  Provinzen  beigeordnet;  er 
wird  aus  Fachleuten  ähnlich  wie  der  obere  Beirat,  doch  mit  einer 
kleineren  Zahl  von  Mitgliedern,  gebildet. 

6.  Uebertretungen. 

Die  Uebertretungen  des  Gesetzes  und  der  Ausführungsverord- 
nung werden  mit  bestimmten,  hier  nicht  näher  zu  erörternden  Geld- 
bufsen,  unbeschadet  der  vom  Strafgesetzbuche  angedrohten  weiteren 
Strafen,  getroffen. 

7.  Ausführungsverordnung. 

Die  Regierung  soll  dieselbe,  nach  Anhörung  des  Staatsrates, 
des  oberen  Beirates  für  Gesundheitswesen  und  des  Beirates  für  Ge- 
werbe und  Handel,  mit  königlichem  Dekret  bestätigen.  Das  Gesetz 
tritt  vier  Monate  nach  der  Veröffentlichung  der  Verordnung  in 
Kraft. 

Diese  Ausführungsverordnung  wurde  durch  kgl.  Dekret  vom 
29.  Januar  1903,  N.  41,  bestätigt.  Sie  enthält,  unter  anderen  Be- 
stimmungen : 

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Gesetzgebung : Italien. 


1.  den  genauen  Begriff  der  Betriebe,  in  welchen  das  Gesetz 
anzuwenden  ist; 

2.  das  Verzeichnis  der  gefährlichen  oder  ungesunden  Arbeiten, 
zu  welchen  Kinder  und  Frauen  entweder  nicht  oder  nur 
mit  besonderen  Vorsichtsmafsregeln  zugelassen  werden.  Es 
ist  aufserdem  den  Kindern  und  Frauen  verboten,  in  den 
Arbeitsräumen  derselben  Betriebe  ihr  Mahl  zu  geniefsen; 

3.  das  Verbot,  Kinder  und  minderjährige  Frauen  bei  der 
Reinigung  von  Maschinen  in  Bewegung  zu  verwenden; 

4.  die  Dauer  der  den  säugenden  Arbeiterinnen  für  das  Er- 
nähren der  Kinder  in-  und  aufserhalb  der  Säugezimmer 
gestatteten  Zeit; 

5.  die  besonderen  Vorschriften  zum  Schutz  der  Hygiene,  der 
Sicherheit  und  der  Sittlichkeit  in  den  Betrieben , und  über 
die  Pflichten  und  das  Verfahren  der  Aufsichtsbehörden; 

6.  das  Muster  des  Arbeitsbuches,  das  Formular  für  die  ärzt- 
lichen Prüfungen  der  Kinder,  u.  s.  w. 

7.  Die  Bestimmung,  dafs  das  Ministerium  für  Ackerbau,  Ge- 
werbe und  Handel  wenigstens  jedes  dritte  Jahr  dem  Parla- 
ment einen  ausführlichen  Bericht  über  die  Resultate  der 
Anwendung  des  Gesetzes  und  der  Verordnung  vorlegen  soll. 

Von  besonderer  Bedeutung,  um  die  Grenzen  der  Anwendung 
des  Gesetzes  zu  bestimmen,  ist  der  Art.  I der  Verordnung.  Ich 
halte  es  für  nützlich,  hier  eine  Uebersetzung  desselben  zu  geben. 

„Zur  Anwendung  des  Gesetzes  vom  19.  Juni  1902,  Nr.  242, 
ist  als  gewerblicher  Betrieb  oder  Laboratorium  zu  betrachten,  wo 
mit  Hilfe  von  mechanischen  Motoren  Handarbeiten  gewerblicher 
Natur  verrichtet  werden,  ungeachtet  der  Zahl  der  beschäftigten  Ar- 
beiter. Wenn  mechanische  Motoren  nicht  in  Gebrauch  sind,  ist 
als  gewerblicher  Betrieb  oder  Laboratorium  zu  betrachten,  wo 
regelmäfsig  mehr  als  5 Arbeiter  jedes  Geschlechts  und  Alters 
zusammen  beschäftigt  sind.“ 

„Bei  Anwendung  desselben  Gesetzes  sind  als  Bauarbeiter  jene 
zu  betrachten,  welche  den  Bau,  die  Verbesserung,  Erhaltung  oder 
auch  die  Wiederherstellung  von  öffentlichen  oder  privaten  Gebäuden 
bezwecken.“ 

„Die  Tunnel-Arbeiten,  ungeachtet  des  Zweckes,  sind  denen  in 
Brüchen  und  Bergwerken  gleichgestellt." 

„Die  Arbeiten  in  den  Torflagern  sind  jenen  der  Brüche  gleich- 
geachtet." 


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Gesetz  vom 


9.  Juni  1902  Xr.  242.  Die  Frauen-  und  Kinderarbeit  betr.  573 


Wir  lassen  nunmehr  den  Wortlaut  des  Gesetzes  folgen. 

Gesetz  vom  xg.  Juni  xgoa,  Nr.  242.  Die  Frauen-  und  Kinderarbeit  betreffend. 

Victor  Emmanuel  III.  von  Gottes  Gnaden  und  durch  Willen  der  Nation 
König  von  Italien: 

Der  Senat,  und  das  Abgeordnetenhaus  haben  angenommen : Wir  haben  be- 
stätigt und  verordnen  was  folgt: 

Art.  1.  Die  Kinder  beider  Geschlechter  sollen,  um  zur  Arbeit  in  den  gewerb- 
lichen Anstalten,  in  den  Laboratorien,  im  Baugewerbe,  und  zu  den  nicht  unter- 
irdischen Arbeiten  in  den  Brüchen  (cave),  Bergwerken  und  Tunnels  zugelassen  zu 
werden,  mindestens  das  1 2.  Altersjahr  zurückgelegt  haben. 

Doch  können  jene,  die  das  io.  Altersjahr  vollendet  haben,  dort  bleiben,  wenn 
sic  zur  Zeit  des  Inkrafttretens  dieses  Gesetzes  schon  beschäftigt  sind. 

Mit  Vorbehalt  der  Bestimmungen  des  Art.  4,  bei  den  unterirdischen  Arbeiten 
in  den  Brüchen,  Bergwerken  und  Tunnels  können  die  Kinder,  welche  das  13.  Alters- 
jahr noch  nicht  zurückgelegt  haben,  und  die  Frauen  jedes  Alters  nicht  beschäftigt 
werden. 

Drei  Jahre  nach  dem  Erlasse  dieses  Gesetzes,  können  bei  den  unterirdischen 
Arbeiten  der  Brüche,  Bergwerke  und  Tunnels,  wo  keine  mechanische  Traktion  ver- 
wendet wird,  die  Kinder,  welche  das  14.  Altersjahr  noch  nicht  zurückgelegt  haben, 
nicht  beschäftigt  werden. 

Doch  können  jene,  die  das  1 1.  Altersjahr  vollendet  haben,  dort  bleiben,  wenn 
sie  zur  Zeit  des  Erlasses  dieses  Gesetzes  schon  beschäftigt  sind. 

Auch  mit  Vorbehalt  der  Bestimmungen  des  Art  4,  können  bei  den  gefähr- 
lichen oder  ungesunden  Arbeiten,  obgleich  dieselben  nicht  in  gewerblichen  Anstalten, 
Brüchen,  Bergwerken  oder  Tunnels  ausgeführt  sind,  die  Kinder,  welche  das  15.  Alters- 
jahr nicht  zurückgelegt  haben,  und  die  minderjährigen  Frauen  nicht  beschäftigt 
werden. 

Art.  2.  Bei  den  Arbeiten,  die  von  diesem  Gesetze  und  der  im  Art.  15  vor- 
gesehenen Ausfilhrungs -Verordnung  bezeichnet  sind,  können  die  minderjährigen 
Frauen  und  die  Kinder  vor  der  Vollendung  des  15.  Altersiahrs  nicht  beschäftigt 
werden,  wenn  sie  nicht  mit  einem  Arbeitsbuche  und  einem  auf  dem  Arbeitsbucbc 
geschriebenen  ärztlichen  Zeugnis,  aus  dem  ihre  Gesundheit  und  ihre  Fähigkeit  zu 
der  ihnen  bestimmten  Arbeit  erhellt,  versehen  sind. 

Das  Arbeitsbuch  soll  dem  in  der  Verordnung  bezeichneten  Muster  entsprechen, 
den  Gemeinden  vom  Ministerium  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  verschafft, 
und  unentgeltlich  vom  Bürgermeister  der  Gemeinde,  wo  der  Arbeiter  seinen  gewöhn- 
lichen Aufenthalt  hat,  demselben  überreicht  werden. 

Das  Arbeitsbuch  soll  angeben : die  Geburtszeit  der  minderjährigen  Frau  und 
des  Kindes ; dafs  sie  geimpft  worden  sind ; dafs  sie  gesund  und  zur  ihnen  ange- 
wiesenen Arbeit  fähig  anerkannt  worden  sind ; dafs  sie  den  niederen  Kurs ')  der 


*)  D.  h.  die  drei  ersten  Jahre. 


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574 


Gesetzgebung : Italien. 


Volksschule,  nach  Mafsgabe  des  Art.  2 des  Gesetzes  vom  15.  Juli  1877,  Nr.  3961, 1 
absolviert  haben. 

Den  Kindern,  welche  zur  Zeit  des  Erlasses  dieses  Gesetzes  diese  letzte  Be* 
dingung  nicht  erfüllt  haben,  wird  eine  dreijährige  Periode,  um  dieselbe  sich  anzu- 
eignen gestattet. 

Der  amtliche  Arzt  (ufficiale  sanitario)  der  Gemeinde  soll,  ohne  Entgeh 
seitens  des  Arbeiters,  die  ärztliche  Prüfung  leisten  und  das  Zeugnis  im  Arbeits- 
buche nicderschrciben. 

Die  zufälligen  Kosten  der  ersten,  so  wie  der  weiteren  ärztlichen  Prüfungen 
sollen  die  Gemeinden  tragen.  Die  Verordnung  wird,  in  welchen  Fällen  die  ärzt- 
liche Prüfung  wiederholt  sein  soll,  bestimmen. 

Das  Arbeitsbuch,  das  ärztliche  Zeugnis,  das  Geburtszeugnis  und  alle  zur  Er- 
langung derselben  nötigen  Urkunden  sind  stcmpelfrei. 

Art.  3.  Wer  bei  von  diesem  Gesetze  und  der  Ausführungs  -Verordnung  be- 
zcichnctcn  Arbeiten  Frauen  jedes  Alters  und  Kinder,  die  noch  nicht  das  15.  Alters- 
jahr vollendet  haben,  beschäftigt,  soll  jedes  Jahr,  in  den  von  der  Ausführungs -Ver- 
ordnung bestimmten  Formen  und  Zeit,  davon  regclmäfsige  Ankündigung  abgeben. 

Man  soll  auch,  im  Laufe  des  Jahres,  jede  Veränderung  wegen  dauernder  Auf- 
hebung der  Arbeiten,  Wechsels  der  Firma,  Einführung  von  mechanischen  Trieb- 
kräften, oder  anderer  von  der  Verordnung  vorausgesehenen  Ursachen,  anzeigen.  Die 
Ankündigung  soll  in  doppeltem  F.xcmplar  bei  der  Präfektur  der  Provinz,  wo  der 
Betrieb  seinen  Sitz  hat,  statlhnden ; die  Präfektur  soll  sogleich  dieselbe  dem 
Ministerium  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  übersenden  und  ein  Register  mit 
den  aus  den  Ankündigungen  gezogenen  Notizen  führen. 

Die  Eigentümer  von  Betrieben,  welche  von  diesem  Gesetze  betroffen  sind, 
sollen,  binnen  6 Monaten  nach  dem  Inkrafttreten  desselben  und  unbeachtet  der 
früheren  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  11.  Februar  1886,  Nr.  3657,  und  der  Ver- 
ordnung vom  17.  September  1886,  Nr.  4082,*)  gemachten  Ankündigungen,  eine 
neue  Ankündigung  abgeben. 

Art.  4.  Mit  königlichem  Dekret,  nach  Anhörung  des  oberen  Beirates  für  Ge- 
sundheitswesen und  des  Beirates  lür  Gewerbe  und  Handel,  sollen  die  gefährlichen 
oder  ungesunden,  den  Kindern  beider  Geschlechter,  welche  das  15.  Altersjahr  noch 
nicht  zurückgelegt  haben,  und  den  minderjährigen  Frauen  verbotenen  Arbeiten  be- 
stimmt werden. 

Auf  gleicher  Weise,  aber  als  Ausnahmefälle,  sollen  jene  gefährlichen  oder  un- 
gesunden Arbeiten,  zu  welchen  die  Kinder  vor  der  Vollendung  des  15.  Altersjahres 
und  die  minderjährigen  Frauen,  aber  mit  den  nötig  anerkannten  Vorsicbtsmafsregcln 
und  Bedingungen,  zugelassen  sein  können,  bestimmt  werden. 

Art.  5.  Die  Nachtarbeit  ist  den  Männern  vor  der  Vollendung  des  15.  Alters- 
jahrs  und  den  minderjährigen  Frauen  verboten.  Doch  können  die  Frauen,  welche 

*)  Den  obligatorischen  Elementarunterricht  betreffend. 

*)  D.  h.  das  frühere  Gesetz  und  die  frühere  Verordnung,  die  Kinderarbeit 
betreffend. 


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Gesetz  vom  19.  Juni  1902,  Nr.  242.  Die  Frauen-  und  Kinderarbeit  betr. 

das  15.  Altersjahr  schon  zurückgelcgt  haben,  in  jenen  gewerblichen  Anstalten, 
Brüchen  oder  Bergwerken,  wo  sie  zur  Zeit  des  Erlasses  dieses  Gesetzes  schon  be- 
schäftigt sind,  bleiben. 

Fünf  Jahre  nach  dem  Erlasse  dieses  Gesetzes  wird  die  Nachtarbeit  den  Frauen 
jedes  Alters  verboten  sein. 

Während  dieser  fünf  Jahre  sollen  die  in  Nachtarbeit  beschäftigten  Frauen  jedes 
Alters  mit  dem  Arbeitsbuche  nach  den  Bestimmungen  des  Art.  2 versehen  sein. 

Der  Minister  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  ist  ermächtigt,  während  drei 
Jahre  nach  dein  Erlasse  dieses  Gesetzes,  mit  Zustimmung  des  provinzialen  Beirates 
für  Gesundheitswesen,  zu  gestatten,  dafs  an  Stelle  der  gegenwärtig  in  gewerblichen 
Anstalten  beschäftigten  minderjährigen  Frauen  andere  minderjährige  Frauen  mit 
vollendetem  15.  Altersjahre  treten. 

Als  Nachtarbeit  wird  jene  betrachtet,  welche  zwischen  20  und  6 Uhr  vom 
1.  Oktober  bis  zum  3!.  März,  und  zwischen  21  und  5 Uhr  vom  I.  April  bis  zum 
30.  September  stattfmdet.  *) 

Wo  die  Arbeit  in  zwei  Arbcitcrschichtcn  verteilt  ist,  kann  sie  um  3 Uhr  be- 
ginnen und  bis  23  Uhr  dauern. 

Der  Minister  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  ist  ermächtigt,  mit  Zu- 
stimmung des  provinzialen  Beirates  für  Gesundheitswesen,  die  obengenannten  Grenzen 
der  Nachtarbeit  in  den  Ortschaften,  wo  cs  für  besondere  Zustände  von  Klima  und 
Arbeit  nötig  wird,  zu  verändern. 

Art.  6.  Die  Wöchnerinnen  können  regelmäfsig  nur  nach  einem  Monate  nach 
der  Entbindung  beschäftigt  werden ; früher  nur  in  Ausnahmefällcn,  aber  jedenfalls 
nur  wenigstens  nach  drei  Wochen,  w’enn  aus  einem  Zeugnis  des  Gesundheitsamtes 
der  Gemeinde,  wo  sie  ihren  gewöhnlichen  Aufenthalt  haben,  erhellt,  dafs  ihr  Ge- 
sundheitszustand ihnen  erlaubt,  die  von  ihnen  gesuchte  Arbeit  ohne  Schaden  zu 
verrichten. 

Art.  7.  Die  Kinder  beider  Geschlechter,  welche  das  10.,  aber  noch  nicht  das 
12.  Altersjahr  vollendet  haben,  können  nicht  mehr  als  8 Stunden  in  den  24  des 
Tages  beschäftigt  werden ; ebenso  nicht  mehr  als  1 1 Stunden  die  Kinder  beider 
Geschlechter  vom  12.  bis  zum  15.  vollendeten  Altersjahrc,  und  nicht  mehr  als  12 
Stunden  die  Frauen  jedes  Alters. 

Der  Minister  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  kann  zeitlich  und  ausnahms- 
weise, nach  Anhörung  des  provinzialen  Beirates  für  Gesundheitswesen,  gestatten,  dafs 
die  tägliche  Arbeitszeit  der  Kinder  zwischen  dem  12.  und  dem  15.  vollendeten 
Altersjahre  bis  zum  Maximum  von  1 2 Stunden,  wenn  cs  aus  technischen  und  öko- 
nomischen Rücksichten  nötig  ist,  verlängert  werde. 

Art.  8.  Die  Arbeit  der  Kinder  und  der  Frauen  jedes  Alters  soll  von  einer 
oder  mehreren  Ruhepausen  unterbrochen  werden : diese  sollen  im  ganzen  mindestens 
eine  Stunde  dauern,  wenn  die  Arbeit  6,  aber  nicht  8 Stunden  übersteigt,  mindestens 
anderthalb  Stunden,  wenn  die  Arbeit  8,  aber  nicht  1 1 Stunden  übersteigt,  und 
2 Stunden,  wenn  die  Arbeit  1 1 Stunden  übersteigt. 

*)  S.  die  betreffende  Anmerkung  in  der  Einleitung. 


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576 


Gesetzgebung : Italien. 


In  keinem  Falle  kann  die  Arbeit  der  Kinder  und  der  minderjährigen  Frauen 
mehr  als  6 Stunden  ohne  Unterbrechung  dauern. 

Art.  9.  Den  Frauen  jedes  Alters  und  den  Kindern  bis  zum  15.  vollendeten 
Altcrsjahrc  soll  wöchentlich  ein  ganzer  Ruhetag  (24  Stunden)  gestattet  werden. 

Art.  10.  Mit  Vorbehalt  der  Bestimmungen  anderer  Gesetze  und  Verordnungen, 
sollen  die  Eigentümer,  Verwalter,  Direktoren,  Unternehmer  und  Submittenten,  welche 
Kinder  oder  Frauen  jedes  Alters  beschäftigen,  in  den  Arbeits-  und  zugehörigen 
Räumen,  sowie  in  den  Schlaf-,  Säuge-  und  Efszimmern  die  nötigen  Vorkehrungen 
zum  Schutz  der  Hygiene,  der  Sicherheit  und  der  Sittlichkeit,  nach  den  Bestimmungen 
der  Verordnung  ergreifen  und  ausführen  lassen.' 

Man  soll  in  den  Fabriken,  wo  Frauen  beschäftigt  sind,  das  Säugen  der  Kinder 
in  einem  besonderen,  der  Fabrik  zugehörigen  Zimmer  erlauben,  oder  den  nährenden 
Frauen  gestatten,  sich  von  der  Fabrik  zeitlich  zu  entfernen,  alles  in  der  Art  und  in 
den  Stunden,  welche  das  innere  Fabrikreglement  bestimmen  wird  und  unbeschadet 
der  vom  Art.  8 vorgeschriebenen  Ruhepausen. 

Das  besondere  Säugezimraer  soll  immer  in  den  Fabriken,  wo  wenigstens 
fünfzig  Arbeiterinnen  beschäftigt  sind,  bestehen. 

Art.  II.  Die  inneren  Reglements  der  von  diesem  Gesetze  betroffenen  Betriebe 
sollen  den  Bestimmungen  desselben  und  der  vom  Art.  15  vorgesehenen  Ausführungs- 
verordnung entsprechen,  mit  der  Visa  des  Bürgermeisters,  als  Zeichen  ihrer  Rechts- 
gültigkeit, versehen  und  an  einem  Platze  ausgehängt  sein,  wo  die  Lektüre  den 
Interessenten  und  den  im  nächsten  Artikel  bezeichnetcn  Behörden  leicht  wird. 

Art.  12.  Die  Ausführung  dieses  Gesetzes  steht  dem  Ministerium  für  Ackerbau, 
Gewerbe  und  Handel  zu,  welches  die  nötige  Aufsicht  durch  die  Gewerbeinspektoren, 
die  Ingenieure  und  Hilfsingenieure  der  Bergwerke  und  die  Behörden  der  gericht- 
lichen Polizei  ausübt. 

Die  mit  dem  Aufsichtsdienst  beauftragten  Personen  haben  freien  Eintritt  in  die 
gewerblichen  Anstalten,  Bergwerke,  Brüche  und  Tunnels,  und  bestätigen  die  Ueber- 
tretungen  der  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  und  der  AusfUhrungs  -Verordnung. 

Die  betreffenden  Aktenstücke  werden  sofort  den  zuständigen  gerichtlichen  Be- 
hörden übermittelt. 

Auch  eine  Abschreibung  soll  der  örtlichen  Präfektur  zur  Kenntnisnahme  mit- 
geteilt werden. 

Auf  die  genannten  Personen  sind  die  im  dritten  Satze  des  Art.  5 des  Gesetzes 
vom  17.  März  1898,  Nr.  80,  enthalten,  die  Enthüllung  von  geheimen  Fabrikations- 
prozessen betreffenden  Bestimmungen  anwendbar.  *) 

*)  Dieser  Satz  lautet : „Alle  die  mit  Inspektionen  beauftragten  Personen  .... 
sollen,  soweit  es  möglich  ist,  sich  enthalten,  die  geheimen  Fabrikationsprozesse  zu 
untersuchen,  und  stets  über  diejenigen  Verschwiegenheit  beobachten,  welche  in  der 
Ausübung  ihres  Amtes  ihnen  bekannt  geworden  sind ; widrigenfalls  unterliegen  sie 
einer  Bufsc  von  500  bis  1000  Franken,  und  aufserdem  dem  Schadenersätze  und,  im 
Falle  eines  beabsichtigten  Verrats,  den  ira  Art.  298  des  Strafgesetzbuches  ange- 
drohten Strafen.“ 


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Gesetz  vom  19.  Juni  1902,  Nr.  242.  Die  Frauen  und  Kinderarbeit  betr.  577 

Art.  13.  Die  zur  Beobachtung  der  in  den  ersten  neun  Artikeln  dieses  Gesetzes 
enthaltenen  Bestimmungen  verpflichteten  Personen,  welche  dieselben  übertreten,  sind 
mit  einer  Bufse  bis  50  Franken  fUr  jeden  beschäftigten  und  von  der  Ucbertretung 
betroffenen  Arbeiter  strafbar;  die  Bufse  kann  nie  den  Gesamtbetrag  von  5000  Franken 
übersteigen. 

Die  Bufse  für  Ucbertretungen  der  Artikel  10  und  ll  kann  50  bis  500  Franken 
betragen. 

Die  Ucbertretungen  der  Bestimmungen  der  vom  Art.  15  vorgesehenen  Aus- 
führungs-Verordnung können  mit  einer  Bufse  bis  zu  50  Franken  strafbar  erklärt 
werden. 

Im  Rückfall  wird  die  Bufse  von  einem  Sechstel  bis  zu  einem  Drittel  erhöht. 

Die  aus  den  Bufsen  herrührenden  Summen  fallen  zur  mit  dem  Gesetze  vom 
17.  Juli  1898,  Nr.  350,  errichteten  National  • Versorgungskasse  für  die  Invalidität  und 
das  Alter  der  Arbeiter  *)  heim. 

Art.  14  Für  die  nur  mit  einer  Bufse  bestraften  Uebcrtretungen  kann  der  An- 
geklagte den  Prozefs  auf  neben,  wenn  er  vor  dem  Beginn  der  öffentlichen  Verhand- 
lung, aufser  den  Prozefskostcn,  eine  Summe,  welche  dem  Maximum  der  für  die  be- 
gangene Ucbertretung  bedrohten  Bufse  entspricht,  bezahlt. 

Art.  15.  Binnen  sechs  Monaten  nach  Veröffentlichung  dieses  Gesetzes  in  der 
offiziellen  Zeitung  des  Königreichs  wird,  nach  Anhörung  des  Staatsrates,  des  oberen 
Beirates  für  Gesundheitswesen  und  des  Beirates  für  Gewerbe  und  Handel,  eine 
durch  königliches  Dekret  bestätigte  Verordnung  die  Normen  zur  Ausführung  des- 
selben feststellen.  Das  Gesetz  wird  vier  Monate  nach  der  Veröffentlichung  der  Aus- 
führungs-Verordnung in  Kraft  treten. 

Die  weiteren  Veränderungen  der  AusfÜhrungs -Verordnung  werden  auch  vier 
Monate  nach  ihrer  Veröffentlichung  in  Kraft  treten. 

Art.  16.  Alle  diesem  Gesetze  widrige  Bestimmungen  sind  und  bleiben  auf- 
gehoben. 

Wir  verordnen,  dafs  das  vorliegende  Gesetz,  mit  dem  Staatsinsicgcl  versehen, 
jn  die  amtliche  Sammlung  der  Gesetze  und  Verordnungen  des  Königreichs  Italien 
aufgenommen  werde  und  verfügen,  dafs  jedermann,  den  cs  angeht,  es  als  Staatsgesetz 
befolge  und  zur  Befolgung  bringe. 

Gegeben  Rom,  den  19.  Juni  1902. 

Viktor  Emmanuel. 

G.  Baccelli. 

*)  S.  das  jetzt  geltende  Gesetz  in  diesem  Archiv,  Band  XVII,  S.  195  ff. 


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VEREINIGTE  STAATEN  VON  AMERIKA. 


Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung 
des  Jahres  1902. 

Von 

Dr.  jur.  CHARLES  HENRY  HUBERICH, 

Dozent  der  Rechte  an  der  Universität  von  Texas  (Austin). 

In  zwiefacher  Hinsicht  ist  die  amerikanische  Arbeitergesetz- 
gebung  des  vergangenen  Jahres  eine  interessante.  Erstens  zeigt  sie 
den  Anfang  der  gesetzlichen  Regelung  der  Kinderarbeit  in  den 
südlichen  Bundesstaaten,  und  zweitens  den  Beginn  eines  Unfall- 
versicherungssystems. Andererseits  ist  es  beachtenswert,  dafs,  trotz 
der  Arbeitcrunruhen,  auf  dem  Gebiete  der  Gesetzgebung,  Strikes 
und  Aussperrungen  betreffend,  nur  eine  unwesentliche  Veränderung 
in  Massachusetts  über  Schiedsverfahren  zustande  kam. 

Während  der  Unruhen  in  den  Kohlenminendistrikten  von 
Pennsylvania  wurde  in  diesem  Staat  die  Annahme  eines  den  Ge- 
setzen von  Neuseeland  und  New  South  Wales  ähnlichen  Zwang- 
schiedsverfahrens von  vielen  Seiten  beantragt.  Das  unmittelbare 
Bedürfnis  nach  solcher  Gesetzgebung  wurde  durch  die  vom  Präsident 
Roosevclt  vcranlafste  Einsetzung  der  Anthracitkohlenstrikckommission 
beseitigt,  und  kein  anderer  Staat  hat  bis  jetzt  das  Experiment  ge- 
wagt. Angesichts  der  wohlbekannten  Opposition  der  Gewerkvereine 
gegen  solche  Gesetzgebung  ist  deren  Annahme  kaum  zu  erwarten. 
Inbezug  auf  diese  Frage  sprechen  die  Mitglieder  der  obenerwähnten 
Kommission  in  ihren  dem  Präsidenten  am  23.  März  1903  vorge- 
legtcn  Bericht  sich  folgendermafsen  aus:  „Wir  können  solche 

drastische  Mafsregel  nicht  empfehlen.  Wir  glauben,  dals  in  den 
Vereinigten  Staaten  ein  solches  System  weder  Anklang  finden  noch 


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Ch.  H.  Hubcrich,  Die  amerikan.  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  tgo2.  ^jg 

erfolgreich  sein  würde.  . . . Unsere  Industrien  sind  zu  ausgedehnt 
und  zu  verwickelt,  um  eine  praktische  Anwendung  solches  Systems 
zu  erlauben.“ 

An  Stelle  solcher  Zwangschiedsverfahren  befürwortet  die  Anthra- 
citkohlenstrikekommission  amtliche  Untersuchung  aller  Arbeiter- 
streitigkeiten. Ein  Entwurf  eines  Bundesgesetzes  wurde  durch 
Mr.  Charles  Francis  Adams  der  American  Civic  Federation  im 
Dezember  1902  vorgelegt.  Dadurch  ist  der  Bundespräsident  be- 
fugt, in  allen  Fällen,  wo  durch  die  Streitigkeit  der  Geschäftsverkehr 
zwischen  den  verschiedenen  Bundesstaaten  oder  zwischen  den  Ver- 
einigten Staaten  und  dem  Auslande  gehindert  wird,  eine  Kom- 
mission einzusetzen,  um  die  Thatsachen  der  Kontroverse  fest- 
zustellen. Solche  Gesetze  bestehen  bereits  in  einigen  Staaten  der 
Union. 

Die  Entwicklung  des  Fabriksystems  in  den  südlichen  Bundes- 
staaten bringt  daselbst  die  Frage  der  Einführung  einer  adäquaten 
Gesetzgebung  in  den  Vordergrund.  Die  zunächst  zu  lösende  Frage 
ist  die  der  Regelung  der  Kinderarbeit.  Die  Zahl  der  jugendlichen 
Angestellten  ist  eine  gewaltige.  Der  Arbeitskommissär  von  North 
Carolina  berichtet,  dal's  7600  Kinder  unter  14  Jahren  in  den 
Fabriken  dieses  Staates  angestellt  sind : der  Verfasser  eines  Auf- 
satzes in  den  Annals  of  the  American  Academy1)  veran- 
schlagt die  Zahl  der  in  den  Staaten  North  Carolina,  South  Carolina, 
Georgia,  Alabama,  und  Mississippi  in  der  Baumwollenmanufaktur 
angestellten  Arbeiter  unter  14  Jahren  auf  22000  aus  einer  Gesamt- 
zahl von  88  829  Personen,  die  in  dieser  Industrie  beschäftigt  werden. 
Stark  bekämpft  wird  die  Annahme  der  Gesetze,  die  die  Ein- 
schränkung dieser  Arbeit  bewirken  sollen,  doch  zeigt  die  Gesetz- 
gebung der  Jahre  1902  und  1903  deutlich  den  Sieg  der  Reform- 
bewegung. Im  crstcren  Jahr  erstreckte  sich  die  Bewegung  auf  die 
Staaten  Kentucky,  Louisiana  und  Maryland. 

In  Kentucky  ist  durch  Gesetz  vom  12.  März  die  Arbeit  von 
Kindern  unter  14  Jahren  in  Fabriken,  Werkstätten  und  Minen 
untersagt.  Arbeitgeber,  die  nicht  selbst  das  genaue  Alter  ihrer 
minderjährigen  Angestellten  kennen,  müssen  sich  ein  diesbezügliches 
Attest  seitens  der  Eltern  oder  des  Vormundes  ausstellen  lassen. 


l)  Hayes  Kob l>i ns,  „The  nccessity  for  factory  legislation  in  the  South,  in 
Annals  of  the  American  Academy  of  Political  and  Social  Scienc e.“ 
lld.  XX,  S.  1S4. 


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580 


Gesetzgebung:  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


Auf  Bewilligung  der  Eltern,  bezw.  des  Vormundes,  und  des  Graf- 
schaftsrichters, genehmigt  durch  den  Grafschaftsanwalt,  darf  ein 
Kind,  welches  noch  nicht  das  gesetzliche  Alter  erreicht  hat,  ange- 
stellt werden. 

Das  Gesetz  Louisianas  vom  24.  Juli  (amendierend  Acts  of  1886, 
Cap.  43,  § 4)  beschränkt  die  Arbeitszeit  jugendlicher  Personen  unter 
18  Jahren  und  Frauen  in  Fabriken,  Werkstätten,  Warenlagern, 
Kleider-  und  Putzmacherateliers,  Telephon  - und  Telegraphen- 
bureaus (die  lerzten  beiden  neu)  auf  60  Stunden  pro  Woche, 
oder  durchschnittlich  10  Stunden  pro  Tag,  inklusive  eine  Stunde 
zum  Mittagessen. 

Maryland  (Gesetz  vom  II.  April,  das  Gesetz  von  1894,  Cap. 
317  amendierend)  verbietet  die  Anstellung  von  Kindern  unter  14 
(früher  12)  Jahren  in  Fabrikbetrieben,  ausgenommen  in  Fabriken 
zur  Herstellung  verlöteter  Waren,  Wo  jedoch  das  Kind  die  Stütze 
der  Eltern  ist  oder  sich  selbst  zu  unterhalten  hat,  kann  von  der 
Anwendung  dieses  Gesetzes  Abstand  genommen  werden.  Auch 
hat  das  Gesetz  keine  Geltung  in  den  Grafschaften  Frederick, 
Washington,  Queen  Anne,  Carroll,  Wicomico,  Caroline,  Kent, 
Somerset,  Cecil,  Calvert,  St.  Mary,  Prince  George,  Howard,  Balti- 
more, Worcester,  Garrett,  Talbot,  Montgomery  und  Harford. ') 

Das  Rhode  Island  Gesetz  vom  4.  April  (amendierend  General 
[.aws  of  1896,  Cap.  198,  § 22)  setzt  die  Maximalarbeitszeit  von 
Minderjährigen  unter  16  Jahren  und  Frauen  in  Fabriken  und 
Werkstätten  (letzteres  neu)  auf  58  (früher  60)  Stunden  pro 
Woche  und  10  Stunden  pro  'Pag  fest,  ausgenommen  wo  die  Stunden 
pro  Tag  erhöht  werden,  um  einen  kürzeren  Arbeitstag  an  einem 
Tage  der  Woche  festzusetzen,  oder  wo  Reparaturen  nötig  sind, 
um  P’instellung  des  Betriebes  zu  vermeiden.  Ein  anderes  Gesetz 
desselben  Staates  vom  gleichen  Datum  (amendierend  General  Laws 
of  1896,  Cap.  64)  verbietet  die  Anstellung  eines  Kindes  unter 
13  Jahren  in  irgend  welcher  Beschäftigung,  ausgenommen  während 
der  Ferienzeit  der  öffentlichen  Schulen  in  dessen  W'ohnort.  Ferner 
soll  kein  Kind  unter  15  Jahren  angestellt  werden  ohne  Vorzeigung 
einer  Bescheinigung  des  Schulkomitees  des  Wohnsitzes  des  Kindes, 
worin  der  Name,  Geburtsort,  Geburtstag,  und  Name  und  Wohnsitz 
derjenigen  Person,  die  die  Obhut  des  Kindes  hat,  angegeben  sind. 

*)  Acts  of  1892,  Cap.  443  beschränkt  die  Arbeitszeit  von  Kindern  unter 
16  Jahren  in  Fabriken,  oder  in  Kaufläden,  in  der  Stadt  Baltimore  auf  10  Stunden 
pro  Tag. 


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Ch.  H.  Hubcrich,  Die  amerikan.  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1902.  581 

Das  Ohio-Gesetz  vom  12.  Mai  (amendierend  Revised  Statutes 
§§  4364—66,  6986 — 88)  bestimmt,  dass  die  Arbeitszeit  von  Ange- 
stellten unter  18  Jahren  in  Fabriken,  Werkstätten  und  Kaufläden 
10  Stunden  pro  Tag  oder  55  Stunden  pro  Woche  nicht  übersteigen 
darf.  Solchen  Arbeitern  mufs  ferner  eine  Mittagsruhe  von  nicht 
weniger  als  30  Minuten  gewährt  werden,  doch  soll  diese  Zeit  nicht 
als  ein  Teil  der  gesetzlichen  Maximalarbeitszeit  berechnet  werden. 
Arbeitsverträge  mit  Minderjährigen  müssen  genau  den  verabredeten 
Lohn  angeben,  und  mufs  dem  Arbeiter  ein  Memorandum  davon 
überliefert  werden.  Änderungen  des  Lohnes  minderjähriger  Arbeiter 
müssen  mindestens  24  Stunden  vor  dem  Inkrafttreten  des  neuen 
Lohnmafses  angekündigt  werden.  Kein  Knabe  unter  16  Jahren 
und  kein  Mädchen  unter  18  Jahren  darf  in  den  Stunden  zwischen 
7 Uhr  abends  und  6 Uhr  morgens  arbeiten.  Kein  Kind  unter 
14  (früher  13)  Jahren  soll  überhaupt  in  einer  Fabrik,  Werkstätte 
oder  Kaufladen  beschäftigt  werden : noch  soll  solches  Kind  während 
der  Schulzeit  der  öffentlichen  Schulen  in  irgend  einer  anderen 
Weise  thätig  sein.  Jede  Person,  die  Arbeiter  unter  18  Jahren  be- 
schäftigt, mufs  ein  Register  führen,  worin  der  Name,  Geburtsort, 
Alter  und  Wohnsitz  des  Angestellten  bezeichnet  ist. 

Maryland  (Gesetz  vom  8.  April)  verbietet  die  Arbeit  von  Per- 
sonen unter  16  Jahren  in  Brauereien,  in  der  Herstellung  von 
alkoholischen  Getränken  und  in  Schankwirtschaften.  Massachusetts 
verbietet  die  Anstellung  von  Personen  unter  16  Jahren  in  Betrieben 
von  Personen-  oder  Frachtaufzügen  irgend  einer  Art,  und  die  An- 
stellung von  Personen  unter  18  Jahren,  wo  solche  Aufzüge  eine 
Schnelligkeit  von  mehr  als  100  Fufs  pro  Minute  besitzen  (Gesetz 
vom  29.  April).  Iowa  (Gesetz  vom  11.  April)  verbietet  die  Be- 
schäftigung von  Personen  unter  16  Jahren  bei  gefährlichen  Ma- 
schinerien und  die  Reinigung  von  Maschinen  während  sie  im  Gange 
sind,  durch  männliche  Personen  unter  16  Jahren  und  weibliche 
Personen  unter  18  Jahren.  Rhode  Island  (Gesetz  vom  3.  April) 
verbietet  die  Anstellung  von  Personen  unter  18  Jahren  in  dem  Be- 
trieb von  Personen-  oder  Frachtaufzügen  in  Fabriken  und  Werk- 
stätten. Porto  Rico  (Gesetz  vom  25.  Februar)  setzt  die  Maximal- 
arbeitszeit der  Angestellten  unter  16  Jahren,  in  Fabriken  auf 
6 Stunden  pro  Tag  — wovon  3 Stunden  Arbeit  morgens  und 
3 Stunden  nachmittags  verrichtet  werden  soll,  — fest. 

Im  Gebiete  der  Haftpflichtgesetzgebung  hat  das  Jahr  1902  die 
interessantesten  Neuerungen  aufzuweisen.  Haftpflichtgesetze  wurden 


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582 


Gesetzgebung : Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


erlassen  in  den  Staaten  New -York,  Virginia,  Ohio,  Porto  Rico 
und  Maryland.  Die  ersten  vier  Gesetze  sind  lediglich  auf  das 
common  law  basiert  und  schliefsen  sich  der  neueren  Gesetz- 
gebung in  den  anderen  Bundesstaaten  an.  Das  Gesetz  Marylands 
jedoch  ist  eine  teilweise  Verwerfung  der  Theorie  des  common 
law,  wonach  die  Verantwortlichkeit  des  Arbeitgebers  für  Betriebs- 
unfälle nur  dann  begründet  ist,  wo  solche  Unfälle  unmittelbar  durch 
eine  culpose  Handlung  oder  Unterlassung  (Nachlässigkeit,  Fahr- 
lässigkeit) des  Betriebsherrn  verursacht  wurden. 

Das  Gesetz  von  New -York,  angenommen  am  15.  April,  be- 
zeichnet den  Sieg  nach  langjährigem  Kampfe  der  Arbeiterorgani- 
sationen um  eine  statutarische  Regelung  der  Haftpflicht  der  Arbeit- 
geber zu  erlangen. ')  Die  Bestimmungen  des  Gesetzes  sind  wie  folgt : 

„Art.  1.  Wenn  nach  dem  Inkrafttreten  dieses  Gesetzes  (1.  Juli) 
Körperverletzungen  einem  Angestellten,  der  zur  Zeit  des  Unfalles 
selbst  gehörige  Vorsicht  und  Sorgfalt  ausübte,  zugefügt  sind : 

„I.  Durch  einen  Mangel  im  Zustande  des  mit  dem  Geschäfte 
des  Arbeitgebers  in  Verbindung  stehenden  oder  darin  befindlichen 
Arbeitsplatzes,  der  Werkzeuge  oder  Maschinen,  falls  solcher 
Mangel,  oder  dessen  Nichtbemerkung  oder  Nichtabänderung  der 
Nachlässigkeit  des  Arbeitgebers  oder  einer  in  dessen  Diensten 
stehenden  und  durch  ihn  mit  der  Pflicht  der  Inspektion  des  Arbeits- 
platzes, der  Werkzeuge  und  Maschinen  betrauten  Person,  zuzu- 
schreiben ist. 

„2.  Durch  die  Nachlässigkeit  einer  im  Dienste  des  Arbeitgebers 
stehenden,  mit  der  Oberaufsicht  betrauten  und  Oberaufsicht  aus- 
übenden Person,  deren  alleinige  oder  hauptsächliche  Pflicht  solche 
Aufsicht  ist;  oder,  in  der  Abwesenheit  dieser  Person,  durch  die 
Nachlässigkeit  einer  anderen,  mit  Genehmigung  des  Arbeitgebers 
solche  Oberaufsicht  ausübender  Person,“  so  besitzt  der  Verletzte, 
bezw.  im  Todesfälle  dessen  Verwandte,  dieselben  Klagcrechte,  als 
ob  er  nicht  im  Dienste  des  Beklagten  gestanden  hätte. 

Art.  2.  Schriftliche  Anzeige  der  Zeit  und  Ursache  des  Unfalles 
mufs  dem  Arbeitgeber  innerhalb  120  Tagen,  berechnet  vom  Tage 
des  Unfalles  an,  gemacht  werden,  und  die  Klage  muls  innerhalb 
eines  Jahres  erfolgt  sein. 

Art.  3.  Die  von  dem  Angestellten  selbst  übernommenen 
Risikos  sind  beschränkt  auf  die  notwendigen  Gefahren,  d.  h. 

*)  Vgl.  meinen  Bericht  für  190t  in  dieser  Zeitschrift,  Bd.  XVII  S.  427. 


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Ch.  H.  Hubcrich,  Die  amerikan.  Arbcitergeselagebung  des  Jahres  1902. 

solche  Gefahren,  die  aus  der  Natur  der  Beschäftigung  entspringen. 
Die  alleinige  Thatsache,  dafe  der  Angestellte  nach  Entdeckung  einer 
Gefahr  im  Dienste  des  Arbeitgebers  verblieb,  soll  nicht  bedeuten, 
dafs  der  Angestellte  auch  alle  daraus  entspringenden  Risikos  über- 
nahm. Doch  mufs  er  den  Arbeitgeber  von  solchen  Mängeln  oder 
Gefahren  benachrichtigen,  ausgenommen  in  Fällen,  wo  diesem 
schon  von  anderer  Seite  Kunde  davon  gemacht  ist,  widrigenfalls  die 
Klage  abzuweisen  ist. 

Art.  5.  Das  Gesetz  ist  alternativ:  alle  anderen  Verfahren 
bleiben  dem  Kläger  offen. 

Das  Ohio-Gesetz  vom  4.  April  lautet  wie  folgt : 

„Der  Arbeitgeber  haftet  für  Schadenersatz  für  Verletzungen, 
die  seinem  Angestellten,  der  zur  Zeit  des  Unfalles  selbst  mit  ge- 
höriger Sorgfalt  der  Ausübung  seiner  Pflichten  nachging,  durch 
Mängel  in  'dem  Zustande  der  in  dem  Betriebe  des  Arbeitgebers 
verwandten  Maschinen  oder  Werkzeugen  zustiefsen,  wenn  solche 
Mängel  oder  deren  Nichtbemerkung  oder  Nichtabänderung  cler  Nach- 
lässigkeit des  Arbeitgebers  oder  einer  in  dessen  Diensten  stehenden 
und  durch  den  Arbeitgeber  mit  der  Pflicht  der  Inspektion,  Reparatur 
und  Beaufsichtigung  der  Maschinen  oder  Werkzeuge  betrauten 
Personen,  zuzuschreiben  sind.“  Dieses  neue  Gesetz  ist  allgemein 
abgefafst  und  bezieht  sich  äuf  alle  Beschäftigungen : das  alte  Gesetz 
war  beschränkt  auf  Eisenbahnangestcllte. 

Die  am  10.  Juli  in  Kraft  getretene  Verfassung  des  Staates 
Virginia,  und  das  Gesetz  vom  2 7.  März  setzen  die  Verantwortlich- 
keit der  Eisenbahngesellschaften  für  die  im  Betriebe  verletzten  An- 
gestellten in  allen  Fällen  fest,  wo  solche  Verletzung  der  Schuld 
eines  im  Dienstrang  über  dem  Verletzten  stehenden  Vertreters  oder 
Beamten  der  Gesellschaft,  oder  einer  Person,  welche  das  Recht  der 
Kontrolle  über  den  Verletzten  hatte,  oder  der  Nachlässigkeit  eines 
in  einem  anderen  Arbeitsdepartement,  als  dasjenige  des  Verletzten, 
beschäftigten  Mitarbeiters,  oder  der  Nachlässigkeit  eines  auf  einem 
anderen  Zuge  beschäftigten  Mitarbeiters,  oder  einer  Person,  die  mit 
der  Weichenstellung,  dem  Signalgeben,  der  Führung  einer  Loko- 
motive, der  Beförderung  von  Zügen  oder  Sendung  von  tele- 
graphischen oder  telephonischen  Befehlen  betraut  ist,  zuzuschreiben 
ist  Die  alleinige  Thatsache,  dals  der  Verletzte  den  unsicheren  Zu- 
stand oder  die  Mängel  der  Maschinen,  Arbeitsstätten,  Geräte  oder 
Bauten  kannte,  soll  nicht  an  und  für  sich  die  Schadensersatzpflicht 


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584 


Gesetzgebung:  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


des  Arbeitgebers  verringern.  Alle  Verträge,  die  eine  andere  Haft- 
pflicht aufstellen,  sind  nichtig  erklärt. 

Das  Haftpflichtgesetz  Porto  Ricos  (Gesetz  vom  1.  März)  folgt 
im  wesentlichen  den  Bestimmungen  des  englischen  Employers’ 
Liability  Act.  1880.  Abweichend  vom  letzteren  bestimmt  es  jedoch, 
dafs  die  Ausführung  einer  Arbeit  durch  Nebenunternehmer  (inde- 
pendent contractors)  die  Verantwortlichkeit  des  Hauptunternehmers 
für  Mängel  in  den  durch  diesen  gelieferten  Bctricbsanlagen  nicht 
verringern  soll.  Der  Maximalbetrag  der  Schadenersatzsumme  bei 
Verletzungen  ist  5 2000,  bei  Todesfällen  $ 3000. 

Das  Haftpflichtgesetz  von  Maryland  vom  I.  April  enthält  die 
folgenden  Bestimmungen : 

„Art.  I.  Jede  Korporation,  Firma,  Gesellschaft  oder  Person, 
welche  im  Betriebe  einer  Kohlen-  oder  Thonmine,  Steinbruch,  einer 
Dampf-  oder  Strafseneisenbahn  innerhalb  des  Staates  Maryland,  und 
jede  incorporierte  Stadt,  Gemeinde  oder  Grafschaft  im  Staate, 
welche  im  Sielenbau,  Ausgrabungen  oder  anderen  Bauten  beschäftigt 
ist,  oder  die  Bauunternehmer  solcher  Arbeiten  für  benannte  Städte, 
Gemeinden  oder  Grafschaften,  sollen  gegenüber  jedem  in  oben- 
genannten Beschäftigungen  Angestellten  Arbeiter,  oder  im  Todes- 
fall seiner  Frau  (bezw.  ihrem  Mann,  wo  die  Getötete  eine  ver- 
heiratete Frau  war)  oder  seinen  (bezw.  ihren)  Eltern  oder  Kindern, 
gemäfs  Code  of  Public  Laws,  Art.  67,  § 2 für  allen  aus  der  Ver- 
letzung oder  dem  Tode  des  angestellten  verursuchten  Schaden  ver- 
antworlich  sein,  in  allen  Fällen,  wo  solcher  Todesfall  oder  solche 
Verletzung  durch  die  Nachlässigkeit  des  Arbeitgebers  oder  eines 
Arbeiters  oder  Angestellten  des  Arbeitgebers  verursacht  wurde. 
Wo  es  erwiesen  wird,  dafs  solche  Verletzung  oder  solcher  Tod 
durch  die  gemeinsame  Nachlässigkeit  des  Arbeitgebers,  seiner 
Arbeiter  oder  Angestellten  einerseits  und  die  Nachlässigkeit  des 
Verletzten,  bezw.  Getöteten,  andererseits  verursacht  wurde,  soll  der 
Arbeitgeber  für  die  Hälfte  des  aus  der  Verletzung  oder  aus  dem 
Todesfälle  fliefsenden  Schadens  haftbar  sein.“ 

„Art.  2.  Die  durch  die  vorhergehenden  Paragraphen  festgestellte 
Schadenersatzpflicht  kommt  dann  in  Fortfall,  wenn  der  Arbeitgeber, 
die  Stadt,  die  Gemeinde  oder  Grafschaft  (oder  deren  Bauunter- 
nehmer, die  folgenden  Summen  Geldes  auf  ein  Jahr  berechnet,  im 
voraus  in  monatlichen  Zahlungen  dem  Versicherungskommissär 
auszahlen: 


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Ch.  H.  Huberich,  Die  amcrikan.  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1902.  585 

1.  In  Kohlen-  oder  Thonminenbetrieben  und  Stein- 


brüchen,  für  jeden  Angestellten $ 1,80 

2.  In  Dampfeisenbahnbetrieb 3,00 

3.  Strafseneisenbahnbetrieb 0,60 


4.  Sielenbau,  Ausgrabungen  und  anderen  Bauten 

seitens  der  Munizipalbehörden  . . . Nach  Bestimmung  des 
Staatsversicherungskommissärs.“ 

Die  zu  zahlende  Summe  darf  zur  Hälfte  dem  Lohn  des  An- 
gestellten abgezogen  werden,  vorausgesetzt  dafs  eine  dahinlautende 
Vereinbarung  zwischen  dem  Arbeitgeber  und  dem  Arbeitnehmer 
besteht.  Die  Fonds  sollen  vom  Versichcrungskommissär  verwaltet 
werden,  und  daraus  sollen  für  jeden  Todesfall,  der  innerhalb  eines 
Jahres  vom  Tage  des  Unfalles  stattfindet,  den  Hinterbliebenen  des 
Verunglückten  die  Summe  von  9 TOOO  ausgezahlt  werden. 

Dem  Versicherungskommissär  ist  das  Recht  eingeräumt,  die 
nötigen  Reglements  zur  Ausführung  des  Gesetzes  zu  erlassen. 
Ferner  ist  derselbe  befugt,  die  Anwendung  des  Gesetzes  auf  andere, 
nicht  im  oben  angeführten  ersten  Paragraphen  genannte  Betriebe, 
unter  Festsetzung  der  zu  zahlenden  Prämie,  zu  erweitern.  Auch 
darf  er  die  im  obigen  2.  Paragraphen  festgesetzten  Prämien  ändern, 
falls  sie  nicht  im  richtigen  Verhältnis  zu  dem  Risiko  stehen. 

Wo  ein  Arbeitgeber  nach  amtlicher  Untersuchung  fcststellt, 
dafs  er  im  ganzen  genommen  seinen  Angestellten  durch  Unfall-, 
Alters-  oder  Krankenversicherung  einen  besseren  Schutz  gewährt 
als  den  durch  das  Gesetz  vorgeschriebenen,  so  kann  derselbe  von 
der  Befolgung  dieses  Gesetzes  entbunden  werden. 

Ein  ähnlich  lautendes  Gesetz,  das  auf  die  Kohlen-  und  Thon- 
minenbetriebe der  Grafschaften  Allegheny  und  Garrett  beschränkt 
ist,  wurde  in  demselben  Staate  am  8.  April  angenommen.  Der 
einzige  wesentliche  Unterschied  liegt  in  der  Berechnung  des  Schaden- 
ersatzes: wenn  es  festgestellt  ist,  dafs  der  Unfall  z.  T.  der  Nach- 
lässigkeit des  Verletzten  zuzuschreiben  ist,  soll  der  Schaden  nicht 
zur  Hälfte,  sondern  im  Verhältnis  zur  Gröfse  der  Nachlässigkeit 
durch  den  Verletzten  getragen  werden. 

Der  Hauptfehler  dieser  Gesetze  von  Maryland  ist,  dafs  die  Ver- 
sicherungsklauseln nur  Anwendung  finden  im  Fall  des  Todes  (inner- 
halb eines  Jahres)  des  Angestellten.  Jedoch  sind  sie  vielleicht  der 
Anfang  einer  unzweifelhaft  notwendigen  radikalen  Abänderung  der 
amerikanischen  Haftpflichtgesetzgebung.  Augenblicklich  findet  das 
Gesetz  nur  Anwendung  auf  ungefähr  15000  Arbeiter.  . 

Archiv  für  sor.  Gesetzgebung  u.  Statistik,  XVIII.  3® 


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586 


Gesetzgebung:  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


In  Colorado  wurde  die  im  Jahre  1901  den  Wählern  unter- 
breiteten Verfassungsänderung,  wodurch  der  Landtag  befugt  ist,  die 
Arbeitszeit  der  in  Bergwerken  und  anderen  unterirdischen  Arbeiten, 
oder  bei  Hochöfen,  Schmelzöfen  oder  anderen  Erzreduzierwerken, 
oder  in  anderen  der  Gesundheit  schädlichen,  oder  dem  Leben  oder 
den  Gliedern  gefährlichen  Industrien  Angestellten,  auf  8 Stunden 
festzusetzen,  im  November  1902,  angenommen. l) 

In  California  wurde  gleichfalls,  im  November  1902,  ein  Ver- 
fassungsgesetz, wodurch  ein  8 stiindiger  Arbeitstag  für  die  an  öffent- 
lichen Arbeiten  beschäftigten  Personen  angesetzt  ist,  angenommen. 
Porto  Rico  (Gesetz  vom  I.  März)  setzt  ebenfalls  einen  8 ständigen 
Arbeitstag  bei  öffentlichen  Arbeiten  fest. 

In  New  -York  wurde  ein  Gesetz  angenommen  (27.  März)  zur 
Abänderung  der  Staatsverfassung,  um  den  Landtag  die  Befugnis  zu 
erteilen,  die  Arbeitszeit,  Löhne  und  andere  Arbeitsbedingungen  bei 
öffentlichen  Arbeiten  zu  regeln.  Dieses  Gesetz  muls  wiederum  von 
den  I Landtagen  1903  oder  1904  angenommen,  und  dann  den  Wählern 
zur  Abstimmung  unterbreitet  werden.  Ein  anderes  Gesetz  desselben 
Staates  (14.  April)  ermächtigt  die  New- Yorker  Stadt- Wasscrleitungs- 
koinmission  in  den  durch  sie  eingegangenen  Kontrakten  zur  Er- 
richtung von  Wasserreservoirs  etc.,  einen  8stündigen  Arbeitstag  für 
die  an  solchen  Werken  angestellten  Arbeiter  festzusetzen. 

In  Massachusetts  sollen,  laut  Gesetz  vom  19.  Juni,  der  be- 
stehenden Kommission  zur  Förderung  einer  gleichförmigen  Gesetz- 
gebung in  den  Vereinigten  Staaten  zwei  weitere  Kommissäre  als 
Vertreter  von  Manachusetts  beigefügt  werden,  wovon  einer  das 
Interesse  der  Arbeitgeber,  der  andere  das  Interesse  der  Arbeit- 
nehmer vertreten  soll,  um  u.  a.  die  Einführung  einer  gleichförmigen 
Gesetzgebung  betreffend  den  8 ständigen  Arbeitstag  in  den  ver- 
schiedenen Bundesstaaten  zu  fördern.  In  demselben  Staat  wurde 
eine  Resolution  von  beiden  Kammern  des  Landtages  angenommen 
(11.  Februar),  worin  ein  Amendement  der  Bundesverfassung  vor- 
geschlagen wird,  um  dem  Kongrefs  die  Macht  zur  Erlassung  eines 
Gesetzes  zur  Feststellung  der  Arbeitsstunden  in  sämtlichen  Bundes- 
staaten zu  erteilen. ') 

Louisiana  (amendierend  Laws  of  1886,  CaP-  95»  Art-  1 — 3)  bat 
durch  Gesetz  vom  8.  Juli  die  Arbeitszeit  der  im  Betrieb  von  Strafsen- 
bahnen  Angestellten  auf  höchstens  10  (früher  12)  Stunden  fest- 


’)  Siehe  meinen  Bericht  in  dieser  Zeitschrift,  Bd.  XVII,  S.  428. 


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Ch.  H.  Iluberich,  Die  amerikan.  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1902.  587 

gesetzt.  Genannte  io  Stunden  müssen  ferner  innerhalb  12  auf- 
einanderfolgende Stunden  verteilt  sein.  In  Notfällen  darf  diese  Ver- 
ordnung bei  Einwilligung  des  Angestellten  und  unter  Vergütung 
für  Ueberstunden  zeitweilig  aufgehoben  werden. 

Rhode  Island  hat  gleichfalls  einen  iostündigcn  Arbeitstag 
(solche  Arbeit  mufe  innerhalb  1 2 aufeinanderfolgenden  Stunden  ver- 
richtet sein)  für  Strafsenbahnangestellte  bestimmt  (Gesetz  vom 
4.  April  und  5.  Dezember).  Diese  Arbeitszeit  kann  jedoch  durch 
Vertrag  verändert  werden,  und  hat  ferner  keine  Anwendung  an 
Feiertagen  und  unter  aufsergewöhnlichen  Umständen,  in  welchen 
beiden  Fällen  Extraarbeit  unter  Zahlung  für  Ueberstunden  verrichtet 
werden  darf. 

Das  Gesetz  Marylands  vom  27.  März  betreffend  die  Heimarbeit 
verbietet  den  Gebrauch  eines  Zimmers  oder  Räumlichkeiten  in 
einem  Hause  oder  in  einer  Mietskaserne,  seitens  irgend  einer  Person 
aufscr  der  darin  wohnenden  Familie  (Mann,  Frau,  Kinder)  zur  Her- 
stellung von  Röcken,  Westen,  Hosen,  Kniehosen,  Oberhosen,  Mänteln, 
Hüten,  Mützen,  Kappen,  Hosenträger,  Wollwäsche,  Blusen,  Unter- 
zeug, Oberwäsche,  Pelze,  Pelzbesatz,  Pelzbezug,  Hemden,  Geldbörsen, 
Federn,  künstlichen  Blumen,  Cigaretten  oder  Cigarren.  Der  Ge- 
brauch seitens  der  Familie  ist  erlaubt  nur  auf  Genehmigung  des 
Chefs  des  Industrie -statistischen  Bureaus,  nach  erfolgter  Inspektion. 
Solche  Erlaubnis  wird  erteilt  unter  Feststellung  der  Maximumzahl 
der  in  den  Räumlichkeiten  zu  beschäftigenden  Personen,  und  kann 
zu  irgend  einer  Zeit  aus  Sanitätsgründen  zurückgezogen  werden. 
Personen,  die  die  Fabrikation  der  obenerwähnten  Gegenstände 
durch  solche  Heimarbeiter  betreiben,  müssen  ein  Namenregister 
solcher  Angestellten  führen,  welches  zu  jeder  Zeit  zur  Einsicht  auf- 
liegen soll,  und  wovon  dem  Chef  des  Industrie-statistischen  Bureaus 
eine  Kopie  geliefert  werden  mufs. 

In  New-Jersey  (Gesetz  vom  3.  April)  sind  neue  Verordnungen 
über  die  Inspektion  und  Regelung  der  Einwohnerzahl  in  Miets- 
kasernen zustande  gekommen. 

In  Kentucky  (21.  März)  wurde  für  Minenbetriebe  eine  halb- 
monatliche Zahlungsperiode  (am  15.  und  30.  eines  jeden  Monats) 
angenommen.  Der  volle  Betrag  für  alle  bis  zu  15  Tagen  vor  dem 
betreffenden  Zahlungstag  verrichtete  Arbeit  mufs  sodann  in  barem 
Gelde  ausgezahlt  werden.  Das  Maryland-Gesetz  vom  II.  April  be- 
stimmt einen  monatlichen  Zahlungstag  (nicht  später  als  den  10.  jedes 
Monats)  für  alle  Lohnarbeiter  in  Fabriken,  Bergwerken,  Telegraphen-, 

3»* 


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588 


Gesetzgebung:  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


Telephon-  und  Packetpostanstalten,  auf  Eisenbahnen  und  Straßen- 
bahnen. Lohnzahlungen  müssen  für  den  vorhergehenden  Monat  in 
gesetzlicher  Münze  bezahlt  werden.  Die  14  tägige  Lohnzahlungs- 
periode der  Grafschaft  Allegheny  soll  jedoch  nicht  durch  dieses 
Gesetz  aufgehoben  werden. 

Das  Fabrikgesetz  Iowas  vom  11.  April  verpflichtet  Fabrik- 
besitzer u.  s.  w.  zur  Anschaffung  von  Riemenleitrollen  oder  ähn- 
lichen Vorrichtungen  zur  Werfung  der  Riemen  auf  die  Riemen- 
scheiben und  zur  Umfriedigung  gefährlicher  Maschinen:  ferner  zum 
Gebrauch  gehöriger  Ventilatoren  bei  Polierarbeiten,  um  die  Arbeiter 
gegen  Polierstaub  zu  schützen.  Dasselbe  Gesetz  verordnet  ferner 
die  Vorsehung  von  Fabriken,  Werkstätten  und  Hotels  mit  einer 
genügenden  Anzahl  von  Toilettenzimmern  und  mit  Separatzimmern 
für  weibliche  Angestellte. 

Das  Gesetz  vom  3.  April  des  Staates  Rhode  Island  betreffend 
Personen-  und  Frachtaufzüge  in  Fabriken  und  Werkstätten,  welche 
einige  Aenderungcn  gegenüber  dem  alten  Gesetze  einfuhrt,  erfordert, 
dafs  alle  solche  Aufzüge  mit  einem  automatischen  Signalapparat 
versehen  seien,  wodurch  in  jedem  Stockwerk  angekündigt  wird, 
wenn  immer  solcher  Aufzug  in  Bewegung  ist;  ferner  daß  alle 
Oeffnungen  für  solche  Aufzüge  mit  Gitterwerk  umfriedigt  seien,  und 
seien,  und  dafs  die  Aufzüge  so  eingerichtet  seien,  dafs  sie  nicht  in 
Bewegung  gesetzt  werden  können  bis  alle  zum  Aufzug  führende 
Thüren  und  Oeffnungen  geschlossen  sind. 

In  South  Carolina  sollen  elektrische  Strafsenbahnwaggons 
während  der  Monate  Dezember  bis  März  inkl.  mit  geschlossenen 
Vorplätzen  zum  Schutz  der  Führer  versehen  sein  (Gesetz  vom 
25.  Februar). 

Ein  Gesetz  Iowas  vom  n.  April  erfordert  die  Anstellung  von 
besonderen  Arbeitern,  die  alle  Sprengbohrlöcher  vor  der  Ladung 
zu  inspizieren  haben.  Solche  Arbeiter  müssen  eine  vom  Staats- 
mineninspektor des  betreffenden  Distrikts  ausgestellte  Bescheinigung 
ihrer  Fähigkeiten  vorweisen.  Derselbe  Staat  verordnet  die  An- 
bringung von  Feuerleitern  in  allen  Fabriken  u.  s.  w.  von  drei  oder 
mehr  Stockwerk  Höhe  (Gesetz  vom  8.  April). 

Das  Gesetz  Ohios  vom  29.  April  (Revised  Statutes,  1900. 
Art.  4238,  s.  20,  amendierend)  bedingt  die  Anbringung  eines  Blend- 
bodens (counter  floor)  im  Bau  eines  jeden  Hauses  (früher  eines 
jeden  Hauses  von  mehr  als  zwei  Stockwerk). 

Massachusetts  erfordert  von  Fabrikbesitzern  die  Lieferung  von 


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Ch.  H.  Hubericb,  Die  amerikan.  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1902. 

reinem  Trinkwasser  an  ihre  Angestellten.  Solches  Trinkwasser  soll 
den  Arbeitern  auch  während  der  Arbeitszeit  zugänglich  sein  (Gesetz 
vom  18.  April). 

Im  Gebiete  der  staatlichen  Kontrole  von  Gewerben  verordnet 
Virginia  (Gesetz  vom  28.  März)  und  Louisiana  (Gesetz  vom  3.  Julii) 
die  Patentierung,  nach  erfolgtem  Examen,  der  Bleigiefser;  Ohio 
(Gesetz  vom  9.  Mai)  das  der  Hufschmiede.  In  letzterem  Staat  wurde 
(13.  März  und  30.  April)  auch  das  Gesetz  über  das  Staatsexamen 
von  Maschinenwärtern  bei  stehenden  Dampfmaschinen  einigen 
Aenderungen  unterworfen. 

Zum  Schutz  der  Ausübung  der  politischen  Rechte  dient 
folgendes  Gesetz  von  Massachusetts,  angenommen  am  8.  Mai: 

„Keine  zu  einer  Wahl  (früher  Staatswahl)  berechtigte  Person 
soll  am  Tage  solcher  Wahl  in  einer  Fabrik,  Werkstätte  oder  Kauf- 
laden, ausgenommen  solcher,  die  am  Sonntage  gesetzmäfsig  be- 
trieben werden  können,  während  des  Zeitraumes  von  zwei  Stunden 
nach  Eröffnung  der  Wahlbureaus  in  dem  Wahlbezirk  oder  der 
Stadt,  wo  solche  Person  stimmberechtigt  ist,  beschäftigt  werden“ 
(früher,  „im  Fall  wo  solche  Person  um  Urlaub  für  solche  Zeit- 
periode gebeten  hat"). 

In  demselben  Staat  ist  die  Tragung  oder  Benützung  der  Ab- 
zeichen, Bändern,  Mitgliederrossetten  oder  Knöpfen  einer  Arbeiter- 
vereinigung, soweit  dieselben  amtlich  eingetragen  sind,  mit  der  Ab- 
sicht als  Mitglied  solcher  Vereinigung  zu  gelten,  verboten  (Gesetz 
vom  3.  Juni). 

Das  Massachusetts  - Gesetz  über  das  Staats-,  Einigungs-  und 
Schiedsamt  ist  dahin  amendiert,  dafs  besagtes  Amt  in  Fall  von 
Arbeiterstreitigkeiten  versuchen  soll  (früher  darf),  einen  Ausgleich 
oder  die  Ueberweisung  an  das  Staatsamt  zu  bewirken  (Gesetz  vom 
5.  Juni). 

Kentucky  (Gesetz  vom  17.  März)  verordnete  die  Ernennung 
eines  Arbeitsinspektors  und  eines  Assistentarbeitsinspektors,  denen 
die  Beaufsichtigung  der  Fabriken,  Werkstätten  und  Maschinen  über- 
wiesen ist.  Dem  Arbeitsinspektor  ist  ferner  die  Sammlung  der 
Arbeiterstatistik  des  Staates  übertragen.  Ohio  (Gesetz  vom  12.  Mai) 
bestimmt  die  Anstellung  eines  Staatsinspektors  der  automatischen 
Kuppelungsapparate  und  Luftbremsen  bei  Eisenbahnwaggons  und 
Lokomotiven.  Es  ist  die  Pflicht  dieses  Inspektors,  sofortige  Anzeige 
etwaiger  Mängel  in  diesen  Apparaten  an  die  betreffende  Eisenbahn 
zu  machen.  Nach  erfolgte  Anzeige  mufs  die  Eisenbahn  sofort  die 


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590 


Gesetzgebung:  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


nötigen  Reparaturen  vornehmen  und  ist  nach  24  Stunden  für  allen 
darausfliefsenden  Schaden  verantwortlich.  Durch  Gesetze  vom 
2.  und  vom  10.  Mai  ist  in  demselben  Staat  verordnet,  dafs  Passagier- 
und  Frachtzüge  nicht  ohne  genügende  Mannschaft  fahren  dürfen. 

In  Massachusetts  wurde  die  Eisenbahnkommission  ersucht,  im 
Januar  1903  einen  Bericht  zu  erstatten  über  die  Möglichkeit  der 
Einführung  billiger  Morgen-  und  Abendzüge  fiir  die  in  der  Nähe 
der  Stadt  Boston  wohnenden  Arbeiter  (Gesetz  vom  6.  Mai). 

In  Maryland  ist  dem  Chef  des  Bureaus  für  gewerbliche  Sta- 
tistik aufgetragen,  ein  Staatsarbeitsnachweisbureau  zu  errichten. 


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MISZELLEN 


Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer 
und  die  zahnhygienischen  Aufgaben  der  Sanitäts- 
behörden im  Interesse  der  Volkswirtschaft. 

Von 

H.  KÜMMEL, 

Zahnarzt  in  Berlin. 

Schon  mehr  als  drei  Jahrzehnte  wirkt  man  in  zahnärztlichen  Kreisen 
dahin,  auf  die  immer  mehr  zunehmende  Zahnverderbnis  und  ihre 
schlimmen  Folgen  hinzuweisen.  Der  Londoner  Arzt  Richardson  betont 
in  seinem  Vortrag  über  die  „konstitutionellen  und  lokalen  Ursachen  der 
Caries“  bereits  1881  als  erster,  dafs  er  bei  seinen  Patienten  während 
dreier  Dezennien  praktischer  Thätigkeit  gänzlich  cariesfreie  Zähne  nur 
selten  gesehen  habe,  und  dafs  die  Krankheit  in  der  gegenwärtigen 
Jugend  verbreiteter  sei  und  heftiger  auftrete,  als  um  die  fünfziger  Jahre.1) 
Die  gleiche  Beobachtung  hat  Brunsmann  gemacht,  der  bereits  von  vier-, 
ja  sogar  von  dreijährigen  Kindern  mit  total  hohlen  Milchzähnen  zu  be- 
richten weifs  und  er  fügt  hinzu,  „dafs  auch  bei  den  bleibenden  Zähnen 
eine  Progression  der  Verderbnis  besteht,  unterliegt  nach  meinen  in 
1 5 jähriger  Praxis  gemachten  Erfahrungen  keinem  Zweifel.“  *) 

Fragen  wir  zunächst,  welches  die  allgemeinen  Ursachen  dieses 
weitverbreiteten  Uebels  sind,  und  prüfen  wir  dann,  durch  welche  Mittel 
es  zu  bekämpfen  ist.  Statistische  Belege  sollen  uns  dabei  helfen,  über 
die  Häufigkeit  der  Krankheit  ein  klares  Bild  zu  bekommen  und  eventuell 
auch  Wege  zu  eröffnen,  die  man  gehen  müfste,  um  der  Zahnfäule  Ein- 
halt zu  thun. 

')  Deutsche  Monatsschrift  für  Zahnheilkundc,  I,  1883.  S.  77. 

*)  Brunsmann,  „Uebcr  progressive  Zahnverderbnis".  Vortrag  im  zahn- 
ärztlichen Verein  für  Niedersachsen.  1885.  D.  M.  f.  Z.  III,  1885.  S.  584. 


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592 


Miszellen. 


Die  Zahnverderbnis  ist  im  wesentlichen  charakterisiert  durch  das 
Auftreten  der  Zahnfäule,  sogenannte  Zahncaries,  eines  fast  unmerklich 
beginnenden,  allmählich  fortschreitenden,  in  seinem  Ausgange  als  faulige 
Zerstörung  des  ganzen  Zahnes  sich  darstellenden  Krankheitsvorganges. 

Dafs  diesem  Krankheitsprozefs  in  den  Schichten  der  minder- 
bemittelten Bevölkerung  nicht  die  mindeste  Beachtung  geschenkt  wird, 
nimmt  nicht  weiter  wunder.  Aber  selbst  in  den  Kreisen  der  Besser- 
situierten betrachtet  man  die  Zahncaries  als  eine  völlig  harmlose  Er- 
scheinung, der  man  nicht  einmal  recht  das  Signum  einer  Krankheit  auf- 
prägen möchte.  Dies  wird  erst  dann  verständlich,  wenn  man  erfährt, 
dafs  weder  die  wohlhabenden  noch  die  ärmeren  Volksklassen  von  der 
Bedeutung  der  Kauwerkzeuge  in  genügendem  Mafse  unterrichtet  sind. 

Man  hat  in  der  Schule  gelernt,  dafs  das  normale  menschliche  Ge- 
bifs  32  Zähne  zählt  und  ist  deshalb  nicht  weiter  besorgt,  wenn  2 oder 
3 Zähne  faulen  oder  Zahnstein  ansetzen  oder  ausgezogen  werden.  Man 
tröstet  sich  damit,  dafs  man  an  der  Zahncaries  nicht  stirbt  und  dafs  man 
fehlende  Zähne  schon  für  weniges  Geld  ersetzt  bekommt.  Aufserdem 
hält  man  es  für  ganz  selbstverständlich,  dafs  mit  zunehmendem  Alter  die 
Zähne  schlechter  werden  bezw.  dafs  man  sie  verliert.  Die  wirklichen 
Nachteile  aber,  welche  carieskranke  Zähne  für  das  Befinden  des 
ganzen  Körpers  mit  sich  bringen,  liegen  nicht  offen  genug  zu  tage, 
als  dafs  man  den  Zähnen  eine  so  grofse  Beachtung  schenken  zu  müssen 
glaubt. ')  Man  weifs  noch  nicht,  oder  aus  Indifferenz  und  Unbequem- 
lichkeit will  man  nicht  wissen,  dafs  untadelhafte  Zahnreihen  schätzbare 
Wächter  der  Gesundheit  sind,  Vorrichtungen,  welche  nicht  kaubare 
Ingesta  schon  am  Eingänge  der  Verdauungswege  ausscheiden,  anderer- 
seits aber  aus  den  Nahrungsmitteln  einen  wohl  zerkleinerten  Bissen 
bilden,  aus  dem,  wenn  er  mit  Speichel  gut  durchmengt  ist,  durch  Ver- 
mittlung der  Verdauungssäfte,  die  dem  Körper  zugute  kommenden  Nähr- 
stoffe leicht  ausgezogen  werden  können.  Denn  das  Gedeihen  des 
Menschen  hängt  nicht  so  sehr  von  der  Menge  der  eingeführten, 
als  von  der  Menge  der  verdauten  Nahrungsstoffe  ab.*)  Fehler  und 
Abnormitäten  der  Zähne  müssen  aber  diese  Organe  in  Ausübung  der 
angedeuteten  Funktion  stören  und  folglich  die  Verdauung  und  Er- 
nährung des  menschlichen  Körpers  ungünstig  beeinflussen.  Die  Nahrung 
kann  nicht  wirklich  ausgenutzt  und  zuträglich  verwertet  werden;  ein  gut 
Teil  wird  vielmehr  unverbraucht  ausgeschieden.  Krankheiten  der  Ver- 
dauungsorgane und  Beeinträchtigung  des  Stoffwechsels  sind  die  unaus- 

*)  Pareidt,  „Die  Stellung  der  Zahnheilkunde  unter  den  medizinischen 
Spezialitäten  und  das  Studium  der  Zahnheilkunde“.  Vurtrag  auf  der  25.  Vers.  d. 
Zentralvereins  deutscher  Zahnärzte,  Dresden  1886.  D.  M.  f.  Z.  IV,  1886.  Beiheft, 
S.  85  ff. 

*)  Rose,  „Anleitung  zur  Zahn-  und  Mundpflege“.  Jena  1900. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  elc. 


bleiblichen  Folgen.  Faulige  oder  durch  Caries  verloren  gegangene  und 
nicht  ersetzte  Zähne  bedingen  also  einen  wirtschaftlichen  Ausfall  für  den 
Körperhaushalt  und  natürlich  auch  für  die  Wirtschaftshaltung  des  Ein- 
zelnen. Und  diesem  Verlust  an  bezahltem  Nährmaterial  gesellen  sich 
noch  die  durch  Stauungen  schlecht  gekauter  Speisen  im  Magen  und 
Darm  bedingten  Störungen  hinzu : Magenkatarrh,  Verstopfung,  Durchfall, 
widernatürlich  gehäufte  Klähungen  u.  s.  w.  Das  hat  schon  vor  mehr  als 
100  Jahren  Hufeland  erkannt,  wenn  er  in  seiner  „Makrobiotik"1)  sagt: 
„Zur  guten  Verdauung  sind  nun  gute  Zähne  ein  sehr  notwendiges 
Stück,  und  man  kann  sie  daher  als  sehr  wesentliche  Eigen- 
schaft zu  langem  Leben  ansehen,  und  zwar  auf  zweierlei  Art : 
Einmal  sind  gute  und  feste  Zähne  immer  ein  Hauptzeichen  eines  ge- 
sunden festen  Körpers  und  guter  Säfte.  Wer  die  Zähne  sehr  frühzeitig 
verliert,  der  hat  schon  mit  einem  Teil  seines  Körpers  gewissermafsen 
auf  die  andere  Welt  pränummeriert.  Zweitens  sind  gute  Zähne  ein 

Hauptmittel  zur  Verdauung  und  folglich  zur  Restauration.“ 

Am  schlimmsten  ist  es  mit  der  Fürsorge  um  die  Zähne  natürlich 
in  den  Arbeiterkreisen  bestellt,  und  besonders  bei  denen,  die  beruflich 
gezwungen  sind,  mit  Zahnschmelz  angreifenden  Stoffen  zu  arbeiten ; 
z.  B.  sämtliche  Blei-,  Quecksilber-  und  Phosphor-Industriearbeiter,  sodann 
die  Konditoren  und  Bäcker  u.  a.  m.  Nicht  zuletzt  wird  in  diesen 

Kreisen  die  Pflege  der  Zähne  — wie  fast  im  allgemeinen  — nicht  als 
eine  Frage  der  Gesundheit,  sondern  als  eine  Toilettenfrage  auf- 
gefafst  und  für  Toilettenfragen  hat  die  ärmere  Volksschicht  wenig  Zeit. 

Ich  habe  darum  in  meiner  Studie : „Zahnarzt  und  Arbeiterschutz",*) 
wo  das  mehr  oder  weniger  anerkannte  Bedürfnis  nach  einem  wirksamen 
Arbeiterschutz  meines  Erachtens  nur  durch  zahnärztliche  Hilfe  zu  be- 
friedigen ist,  einer  gewissermafsen  amtlichen  Thätigkeit  der  zuzuziehenden 
Zahnärzte  das  Wort  geredet.  Ich  that  es  recht  bescheiden. 

Ein  Berufsgenosse  aber,  der  unter  dem  Pseudonym  „Branden- 
burgensis“  in  der  „Deutschen  zahnärztlichen  Wochenschrift“  zur  „Militär- 
zahnarztfrage" sich  äufserte,  *)  geht  kühn  weiter  und  verlangt  für  Heer 
und  Marine  vorläufig  nicht  weniger  als  450  Militärzahnärzte,  d.  h.  mit 
zahnärztlicher  Behandlung  der  Mililärpersonen  dienstlich  zu  beauftragende 
Zivilzahnärzte,  und  er  ist  optimistisch  genug,  zu  glauben,  ein  privatwirt- 
schaftlicher Berufsverband,  eine  selbstgeschaffene  Standesvertretung,  wie 
es  der  Vereinsbund  deutscher  Zahnärzte  sei,  solle  und  könne  die 
Militärverwaltung  dahin  beeinflussen,  dafs  sie  bei  einer  derartigen  Ver- 
sorgung der  stehenden  Wehrmacht  mit  zahnärztlicher  Hilfe  alle  möglichen 
wirtschaftlichen  Interessen  des  Zahnärztestandes  berücksichtige.  Dafs 

’)  Rcklam -Ausgabe  S.  141/142. 

*)  Jena  (Gustav  Fischer)  1903.  S.  118 — 121. 

s)  V.  Jahrgang.  Nr.  46  vom  14.  II.  1903. 


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594 


Miszellen. 


diese  Forderung  leider  sehr  begründet  ist,  werden  meine  weiter 
unten  anzuführenden  Zahlen  darthun.  Wie  utopistisch  diese  Forderung 
aber  ist,  geht  aus  der  Thatsache  hervor,  dafs  das  preufsische  Kriegs- 
ministerium dem  ostasiatischen  Rxpeditionslcorps  seinerzeit,  sage  und 
schreibe , einen  Zahnarzt  zu  dienstlichen  Zwecken  beigegeben  hatte, 
ein  Ereignis,  das  in  den  zahnärztlichen  Zeitschriften  sorgsam  verzeichnet 
wurde. 

Dafs  man  solche  Forderungen  leider  noch  als  utopistische  bezeichnen 
mufs,  scheint  wiederum  daran  zu  liegen,  dafs  man  die  Bedeutung  der 
Zahnheilkunde  und  der  Zahngesundheitspflege  im  Volke  sowohl,  als  auch 
seitens  des  amtlichen  öffentlichen  Gesundheitsamtes  noch  allzusehr 
unterschätzt.  Fis  wird  daher  meine  Aufgabe  sein,  an  der  Hand  ge- 
diegenen statistischen  Materials  und  auf  Grund  reichhaltiger  Beobachtungen 
darzuthun,  von  welcher  Wichtigkeit  die  zahnärztliche  Thätigkeit  für  die 
Gesundheitspflege  ist,  und  welche  enorme  Schäden  aus  einer  Vernach- 
lässigung der  Zahnpflege  dem  einzelnen  sowohl,  wie  der  Gesamtheit  er- 
wachsen. Man  wird  zahnärtlicherseits  den  mafsgebenden  Behörden  und 
der  Oeftentlichkeit  die  erschreckenden  statistischen  Zahlen  so  lange  vor 
Augen  halten  müssen,  bis  eine  Besserung  auf  diesem  Gebiete  eingetreten 
sein  wird. 

Fün  cariöser  Zahn  bedeutet  ja  nicht  Schmerz  und  Verlust  eines 
Zahnes,  sondern  mindestens  Gefahr  für  die  ganze  Zahnnachbarschaft. 
Dieser  eine  cariöse  Zahn  ist  Infektions-Träger  und  -Erreger  zu  gleicher 
Zeit;  er  ist  Ursache  und  Folge  für  das  Faulwerden  mehrerer  Zähne; 
mehr  noch!  Cariöse  Zähne  rufen,  wenn  die  Krankheitserreger  ihren 
Weg  in  den  Organismus  finden,  mittelbar  wie  unmittelbar  eine  Reihe 
anderer  Krankheiten  örtlicher  wie  allgemeiner  Natur  hervor.  *)  Die 
Fachlitteratur  wimmelt  von  Mitteilungen,  wo  Drüsenschwellungcn,  Kiefer- 
knochenerkrankungen, Mundrose,  Magen-  und  Darmkrankheiten,  Lungen- 
entzündung, Brand,  Blutvergiftung,  Katarrhe  der  Nase  und  des  Mittel- 
ohres, Krämpfe,  Epilepsie,  Nervosität,  Neurasthenie,  die  weit  ver- 
breiteten Konstitutions-  bezw.  Kreislaufanomalien  der  Blutarmut  und 
Bleichsucht,  ja  sogar  Tuberkulose  die  mittelbare  Folge  faulender  Zähne 
waren.  Die  reichen  praktischen  Erfahrungen  von  Grawitz,  Israel,  Rühle, 
Odenthal  u.  v.  a.  bilden  hierfür  eine  unerschöpfliche  Fundgrube.  Der 
cariöse  Zahn  bedeutet  aber  nicht  allein  eine  grofse  Gefahr  für  den 
Besitzer,  sondern  auch  — infolge  der  Ansteckungsmöglichkeit!  — für 
andere  Individuen.  Wo  viele  Menschen  zusammengepfercht  sind,  wie  in 
Schulen,  Universitäten,  Kasernen,  Krankenhäusern,  Gefängnissen,  ist  es 


')  Wangemann,  „Der  Einllufs  der  Krankheiten  der  bleibenden  Zähne  auf 
den  Gesamtorganismus".  In  l.angenbecks  Archiv  für  klinische  Chirurgie.  Bd.  XLV. 
Heft  2.  Berlin  1892. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  elc. 


immer  möglich,  dafs  durch  Sprechen,  Räuspern,  Niesen,  Husten  eine 
Ansteckungsverraittlung  stattfindet.  ') 

Wie  wichtig  für  das  Kind  ein  leistungsfälliges,  gesundes  Gebifs 
ist,  sollte  einer  Erwähnung  erst  gar  nicht  bedürfen.  Leidet  eine  Frau 
aber,  die  ein  Kind  unter  dem  Herzen  trägt,  an  Caries  und  hat  sie  dem- 
zufolge Verdauungsbeschwerden,  eine  schlechte  Ausnutzung  der  aufge- 
nommenen Nahrung,  so  leidet  selbstverständlich  auch  der  Embryo  dar- 
unter; das  Kind  kommt  schwächlich  zur  Welt  und  ist  selber  schon  für 
die  Zahncaries  prädestiniert.  Dies'umsomehr,  als  die  von  Caries  befallene 
Mutter  in  weit  geringerem  Mafse  fähig  ist,  ihr  Kind  zu  stillen,  als  eine 
Mutter  mit  gesundem  Gebifs.  Die  durchschnittliche  Zahl  der  defekten 
(fehlenden  und  cariösen)  Zähne  betrug  bei  den  Stillungsfahigen  und 
Nichtbefähigten  im  Alter  von: 


befähigt: 

unbefähigt 

21 — 25 

3.7 

16,1 

26—30 

5.4 

16,0 

31— 35 

9.4 

■7.9 

36—40 

12,1 

21,8 

41—45 

13.5 

24,8 

46—50 

19,0 

25.3 

5«— 55 

21.9 

25.1 

56—60 

17.4 

28,1 

Die  Untersuchungen  des  berühmten  Physiologen  von  Bunge  s)  nach 
der  Ursache  der  Stillungsunmöglichkeit,  die  sich  auf  */s — 3/4  aller 
deutschen  Frauen  erstreckt,  ergeben  die  traurige  Thatsache,  dafs  die 
Zahncaries  in  vielen  Fällen  die  Verschuldung  trug. 
Bunge  stellte  auf  Grund  seiner  statistischen  Erhebungen  ferner  fest,  dafs 
die  Stillungsunfahigkeit  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  forterbte  und 
immer  mehr  zunahm.  „Kann  eine  Frau  nicht  stillen,  so  kann  auch  fast 
ausnahmslos  die  Tochter  nicht  stillen,  und  die  Fähigkeit  ist  unwider- 
bringlich für  alle  kommenden  Generationen  verloren.“  Von  151  stillungs- 
fähigen Frauen  hatten  17  cariöse  Zähne,  von  388  stillungsunfähigen  war 
nur  eine  einzige  tadellos  bezahnt  und  die  konnte  ihr  Kind  nur  acht 
Tage  lang  stillen.  Es  ergab  sich,  dafs  die  Zahnfäule  eine  erb- 
liche Erscheinung  der  Entartung  ist  und  mit  der  Unfähig- 
keit zur  Milchabsonderung  parallel  läuft.  Welche  Bedeutung  die  Mutter- 
milch aber  für  das  Gedeihen  des  Kindes  hat,  ist  bekannt  genug,  und 
dafs  die  Ernährung  des  Kindes  mit  der  Muttermilch  weit  kräftigere 
und  widerstandsfähigere  Zähne  zur  Entwicklung  bringt,  als  die  Ernährung 

’)  D.  M.  f.  Z.  XVIII,  1900.  Heft  7.  Referat  von  I'areidt.  S.  333. 

*)  „Die  zunehmende  Unfähigkeit  der  Frauen,  ihre  Kinder  zu  stillen“.  München 
1900.  S.  17 — 20  u.  S.  23—27. 


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596 


Mitzellen. 


mit  der  Flasche,  setze  ich  gleichfalls  als  bekannt  voraus.  Die  Zähne 
des  brustgesäugten  Kindes  werden  weniger  leicht  cariös  als  die  des 
flaschengenährten. 

Und  das  Kind  ernährt  sich  nicht  bloß ; es  wächst  auch ; es  hat 
infolgedessen  eine  relativ  gröfsere  Nahrungsaufnahme  nötig  wie  der  Er- 
wachsene. Jede  intensivere  Störung  durch  schmerzende  oder  fehlende 
Zähne  macht  dies  aber  unmöglich  und  tibt  deshalb  auf  den  zarten  im 
Aufbau  begriffenen  Organismus  des  Kindes  einen  weit  schädlicheren 
Einflufs  aus  als  auf  den  ausgewachsenen  Menschen. ')  Darum  ist  die 
sorgsame  Erhaltung  der  Milchzähne  zur  Zeit  des  natürlichen  Zahnwechsels 
auch  im  Interesse  der  bleibenden  Molarzähne  dringend  erforderlich. 

Die  Bedeutung  guter  Milchzähne  hat  Jessen*)  neuerdings 
besonders  scharf  hervorgehoben.  Infolge  frühzeitigen  Ausfallens  der 
cariös  verderbten  Milchzähne  bleibt  der  Zahnbogen  in  seiner  Entwick- 
lung zurück  und  wird  zu  eng;  die  bleibenden  Zähne  in  der  Zahnreihe 
finden  nicht  genügend  Platz,  brechen  an  ungünstigen  Stellen  durch  oder 
wachsen  schief  und  sind  somit  für  den  Kauakt  oft  wertlos,  neigen  mehr 
oder  weniger  zur  Zahnfäule  und  können  nebenbei  auch  Ursache  von 
Kiefermifsbildungen  und  Gesichtsentstellungen  werden.  Gut  malmende 
Zähne  helfen  dagegen  gut  verdauen,  assimilieren  sich  selber  wieder, 
soweit  sie  abgenutzt  werden  und  regenerieren  sich  von  innen  her. 

So  beginnt  die  Aufgabe  der  Zahnpflege  streng  genommen  schon 
vor  der  Geburt  des  Kindes  durch  eine  Gesundhaltung  des  Muttergebisses 
und  nach  der  Geburt  durch  Reinhaltung  der  Mundschleimhäute.  „Eine 
gesund  erhaltene  Mundschleimhaut  — sagt  Röse  — ist  das  sicherste 
Vorbeugungsmittel  gegen  ansteckende  Krankheiten  aller  Art.“  Wenn 
Kinder,  entsprechend  den  meisten  Erfahrungen  und  wie  die  Statistik 
lehrt,  schon  viele  cariöse  Zahne  haben,  so  bestehen  dabei  meist  fort- 
dauernde Entzündungserscheinungen  in  der  ganzen  Mundhöhle.  Diese 
begünstigen  einerseits  das  Auftreten  von  Verdauungsstörungen,  anderer- 
seits die  Entstehung  verschiedener,  nicht  selten  das  Leben  gefährdender 
Infektionskrankheiten.  ®)  In  den  kleinsten,  durch  Caries  entstandenen 
Zahnhöhlen  stauen  sich  Speiseteilchen,  die  sich  faulig  zersetzen  und  Brut- 
stätten zahlloser  Mikroorganismen  bilden.  *)  So  werden  cariöse  Zähne, 
sogar  bei  vermeintlich  ausreichender  Mundpflege,  Veranlassung  zur  Un- 

’)  Leo  Burgerstein,  „Gesundheitspflege  in  der  Mittelschule",  eit.  von 
IiiUischer  in  der  Diskussion  über  „Untersuchung  der  Zahne  bei  den  Schulkindern“. 
2.  Sitzung  der  II.  Sektion  des  6.  internationalen  Kongresses  für  Hygiene  in  Wien. 
27.  Sept.  1887.  Ret.  in  D.  M.  f.  Z.  Bd.  V,  1887.  S.  486,87. 

*)  „Die  Aufklärung  des  Volkes  über  die  Bedeutung  der  Zahnpflege  für  die 
Gesundheit“.  Berlin  1900. 

3)  D.  M.  f.  Z.  Bd.  XVII,  1899.  2.  Heft. 

4)  Mikulicz-Kümmel,  „Die  Krankheiten  des  Mundes".  Jena  1898.  S.  24. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc. 


Sauberkeit  der  Mundhöhle,  die  dann  für  Spaltpilze  aller  Art,  für  die 
Träger  vieler  Infektionskrankheiten  einen  sehr  günstigen  Boden  liefert. 
Es  entsteht  ein  Herd  fauliger  Zersetzungsprodukte  und  übelriechender 
Gase,  welche  die  Zimmerluft  verpesten  und  eine  Ansteckungsgefahr  für 
Kinder  und  Erwachsene  bedeuten. *) 

Angesichts  dieser  Thatsachen  scheint  eine  sachliche  Untersuchung 
am  Platze,  welche  Bedeutung  die  Zahnheilkunde  und  Zahngesundheits- 
pflege für  die  Volksgesundheitspflege  und  deren  berufene  Hüterin,  die 
amtliche,  öffentliche  Medizin  hat;  ob  sie  in  derselben  eine  ihrer  erweis- 
lichen Bedeutung  entsprechende  Anerkennung  und  Berücksichtigung 
findet  und  — falls  nicht  — was  von  zahnärztlicher  Seite  geschehen  kann 
oder  sollte,  um  ihr  eine  solche  durch  Einwirkung  auf  Behörden  und 
Oeffentlichkeit  oder  sonstwie  zu  verschaffen.  Der  gewohnten  Mifs- 
achtung  der  Zahnpflege  und  der  Geringschätzung  der 
Zah n v e r d er b n i s gegenüber  gilt  es  n ac h zu  w e i se n , dafs 
die  Caries  eine  Volkskrankheit  ersten  Ranges  ist,  dafs 
sie  nicht  nur  die  nationale  Wehrkraft  beeinträchtigt, 
sondern  die  Leistungsfähigkeit  eines  Volkes  überhaupt 
und  hier  ist  die  Grenze,  wo  wir  das  Gebiet  der  Zahnheilkunde  verlassen 
und  in  das  der  Nationalökonomie  hinübergehen  müssen. 

East  zu  gleicher  Zeit  tauchte  in  verschiedenen  Ländern  der  Ge- 
danke auf,  Untersuchungen  über  die  Cariesfrequenz  der  Zähne  vorzu- 
nehmen. Eine  einigermafsen  umfangreiche  Statistik  war  nur  in  der 
Schule  und  in  der  Armee  anzustellen,  freilich  mit  dem  Nachteil,  dafs 
in  betreff  der  Schuluntersuchungen  nur  die  Städte  inbetracht  kommen 
konnten,  weil  Zahnärzte  auf  dem  Lande  nicht  ansässig  waren.  Die  Land- 
bevölkerung mufste  hier  also  ausgeschlossen  werden  bezw.  sie  konnte 
nur  beim  Militär  berücksichtigt  werden,  wo  man  Stadt-  und  Land- 
bevölkerung beisammen  hatte,  allerdings  wieder  mit  Ausschaltung  der 
weiblichen  Bevölkerung.  Die  Untersuchungen,  insbesondere  bei  Schul- 
kindern, wurden  in  verschiedenen  Ländern  vorgenommen.  In  Deutsch- 
land in  den  Städten : Berlin,  Breslau,  Hamburg,  Hannover,  Halle, 
Magdeburg,  Elberfeld,  Würzburg  und  Umgegend,  Strafsburg,  Karlsruhe, 
Heidelberg,  Freiburg  i.  B.  und  Umgebung,  Bruchsal,  Pforzheim, 
Kaiserslautern,  in  Thüringer  Landorten  und  endlich  im  Schleswig- 
Holsteinischen. 

Lipschitz5)  stellte  bei  seinen  Untersuchungen  im  Jahre  1894  an 

’)  Jessen,  Denkschrift  für  die  Errichtung  eines  zahnärztlichen  Instituts  an 
der  Kaiser -Wilhelms- Universität,  Strafsburg.  Vgl.  9.  Jahresbericht  der  Poliklinik 
flir  Zahnkrankheitcn  Tür  das  Jahr  1901/1902.  Berlin  1902.  S.  8. 

*)  „Beiträge  zur  Cariesfrequenz  bei  Schulkindern  und  Bekämpfung  der  Caries“. 
Vortrag  vom  12.  intern,  mediz.  Kongr.  zu  Moskau,  Sektion  für  Odontologie. 
D.  M.  f.  Z.  XV,  1897.  S.  45  t. 


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598 


Miszellen. 


407  sechs-  bis  sechzehnjährigen  Kindern  einer  Berliner  Mädchen- 
schule fest,  dafs  nur  3 Schülerinnen,  das  sind  0,74  °'0,  cariesfreie 
Gebisse  hatten.  Von  allen  9432  Zähnen  waren  2923  (30,99  %) 
cariös. 

Fenchel  fand  1893  bei  seinen  Untersuchungen  im  Hamburger 
Staatswaisenhause  *)  unter  335  Kindern  beiderlei  Geschlechts  nur  t2  ge- 
sunde Gebisse,  die  Knaben  waren  zu  2 */,  %,  die  Mädchen  zu  5 ü „ frei 
von  Zahnfäule.  Sämtliche  Kinder  hatten  2471  cariöse  Zähne;  auf  ein 
Kind  kamen  durchschnittlich  8 angefaulte  Zähne.  Diese  Ergebnisse  be- 
stimmten das  Hamburger  Medizinalkollegium  — um  zu  entscheiden,  ob 
die  bei  Waisen  festgestellte  Cariesfrequenz  von  durchschnittlich  96,25  0 0 
einen  Ausnahmezustand  darstelle  — Fenchel  zu  weiteren  Untersuchungen 
von  693  dortigen  Seminarschülern  zu  veranlassen  und  es  ergab  sich 
hier,  dafs  98  % der  Mädchen  und  99  °/0  der  Knaben  cariöse  Zähne 
hatten. s) 

Bei  374  Kindern  einer  Hannoverschen  Volksschule  hatten  — 
nach  Kühns3)  — nur  32  Schüler  unversehrte  Zahnreihen.  Von  den 
212  Knaben  hatten  22  = 10,4  °/#  von  den  162  Mädchen  10  = 6,7  % 
tadellose  Zähne. 

Koerner  stellte  bei  3942  schulpflichtigen  Kindern  in  Halle  nur 
236  gesunde  Gebisse  fest.4)  Von  1456  Knaben  besafsen  nur  ro8  (7,4  °0), 
von  2486  Mädchen  nur  128  (5,1  %)  ein  gesundes  Gebifs.  Und  Koerner 
nennt  dies  noch  „mittlere  Zahlen“. 

Greve  ( Magdeburg)  hat  bei  seinen  Untersuchungen  an  42 1 Kindern 
der  Lauenburger  Bürger-  und  Volksschulen  86  Kinder  (20,43%), 
freilich  ohne  Berücksichtigung  der  Milchzähne,  mit  gesunden  Gebissen 
gefunden.  3) 

Voerckel  fand  t897  in  Elberfeld  unter  3987  Kindern  beiderlei 
Geschlechts  nur  5%,  Weber  in  Witten  unter  1016  Kindern  9,7  % 
frei  von  Caries  •). 


*}  Corr.  Bl.  f.  Zahnärzte.  Okt.  93.  Cit.  im  Originalaufsatz:  Fenchel,  „Zahn- 
ärztliche Thätigkeit  in  Volksschulen“  in  D.  M,  f.  Z.  XI,  1893.  Vgl.  ferner:  Fenchel, 

„Uebcr  die  Versorgung  von  Volksschulkindern  mit  zahnärztlicher  Hilfe“.  Vortrag 
(intern,  zahnärztl.  Kongrefs  in  Kopenhagen  am  1 3-/z 4..  August  1894).  D.  M.  f.  Z.  XII, 
1894.  S.  361. 

*)  Corr.  Bl.  f.  Zahnärzte.  Berlin,  Januar  1895. 

*)  32.  Vers.  d.  zahnärztl.  Vereins  f.  Niedersachsen  (6.  II.  98  Hannover), 
D.  M.  f.  Z.  XII,  1898.  S.  316/24. 

4)  D.  M.  f.  Z.  XVII,  1899.  S.  367  ff. 

*)  D.  M.  f.  Z.  XVII,  1899.  S.  382—83.  Ref.  von  Pareidt  Uber  Greve 

„Altes  und  Neues  zur  Cariesfrage“  (Wiener  Zahnärztl.  M.  I.  12.  XII.  98). 

°)  D.  M.  f.  Z.  XVI,  1898.  S.  105—117. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc. 


In  2t  Ortschaften  der  Würzburger  Gegend  hat  Berten  *) 
(1893 — 94)  3347  Schulkinder  im  Alter  von  6 — 14  Jahren  untersucht, 
bei  denen  sich  78348  Zähne,  darunter  12015  kranke  (d.  i.  15,3  "/„) 
fanden.  Von  den  1645  Knaben  hatten  307  (18,7  #/#),  von  den  1702  Mädchen 
262  (i5,4°/0)  cariesfreie  Gebisse. 

Jessen  fand  in  Strafsburg  1900 — 1901  unter  10005  unter- 
suchten Gebissen  dortiger  Schulkinder  nur  430  Gebisse  (4,29  B/„),  die 
gesund  waren.  1902  ergab  das  Resultat  bei  10  66  t untersuchten  sechs- 
bis  vierzehnjährigen  Kindern  nur  165  (noch  nicht  1 ’/*  "/«)  cariesfreie 
Gebisse  *).  Die  10  005  Kinder  hatten  102  456  cariöse  Zähne,  51  219  Zähne 
fehlten  vollständig;  die  10  661  Kinder  hatten  bereits  82510  Zähne  ein- 
gebüfst;  48476  Zähne  (48,1  °/0)  waren  cariös. 

In  Karlsruhe  waren  nach  den  Ergebnissen  des  Vereins  badischer 
Zahnärzte8)  unter  1394  Kindern  der  besseren  Schulen  1175  behand- 
lungsbedürftig, in  Heidelberg  unter  804  Kindern  595. 

Von  3460  durch  Röse  untersuchten  Kindern  in  Freiburg  i.  Br. 
hatten  von  den  Knaben  1 '/,  u/#,  von  den  Mädchen  nur  1 °/0  cariesfreie 
Zähne.4)  Von  im  ganzen  27319  Milchzähnen  waren  bei  den  Knaben 
5 *,3  °/o>  bei  den  Mädchen  54%  cariös  erkrankt,  von  den  53717  blei- 
benden Zähnen  bei  den  ersteren  25,8,  bei  den  letzteren  27  */„.  Im 
Durchschnitt  war  also  die  Hälfte  der  Milchzähne  und  der  vierte  Teil 
aller  bleibenden  Zähne  aDgefault.  — Im  F’reiburger  Gymnasium  hatten 
2,1  "la  der  Schüler  vollkommen  gesunde  Gebisse;  der  vierte  Teil  aller 
Zähne  waren  erkrankt.  1658  Kinder  der  Freiburger  Umgebung  waren 
zu  79  °/n  der  Knaben  und  zu  98,7  °j0  der  Mädchen  cariös. 

In  Bruchsal  hatten  von  550  Schulkindern  nur  104  (23,3  °/#),  in 
Pforzheim  von  700  nur  75  (io,9  00)  einen  cariesfreien  Mund. 

In  Kaiserslautern,  wo  1897  von  Jochheim  und  Brader 
4446  Kinder  (2319  Knaben  und  2127  Mädchen)  untersucht  wurden, 
batten  nur  52  (1,17  °/0),  nämlich  20  Knaben  und  32  Mädchen,  ein  ge- 
sundes Gebifs.  5) 

6303  untersuchte  Kinder  in  Thüringer  Landorten  waren  zu 
98  °/#  der  Knaben  und  zu  82,8  °/0  der  Mädchen  cariös.6) 

In  Schleswig-Holstein  halte  man  bis  1899  bereits  20 000  Kinder 

,)  Sitzungsberichte  der  phys.-med.  Gesellsch.  zu  Würzburg  1894,  Nr.  9.  Refer. 
von  Parcidt  in  D.  M.  f.  Z.  1895.  S.  470. 

*)  Journal  f.  Zahnheilkunde  XVII,  14.  S.  127/28  und  XVIII,  I.  S.  to. 

*)  D.  M.  f.  Z.  XIII,  1895.  S.  195. 

. 4)  „Die  Zahnverderbnis  unter  den  Schulkindern  Freiburgs“.  Freiburger  Tage- 
blatt (Hausfreund)  vom  24.  VI.  94.  Vgl.  D.  M.  f.  Z.  XII,  1894.  S.  289 — 291. 

6)  D.  M.  f.  Z.  XVI,  1898.  S.  104. 

®)  Röse,  „Ueber  die  Zahnverderbnis  in  Volksschulen**.  Vortrag  auf  der 
06.  Vers,  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte  in  Wien. 


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6oo 


Miszellen. 


untersucht,  wovon  95  °/#  an  Caries  litten.  Kleinmann  und  Gersten- 
feld hatten  in  Flensburg  allein  4279  Kinder  untersucht;  der  nie- 
drigste Satz  war  8 */,  °/#,  der  höchste  28 '/.*/„  der  Kinder  mit  gesunden 
Gebissen.  ’) 

Etwas  besser  waren  die  Verhältnisse  in  England,  wo  von  1 1 000 
untersuchten  Kindern  1600  tadellose  Gebisse  hatten.  Im  einzelnen  er- 
gaben die  Untersuchungen  nach  den  drei  Berichten  des  „School  Commitee“ 
der  British  Dental  Association  folgendes  Resultat: 

1.  Durchschnittlich  26  °/0  der  Infants  (Kinder  unter  dem  6.  Lebens- 
jahre) hatten  cariesfreie  Gebisse.  Caries  fand  sich  schon  vom  2.  Lebens- 
jahre an  und  nahm  prozentweise  im  geraden  Verhältnisse  zum  Alter  zu. 
In  einem  in  Leeds  untersuchten  Institute  fanden  sich  bei  186  Infants 
nur  1,6  °/#  cariesfreie  Milchgebisse.  Von  5249  untersuchten  Non-infants 
(Kinder  über  6 Jahren)  hatten  485  (9,24  u/0)  ein  cariesfreies  Gebife; 
20976  Zähne  waren  cariös. 

2.  Von  3368  weiter  untersuchten  Kindern  waren  782  (23,22  °/„)  im 
Besitze  eines  tadellosen  Gebisses;  im  ganzen  fanden  sich  9456  cariöse 
Zähne. 

3.  Von  1900  untersuchten  Kindern  hatten  241  (12,7  #;„)  gesunde 
Gebisse;  6673  Zähne  waren  behandlungsbedürftig. 

Fisher  (Dundee)  untersuchte  1885  400  Zöglinge  einer  Schiffer- 
schule, von  denen  nur  80  gesunde  Zähne  hatten,  während  alle  übrigen 
einer  Behandlung  der  Zahncaries  unterworfen  werden  mufsten.  — ln  der 
„Industrial  School  of  Girls“  hatten  von  85  Schulmädchen  nur  15  ein  ge- 
sundes Gebifs.  Von  den  Schifferschülern  hatten  also  nur  20  #/#,  von  den 
Industrieschulmädchen  kaum  18  °/0  gesunde  Zahnverhällnisse.  *) 

Ottofy  gab  bei  der  21.  Jahresversammlung  der  amerikanischen 
zahnärztlichen  Gesellschaft  zu  Louisville  (Kentucky)  eine  Uebersicht  über 
die  dortigen  verschiedenen  Statistiken  und  legte  eine  eigene  über  625 
fünf-  bis  fünfzehnjährige  Kinder  vor. s)  48  hatten  vollkommen  gesunde 
Zahnreihen.  Im  ganzen  waren  3819  Zähne  (34  "/„)  cariös;  durchschnitt- 
lich hatte  jedes  Kind  6,13  cariöse  Zähne. 

')  Disk,  zu  K ii  I)  n s Vortrag  in  der  Abt.  f.  Zahnbeilkunde  der  69.  Vers, 
deutscher  Naturforscher  und  Aerztc  zu  Braunschweig  1897.  Heft  2,  S.  228/29.  Vgl. 
ferner:  D.  M.  f.  Z.  XVII,  1899.  S.  530  (25.  Jahresversammlung  des  Vereins  schles- 
wig-holsteinischer Zahnärzte.  Juni  1899  in  Kiel.) 

*)  Fisher,  Compulsory  Attention  to  the  teeth  of  School  Children  (Journ.  of 
the  Brit.  Dcnt.  Ass.  VI,  lo.  Oktob.  1885).  Kcf.  von  Pareidt  in  D.  M.  f.  Z.  V, 
1887.  S.  158. 

*)  Louis  Ottofy,  The  Incipicncy  of  Dental  Caries.  Transactions  of  die 
Americ.  Dcnt  Ass.  21  th.  ann.  sess.  Kefcr.  von  Pareidt  in  D.  M.  f.  Z.  VII,  1SS9. 
S.  289. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahn  ca  ries  in  Schule  und  Heer  etc.  60I 

Eine  Untersuchung  von  1000  Schweizer  Schulkindern  (in  Luzern) 
im  Jahre  1890  ergab  nur  58  cariesfreie  Gebisse1)  und  von  1000  in 
Ungarn  (durch  Ungtvari)  untersuchten  Kindern  hatten  128  gesunde 
Zähne. ") 

Förberg  fand  in  Schweden  (Stockholm)  unter  1500  Volksschul- 
kindern nur  2,3%  cariesfrei;  von  117  Kindern  eines  Freimaurerwaisen- 
hauses litten  nur  6,8  °/„  nicht  an  der  Zahnfäule. 

Westergaad  untersuchte  1000  dänische  Volksschulkinder  in 
Kopenhagen  und  fand  jeden  5.  Zahn  cariös.  Hei  Siebenjährigen  war 
jeder  4.  Zahn,  bei  Dreizehnjährigen  jeder  6.  Zahn  beschädigt.  Einen 
völligen  Verlust  der  Leistungsfähigkeit  des  Gebisses  erlitten  */„,  eine  Ver- 
minderung der  Kaufähigkeit  */, , der  Kinder.  *) 

Dehnen  wir  unsere  Statistik  auf  etwas  ältere  Personen  aus,  etwa  auf 
Militärpflichtige,  so  ergeben  da  und  dort  angestellte  Untersuchungen 
in  preufsischen,  bayrischen,  badischen,  pommerschcn  und  schlesischen 
Regimentern  an  insgesamt  14081  Soldaten,  dafs  nur  2229  im  Vollbesitz 
ihrer  gesunden  Zähne  waren. 

Steffen-Cuxhaven  untersuchte  450  Mann  der  kaiserlichen 
Marine,  von  denen  26  (5,8  °/0)  intakte  Gebisse  hatten.4) 

Port  untersuchte  1894 — 95  858  Soldaten  eines  bayerischen  In- 
fanterieregiments und  fand  tadellose  Gebisse  bei  35  (7,54  "!„)  Zwanzig- 
jährigen, 21  (8,50  °/0)  Einundzwanzigjährigen  und  5 (3,40  °/0)  Zweiund- 
zwanzigjährigen.  Von  sämtlichen  858  Untersuchten  hatten  also  nur  7 °/# 
(61  Mann)  intakte  Gebisse.6) 

Nach  Untersuchungen  Kimmles  und  Ports8)  beim  Gardekorps, 
der  Elitetruppe  des  Heeres,  haben  unter  1000  Mann  836  regelwidrige 
Gebisse,  in  denen  durchschnittlich  je  5,8  Zähne  defekt  sind.  Von 
85  ebenda  untersuchten  jungen  Unteroffizieren  hatten  72  je  8 cariöse 
Zähne. 

*)  Brunsmann,  „Ueber  zahnärztliche  Hygiene  in  den  Schulen“.  Vortrag 
vom  8.  II.  1891  im  zahnärztlichen  Verein  für  Niedersachsen.  D.  M.  f.  Z.  IX,  1891. 
Beiheft  (Juli)  S.  60. 

*)  Ungtvari,  „Uebcr  die  Zähne  der  Schulkinder“.  Oesterr.  Ung.  Vierteljahrs- 
schrift f.  Z.  Juli  1893. 

*)  Tandlacgeselskabel  in  Kjöbnhavn;  Bericht  der  Tidsskrifl  for  Sundhedplejc, 
übers,  in  Corr.  Bl.  f.  Z.  April  1900.  Referat  von  Par  ei  dt  in  D.  M.  f.  Z.  XVIII, 
1900.  S.  430/31. 

4)  Citicrt  nach  Bruck:  ,,Die  Einführung  der  Zahnpflege  in  Heer  und  Marine“. 
Breslau  1901.  S.  2;. 

*)  Vortrag  auf  der  9.  Jahresvers.  (München,  Juni  1895)  der  bayr.  Zahnärzte. 
D.  M.  f.  Z.  XIII,  1895.  S.  473.82. 

“)  Deutsche  militärärztliche  Zeitschrift.  XXVIII,  4.  1899.  S.  206/14;  ebenda, 
Heft  7.  S.  404  16. 

Archiv  für  toz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  39 


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602 


Miszellen. 


Rose  untersuchte  1895  bei  5610  Musterungspflichtigen  in  ver- 
schiedenen Bezirken  Bayerns  genau  den  Zustand  der  Zähne;  nur  307 
(5,4  °„)  hatten  ein  cariesfreies  Gebifs. ') 

Bartels- Freiburg  i.  Br.  hatte  noch  die  günstigsten  Ergebnisse 
zu  verzeichnen.  337  von  1677  untersuchten  Mannschaften  = 20,1 
zeigten  tadellose  Gebisse.  *) 

Lührse-Stettin  untersuchte  i.  J.  1898  2486  Mann  mit  75  483  Zah- 
nen, von  denen  1 1 5 19  cariös  waren.  Nur  314  Mann  (1 2,6  0/„)  hatten  völlig 
intakte  Kauwerkzeuge.  a) 

Bruck  - Breslau  untersuchte  1 899 — 1 900  3000  Mann  der  Breslauer 
Garnison.  Davon  hatten  184  (6,13  #/0)  cariesfreic  Zähne.4)  Bruck  be- 
rechnet übrigens  aus  allen  bis  1900  gemachten  statistischen  Erhebungen 
über  Cariesfrequenz  beim  Militär,  einschliefslich  seiner  eigenen,  dafs 
von  roi48  Mann  nur  578  (also  etwa  6 */„)  absolut  tadellose  Gebisse 
hatten. 

Etwa  100 000  Individuen,  nämlich  88054  meist  schulpflichtige 
Kinder  beiderlei  Geschlechts  und  14081  erwachsene  junge  Männer  des 
Militärdienstalters  sind  nach  den  hier  mitgeteilten  Angaben  auf  Caries- 
frequenz  untersucht  worden.  Nur  0,74  bis  26  "/„  der  Kinder  — die 
schlechtesten  Verhältnisse  zeigten  die  Berliner  Schulmädchen,  die  besten 
die  noch  nicht  schulpflichtigen  englischen  Kinder  mit  nur  Milchzahn- 
gebissen — und  4 bis  20  °/„  der  wehrfähigen  jungen  Deute  hatten  ge- 
sunde Gebisse.  Von  50013  Kindern  hatten  3899  (7,8  °/0),  von  allen 
14081  Soldaten  1203  (8,7"/,,)  cariesfreie  Zähne. 

Nehmen  wir  nun  aber  die  Verhältnisse  in  der  Gesamtbevölkerung 
als  günstiger  an,  so  darf  man  gewifs  mit  gröfster  Wahr- 
scheinlichkeit behaupten,  dafs  durchschnittlich  nur 
10%  derselben  völlig  gesunde  Gebisse  haben. 

Ich  bemerke,  dafs  diese  meine  Liste  schon  deshalb  sehr  unvoll- 
kommen ist,  weil  sie  ja  mangels  genügender  statistischer  Grundlagen 
nur  die  vereinzelten  Untersuchungen  weniger  Ortschaften  und  Lander 
bringt;  immerhin  läfst  auch  diese  knappe  Zusammenstellung  schon  ahnen, 
um  welch  eine  weit  verbreitete  Volkskrankheit  es  sich  hier  handelt  und 
es  wird  — selbst  bei  allen  Zugeständnissen  an  die  subjektiv  verschie- 
dene Untersuchungsmethode  der  Aerzte  — nicht  zu  hoch  gegriffen  sein, 
wenn  man  80 — 90",,  der  gesamten  Bevölkerung  der  germanischen 
Länder  als  carieskrank  erklärt. 

Man  sollte  meinen,  dafs  angesichts  solcher  Zahlen,  die  die  Zahn- 
caries  zu  einer  Volkskrankheit  ersten  Ranges  stempeln,  die  zuständigen 

')  Ciliert  nach  Bruck,  1.  c.  S.  23'24. 

»)  D.  M.  f.  Z.  XVII,  1899.  S.  87. 

«)  D.  M.  f.  Z.  XVII,  1899.  S.  254. 

4)  Bruck,  1.  c.  S.  19. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc. 


Behörden  längst  darauf  bedacht  seien,  ernstlich  Abhilfsmittel  zu  schaffen, 
aber  davon  ist  keine  Rede.  Man  ist  indifferent  genug,  die  Zahncaries 
im  öffentlichen  Gesundheitswesen  fast  gänzlich  unberücksichtigt  zu  lassen, 
obwohl  die  Nachteile,  die  dem  Staate  hieraus  erwachsen,  grofs  genug 
sind.  Niemand  wird  leugnen,  dafs  ein  Mensch,  der  durch  Zähne  zu 
leiden  hat,  nicht  im  gleichen  Mafse  arbeitsfähig  und  Strapazen  zu  er- 
tragen imstande  ist,  wie  der  Gesunde.  Infolge  des  engen  Zusammen- 
hanges der  Zahnnerven  mit  dem  ganzen  Nervensystem,  wird  der  zahn- 
leidende Mensch  verstimmt  und  nervös.  Seine  krankhafte  Reizbarkeit 
hindert  ihn,  seine  Kräfte  in  gewohnter  Weise  zu  entfalten.  Der  von 
Caries  befallene  Soldat  ist  nicht  imstande,  seinen  Dienst  im  gleichen 
Mafse  zu  verrichten,  wie  der  Soldat  mit  gesundem  Gebifs,  und  wie  ge- 
fährlich das  unter  Umständen  in  Kriegszeiten  werden  kann,  liegt  auf  der 
Hand.  ’) 

Brunsmann  hat  schon  1891  als  erster  der  deutschen  Zahnärzte  einen 
gewissen  Zusammenhang  zwischen  der  Zahnfaule  als  einer  sozialen  Krank- 
heitserscheinung und  der  Yolkswehrkraft  anerkannt,  nachdem  zuvor  in 
England  schon  Cunningham  1886,  in  Frankreich  Pillette  und  Dubois 
betonten,  ■)  wie  die  allgemein  verbreitete  Zahncaries  die  Wehrkraft  be- 
einträchtige. Sie  hoben  hervor,  dafs  die  Schäden  und  Nachteile  eines 
fehlerliaften  Gebisses  schon  im  bürgerlichen  Leiten  in  die  Augen  springend 
seien,  beim  Militär  jedoch,  infolge  der  soldatischen  Ernährungs-  und 
Lebensweise,  noch  viel  gröfser  wären.  Die  Untersuchungen  Brunsmanns, 
Kühns,  Bartels,  Roses,  Brucks  u.  a.  haben  diese  Behauptung  bestätigt 
Sucht  man  der  Zahncaries  im  Heere  nicht  zu  steuern,  so  zieht  man 
sich  selbst  einen  Feind  grofs  — und  nicht  den  ungefährlichsten.  Viele 
junge  Männer  können  wegen  ihrer  Körperschwäche  und  zurückgebliebenen 
Entwicklung  überhaupt  nicht  zum  Militärdienst  herangezogen  werden, 
die  — wie  Röse !1)  und  Bruck 4)  eklatant  nachgewiesen  haben,  — in 
vielen  Fällen  nur  auf  hervorragend  schlechte  Zähne  zurückzuführen  ist ; 
eine  Ansicht,  welcher  der  sächsische  Militärarzt  Naetter  unbedingt  bei- 
stimmt, s)  indem  er  mit  Röse  sagt,  „dafs  die  wegen  allgemeiner  Körper- 
schwäche untauglichen  oder  nur  bedingt  tauglichen  Leute  zum  grofsen 
Teile  darum  in  ihrer  körperlichen  Entwicklung  zurückgeblieben  sind, 

J)  Bartels,  Schweiz.  V.  f.  Zahnheilkunde  VII,  4.  Okt.  1897.  Referat  von 
Nicmcy er- Alnienhorst  in  D.  M.  f.  Z.  XVII,  1899.  S.  85/90. 

*)  „De  la  creation  d’un  Service  dentaire  dans  l’armcc“.  L’Odontologie,  April 
1 886,  cit.  von  C h.  G o d o n ; Hygiene  publique,  les  Services  dentaires  gratuits  en 
France,  ebda.  1887.  Referate  über  beide  von  Brunsmaun  in  D.  M.  f.  Z.  IV, 
1886,  S.  274  und  V,  1887,  S.  196  97. 

*)  Anleitung  zur  Zahn-  und  Mundpflege.  Jena  1900. 

4)  Die  Einführung  der  Zahnpflege  in  Heer  und  Marine.  Breslau  1901. 

4)  Deutsche  militüriirztliche  Zeitschrift  XXIX,  1900.  S.  475. 

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weil  sie  ausnehmend  schlechte  Zähne  haben“.  Ebenso  Bruck,  welcher 
sagt  (1.  c.  S.  7):  „Die  Beschaffenheit  der  Zähne  übt  einen  nicht  zu 
unterschätzenden  Einflufs  auf  die  Tüchtigkeit  und  Leistungs- 
fähigkeit des  Soldaten  aus.  Leute  mit  defekten  lind  schmerzenden 
Zähnen  sind  unmöglich  imstande,  den  Anforderungen  voll  und  ganz 
zu  entsprechen,  die  der  Dienst  an  sie  stellt,  noch  weniger  würden 
sie  aber  ohne  schwere  Schädigung  ihrer  Leistungsfähig- 
keit imstande  sein,  die  Strapazen  eines  Feldzuges  zu  er- 
tragen, in  dessen  Verlauf  sie  sich  nicht  nur  tagelang  im 
Freien  aufzuhalten  haben,  sondern  auch  häufig  zubiwa- 
kieren gezwungen  sin d“. 

Die  Nachlässigkeit  in  der  /lahnpflege  beeinträchtigt  aber  nicht  nur 
die  nationale  Wehrkraft,  sondern  auch  die  Leistungsfähigkeit  eines  Volkes 
überhaupt. 

Ich  habe  in  meiner  Studie  „Zahnarzt  und  Arbeiterschutz“  eindring- 
lich genug  erwiesen,  dafs  eine  ganze  Reihe  von  Arbeitern,  die  von  der 
Zahncaries  befallen  sind,  letztere  nur  ihrem  Berufe  zuzuschreiben  haben, 
und  dafs  diese  Arbeiter,  da  sie  durch  keinerlei  gesetzliche  Mafsregeln 
geschützt  sind,  nicht  nur  ein  sehr  grofses  Kontigent  Carieskranker  stellen, 
sondern  auch  ganz  erheblich  dazu  beitragen,  die  Caries  weiter  zu  ver- 
breiten. Hs  verwundert  dann  nicht  mehr  zu  hören,  dafs  mehr  als  85  */„ 
der  Oesamtbevölkerung  von  der  Zahnfäule  befallen  sind  und  dafs  sie 
schon  deshalb  als  eine  Volkskrankhcit  von  äufserst  bedenklicher  sozialer 
Tragweite  charakterisiert  werden  mufs,  sofern  sie  eine  wesentliche  Rolle 
in  der  Unterernährung  der  Massen  spielt,  eine  Herabsetzung  der  Wehr- 
kraft mitbedingen  kann  und  vor  allem:  weil  ihre  Erblichkeit  über- 
zeugend nachgewiesen  ist. 

Die  Erblichkeit  der  Zahncaries  hat  in  der  umfangreichsten,  über 
diese  Frage  bisher  ausgeführten  statistischen  Untersuchung  der  Pariser 
Zahnarzt  P.  Dubois ')  bei  Gelegenheit  der  Rekrutenaushebung  dargethan. 
Er  zeigte,  dafs  die  auffallenden  Verschiedenheiten  in  dem  Zustande  der 
Zähne  in  den  verschiedenen  Departements  Frankreichs  weder  zurück- 
zufiihren  seien  auf  die  verschiedene  Ernährungsweise,  noch  auf  das 
Trinkwasser,  noch  auch  auf  die  Beschaffenheit  des  Bodens  und  die  geo- 
graphische Lage,  sondern  hauptsächlich  auf  die  Verschiedenheit  der 
Rasse,  mithin  also  auf  die  Erblichkeit. 

F'assen  wir  die  Ergebnisse  der  bisherigen  Darlegung  kurz  zusammen, 
so  ergiebt  sich,  dafs  die  Zahnfäule  eine  der  weitestverbreiteten  — viel- 
leicht die  am  meisten  verbreitete  — Volkskrankheit  ist,  die  für  den 
Erkrankten  nicht  nur,  sondern  auch  für  seine  Umgebung  Ursache  vieler 
örtlicher  und  allgemeiner  Störungen  werden  kann. 

*)  Comptes  rendus  du  premier  Congris  dcnUirr  international,  tenu  a Paris. 
189t.  pag.  45. 


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II.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc.  605 

Der  soziale  Schaden,  der  sich  hieraus  für  die  Volkswirtschaft  ergiebt, 
liegt  klar  zutage,  wenngleich  auch  der  statistische  Beweis  hierfür  fehlt. 
Allein,  es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  man  schon  ganz  erhebliche  Ziffern 
erhielte,  wenn  man  die  Krankheitskosten  berechnen  könnte,  welche  die 
Zahncaries  etwa  in  den  Armeen  verursacht. 

Fragen  wir  nun,  welches  die  Ursachen  der  Zahncaries  sind  und 
was  zu  ihrer  Beseitigung  zu  thun  ist? 

Flüchtig  haben  wir  die  Ursachen  der  Caries  bereits  kennen  gelernt. 
Es  sind:  die  F.rblichkeit,  schlechte  l>ezw.  falsche  Ernährung,  berufliche 
Einwirkungen,  Ansteckung  und  in  erster  Linie  Nachlässigkeit  in  der  Zahn- 
pflege. Schlechte  Ernährung  und  F.rblichkeit  gehören  zu  den  allgemeinen, 
den  prädisponierenden,  Ansteckung,  vernachlässigte  Zahnpflege  u.  s.  w. 
zu  den  unmittelbar  veranlassenden,  excitierenden  Ursachen.  Die  letzteren 
sind  es  vornehmlich,  denen  wir  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  noch 
am  ehesten  zu  Leibe  rücken  können.  Die  Herbeiführung  einer  gründ- 
lichen Mundpflege  ist  deshalb  auch  das  erste  und  nächstwichtigste, 
was  anzustreben  ist,  um  der  Entstehung  von  Zahncaries  vorzubeugen. 
Wird  der  Mund  nach  einer  Mahlzeit  nicht  gereinigt , so  bleiben 
Speisereste  zwischen  und  an  den  Zähnen  haften , die  alsbald  in 
Gärung  (ibergehen  und  Mikroorganismen  in  Wirksamkeit  bringen.  Es 
bilden  sich  Säuren,  die  zur  Auflösung  und  Erweichung  des  Zahnschmelzes 
und  des  Zahnbeins  führen  und  die  Zahnfäule  zur  Folge  haben.  Die 
bakterielle  Zersetzung  überträgt  sich  von  einem  Zahn  auf  den  anderen ; 
das  carieskranke  Individuum  steckt  andere  Menschen  an,  die  carieskranke 
Mutter  überträgt  ihr  Leiden  auf  ihr  Kind.  Dies  ist  der  Zusammenhang 
der  progressiv  fortschreitenden  Zahnfäule,  die  ursächlich  durch  eine  un- 
genügende Mundpflege  hervorgerufen  wird. 

Der  Kampf  gegen  die  allgemeinen  Ursachen  der  Caries  ist 
ungleich  schwieriger,  weil  man  es  hier,  wie  z.  B.  bei  der  Erblich- 
keit mit  noch  unerschlossenen  Problemen  (ererbte  Konstitutions- 
schwäche, ererbte  Krankheitsanlage,  schlechte  Kalkassimilation  u.  s.  w.)  zu 
thun  hat  oder  wie  bei  der  unzweck mäfsigen  Ernährung  mit 
Fragen,  die  vom  ökonomischen  Standpunkte  aus  eine  befriedigende  Ant- 
wort nicht  finden  lassen.  Wenn  man  dem  Minderbemittelten  auch 
sagen  wird,  dafs  ihm  dies  Brot,  dieses  Getränk,  dieses  Gemüse  in  Rück- 
sicht auf  die  Zähne  nicht  bekömmlich  sein  wird,  so  sind  das  sehr 
schöne  hygienische  Forderungen,  die  er  wirtschaftlich  aber  nicht  durch- 
zuführen imstande  sein  wird.  Ebenso  ist  es  mit  den  beruflichen 
Schädlichkeiten,  welche  teils  durch  Allgemeinwirkung  auf  den 
Körper,  teils  durch  örtliche  Schädigung  Veranlassung  von  Zahncaries 
werden;  zu  den  ersteren  gehören  — wie  ich  in  meiner  bereits  citierten 
Arbeit  „Zahnarzt  und  Arbeiterschutz“  auseinandersetzte  — die  giftigen 
Blei-,  Quecksilber-  und  Phosphorindustrieen,  zu  den  letzteren  die  Säure- 
industrieen,  die  Gewerbe  der  Bäcker  und  Konditoren  u.  s.  w.,  sowie 


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Miszellen. 


mechanisch  die  Zähne  angreifende  Berufsarten.  Hier  wäre  freilich  der 
beste  hygienische  Rat,  den  schädlichen  Beruf  mit  Rücksicht  auf  die  Zahn- 
verderbnis aufzugeben,  ein  Rat,  der  jedoch,  ebenfalls  aus  wirtschaftlichen 
Gründen,  in  den  allcrseltensten  Fällen  würde  befolgt  werden  können. 
Ebenso  schwierig  ist  für  den  Zahnarzt  auch  der  Kampf  gegen  er- 
worbene allgemeine  oder  örtliche  Krankheiten,  wie  z.  B. 
Rhachitis,  Skrofulöse  u.  s.  w.,  die  Zahncaries  im  Gefolge  haben  können. 
Auch  die  besonderen  Prozesse  im  femininen  Sexualleben 
(häufige  Schwangerschaften,  Menstruation,  Stillungsperiode)  können  nach 
den  Bungeschen  Darlegungen  Ursachen  der  Zahncaries  sein.  Auch  un- 
vorsichtig genommene  Medikamente  (Eisenpräparate  u.  s.  w.)  üben 
ihren  schädlichen  Einflufs  auf  das  Gebifs  aus. 

Sicherlich  werden  viele  dieser  einzeln  aufgezahlten  Ursachen  sich 
oft  miteinander  verbinden;  so  kann  beispielsweise  die  schlechte  Mund- 
pflege in  Verbindung  mit  beruflichem  Einflufs  (Bäckergewerbe)  Zahn- 
caries verursachen  und  rhachitische  Schmelzdefekte  können  zuletzt  durch 
Trunksucht  des  Vaters,  d.  h.  durch  Erblichkeit  belastet  sein. 

Kragen  wir,  wie  diese  Ursachen  zu  beseitigen  sind,  so  ergiebt  sich 
von  selbst  die  Vorfrage:  wer  sie  zu  beseitigen  hat?  Unsere  Antwort 
kann  nicht  anders  lauten  als:  der  wissenschaftlich  gebildete  Zahnheil- 
kundige, der  Zahnarzt. 

Die  ersten,  die  praktisch  etwas  gegen  die  Zahnfaule  unternommen 
haben,  scheinen  amerikanische  Dentisten  gewesen  zu  sein,  die,  wie  die 
Vorgänger  unserer  modernen  Chirurgen  (Bader,  Feldscherer  u.  s.  w.),  aus 
dem  Volke  gekommen  sein  mögen  und  anfänglich  einem  weit  empfundenen 
Bedürfnisse  nach  Linderung  praktische  Hilfeleistung  gewährten,  allmäh- 
lich durch  Erfahrung  und  Uebung  grofse  Handgeschicklichkeit  er- 
reichten, bis  sie  aus  ihrer  Kunstfertigkeit  ein  einträgliches  Gewerbe 
machten.  Daneben  gab  es  Aerzte,  die  den  Ursachen,  Folgen,  inneren 
Erscheinungen  der  Zahnfäule  nachforschten,  ohne  sich  jedoch  praktisch 
bethätigen  (Hufeland,  Richardson,  Carpenter  u.  a.).  Zange  und  Schlüssel 
waren  sicherlich  lange  die  einzigen  Helfer  in  der  Not.  Allein  aus  den 
Erfahrungen  amerikanischer  Techniker,  den  Forschungen  englischer, 
französischer,  skandinavischer  und  vor  allem  deutscher  Dentisten  und 
den  spärlichen  Zahnuntersuchungen  von  Aerzten  erwuchs  während  der 
letzten  drei  Dezennien  eine  wissenschaftlich  wie  kunsttechnisch  gleich 
bedeutsame,  hoffnungsreiche  Kämpferin  gegen  die  Zahncaries:  Die 

moderne  wissenschaftliche  Zahnheilkunde,  ausgeübt  durch  einige  tausend 
approbierte  praktische  Zahnärzte.  Ihr  verdanken  wir  die  immer  gründ- 
licher werdende  Erforschung  der  Ursachen  der  Zahnfäule,  die  statistischen 
Belege  für  die  Häufigkeit  ihres  Vorkommens  und  die  Mittel  und  Wege, 
diesem  Uebel  erfolgreich  zu  steuern. 

Es  fragt  sich  nun,  welche  Bedeutung  der  Zahnheilkunde  und  Zahn- 
hygienie  für  die  allgemeine  Gesundheit  und  Volkswirtschaft  auf  Grund 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncarics  in  Schule  und  Heer  etc. 


ihrer  bisherigen  Leistungen  und  Leistungsfähigkeit  zukommt  und  ob  sie 
die  ihr  gebührende  Stellung  im  öffentlichen  Leben  gefunden  hat  bezw. 
was  zu  thun  ist,  um  ihr  dieselbe  im  Interesse  der  Volkswohlfahrt  zu 
verschaffen  ? 

Und  hier  stofsen  wir  gleich  auf  das  traurige  Kapitel  von  der  Unter- 
schätzung der  Zahnheilkunde  und  -hygiene  im  öffentlichen  Leben.  Denn 
noch  gilt  bei  der  Menge  der  Rat  des  Zahntechnikers  als  ebenso 
vollwertig,  wie  der  des  Zahnarztes.  Wie  will  aber  der  Zahntechniker 
— bei  aller  Hochachtung  vor  seinem  Stande ! — eine  Entscheidung 
darüber  fällen  können,  ob  im  einzelnen  Falle  eine  Extraktion  am  Platze 
ist  oder  eine  Plombierung,  wenn  er  den  allgemeinen  gesundheitlichen 
Verhältnissen  des  Patienten  schon  deshalb  gar  keine  Rechnung  tragen 
kann,  weil  er  den  engen  Konnex  der  Zähne  mit  dem  ganzen  Organismus 
nicht  kennt?  Um  die  genaue  Diagnose  eines  Zahnleidens  und  seiner 
Ursachen- zu  stellen  — denn  die  letzteren  zu  erkennen,  ist  ja  weit- 
aus das  wichtigste  — mufs  man  ein  wissenschaftliches  Fachstudium  hinter 
sich  haben.  Der  Techniker  kann  unmöglich  von  allen  Entwicklungs- 
und Erkrankungsverhältnissen  der  Zähne  und  von  den  vielen  Krank- 
heitskomplikationen, die  die  Caries  im  Gefolge  hat , das  präzise  Bild 
haben,  das  doch  erforderlich  ist,  wenn  man  die  Patienten  nicht  schema- 
tisch behandeln  will.  Der  Zahntechniker  hat  — und  es  wäre  unbillig, 
es  von  ihm  zu  verlangen!  — weder  eine  anatomische  noch  eine  kli- 
nische Vorstellung  von  dem  Zusammenhang  zwischen  Caries  und  Magen- 
krankheiten, zwischen  Caries  und  Epilepsie,  Caries  und  Nervosität, 
Caries  und  Tuberkulose  u.  s.  w.  Und  ebensowenig  wie  ein  Zahnarzt 
sich  anmafsen  wird,  eine  Augenoperation  zu  unternehmen,  oder  einen 
schweren  I, ungenkranken  zu  behandeln,  sollte  selbst  ein  praktischer  Arzt 
auch  die  Behandlung  Zahnkranker  dem  Spezialisten  überlassen.  Am 
allerwenigsten  ist  aber  der  Techniker  der  berufene  Helfer.  Was  dem- 
nach zuerst  zu  erwirken  ist,  um  die  Caries  zurückzudämmen  und  der 
Zahnverderbnis  Einhalt  zu  gebieten,  das  ist  eine  hygienische,  auf 
wissenschaftlicher  Erkenntnis  und  praktischer  Erfah- 
rung begründete  Belehrung  und  entsprechende  Er- 
ziehung des  bereits  zahnkranken  und  einer  gehörigen 
Zahnpflege  ermangelnden  Publikums. 

Der  Zahnarzt  stelle  seine  Dienste  in  den  Bereich  der  leidenden 
Menschheit;  er  soll  den  Zahnkranken  heilen,  aber  ihm  nicht  auf  Wunsch 
die  Zähne  ausreifsen ; nicht  „Zum  Henker  damit!"  wie  Benedikt  in 
Shakespeares  „Viel  Lärm  um  Nichts“  ausruft,  sondern  „Zum  Zahnarzt!“ 
wie  Claudio  rät.  Der  Zahnarzt  soll  auf  faulige  Wurzeln  keine  Ersatz- 
stücke setzen,  wie  es  das  Publikum  wünscht,  soll  nicht  die  Vorderzähne 
mit  Gold  füllen  und  die  Backzähne  sich  selbst  überlassen;  er  erfülle 
nicht  aus  Liebedienerei  die  unvernünftigen  Wünsche  ungeduldiger 
Patienten,  sondern  behandle  nach  bestem  Wissen  und  nach  dem  gegen- 


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wärtigen  Stande  der  wissenschaftlichen  Zahnheilkunde  so,  wie  es  jeder 
einzelne  Fall  erfordert.1)  Die  ungeheure  Verbreitung  der  Caries  und  die 
damit  verbundenen  Zahnverluste  werden  dabei  dem  Techniker  immer 
noch  Arbeit  genug  geben. 

Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  dafs  der  Kampf  gegen  die  Caries 
— dieser  überaus  bedenklichen  Volkskrankheit  — nur  dann  ein  siegreicher 
werden  kann,  wenn  es  gelingt,  eine  hygienische,  auf  wissenschaftlicher 
Krkenntnis  und  praktischer  Erfahrung  gegründete  Belehrung  erfolgreich 
zu  verbreiten  und  die  entsprechende  Erziehung  des  zahnkranken  Volkes 
zu  einer  ordentlichen ' Zahnpflege  zu  erwirken.  Diese  Aufgabe  fällt  dem 
wissenschaftlich  gebildeten  Zahnheilkundigen  allein  zu. 

Die  amtliche  öffentliche  Medizinalverwaltung,  die  berufene  Hüterin 
der  Volksgesundheit,  kann  die  Thatsache  nicht  aus  der  Welt  schaffen, 
dafs  es  85  Proz.  carieskranke  Personen  giebt,  und  dafs  infolgedessen  die 
soziale  Zahngesundheitspflege,  obwohl  es  sich  dabei  weder  um  grofse 
Sterblichkeitsziffern,  noch  um  schwere  Seuchengefahr  handelt,  mit  zu 
den  wichtigsten  Aufgaben  gehört,  deren  Lösung  sie  endlich  in  Angriff 
zu  nehmen  hat. 

Man  erhält  neben  den  anderen  Lösungen,  die  wir  bereits  gaben, 
eine  weitere  Erklärung  für  diesen  enorm  hohen  Prozentsatz  Caries- 
kranker,  wenn  man  bedenkt,  dafs  vor  10  Jahren  kaum  1000  approbierte 
Zahnärzte  auf  etwa  5 Millionen  Menschen  kamen,  von  denen  mehr  als 
a/„  zahnärztlicher  Hilfe  bedurften.  Es  kam  demgemäfs  ein  Zahnarzt  auf 
30000  Patienten,  eine  Arbeitszumutung,  die  kein  Mensch  zu  bewältigen 
vermag.  *)  Da  hat  denn  der  Zahnarzt  freilich  keine  Zeit,  hygienische 
eingehende  Ratschläge  zu  erteilen.  Viel  genug,  wenn  er  unter  solchen 
Umständen  überhaupt  gründlich  untersucht.  Dafs  er  dann  seine  prak- 
tische Thätigkeit  und  seine  Aufklärung  in  die  Kreise  der  Minder- 
bemittelten trägt,  ist  nicht  gut  zu  verlangen. 

Die  privaten  praktizierenden  Zahnärzte  können  die  Zahngesundheits- 
pflege einmal  wegen  ihrer  verhältnismäfsig  viel  zu  geringen  Anzahl,  ferner 
aus  wirtschaftlichen  Gründen,  sowie  wegen  örtlicher  Verhältnisse  nicht 
in  die  breiten  Volksmassen  hinaustragen.  Vor  allem  die  Kleinstädte 
und  Landorte,  in  denen  weder  ein  Zahnarzt  ansässig  noch  bequem  zu- 
gänglich ist  und  andererseits  die  ungünstigen  Verhältnisse  mancher 
Grofsstädte,  in  denen  junge  Zahnärzte  sich  häufen  und  deshalb  mit 
Eixistenzschwierigkeiten  zu  kämpfen  haben  und  in  ihrem  sozialhygienischen 
Empfinden  beeinträchtigt  werden,  verhindern  eine  raschere  Verbreitung 
einer  rationellen  Zahnpflege.  Würde  man  aber  annehmen,  dafs  der 

*)  Vgl.  H.  Kümmel,  „Aufgabe  des  Zahnarztes  in  der  öflentl.  Gesundheits- 
pflege“. Korresp.-Bl.  f.  Zahnärzte  XXXII.  Heft  3. 

*)  Vgl.  hierzu  II.  Kümmel:  „Zur  Reform  des  zahnärztlichen  Studiums.“ 
I).  Zahnärztl.  Wocbenschr.  V.  14.  S.  168. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Sehulc  und  Heer  etc. 


Zahn techniker  hier  ein  stark  mithelfender  Arm  ist,  so  befände  man 
sich  in  gewaltigem  Irrtum. 

Rufen  wir  die  Statistik  noch  einmal  zu  Hilfe,  so  erfahren  wir  von 
der  British-Dental-Association,  dafs  man  bei  den  ersten  40000 
untersuchten  Zähnen  nur  4 Füllungen  fand,  beim  Ab- 
schlufs  der  Untersuchungen  unter  100000  Zähnen  nur  237  Füllungen. 
Die  Zahnbürste  kannte  man  kaum.  Roses  Schulkinderuntersuchungen 
ergaben,  dafs  von  28342  kranken  Zähnen  21  729  durch  Füllungen 
zu  retten  gewesen  wären;  6613  waren  gezogen  bezw.  mufsten 
gezogen  werden;  im  ganzen  fand  man  aber  nur  53  Plomben,  nämlich 
1 7 Milch-  und  36  bleibende  Zähne.  Auch  hier  war  die  Zahnbürste 
fremd.  Besser  stand  es  um  die  Gymnasiasten;  von  615  Schülern  mit 
4428  erkrankten  Zähnen  liefsen  170  sich  727  Zähne  füllen.  Bei  407 
bessersituierten  Schülern  Berlins  mit  1263  kranken  Milchzähnen  fand 
Lipschitz,  sage  und  schreibe,  einen  gefüllten  Zahn  (0,08  Proz.),  von 
1660  cariös  bleibenden  Zähnen  waren  104  (6,26  Proz.)  gefüllt.  399 
Mädchen  der  407  hatten  zahnärztliche  Hilfe  nötig.  1 24  Schülerinnen 
hatten  ihre  Zähne  nie  gereinigt.  Voerckel  fand  bei  5003  Kindern  mit 
25  768  kranken  Zähnen  gerade  29  Füllungen.  Mund-  und  Zahnpflege 
war  etwas  Unbekanntes.  700  Kinder  wiesen  starke  Zahnsteinablagerungen 
auf,  100  hatten  einen  übelriechenden  Mund,  73  litten  an  Schleimhaut- 
entzündungen im  Munde. 

Nicht  viel  besser  sieht  es  im  Heere  aus.  Bartels  konstatierte  bei 
16 1 Freiburger  Soldaten,  von  denen  nur  6 behandelt  waren,  2 Füllungen. 
5 Soldaten  trugen  künstliche  Ersatzstücke  auf  faulenden  Wurzeln.  In 
Waldkirch  waren  von  201  Gestellungspflichtigen  6 behandelt  worden. 
In  Altbreisach  war  von  4077  erkrankten  Zähnen  nicht  einer  behandelt 
worden,  dagegen  fand  Bartels  ein  Ersatzstück  auf  faulenden  Wurzeln. 

Der  bayrische  Stabsarzt  Daffner  nahm  während  drei  Dienstjahren 
(1882 — 1885)  bei  6520  Mann  330  Zahnextraktionen  vor;  bei  7 Proz. 
der  Extraktionen  brach  ihm  nach  seinem  eigenen  Bericht l)  die  Krone 
ab.  92  Proz.  der  Extraktionen  machte  Daffner  mit  dem  Schlüssel, 
8 Proz.  mit  der  Zange.  Wieviel  Extraktionen  nebenbei  Barbiere  und 
Lazaretgehilfen  Vornahmen , darüber  weifs  der  Bericht  nichts  zu  ver- 
melden. Drenkhahn  (Hamburg)  erzählt,*)  der  angstfreie  preufsische 
Soldat  komme  beim  geringsten  Zahnschmerz  mit  der  Bitte  um  Entfernung 
des  Zahnes.  Dieser  Bitte  werde  gewöhnlich  von  seiten  des  Militärarztes 
nachgegeben.  Denn  den  Rat,  den  kranken  Zahn  sich  erhalten  zu  lassen, 
beantworte  der  Soldat  in  der  Regel  mit  einer  Fünfzigpfennigextraktion 

l)  lieber  Zähne,  Zahncaries  und  Zahnextraktion.  D.  M.  f.  Z.  IV,  1886.  S.  81  ff. 

*)  Deutsche  militärärztl.  Zeitschrift  XXVII,  1898.  S.  49 — 65.  „Schwere 
Folgen  von  Zahnkrankheiten  in  der  Armee  und  ihr  Zusammenhang  mit  Zahn- 
extraktionen. “ 


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beim  Barbier.  So  ist  die  Zahl  der  Soldaten,  denen  schmerzhafte  Zähne 
ausgezogen  werden,  eine  ganz  enorme. 

Nach  den  Angaben  der  Thomer  Stationsaufseher  der  Garnison- 
lazarette wurden  dort  durchschnittlich  5,  im  Jahre  1800  also  Zähne  ge- 
zogen. 

Diese  Zahlen  sprechen  Bände! 

Man  begreift  es,  wenn  angesichts  ihrer  Brunsmann  ausruft:  ')  ..Der 
Mann,  der  gegen  die  Zahncaries  ein  Mittel  erfände  oder  ein  Präservativ- 
en t deckte,  er  müfstc  gleich  einem  Koch  bejubelt  mul  geehrt  werden, 
denn  er  hätte  damit,  wenn  auch  nicht  eine  todbringende  Krankheit,  so 
doch  ein  gesellschaftliches  Ucbel  beseitigt,  das  noch  viel  verbreiteter  ist, 
als  die  Tuberkulose  und  auf  den  ganzen  Organismus  direkt  und  indirekt 
den  destruierendsten  Einflufs  ausübt.“ 

Hierher  gehört  auch  der  Ausspruch  des  Wiener  Pädagogen 
Dr.  Leo  Burgerstein : 2)  „Könnte  man  alle  üblen  Folgen,  welche  die  Ver- 
nachlässigung des  Gebisses  bei  einem  Individuum  nach  sich  zieht,  in 
e i n akutes  Leiden  zusammendrängen . die  schläfrigsten  Eltern  und 
Lehrer,  die  für  solche  Dinge  nur  ein  Lächeln  der  Geistesabwesenheit 
haben,  miifsten  erwachen.“ 

Es  erhebt  sich  nunmehr  die  Frage:  Darf  die  Gesellschaft  einer 
solchen  Volkskrankheit  gegenüber  sich  vollkommen  unthätig  und  phleg- 
matisch verhalten  ? Mufs  sie  nicht  vielmehr  alle  Mittel  anwenden,  um 
dem  Fortschreiten  der  Krankheit  Einhalt  zu  gebieten  ? Unsere  Ant- 
wort ist  mit  einem  abermaligen  Hinweis  auf  die  Statistik  eo  ipso  ge- 
geben. 

Wo  ist  aber  der  Hebel  anzusetzen,  um  die  individuelle  Zahn-  und 
Mundpflege  zum  Gemeingut  der  ganzen  Bevölkerung  zu  machen  • Was 
ist  in  dieser  Hinsicht  geleistet  worden,  und  welche  Aufgaben  sind  noch 
zu  erfüllen  ? 

Die  Caries  ist  eine  chronische  Krankheit,  von  der  nach  Brunstnann 
94,2  Proz.  der  Menschheit  ergriffen  ist.  Eine  so  weit  eingerissene 
Krankheit  läfst  sich,  wenn  man  selbst  10000  Zahnärzte  staatlicherseits 
beschäftigte,  nicht  von  heute  zu  morgen  beseitigen ; sie  bedarf 
vielmehr  einer  chronischen  Prophylaxe  und  einer 
energischen  Ausdauer  gegenüber  der  Indifferenz  und 
Interessenlosigkeit  des  Volkes,  das  von  der  Zahn- 
caries geheilt  werden  soll.  Die  Schule  und  das  Heer 
sind  die  beiden  Hauptfestungen , die  zunächst  erobert  werden  müssen 
und  bei  gutem  Willen  der  Behörden  auch  leicht  erobert  werden  könnten. 
In  Schule  und  Heer  können  Lehrer  und  Vorgesetzte  eine  regelmäfsige 
Zahnuntersuchung  und  Zahnpflege  erzwingen.  Würde  dieser  unlieb- 

')  D.  M.  f.  Z.  IX,  1891  Beiheft  S.  60. 

*)  D.  M.  f.  Z.  V,  1887.  S.  486  7. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahnes  ries  in  Schule  und  Heer  elc.  (3|  I 

same  Zwang  während  der  Schul-  bezw.  Dienstjahre  konsequent  aufrecht 
erhalten,  so  würde  er  nach  einiger  Zeit  bald  zur  Gewohnheit  werden 
und  im  späteren  Leben  ein  Bedürfnis  sein.  Nächst  Schule  und  Heer 
käme  die  Marine  in  Betracht,  die  Hospitäler,  die  Wohlthätigkeits- 
an  st  alten  u.  s.  w. 

Diese  Forderung  wird  hier  nicht  zum  erstenmal  erhoben.  Die 
französische  Gesellschaft  „Ligue  de  1'Interet  Public,  Societe  Protectrice 
des  citoyens  contre  les  ■Abus“,  der  Viktor  Hugo,  Clemenceau  u.  v.  a. 
bedeutende  Männer  angehörten,  strebte  bereits  1884  mit  Energie  eine 
systematische  zahnärztliche  Inspektion  in  allen  Pariser  Primärschulen  an, 
die  zwangsweise  durchgeführt  werden  sollte.  ’)  Die  dem 
Munizipalrat  von  Paris  diesbezüglich  überreichte  Denkschrift  bezog 
sich  auf  schon  bestehende  derartige  recht  erfolgreiche  Einrichtungen  in 
Cherbourg  und  in  Vcrvi£rs  in  Belgien  und  sie  verlangte,  dafs  die  Schul- 
kinder, insbesondere  die  der  ärmeren  Volksklassen,  vierteljährlich  die  be- 
trauten Zahnärzte  aufzusuchen  gezwungen  werden,  um  sich  ihre  Kauwerk- 
zeuge in  Ordnung  bringen  zu  lassen. 

Einige  Jahre  später  (1887)  berichtete  der  französische  Zahnarzt 
Godon,  es  seien  seitens  einzelner  Zahnärzte  schon  mehrfach  Vorschläge 
an  ihn  herangetreten,  in  Irrenanstalten,  Waisenhäusern,  Privatschulen  u.s.w. 
unentgeltlich  periodische  Zahnuntersuchungen  vornehmen  zu  wollen,  die 
auch  in  verschiedenen  Städten,  in  Rouen,  Niort,  Dieppe,  Vernon  u.  a. 
durchgeführt  wurden.  In  Rouen  brachte  der  dortige  Zahnarzt  Bagnot, 
freilich  unter  vielen  Mühen  und  Geldopfern,  die  dortige  Munizipalität 
dahin,  dafs  eine  zweckentsprechende  Klinik  eingerichtet  und  sämtliche 
Schulkinder  der  obligatorischen  Visitation  eines  Zahnarztes  unterworfen 
wurden.  „Zu  Tausenden  wurden  Zettel  gedruckt,  vorn  mit  einem 
schematischen  Bilde  des  Gebisses  und  mit  Rubriken  für  Namen  und 
Alter  u.  s.  w.  der  Individuen,  für  Beobachtungen  des  Inspizierenden  u.  s.  w. 
und  hinten  mit  allgemeinen  Regeln  der  hygienischen  Zahnpflege.  Sie 
wurden  unter  die  Schüler  verteilt,  und  diese  haben  sich  dann  einer 
periodischen  Inspektion  von  seiten  des  angestellten  Zahnarztes  zu  unter- 
werfen. Dieser  bezeichnet  die  etwaigen  Schäden  und  deren  Grad 
durch  verschiedenfarbige  Stifte  auf  jenem  Schema,  und  so  werden  die 
Eltern  auf  den  kranken  Zustand  der  Zähne  ihrer  Kinder  aufmerksam 
gemacht  und  zur  Verbesserung  angehalten,  wobei  es  ihnen  überlassen 
bleibt,  sie  von  jenem  inspizierenden  Zahnarzte  oder  einem  anderen  aus- 
führen zu  lassen.“  Die  Wirkungen  solchen  Vorgehens  waren  — wie 
nicht  anders  denkbar  — nur  segensreiche  und  sie  waren  dies  in  er- 
höhtem Mafse,  wenn  der  Inspektionszahnarzt,  wie  z.  B.  Fayoux  in  Niort, 
noch  für  besonders  gutgepflegte  Zähne  kleine  Prämien  aussetzte. 

*)  Medical  Times  and  Gazette,  Dental  Combos.  Vgl.  D.  M.  t.  /.  II,  1 SS4. 
S.  I40  „Zahnärztliche  Gesetzgebung  in  Frankreich“. 


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Miszellen. 


Fisher ')  teilt  mit,  dafs  in  der  „North  Surrey  District  School  for 
pauper  children"  zu  Anerley  mit  850  Zöglingen  zwischen  3 und  16  Jahren 
ein  approbierter  Zahnarzt  angestellt  war.  „Derselbe  hat  jede  Woche 
einen  Vormittag  in  der  Schule  anwesend  zu  sein,  und  das  Schul- 
direktorium liefert  ihm  die  nötigen  Instrumente  und  Materialien,  sowie 
ein  Salär  von  60  Pfd.  (1200  Mk.)  jährlich." 

Der  Wienet  Zahnarzt  Dr.  Hillischer  war  der  nächste,  der  auf  dem 
6.  internationalen  Kongrefs  ftir  Hygiene  und  Demographie  in  Wien  im 
September  1887  sich  der  obligatorischen  Zahnpflege  in  den  Schulen  an- 
nahm. „Wenn  die  hohen  Unterrichtsbehörden  der  Kommunalverwaltung 
und  die  Lehrerschaft  Wiens  nichts  dagegen  einzuwenden  haben  sollten", 
wollte  er  in  den  nächsten  Jahren  mit  seinem  Assistenten  alljährlich  mehr- 
mals die  Zähne  aller  Schulkinder  Wiens  unentgeltlich  untersuchen  und 
behandeln.  Er  bewirkte  auch  auf  dem  Kongrefs  die  Protokollierung 
folgender  Resolution:  „Im  Rahmen  der  beantragten  ärztlichen  Schulauf- 
sicht sollten  die  Zähne  aller  Schulkinder  — womöglich  mehrmals  im 
Jahre  — einer  obligatorischen  Untersuchung  und  eventuell, 
z.  B.  bei  Kindern  Unbemittelter,  einer  fakultativen  Behandlung 
unterzogen  werden.  Hierzu  sollte  die  freiwillige  Hilfe  tüchtiger  Fach- 
ärzte herangezogen  werden.“ 

Dieser  Resolution  sind  auf  internationalen  Versammlungen  weitere 
gefolgt,  jedoch  ohne  jeden  Erfolg. 

Im  praktischen  England,  wo  die  Anerleyer  Distriktschule  die  erste 
geregelte  Zahngesundheitspflege  und  die  Wohlthat  eines  Schulzahnarztes 
genofs,  erzielte  man  durch  eine  im  grofsen  Stile  betriebene  Agitation, 
die  der  bereits  citierte  Zahnarzt  Cunnigham  leitete,  in  kurzer  Zeit  auch 
grofse  Erfolge.  In  seinem  Vortrage  über  „The  Dental  aspect  of  public 
Health“  *)  that  Cunnigham  dar,  man  müsse  die  maisgebenden  Stellen 
veranlassen,  einen  wesentlichen  Teil  der  öffentlichen  Aufwendungen  für 
ärztliche  Dienstleistungen  der  zahnärztlichen  Hilfe  zuzuwenden  und  durch 
Fürsorge  für  die  Zähne  der  Schulkinder  ein  Werk  von  nationalem 
Gewinn  zu  unternehmen.  Dieser  Vortrag  wurde  mit  dem  Fisher  - 
schen  in  einer  Broschüre  vereint,  die  mit  einer  Vorrede  von  Sir  John 
Tomes  versehen , die  gröfste  Verbreitung  im  Lande  fand.  *)  Es 
folgten  über  ganz  Grofsbritannien  sich  erstreckende  statistische  Arbeiten 
des  School  Committee  der  British  Dental  Association,  die  sich  nicht  nur 
über  die  Häufigkeit  der  Zahnfäule  orientieren,  sondern  auch  die  weiteste 


>)  D.  M.  f.  Z.  V,  1887.  S.  158. 

*)  D.  M.  f.  Z.  VI,  1888.  S.  208. 

*)  D.  M.  f.  Z.  VI,  1888.  S.  495/96.  Referat  von  Westpbal  über  Sir  John 
Tomes  „Preface  to  the  Fisher  and  Cunnigham  Pamphlet.“  Vgl.  Joum.  of  the  Brit 
Dcnt.  Ass.  August  1887.  S.  457. 


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II.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc.  (3 1 3 

Oeffentlichkeit  ftir  die  Sache  der  Zahngesundheitspflege  interessieren 
wollten.  Cunnigham  agitierte  durch  populäre  Vorträge,  die  er  da  und 
dort  hielt,  lebhaft  weiter,  indem  er  auch  durch  drastische  Lichtbilder 
den  Nutzen  der  Zähne  für  die  Verdauung,  für  die  Mitwirkung  beim 
Sprechen  und  ihre  ästhetische  Bedeutung  lebendig  veranschaulichte.  Die 
Folge  war,  dafs  bereits  1894  an  mehreren  Schulen  Zahnärzte  fest  an- 
gestellt wurden,  deren  Wirken  ein  höchst  segensreiches  war. 

1893  berichtete  der  englische  Zahnarzt  Spokcs  auf  dem  Kopen- 
hagener  Kongrefs,  ’)  dafs  ihm  auf  Anraten  des  Schularztes  die  Zahnfür- 
sorge für  750  Kinder  übertragen  und  zu  diesem  Zwecke  in  der  Schule 
ein  entsprechendes  Operationszimmer  eingerichtet  wurde.  Im  ersten  Be- 
richtsjahre nahm  er  bei  den  750  Kindern  1153  Revisionen,  640  Extrak- 
tionen von  Milchzähnen  und  81  von  bleibenden  Zähnen,  sowie  321 
dringliche  Füllungen  vor. 

1894  hatte  die  Londoner  Schulbehörde  zehn  Zahnärzte  mit  einem 
Gehalt  von  3000  Mk.  angestellt,  die  die  Zähne  der  Schulkinder  regel- 
mäfsig  zu  untersuchen  hatten.  *) 

So  sehen  wir  die  Frage  der  Zahngesundheitspflege  in  den  Schulen 
Englands  seit  den  Jahren  1891  bezw.  1894  durch  Anstellung  von  Schul- 
zahnärzten an  den  Distrikts-  und  sonstigen  Schulen,  wo  eine  Gemeinde 
der  anderen  nachfolgte,  allmählich  eine  praktische  und  erfolgreiche  Lösung 
finden. 

In  den  anderen  europäischen  Ländern  steht  man  aber  noch  am 
Anfang  der  Entwicklung,  die  England  schon  durcheilt  hat. 

Schon  Brunsmann  äufserte  sich  im  zahnärztlichen  Verein  für  Nieder- 
sachsen 1891  inbezug  auf  eine  direkte  Einwirkung  der  Zahnärzte  auf 
die  Zahnhygiene  innerhalb  der  Schulen  nicht  allzu  optimistisch.  Einer- 
seits — meinte  er  — seien  behördliche  Schritte  nicht  zu  erwarten,  an- 
dererseits werde  in  der  Schulzahnarztfrage  mehr  geredet  als  gehandelt 
und  es  sei  fraglich,  ob  sich  Zahnärzte  genug  fänden,  unentgeltliche  Zahn- 
revisionen in  den  Schulen  vorzunehmen.  Man  sei  im  Wollen  grofs, 
anstatt  weniges  thatsächlich  durchzuführen,  z.  B.  durch  Lehrer  und  Bücher 
auf  die  Schüler  zahnhygienisch  einzuwirken. 

In  derselben  Versammlung  berichtete  Eckart,  er  sei  für  das 
Alumnat  des  Klosters  Lokkum  zu  zahnärztlichen  Leistungen  verpflichtet 
worden;  die  Behörden  wollten  infolgedessen  auch  für  Gymnasien  und 
Bürgerschulen  zahnärztliche  Hilfe  in  Anspruch  nehmen. 

1891  begann  auch  Fenchel  mit  seinen  statistischen  Cariesfrequenz- 
untersuchungen  *)  und  betonte  die  Notwendigkeit  der  Einrichtung  staatlich 

*)  Brit.  Journ.  of  Dent.  Science,  XXXVI,  Nr.  617.  2.  X.  93. 

*)  Deutsche  med.  Wochenschrift,  1894.  S.  1152. 

*)  Novemberbeiheft  der  D.  M.  f.  Z.  IX,  1891.  S.  93  ff.  Hygiene  als  Prophy- 
laxis der  üaries. 


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Miszellen. 


subventionierter  zahnärztlicher  Kliniken  in  deutschen  Städten  und  die 
Verbreitung  hygienischer  Belehrungen  — besonders  in  den  Schulen  — , 
die  sich  in  folgende  wesentliche  Punkte  zusammenfassen  lassen: 

1.  Die  Pflege  der  Zähne,  d.  h.  das  Reinigen  mufs  schon  mit  dem 
3.  Jahr  beginnen. 

2.  Milchzähne  müssen  im  Falle  des  Hohlwerdens,  ebenso  wie  die 
Molarzähne,  gefüllt  werden. 

3.  Regelmäfsige  zahnärztliche  Revision  ist  vom  4.  Jahre  ab  not- 
wendig. 

4.  Winke  für  die  Pflege  des  ersten  Molarzahnes.  *) 

5.  Cariöswerden  der  Zähne  kann  durch  tägliches  sorgfältiges  Reinigen 
erheblich  aufgehalten  werden. 

Der  Erfolg  Fenchels  war  eine  zahnärztliche  Poliklinik,  die  der 
Hamburger  zahnärztliche  Verein  im  November  1893  eröffhete.  Dies 
Institut  sollte,  nach  der  Meinung  Fenchels,  den  Behörden  bald  seine 
Notwendigkeit  beweisen ; das  Endziel  müfstc  dann  ein  staatliches  zahn- 
ärztliches Institut  sein,  das  der  allgemeinen  Bevölkerung  gewidmet  wäre. 
Im  Jahre  1894  konnte  Fenchel  denn  auch  auf  dem  Kopenhagcner 
Kongrefs  von  einigen  praktischen  Erfolgen  berichten.  Es  wurde  folgende 
Resolution  von  ihm  vorgeschlagen,  die  als  „autoritative  Richtschnur“  für 
alle  sozialhygienisch  arbeitenden  Zahnärzte  gelten  mag: 

„Der  am  13.  und  14.  August  1894  in  Kopenhagen  tagende  inter- 
nationale zahnärztliche  Kongrefs  ist  der  Ansicht,  dafs  die  Zahncaries  bei 
allen  zivilisierten  Völkern  einen  so  progressiven  Charakter  angenommen 
hat,  dafs  sie  dringende  Gegenmafsregeln,  namentlich  im  Kindesalter,  er- 
heischt. Der  Kongrefs  empfiehlt,  in  allen  zivilisierten  Ländern  Kom- 
missionen zu  bilden,  welche  es  sich  zur  Aufgabe  machen,  die  Zahnver- 
hältnissc  der  betr.  Länder,  womöglich  in  ihren  Beziehungen  zum  ge- 
samten Gesundheitszustand,  statistisch  festzustellen  und  die  betr.  Behörden, 
welchen  die  LTeberwachung  der  Gesundheitspflege  ihrer  Länder  obliegt, 
darauf  aufmerksam  zu  machen,  unter  gleichzeitigem  Hinweis  auf  die  zur 
Bekämpfung  der  Zahncaries  geeigneten  Malsregein.  Als  geeignete  Mafs- 
regeln  zu  diesem  Zwecke  empfiehlt  der  Kongrefs  in  erster  Linie  die 
Aufklärung  des  Volkes  für  rationelle  Zahnpflege  und  Zugänglichmachung 
unentgeltlicher  zahnärztlicher  Hilfe  für  die  Kinder  der  unbemittelten 
Klassen.  Ferner  empfiehlt  der  Kongrefs,  dafs  die  etwaigen  Unter- 
suchungen über  Zahnkrankheiten  in  den  Schulen  womöglich  in  Beziehung 
zu  allgemeinärztlichen  Untersuchungen  von  Schulkindern  stattfinden 
müssen." 

*)  Vgl.  Klave,  „Der  erste  permanente  Mahlzahn  bei  Kindern  im  Alter  von 
6 — 12  Jahren“,  in  D.  M.  f.  7..  1884.  S.  1 — 5:  ferner  Kuhns,  ebda.  XVI,  1808 
S.  316-324. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc.  615 

Ungefähr  seit  derselben  Zeit  beginnt  in  Deutschland  das  Interesse 
für  die  öffentliche  Zahngesundheitspflege,  wenigstens  in  zahnärztlichen 
Kreisen,  lebendiger  zu  werden,  während  die  Behörden  und  Lehrer  sich 
immer  noch  ablehnend  verhielten.  Fenchel  (Hamburg),  Greulich  und 
Berten  (Würzburg),  Kühns  (Hannover)  u.  a.  erfuhren  den  lebhaftesten 
Widerstand.  Lipschitz  (Berlin),  der  in  Berliner  Gemeindeschulen 
statistische  Untersuchungen  vornehmen  wollte,  erhielt  von  der  Schul- 
deputation den  Bescheid,  „eine  solche  Untersuchung  läge  aufserhalb  des 
Interessenkreises  der  Schulverwaltung.“  Rose  meinte  (in  der  38.  Ver- 
sammlung des  zahnärztlichen  Vereins  flir  Niedersachsen  1901):')  „Die 
Stadtverwaltungen  ....  denken  sich  in  die  Sache  nicht  so  hinein  und 
lassen  auch  eventl.  durch  Intriguen  von  seiten  der  Nichtärzte  sich  be- 
einflussen." 

In  den  letzten  Jahren  ist  jedoch  der  Widerstand  gegen  die  selbst- 
losen freiwilligen  zahnhygienischen  Bestrebungen  der  Zahnärzte  etwas  ge- 
brochen. Brunsmann,  Kühns,  Voerckel,  Weber  und  Bartels  wollen  nun, 
dafs  das  Kind  durch  die  Autorität  des  Lehrers  zur  Zahnpflege  veranlafst 
werde;  hierzu  wäre  allerdings,  wie  Röse  bemerkt,  nötig,  zunächst  die 
Lehrer  über  die  Schädlichkeit  und  Gefährlichkeit  der  erkrankten  Zähne 
und  über  den  Nutzen  einer  energischen  Zahnpflege  aufzuklären.  *) 
Die  Lehrer  hätten  dann  die  Zähne  der  Kinder  zu  überwachen,  sie  vor 
Infektionsgefahr  zu  bewahren,  zur  Zahnpflege  anzuleiten,  kurze  diesbezüg- 
liche Aufsätze  anfertigen  zu  lassen  u.  s.  w.  In  die  Schulbücher  der 

Kinder  müfste  ein  Lesestück  über  Zahn-  und  Mundpflege  aufgenommen 
werden.  Die  zahnhygienischen  Bestrebungen  wären  durch  den  An- 
schauungsunterricht, durch  Gewährung  von  kleinen  Prämien  u.  s.  w.  noch 
zu  fordern.  Daneben  wäre  die  Anstellung  von  Schulzahnärzten  natürlich 
eine  Vorausbedingung,  da  selbst  die  gründlichsten  Belehrungen  erkrankte 
Zähne  ja  nicht  heilen  können.  Hand  in  Hand  mit  der  Anstellung  von 
Schulzahnärzten  und  gewissermafsen  zu  ihrer  Krgänzung  müfste  nach  der 
Ansicht  Fenchels  die  Errichtung  von  Polikliniken  gehen,  welch  letztere 
allein  die  unentgeltliche  Behandlung  zahnkranker  Volksschulkinder  und 
der  zahnkranken  unbemittelten  Bevölkerung  überhaupt  ermöglichen 
würden.  Eine  solche  poliklinische  Einrichtung  liefse  sich  vielleicht  als 
zahnärztliche  Station  in  den  städtischen  Krankenhäusern  treffen,  wenn 
sie  nicht  aus  eigenen  Mitteln,  wie  die  gemeinsame  erste  deutsche  Poli- 
klinik des  zahnärztlichen  Vereins  für  Niedersachsen  und  der  Stadt 
Hannover,  errichtet  werden  kann.  Fenchel  (1891),  Rose  (1894)  und 
Kühns  (1896)  waren  die  ersten,  die  die  Einführung  von  Zahnpoli- 
kliniken energisch  wünschten,  die  sie  als  die  sichersten  Hilfsstationen 
ansahen,  solange  die  Schulzahnarztfrage  noch  keine  definitive  günstige 

*)  D.  M.  f.  Z.  XIX.  S.  231 — 39. 

’)  Vgl.  Bartels,  D.  M.  f.  XVII,  1899.  S.  85—90. 


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Miszellen. 


Erledigung  gefunden  hat.  Die  Bestrebungen  hatten  den  Erfolg,  dafs 

Fenchel  endlich  als  Leiter  der  mit  500000  Mk.  Kapital  gegründeten 
Mellinstiftung  in  Hamburg  auserwählt  wurde,  die  völlig  Unbemittelten 
unentgeltlich,  weniger  Bemittelten  gegen  geringe  Entschädigung  zahn- 
ärztliche Hilfe  leistet.  Die  Thätigkeit  wurde  mit  2 Assistenten  be- 
gonnen, raufste  aber  im  folgenden  Jahre,  wegen  des  aufserordentlich  ge- 
stiegenen Bedürfnisses,  bereits  auf  12  Assistenten  verteilt  werden.  Es 
werden  jährlich  1000  armen  Kindern  die  Zähne  in  Ordnung  gebracht 
und  tooo  künstliche  Zähne  unentgeltlich  eingesetzt  Da  es  in  Hamburg 
aber  mehr  als  50  000  arme  Schulkinder  giebt,  so  ist  dennoch  staatliche 
Hilfe  erforderlich,  wenn  eine  wirkliche  Besserung  erzielt  werden  soll. ') 

Rose  wurde  der  Leiter  der  zweiten  wohlthätigen  Stiftung  in 
Deutschland,  der  seitens  des  Kommerzienrats  Lingner  1900  in  Dresden 
errichteten  „Wissenschaftlichen  Zentralstelle  für  Zahnhygiene“  und  der 
damit  verbundenen  zahnärztlichen  Poliklinik  zur  ausschliefslichen  Be- 
handlung zahnkranker  Schulkinder,  *)  die  teils  ganz  unentgeltlich  (Volks- 
schulkinder), teils  gegen  die  übliche  Taxe  der  zahnärztlichen  Institute 
(Kinder  höherer  Schulen)  behandelt  werden.  Der  festangestellte  Direktor 
darf  keine  Privatpraxis  betreiben ; Zahnärzte  sollen  bei  selbständigen 
zahnhygienischen  Forschungen  unterstützt,  die  Volksbelehrung  und  Schul- 
zahnarztbewegung soll  gefördert  werden.  Röse  bildete  mit  Professor 
Miller  (Berlin)  und  Dr.  Cohn  unter  Zustimmung  aller  deutschen  zahn- 
ärztlichen Vereine  ein  Komitee  zur  wissenschaftlichen  Bearbeitung  aller 
statistischen  Untersuchungen,  die  in  der  Dresdner  wissenschaftlichen 
Zentralstelle  ausgeführt  werden  sollten. 

Ein  weiterer  Erfolg  ist,  dafs  die  Schuldeputation  Frankfurt  a.  M. 
1 1 Zahnärzten  des  dortigen  Zahnärzteverbandes  gleichfalls  die  Zahn- 
untersuchung der  Volksschulkinder  genehmigte.  a) 

Der  badische  Verein  unternahm  1894  mit  Genehmigung  des 
badischen  Oberschulrats  statistische  Feststellungen  über  Cariesfrequenz.  *) 
Eine  Broschüre  Roses,  „Die  Zahnpflege  in  den  Schulen",  wurde  in  Baden 
und  Eisafs-Lothringen  in  jeder  Schulklasse  zur  Instruktion  der  Lehrer 
und  zur  Belehrung  der  Schüler  ausgelegt.  s) 

Die  Untersuchungen  der  Zahnärzte  von  Schleswig-Holstein 
und  die  Berichterstattung  darüber  an  die  zuständige  Regierung  am 
1.  April  1900  hatten  gleichfalls  zur  Folge,  dafs  sämtlichen  königlichen 

*)  Vgl.  Bericht  von  Groet- Bremen  über  die  8.  Sektion  des  Pariser  Kon* 
^resses.  D.  M.  f.  Z.  XVIII,  1900.  S 515/16. 

*)  D.  M.  f.  Z.  XVIII,  1900.  S.  575/76. 

*)  D.  M.  f.  Z.  XIX,  1891.  S.  231/36  u.  S.  326. 

4)  Zahnärztl.  Rundschau,  1894. 
a)  ebda.  1895.  Nr.  149. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc. 


Schulvisitatoren  und  städtischen  Schulbehörden  des  schleswigschen  Re- 
gierungsbezirks, sowie  den  Kreisschulinspektoren  von  Hadersleben,  Apen- 
rade,  Sonderburg,  Tondem  und  Möpeltondem  ein  Erlafs  zuging,  in  dem 
seitens  der  Regierung  die  dringendste  Notwendigkeit  ausgesprochen 
wurde,  bei  den  Schülern  auf  eine  rationelle  Zahn-  und  Mundpflege  zu 
achten  und  in  prophylaktischer  Beziehung  auf  sie  einzuwirken.  *) 

Demnächst  übernahmen  in  Altona  6 Zahnärzte  die  unentgeltliche 
Behandlung  der  Volksschulkinder,  die  1901  an  1049  Kindern  1050 
Extraktionen  und  50  Füllungen  Vornahmen.  -) 

Die  Darmstädter  Bürgermeisterei  sandte  1901  auf  Veranlassung 
-der  dortigen  Schulärzte  an  die  Eltern  aller  Schulkinder  eine  gedmekte 
Anweisung,  welche  Belehrungen  über  eine  rationelle  Mund-  und  Zahn- 
pflege enthielt,  die  zu  befolgen  die  Eltern  ein  drin  glichst  ermahnt 
-wurden. 3)  Diesem  Vorgehen  der  Schulärzte  folgte  das  der  dortigen 
Zahnärzte.  Aus  der  Erwägung  heraus,  „dafs  Minderbemittelte  sehr  oft 
-die  unentgeltliche  zahnärztliche  Behandlung  in  der  Privatpraxis  als  ehr- 
verletzendes Almosen  ansähen  und  gerade  die  Volksschulkinder  so 
•enorme  Cariesfrequenz  hätten,“ 4)  begründete  der  Verein  hessischer 
Zahnärzte  unter  bedeutender  finanzieller  Unterstützung  des  Professors 
Witzei  nach  dem  Vorbilde  Jessens  in  Strafsburg  (s.  u.)  eine  eigene 
Volks-  bezw.  Schulzahnklinik,  deren  Förderung  neben  der  einmütigen 
Opferwilligkeit  des  Vereins  und  der  unentgeltlichen  Dienstleistung 
•6  Darmstädter  Zahnärzte,  Regierung  und  Stadtverwaltung  betrieben 
hatten. 

ln  Pissen  hat  der  verstorbene  Alfred  Krupp  eine  Heilstätte  für 
■die  Zahncaries  gestiftet,  deren  Leitung  Professor  Witzei  übernehmen  sollte 
und  die  allen  Angestellten  der  P'irma,  sowie  ihren  Familien  unentgelt- 
liche Zahnbehandlung  gewährt. 5) 

Ob  in  Berlin  der  beabsichtigte  Anfang  wirklich  gemacht  ist  und 
die  „Berliner  zahnärztliche  Poliklinik“  von  4 Berliner  Zahnärzten  sich 
thatsächlich  und  mit  Erfolg  in  den  Dienst  der  guten  Sache  gestellt  und 
die  zahnärztliche  Behandlung  für  zwei  Gemeindeschulen  übernommen 
hat.  ist  z.  Zt.  nicht  feststellbar. 

In  der  Charlottenburger  Stadtverordnetenversammlung  fiel 
jüngst  eine  Anregung,  neben  12  angestellten  Schulärzten  für  1000  Mk. 
einen  Schulzahnarzt  anzustellen,  auf  gänzlich  unfruchtbaren  Boden. 

’)  Bericht  über  die  26.  Jahresvers.  (Juni  1900)  zu  Lübeck.  In  I ).  M.  f.  /.. 
XVIII,  1900.  S.  454. 

*)  Jessen  bei  der  Eröffnung  der  Darmstädter  Schulzahnklinik.  Odontologischc 
Blätter  VII,  1902/1903.  Nr.  18.  S.  364. 

’)  Odontologischc  Blätter  VI,  190t  1902,  Nr.  14.  S.  255. 

4)  Odontol.  Blätter  VII,  1902  03.  Nr.  18.  S.  361. 

4)  Odontol.  Blätter  15.  XII.  1902.  S.  363,  371. 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  4° 


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6i8 


Miszellen. 


Die  Berliner  Armendirektion  hatte  schon  vor  mehr  als  zwanzig 
Jahren  für  das  grofse  „Friedrichstädtische  Waisenhaus“  einen  Zahnarzt 
angestellt  (I)r.  Ritter).  Während  seines  ersten  Dienstjahres  hat  er  bei 
83  Mädchen  243  Füllungen  in  bleibenden  Zähnen  gelegt  und  65  Zahn- 
steinreinigungen vorgenommen. 

In  Dresden  hat  Zahnarzt  Toerger  in  den  beiden  städtischen 
Kinderanstalter.  allmonatlich  zahnärztliche  Untersuchung  und  Behandlung 
der  Kinder  vorzunehmen.  Er  ist  ferner  Schulzahnarzt  an  der  Ehrlichschen 
Schule,  deren  50  Internatskinder  er  jährlich  zweimal  in  seiner  Praxis 
behandelt,  während  er  die  200  gesunden  Schulkinder  einmal  jährlich 
untersucht  und  über  Mund-  und  Zahnpflege  belehrt.  Endlich  ist  er 
auch  Schulzahnarzt  im  Dresdener  Freimaurerinstitut  mit  230  Internisten. 
Seine  private  schulzahnärztliche  Thätigkeit  fällt  jedoch  nicht  unter  den 
Begriff  des  kommunalen  Schulzahnarztes. 

Im  Centralwaisenhause  zu  Ems  soll  F’rev  verhältnismäfsig  günstige 
Erfolge  in  regelmäfsiger  zahnärztlicher  Ueberwachung  von  allerdings  nur 
wenigen  Zöglingen  aufzuweisen  gehabt  haben. 

In  München  ist  Kallhardt  seit  1898  seitens  des  Kultusministeriums 
in  der  „Zentralwerkstatt  zur  Erziehung  kriippelhafter  Kinder  angestellt, 
wo  er  1900  1901  31  Zahnreinigungen,  78  Extraktionen,  449  Füllungen 
an  einigen  60.  Kindern  vomahm. 

Die  unbedingt  gröfsten  Erfolge  auf  dem  Gebiete  der  Schulzahn- 
arztfrage hat  bisher  jedoch  der  Strafsburger  Privatdozent  Dr.  Jessen  er- 
zielt. „Eine  Hebung  der  Volksgesundheit  durch  Besserung  der  Zahn- 
verhältnisse kann  nur  in  der  Schule  erstrebt  und  erreicht  werden“,  sagt 
Jessen  in  seinem  Vortrage : „Zahnhygienische  Forderungen“; ')  „städtische 
Schulbehörden  und  staatliche  Unterrichtsverwaltung  müssen  Interesse  be- 
kommen, die  verständnislose,  wenig  einsichtige  Volksmasse  aufgeklärt 
werden.  Dem  Mittelstand,  und  besonders  den  Arbeitern  fehlt  auch  die 
nötige  Zeit,  Geld  und  guter  Wille  zu  gesundheitlich  ausreichender 
Selbsthilfe.  Da  mufs  die  Schule  durch  Schulärzte  und  Schulzahnärzte 
nachhelfcn.  Die  Kosten  sind  klein  im  Vergleich  zu  ihrem  Nutzen.“ 

„In  einzelnen  Städten  ist  dies  Ziel  erreicht,  unter  anderem  auch  in 
Strafsburg,  wo  alle  Volksschulkinder,  16000  an  der  Zahl,  alljährlich 
zahnärztlich  untersucht  werden  sollen  und  auch  für  ihre  Behandlung  ge- 
sorgt ist.  Die  übrige  Bevölkerung  der  Stadt  wird  über  die  Bedeutung 
der  Zahnpflege  durch  kurze  Regeln  darüber  aufgeklärt,  welche  jedes 
Schulkind  auf  seiner  mit  Gebifsschema  und  ßestelivermerk  (zur  Behand- 
lung) versehene  Untersuchungskarte  mit  nach  Hause  bringt.  Diese 
Regeln  erhält  auch  jeder  Patient  von  Jessens  Universitätspoliklinik  mit 
nach  Hause.  Das  mufs  die  Zahnpflege  verbreiten  und  die  Volks- 
gesundheit fördern.“ 

*)  D.  M.  f.  XIX,  1901.  S.  211 — 218. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc.  619 

So  hat  denn  in  28  Semestern  vom  Winter  1888  bis  einschliefslich 
Sommer  1901  Jessen  64  Zahnärzte  und  285  Mediziner  als  Schüler  ge- 
habt, die  unter  seiner  Leitung  (seit  1899  gesellte  sich  noch  die  Poli- 
klinik für  Zahn-  und  Mundkrankheiten  des  Privatdozenten  Dr.  Römer 
hinzu)  67599  Patienten  behandelten,  bei  denen  insgesamt  45076  Ex- 
traktionen vorgenommen  und  36  568  Füllungen  gemacht  wurden. 

Die  Genehmigung  zu  Schulkinderuntersuchungen  hatte  die  Strafs- 
burger städtische  Schulbehörde  in  der  Mitte  der  neunziger  Jahre  ge- 
geben, die  kostenlose  Untersuchung  und  Behandlung  Jessen  aus  freien 
Stücken  übernommen.  „Gerade  die  völlig  unentgeltliche  Behandlung, 
auch  ohne  Erstattung  der  Materialkosten,  ist  das  einzige  Mittel,  um  die 
Kinder  der  Arbeiter  zur  Zahnpflege  zu  erziehen.“  *) 

Es  fanden  denn  alljährlich  zahnärztliche  L'ntersuchungen  der  Schul- 
kinder statt.  Der  Andrang  wurde  aber  endlich  so  grofs  (es  fanden  sich 
zuweilen  60  Kinder  in  einer  Stunde  ein),  dafs  es  an  Zeit,  Raunt  und 
Arbeitskräften  gebrach,  so  dafs  Jessen  der  städtischen  Behörde  die  bau- 
liche Veränderung  der  bisherigen  Zahnpoliklinik  vorschlug  und  ihr 
nahelegte,  einen  städtischen  Schulzahnarzt  anzustellen  und  die  erforder- 
lichen Instrumente  u.  s.  w.  anzuschaflfen.  Diese  Vorschläge  billigte  der 
Gemeinderat. 

Die  amtliche  Verfügung  der  Untersuchungen  durch  den  Oberschul- 
rat erfolgte  1901.  Nach  jahrelangen  Bemühungen  Jessens  gelang  es  ihm 
endlich,  die  erste  städtische  Schulzahnklinik  mit  besoldetem  Stadtschul- 
zahnarzt (Assistent  Jessens),  der  seine  Zeit  ausschliefslich  den  Schul- 
kinderuntersuchungen zu  widmen  hat,  am  iS.  Oktober  1902  ins  Leben 
zu  rufen. 

Die  Räume  sind  von  der  Universität  zur  Verfügung  gestellt  worden, 
während  die  Kosten  der  baulichen  Veränderungen  und  der  Einrichtung 
die  Stadt  Strafsburg  bestritt.  Sie  beliefen  sich  auf  2 500  Mk.  Das 
Jahresgehalt  des  Assistenten,  der  ein  in  Deutschland  approbierter  Zahn- 
arzt sein  und  sich  jeweils  für  zehn  Monate  verpflichten  mufs,  beträgt 
2000  Mk.,  die  laufenden  Ausgaben  für  Instandhaltung  der  Instrumente, 
für  Medikamente,  Materialien,  Bedienung,  Heizung,  Beleuchtung,  Gas  und 
Wasser  betragen  jährlich  750  Mk.  und  setzen  sich  folgendermafsen  zu- 
sammen : Heizung,  Beleuchtung  und  Wasser  1 50  Mk.,  Bedienung  monat- 
lich 15  Mk.  =180  Mk.,  so  dafs  für  die  Betriebskosten  420  Mk.  übrig 
bleiben.  Als  Direktor  der  städtischen  Schulzahnklinik  ist  Jessen  er- 
nannt und  damit  städtischer  Beamter,  aber  ohne  Gehalt.  Die  jährlichen 
Ausgaben  für  die  zahnärztliche  Untersuchung  und  Behandlung  von 


*)  Jessen,  Denkschrift  für  die  Errichtung  eines  rahnärztl.  Instituts  an  der 
Kaiser -Wilhelms  - Universität  Strafsburg.  Berlin  1902.  S.  13. 


40* 


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620 


Miszellen. 


16000  Volksschulkindern  in  Strafsburg  belaufen  sich  demnach  auf 
2750  Mk.  *) 

Eine  ähnliche  Summe  kann  und  mufs  jede  Stadt  Air  eine  so 
wichtige  Sache  ausgeben,  da  es  sich  um  das  Wohl  der  Bevölkerung, 
um  Gesundheit  des  heranwachsenden  Geschlechtes  handelt.  (Jessen.) 

Mit  Jessen  bin  ich  der  Ansicht,  dafs  die  approbierten  Zahnärzte  in 
allen  Städten  zunächst  die  Erlaubnis  der  Behörden  nachsuchen  müfsten, 
unentgeltliche  Zahnuntersuchungen  der  Volksschulkinder  vornehmen 
zu  dürfen.  Genaue  Statistiken  müfsten  die  Lehrer  fuhren.  Zahn- 
hygienische Flugschriften  sollten  verteilt  werden.  *)  Untersuchungskarten, 
die  ein  Gebifsschema  und  folgende  kurze  Regeln  und  Belehrungen  über 
Zahnpflege  enthalten,  sollten  zur  Verwendung  kommen. 

1.  Mit  2*/j  Jahren  hat  jedes  Kind  20  Zähne. 

2.  Im  6.  Jahre  erscheint  der  erste  bleibende  Backenzahn. 

3.  Von  7 — 14  Jahren  dauert  der  Zahnwechsel. 

4.  Im  12.  Jahre  erscheint  der  zweite  bleibende  Backzahn,  im  18. 
bis  40.  Jahre  der  Weisheitszahn. 

5.  Gesunde  Zähne  sind  für  die  Verdauung  und  die  Gesundheit  des 
ganzen  Körpers  unentbehrlich. 

6.  Milchzähne  haben  für  das  Kind  denselben  Wert,  wie  die  blei- 
benden Zähne  für  den  Erwachsenen. 

7.  Von  Kindheit  an  müssen  die  Zähne  täglich  zweimal  (morgens 
und  abends)  kräftig  gebürstet  werden. 

8.  Die  Zähne  sollen  alljährlich  vom  Zahnarzt  untersucht  werden. 

9.  Sobald  sie  erkranken,  müssen  sie  gefüllt  werden,  ehe  Schmerzen 
auftreten. 

10.  Gesunde  Milchzähne  sind  die  Vorbedingung  für  gute  bleibende 
Zähne. 

11.  Um  die  Mundhöhle  gesund  zu  erhalten,  müssen  alle  Wurzeln,  die 
nicht  gefüllt  werden  können,  ausgezogen  werden. 

1 2.  Die  eigenen  Zähne  müssen  erhalten  werden,  weil  künstliche  nur 
ein  Notbehelf  sind. 

Fassen  wir  alle  diese  Mitteilungen  zusammen,  so  ergiebt  das 
Resultat,  dafs  bis  jetzt  gerade  ein  Zahnarzt  als  Gemeinschulzahnarzt 
angestellt  ist,  also  kommunaler  Medizinalbeamter  ist.  Man  hat  nun  oft 
die  F'rage  aufgeworfen,  ob  die  Schule,  trotz  der  erschreckend  häufigen 

’)  Jessen,  ,,Dic  städt.  Schulzahnklinik  in  Strafsburg  i.  E.“  D.  M.  f.  Z.  XXI. 
10  S.  544. 

a)  Römers  Schrift  ,,Dic  Bedeutung  der  Zahnpflege  tür  das  Wohlbefinden  des 
ganzen  Menschen“  wurde  in  6000  Exemplaren  dem  Strafsburger  Oberschulrat  zur 
Verteilung  an  die  Schulen  überwiesen.  Vgl.  Jessen,  „I )ic  Aufklärung  des  Volkes 
über  die  Bedeutung  der  Zahnpflege  Air  die  Gesundheit“.  Berlin  1900. 


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H.  Kamme!,  Die  progressive  Zahnearies  in  Schule  und  Heer  etc.  62 1 

Zahncaries,  überhaupt  die  Pflicht  habe,  sich  um  die  Zahnhygiene  zu 
kümmern  und  man  hat  diese  Frage,  selbst  zahnärztlicherseits,  nicht 
immer  bejaht.  Die  zahnärztliche  Behandlung  von  Kindern  habe  mit  der 
Schule  doch  eigentlich  nichts  zu  thun,  bemerkte  Lipschitz,  der  alle  dies- 
bezüglichen Bestrebungen  überhaupt  für  verfehlt  hält.  *)  Vor  allem  sei 
die  Zahncaris  keine  Schulkrankheit  wie  Kurzsichtigkeit  und  Rückgrats- 
verkrümmung, und  deshalb  habe  die  Schule  auch  nicht  die  Pflicht,  für 
die  Behandlung  zahnkranker  Kinder  zu  sorgen,  abgesehen  davon,  dafs  in 
der  Schule  die  zahnärztliche  Hilfe  vielfach  schon  zu  spät  komme:  sie 
müfste  meist  schon  früher  einsetzen.  Die  zahnärztliche  Untersuchung 
von  Schulkindern  dürfe  nicht  Selbstzweck  sein ; sie  habe  nur  die  Auf- 
gabe, den  Nachweis  zu  erbringen,  dafs  die  Zahncaries  eine  allgemeine 
Volkskrankheit  ist,  die  schon  das  Gebifs  jugendlicher  Individuen  in  hohem 
Mafse  angreife  bezw.  zerstöre.  Dieser  Beweis  sei  durch  die  bisher 
stattgehabten  Untersuchungen  aber  bereits  eklatant  geliefert.  Nunmehr 
sei  es  viel  wichtiger,  die  städtischen  Behörden  der  gröfseren  Städte  zur 
Gründung  zahnärztlicher  Anstalten  anzuhalten,  in  welchen  die  Kinder 
der  Unbemittelten  vollständige  und  unentgeltliche  zahnärztliche  Hilfe  er- 
halten; ferner  in  Krankenhäusern,  in  welchen  bereits  durch  Extrahieren 
von  Zähnen  teilweise  zahnärztliche  Hilfe  geleistet  wird,  diese  auf  die 
Konservierung  von  Zähnen  auszudehnen  und  endlich  in  Städten,  in 
welchen  weder  eins  noch  das  andere  durchgeführt  werden  kann,  zur  Aus- 
übung der  zahnärztlichen  Funktion  bei  unbemittelten  Kindern  Armen- 
zahnärzte anzustellen. 

Die  Behauptung  Lipschitz’,  dafs  die  Zahncaries  keine  Schulkrankheit 
sei,  ist  nun  allerdings  zutreffend,  sie  beweist  aber  nichts  gegen  die  Be- 
deutung der  Erkrankung  für  die  Schule,  die  ja  durch  die  grofse  An- 
steckungsgefahr eo  ipso  gegeben  ist.  „Die  Erkrankungen  des  Organismus, 
sagt  Leubuscher,  *)  die  die  geistige  und  körperliche  Leistungsfähigkeit 
des  Kindes  herabsetzen,  müssen  für  die  Beurteilung  seitens  des  Lehrers, 
fiir  die  Ansprüche,  die  er  an  das  Fassungsvermögen  des  Kindes  stellen 
darf,  von  grofser,  ausschlaggebender  Bedeutung  sein.“  Insofern  gehört 
eben  auch  die  Zahnhygiene  zur  allgemeinen  Körperhygiene,  deren  Pflege 
ja  ebenfalls  der  Schule  obliegt  Zahnhygiene  ohne  zahnärztliche  Be- 
handlung ist  jedoch  ein  Nonsens.  Der  Zahnhygiene  bedürfen,  wie 
unsere  statistischen  Zahlen  bewiesen,  etwa  nur  5 — 10  Proz.,  der  zahn- 
ärztlichen Behandlung  sind  dagegen  95 — 90  Proz.  der  Schüler  benötigt. 
Und  schliefslich  hält  ja  auch  Lipschitz  — wie  wir  — die  Anstellung 
von  Zahnärzten,  die  Errichtung  zahnärztlicher  Anstalten  u.  s.  w.  für  eine 

')  12.  intern,  mediz.  Kongreß  zu  Moskau.  August  1897.  Sektion  für  Odon- 
tologie. 

*)  Staatliche  Schulärzte  (Sammlung  von  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der 
Pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie  V,  2).  Berlin  1902.  S.  5. 


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Ö22 


Miszellen. 


Notwendigkeit.  Ob  diese  anzustellenden  Zahnärzte  nun  „Armenzahn- 
ärzte"  oder  „Schulzahnärzte",  und  ob  diese  zu  errichtenden  Anstalten 
Polikliniken"  oder  wie  auch  immer  heifsen,  die  Hauptsache  ist  ja  doch, 
dafs  zur  Beseitigung  der  Zahncaries  seitens  der  Behörden  und  der  Zahn- 
ärzte alle  verfügbaren  Mittel  und  Kräfte  aufgewendet  werden.  Selbst 
in  den  Städten  mit  mehr  als  tooooo  Kinwohnem,  die  ja  auch  in  der 
Anstellung  von  Schulärzten  für  die  anderen  vorbildlich  zu  werden  be- 
ginnen — t 7 von  33  haben  durchgeführte  Schularzteinrichtung,  5 haben 
sie  beschlossen  oder  vorbereitet1)  — ist  trotz  der  Menge  vorhandener 
Zahnärzte  die  Möglichkeit  kostenloser  zahnärztlicher  Behandlung  für  eine 
grofse  Anzahl  von  Schulkindern  nicht  vorhanden,  obwohl  sie  doch,  wie 
Altona,  Hamburg,  Strafsburg,  Dannstadt  beweisen,  durch  die  Zahn- 
ärzte geschaffen  werden  kann  und  ntufs,  wenn  den  Schul- 
behörden die  Notwendigkeit  der  Anstellung  von  Schulzahnärzten  be- 
wiesen werden  soll.  Man  suche  die  Schulkinder  unentgelt- 
lich behandeln  zu  dürfen,  und  der  Unterschied  zwischen  dem 
zahngesunden  bezwf.  zahnbehandelten  und  zahnkranken  Kinde  wird  auf 
Schulbehörden,  Aerzte,  Lehrer  u.  s.  w.  bald  viel  stärkeren  Eindruck 
machen  als  jedwede  theoretische  Belehrung  und  thatenlose  Aufklarungs- 
predigt. 

Es  ist  schon  viel,  dafs  man  seitens  der  Behörden  der  Zahnpflege 
überhaupt  irgend  welchen  Wert  beimifst.  So  ordnet  der  Erlafs  des 
königlich  preufsischen  Unterrichtsministers  vom  31.  Juli  1880  in  den 
Alumnaten  eine  regelmäfsige  Zahnpflege  an;*)  die  preufsische  Regierung 
hält  neuerdings  (1901)  die  Lehrer  an,  bei  den  Seit ülem  auf  eine  gründ- 
iche  Zahn-  und  Mundpflege  zu  achten.  s)  Die  Zöglinge  des  königlichen 
Studienseminars  in  Aschaflenburg  werden  auf  Anordnung  der  Regierung 
jährlich  dreimal  zahnärztlich  untersucht. 4) 

All  das  darf  freilich  kaum  ein  Anfang  genannt 
werden.  LTm  der  grofsen  Volkskrankheit  Einhalt 
zu  gebieten,  dazu  bedarf  es  eben  derer,  die  sie  zu  be- 
siegen verstehen,  der  Zahnärzte  — aber  ihre  An- 
stellung an  Schulen  als  Kommunalbeamte  wird  noch 
nicht  so  bald  v erwirklicht  werden.  Dann  zeige  der 


')  Hart  mann,  Stellungnahme  der  Stadtverwaltungen  zur  Schulgcsundhcils- 
pflege.  Vcrhandl.  der  3.  Jabrcsvers.  des  Allg.  deutschen  Vereins  für  Sehulgesund- 
heitspflege  ;Krgänzungshefl  zu  „Gesunde  Jugend".  111.  Bd.).  Leipzig  1 002. 

’)  Handbuch  der  Schulhygiene  von  Burgerstein  und  Netolitzky.  Wien. 
VII,  I des  Handbuchs  der  Hygiene  von  Wcyl.  Jena  1895.  S.  387. 

Ä)  Kitter,  Hechte,  l'Hichtcn  und  Kunstfchlcr  in  der  Zahnheilkunde.  Berbn 
1903.  S.  297. 

*)  Deutsche  zahnär/.Ü.  Wochenschrift,  1901,  Nr.  154. 


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II.  Kümnscl,  l)ic  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc. 


Zahnarzt,  dafs  er  in  selbstlosem  sozialem  Bemühen 
zunächst  nur  auf  das  Volkswohl  bedacht  ist.  Er 
weifs,  dafs  er  die  volkswirtschaftliche  Kraft  hebt, 
wenn  er  der  Zahncaries  erfolgreich  zu  Leibe  rückt 
und  er  thue  dies,  indem  er  Opfer  nicht  scheut  und 
das  Kigeninteresse  hin  tan  setzt.  Seine  Bemühungen 
werden  am  Ende  auch  ganz  naturgemüfs  Früchte 
tragen. 

Man  könnte  die  Frage  aufwerfen,  ob  denn  die  Armenpflege  hier 
nicht  eingreifen  müsse  : Die  Armenpflegeverwaltuug  müfste  sich  sagen, 

dafs  körperliche  und  geistige  Gesundheit  und  Leistungsfähigkeit,  welche 
die  besten  Vorheugungsmittel  gegenüber  der  Verarmung  sind,  auch  durch 
schlechte  Zahne  beeinträchtigt  werden.  Deshalb  müfste  ihr  besonders 
viel  daran  gelegen  sein,  in  den  Kreisen  der  Minderbemittelten  für  zahn- 
hygienische Aufklärung  und  frühzeitige  Zahngesundung  zu  sorgen.  Bei 
solcher  tieferen  Erfassung  ihrer  gesundheitlichen  Prophylaxe  der  Ver- 
armung würde  sie  einmal  die  angestrebte  Anstellung  von  Schulzahn- 
ärzten und  die  Errichtung  von  Schulzahn-  bezw.  Polikliniken  zu  betreil>cn 
haben,  die  ja  dann  vor  allem  den  Kindern  der  ärmeren  Volkskreise  zu 
gute  kämen,  sodann  für  zahnhygienische  Mafsnahmen  bei  den  noch  nicht 
schulpflichtigen  Kindern  Ortsarmer  Vorkehrungen  zu  treffen  haben. l) 
Von  konservierender  moderner  zahnärztlicher  Behandlung  ist  jedoch  nir- 
gends die  Rede ; Extraktionen  besorgt  auf  Zuweisung  der  Armenärzte 
jeder  Barbier,  Gebisse  fertigen  nicht  nur  mittelmäfsige  Techniker,  sondern 
auch  geschäftliche  Zahninstitute  an.  Letztere  werden  in  Berlin  über- 
haupt nur  in  dringenden  Fallen  auf  das  Gutachten  des  Armenarztes  durch 
Vermittlung  des  Armenkommissionsvorstchers  zu  Krankenkassenpreisen 
gewährt.  In  Berlin  sind  ferner  zur  unentgeltlichen  Behandlung  von 
Zahn-  und  Mundkrankheiten  zwei  Zahnärzte  zugelassen.  In  Charlotten- 
burg hatte  die  Armenkommission  in  ihrer  Geschäftsanweisung  vom 
Jahre  1901  zahn-  oder  gar  zahnärztliche  Behandlung  gar  nicht  vorge- 
sehen; erst  für  den  Stadthaushaltsetat  1903  1904  sind  dem  Magistrats- 
antrage  gemäfs  3000  Mk.  für  zahnärztliche  Behandlung  Ortsarmer  be- 
willigt worden.  *)  Was  Hamburg  betrifft,  so  teilen  die  „Blätter  für  das 
Hamburger  Armenwesen" 3)  in  einem  Rundschreiben  des  verwaltenden 


b Ritter  hat  Armenzahnärzte  zu  regelmäfsigcr  Untersuchung  der  fraglichen 
Kinder  ev.  in  deren  Itehausung,  wo  auch  exklusive  der  Füllungen,  die  ltehandtung 
slatttindcn  könnte,  vorgeschlagen. 

*)  Amtliche  Nachrichten  d.  Charlotlenb.  Armen  Verwaltung  IV,  9.  Januar  1901. 
S.  318.  Vgl.  auch  „Neue  Zeit",  Charl.  lägl.  Zeitung  (Ende  März  bezw.  Anfang 
April  1903). 

*)  Vgl.  Zahnärztl.  Rundschau,  1902.  Nr.  328. 


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624 


Miszellen. 


Vorstehers  für  das  Medizinalwesen  der  Allgemeinen  Armenanstalt  die 
Grundsätze  mit,  nach  welchen  die  der  Armenanstalt  von  seiten  der 
Mellinstiftung  jährlich  unentgeltlich  bewilligten  5oo  Zähne  und  weitere 
a 1,50  Mk.  anzufertigenden  Zähne  den  Ortsarmen  zu  gute  kommen  sollen, 
und  zwar  nur  auf  Empfehlung  der  Armenärzte  dauernd  unterstützten 
Personen,  die  behufs  besserer  Ernährung  ein  künstliches  Gebifs  unum- 
gänglich nötig  haben. 

Was  die  Armenverwaltungen  für  die  Zahnpflege  der  Waisenkinder 
bisher  gethan  haben,  wurde  oben  bereits  mitgeteilt.  Es  waren  nur 
Berlin,  Dresden,  München  und  Ems,  die  sich  diesbezüglich  l>ethätigt 
hatten. 

Neben  der  Armenverwaltung  sollte  aber  auch  seitens  der  Kranken- 
häuser, soweit  sie  städtische  Institutionen  sind,  für  eine  städtische 
Ausübung  der  Zahnhygiene  gesorgt  werden.  Die  einzige  Anstalt,  in  der 
bis  jetzt  die  zahnärztliche  Behandlung  eingeführt  ist,  ist  die  „Volksheil- 
stätte (für  Lungenkranke)  am  Grabowsee“  bei  Oranienburg.  ') 

Sollte  es  aber  — nach  unseren  Ausführungen  über  die  Beziehungen 
zwischen  Zahnverderbnis  einerseits  und  sonstigen  örtlichen  wie  allge- 
meinen Erkrankungen,  insbesondere  Infektionskrankheiten  andererseits, 
deren  Begünstigung  durch  Mundschleimhautentzündungen,  vor  allem  aber 
auch  über  Magenkrankheiten  nach  Zahn  Verderbnis:  kurz  im  Hinblick  auf 
die  Bedeutung  eines  gesunden  Gebisses  für  Gesundung  und  Gesundheit 
jedes  Menschen  — nicht  Pflicht  der  ärztlichen  Leiter  der  allgemeinen 
Krankenanstalten  sein,  die  Folgerungen  daraus  zu  ziehen  und  sich  der 
ständigen  Hilfe  eines  zahnärztlichen  Assistenten  zu  versichern : Von 

einer  entsprechenden  praktischen  Bethätigung  ist  aber , trotz  der 
Sympathien,  die  die  Krankenhaus-Direktoren  der  Idee  entgegenbringen, 
keine  Rede,  selbst  dort  nicht,  wo  zwei  ärztliche  Autoritäten  leitende 
Stellungen  einnehmen,  Ewald,  als  Direktor  der  inneren  Abteilung  des 
Augustakrankenhauses  in  Berlin,  und  G r a w i t z , als  Oberarzt  derselben 
in  Charlottenburg,  denen  wir  aufserordentlich  wichtige  Forschungen  über 
den  Zusammenhang  zwischen  Zahncaries  und  schweren  chronischen  All- 
gemeinkrankheiten verdanken. 

Wie  Ritter  aus  bereits  erwähnten  Gründen  verlangt,  dafs  kein 
Kinderkrankenhaus  ohne  besondere  Vorsorge  für  zahnärztliche 
Ueberwachung  errichtet  werden  sollte,  dürfen  wir  mit  Delbanco  in  Ham- 
burg 2)  gewifs  erwarten,  dafs  in  nicht  zu  ferner  Zeit  in  allen  a 1 1 g e - 

*)  Vgl.  hierzu:  H.  Hümmel,  „Zahnärzte  für  Krankenanstalten“.  Journal  f. 
Zahnhcilk.  Berlin  XVIII,  17.  S.  162  163. 

*)  Nach  Ritter  auch  die  Heilstätte  Görbcrsdorf,  wo  I)r.  J o n a s - Breslau 
zahnärztlich  behandelt  — Als  staatlicher  Irrenzahnarzt  entwickelt  Köhler  (Darmsladt) 
seit  langen  Jahren  eine  segensreiche  Thätigkeit.  Vgl.  D.  Z.  W.  VI.  30,  S.  442. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc.  625 

meinen  Krankenanstalten  (die  besondere  Bedeutung  der  opera- 
tiven und  technischen  Zahnheilkunde  für  die  Chirurgie  des  Mundes  u.  s.  w., 
also  für  die  chirurgischen  Spezialanstalten,  gehört  nicht  hierher)  der 
Zahnarzt  herangezogen  werde.  „Kein  Arzt  wird  heute  ein  Magenleiden 
in  Behandlung  nehmen  — sagt  Delbanco  — ohne  gleichzeitig  Sorge  zu 
tragen,  dafs  die  kranken  Zähne  entfernt  bezw.  ausgebessert  werden  . . . 
Sind  die  Keime  der  Zahncaries  nicht  die  Ursache  des  Magenkatarrhs,  so 
fordern  sie  ihn  doch.  Der  Circulus  vitiosus  wird  geschlossen,  indem 
der  Magenkatarrh  die  Hinfälligkeit  und  damit  die  Verjauchung  der  Zähne 
beschleunigt : was  ist  das  für  eine  hygienische  Fürsorge,  die  dem,  was 
den  Mund  passiert,  erwiesen  wird,  dem  Munde  selbst  aber  nicht  ge- 
schieht?“ Aber  abgesehen  von  dem  Zusammenhang  zwischen  Zahncaries 
und  Magen-  bezw.  anderen  Krankheiten,  spielt  doch  in  allen  Kranken- 
häusern die  Ernährung  eine  sehr  wichtige  Rolle , die  ja  bei 
schlechten  Zahnverhältnissen  nur  eine  ungenügende  oder  sehr  mangel- 
hafte sein  kann,  was  eines  Beweises  wohl  kaum  bedarf.  Ebenso  ist  auch 
bei  vorhandener  Zahncaries  die  thunlichst  gefahrlose  therapeutische  Ver- 
wendung differenter  Medikamente  (Eisen,  Quecksilber  u.  a.)  unmöglich. 
Hier  mufs  eben  der  Zahnarzt  der  ständige  Gehilfe  des  Krankenhaus- 
arztes werden,  und  durch  die  Wirksamkeit  des  ersteren  könnte  sicher 
manche  Behandlung  eine  Beschleunigung  bezw.  Abkürzung  und  auch  eine 
gründlichere  Heilung  erfahren.  Der  wirtschaftliche  Vorteil  wäre  der, 
dafs  hierdurch  die  städtischen  Krankenhausausgaben  sich  mit  der  Zeit 
auch  verringern  würden.  ') 

Die  Realisierung  dieser  Pläne,  die  Anstellung  von  Schul-,  Armen-, 
Waisen-  und  Krankenhauszahnärzten,  ist  durch  einen  Hauptfaktor  sehr 
fraglich,  durch  den  Kostenpunkt.  Er  scheint  eine  unübersteigliche 
Barriere  zu  bilden  und  er  scheint  die  Zukunft  einer  gesunden  Entwick- 
lung der  schul-,  militär-  u.  s.  w.  zahnärztlichen  obligatorischen  Behandlung 
und  somit  auch  eine  Verminderung  der  das  Volkswohl  arg  gefährdenden 
Zahncaries  in  Frage  zu  stellen. 

Sichere  Hilfe  kann  hier  also  nur  durch  die  Zahnärzte  selbst 
kommen,  die  opferfreudig  und  opferfähig  genug  sind,  sich  zur  unentgelt- 
lichen Behandlung  zu  erbieten.  Es  müfsten  zahnärztlicherseits  die  Ge- 
meindeverwaltungen vcranlafst  werden,  dafs  dieselben  unter  Bereitstellung 
von  Mitteln  aus  Schul-,  Armen-,  Krankenhausetat  u.  s.  w.  zunächst  ver- 
suchsweise (in  den  Krankenhäusern,  Baracken  oder  anderen  Räumen) 
Zahnpolikliniken  zur  vollständigen  sachgemäfsen  zahnärztlichen  Behand- 
lung namentlich  Unbemittelter  (nach  dem  Muster  der  Hamburger, 
Strafsburger  u.  a.)  eröffnen.  Die  Errichtung  einer  Schul-,  Krankenhaus- 
oder Ortsarmenzahnklinik  liefse  sich  im  Laufe  der  Zeit  sicher  bewerk- 


')  „Eine  hygienische  Forderung“.  Deutsche  Mcdizinalzeitung.  1900.  S.  997,99. 


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Miszellen. 


stelligen  und  damit  wäre  auch  die  Basis  für  den  späteren  Aufbau  eines 
Schulzahnarztinstituts  gelegt. 

Auch  die  Krankenkassen,  bei  denen  die  zahnärztliche  Versorgung, 
namentlich  in  den  Grofsstädten,  ganz  verwickelte  und  fur  alle  Teile  un- 
erquickliche Verhältnisse  geschaffen  hat,  hal>en  mit  den  Versicherungs- 
anstalten gröfstes  gesundheitliches  und  wirtschaftliches  Interesse  an  einer 
Möglichkeit,  die  zahnärztliche  und  zahnhygienische  Behandlung  ihrer  Mit- 
glieder zu  Kassenpreisen  geregelt  zu  sehen. 

Damit  wäre  das  Fundament  gegeben,  auf  welchem  die  praktische 
Volkszahnhygiene  weiter  bauen  könnte  und  mtifste.  Die  öffentlichen 
Gesundheifsbehörden,  die  bis  jetzt  für  eine  der  sozialen  Bedeutung  der 
Zahnverderbnis  entsprechenden  Zahngestindheitspflege  so  gut  wie  gar 
nichts  gethan  haben,  werden  dann  die  Wichtigkeit  erkennen,  welche 
die  Zahnpflege  für  das  gesamte  Volkswold  besitzt : die  Statistik  wird  sie 
darüber  belehren,  dafs  die  Anstellung  wissenschaftlich  gebildeter  Zahn- 
ärzte ein  absolutes  Bedürfnis  ist,  und  dafs  demzufolge  ihre  soziale  Be- 
thätigung  in  der  Form  kommunalamtlicher  Medizinal- 
personen eine  unumgängliche  Notwendigkeit  ist.  Die  Bedeutung 
und  Notwendigkeit  der  Volkshygiene  stempelt  die  approbierten  Zahn- 
ärzte ohne  weiteres  zu  berufenen  amtlichen  Medizinalpersonen,  sobald 
ihre  soziale  Bethätigung  den  Gemeinden  Nutzen  und  Erfolg  zahn- 
hygienischer Fürsorge  allüberall  zunächst  durch  statistische  Unter- 
suchungen und  gleichfalls  unentgeltliche  Ueberwachung  der  Zahnpflege, 
weiterhin  durch  unentgeltliche  poliklinische  Behandlung  der  zahnkranken 
Volksschulkinder,  Armen  und  Waisen  bewiesen  hat.  Dann  wird  die 
pekuniäre  Sicherung  von  Zahnpolikliniken  für  Schulen  und  Arme,  die 
Anstellung  kommunaler  zahnärztlicher  Krankenhaus-Assistenten  und  Schul- 
zahnärzte wie  anderer  nur  mehr  eine  Frage  der  Zeit  sein  ! 

Ein  noch  wichtigeres  Interesse,  die  Volkszahnhygiene  zu  pflegen, 
hat  der  Staat  aber  in  betreff  des  Heeres,  eine  F'rage,  die  wir  be- 
reits oben  berührt  haben.  Auch  hier  kam  man  über  die  Anfänge  nicht 
hinaus. 

Die  Kadetten-Anstalt  zu  Grofs-Lichtcrfelde  hat  seit  langem  rcgel- 
mäfsige  zahnärztliche  Behandlung  und  Beaufsichtigung  eingeführt.  Private 
Abmachungen  dieser  Art  bestehen  auch  anderswo  zwischen  Kadetten- 
Anstalten  und  Unteroffizierschulen  einerseits  und  Zahnärzten  anderer- 
seits, ohne  aber  für  die  Allgemeinheit  des  Heeres  etwas  zu  be- 
deuten. 

1897  war  für  I’rcufsen  eine  Summe  von  11  500  Mk.  ausgesetzt,  für 
welche  die  schadhaften  Zähne  der  Unteroffizierschüler  und  Vorschüler  von 
Zahnärzten  untersucht  und  einer  erhaltenden  Zahnpflege,  bis  zum  Ersatz 
schadhafter  Zähne,  unterworfen  werden  sollten.  In  derselben  Weise  wurde 


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II.  Kümmel,  Die  progressive  Zahnearies  in  Schule  und  Heer  etc. 


iu  Bayern  und  Sachsen  vorgegangen,  während  Württemberg  sich  ab- 
lehnend verhielt.  *) 

Künstlicher  Zahnersatz  wird  aktiven  Mannschaften  laut  Verfügung 
des  Generalstabsarztes  von  Coler  nur  bei  Dienstbeschädigung  oder  Dienst- 
unfähigkeit gewährt. 

Als  ehrenamtlicher  Zahnarzt  hat  Haun  in  Erfurt  beim 
4.  Armeekorps  seit  1S65  ca.  25000  Zähne  behandeln  dürfen.5) 

Seit  Anfang  1891  sind  zwei  Berliner  Zahnärzte  vom  Sanitätsamte 
des  Gardekorps  mit  der  zahnärztlichen  Behandlung  der  Unteroffiziere 
und  ihrer  Familien  betraut,  während  die  Zahnextraktion  bei  den  Soldaten 
bislang  meist  von  jungen,  zahnärztlich  schlecht  ausgebildeten  Militär- 
ärzten ausgeführt  wurden. 

Nach  einer  Mitteilung  von  Schaffer- Stuckert  ®)  hat  fernerhin  der 
preufsische  Kriegstninister  die  Sanitätsämter  aller  Armeekorps  angewiesen, 
in  sämtlichen  Garnisonplätzen  Vorträge  mit  approbierten  Zahnärzten  ab- 
zuschliefsen  zwecks  zahnärztlicher  und  technischer  Behandlung  der  Unter- 
offiziere und  Mannschaften  nebst  Familienangehörigen. 

Dies  sind  die  Resultate;  sie  sind  spärlich  genug. 

Die  Zahnheilkunde  ist  eben  bis  heute  noch  für  die  Militärmedizin 
ein  Stiefkind,  trotzdem  sich  diese  Beiseiteschiebung  am  Gesundheits- 
zustand der  Armeen  bereits  bitter  gerächt  hat,  wie  unsere  genannten 
Zahlen  erwiesen  haben.  Neuerdings  wird  das  auch  in  der  militärärzt- 
lichen Literatur  anerkannt  und  eine  Aenderung  energisch  angestrebt. 
Sehr  bezeichnend  ist  die  Antwort  des  Chefs  des  preufsischen  Sanitäts- 
korps auf  eine  Umfrage  des  holländischen  Zahnarztes  Stark  betreffs 
der  Zahnpflege  in  den  europäischen  Heeren.  Sie  lautet : „ln  der 

preufsischen  Armee  gehört  die  Fürsorge  in  bezug  auf  Zahnkrankheiten 
und  -pflege  zu  den  dienstlichen  Obliegenheiten  der  Sanitätsoffiziere,  bei 
technischen  Schwierigkeiten  werden  in  vielen  Fallen  Zahnärzte  zu  Rate 
gezogen.“ 

Die  Ueberwachung  der  Zahnpflege  der  Soldaten  liegt  jedoch  den 
Unteroffizieren  ob,  die  selbst  zum  gröfsten  Teile  an  cariösen  Zähnen 
leiden. 

Etwas  besser  liegen  die  Zahn  Verhältnisse  in  Oesterreich.  „Den 
österreichischen  Militärärzten  wird  seitens  der  Heeresverwaltung,  in  An- 
erkennung der  hohen  Bedeutung  rationeller  Mundpflege  u.  s.  w.  und  der 
Notwendigkeit  jeglicher  kunstgerechter  zahnärztlicher  Behandlung  des 
Soldaten,  nicht  blos  Gelegenheit  zur  Ausbildung  in  der  Zahnheilkunde 

l)  Nach  Ritter,  1.  c.  S.  301. 

5)  Diskussion  zu  Starks  Vortrag  im  Zentralvercin  d.  Z.  6.  Aug.  97-  D.  M. 
f.  Z.  IV,  1897.  S.  434. 

*)  D.  Zahnärztl.  Wochcnsrhr.  V,  25.  S.  303. 


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Miszellen. 


gegeben,  sondern  auch  die  dazu  notwendigen  Behelfe  gewährt.  Die  Aus- 
bildung in  der  Zahnheilkunde  erfolgt  in  raehrmonatlichen  praktischen 
Kursen  an  den  zahnärztlichen  Instituten  der  betreffenden  Dozenten,  die 
sich  unentgeltlich  dazu  erbieten,  oder  in  Privatkursen  bei  denselben,  oder 
bei  hervorragenden  Zahnärzten  gelegentlich  der  Spezialkurse  der  Militär- 
ärzte. Der  Unterricht  umfafst  die  Krankheiten  der  Mundhöhle,  speziell 
Zähne,  deren  Reinigung  und  Erhaltung,  die  kunstgemäfse  Extraktion  ver- 
lorener Zähne,  den  Zahnersatz.  Behufs  praktischer  Verwertung  dieser 
Kenntnisse  haben  alle  Militärsanitätsanstalten  Instrumentenkästen  zur 
Extraktion,  Reinigung,  Konservierung  defekter  Zähne,  die  Garnison- 
spitäler, sowie  die  Militärerzichungs-  und  Bildungsanstalten  ein  voll- 
ständiges, sehr  reichliches  Instrumentar  für  jede  wie  immer  geartete 
zahnärztliche  Hilfeleistung."  (Vgl.  Stark,  1.  c.). 

In  Deutschland  erfolgten  die  ersten  Schritte  zu  einer  Besserung 
der  zahnärztlichen  Behandlung  von  Mannschaften  und  gleichzeitig  zu 
einer  entsprechenden  Ausbildung  der  Sanitätsoffiziere,  ähnlich  der  eben 
besprochenen  österreichischen,  in  München  1896/1897.  Im  Dezember 
1896  übernahm  Port1)  die  zahnärztliche  Behandlung  der  Münchener 
Garnison  und  unterrichtete  dazu  kommandierte  Militärärzte  im  Extrahieren, 
in  Zahn-  und  Mundpflege,  Diagnostik  der  verschiedenen  Zahnerkrankungen, 
Behandlung  von  Kieferbrüchen  u.  s.  w. 

Die  Zahl  der  Patienten  vervierfachte  sich  beinahe,  die  der  Einzel- 
behandlungen stieg  fast  auf  das  Neunfache  in  den  vier  Jahren. 
1900  bekam  Port  einen  aktiven  Assistenzarzt  als  ständigen  Assistenten. 

Die  bayerische  Militärverwaltung  hat  solche  Kurse  für  Sanitäts- 
offiziere seit  1897  noch  in  weiteren  vier  gröfseren  Garnisonen  unter 
Leitung  eines  zahnärztlich  ausgebildeten  Militärarztes  oder  eines  Civil- 
zahnarztes  eingerichtet  und  sorgt,  da  sie  keine  militärärztliche  Akademie 
und  also  keinerlei  Einflufs  auf  die  Ausbildung  ihrer  späteren  Militär- 
ärzte hat,  durch  deren  Abkommandierung  an  zahnärztliche  Universitäts- 
institute (die  sie  erst  nach  der  Ablegung  der  zahnärztlichen  Approbations- 
prüfung verlassen)  für  ihre  besondere  Spezialausbildung. 

In  Sachsen  ist  die  Zahnheilkundc  durch  kriegsministerielle  Ver- 
fügung vom  3.  April  1902  amtlich  in  der  Armee  eingeführt  worden 
durch  Einrichtung  zahnärztlicher  Stationen  in  den  Gamisonlazaretten 
Dresden  und  Leipzig.  s) 

1 ) „Rückblick  stuf  meine  Thätigkeit  als  Zahnarzt  am  Garnisonlazaret  München 
in  den  Jahren  1898 — 1900  cinschl.“  (Corr.-Bl.  f.  Z.  Juli  1901).  Refcr.  von 
K u n s t m a n n -Dresden  in  D.  M.  f.  Z.  XIX,  1901.  S.  518/19. 

*)  Richter,  „DieZahnheilkunde  in  der  Armee“  Korr.-Bl.  f.  Z.  XXXII.  Ilctl  2, 
S.  152.  — Nach  einer  privaten  Mitteilung  desselben  Autors  ist  sogar  beabsichtigt, 
im  Chemnitzer  Garnisonlazarett  eine  neue  (ftlr  Sachsen  die  dritte)  zahnärztl.  Station 
einzuriehlcn. 


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H.  Kümmel,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  etc. 


In  Preufsen  haben  Kurse  für  Militärärzte  wohl  nur  in  Stettin  unter 
Leitung  von  Lührse  *)  im  Anschlufs  an  seine  statistischen  Soldaten- 
untersuchungen stattgefunden.  Vom  Stettiner  Generalkommando  2.  Armee- 
korps wurden  demselben  vom  November  1897  ab  Patienten  überwiesen, 
nachdem  er  sich  freiwillig  zu  deren  Behandlung  erboten  hatte.  20  Sa- 
nitätsoffiziere beteiligten  sich,  zwar  unregelmäfsig,  von  Ostern  1898  bis 
Mitte  1900  an  diesen  Kursen;  behandelt  wurden  im  ganzen  1060  Mann 

Neuerdings  hat  sich  nun  noch  Jessen  in  Strafsburg  zur  kostenlosen 
Untersuchung  und  Behandlung  von  Soldaten,  die  ihm  überwiesen  werden, 
bereit  erklärt,  und  dem  Generalarzt  des  15.  Armeekorps  in  seinem 
schriftlichen  Vorschlag  anerapfohlen,  ein  interessierter  aktiver  Zahnarzt 
möge  ein  Jahr  lang  seine  Kurse  mitmachen,  um  sich  dann  nach  gesetz- 
lich vorgeschriebener  einjähriger  praktischer  Thätigkeit  die  zahnärztliche 
Approbation  zu  erwerben. 

Kimmle  hat  nun,  um  die  Einführung  der  Zahnheilkunde  im  ganzen 
Heere  zu  bewerkstelligen,  den  Vorschlag  gemacht,  die  Mannschaften  in 
Bezug  auf  die  Zahnpflege  einer  dauernden  Kontrolle  des  Kompagnie- 
chefs oder  Kompagnieoffiziers  zu  unterwerfen ; Bruck  hat  Instruktion  der 
Rekruten  über  den  Wert  der  Zahnpflege,  Lieferung  von  Zahnbürsten 
mit  Benutzungserklärung,  sowie  Zahnkontrollkarten  für  die  Rekruten  vor- 
geschlagen. Dies  sind  Vorschläge,  die  zwar  recht  acceptabel  sind,  ohne 
geschultes  Sanitätspersonal  aber  doch  wirkungslos  bleiben  würden. 
Gleichviel,  ob  das  Sanitätspersonal  nun  aus  Civilzahnärzten  oder 
Sanitätsoffizieren  und  -Unteroffizieren  besteht,  so  ist  schon  der  Ueber- 
wachung  halber  eine  gründliche  Vorbildung  und  Erfahrung  auf  dem  Ge- 
biete der  Zahnheilkunde  unerläfslich,  die  durch  Kurse  für  die  Militär- 
ärzte, durch  Studienkurse  und  Unterricht  für  die  Zöglinge  der  Kaiser- 
Wilhelms- Akademie  erreicht  werden  könnte.  Daneben  wird , des 
besonderen  Bedarfs  an  konservativ  - therapeutisch  geschulten  Dienst- 
personal halber,  auf  die  Heranbildung  geschulter  Spezialisten,  vor  allem 
unter  den  militärdienstfähigen  Civilzahnärzten,  kaum  verzichtet  werden 
können,  die  alsdann  auch  die  Ueberwachung  der  einjährig-freiwilligen 
zu  praktischer  Dienstleistung  heranzuziehenden  Zahnärzte  übernehmen 
könnten.  ' Von  dem  derart  im  Heer  bethätigten  Zahnarzt  bis  zu  seiner 
Anstellung  als  Medizinalbcamter  ist  dann  nur  noch  ein  Schritt. 

Will  man  aber  die  Entwicklung  des  Zahnarztes  zum  kommunalen 
wie  staatlichen  Medizinalbeamten  beschleunigen,  so  ist  seitens  der  Zahn- 
ärzte eine  energische  fortgesetzte  Aufklärung  des  Volkes  über  die  Be- 
deutung der  Zahnheilkunde,  ferner  das  Sammeln  brauchbarer  Statistiken 
in  Schulen,  Armceen,  Gefängnissen  u.  s.  w.  die  erste  Bedingung.  Will 
man  auf  gesetzgeberischem  Wege  einen  Erfolg  erzielen,  so  mufs  nach 

’)  „Zahnheilkundc  und  Militärmeduin“.  D.  M.  f.  Z.  XX,  1902.  S.  276/84. 


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Miszellen. 


den  Bungeschen  Worten  (I.  c.  S.  31),  der  intellektuelle  Erfolg  voraus- 
gegangen sein.  Nur  auf  diese  Weise,  wenn  man  das  Uebel  bei  der 
Wurzel  packt,  wenn  man  unsererseits  um  der  guten  Sache  willen  Opfer 
nicht  scheut,  wird  man  der  Volkskrankheit,  der  Zahnverderbnis,  einen 
festen  Damm  entgegensetzen  können,  der  ein  weiteres  Vordringen  der 
Krankheit  unmöglich  machen  wird.  Die  segensreichen  Folgen  für  das 
Volkswohl  und  die  Volkswirtschaft,  die  hieraus  erwachsen,  werden  un- 
ermefsliche  sein. 


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Die  Hugo  Heimannsche  öffentliche  Bibliothek  und 
Lesehalle  in  Berlin  in  den  ersten  vier  Jahren  ihres 
Bestehens  und  ihr  gedruckter  Katalog. 

Von 

Dr.  w.  paszkowski, 

Bibliothekar  an  der  Königlichen  Bibliothek  in  Berlin. 

Am  24.  Oktober  d.  J.  konnte  die  von  dem  Stadtverordneten  Herrn 
Hugo  H e i m an  n in  Berlin  aus  eigenen  Mitteln  zur  unentgeltlichen  Benutzung 
Air  jedermann  begründete  Oeffentliche  Bibliothek  und  Lesehalle  auf  ein 
vierjähriges  Bestehen  zurückblicken.  Wie  weiten  Kreisen  diese  hochherzige 
Stiftung  unter  allen  Bevölkerungsschichten  der  Reichshauptstadt  in  dieser 
Zeit  zugute  gekommen  ist,  das  mögen  einige  Zahlen  lehren,  welche  die  letzte 
Statistik  über  das  vierte  Betriebsjahr  mitteilt.  Danach  haben  seit  der  Er- 
öffnung des  Instituts  insgesamt  420  S74  Personen  in  demselben  geistige 
Anregung  gesucht,  126343  davon  allein  im  letzten  Jahre.  Die  Zahl  der 
in  und  aufser  dem  Hause  verliehenen  Bände  betrug  in  diesem  Zeiträume 
247609,  davon  75161  Bände  im  letzten  Jahre.  Nach  hause  verliehen 
wurden  im  letzten  Betriebsjahre  nicht  weniger  als  61  675  Bände.  Die 
Lese säle  wurden  in  diesem  Zeiträume  von  64  668  Personen,  und  zwar 
62256  Männern  und  2412  Frauen,  in  den  vier  Jahren  zusammen  von 
2 1 5 668  Personen  besucht.  Die  Zahl  der  hier  ausliegenden  periodischen 
Schriften  beträgt  jetzt  510  Zeitungen  und  Zeitschriften  jeder  Art  und 
Richtung.  Man  wird  diese  bedeutende  Entwicklung  nicht  zum  mindesten 
auf  Rechnung  der  äufserst  liberalen  Benutzungsbestimmungen  zu  setzen 
haben;  denn  unseres  Wissens  ist  es  hier  zum  ersten  Male  in  Deutsch- 
land unternommen  worden,  eine  grofse  freie  öffentliche  Biichersammlung 
ohne  jede  erschwerende  Formalität  den  Bewohnern  einer  Riesenstadt 
zugänglich  zu  machen.  Dem  Besitzer  des  Instituts  gebührt  dafür  nicht 
minder  Anerkennung  als  dem  Publikum,  das  das  Vertrauen  desselben 
zu  würdigen  verstanden  hat  und  dessen  Haltung,  wie  der  letzte  Bericht 
ausdrücklich  hervorhebt,  musterhaft  gewesen  ist.  Wenn  man  bedenkt. 


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Miszellen. 


wie  wenig  man  sonst  geneigt  ist,  bei  der  Benutzung  grofser  derartiger 
Institute  von  allerlei  Kautelen  abzusehen,  und  wie  mifstrauisch  man  im 
allgemeinen  einem  so  verschiedenartig  zusammengesetzten  Publikum  wie 
dem  dieser  Bildungsstätte  entgegenzukommen  gewohnt  ist,  so  mufs  man 
geradezu  erstaunen,  dafs  im  letzten  Jahre  unter  den  61  675  nach  hause 
verliehenen  Büchern  nur  16  verloren  gegangen  sind.  Denn  was  will  es 
besagen,  dafs  beispielsweise  der  letzte  Bericht  der  Kruppschen  Bücher- 
halle, — die,  weil  auch  aus  privaten  Mitteln  gegründet,  mehrfach  zum 
Vergleich  mit  der  Heimannschen  Bibliothek  auffordert,  — hervorhebt, 
es  seien  trotz  der  riesigen  Frequenz  dieser  übrigens  vorzüglich  ausge- 
statteten und  verwalteten  Sammlung  im  Laufe  der  drei  letzten  Jahre 
nur  zwei  Bände  abhanden  gekommen?  Denn  die  Kruppsche  Bibliothek 
ist  eigentlich  keine  freie  öffentliche  Bibliothek,  sondern  sie  ist  nur  den 
Werkangehörigen  zugänglich,  Leuten  also,  die  in  einem  bestimmten  Ab- 
hängigkeitsverhältnis zum  Stifter  stehen,  und  die  der  Bibliothekar  be- 
ständig unter  den  Augen  hat.  In  der  Heimannschen  Bibliothek  handelt 
es  sich  aber  um  ein  vielgestaltiges  Publikum,  das  über  das  ganze  Weichbild 
Berlins  zerstreut  ist,  ja  auch  über  die  Vororte,  und  dessen  einer  Teil  ganz 
ohne  Beruf,  vielfach  ohne  eigene  Wohnung  ist.  Da  ist  denn  in  der  Tat 
das  Verhalten  dieses  Publikums  ein  schöner  Beweis  für  die  Richtigkeit 
des  Satzes,  dafs,  wo  man  Vertrauen  sät,  man  auch  Vertrauen  erntet. 

Zu  den  musterhaften  Einrichtungen  dieses  Instituts,  die  wir  bereits 
in  einem  früheren  Artikel  dieser  Zeitschrift  kurz  geschildert  hatten  (vgL 
Bd.  1 5, 1900, S.  267 — 270)  ist  nun  ein  gedruckter  Katalog  gekommen,  der  in 
schöner  Ausführung  in  einem  stattlichen  Bande  vor  uns  liegt,  und  der  zur 
Erleichterung  der  Benutzung  wesentlich  beitragen  wird.  Dieser  systema- 
tische Katalog,  den  wir  in  nachfolgendem  einer  etwas  eingehenderen  Be- 
sprechung unterziehen  wollen,  verzeichnet  in  19  Abteilungen,  die  in  sich 
wiederum  systematisch  geordnet  sind,  den  gesamten  Bücherbestand  bis  Ende 
März  d.  J.  Er  verbindet  die  Vorzüge  eines  systematischen  und  Kreuz- 
kataloges  derart,  dafs  jedes  einzelne  Werk  nicht  nur  an  der  ihm  im 
System  zukommenden  Stelle  aufgeführt  wird,  sondern  auch  unter  allen 
anderen  Wissensgebieten,  die  es  etwa  noch  berührt.  So  erscheint 
öfter  ein  Werk  an  2 — 3 Stellen,  womit  nicht  allein  die  Auffindbarkeit 
erleichtert,  sondern  auch  dem  Benutzer  die  weitgehendste  Anregung  zum 
Weiterarbeiten  gegeben  wird.  Dazu  kommt  noch  ein  ausführliches  und 
sehr  sorgfältig  gearbeitetes  Sachregister,  das  die  Brauchbarkeit  dieses 
Verzeichnisses  erhöht.  Bedauerlich  ist  es  nur,  dafs  der  Bearbeiter  sich 
nicht  dazu  entschlossen  hat,  noch  ein  alphabetisches  Autorenregister 
hinzuzufügen.  Denn  wenn  auch  ein  in  der  Bibliothek  aufgestellter  alpha- 
betischer Katalog  hier  ergänzend  hinzutritt,  so  würde  doch  die  Auf- 
nahme eines  solchen  Registers  in  den  gedruckten  Katalog  vielen  Be- 
nutzern äufserst  willkommen  gewesen  sein,  die  zu  hause  nachsehen  wollen, 
ob  dieses  oder  jenes  Werk  vorhanden  ist,  und  die  zwar  den  Autor  einer 


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\V.  Paslkowski,  Die  Huko  Heimannschc  öffentliche  ltihliothek  etc.  633 

Schrift  kennen,  nicht  aber  ohne  erheblichen  Zeitaufwand  sich  in  das 
System  werden  hineinfinden  können. 

Die  einzelnen  Abteilungen  der  Bibliothek  sind  sehr  verschieden  aus- 
gestattet. Das  wird  von  vielen  Ijedauert  werden,  aber  es  erklärt  sich 
aus  dem  Bestreben  des  Begründers,  seine  Sammlung  vornehmlich  zu  einer 
Bildungsstätte  für  die  gewerblichen  Arbeiter  Berlins  zu  machen,  ln  der 
That  zeigt  die  Statistik  des  letzten  Betriebsjahres,  dafs  von  den  7475 
Personen,  die  der  Leserkreis  umfafst,  3812  gewerbliche  Arbeiter  sind, 
während  die  Zahl  der  Kaufleute  1907,  der  Aerzte  und  Juristen  135, 
der  Staats-  und  Privatbeamten  367,  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  249, 
der  Studierenden  122,  der  Seminaristen  und  Schüler  317  beträgt,  wozu 
noch  566  Benutzer  ohne  Beruf  kommen.  So  sind  die  Abteilungen 
Volkswirtschaft,  Gewerbekunde,  Naturwissenschaft  und  Geschichte,  nach 
denen  erfahrungsgemäfs  in  diesen  Kreisen  die  gröfste  Nachfrage  herrscht, 
vornehmlich  berücksichtigt  worden.  Dafs  die  Litteratur  zur  Sozialwissen- 
schaft und  Sozialdemokratie  dabei  l>esonders  reichlich  bedacht  ist,  wird 
von  diesem  Gesichtspunkte  aus  gleichfalls  erklärlich.  Auffallender  ist  die, 
wie  uns  scheint,  etwas  einseitige  Berücksichtigung  der  Litteratur  zur  Juden- 
frage, S.  98  ff. 

Beim  genaueren  Durchsehen  des  Kataloges  stofsen  allerhand  Mängel 
auf,  die  der  Beseitigung,  und  Versehen,  die  der  Verbesserung  be- 
dürfen. Wenn  ich  daher  hier  einige  solcher  Ausstellungen  mache  und 
hie  und  da  auch  Bedenken  und  Wünsche  äufsere , so  soll  damit  das 
feststehende  Verdienst  dieses  mit  vieler  Umsicht  gearbeiteten  Verzeich- 
nisses in  keiner  Weise  geschmälert  werden.  Es  sollen  nur  einige  Ge- 
sichtspunkte angedeutet  werden,  nach  welchen  meines  Erachtens  die 
Zusammensetzung  und  Aufstellung  des  Bücherschatzes  noch  verbesse- 
rungsfahig  ist.  Lücken  sollen  nur,  sofern  sie  besonders  auffallend  sind, 
hier  erwähnt  werden,  denn  irgend  eine  Vollständigkeit  in  den  einzelnen 
Abteilungen  kann  natürlich  von  einem  so  jungen  Institut  nicht  erwartet 
noch  verlangt  werden. 

Zu  Abt.  I.  Das  wissenschaftlich  viel  umstrittene  etymologische 
Wörterbuch  von  Fauhnann  wäre  besser  durch  das  im  allgemeinen  als 
brauchbar  anerkannte  Buch  von  Kluge  zu  ersetzen.  Kürschners  Litteratur- 
kalender  und  Dietrichs  Zeitschriftenbibliographie  werden  in  der  Nach- 
schlagebibliothek  ungern  vermifst. 

In  Abt.  II  wäre  neben  Gräsels  immer  noch  sehr  brauchbaren  Grund- 
züge der  Bibliothekslehre  auch  des  Verfassers  ausführliche  Bearbeitung 
derselben,  das  Handbuch  der  Bibliothekslehre,  Leipzig  1902,  zu  stellen. 
Das  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen  sollte  doch  schon  um  der  An- 
gestellten des  Instituts  wegen  nicht  fehlen,  ebensowenig  wie  das  Jahr- 
buch der  deutschen  Bibliotheken,  das  auch  die  Volksbibliothekcn  berück- 
sichtigt, desgleichen  die  Verzeichnisse  der  in  dem  Lesesaal  der  Königl. 

Archiv  für  sox.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  41 


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634 


Miszellen. 


und  der  Universitätsbibliothek  in  Berlin  aufgestellten  Handbiblio- 
theken. 

Zu  Abt.  III.  Das  Lehrbuch  der  historischen  Methode  von  Bernheim 
wäre  durch  die  neuere  Auflage  zu  ersetzen,  wie  auch  Dahlmann-Waitz' 
Quellenkunde  S.  41.  Sehr  verdienstlich  ist  die  ausführliche  Inhaltsangabe 
der  unter  zusainmenfassendem  Titel  erschienenen  kleineren  Schriften  der 
Autoren  z.  B.  S.  10  der  gesammelten  Reden  und  Vorträge  von  Curtius, 
S.  14  der  allgemeinen  Weltgeschichte  von  Oncken  u.  a.  m.  Erwünscht 
wäre  indessen  eine  solche  Inhaltsangabe  auch  bei  Lamprechts  deutscher 
Geschichte  S.  43  und  verschiedenen  Sammelwerken.  Napoleons  III.  Ge- 
schichte Julius  Cäsars,  S.  26  ist  wohl  als  wertlos  auszuscheiden. 

Unter  der  Litteratur  zur  Geschichte  des  Altertums  fehlt  das  be- 
deutende Werk  von  E.  Meyer,  Geschichte  des  Altertums.  Von  Riehls 
schönem  Buche  „Land  und  Leute“  S.  44  wäre  eine  neuere  Auflage  ein- 
zustellen,  zur  Litteratur  über  Bismarck  fehlt  die  gehaltvolle  Biographie 
von  Lenz,  Wuttkes  Werk:  Die  deutschen  Zeitschriften  und  die  Ent- 
stehung der  öffentlichen  Meinung,  Leipzig  1875,  das  hier  fehlt,  ist 
immer  noch  ein  sehr  wertvolles  Buch  zur  Kulturgeschichte  der  neueren  Zeit. 

Abt  IV.  Zur  Litteratur  über  Fichte  fehlt  das  bekannte  und  gründ- 
liche Werk  von  Adolf  Lasson.  Zu  Goethe  vermissen  wir  die  sorgfältige 
Biographie  von  Bielschowsky ; die  Abhandlung  von  Helmholtz  über 
Goethes  naturwissenschaftliche  Anschauungen,  die  S.  191  verzeichnet  ist, 
hätte  unter  dem  Kopf  „Goethe“  verwiesen  werden  müssen,  Heinemanns 
„Goethe“  ist  in  der  3.  Aufl,  1903  ein  recht  brauchbares  Buch  geworden, 
auch  das  kleine  Buch  von  Bode,  Goethes  Lebensweisheit  enthält  manches 
Lesenswerte.  Zu  Hegel  fehlt  S.  122  das  bekannte  Werk  von  R.  Hayro, 
Hegel  und  seine  Zeit,  zu  Schopenhauer  S.  137  die  treffliche  Lebens- 
beschreibung von  Gwinner.  Zu  Adam  Smith  vermissen  wir  hier  jede 
Litteratur,  wenigstens  wäre  das  Buch  von  Hasbach  über  diesen  grofsen 
Lehrer  der  Volkswirtschaft  anzuschaffen. 

Abt.  V.  Unter  der  Litteratur  über  Berlin  vermifst  man  die  Ver- 
weise von  zahlreichen  in  der  Bibliothek  vorhandenen  Werken,  so  der 
Schriften  von  Lindenberg  und  Rodenberg.  Das  schöne  Werk  von  Hans 
Meyer  über  das  deutsche  Volkstum,  das  eben  jetzt  in  2.  Aufl.  erscheint, 
dürfte  in  einer  Bibliothek,  die  Volksbildungsbestrebungen  dient,  keines- 
falls fehlen.  Abt.  VI.  S.  188  ist  der  bekannte  verstorbene  Berliner 
Universitätsprofessor  Dubois-Reymond  falsch  in  das  Alphabet  eingeordnet: 
er  gehört  unter  D und  nicht  unter  B;  seine  Rede  über  die  Humboldt- 
Denkmäler  gehört  zur  Litteratur  über  Berlin.  S.  190  wäre  bei  Haeckel 
eine  Inhaltsangabe  seiner  ges.  populären  Vorträge  erwünscht.  Die  drei 
vorhandenen  Jahrgänge  der  Potonieschen  Naturwissensch  Wochenschrift 
stehen  doch  gar  zu  weit  von  einander  getrennt,  wie  man  denn  über- 
haupt durchgehends  sich  nicht  damit  wird  einverstanden  erklären  können, 
dafs  die  einzelnen  Jahrgänge  derselben  Zeitschrift  unter  verschiedenen 


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W.  Paszkowski,  Die  Hugo  Iieimannsche  öffentliche  Bibliothek  etc.  635 

Nummern  aufgestellt  werden.  Offenbar  ist  hier  das  Datum  der  Er- 
werbung und  die  Rücksicht  auf  den  Indikator  mafsgebend  gewesen,  aber 
für  den  Bibliothekar  ist  eine  solche  Aufstellung  mit  den  gröfsten  Un- 
zuträglichkeiten verbunden.  Von  Jochmanns  Grundrifs  der  Experimental- 
physik S.  201  ist  eine  zu  alte  Auflage  eingestellt,  Cohns  Abhandlung 
über  Goethe  S.  110  hätte  auch  unter  Goethe  verwiesen  werden  müssen, 
ebenso  S.  105  Virchows  Rede  über  Goethe  als  Naturforscher.  Von 
Liebigs  Chemischen  Briefen  S.  205  giebt  es  eine  neuere  und  bessere 
Ausgabe.  Von  Helmholtz  S.  225  vermissen  wir  das  grundlegende  Werk 
über  die  Tonempfindungen.  Rubners  Lehrbuch  der  Hygiene  fehlt  auf 

S.  238.  Die  Schrift  über  die  Verbrecherwelt  von  Berlin  S.  262  gehört 
zu  Berlin.  Auch  in  den  Abteilungen  VII — IX  liefsen  sich  noch  derartige 
kleine  Mängel  nachweisen,  doch  ist  anzuerkennen,  dafs  diese  Abteilungen 
mit  gröfserer  Sorgfalt  ausgestaltet  sind,  wie  dies  ja  auch  in  dem  oben 
angedeuteten  Plane  der  Bibliothek  liegt.  Die  Abteilung  X Philosophie 
scheint  mir  aber  doch  etwas  knapp  weggekommen  zu  sein.  Der  Grund- 
rifs der  Geschichte  der  Philosophie  von  Ueberweg-Heinze  zum  mindesten 
sollte  doch  nicht  fehlen,  ebensowenig  wie  Schelling  ganz  fehlen  dürfte, 
und  wie  die  neueren  Richtungen  in  der  Philosophie  doch  etwas  mehr 
bedacht  werden  müfsten,  als  durch  einige  mehr  oder  weniger  zufällig 
zusammengebrachte  Schriften. 

Zu  Abt.  XI  sei  noch  die  Anschaffung  von  Chantepie  de  la  Saussaye's 

T . ehrbuch  der  Religionsgeschichte  empfohlen,  zu  Abt.  XII  des  trefflichen 
Werkes  von  Paulsen  über  die  deutschen  Universitäten,  Berlin  1902,  zu 
Abt.  XIV,  2 a die  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik.  In  Abt.  XVI 
Litteraturgeschichte , Geschichte  des  Theaters  und  der  Presse  vermifst 
man  das  Werk  von  I.itzmann,  das  deutsche  Theater  in  den  litterarischen 
Bewegungen  der  Gegenwart. 

Die  immer  noch  sehr  brauchbaren  Erläuterungen  zu  den  deutschen 
Klassikern  von  Düntzer,  von  denen  S.  518  nur  wenige  aufgefuhrt  sind, 
sollten  vollständig  vorhanden  sein.  Zu  Wustmanns  „Allerhand  Sprach- 
duminheiten"  S.  535  gehören  noch  Erbes  Ergänzungen. 

Es  sind  hier  mit  Rücksicht  auf  den  zur  Verfügung  stehenden  Raum 
nur  flüchtig  die  einzelnen  Abteilungen  gemustert  worden,  und  es  sollte 
auch  nur  gezeigt  werden,  dafs  hier  und  da  noch  eine  bessernde  Hand 
eingreifen  konnte.  Im  ganzen  wird  man  sagen  müssen,  dafs  die  Bibliothek 
mit  vieler  Umsicht  und  mit  ungewöhnlich  reichen  litterarischen  Kennt- 
nissen zusamtnengestcllt  ist,  dafs  sie  ihre  Aufgabe  glänzend  erfüllt,  und 
dafs  wir  lebhaft  wünschen,  es  möchte  die  in  Aussicht  genommene  Ver- 
mehrung der  wissenschaftlichen  Litteratur,  die  unzweifelhaft  auch  eine 
Steigerung  der  Nachfrage  nach  sich  ziehen  wird,  von  demselben  Geiste 
erfüllt  sein,  der  das  ganze  uneigennützige  Werk  ins  Leben  gerufen  hat, 
dem  Geist  der  Liebe  zur  Aufklärung  und  Belehrung  derjenigen  Volks- 

•»!* 


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636 


Miszellen. 


schichten,  die  in  harter  Arbeit  um  die  Existenz  nach  geistiger  Erholung 
dürsten. 

Ob  Herr  Heimann  bei  der  fortschreitenden  VergTöfserung  der 
Bibliothek  mit  dem  gewählten  Nummernsystem  allein  wird  auskommen 
können,  ist  fraglich.  Offenbar  ist  dies  System  durch  die  Aufstellung  des 
für  20  000  Nummern  berechneten  Indikators  bedingt,  der  Air  kleinere 
Bibliotheken  gewifs  recht  brauchbar  ist.  Eine  Kombination  der  Nume- 
rierung mit  der  Buchstabenbezeichnung  wird  sich,  wie  ich  glaube,  in 
Zukunft  nicht  umgehen  lassen.  Die  Aufstellung  würde  sicherlich  dadurch 
an  Uebersichtlichkeit  gewinnen,  wenn  die  zusammengehörigen  Teile 
eines  Werkes  auch  wirklich  zusammengebracht  würden.  Ein  grofses 
Verdienst  würde  sich  der  Besitzer  dieser  Bibliothek  damit  erwerben, 
wenn  er  sich  dazu  entschlösse,  einen  mit  reichen  litterarischen  Kennt- 
nissen ausgestatteten  Beamten  oder  eine  vielseitig  gebildete  Dame  ledig- 
lich mit  der  Aufgabe  zu  betrauen,  das  Publikum  bei  der  Wahl  der  Lek- 
türe sachgemäfs  zu  beraten,  umsomehr,  als  durch  den  Indikator  die 
Berührung  des  Bibliothekars  mit  dem  Publikum  sehr  eingeschränkt  wird. 


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LITTERATUR. 

David,  Eduard:  Sozialismus  und  Landwirtschaft.  Erster  Band: 
Die  Betriebsfrage.  Berlin,  Verlag  der  Sozialistischen  Monats- 
hefte 1903.  (702  S.) 

Auf  der  Grundlage  einer  höchst  detaillierten  Sachkenntnis,  in 
lebendig  anschaulicher,  übersichtlich  gruppierter  Darstellung  versucht 
K.  David , dessen  Name  in  den  sozialistischen  Agrardebatten  der 
po  er  Jahre  zuerst  weiteren  Kreisen  bekannt  wurde,  in  seinem  Buch 
den  Nachweis  zu  führen,  dafs  die  Marxistische  Formulierung  der  all- 
gemeinen gesellschaftlichen  Entwicklungstendenz  für  die  Landwirtschaft 
nicht  zutreffe,  ja,  dafs  das  Kntwicklungsschema  der  agrikulturellen  dem 
der  industriellen  Produktion,  aus  welcher  Marx  seine  Theorie  abgezogen 
habe,  geradezu  entgegengesetzt  sei.  Daher  hat«:  die  Partei  ihr  Pro- 
gramm in  Agrarsachen  von  Grund  aus  zu  revidieren.  Die  alte,  so  oft 
abgehandelte  Kontroverse  über  das  Verhältnis  von  Grofsbetrieb  und 
Kleinbetrieb  in  der  Landwirtschaft  gewinnt  durch  die  Art,  wie  David 
methodisch  seine  Ansicht  aus  dem  Wesensunterschiede  zwischen  land- 
wirtschaftlicher und  industrieller  Produktion  herleitet,  durch  die  Breite 
und  die  Einheitlichkeit  der  Durchführung,  wie  durch  die  an  das  Theo- 
retische geknüpften  praktisch  politischen  Forderungen  neuen  Gehalt  und 
neues  Interesse.  Auch  wenn  die  Argumentation  nicht  zwingend  ist  — 
und  das  scheint  sie  uns  keineswegs,  — immer  wird  der  Leser  eine 
Fülle  neuer  fruchtbarer  Anregungen  aus  dem  Werke  gewinnen. 

Dafs  die  Tendenz  zu  steigender  Konzentration  der  Produktions- 
mittel und  damit  zu  einer  fortschreitenden  Verdrängung  der  im  Klein- 
betriebe ehemals  selbständigen  Existenzen  durch  bezahlte  Lohnarbeiter 
kapitalistischer  Betriebe,  mit  klarster  Deutlichkeit  in  der  industriellen 
Bewegung  hervortretend,  in  der  modernen  Landwirtschaft  nicht  zu  beob- 
achten ist,  dafs  der  Tendenz  also  nicht  jene  uneingeschränkte  Bedeutung, 
mit  der  die  sozialistische  Auffassung  früher  rechnete,  zukommt,  das  ist 
bereits  in  Kautskys  „Agrarfrage“  (1899),  gegen  die  Davids  Buch  seine 
polemische  Spitze  richtet,  unumwunden  zugestanden.  Zeigt  doch  die 


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638 


Lilteratur. 


deutsche  Betriebszählung  vom  Jahre  1893,  dafs  seit  1882  die  Zahl  der 
kleinen  und  kleinbäuerlichen  Betriebe  von  2 — 20  Hektar  in  Deutschland 
um  mehr  als  rooooo,  die  der  grofsen,  kapitalistisch  organisierten  Landwirt  - 
schaftsbetriebe  aber  nur  ganz  minimal  zugenommen  hat.  Kautsky  meint  an- 
scheinend auch  gar  nicht,  dafs  es  sich  hier  um  eine  rein  temporäre  Er- 
scheinung handle,  dafs  der  landwirtschaftliche  Grofsbetrieb  das  bisher 
Versäumte  durch  ein  um  so  schnelleres  Ausdehnungstempo  in  absehbarer 
Zeit  einholen  werde.  Einstimmig  in  dem  Konstatieren  dieser  Divergenz 
zwischen  der  Bewegung  in  den  beiden  grofsen  I’roduktionssphären, 
stehen  David  und  Kautsky,  was  die  Erklärung  und  Beurteilung  des 
Phänomens  anlangt,  in  schärfstem  Gegensätze  zueinander.  Nach  Kautskys 
Ansicht  ist  die  Widerstandskraft  der  auf  die  Arbeit  der  Familienglieder 
basierten  kleinbäuerlichen  Wirtschaften  wesentlich  der  Uebcrarbeit  und 
der  Unterkonsumtion  der  in  solchen  Betrieben  thätigen  Personen  ge- 
schuldet. Das  Produktivitätsverhältnis  zwischen  kleinem  und  grofsem, 
kapitalistisch  organisierten  Betrieb  in  der  Landwirtschaft  — jedenfalls 
in  ihren  Hauptzweigen  — ist,  daran  hält  Kautsky  fest,  analog  dem  Pro- 
duktivitätsverhältnis des  handwerksmäfsigen  Klein-  und  Grofsbetriebes  in 
der  Industrie  zu  beurteilen.  Dort  wie  hier  repräsentiere  die  kapitalistische 
Unternehmung  bei  tüchtiger  Leitung  dem  Kleinbetriebe  gegenüber  das 
rationellere,  technisch  überlegene,  die  Produkteinheit  mit  geringerem  Ar- 
beits-  und  Kostenaufwand  erzeugende  Produktionsverfahren.  Die  tech- 
nische Ueberlegenheit  des  Grofsbetriebes  mag  infolge  einer  Reihe 
spezifischer  Besonderheiten  der  Bodenkulturarbeit  in  der  Landwirtschaft 
geringer  sein  als  in  der  Industrie,  aber  „sie  ist  vorhanden“.  Zwar  käme 
den  bäuerlichen  Betrieben  die  gröfsere  Sorgfalt  des  Selbstwirtschafters 
als  ein  Ertrag  steigerndes  Moment  zugute,  aber  ausschlaggebend  sei 
das  nicht.  Wie  das  Handwerk  durch  Ausbeutung  unbezahlter  Lchrlings- 
arbeit  und  äufserste  Bedürfniseinschränkung,  so  führe  ähnlich  auch  der 
bäuerliche  Kleinbetrieb,  in  dem  an  Stelle  der  Lehrlings-  die  unbezahlte 
Arbeit  der  Familienglieder  träte,  den  Existenzkampf.  Nur  durch  die 
schwersten  persönlichen  Opfer  der  Betriebsinhaber  könnten  diese  tech- 
nisch notwendig  rückständigen  Betriebe  sich  erhalten,  fortptlanzen  und 
vermehren.  Der  Marxsche  Satz,  dafs  der  auf  das  Privateigentum  des 
Arbeiters  an  den  Produktionsmitteln  begründete  Kleinbetrieb  „mit  der 
Konzentration  der  Produktionsmittel  zugleich  die  Kooperation,  Teilung 
der  Arbeit  innerhalb  derselben  Produktionsprozesse,  gesellschaftliche  Be- 
herrschung lind  Regelung  der  Natur,  freie  Entwicklung  der  gesellschaft- 
lichen Produktivkräfte  ausschliefse“,  gelte  allgemein,  wie  für  die  In- 
dustrie so  für  die  Landwirtschaft.  Dafs  in  dieser  die  Tendenz  zur 
Konzentration  der  Betriebe  nicht  siegreich  zum  Durchbruch  komme, 
beweise  nur,  dafs  die  Konkurrenz  nicht  überall  und  durchgehends  mit 
der  Gewalt  eines  Naturgesetzes  auf  die  Verdrängung  der  technisch 
minderwertigen  durch  die  technisch  überlegene  Produktionsweise  hin- 


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David,  Eduard,  Sozialismus  und  Landwirtschaft. 


639 


arbeite,  dafs  in  der  Fortpflanzung  und  Entwicklung  der  agrikulturellen 
Struktur  Momente,  die  mit  der  gröfseren  oder  geringeren  Produktivität 
der  Betriebsformen  in  keinem  innneren  Zusammenhänge  stehen,  eine  be- 
sonders bedeutsame  Rolle  spielen. 

Dem  hält  David  entgegen,  dafs,  so  hart  das  Los  der  selbst- 
arbeitenden Kleinbauern  auch  heute  noch  sei,  sich  ihre  Lebenshaltung 
gegen  früher  gehoben  habe.  Die  Klasse  stagniere  nicht,  sie  sei  — das 
beweise  u.  a.  die  grofse  Rührigkeit,  mit  der  sie  an  der  Ausbildung  und 
Verbreitung  des  landwirtschaftlichen  Genossenschaftswesens  sich  beteilige 
— in  einem  vielversprechenden,  die  Keime  selbständiger  Initiative  ent- 
wickelnden Vormarsch  begriffen.  Ein  solcher  Vormarsch  aber,  dafs  ist 
die  Hauptsache,  werde  durch  keine  dieser  Betriebsform  inner- 
lich anhaftenden  technischen  Schranken  eingeengt.  Im 
Gegenteil,  so  wie  die  Dinge  heute  liegen,  biete  der  kleinbäuer- 
liche Betrieb  für  die  Entfaltung  der  agrikulturellen 
Produktivkräfte  günstigere  Bedingungen  als  der  Grofs- 
betrieb.  Um  dies  Probandum  dreht  sich  das  ganze  Buch ; die  lange 
Analyse  des  landwirtschaftlichen  Produktionsprozesses  hat  keinen  anderen 
Zweck,  als  den,  dies  eine  zu  beweisen. 

Marx'  Lehre  von  der  technischen  Minderwertigkeit  des  Klein- 
betriebes sei  unbestreitbar  für  die  Industrie,  bei  der  es  sich  um  die 
„Verarbeitung  toter  Dinge“  handle.  „Aber  Kooperation,  Arbeitsteilung, 
Maschinerie  — die  grofsen  Positionen,  auf  denen  die  höhere  Leistungs- 
fähigkeit des  Grofsbetriebes  in  der  mechanischen  Produktion  sich  auf- 
baut", haben  — so  resümiert  David  im  Schlufswort  seine  weit  ausge- 
sponnene Argumentation  — in  der  Landwirtschaft,  deren  Produktion 
auf  die  „Entwicklung  lebender  Wesen“  gerichtet  ist,  keine  ausschlag- 
gebende Bedeutung.  „Die  Vorteile  der  Kooperation  auf  grofsem  Mafs- 
stab  sind  hier  wesentlich  eingeschränkt,  und  soweit  sie  auch  in  der 
Landwirtschaft  Bedeutung  haben,  kann  sie  sich  der  individuelle  Wirt- 
schafter durch  genossenschaftliche  Organisation  leicht  erschliefsen.  Auf 
der  anderen  Seite  wachsen  die  Nachteile  der  grofsen  Kooperation  mit 
der  Weite  des  Arbeitsfeldes  und  der  Schwierigkeit  der  Kontrolle  in 
aufserordentlichem  Mafse.  Die  manufakturmäfsige  Arbeitsteilung  versagt 
in  der  Landwirtschaft  so  gut  wie  ganz.  Gegen  die  Verwandlung  des 
zeitlichen  Nacheinanders  in  ein  räumliches  Nebeneinander  der  Stufen- 
prozesse protestiert  die  Natur  des  biologischen  Produktionsvorganges. 
Auch  hinsichtlich  der  spezialisierenden  Arbeitsteilung  kann  der  Landwirt- 
schaftsbetrieb dem  mechanischen  Produktionsbetrieb  nicht  folgen.  Und 
wie  weit  bleibt  seine  Maschinerie  hinter  dem  entwickelten  Maschinismus 
der  Grofsindustrie  zurück.  Anstatt  von  einer  stationären  grofsen  Kraft- 
maschine bezieht  der  Landwirtschaftsbetrieb  seinen  Kraftbedarf  von  mo- 
bilen Kleinmotoren,  und  unter  diesen  dominiert  bis  heute  das  Zugtier. 
So  bewundernswert  auch  manche  landwirtschaftlichen  Werkzeugmaschinen 


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Litteratur. 


64O 

sind,  was  wollen  die  isolierten,  hin-  und  herwandernden,  wochen-  uml 
monatelang  zur  Unthätigkeit  verdammten  Iiinzeltnaschinen  bedeuten 
gegenüber  dem  rastlos  thätigen  Maschinenautomaten  einer  Fabrik,  der  die 
an  ihn  gefesselten  Menschen  wie  Teile  seiner  selbst  zur  Arbeit  zwingt. 
Dabei  ist  der  wesentlich  geringere  Nutzen  der  Maschinerie  in  der  Land- 
wirtschaft keineswegs  ein  unantastbares  Vorrecht  des  Cirofsbetriebes.  Die 
meisten  landwirtschaftlichen  Maschinen  sind  Kleinmaschinen,  der  Klein- 
heit der  tierischen  Motoren  angepafst  und  darum  auch  dem  Kleinljetrieb 
zugänglich.  Der  weitere  Umstand,  dafs  die  landwirtschaftliche  Maschine 
nur  zeitweise  benutzt  wird,  ermöglicht  es,  dafs  auch  gröfsere  Maschinen, 
so  vor  allem  die  wichtige  Dampfdreschmaschine  nebst  Reinigungs- 
maschine,  durch  viele  kleine  Betriebe  gemeinsam  benutzt  werden.“  Und 
weiter:  „In  der  mechanischen  Verarbeitung  steht  die  Werkzeugentwicklung 
an  erster  Stelle ; sie  macht  hier  das  Wesen  der  Produktionsentwicklung 
aus.  In  der  Sphäre  der  organischen  Hervorbringung  ist  die  Werkzeug- 
entwicklung zwar  kein  unwichtiger,  aber  auch  nicht  entfernt  der  wich- 
tigste Faktor  des  Fortschritts.  Das  mechanisch-technische  Prinzip  ist 
hier  nicht  das  dominierende,  die  Entwicklung  bestimmende  Prinzip. 
Nicht  technische  Erfindungen,  sondern  wissenschaftliche  Entdeckungen 
haben  die  Landwirtschaft  revolutioniert.  Nicht  die  Anwendung  der 
Dampfmaschine,  sondern  die  richtige  Erkenntnis  der  Beziehungen 
zwischen  Boden,  Pflanze  und  Tierleib  leitete  die  moderne  Landwirtschaft 
ein.  Physikalische  und  chemische  Bodenverbesserung,  Regulierung  der 
Feuchtigkeitsverhältnisse,  rationelle,  allgemeine  und  s]>ezielle  Nährstoff- 
zufuhr  durch  natürliche,  künstliche  und  grüne  Düngung,  Vermehrung  der 
Pflanzen-  und  Nutztierarten,  Herauszlichtung  veredelter,  den  natur- 
gegebenen Verhältnissen  und  den  besonderen  Nutzzwecken  bestangepafster 
Varietäten,  individualisierende  Pflege  der  zu  kultivierenden  Organismen 
und  Beschtitzung  gegen  ihre  zahllosen  Feinde  und  Schädlinge  — das 
sind  die  Gebiete,  auf  denen  der  landwirtschaftliche  Fortschritt  seine 
gröfsten  Triumphe  gefeiert  hat.  Die  raschere  Erledigung  der  mechanischen 
Hilfsoperation  ist  nicht  unwesentlich,  aber  sic  ist  nicht  die  Hauptsache 
der  Betriebsentwicklung.  Das  Wesen  dieser  beruht  auf  der  Steigerung 
der  Lebensintensität  durch  rationelle  Gestaltung  der  äufseren  Wachstums- 
bedingungen und  der  inneren  Veranlagung  der  Organismen.“  Wenn  aber 
unter  Mitwirkung  der  rasch  und  fruchtbar  entwickelten  ländlichen 
Produzentengenossenschaften,  „die  technischen  Fortschritte  dem  Klein- 
betrieb zum  gröfsten  Teil,  so  sind  die  wissenschaftlichen  Fortschritte  ihm 
ohne  Ausnahme  zugänglich.“ 

David  operiert  nur  mit  den  beiden  Kategorien  „Grofsbetrieb“  und 
„Kleinbetrieb“,  wobei  er  unter  diesem  den  kleinbäuerlichen,  ausschliefslich 
oder  nahezu  ausschliefslich  auf  die  Selbstarbeit  der  Familienglieder  basierte 
Wirtschaft  versteht.  Das  bringt,  scheint  mir,  von  vornherein  etwas 
Schiefes  in  diesen  Teil  seiner  Beweisführung.  Wenn  wirklich  dem  land- 


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David,  Eduard,  Sozialismus  und  Landwirtschaft.  641 

wirtschaftlichen  Grofsbetrieb  darum  keine  oder  keine  erhebliche  Vorzugs- 
stellung zukommen  soll,  weil  die  technischen  und  wissenschaftlichen 
Fortschritte  an  und  für  sich  auch  dem  Kleinbetrieb  zugänglich  seien,  so 
werden  die  auf  kleinerer  Betriebsfläche  aufgebauten  Betrielrc,  sollte  man 
meinen,  doch  nur  in  dem  Mafse  jene  Möglichkeit  ausnutzen  können,  als 
die  Betriebsinhaber  durch  genügende  Geldmittel  und  rationelle  agro- 
nomische Vorbildung  unterstützt  werden.  In  beiderlei  Hinsicht  aber  ist 
der  kleinbäuerliche  einem  kleinkapitalistischen  Landwirtschafts- 
betriebe gegenüber  offensichtlich  im  Nachteil.  Die  Fortschritte  des  land- 
wirtschaftlichen Kreditwesens  ändern  daran  auch  nichts,  da  der  Kredit 
beiden  Teilen  natürlich  nur  nach  Mafsgabe  ihres  eigenen  Vermögens 
zu  Gebote  steht.  Ebenso  ist  beiden  Teilen  der  Anschlufs  an  die  ver- 
schiedenen Arten  sonstiger  ländlichen  Genossenschaften,  die  Ausnutzung 
der  dort  gebotenen  Hilfsmittel  möglich.  Dafs  der  gröfsere  Betrieb  in 
der  Landwirtschaft  an  sich  nicht  notwendig  der  bessere  sein  imifste,  hatte 
übrigens  auch  Kautsky  „auf  die  faux  frais  der  mit  steigender  Betriebs- 
Hache  progressiv  steigenden  Transportkosten  hinweisend"  ja  selbst  aus- 
drücklich hervorgehoben. 

Aber  der  kleinkapitalistische  ist  ein  Lohnarbeit  anwendender 
Landwirtschaftsbetrieb!  Den  Lohnarbeitern,  die  bei  der  Weite  des  länd- 
lichen Produktionsfeldes  schwer  zu  beaufsichtigen  und  die  hier  auch 
durch  kein  System  des  Akkordlohns  angestachelt  werden  können,  fehlt  der 
treibende  Stachel  des  Eigeninteresses,  die  Spannkraft  und  die  Sorgfalt, 
mit  der  der  Bauer  und  seine  Angehörigen  beim  Werke  sind.  Dies  von 
keiner  Seite,  auch  von  Kautsky  nicht,  geleugnete  Moment  der  Ertrags- 
steigerung, über  das  die  kleinbäuerliche  Wirtschaft  verfügt,  ist  für  David 
das  in  letzter  Instanz  Entscheidende.  Die  zunächst  nur  negative  Argu- 
mentation, dafs  die  kleinen  Betriebe  von  der  Möglichkeit,  die  technischen 
und  wissenschaftlichen  Errungenschaften  sich  anzueignen,  in  der  Land- 
wirtschaft nicht  ausgeschlossen  seien,  kann  nur  dann  zu  einem  posi- 
tiven Satz,  zur  These,  dafs  gegenwärtig  der  Kleinbetrieb  die 
günstigeren  Produktionschancen  biete,  hinüber  führen,  wenn  man 
diesem  Faktor,  der  durch  eigen  Interesse  potenzierten  Arbeitssorgfalt^  der 
kleinbäuerlichen  Wirtschafter  eine  ungemessene  Bedeutung  für 
die  Produktivitätssteigerung  beilegt,  eine  Kraft,  die  alle  in  der  Armut 
und  Unbildung  der  kleinbäuerlichen  Wirtschafter  begründeten  Hemmungen 
rationeller  Betriebsweise  wett  macht. 

Es  ist  das  eine  subjektive  Schätzung,  die  weder  durch  Berufung  auf 
die  Resultate  der  vergleichenden  Betriebszählung,  noch  auch  auf  die 
ökonomischen  Fortschritte,  die  innerhalb  weiter  kleinbäuerlicher 
Schichten  gegen  früher  vielfach  zu  konstatieren  sein  mögen,  zur  Beweis- 
kraft erhoben  werden  kann.  Wenn  die  Meinung,  die  die  Widerstands- 
kraft des  Kleinbauertums,  ohne  jene  Fortschritte  in  Anschlag  zu  bringen, 
aus  blofser  Ueberarbeit  und  Unterkonsumtion  erklären  will,  voreilig 


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642 


I.itteratur. 


generalisiert,  so  ist  gegen  die  Davidsche  Antithese,  die  Proklamation  der 
Kleinbauernwirtschaft  als  der  tendentiell  produktiveren  Betriebsweise,  die 
mit  gleicher  Arbeit  und  Geldaufwand  mehr  resp.  bessere  Erträge  als  der 
Grofsbetrieb  zu  erzielen  vermöge,  derselbe  Einwand  zu  erheben.  So  in- 
teressant und  lehrreich  Davids  methodisch  durchgeführte  Analyse  des  land- 
wirtschaftlichen Produktionsprozesses  und  die  Vergleichung  des  Grofs- 
und  Kleinbetriebes  unter  diesem  Gesichtspunkte  ist,  zur  Begründung  der 
Davidschen  These  reicht  sie  nicht  aus,  kann  sie  der  Natur  der  Sache  nach 
nicht  ausreichen.  Dazu  wären  nähere  Mafsbestimmungen,  Zahlen  not- 
wendig, in  denen  das  Plus  und  Minus  der  Produktivität,  wie  es  aus  dem 
Zusammenspiel  der  positiven  und  negativen  Instanzen  resultiert , sich 
klar  ausdrückt,  eine  auf  breiter  Grandlage  entworfene  Statistik  darüber, 
wie  sich  die  Geld-  und  die  in  Geldumzurechnendcn  Arbeitskosten  in 
rationell  geleiteten  kapitalistischen  Grofs-  und  Kleinbetrieben  gegenüber 
vorgeschrittenen  kleinbäuerlichen  Wirtschaften  für  die  einzelnen  Kultur- 
arten in  den  verschiedenen  Gegenden  stellen.  Ohne  das  fehlt  jede 
sichere  Handhabe  der  Beurteilung. 

Der  Satz,  dafs  der  kleinbäuerliche  Betrieb  heute  bessere  Chancen  der 
Produktivitätserhühung  als  der  kapitalistisch  organisierte  biete,  wird  dann 
weiter  durch  eine  Betrachtung  der  in  der  modernen  „weltwirtschaft- 
lichen Formation  der  organisierten  Produktion“  waltenden 
Tendenzen  gestützt.  Diese  Tendenzen,  führt  David  aus,  drängen  in 
den  alten  westeuropäischen  Kulturländern  auf  eine  steigende  Intensi- 
ficierung  der  Landwirtschaft,  auf  den  Uebergang  zu  Kulturen,  die  pro 
Flächeneinheit  die  Verausgabung  relativ  gröfserer  Arbeitsmengen  zulassen 
und  fordern.  Nur  in  den  Kulturen  mit  „niederem  Arbeitsfassungsver- 
mögen“, deren  Produkt  zugleich  leicht  und  billig  transportierbar,  vor  allem 
in  der  Körnerproduktion,  arbeite  die  überseeische  Konkurrenz  mit  ihrem 
extensiven  Raubbau  billiger  als  die  heimische  Landwirtschaft,  die  mit  den 
hohen  Bodenpreisen  und  der  Notwendigkeit  starken  Düngersatzes  zu 
rechnen  hat.  „ln  den  neuen  I .ändern  geht  die  alte  angehäufte  Boden- 
kraft in  die  Produktivität  ein.  Europa  geniefst  den  Nutzen  dieses  exten- 
siven Raubbaues  mit;  es  wäre  thöricht  dies  nicht  zu  thun.  So  lange  das 
für  Getreidebau  erschliefsbare  Neuland  des  Erdballs  reicht,  was  noch  für 
sehr  lange  der  Fäll  sein  dürfte,  werden  die  Industrievölker  aus  diesem 
Naturvorrat  schöpfen.“ 

Für  die  Viehzucht  aber,  die  bei  genügendem  Hinzukauf  von  Futter- 
mitteln auf  kleiner  Betriebsfläche  elastisch  ausdehnbar  ist,  ebenso  für 
die  Herstellung  der  meisten  landwirtschaftlichen  Qualitätsprodukte,  zumal 
derer,  die  in  frischem  Zustand  keinen  weiten  Transport  vertragen,  liegen 
die  Dinge  anders.  Hier  falle  die  Konkurrenz  der  überseeischen  Länder 
entweder  fort  oder  sie  habe  doch  nicht  den  Vorsprung  beträchtlich  ge- 
ringerer Produktionskosten.  Daher  geht,  durch  lokale  Verhältnisse  natür- 
lich sehr  vielfältig  durchkreuzt,  die  allgemeine  Entwicklung  in  den 


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-j 


David,  Eduard,  Sozialismus  und  Landwirtschaft. 


643 


alten  hoch  industriellen  europäischen  Staaten  rationellerweise  dahin,  den 
Getreidebau  zu  Gunsten  jener  heut  lohnenderen  Kulturen  mit  „gröfserem 
Arbeitsfassungsvermögen",  in  denen  die  bei  der  Körnerproduktion  noch 
so  wichtige  Maschinennutzung  keine  oder  eine  ganz  verschwindende 
Rolle  spielt,  einzuschränken.  Dafs  eine  solche  Entwicklungsrichtung,  so 
weit  sie  durchdringt,  im  ganzen  natürlich  mehr  eine  Verkleinerung  als 
eine  Ausdehnung  der  Betriebsflächen  begünstigt,  liegt  auf  der  Hand. 
Aber  es  ist  nicht  abzusehen,  warum  nun  bei  intensiverer  auf  kleinerem 
Areal  basierter  Wirtschaftsweise  gerade  der  kleinbäuerliche  Betrieb  in 
die  günstigste  Stellung  rücken  und  am  raschesten  Vordringen  müsse. 
Den  Vorsprung,  den  gröfsere  Geldmittel  und  bessere  agronomische 
Schulung  kapitalistisch  organisierten  Betrieben  gewähren,  wird  doch  durch 
jene  auf  Betriebsintensivizierung  und  Areal  Verkleinerung  der  Wirtschaften 
gerichtete  Tendenz  nicht  aufgehoben,  mag  immerhin  der  Fortfall  der 
Maschinennutzung  bei  solcher  Kulturart  das  Produktivitätsverhältnis  für 
den  Kleinbauer  vorteilhafter  als  beim  Getreidebau  gestalten.  Dafs  man 
in  der  Vermehrung  der  speziell  kleinbäuerlichen  Wirtschaften  in 
Deutschland  von  1882 — 95  das  Anzeichen  einer  weitertreibenden  in  der 
westeuropäischen  agrikulturcllen  Gesamtentwicklung  notwendig  begrün- 
deten Tendenz  zu  erblicken  habe,  kann  daher  wohl  in  Zweifel  gezogen 
werden.  In  Grofsbritannien  z.  B. , das  ganz  ungeschützt  dem  Anprall 
der  billigen  überseeischen  Getreidezufuhr  ausgesetzt  ist,  in  dem  man 
also  nach  David  ein  noch  weit  stärkeres  Vordringen  der  kleinbäuer- 
lichen Wirtschaft  erwarten  sollte,  sind  von  1885  — 95  die  Betriebe 
bis  zu  2 Hektar  zurückgegangen,  die  von  2 bis  8 und  von  8 bis 
20  Hektar  haben,  sich  zwar  etwas  vermehrt  aber  nach  beträchtlich  ge- 
ringerem Prozentsatz  als  die  von  20  bis  40  und  die  von  40  bis  120  Hektar. 
Während  diese  beiden  letzten  Kategorien  an  Flächenumfang  um  356  112, 
haben  die  beiden  ersten  nur  um  5 t 329  Hektar,  den  siebenten  Teil  des 
Zuwachses,  den  jene  erzielten,  zugenommen. 

Gemäfs  dieser  Ansicht,  dafs  unter  den  gegebenen,  die  Ausbreitung 
der  Viehzucht  und  intensiverer  Kulturarten  begünstigenden  Verhältnissen 
der  kleinbäuerliche  Betrieb  gegenüber  dem  kapitalistisch  organisierten 
der  tendentiell  produktivere  sei,  dafs  ihm  infolge  dieser  Ueberlegenheit 
in  freiem  Konkurrenzkampf  die  Zukunft  gehöre,  erhebt  David  die  For- 
derung einer  prinzipiellen  Revision  der  sozialistischen  Anschauungsweise 
und  Taktik.  Während  die  bisher  in  der  Partei  herrschende  Auffassung 
in  den  Grofsbetrieben  der  Landwirtschaft,  ganz  analog  zu  den  Grofs- 
betrieben  der  Industrie,  die  technisch  höchst  entwickelten  Organisationen 
sah,  die  ein  sozialistisches  Regime  nur  umzubilden,  die  es  als  Ausgangs- 
und Stützpunkt  für  eine  allmähliche  Sozialisierung  der  gesamten  Pro- 
duktion und  Verteilung  zu  benutzen  haben  werde,  sind  sie  nach  David 
rückständige  zum  Absterben  verurteilte  Gebilde,  die,  wesentlich  auf  un- 
rentablen Körnerbau  zugespitzt,  in  Deutschland  nur  künstlich  durch  die 


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644 


Litteratur. 


Kornzoll-  und  Liebesgabenpolitik  der  Regierung  am  Leben  erhalten 
werden.  Nicht  eine  Umbildung  der  agrarischen  Grofsbetriebe,  die  ihnen 
ihre  kapitalistische  Hülle  abstreift,  sondern  die  Zerschlagung  der  im  Grofs- 
betrieb  bewirtschafteten  Ländereien,  die  Aufteilung  derselben  unter  klein- 
bäuerliche Selbstwirtschafter,  überhaupt  eine  weitgreifende  staatliche 
Förderung  der  Kleinbauernbetriebe  und  ihrer  Produzentengenossenschaften 
wäre  die  einem  sozialistischen  Regime  in  der  Agrikultur  vorerst  gestellte 
Aufgabe.  Sei  doch  die  Förderung  der  kleinbäuerlichen  nicht  nur  För- 
derung einer  demokratisch  volkstümlichen  sondern  zugleich  der  wirt- 
schaftlich rationellsten,  das  Höchstmafs  an  Produktivität  verbürgenden 
Betriebsform.  Die  Proklamation  eines  solchen  Zieles,  aufgenommen  in 
das  Gegenwartsprogramm  der  Partei,  würdf  dann  aber  auch  rings  das 
landarbeitende  Volk,  Bauern  und  Landarbeiter,  die  das  „altgeliebte  Ideal1- 
wirtschaftlicher  Selbständigkeit  noch  immer  im  Herzen  tragen,  für  die 
Sozialdemokratie  gewinnen.  Jetzt  das  Gefolge  der  Junkerpolitik.  Stimm- 
vieh für  Kornzollforderungen,  die  nur  dem  Grofsagrarier  nützen  können, 
den  kleinen  Landwirt  aber  unberührt  lassen,  oder,  wo  er  Korn  hinzu 
kauft,  direkt  schädigen,  würden  diese  Massen  dann  mit  dem  industriellen 
Proletariat  zu  einer  einzigen  unüberwindlichen  Macht  zusammenschmelzen. 
„Nicht  ein  unversöhnlicher  wirtschaftlicher  Gegensatz  — wie  die  Grofs- 
agrarier glauben  machen  wollen  — sondern  eine  tief  verankerte 
Interessensolidarität  besteht  zwischen  der  Landbebauermasse  und 
der  übrigen  werkthätigen  Volkstnasse.  Wer  die  Arbeiterschaft  niederhält, 
hält  die  Bauernschaft  nieder.  Die  materielle  und  kulturelle  Hebung  der 
Arbeitsbauern  ist  an  das  siegreiche  Fortschreiten  der  modernen  Arbeiter- 
Itewegung  geknüpft !“ 

So  lebhaft  der  Wunsch  eines  solchen  Zusammenschlusses  in  der 
Sozialdemokratie  empfunden  wird,  so  stark  das  Bedürfnis  nach  einem 
agitatorisch  wirksamen  Agrarprogramm,  die  Voraussetzungen,  von 
denen  her  David  seine  Folgerungen  entwickelt,  die  Theorien  von  der 
überlegenen  Produktivität  des  Kleinbauernbetriebes,  sind  derart  ungewifs 
und  auf  absehbare  Zeit  hinaus  so  wenig  beweisbar,  scheint  es,  dafs  Davids 
Auffassung  der  überlieferten,  von  Kautsky  etwas  modifizierten  Partei- 
anschauung zwar  in  mancherlei  Hinsicht  Abbruch  thun,  aber  in  ihrer 
prinzipiellen  Formulierung  kaum  darauf  rechnen  kann,  sich  Aner- 
kennung zu  erkämpfen.  Bei  der  grofsen  Kompliziertheit  der  landwirt- 
schaftlichen Verhältnisse  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  dafs  die  Entwicklung 
der  Agrikultur  innerhalb  verschiedener  Länder  und  Gegenden  so  weit 
auseinander  laufende  Bahnen  einschlagen  mag,  dafs  beide  Ansichten, 
entsprechend  eingeschränkt,  nebeneinander  Recht  behalten  können.  Da 
mag  der  Klein-,  dort  mag  der  Grofsbetrieb  das  fortgeschrittene  Element 
darstellen,  an  welches  eine  demokratisch  sozialistische  Politik  einmal  vor- 
wiegend anzuknüpfen  haben  würde. 

Sei  es  indels  wie  immer  um  die  Produktivität  der  kleinbäuerlichen 


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David,  Eduard,  Sozialismus  und  Landwirtschaft. 


645 


Betriebsform  bestellt,  dafs  man  mit  ihrem  Fortbestände  auf  absehbare 
Zeiten  hin  zu  rechnen  hat,  wird  nicht  bestritten.  So  erhalten  die  David- 
sehen  Ausführungen  über  die  F.ntwicklung  der  bäuerlichen  Bezugs-  und 
Verwertungsgenossenschaften,  der  Hinweis  auf  die  Verbindungsfaden,  die 
sich  zwischen  ihnen  und  den  Konsumgenossenschaften  der  Industrie- 
arbeiter (Dänemark  und  F.ngland)  anspinnen,  — Ansätze,  die,  in  ihrer  Ten- 
denz auf  Ausschaltung  des  kapitalistischen  Zwischenhandels  gerichtet,  zu 
lebenskräftigen  Zellen  eines  genossenschaftlichen  Organisationssystems“ 
werden  können  — eine  von  dem  Austrag  jener  Kontroverse  wesentlich 
unabhängige  Bedeutung.  Sie  zeigen  in  höchst  interessanter  Weise,  dafs 
der  bäuerliche  Kleinbetrieb,  wenn  man  vom  Zwerginafs  seiner  Produk- 
tion absieht,  in  allen  übrigen  Beziehungen  durchaus  nicht  notwendig  ein 
Hemmschuh  fortschreitender  Sozialisierung  des  Wirtschaftslebens  sein 
mufs,  ja  dafs  er  unter  Umständen  aus  sich  selbst  Tendenzen  erzeugt,  die 
ihn  in  jene  allgemeine  Bewegung  mit  hineinziehen,  dafs  in  der  That  auch 
dann,  wenn  wie  David  meint,  in  der  Landwirtschaft  der  Kleinbetrieb 
der  Zukunft  gehören  würde,  Möglichkeiten  einer  Anknüpfung  gegeben 
sind.  Natürlich  wtirde  eine  solche  Entwicklung  — David  hebt  das  in 
seiner  Polemik  selbst  hervor  — nicht  ausschliefsen,  dafs  sich  nicht  später 
einmal  auf  der  Grundlage  bäuerlicher  Produzentengenossenschaften  auch 
ein  weiterer  Zusammenschlufs  zu  ländlichen  Produktivgenossenschaften 
der  Arbeitsbauern  vollziehen  könnte  und  so  auch  in  der  landwirt- 
schaftlichen Produktionssphäre  ein  sozialistisches  Prinzip  zur  Herr- 
schaft käme. 

Der  zweite  Band  soll  nach  dem  Plan  des  Werkes  die  Eigentums- 
frage und  Preisbildung  behandeln. 

Berlin-Charlottenburg. 

CONRAD  SCHMIDT. 


Curti,  Theodor,  Geschichte  der  Schweiz  im  XIX.  Jahrhundert. 

Reich  illustriert  von  A.  Anker,  H.  Bachmann,  E.  Bille 
L.  Dünki,  A.  Hoftmann,  J.  Morax,  P.  Robert,  H.  Scherrer, 
Neuenburg  (V erlag  von  F.  Zahn)  1902.  714  S. 

Mit  der  Geschichte  der  Schweiz  im  19.  Jahrhundert  wollten  Ver- 
fasser und  Verleger  ein  Volksbuch  im  besten  Sinne  des  Wortes  schaffen. 
Die  leider  viel  zu  wenig  bekannte  neuere  und  neueste  Geschichte  un- 
seres lindes  sollte  durch  Theodor  Curti,  unterstützt  von  einer  Reihe 
hervorragender  Künstler,  zum  Gemeingut  des  Schweizervolkes  werden. 

Der  Plan  ist  vollständig  gelungen.  Curtis  Schweizergeschichte  im 


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646 


l.itlcrutur. 


19.  Jahrhundert  hat  in  unserem  Lande  eine  Verbreitung  gefunden,  wie 
selten  ein  Werk.  Der  Name  des  Verfassers  und  die  Opferwilligkeit  und 
Energie  des  Verlegers  haben  demselben  den  Weg  überallhin  gebahnt. 
Man  findet  es  in  der  Hand  des  Arbeiters  und  Bauern,  beim  Hand- 
werker und  Beamten , beim  Politiker  und  Gelehrten,  kurz  bei  allen 
Ständen  und  Berufsarten. 

Das  Geschenk , welches  der  im  ganzen  Schweizerland  bekannte 
St.  Galler  Landammann  bei  seinem  Eintritt  in  die  Leitung  der  „Frank- 
furter Zeitung"  unserem  Volke  durch  dieses  Wert  zueignete,  ist  aber 
auch  für  den  Historiker,  den  Verwaltungsbeamten,  den  Staatsmann  und 
Volkswirt  von  höchster  Bedeutung.  In  leicht  verständlicher  Form  bahnte 
Theodor  Curti  einer  neuen  Geschichtschreibung  und  Geschichtsauf- 
fassung die  Wege.  Die  sozialen  Zustände  sind  bei  ihm  nicht  blofs  der 
Hintergrund,  den  der  Geschichtschreiber  gelegentlich  mit  ein  paar 
raschen  Strichen  zeichnet,  sondern  das  Fundament,  auf  dem  sich  alles 
Werden  und  Geschehen  abwickelt.  Mit  seinem  Scharfblick  hat  er  aus 
dem  überaus  weitschichtigen  Material,  das  er  in  wichtigen  Partien  selber 
auffinden  und  Zusammentragen  mufste,  überall  die  wirtschaftlichen  Mo- 
mente, Triebfedern  und  Zielpunkte  erkannt  und  mit  klassischer  Prägnanz 
zum  Ausdruck  gebracht. 

Dem  Sprofs  alter  st.  gallischer  Magistratenfamilie  kommen  dabei 
seine  mannigfachen  persönlichen  Beziehungen  wie  auch  seine  lang- 
jährige Bethätigung  als  Mitglied  des  Nationalrates,  der  Regierung  des 
Kantons  St.  Gallen  u.  s.  w.  trefflich  zu  statten.  Ein  gutes  Stück  der 
neueren  Schweizergeschichte  hat  er  selber  miterlebt.  So  mancher  Fort- 
schritt auf  dem  Gebiete  der  Sozialpolitik  in  Bund,  Kantonen  und  Ge- 
meinden wurde  durch  ihn  als  Journalist  oder  als  Politiker  oder  als  Ver- 
waltungsmann angeregt  und  durchgeführt.  Seine  nähere  und  engere 
Verwandtschaft  ist  mit  den  Geschicken  des  engeren  und  weiteren 
Vaterlandes  innig  verknüpft.  Aus  der  Erinnerung  und  manchem 
Familienarchiv  schöpfte  er  wertvolle  Züge  und  Anhaltspunkte. 

Eine  Besprechung  der  sozial|>olitisch  bedeutsamen  Pariieen  seines 
Buches  an  dieser  Stelle  rechtfertigt  sich  denn  auch  ohne  weiteres. 

Dieselben  beginnen  mit  der  Schilderung  der  Fremdendienste; 
denn  man  kann  den  Gang  der  Schweizergeschichte  nicht  verstehen,  ohne 
sich  über  die  ökonomische  Bedeutung  jener  Klarheit  verschafft  zu  haben 
Es  ist  Curtis  Verdienst,  die  Bedeutung  des  Söldnerwesens  als  Erwerbsart 
deutlich  hervorgehoben  und  bis  ins  Detail  nachgewiesen  zu  haben.  Wohl 
hat  die  urwüchsige  Kriegslust  tapferer  Volksstämme,  eine  Macht|>olitik, 
die  bald  wieder  aufgegeben  wurde  und  längerhin  die  Parteipolitik  dem 
schweizerischen  Soldnerwesen  Vorschub  geleistet.  Aber  die  Haupttrieb- 
feder war  und  wurde  bis  gegen  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  immer 
mehr  das  Bedürfnis  des  ärmlichen  nationalen  Haushalts.  Die  Be- 
vülkerungsvermehrung  und  das  Fehlen  einer  grofsen  nationalen  ln- 


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Curti,  Theodor,  Geschichte  der  Schweiz  im  19.  Jahrhundert. 


dustrie,  welche  ausreichenden  Verdienst  hätte  schaffen  können,  mufsten 
bewirken,  dafs  die  Schweiz  den  Krieg  zu  ihrer  Industrie  machte.  Die 
Bedeutung  dieser  „F’reradenindustrie“  mag  unter  anderen  daraus  ersehen 
werden,  dafs  allein  die  französische  Krone  von  1474 — 1715  an  die 
Schweizer  1049843313  Gulden  Soldgelder  und  96825310  Gulden 
weitere  Summen  entrichtete. 

Der  Schilderung  der  sozialen  Zustände  im  18.  Jahr- 
hundert, welcher  Curti  ein  besonderes  Kapitel  widmet,  verdanken  wir 
wiederum  manchen  neuen  Zug.  Er  zeigt  wie  durch  die  Vermehrung 
des  Reichtums  in  den  Hauptorten  durch  Handel,  Fremdendienste,  Auf- 
hebung der  Klöster  etc.  manche  Familien  ihre  Mitbürger  zu  Zinsschuld- 
nern machten.  Dadurch  änderten  sich  auch  die  politischen  Verhältnisse. 
Selbst  die  Volksherrschaft  in  den  Landgemeindekantonen,  in  Bünden  und 
Wallis,  schwächte  sich  ab,  machte  der  Familienherrschaft  und  einer 
Familiendemagogie  Platz. 

Die  Schilderung  der  Landwirtschaft  und  der  Umgestaltung 
derselben  im  zweiten  Teile  des  18.  Jahrhunderts  gehört  zu  dem  besten, 
was  wir  hierüber  gelesen.  Auch  schöpft  Curti  an  dieser  Stelle  zum  Teil 
aus  bisher  unbekannten  Quellen.  Die  Veränderung  des  Zustandes  des 
Grundbesitzes  durch  Verschuldung  und  Erbteilung,  die  Teilung  der 
Allmend,  die  Aufhebung  des  Weidgangs  und  des  Zelgenzwangs,  die  An- 
lage von  Kunstwiesen  etc.  wird  prägnant  und  doch  erschöpfend  dar- 
gestellt. 

Das  Kapitel  über  die  „Aufhebung  der  Feudallasten“  durch 
die  Helvetik  giebt  ihm  Gelegenheit  zu  einem  wertvollen  Exkurs  über  die 
Grundzinse  und  Zehnten,  ln  einem  besonderen  Kapitel  des  IV.  Buches 
zeichnet  er  die  agrarischen  Kämpfe  der  dreifsiger  Jahre  in  einem  ein- 
zelnen Kanton.  In  einem  anderen  Kapitel  zeigt  er,  wie  die  land- 
wirtschaftliche Privatwirtschaft  allmählich  von  den  mancherlei  Fesseln 
befreit,  vom  Getreidebau  zum  Futterbau  überging,  wie  die  Milchwirt- 
schaft einen  grofsen  Aufschwung  nahm,  aber  gleichzeitig  auch  die  Boden- 
verschuldung ein  bedrohliches  Wachstum  zeigte.  Der  Bund  besann  sich 
verhältnismäßig  spät  auf  seine  Pflicht,  die  Landwirtschaft  zu  fördern. 
Als  Curti  anfangs  der  achtziger  Jahre  anläfslich  der  Budgetberatung  im 
Nationalrate  Erhöhung  des  Kredites  für  Futterbau  und  jährlich  147000  Frcs. 
zur  Unterstützung  der  Bodenverbesserung  forderte,  wollte  Bundesrat  Droz 
darin  einen  Anfang  des  Staatssozialismus  sehen.  Aber  die  Frucht  dieser 
Debatten  war  das  Landwirtschaftsgesetz  vom  Jahre  1884,  welches  Bundes- 
beiträge gewährt  an  das  landwirtschaftliche  L’nterrichtswescn , an  land- 
wirtschaftliche Versuchsstationen,  Vereine,  Genossenschaften  und  Aus- 
stellungen, für  Förderung  der  Rindvieh-  und  der  Pferdezucht.  Boden- 
verliesserungen  können  nach  diesem  Gesetz  mit  40 " „ subventioniert 
werden,  ebenso  die  Schutzmafsregeln  gegen  die  Verbreitung  der  Reblaus 
und  andere  Schädlinge  der  Landwirtschaft.  Den  Einflufs  dieses  Ge- 


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648 


Liltcratur. 


setzes  auf  die  Bundesfinanzen  mag  man  am  besten  aus  dem  Budget 
pro  1904  ersehen.  Dasselbe  stellt  folgende  gröfsere  Ausgaben  der 
Landwirtschaftsdepartements  in  Aussicht : 


Subvention  der  theoretisch- praktischen  Ackerbauschulen 

Frcs. 

50  265 

„ „ landwirtschaftlichen  Winterschulen 

»* 

75  92° 

„ kantonaler  Weinbauschulen,  Weinbauversuchs- 

Stationen 

»» 

5°  75° 

„ der  Molkereischulen 

n 

28  950 

„ „ Rindviehzucht 

,, 

500  000 

, „ Pferdezucht 

1» 

546  650 

„ Kleinviehzucht 

» 

25  000 

„ „ Bodenverbesserungen 

400  000 

Mafsnahmen  gegen  Schäden,  welche  die  landwirtschaftliche 

Produktion  bedrohen 

»t 

600  000 

daneben  gibt  der  Bund  für  seine  landwirtschaftlichen  Ver- 

Suchsanstalten  jährlich  mehr  als 

„ 

400  OOO 

aus. 

Gerade  so  einläfslich  schildert  Curti  die  Entwickelung  der  schweize- 
rischen Industrie,  des  Gewerbes  und  Handels.  Dabei  widmet  er  der 
Darstellung  des  Arbeiterschutzes  besondere  Sorgfalt.  Er  zeichnet 
die  Entwickelung  derselben  von  den  ersten  Anfängen  bis  auf  die 
heutige  Zeit  Kein  einziger  Zug  ist  da  vergessen.  Hoffnungsfroh  zeigt 
er  in  den  kantonalen  Arbeiterschutzgesetzen  die  Pioniere  der  Ausdehnung 
und  Vertiefung  des  eidg.  Arbeiterschutzes.  Die  Schilderung  des  Brandes 
in  Ustcr,  bei  welchem  die  Handweber  des  Kantons  Zürich  sich  durch 
das  Anzünden  einer  Fabrik  der  Webmaschine  als  Konkurrenten  zu  ent- 
ledigen trachteten,  gibt  Curti  Gelegenheit  zu  interessanten  Streiflichtern 
auf  die  sozialen  Verhältnisse , die  Gemüts-  und  Gedankenwelt  der  Ar- 
beiter der  dreifsiger  Jahre. 

Den  schweizerischen  Eisenbahnen  widmet  Curti  drei  interessante 
Kapitel.  Im  ersten  schildert  er  den  überaus  folgenschweren  Kampf 
zwischen  den  Anhängern  der  Privatbahnen  und  der  Staatsbahnen,  der 
um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  sich  in  unserem  Lande  abspielte.  Er 
zeigt  die  offenen  und  geheimen  Triebfedern,  »'eiche  statt  zum  Bau  des 
schweizerischen  Eisenbahnnetzes  durch  den  Bund  zum  Erlafs  des  Bundes- 
gesetzes über  den  Bau  und  Betrieb  von  Eisenbahnen  im  Gebiete  der 
schweizerischen  Eidgenossenschaft  führten. 

In  einem  anderen  Kapitel  behandelt  er  die  Gotthardbahn,  in- 
dem er  von  der  ernsten  Eisenbahnkrisis  ausgeht,  welche  die  Suisse  occi- 
dentale  und  die  Nordostbahn  an  den  Abgrund  des  Ruins  führten  und 
über  die  Nationalbahn  die  bekannte  Katastrophe  hereinbrechen  liefe. 
Wie  Curti  im  Jahre  18S0  kurz  nach  dem  am  29.  Februar  stattgefundenen 
Durchschlag  des  Tunnels  diesen , von  Arbeitern  begleitet , teils  durch- 


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Curti,  Theodor,  Geschichte  der  Schweiz  im  ig.  Jahrhundert. 


schritten  teils  durchfahren  hat,  so  nahm  er  auch  am  Eisenbahn- 
rückkauf, dem  er  ein  drittes  Kapitel  widmet,  hervorragenden  Anteil. 

Vergeblich  hatte  der  Bundesrat  schon  im  Jahre  1857  einen  Fonds 
zum  Ankauf  von  Eisenbahnaktien  gründen  wollen , um  mit  Hilfe  des- 
selben allmählich  den  Rückkauf  bewerkstelligen  zu  können.  Umsonst 
hatte  im  Jahre  1862  der  damalige  Bundespräsident  Stämpfli  in  einer 
Broschüre  den  Rückkauf  aller  Bahnen  befürwortet , um  den  Eisenbahn- 
zuständen, die  krankhaft  seien,  eine  Wendung  zum  Bessern  zu  geben. 
Die  Anstrengungen  von  Bundesrat  Welti  zum  Ankauf  der  Zentralbahn 
scheiterten  am  Veto  des  V'olkes.  Zwei  Monate  nach  diesem  verwer- 
fenden Volksentscheid  stellte  Curti  im  Nationalrat  eine  Motion,  welche 
den  Bundesrat  zu  einer  Untersuchung  über  den  Gesamtrückkauf  einlud. 
Bundesrat  Zemp,  der  erste  konservative  Katholik  in  dieser  Behörde,  ist 
im  Laufe  dieser  Untersuchung  aus  einem  Gegner  des  Eisenbahnrück- 
kaufs zu  einem  Freund  desselben  geworden. 

Eine  von  Curti  präsidierte  Expertenkommission  hatte  die  der 
Bundesversammlung  zu  machenden  Vorlagen  zu  prüfen.  Im  Laufe  der 
Zeit  gelang  es,  mit  allen  Eisenbahngesellschaften  Verträge  über  die  Zu- 
sammenlegung ihrer  Konzessionen  abzuschliefsen.  Es  wurde  das  Bundes- 
gesetz betreffend  das  Stimmrecht  der  Aktionäre  von  Eisenbahngesell- 
schaften, sowie  dasjenige  über  das  Rechnungswesen  der  Eisenbahnen  er- 
lassen. Noch  mehr  als  diese  gesetzgeberischen  Akte  hat  der  Streik  der 
Eisenbahnangestellten  bei  der  Nordostbahn  vom  März  1897  dem  Rück- 
kauf vorgearbeitet.  Alle  Versuche  denselben  zu  verhindern,  scheiterten 
kläglich.  . Wurde  doch  das  Gesetz  am  20.  Februar  1898  vom  Schweizer- 
volk mit  385  792  gegen  181  721  Stimmen  angenommen. 

Die  aktive  Teilnahme  des  Geschichtschreibers  am  Gange  der  Er- 
eignisse pflegt  im  allgemeinen  der  Objektivität  der  Darstellung  nicht 
viel  zu  nützen.  Nur  zu  leicht  mischt  sich  in  die  Freude  über  errungene 
Siege  oder  in  den  Schmerz  über  erlittene  Niederlagen  ein  persönlicher 
Zug,  welcher  dem  Gegner  nicht  ganz  gerecht  zu  werden  vermag.  Bei 
Curtis  Geschichte  der  Schweiz  im  t9.  Jahrhundert  trifft,  wie  bereits  im 
Vorangehenden  bemerkt  wurde,  das  Gegenteil  zu.  Die  Ruhe  und  Ob- 
jektivität des  Philosophen  verläfst  ihn  bei  keinem  Anlafs.  So  ist  unter 
anderem  die  Schilderung  der  Bewegung  für  das  Banknotenmonopol 
ein  Meisterstück  der  Darstellung.  Dr.  med.  Joos  von  Schaffliausen, 
dessen  Name  mit  den  meisten  sozialen  Errungenschaften  der  letzten 
Jahrzehnte  des  19.  Jahrhunderts  enge  verknüpft  ist,  sowie  eine  Reihe 
hervorragender  Männer  werden  im  Verlaufe  der  SchilderungderEreignis.se 
treffend  charakterisiert  und  geradezu  plastisch  dargestellt,  ohne  dafs  dazu 
viel  Worte  verwendet  werden.  Oder  gibt  es  eine  treffendere  Schilderung 
von  Dr.  Joos,  als  die  Zeichnung  der  unentwegten  Energie,  mit  welcher 
dieser  für  das  Banknotenmonopol  kämpfte.  Als  das  Volk  das  Banknoten- 
gesetz abgelehnt  hatte,  brachte  Dr.  Joos  im  Nationalrate  eine  Motion 

Archiv  für  *oz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  42 


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650 


Litteratur. 


ein,  welche  die  Einführung  des  Ranknotenmonopols  bezweckte.  Obwohl 
diese  Motion  blofs  6 Stimmen  auf  sich  vereinigte,  wandelte  Joos  dieselbe 
in  eine  Volksiniative  um,  reiste  als  „Wanderapostel"  im  Lande  herum 
und  betrieb  unentwegt  die  Sammlung  von  50000  Unterschriften.  Von 
der  Presse  unterstützte  ihn  zuerst  nur  die  von  Theodor  Curti  und  Rein- 
hold Rüegg  soeben  gegründete  „Züricher  Post".  Langsam  ging  die 
Unterschriftensammlung  vor  sich.  Schliefslich  konnten  56  526  solcher 
eingereicht  werden  — der  erste  Fall , dafs  die  Sammlung  von  50  000 
Unterschriften  für  eine  Verfassungsänderung  F.rfolg  hatte.  Wohl  wurde 
die  Initiative  verworfen,  aber  die  Väter  des  Gedankens  liefsen  denselben 
nicht  mehr  ruhen. 

Wer  sich  über  Entstehung  und  Wirkung  des  Alkoholmonopols,  des 
Post-,  Telegraphen-  und  Telephonwesens  überhaupt  des  Verkehrs  und 
Handels  rasch,  sicher  und  gründlich  orientieren  will,  findet  in  Theodor 
Curtis  Geschichte  der  Schweiz  im  19.  Jahrhundert  ebenfalls  alles  Wissens- 
werte. Mit  Recht  ist  dieselbe  ein  unentbehrliches  Nachschlagebuch  für 
alle  diejenigen  genannt  worden,  die  sich  für  die  Volkswirtschaft  unseres 
Landes  interessieren.  — 

Frauenfeld. 

EMIL  HOFMANN. 


Die  direkten  Staatssteuern  des  Kantons  Zürich  im  neunzehnten  Jahr 
hundert.  Winterthur.  (Geschwister  Ziegler)  1903,  279  S. 

Das  klassische  Werk  von  Georg  Schanz  über  „Die  Steuern  der 
Schweiz"  befriedigte  manche  Jahre  die  Bedürfnisse  der  Politiker,  Ver- 
waltungsbeamten und  Gelehrten  auf  diesem  Gebiete  vollkommen.  Allein 
im  Laufe  der  Zeit  machte  sich  da  und  dort  das  Bedürfnis  geltend  nach 
Darstellungen  der  neuesten  Erscheinungen  in  der  kantonalen  Steuer- 
gesetzgebung und  Steuerverwaltung.  Die  wachsenden  Steuerlasten,  ver- 
bunden mit  einer  gewissen  Steuermüdigkeit  der  Steuerträger,  gestalteten 
die  Entwicklung  der  Steuergesetzgebung  in  vielen  Kantonen  zu  einer  so 
schwierigen  Aufgabe,  dafs  die  allergründlichste  Vorbereitung  hierfür  un- 
bedingt notig  war. 

Zu  diesen  Kantonen  gehört  unter  andern  auch  Zürich,  welcher  im 
Begriffe  steht,  neuerdings  einen  Versuch  zur  Revision  seines  aas  dem 
Jahre  1870  stammenden  Steuergesetzes  zu  wagen.  Diesem  Umstand 
verdankt  die  vorliegende  Schrift  ihre  Entstehung;  denn  Regierungsrat 
H.  Ernst  fühlte  sich  dadurch  bewogen,  den  Plan  zu  einer  Geschichte 
des  Finanzwesens  des  Kantons  Zürich  abzuändern  und  zuerst  eine  Dar- 


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Die  direkten  StaaUsteuem  des  Kantons  Zürich  im  19.  Jahrhundert.  65  I 


Stellung  der  direkten  Staatssteuern  erscheinen  zu  lassen.  Ist  dieselbe 
auch  in  erster  Linie  mehr  für  praktische  Zwecke  bestimmt,  so  bietet  sie 
doch  eine  wertvolle  Bereicherung  unserer  Litteratur  über  das  Steuer- 
wesen und  verdient  als  solche  die  Beachtung  weiter  Kreise.  Sie  be- 
ginnt mit  einer  Schilderung  des  Steuersystems  des  helvetischen  Einheits- 
staates. Der  I.  Abschnitt  zeigt,  wie  trotz  des  Widerstandes  der  Be- 
völkerung gegen  jede  Art  von  direkter  Steuer  im  Kanton  Zürich  zuerst 
die  direkten  Spezialsteuern,  nämlich  Landjägersteuer,  die  Montierungs- 
und Militärpflichtersatzstcuer  und  die  Handelsabgabe  eingeführt  wurden. 
Der  II.  Abschnitt  behandelt  die  Erhebung  allgemeiner  direkten  Steuern 
in  Form  aufserordentlicher  Vermögenssteuern,  bis  die  Verfassung  vom 
to.  März  1873  die  allgemeine  Staatssteuerpflicht  grundsätzlich  an- 
erkannte. 

Der  III.  Abschnitt  behandelt  die  regelmäfsigen  und  allgemeinen  di- 
rekten Staatssteuem,  während  der  IV.  ein  Verzeichnis  der  Gesetze  und 
Verordnungen  über  die  direkten  Staatssteuern  enthält. 

Die  Darstellung  der  Steuergesetze  von  1832  und  1861  und  der 
Staatssteuergesetzgebung  seit  1870,  die  Schilderung  ihrer  Entstehung  und 
ihrer  Wirkungen,  sowie  der  jeweiligen  Revisionsbestrebungen  geben  dem 
Verfasser  Gelegenheit,  die  Strömungen  und  Ideale  auf  dem  Gebiete  der 
Steuergesetzgebung,  die  Entwicklung  der  Steuertechnik  wie  die  allge- 
meinen politischen  und  volkswirtschaftlichen  Verhältnisse  der  einzelnen 
Zeitperioden  treffend  zu  skizzieren. 

Kann  beispielsweise  die  Bedeutung  der  beiden  Städte  Zürich  und 
Winterthur  besser  demonstriert  werden,  als  durch  die  Thatsachc,  dafs 
ihr  Steuerkapital  65,8  I’roz.  des  Steuerkapitals  des  Kantons  ausmacht? 
Ist  es  nicht  eine  den  Volkswirt  überhaupt  interessierende  Erscheinung, 
dafs  sich  die  Zahl  der  Einkommenssteuerpflichtigen  und  die  Gesamt- 
summe des  steuerbaren  Einkommens  gewaltig  vermehrt  und  der  Ertrag 
der  Steuer  sich  versechsfacht  hat,  sodafs  die  Einkommensteuer,  welche 
im  Jahre  1870  nur  den  halben  Ertrag  der  Vermögenssteuer  erreichte, 
im  Jahre  1901  nahezu  auf  s;4  des  Ertrages  der  Vermögenssteuer  ge- 
stiegen ist.  Hält  man  damit  die  Thatsache  zusammen,  dafs  im  letzten 
Jahrzehnt  ungefähr  44  Proz.  des  steuerpflichtigen  Vermögens  verheim- 
licht wurden,  so  ergibt  sich  von  selbst  eine  der  Hauptaufgabe  des 
neuen  Steuergesetzes,  nämlich  die  bisher  noch  verborgenen  Steuer- 
kapitalicn  ans  Licht  zu  ziehen.  Als  wirksames  Mittel  zur  Erreichung 
dieses  Zieles  gilt  dem  Verfasser  mit  Recht,  die  schon  vor  mehr  als 
30  Jahren  vorgeschlagene  periodisch  bei  sämtlichen  Steuerpflichtigen 
vorzunehmende  Inventarisation.  Leider  ist  die  Aussicht  auf  Einführung 
gering  und  wird  man  sich  deshalb  mit  genauerer  Kontrolle  einer 
detaillierten  Selbsttaxation,  mit  Verschärfung  der  Strafen  gegen  Verheim- 
lichung und  ähnlichen  kleinen  Mitteln  begnügen  müssen,  um  dem  Ziele 
sich  allmählich  zu  nähern. 

42* 


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t t l — I 


652 


Littcratur. 


Neben  diesen  alten  Klippen  der  Steuergesetzgebung  ist  in  der  Be- 
steuerung der  Aktiengesellschaften  und  der  im  Kanton  domizilierten  Er- 
werbsgenossenschaften eine  solche  neueren  Datums  entstanden.  Die 
Darstellung  der  Steuerbehandlung  derselben  und  die  Anführung  der 
gegen  die  geplante  Besteuerung  geltend  gemachten  Gründe  liefert  einen 
wertwollen  Beitrag  zur  Charakteristik  der  Bedeutung  der  Aktiengesell- 
schaften im  Kanton  Zürich.  Dieselbe  ist  um  so  sprechender,  als  der 
Verfasser  hier  wie  überhaupt  in  der  ganzen  Schrift  bei  der  Kritik  eine 
grofse  Zurückhaltung  beobachtet,  indem  er  die  mafsgelrenden  und 
interessierten  Kreise  möglichst  selbst  zum  Worte  kommen  läfst. 

Eraue  n feld. 

EMIL  HOFMANN. 


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Register  zu  Band  I — XVIII 

des 

Archivs  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik. 


(A  = Abhandlung,  M = Miscclle,  L = Literatur,  G = Gesetzgebung.  I)ic 
römischen  Ziffern  bedeuten  die  Bandzahl,  die  arabischen  den  Beginn  der  Seitenzahl 

des  Beitrages. 

Autoren-Register. 

A.  • 

1.  Adickes,  Fr.,  Oberbürgermeister;  Umlegung  und  Zonenenteignung  als  Mittel 

rationeller  Städteerweiterung.  IV',  429  A. 

2.  Agahd , Konrad,  Lehrer;  Die  Lrwerbsthätigkeit  schulpflichtiger  Kinder  im 

Deutschen  Reiche.  XII,  373  A. 

3.  Aschrott,  P.  F.,  Dr.,  Landrichter;  Die  amerikanischen  Trusts  als  Weiterbildung 

der  Untemehmerverbändc.  II,  383  A. 

4.  — Tourbic,  Dänisches  Armenrecht  unter  teilweiser  Vergleichung  mit  deutschem 

Recht.  II,  205  L. 

5.  — Krohne,  Lehrbuch  der  Gefängniskunde  unter  Berücksichtigung  der  Kriminal- 

statistik und  Kriminalpolitik.  III,  670  L. 

6.  — Deutsche  Justiz  - Statistik.  Berlin  1889.  — Kriminal  - Statistik  für  1887. 

III,  672  L. 

7.  — Mischlcr,  E.,  Dr.,  Die  Armenpflege  in  den  österreichischen  Städten  und  ihre 

Reform.  IV,  238  L. 

8.  Aurin,  Ferdinand,  Dr. ; Die  französischen  Arbciterausständc  der  Jahre  1893 — 97. 

XIII,  688  M. 

B. 

9.  Barth,  Paul,  Prof.  Dr. ; Bücher,  Karl.  Arbeit  und  Rhythmus.  X,  321  L. 

10.  Baemrcithcr,  J.  M.f  Dr.,  Minister  a.  D. ; Die  Statistik  über  Arbeitslose  in  Eng- 
land. I,  43  A. 

!l.  Bauer,  Stephan,  Prof.  Dr. ; Die  Heimarbeit  und  ihre  geplante  Regelung  in 
Oesterreich.  X,  239  A. 


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654  Autoren-Register. 

12.  Rauer,  Stephan,  Prof.  Dr. ; Family  Budgets;  bring  thc  income  and  expenses  of 

twentyeight  British  households  1891  — 1894.  — Compiled  for  thc  Economic 
Club  with  an  Introduction.  X,  S07  L. 

13.  Bax,  E.  Beifort;  Bernstein,  E.,  Kautsky,  K.  u.  A.,  Die  Geschichte  des  Sozialis- 

mus in  Einzeldarstellungen.  IX,  283  L. 

14.  Bemis,  Edward  \\\,  Prof. ; Die  amerikanische  Arbeitsstatistik.  XI,  37 1 A. 

1 5.  Bernstein,  Eduard ; Die  Arbeitsteilhaberschaft  in  der  britischen  Genossenschafts- 

bewegung. XIV,  406  A. 

16.  — Der  gegenwärtige  Stand  der  Wohnungsfrage  in  England.  XV,  616  A. 

17.  — Die  Lage  der  Ladengehilfen  in  England  und  das  Gesetz  über  die  Beschaffung 

von  Sitzgelegenheit  für  weibliche  Ladengehilfen.  XV,  247  G. 

18.  — Karpelcs,  Benno,  Dr. ; Die  englischen  Fabrikgesetzc.  XV,  758  L. 

19.  — Kulemann,  W. ; Die  Gewerkschaftsbewegung.  XV,  740  L. 

20.  — Zur  Litteratur  der  Gewerkschaftsbewegung  in  Deutschland.  XVI,  379  A. 

21.  — England.  Das  Ergänzungsgesetz  von  1900  über  die  Behausung  der  arbeiten- 

den Klassen.  XVI,  244  G. 

22.  — Die  Arbeiter-Unfallentschädigungs-Gcsctzgebung  in  England.  XVI,  450  G. 

23.  — Die  gegenwärtige  Lage  der  englischen  Landarbeiter.  XVI,  263  M. 

24.  — Die  Arbeiterkonsumvercine  und  die  Einkommensteuer  in  England.  XVI,  742  M. 

25.  — Einige  Reformversuche  im  Lohnsystem.  XVII,  309  A. 

26.  — Sinzheimcr,  Ludwig,  Dr. ; Der  Londoner  Grafschaftsrat.  Erster  Band.  XVII, 

271  L. 

27.  Berthold,  Arthur,  Dr. ; Das  hamburgische  Gesetz  betreffend  die  Wohnungspflege. 

XIII,  179  G. 

28.  Blankenstein,  P.,  Assessor;  Die  Ausdehnung  der  Krankenversicherung  auf  die 

Hausindustrie.  X,  868  A. 

29.  van  der  Borglit,  R.,  Dr.,  Direktor  im  Reichsamt  des  Innern ; Die  Aufgaben  und 

die  Organisation  des  Reichsversicherungsamtes.  III,  1 A. 

30.  — Statistik  der  entschädigungspflichtigen  Unfälle  im  Deutschen  Reich  für  1887. 

III,  539  A. 

31.  — Gibon,  M.  A. ; Les  accidents  du  trnvail  et  de  l'industrie.  III,  691  L. 

32.  — Zur  Reform  des  Abzahlungsgeschäftes.  IV,  270  A. 

33.  — I)ic  Statistik  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  im  Deutschen  Reich  für 

1888  und  18S9.  IV,  531  M. 

34.  — Die  niederländische  Fabrikinspektion.  VIII,  210  M. 

35.  — Die  niederländische  Fabrikinspektion  in  den  Jahren  1894 — 1896.  XII,  275  M. 

36.  Borgius,  Walther,  Dr.,  Generalsekretär;  Wandlungen  im  modernen  Detailhandel. 

XIII,  41  A. 

37.  Bowley,  Arthur,  L.  M.  A. ; Die  Thätigkcit  der  Arbeitsabteilung  (Labour-Dcparte- 

ment)  im  englischen  Handelsministerium.  X,  298  M. 

38.  — Booth,  Charles,  Life  and  Labour  of  thc  people  in  London.  Vol.  I — IX. 

XI,  805  L. 

39.  Braun,  Adolf,  Dr. ; Hampke,  Thilo,  Dr. ; Der  Befähigungsnachweis  im  Hand- 

werk. (Conrads  Sammlung  national-ökonomischer  und  statistischer  Ab- 


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Autoren-Register.  65  5 

Handlungen  des  staatswissenschaftlichen  Seminars  zu  Halle  a.  S.  VIII,  I.) 

v,  375  L- 

40.  Braun,  A. ; Ueber  die  Grenzen  der  Weiterbildung  des  fabrikmäßigen  Grofs- 

betricbcs  in  Rufsland  (A.  u.  d.  T.  Münchener  volkswirtschaftliche  Studien- 
Herausgegeben  von  Lujo  Brentano  u.  Walther  Lotz.  5.  Stück).  VII,  537  L. 

41.  — Overbergh,  Cyr.  van;  Lcs  inspccteurs  du  travail  dans  les  fabriques  et  les 

ateliers.  VIII,  316  L. 

42.  — Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Krankenversicherung  im  Deutschen  Reiche. 

XVIII,  217  M. 

43-  45*  — Neue  Littcratur  von  und  über  Gewerkschaften.  XVII,  248  L.  XVIII,  204  L. 
44.  — Schutz  der  Arbeiter  in  den  Tierhaar-  und  Bürstenindustrien  in  Deutschland. 

XVIII,  377  G. 

45  a.  — Die  Rcichstagswahlen  von  1898  und  1903.  XVIII,  539  A. 

46.  Braun,  Heinrich,  Dr. ; Zur  Einführung.  I,  1 A. 

47.  — Schönlank,  B.,  Dr. ; Die  Fürtlier  Quccksilbcr-Spiegelbelcgen  und  ihre  Arbeiter. 

I,  681  L. 

48.  — Das  Rundschreiben  des  schweizerischen  Bundesrats  betr.  den  internationalen 

Arbeiterschutz.  II,  497  G. 

49.  — Die  österreichische  Postsparkasse  in  ihrer  Bedeutung  für  die  arbeitende  Klasse. 

II,  365  M. 

50.  — Ungarn.  Der  Gesetzentwurf  betr.  die  Sonntagsruhe.  III,  359  G. 

51.  — Ungarn.  Das  Gesetz  betr.  die  Sonntagsruhe.  IV,  512  G. 

52.  — Die  Errichtung  einer  Kommission  für  Arbeiterstatistik  in  Deutschland.  V,  145  G. 

53.  — Zur  Lage  der  deutschen  Sozialdemokratie.  VI,  506  A. 

54.  — Oesterreich.  Der  Entwurf  eines  Gesetzes  betr.  die  Arbeitsstatistik.  VII,  306  G 

55.  — Goehrc,  Die  evangelisch-soziale  Bewegung.  IX,  652  L. 

56.  — Ein  internationales  Amt  zum  Arbeiterschutz.  XI,  274  M. 

57.  — Bericht  des  Vorstandes  der  Aktienbaugesellschaft  für  kleine  Wohnungen  in 

Frankfurt  a.  M.  über  die  Thätigkeit  der  Gesellschaft  seit  ihrer  Begründung. 
XV,  761  L. 

58.  — Notes  Critiques.  XVI,  547  L. 

59.  — Liebrecht,  Dr.,  Landesrat;  Reichshilfe  für  Errichtung  kleiner  Wohnungen. — 

Kampfimeycr,  Paul,  Die  Baugenossenschaften  im  Rahmen  eines  nationalen 
Wohnungsreformplans.  XVI,  543  L. 

60.  — Goltz,  Hans,  Freiherr  v.  d.;  Die  Wohnungsinspektion  und  ihre  Ausgestaltung 

durch  das  Reich.  Herausgegeben  vom  Verein  Reichswohnungsgesetz.  — 
Die  Förderung  des  Reichswohnungswesens  und  die  Bekämpfung  der 
Schwindsuchtsgefahren.  Vorträge  vom  Oberbürgermeister  Dr.  Adickes, 
Landesrat  Dr.  Schröder  und  Baudirektor  Thorwart.  Bericht  über  die 
I.  Versammlung  des  Vereins  für  Förderung  des  Arbeiterwohnungswesens 
und  verwandte  Bestrebungen.  — Cohn,  Louis,  Die  Wohnungsfrage  und 
die  Sozialdemokratie.  XVI,  284  L. 

61.  Braun,  J. ; Strikcs  und  Lockouts  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 

(1881  — 1886).  II,  654  M. 


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656 


Autoren-Register. 


62.  Braun,  Lily;  Das  Frauenstimmrecht  in  England.  X,  417,  A. 

63.  — Frank,  Louis,  Dr.  Keifer,  Maingic,  Louis,  L'assurance  matemelle.  XI,  543  L. 

64.  — Die  Frauenfrage  im  Altertum.  XIII,  155  A. 

65.  — Die  Anfänge  der  Frauenbewegung.  XIII,  314  A. 

66.  — Der  Kampf  um  Arbeit  in  der  bürgerlichen  Frauenwelt.  I.  Geschichtliche 

Entwicklung.  — II.  Die  treibenden  Kräfte  in  der  bürgerlichen  Frauen- 
bewegung. XVI.  40  u.  93  A. 

67.  — Gerhard,  Adele  und  Simon,  Helene;  Mutterschaft  und  geistige  Arbeit.  XVI, 

539  A.  S.  auch  Gizycki,  Lily  von. 

68.  Brentano,  Lujo,  Prof.  Dr. ; Entwicklung  und  Geist  der  englischen  Arbeiter- 

organisationen. VIII,  75  A. 

69.  Brooks,  John  Graham;  Booth,  Charles;  Labor  and  Life  of  the  People.  V,  370  A. 

70.  Brückner,  N.,  Dr. ; Das  neue  französische  Gesetz  über  die  unentgeltliche  Kranken- 

pflege. VI,  528  G. 

71.  Bücher,  K.,  Prof.  Dr. ; Das  baselstädtischc  Gesetz  betr.  den  Schutz  der  Arbeite- 

rinnen. I,  320  G. 

72.  — Die  belgische  Sozialgesetzgebung  und  das  Arbeiterwohnungsgesetz  vom 

9.  August  1889.  IV,  249  u.  442  A. 

73.  Bulgakoff,  Sergci ; Kautsky,  Karl ; Die  Agrarfrage.  Eine  Uebersicht  über  die 

Tendenzen  der  modernen  Landwirtschaft  und  die  Agrarpolitik  der  Sozial- 
demokratie. XIII,  710  L. 

74.  Bunzcl,  Julius,  Dr. ; Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter.  XVII,  34  t A. 

c. 

75.  Cabn,  Emst,  Dr. ; Wohnungsgesetzgebung  in  Bayern.  XVI,  698  G. 

76.  — Ein  Arbeiterwohnungsviertel  in  einer  süddeutschen  Provinzstadt  (Bayreuth). 

XVII,  440  M. 

77.  Calisse,  Carlo,  Prof.;  Hartmann,  L.  M.,  I.  Urkunde  einer  römischen  Gärtner- 

genossenschaft vom  Jahre  1030.  — II.  Zur  Geschichte  der  Zünfte  im 
frühen  Mittelalter.  VIII,  320  L. 

78.  Chcyncy,  E.  P.,  Prof. ; Der  Farmerbund  (Farmer’s  Alliance)  in  den  Vereinigten 

Staaten.  V,  132  A. 

79.  — Die  Achtstundcnbcw'egung  in  den  Vereinigten  Staaten  und  das  neue  Acbt- 

stundengesetz.  V,  459  G. 

80.  Cohen,  Arthur,  Dr. ; Die  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Münchener  Kellnerinnen. 

V,  97  A. 

81.  — Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen 

in  Deutschland.  XVII,  93  A. 

82.  Cohn,  Gustav,  Prof.  Dr. ; Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  wirtschaftlichen  Kar- 

telle. VIII,  396  A. 

83.  — Die  Entwicklung  der  Bestrebungen  für  internationalen  Arbeiterschutz.  XIV, 

53  A. 

84.  Cohn,  Heinrich,  Dr.,  Rechtsanwalt;  Das  prcufsische  Gesetz  betreffend  die  Waren- 

haussteuer.  XV,  529  A. 


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Autorcn-Register.  6cj  7 

85.  Curti,  Theodor,  Regicrungsrat ; Die  schweizerische  Gesetzgebung  über  die  Arbeits- 

zeit in  den  Transportanstalten.  VII,  653  G. 

86.  — Die  Arbeitslosenversicherung  in  St.  Gallen.  X,  157  M. 

87.  — Die  Verstaatlichung  der  schweizerischen  Eisenbahnen.  XII,  349  A. 

SS.  — Waldcigentum  und  Waldwirtschaft.  XIII,  683,  M. 

D. 

S9.  Daszynska,  Sophia,  Dr. ; Die  Fabrikinspektion  in  Russisch-Polen.  V,  34S  M. 

90.  DementjefF,  E.  M.,  Dr. ; Die  Lage  der  Fabrikarbeiter  in  Zentralrufsland.  II, 

553  A. 

91.  — Die  russische  Fabrikgesetzgebung.  III,  284  A. 

92.  — Rufsland.  Das  Arbciterschutzgcsctz  vom  24.  Februar  1S90.  IV',  197  G. 

93.  Dietzel,  H.,  Dr.  Prof.;  Sombart,  W. ; Die  römische  Carapagna.  II,  676  L. 

94.  Dilke,  Charles,  M.  P.,  Sir  von ; Großbritannien.  Gesetzentwurf  betr.  die  Acht- 

stundenarbeit für  Bergleute.  VI,  114  G. 

95.  — Grofsbritannien.  Der  Haftpflichtgesetzentwurf  von  1897.  (VVorkmcn  [Com- 

pensation  tor  Accidcnts  Bill.)  X,  937  G. 

96.  Dyrcnfurth,  Gertrud ; Die  gewerkschaftliche  Bewegung  unter  den  englischen 

Arbeiterinnen.  VII,  166  A. 

E. 

98.  Edwards,  Clement;  Der  Ausstand  der  englischen  Maschinenbauer.  XII,  626  A. 

99.  Ehrlich,  E.,  Prof.  Dr. ; Der  schweizerische  Erbrechtsentwurf.  IX,  174  G. 

100.  Engländer,  Oskar,  Dr.;  Die  Statistik  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  in 

Oesterreich  fiir  das  Jahr  1896.  XIV,  422  M. 

101.  Erismann,  F.,  Prof.  Dr. ; Untersuchungen  über  die  körperliche  P'ntwicklung  der 

Arbcitcrbcvölkcrung  in  Zentralrufsland.  I,  98  u.  429  A. 

102.  — Schüler,  F.,  Dr.,  u.  Burckhardt,  A.  F..,  Dr.  Untersuchungen  über  die  Gc- 

sundheitsverhältnissc  der  Fabrikbevölkerung  in  der  Schweiz.  I,  66  i L. 

103.  — Die  Bekanntmachung  des  Bundesrats  vom  31.  Juli  1897,  betr.  die  Einrich- 

tung und  den  Betrieb  der  Buchdruckereien  und  Schriftgiefsereien  in 
Deutschland.  XI,  426  G. 

104.  — Zur  Geschichte  der  Zündhölzchenfrage  in  der  Schweiz  und  zur  Beurteilung 

der  neuen  Gesetzvorlage.  XII,  178  A. 

105.  Ertl,  M.,  Dr. ; Soziale  Versicherung  und  Statistik  in  Oesterreich.  III,  262  A. 

F. 

106.  Falkenburg,  Philipp,  Dr. ; Niederlande.  Gesetz  betr.  die  Errichtung  von  Ar- 

beitskammern.  XI,  750  G. 

107.  Ferraris,  Carlo  F.,  Prof.  ; Italien.  Das  neue  italienische  Gesetz  betr.  die  Be- 

triebsunfälle der  Arbeiter.  XII,  724  G. 

108.  — Italien.  Das  neue  Gesetz  betr.  die  National -Vcrsicherungskasse  für  das 

Alter  und  die  Invalidität  der  Arbeiter.  XIII,  651  G. 

109.  — Italien.  Das  neue  Gesetz  betr.  die  National-Versicherungskassc  für  die  In- 

validität und  das  Alter  der  Arbeiter.  XVII,  195  G. 


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658  Autoren-Rcgister. 

109a.  Ferraris,  Carlo  F.,  Prof.;  Italien.  Das  neue  Gesetz,  betr.  die  Frauen  und  Kinder- 
arbeit. XV'III,  564  G. 

1 IO.  Fick,  L. ; Kahler,  Wilhelm;  Gesindewesen  und  Gesinderecht  in  Deutschland. 
X,  162  L. 

111.  Flcsch,  Karl,  Dr.,  Stadtrat;  Siegfried,  R. ; Die  Proportional  wähl.  Ein  Votum 

zur  württcmbergischen  Verfassungsreform.  XIII,  735  L. 

1 1 2.  — Das  preufsische  Fürsorge-Erziehungsgesetz  vom  2.  Juli  1900.  Vom  Stand- 

punkt der  Armenpflege  und  der  Sozialpolitik.  XVII,  21  A. 

113.  — Die  Novelle  zum  Gewerbegerichtsgesetz  und  der  preulsische  Ministerialerlais 

vom  23.  Dezember  1901.  XVII,  421  G. 

114.  — Deutsches  Reich.  Der  Gesetzentwurf  betr.  Kaufmannsgerichte.  XVIII,  X 27  G. 

115.  — Die  deutschen  Stadtgemeinden  und  ihre  Arbeiter.  XVIII,  445  M. 

116.  — Schulz,  M.  v.;  Gewerbegerichtsgesetz  in  der  Fassung  der  Bekanntmachung 

vom  29.  September  1901  erläutert.  XVIII,  223  L. 

1 1 7.  Fontaine,  Arthur,  Direktor  ira  französ.  Handelsministerium;  Die  Publikation  des 

französischen  Arbeitsamtes  in  den  Jahren  1892 — 1897.  X,  474  L. 

11 8.  Fox,  Stephan  N.,  Barrister;  Die  Arbeitsabteilung  des  englischen  Handels- 

ministeriums. VII,  317  M. 

119.  Francke,  Ernst,  Prof.  Dr. ; Das  deutsche  Auswanderungsgesetz.  XI,  1 S x G. 

120.  Frankenberg,  H.  v.,  Stadtrat;  Die  Versorgung  der  Arbeiterwitwen  und  Waisen 

in  Deutschland.  X,  466  M. 

121.  — Die  amtlichen  Ermittlungen  über  das  Verhältnis  zwischen  Arbeiterversicherung 

und  Armenpflege.  XI,  265  M. 

122.  — Der  tote  Punkt  der  deutschen  Arbeiterversicherung.  XII,  75  A. 

123.  — Die  Pflichten  der  Versicherten  in  Deutschland.  XII,  573  M. 

124.  — Die  Versicherungspflicht  der  Lehrer.  XIV',  210  M. 

125.  — Handwerker  oder  Fabrikant.  XVI,  7 1 1 M. 

126.  Frankenstein,  K.,  Dr. ; Die  Thätigkeit  der  preufsischen  Ortspolizeibehörden  als 

Organe  der  Gewerbeaufsicht.  IV',  600  A. 

127.  Freese,  Heinrich;  Deutsches  Reich.  Das  Baupfandgesetz.  XVII,  169  G. 

128.  Fuchs,  C.  J.,  Prof.  Dr. ; Miaskowski,  A.  v. ; Agrarpolitische  Zeit-  und  Streit- 

fragen. III,  192  L. 

129  — Grofsmann,  Fr.;  Ueber  die  gutsherrlich-bäuerlichcn  Rechtsverhältnisse  in  der 
Mark  Brandenburg  vom  16.  bis  18.  Jahrhundert.  IV,  244  L. 

130.  Fuld,  L.,  Dr.,  Rechtsanwalt;  Der  Begriff  des  Betriebsunfalles  im  Sinne  der 

deutschen  Gesetzgebung.  I,  417  A. 

131.  — Deutsches  Reich.  Der  Entwurf  eines  Gesetzes  betr.  die  Erwerbs-  und  Wirt- 

schaftsgenossenschaften. I,  595  G. 

132.  — Lehr;  Aus  der  Praxis  der  früheren  Haftpflichtgesetzgebung  in  Deutschland 

und  der  sich  an  dieselbe  anschließenden  Unfallversicherung.  II,  207  L. 


G. 

133.  Galton,  F.  W. ; Rousiers,  Paul  de;  Le  Trade  Unionisme  en  Angleterre.  X 
668  L. 


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Autoren-Rcgister.  659 

134.  Galton,  F.  W. ; Die  Fortschritte  der  englischen  Gewcrkvercinc.  XII,  449  A. 

135.  — Die  englische  Fabrikinspektion  im  Jahre  1896.  XII,  785  M. 

130.  Gizycki,  Lily  v. ; Zur  Beurteilung  der  Frauenbewegung  in  England  und  Deutsch- 
land. VIII,  575  A.  S.  auch  Braun,  Lily. 

137.  Goldstein,  J.,  Dr.,  Dozent;  Kuczinsky,  R.,  Dr. ; Der  Zug  nach  der  Stadt. 

XII,  152  L. 

138.  Grubcr,  Max  v.,  Prof.;  Der  österreichische  Gesetzentwurf  zur  Bekämpfung  der 

Trunkenheit.  I,  293  G. 

139.  — Das  Gesetz  vom  30.  Juni  1900  betr.  die  Bekämpfung  gemeingefährlicher 

Krankheiten  in  Deutschland.  XVI,  222  G. 

140.  — Der  neue  österreichische  Gesetzentwurf  zur  Hintanhaltung  der  Trunksucht. 

XVIII,  184  G. 

141.  Grünberg,  K.,  Prof.  Dr. ; Die  rumänische  Agrargesetzgebung  im  Hinblick  auf 

ihre  Reform.  II,  74  A. 

142.  — Der  Entwurf  eines  Heimstättengesetzes  für  das  Deutsche  Reich.  IV,  369  G. 

H. 

143.  Hainisch,  Michael,  Dr. ; Die  geplante  Agrarreform  in  Oesterreich.  VII,  430  A. 

144.  — Das  bäuerliche  Erbrecht  in  Gesetzgebung  und  Litteratur  der  jüngsten  Zeit. 

IX,  35  A. 

145.  — Buchenberger,  A.,  Dr. ; Grundzüge  der  deutschen  Agrarpolitik  unter  be- 

sonderer Würdigung  der  kleinen  und  grofsen  Mittel.  XII,  154  L. 

146.  Hallgartcn,  Robert,  Dr. ; Licbcnau,  W. ; Städteverwaltung  im  römischen  Kaiser- 

reich, XV,  747  L. 

147.  — Hugo,  C. ; Die  deutsche  Städteverwaltung,  ihre  Aufgaben  auf  den  Gebieten 

der  Volkshygiene,  des  Städtebaues  und  des  Wohnungswesens.  XVI,  747  L. 

148.  Hartmann,  L.  M.,  Dr.  Dozent,;  Ueber  die  Ursache  des  Unterganges  des  rö- 

mischen Reiches.  II,  483  A. 

149.  — Weber,  M.,  Dr. ; Römische  Agrargeschichte  in  ihrer  Bedeutung  für  das 

Staats-  und  Privatrecht.  V,  215  L. 

150.  — Loria,  A. ; Lcs  bases  economiqucs  de  la  Constitution  Sociale.  VII,  548  L* 

151.  — Russell.  J. ; Die  Volkshochschulen  in  England  und  Amerika.  VIII,  716  L. 

152.  — Reyer,  E. ; Handbuch  des  Volksbildungswesens.  VIII,  716  L. 

153.  — Brückner,  N. ; Erziehung  und  Unterricht  vom  Standpunkt  der  Sozialpolitik. 

VIII,  L.  716. 

154.  Heine,  Wolfgang,  Rechtsanwalt;  Die  Abänderung  des  Gesetzes  betr.  die  Be- 

schlagnahme des  Arbcits-  oder  Dienstlohns  und  der  Civilprozefsord- 
nung.  X,  455 \G. 

155.  — Die  Sozialpolitik  des  Handclsstandes  und  das  deutsche  Handelsgesetzbuch. 

XI,  279  A. 

156.  — Koalitionsrecht  und  Erpressung.  XVII,  589  A. 

157.  Heinemann,  Hugo,  Dr.,  Rechtsanwalt;  Der  österreichische  Strafgesetzentwurf 

und  die  arbeitende  Klasse.  VII,  359  A. 

158.  Hcifs,  Clemens,  Dr. ; Die  Stcuerprogression.  XIII,  580  A. 


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66o 


Autorcn-Register. 


159.  Heiss,  C. ; Kiaer,  A.  N.  u.  Hanssen,  E. ; Sozialstatistik,  I — III.  XIV,  462  L. 

160.  — Lage  der  Holzarbeiter.  Ergebnis  statistischer  Erhebungen  für  das  Jahr  1893 

veranstaltet  vom  deutschen  Holzarbeiterverband.  — Die  Lage  der  Holz- 
arbeiter. Nach  statistischen  Erhebungen  für  das  Jahr  1897,  herausgegeben 
vom  Vorstand  des  deutschen  Holzarbciterverbands.  — Die  Verhältnisse  in 
der  Gerberei  und  Lederfarbcrci.  Dargestcllt  auf  Grund  statistischer  Er- 
hebungen des  internationalen  Sekretariats  der  Lederarbeiter  und  auf  Grund 
anderer  Materialien.  XV,  27 1 L. 

161.  — Leipart,  Theodor;  Zur  Lage  der  Arbeiter  in  Stuttgart.  XVI,  529  L. 

162.  — Haushaltungsrechnungcn  der  Nürnberger  Lohnarbeiter.  XVI,  767  L. 

163.  — Die  deutsche  Strikestatistik.  XVII,  150  A. 

164.  — Flesch,  Karl,  Dr.  jur. ; Zur  Kritik  des  Arbeitsvertrags.  Seine  volkswirt- 

liche Funktion  und  sein  positives  Recht.  Sozialrechtlichc  Erörterungen. 
XVII,  734  L. 

165.  — v.  Zwicdineck-Südenhorst,  Otto,  Dr. ; Lohnpolitik  und  Lohnthcoric  mit  be- 

sonderer Berücksichtigung  des  Minimallohnes.  — Der  Arbeiterschutz  bei 
Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  und  Lieferungen,  bericht  des  k.  k.  arbeils- 
statistischcn  Amtes  über  die  auf  diesem  Gebiete  in  den  europäischen  und 
überseeischen  Industriestaaten  unternommenen  Versuche  und  bestehende 
Vorschriften.  — Klien,  Dr.  Ernst,  Minimallohn  und  Arbeiterbeamtentum. 

I.  Bd.  2.  H.  der  Abhandlungen  des  staatswissenschaftlichen  Seminars  zu 
Jena,  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Picrstorff.  XVII,  741  L. 

166.  — Die  Arbeitseinstellungen  und  Aussperrungen  in  Oesterreich  während  der 

Jahre  1894—1901.  XVIII,  385  M. 

267.  Herkncr,  Heinrich,  Prof.  Dr. ; Die  belgische  Arbcitscnquetc  und  ihre  sozial- 
politischen Resultate.  I,  260,  388  A. 

168.  — Die  englische  Fabrikinspektion  im  Jahre  1885/86.  I,  176,  M. 

169.  — Stalistique  de  la  Bclgique.  Industrie.  I,  657  L. 

170.  — Belgien.  Das  Gesetz  betr.  die  Bildung  des  Industrie-  und  Arbeitsrates 

(Einigungskammer).  II,  146  G. 

171.  — Fuchs,  C.  J.,  Dr. ; Der  Untergang  des  Bauernstandes  und  das  Aufkommen 

der  Gutsherrschaften.  Nach  arcliivalischen  Quellen  aus  Neu- Vorpommern. 

II,  529,  L. 

172.  — Weyer,  O.  W. ; Die  englische  Fabrikinspektion.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 

der  Fabrikgesetzgebung  in  England.  II,  215  L. 

173.  — Zur  Kritik  und  Reform  der  deutschen  Arbeiterschutzgesetzgebung.  III,  209  A. 

174.  — Deutsches  Reich.  Der  Entwurf  eines  Gesetzes  betr.  die  Abänderung  der 

Gewerbeordnung.  III,  567  G. 

175.  — Braun,  Adolf,  Dr. ; Die  Arbeiterschutzgesetze  der  europäischen  Staaten. 

1.  Teil.  Deutsches  Reich.  III,  689  L. 

176.  — Frankenstein,  K. ; Zur  Organisation  der  amtlichen  Lohnstatistik.  III,  700  L. 

177.  — Studien  zur  Fortbildung  des  Arbeitsverhältnisses.  IV,  563  A. 


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Autorcn-Register. 


66  r 


178-  Herkncr,  II. ; Die  Reform  der  deutschen  Arbciterschutzgesctzgrbung.  V,  221  A. 

1 79.  — Belgien.  Gesetz  betreffend  die  Arbeit  von  Frauen,  jugendlichen  Personen 

und  Kindern  in  gewerblichen  Betrieben.  Unter  Berücksichtigung  der  Aus- 
führungsverordnungen. VI,  125  G. 

180.  — Post,  Dr.  Jul.  u.  Albrecht  Dr.  H. ; Musterstätten  persönlicher  Fürsorge  von 

Arbeitgebern  für  ihre  Geschäftsangehörigen.  Bd.  II.  Die  erwachsenen 
Arbeiter.  VI,  345  L. 

181.  — Grünberg,  K.;  Die  Bauernbefreiung  und  die  Auflösung  des  gutshcrrlich- 

bäuerlichcn  Verhältnisses  in  Böhmen,  Mähren  und  Schlesien.  VII,  541  L* 

182.  — Platter,  J.  Dr. ; Kritische  Beiträge  zur  Krkenntnis  unserer  sozialen  Zustände 

und  Theoricen.  VII,  724  L. 

183.  — Das  Frauenstudium  der  Nationalökonomie.  XIII,  227  A. 

184.  Hjelt,  August,  Dr. ; Das  erste  Arbeiterschutzgesetz  Finnlands  vom  15.  April  1889. 

III,  643  G. 

185.  — Die  Unfallversicherung  der  Arbeiter  in  Finnland.  XIII,  410  G. 

186.  I lillebrand,  J.,  Dr. ; Steinbach,  E.,  Dr. ; Die  Grundsätze  des  heutigen  Rechts 

über  den  Ersatz  von  Vermögensschäden.  II,  526  L. 

187.  Hirschberg,  E.,  Direktor  Dr. ; Board  of  Trade. — Labour  Department.  Report 

an  Agencies  and  Methods  for  Dealing  with  the  Unemploycd  (Presentcd 
to  both  Houses  of  Parliament).  VIII,  300  L. 

188.  Hofmann,  E.,  Dr.,  Nationalrat;  Zwei  Haushaltungsbudgcts  über  einen  zwanzig- 

jährigen Zeitraum.  VI,  49  A. 

189.  — Die  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schweiz.  VIII,  227  M. 

190.  — Berghoff- Ising,  J. ; Die  sozialistische  Arbeiterbewegung  in  der  Schweiz. 

VIII,  503  L. 

191.  — Engel,  E. ; Die  Lebenskosten  belgischer  Arbeiterfamilien  früher  und  jetzt. 

VIII,  707  L. 

192.  — Die  Wohnungsenqueten  in  der  Schweiz.  IX,  604  M. 

193.  — Schanz,  Georg;  Zur  Frage  der  Arbeitslosenversicherung.  IX,  659  L. 

194.  — L.  Sonnemanns  Grundzüge  eines  Rcicbsgesctzcs  zur  kommunalen  Versiche- 

rung gegen  Arbeitslosigkeit.  X,  800  M. 

195.  — Schanz;  Neue  Beiträge  zur  Frage  der  Arbeitslosenversicherung.  X,  812  L. 

196.  — Das  Projekt  einer  Arbeitslosenversicherung  in  Zürich.  XI,  762  G. 

197.  — May,  Max;  Wie  der  Arbeiter  lebt.  XI,  819  L. 

198.  — Cornil,  Georges;  L'assurancc  municipalc  contrc  lc  chömage  involontaire. 

XII,  292  L. 

199.  — Die  Arbeitslosenversicherung  in  St.  Gallen  und  Bern.  XIII,  85  A. 

200.  — Der  gegenwärtige  Stand  der  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schweiz. 

XIV,  105  A. 

201.  — Landolt,  Karl;  Die  Wohnungsenqußte  in  der  Stadt  Bern  vom  17.  Februar 

bis  11.  März  1896.  XIV,  215  L. 

202.  — Die  Ergebnisse  der  schweizerischen  Wohnungsenqueten.  XV,  684  M. 

203.  — Der  Gesetzentwurf  betr.  Arbeitcrinncnschutz  im  Kanton  Bern.  XVII,  686  G. 

204.  — Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  XVII,  489  M. 


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662 


Autoren-Rcgister. 


204a.  Hofmann  E.;  Curti,  Theodor;  Geschichte  der  Schweiz  im  19.  Jahrhundert. 
XVIII.  645  L. 

204  b.  — Die  direkten  Staatsstcucrn  des  Kantons  Zürich.  XVIII,  650  L. 

205.  llubcrich,  Henry  Charles,  Dozent,  Dr. ; Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung 

des  Jahres  1901.  XVII,  426  G. 

206.  — Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1901.  XVIII,  199  G. 
206a.  — Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1902.  XVIII,  578  G. 

207.  Hugo,  C.,  Dr.  (s.  a.  Lindemann);  Maltbie,  M.  R. ; Municipal  Functions,  a Study  of 

the  Development,  Scope  and  Tcndency  of  Municipal  Socialism.  XIV,  746  L. 

I. 

208.  Jastrow,  Hermann,  Amtsgerichtsrat;  Das  deutsche  Rcichsgesetz  über  die  Ab- 

zahlungsgeschäfte. VII,  278  G. 

209.  — Der  sozialpolitische  Inhalt  der  deutschen  Civilprozefsnovelle.  XII,  589  A. 

210.  Jastrow,  J.,  Privatdozent,  Dr. ; Die  preufsischcn  Steucrvorlagen  vom  Standpunkt 

der  Sozialpolitik.  V,  527  A. 

I.  Inhalt  und  Form  der  Vorlagen  im  allgemeinen.  529. 

II.  Die  Vermögenssteuer.  532. 

III.  Der  Erlafs  der  Grundsteuer.  553. 

IV.  Die  Aufhebung  der  Rcrgstcuern.  574. 

V.  Die  Gemeindesteuern.  583. 

VI.  Steuerpflicht  und  Wahlrecht.  599. 

21 1.  — Die  preufsische  Steuerreform.  Ihre  Stellung  in  der  allgemeinen  Vcrwaltungs- 

und  Sozialpolitik.  VII,  103  A. 

212.  Jay,  Raoul,  Prof.;  Die  Fabrikinspektion  in  Frankreich.  III,  115  A. 

213.  — Frankreich.  Das  Gesetz  betr.  die  Aufhebung  der  auf  das  Arbeitsbuch  be- 

züglichen Bestimmungen.  III,  632  G. 

214.  — Die  Syndikate  der  Arbeiter  und  Unternehmer  (Syndicats  profcssionels)  in 

Frankreich.  IV,  403  A. 

215.  — Frankreich.  Das  Dekret  betr.  den  Obersten  Arbeitsrat  IV,  192  G. 

216.  — Gesetz  und  Verordnung  betr.  Errichtung  eines  Arbeitsamtes  in  Frankreich. 

IV,  700  G. 

217.  — Das  französische  Gesetz  vom  27.  Dezember  1890  über  den  Arbeitsvertrag  und 

das  Verhältnis  der  Eiscnbahngesellschaften  zu  ihren  Angestellten.  V,  340  G. 

218.  — Annuairc  des  syndicats  profcssionncls  industriels,  commereiaux  et  agricolcs, 

constitues  conformeraent  ä la  loi  du  21.  mars  1884  en  France  et  en 
Algerie.  3 emc  annec.  1891.  V,  213  L. 

219.  — Die  neue  Arbeiterschutzgesetzgebung  in  Frankreich.  VI,  24  A. 

220.  — Die  Einigungsämter  in  Frankreich  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  27.  Dezember 

1892.  VI,  334  G. 

221.  — Frankreich.  Das  Gesetz  vom  29.  Juni  1894  über  die  Hilfs-  und  Pensions- 

kassen der  Grubenarbeiter.  VII,  473  G. 

222.  — Annuaire  des  syndicats  profcssionncls  industriels  commerciaux  et  agricolcs 

en  France  ct  en  Algerie.  4 e.  et.  5 c.  annee,  1892  et  1S93.  VII,  726  L. 


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Autoren-Rcgistcr. 


663 


223.  Jay,  R. ; Die  Frage  des  Arbeitsnachweises  in  Frankreich.  IX,  I A. 

224.  — Die  französische  Unfallversichcrungsgcsetzgebung.  XVI,  289  A. 

225.  — Die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  in  Frankreich. 

XVIII,  161  G. 

226.  Jcnsen,  Adolph,  Sekretär  des  Statist.  Amtes  in  Kopenhagen ; Dänemark.  Das 

Gesetz  über  das  Recht  zu  Zeugenvernehmungen  für  gewerbliche  Schieds- 
gerichtc.  XV,  677  G. 

227.  — Dänemark.  Das  neue  Fabrikgesetz  vom  II.  April  1901.  XVII,  209  G. 

K. 

228.  Kablukow,  N.,  Direktor;  Knapp,  G.  F. ; Die  Bauernbefreiung  und  der  Ursprung 

der  Landarbeiter  in  den  älteren  Landesteilen  Preufsens.  I,  185  L. 

229.  — Die  russische  Gesetzgebung  betr.  die  Versorgung  des  Volkes  bei  Mifsernten. 

IV,  290  A. 

230.  — Knapp,  Georg  Friedrich ; Die  Landarbeiter  in  Knechtschaft  und  Freiheit. 

V,  366  L. 

231.  Kaler,  E.,  Dr. ; Ertl,  M.  Dr. ; Das  österreichische  Unfallvcrsicherungsgcsetz. 

I,  365  L- 

232.  Kampffmaycr,  Paul;  Ein  Wort  über  die  deutschen  Arbeitersekretariate. 

XVI,  393  A. 

233.  Karpclcs,  Benno,  Dr. ; Australien.  Die  Fabrikgesetzgebung  in  Viktoria.  X,  581  G. 

234.  Kaufmann,  Alexander,  Kollegien-Assessor ; Beiträge  zur  Kenntnis  der  Feld- 

gemeinschaft in  Sibirien.  IX,  108  A. 

235.  KauLsky,  Karl;  Baernrcither,  J.  M. ; Die  englischen  Arbeiterverbände  und  ihr 

Recht.  I.  Band.  1,  343  L. 

236.  — Die  Schranken  der  kapitalistischen  I^andwirtschafb  XIII,  255  A. 

237.  Kelley,  Florcnce , Chief-Inspector  of  Factories ; Die  Fabrikgesetzgebung  der 

Vereinigten  Staaten.  VIII,  192  G. 

238.  — Die  weibliche  Fabrikinspektion  in  den  Vereinigten  Staaten.  XI,  128  A. 

239.  — Das  Sweatingsystcm  in  den  Vereinigten  Staaten.  XII,  207  A. 

240.  — Die  gesetzliche  Regelung  der  Kinderarbeit  im  Staate  Illinois.  XII,  530  G. 

241.  — Drei  Entscheidungen  oberster  Gerichte  über  den  gesetzlichen  Arbeitstag  in 

den  Vereinigten  Staaten.  XII,  744  G. 

242.  — Die  Italiener  Chicagos.  XIII,  291  A. 

243.  — Das  Gesetz  über  freie  Volksbibliothcken  des  Staates  Illinois.  XIII,  195  G. 

244.  — Das  Fabrikinspektorat  von  Newyork  und  seine  Stellung  zur  Arbeiterschutz- 

gesetzgebung.  XVI,  414  A. 

245.  Knapp,  G.  F.,  Prof.  Dr. ; Zur  Verständigung  über  die  Bauernbefreiung  in 

Preufscn.  I,  334  M, 

246.  — Der  Ursprung  der  Sklaverei  in  den  Kolonien.  11,  129  A. 

247.  — Ueber  Leibeigenschaft  in  Rufsland  und  im  Osten  Deutschlands.  V,  470  M. 

248.  Kollmann,  Paul,  Direktor;  Mischler,  Ernst,  Prof.  Dr. ; Das  Armen  wesen  in 

Steiermark.  XII,  297  L. 


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664,  Autoren-Rcgistcr. 

248  a.  Kümmel,  H.,  Die  progressive  Zahncaries  in  Schule  und  Heer  und  die  zahn- 
hygicnischcn  Aufgaben  etc.  XVIII,  591  M. 

249.  Krejcsi,  E.  R.  J.,  Dr.,  llundclskanimcrsekretär ; Die  ungarische  Fabrikinspektion 

im  Jahre  1887.  I,  336  M. 

250.  — Somogyi,  F.. ; Die  Lage  der  Arbeiter  in  der  Altofener  Schiftswerfte.  II,  210  L. 

251.  — Ungarn.  Gesetzentwurf  über  die  Regelung  der  Rechtsverhältnisse  zwischen 

den  Arbeitgebern  und  den  landwirtschaftlichen  Arbeitern.  XII,  109  G. 

252.  Kulemann,  W.,  Landgerichtsrat;  Die  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  für 

das  Königreich  Schweden.  VIII,  598  G. 

253.  — Die  geplante  Reform  der  deutschen  Arbeiterversicherung.  IX,  309  A. 

254.  — Das  deutsche  Vereins-  und  Versammlungsrecht.  X,  815  A. 

255.  — Deutsches  Reich.  Die  Vorlage  betr.  die  Abänderung  der  Unfallversicherung. 

X,  119  G. 


L. 

256.  Lamprecht,  K.,  Prof.  Dr. ; Zur  Sozialstatistik  der  deutschen  Stadt  im  Mittelalter. 

I,  485  A. 

257.  Lang,  Otto,  Oberrichter;  Das  schweizerische  Fabrikgesetz  und  sein  Einflufs 

auf  die  industriellen  Verhältnisse  der  Schweiz.  XI,  88  A. 

258.  — Schweiz.  Das  waadtländische  Gesetz  betr.  das  Lehrlingswescn.  XI,  463  G. 

259.  — Der  schweizerische  Bauernverband.  XIII,  21 7 M. 

260.  — Die  kommunalen  Arbeitsämter  der  Schweiz.  XVI,  514  M. 

261.  Lange,  Emst,  Dr. ; Die  positive  Weiterentwicklung  der  deutschen  Altersvcr- 

sichcrungsgcsctzgebung.  V,  383  A. 

262.  — Die  Statistik  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  im  Deutschen  Reich  für 

das  Jahr  1890.  V,  677  M. 

263.  — Schriften  der  Zentralstelle  für  Arbcitcrwohlfahrtseinrichtungcn.  Nr.  1.  — Die 

Verbesserungen  der  Wohnungen.  V,  521  L. 

264.  — Die  ortsüblichen  Tagelöhne  gewöhnlicher  Tagearbeiter  im  Deutschen  Reiche. 

VI,  I A. 

265.  — Die  Statistik  der  Unfall-,  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  im  Deutschen 

Reich  für  das  Jahr  1891.  VI,  566  M. 

266.  — Schoenfcld,  H.,  Dr. ; Lcs  principcs  rationnels  de  l'assurance  ouvrierc.  Con- 

sequenses  prochaines  et  eloignecs  du  Systeme  des  assurances  en  Alle- 
magne.  VI,  354  L. 

267.  — Bellon,  Maurice,  Les  lois  d’assurancc  ouvriere  ü l’etrangcr.  I.  Assurance 

contrc  la  maladic.  VI,  355  L. 

26S.  — Erweiterung  und  Reform  der  Deutschen  Unfallversicherungsgesetzgcbung. 

VII,  410  A. 

269.  — Die  Statistik  der  Unfall-,  Invaliditäts-,  Alters-  und  Krankenversicherung  im 

Deutschen  Reich  für  das  Jahr  1S92.  VII,  694  M. 

270.  — Brooks,  John,  Graham ; Fourth  special  report  of  the  commissioner  of  labor. 

VII,  345  L- 

271.  — Die  geplante  Kranken-  und  Unfallversicherung  in  der  Schweiz.  VIII,  172  G. 


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Autoren-Rcgister.  665 

272.  Lange,  E. ; Kulemann,  W. ; Die  Reform  unserer  Sozialversicherung.  VIII,  325  L. 

273.  — Bödiker,  T. ; Die  Rcichsvcrsichcrungsgesetzgebung.  XIII,  481  L. 

274.  — Die  Statistik  der  Unfall-,  Invalidität»-,  Alters-  und  Krankenversicherung  im 

Deutschen  Reich  für  das  Jahr  1893.  IX»  228  M. 

275.  — Bödiker,  T. ; Die  Arbeitcrversichcrung  in  den  europäischen  Staaten.  IX,  293  L. 

276.  — Die  Statistik  der  Unfall-,  Invaliditäts-,  Alters*  und  Krankenversicherung  im 

Deutschen  Reich  für  das  Jahr  1894.  X,  774  M. 

277.  — Borght,  R.  van  der;  Die  Haftpflicht  der  gewerblichen  Unternehmer  in 

Deutschland.  X,  667  L. 

27S.  — Die  Ursachen  der  Betriebsunfälle  in  der  deutschen  Industrie  und  Landwirt- 
schaft. XI,  143  A. 

279.  — Die  Statistik  der  Unfall-,  Invaliditäts-,  Alters-  und  Krankenversicherung  im 

Deutschen  Reich  für  das  Jahr  1895.  XI,  474  M. 

280.  — Die  Statistik  der  Unfall-,  Alters-  und  Invaliditätsvcrsicherung  im  Deutschen 

Reich  für  das  Jahr  1896.  XII,  55 1 M. 

281.  — Der  neue  Entwurf  eines  Invalidcnversicherungsgcsetzes  in  Deutschland. 

XIII,  4S9  A. 

282.  — Die  Statistik  der  Krankenversicherung  itn  Deutschen  Reich  für  das  Jahr 

1896.  XIII,  433  M. 

283.  — Das  deutsche  Invalidenversicherungsgesetz  vom  13.  Juli  1899.  XV,  170  G. 

284.  — Die  Statistik  der  Unfall-,  Alters-  und  Invaliditätsversichcrung  im  Deutschen 

Reich  für  das  Jahr  1897.  XV,  490  M. 

285.  — Die  Reform  der  Deutschen  Unfallvcrsicherungsgcsctzgebung.  XVI,  1 A. 

286.  Lenz,  Adolf,  Privatdozent,  Dr. ; Grofsbritannien.  Die  Gesetzgebung  zur  Ver- 

hütung von  Grausamkeiten  gegen  Kinder.  XI,  450  G. 

287.  Leser,  E.,  Prof.  Dr. ; Mataja,  V.,  Dr. ; Das  Recht  des  Schadenersatzes  vojn 

Standpunkte  der  Nationalökonomie.  11,  523  L. 

287  a.  Levy,  Hermann,  Dr. ; Landarbeiterfrage  und  I^andflucht  in  England.  XVIII,  483  A. 

288.  Lcxis,  W.,  Prof.  Dr. ; Keleti,  K.,  Dr. ; Die  Ernährungsstatistik  der  Bevölkerung 

Ungarns  auf  physiologischer  Grundlage  bearbeitet.  I,  35 1 L. 

289.  Lindemann,  H.,  Dr. ; Zur  Littcratur  über  die  Wohnungsfrage.  XVII,  508  L. 

290.  — Deutsches  Reich.  Gesetzgeberische  Fortschritte  auf  dem  Gebiet  des  Woh- 

nungswesens. XVIII,  138  G. 

291.  Lizst,  v.,  Franz,  Prof.  Dr. ; Die  Forderungen  der  Kriminalpolitik  und  der  Vor- 

entwurf eines  schweizerischen  Strafgesetzbuches.  VI,  394  A. 

292.  Locw,  Emil,  Dr. ; Armenpflege  und  Altersversorgung  in  England.  VIII,  695  M. 

293.  — Das  Problem  der  Arbeitslosigkeit  in  England.  IX,  79  A. 

294.  — Grofsbritannien.  Das  Gesetz  betr.  die  Einigungsämter.  IX,  583  G. 

295.  Löwenfeld,  Th.,  Prof.  Dr. ; Kontraklbruch  und  Koalitionsrecht  im  Hinblick 

auf  die  Reform  der  deutschen  Gewerbegesetzgebung.  III,  383  A. 

296.  — Koalitionsrecht  und  Strafrecht.  XIV,  471  A. 

297.  Losch,  Hermann,  Dr.,  Finanzrat  ; Das  Königreich  Württemberg.  II,  21 1 L. 

298.  — Das  Mikroskop,  das  Brillenglas,  der  Feldstecher  und  das  Fernrohr  in  der 

deutschen  Volkswirtschaftslehre.  XVI,  502  M. 

Archiv  für  »oz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIU.  43 


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666 


Autoren-Registcr. 


299.  Lotmar,  Philipp,  Prof.  Dr. ; Der  Dienstvertrag  des  zweiten  Entwurfs  eines 

bürgerlichen  Gesetzbuchs  für  das  Deutsche  Reich.  VIII,  1 A. 

300.  — Die  Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern.  XV,  1 A. 

301.  Lotz,  Walter,  Prof.  Dr. ; Nübling,  Eugen;  Ulms  Baumwollweberei  im  Mittel- 

alter.  Urkunden  und  Darstellungen.  Ein  Beitrag  zur  deutschen  Städte- 
und  Wirtschaftsgeschichte.  IV,  553  L. 

302.  — Zimmermann,  Alfred,  Dr. ; Geschichte  der  prcufsisch-deutschen  Handels- 

politik, aktenmäfsig  dargestellt.  V,  524  L. 

303.  — Die  Reform  der  direkten  Steuern  in  Bayern,  unter  besonderer  Berücksichtigung 

der  sozialen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse.  XI,  549  A. 

304.  Lux,  H.  Dr. ; Die  Sittlichkeitsvcrbrecfaen  in  Deutschland  in  kriminalistischer 

Beleuchtung.  V,  248  A. 


M. 

305.  Macrosty,  Henry,  W.  B.  A. ; Die  Trusts  im  Amerika.  XVII,  281  A. 

306.  — Die  englische  Fabrikgesetzgebung  in  den  Jahren  1878 — 1901.  XVII,  670  G. 

307.  — Der  Rechtszustand  der  Gewerkvereine  in  Grofsbritannien.  XVIII,  322  A- 

308.  Mangoldt  von,  Karl,  Dr. ; Die  gewerblichen  Fortbildungsbestrebungen  der 

Dresdner  Arbeiterschaft.  VI,  290  A. 

309.  — Ein  Reformprogramm  für  die  Wohnungs-  und  Ansiedlungsfragc  in  Deutsch- 

land. XVIII,  112  A. 

310.  Martin,  Rudolf,  Referendar;  Zur  Verkürzung  der  Arbeitszeit  in  der  mechanischen 

Textilindustrie.  VIII,  240  M. 

311.  Mataja,  V.,  Sektionschef  Dr. ; Das  schweizerische  Bundesgesetz  vom  26.  April 

1887,  betr.  die  Reform  der  Haftpflicht  I,  136  G. 

312.  — Ratenhandel  und  Abzahlungsgeschäfte.  Ein  Beitrag  zur  Beurteilung  der 

Konsumtionsverhältnissc  der  unteren  Klassen.  I,  157  M. 

313.  — Falkner,  R.  P. ; Die  Arbeit  in  den  Gefängnissen.  I,  360  L. 

314.  — Zccrleder,  A. ; Die  Schweizerische  Haftpflichtgesetzgebung.  I,  678  L. 

315.  Mayr,  v.  G.,  Unterstaatssekretära.  D.,  Prof.  Dr. ; Arbeiterversicherung  und  Sozial- 

statistik. I,  201  A. 

316.  — Handbuch  der  Vcrwaltungsstatistik.  V,  692  L. 

317.  Mayer,  Gustav,  Dr.  und  Zanten,  van,  J.  H.,  Dr. ; Der  Entwurf  eines  Unfall- 

versicherungsgsctzcs  in  den  Niederlanden.  X,  750  G. 

318.  Mengcr,  A.,  Prof.  Dr. ; Das  bürgerliche  Recht  und  die  besitzlosen  Volksklassen. 

I.  u.  II.  Artikel.  II,  I u.  419  A. 

319.  — Das  bürgerliche  Recht  und  die  besitzlosen  Volksklassen  (Erbrecht).  III, 

57  A. 

320.  Menzel,  A.,  Prof.  Dr. ; Liefmann,  Robert,  Dr. ; Die  Untcrnchmcrvcrbände  (Kon- 

ventionen, Kartelle),  ihr  Wesen  und  ihre  Bedeutung.  XII,  289  L. 

321.  Miaskowski,  A.  von,  Graf,  Eduard;  Die  Austeilung  der  Allmend  in  der  Gemeinde 

Schötz.  VI,  169  L. 

322.  Millict,  E.  W.,  Direktor;  Einiges  über  die  Wirkungen  des  schweizerischen  Al- 

koholmonopols. III,  180  M. 


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Autoren-Register. 


667 


323.  Minz&s,  Boris,  Prof.  Dr. ; Das  staatssozialistische  Experiment  einer  obligatorischen 

gegenseitigen  Hagelversicherung  ln  Bulgarien.  XII,  461  M. 

324.  — Tugau-Baranowsky,  M. ; Geschichte  der  russischen  Fabrik.  XV,  515  A. 

325.  — Ergebnisse  der  vierjährigen  Tätigkeit  der  obligatorischen  gegenseitigen  Hagel- 

versicherung in  Bulgarien.  XVI,  277  M. 

326.  Mischler,  Ernst,  Prof.,  Dr. ; Die  östereichische  Fabrikinspektion  im  Jahre  1887. 

I,  624  M. 

327.  — Verwaltungsbericht  des  Rates  der  Stadt  Leipzig  für  das  Jahr  1886.  I,  357  L. 

328.  — Zur  Beurteilung  der  Kriminalität  des  Deutschen  Reiches.  II,  192  M. 

329.  — Die  österreichische  Fabrikinspektion  im  Jahre  1888.  II,  516  M. 

320.  — Stalistica  giudiziaria  penale  per  l’anno  1886.  II,  679  L. 

331.  — Münsterberg,  E. ; Das  Landarmcnwcscn.  III,  685  L. 

332.  — Die  österreichische  Gewerbeinspektion  im  Jahre  1889  und  1890.  V,  193  M. 

333.  — Die  österreichische  Gewerbeinspeklion  im  Jahre  1891.  V,  475  M. 

334.  — Die  österreichische  Gewerbeinspektion  mit  besonderer  Rücksicht  auf  den 

Bericht  vom  Jahre  1892.  VI,  458  A. 

335.  — Die  österreichische  Gewerbeinspektion  in  den  Jahren  1893  und  1894.  VIII, 

492  M. 

336.  — Die  österreichische  Gewerbeinspektion  im  Jahre  1895.  IX,  251  M. 

337.  — Die  Hauptergebnisse  der  deutschen  Berufszählung  vom  14.  Juni  1895.  X, 

288  M. 


338.  — Die  Gewerbeinspektion  in  Oesterreich  im  Jahre  1896.  X,  948  M. 

339.  — Die  österreichische  Gewerbeinspektion  im  Jahre  1897.  XII,  775  M. 

340.  — Grundzüge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  für  Oesterreich. 

I.  Die  Vorgeschiche  des  Gesetzentwurfs.  XV,  281  A. 

341.  — Grundzüge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  für  Oesterreich. 

II.  Die  Vorfrage  der  legislativen  Kompetenz.  — Das  lokalkommunale  und 
das  territoriale  Gestaltungsmoment.  XV,  285  A. 

342.  — Grundzüge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  für  Oesterreich. 

III.  Der  Gedanke  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  im 
Systeme  der  Verwaltung.  XV,  290  A. 

343.  — Grundzüge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  für  Oesterreich. 

IV.  Die  Grundzüge  des  Gesetzentwurfs.  XV,  300  A. 

344.  — Grundzüge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  für  Oesterreich. 

V.  Die  Aussichten  der  Verwirklichung  des  Gesetzentwurfs.  XV,  318  A. 

345.  — Die  Gewerbeinspektion  in  Oesterreich  im  Jahre  1898.  XV,  257  M. 

346.  — Die  österreichische  Gewerbeinspektion  im  Jahre  1899.  XVI,  251  M. 

347.  — Die  österreichische  Gewerbeinspektion  im  Jahre  1900.  XVII,  478  M. 

348.  Molkenbuhr,  Hermann,  M.  d.  R. ; Deutsches  Reich.  Die  Novelle  zur  Gewerbe- 

ordnung. XIV,  191  G. 


349.  — Die  Novelle  zur  Gewerbeordnung  vom  30.  Juni  1900. 

350.  — Deutsches  Reich.  Die  neue  Scemannsordnung  und 

XVII,  619  G. 


XV,  653  G. 
ihre  Nebengesetze. 

43* 


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668 


Autorcn-Kegister. 


350a.  Mombcrt,  Dr.  Paul,  Wohlfahrtseinrichtungen  der  Arbeitgeber.  XVIII,  519  A. 

351.  Moore,  Samuel,  Oberrichter;  Die  englische  Haftpflichtgesetzgebung  und  die 

beabsichtigte  Reform  derselben.  I,  572  G. 

352.  — Das  Swcating-System  in  England.  I,  642  M. 

353.  — Das  Trucksystem  in  Grofsbritannicn  und  die  Gesetzgebung.  II,  219  A. 

354.  Morgensticrnc,  B. ; Rubin,  M. ; Tabcllarisk  Fremstilling  of  Beboelscsog  Husleie- 

forholdene  i Staten  Kjobenhavn.  I,  676  L. 

N. 

355.  Nacf,  E. , Kantonstatistiker;  Die  schweizerische  Fabrikinspektion  im  Jahre 

1886,87.  I,  635  M. 

356.  — Die  Berichte  der  schweizerischen  Fabrikinspektion  für  1888  und  1889.  III, 

. 665  M. 

357.  — Schweiz.  Die  Unfall-  und  Krankenversicherung.  IV,  665  G. 

358.  — Die  Berichte  der  schweizerischen  Kantonsregierungen  über  die  Ausführung 

des  Fabrikgesetzes  für  1889  und  1890.  V,  205  M. 

359.  — - Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fabrikgeselzes.  VII,  520  M. 

360.  — Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  IX,  588  M. 

361.  — Der  Vollzug . des  schweizerischen  Fabrikgesetzes  in  den  Jahren  1895/96. 

XI,  521  M. 

362.  — Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  XIII,  443  M. 

363.  Nash,  Vanghan ; Das  englische  Fabrikgesetz  von  1895.  IX,  187  G. 

364.  Natorp,  Paul,  Prof.  Dr. ; Platos  Staat  und  die  Idee  der  Sozialpädagogik.  VIII. 

140  A. 

365.  — Edclheim,  John,  Dr. ; Beiträge  2ur  Geschichte  der  Sozialpädagogik  mit  be- 

sonderer Berücksichtigung  des  französischen  Revolutionszcitalters.  XVII, 

541  L. 

366.  Nccfc,  M.,  Direktor;  Oestcrreichisches  Städtebuch.  Gesammelt  und  redigiert 

von  K.  Th.  Inama-Stcmcgg  u.  E.  Mischlcr.  I,  195  L. 

367.  Necrgaard,  N.;  Unfallversicherung  und  Krankenuntcrstülzung  in  Dänemark. 

III,  345  G. 

368  Neuburg,  Clamor,  Prof.  Dr. ; Der  Entwurf  zur  Abänderung  der  deutschen  Ge- 
werbeordnung. X,  519  A. 

369.  Nocht,  B.,  Dr.,  Uafcnarzt,  Hamburg;  Zur  Revision  der  deutschen  Seemanns- 
ordnung. XII,  157  A. 


o. 

370.  Ocrtmann,  Paul,  Prof.  Dr. ; Die  Bauhandwerkerfragc  und  der  Entwurf  eines 

Reichsgesetzes  betr.  die  Sicherung  der  Bauforderungen.  XII,  34  A. 

371.  Oldendorff,  A.,  Dr. ; Die  Säuglingssterblichkeit  in  ihrer  sozialen  Bedeutung. 

I,  83  A. 

372.  — Becker,  J.,  Dr. ; Anleitung  zur  Bestimmung  der  Arbeits-  und  Erwerbs- 

unfähigkeit nach  Verletzungen.  I,  371  L. 


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Autoren-Register.  GOty 

373.  Oldendorff,  A. ; Körösi,  J. ; Die  Sterblichkeil  der  Stadt  Budapest  i.  d.  J.  1882/85 

und  deren  Ursachen.  I,  679  L. 

374.  — Statistica  dellc  cause  di  mortc  nei  comuni  capoluoghi  di  provincia  e di 

circondario  e dellc  morti  violente  avvenutc  in  tutto  il  regno.  Anno  1885. 
II,  527  L. 

375.  — Mitteilungen  des  bcrnischen  statistischen  Bureaus,  Jahrgang  1887,  Liefe- 

rung II.  II,  535  L. 

376.  Oppenheimer,  Franz,  Dr. ; Gide,  Charles ; La  Cooperation.  Conferences  de 

Propagande.  XVI.  759  L. 

P. 

377.  Paszkowski,  Wilhelm,  Dr. ; Die  Hugo  Heimann’schc  öffentliche  Bibliothek  und 

Lesehalle  in  Berlin.  XV,  267  M. 

377  a,  — Die  Hugo  Heimann’schc  öffentliche  Bibliothek  und  Lesehalle  in  Berlin  in 
den  ersten  vier  Jahren  etc.  XVIII,  630  M. 

378.  A.  Peterscn-Studnitz;  Norgcs  offizielle  Statistik,  3.  R.  Nr.  64.  Fattigstatistik 

(Armenstatistik).  I,  674  L. 

379.  — Raphael,  Axel ; Arbctsgifvare  och  arbetare.  Förliknings-metoder  vid  deras 

intressetoister  i England  och  Förenta  Statema.  II,  207  L. 

380.  — Selsmordene  i Kongeriget  Danmark  i Tiaarct  1876  — 1885.  Saertryk  of 

Statistike  Meddelelser.  IV,  240  L. 

381.  Philippovich,  E.  v.,  Prof.  Dr. ; Die  soziale  Lage  der  Cigarrenarbeiter  im  Grofs- 

herzogtum  Baden.  III,  368  M. 

382.  — Die  staatlich  unterstützte  Auswanderung  im  Grofsherzogtum  Baden. 

V,  27  A. 

383.  — Deutsches  Reich.  Der  Entwurf  eines  Auswanderungsgcselzes.  V,  638  G. 

384.  — Die  Vereinigten  Staaten  und  die  europäische  Auswanderung.  VI,  259  A. 

385.  — Arbeitcrausschüssc  und  Einigungsämter  in  Oesterreich.  VII,  595  A. 

386.  — Wiener  Wohnungsverhältnisse.  VII,  2 14  A. 

387.  Platter,  J.,  Prof.  Dr. ; Die  geplante  Alters-  und  Invalidenversicherung  im  Deutschen 

Reich.  I,  7 A. 

388.  Ploetz,  Alfred,  Dr. ; Sozialpolitik  und  Rassenhygiene  in  ihrem  prinzipiellen 

Verhältnis.  XVII,  393  A. 

389.  Pollak,  Rudolf,  Privatdozent,  Dr. ; Die  Dienststreitigkeiten  im  österreichischen 

Recht  und  ihre  Reform.  IX,  155  G. 

390.  — Oesterreich.  Gesetz  betr.  die  Einführung  von  Gewerbegerichten  und  die 

Gerichtsbarkeit  in  Streitigkeiten  aus  dem  gewerblichen  Arbeits-,  Lehr-  und 
Lohnverhältnisse.  X,  272  G. 

391.  Pringsheim,  O.,  Dr. ; Die  Lage  der  arbeitenden  Klassen  in  Holland. 

I,  69  A. 

392.  — Das  niederländische  Arbeiterschutzgesetz  vom  5.  Mai  1889.  II,  506  G. 

393.  — Kosmann.  B. ; Obcrschlesien,  sein  Land  und  seine  Industrie.  II,  202  L. 

394.  — Neuere  Untersuchungen  über  die  Lage  der  arbeitenden  Klassen  in  Holland. 

IV,  315  A. 


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6yo 


Autoren*  Register. 


395.  Pringsheim,  O.  Dr. ; Niederlande.  Das  Gesetz  betr.  die  Veranstaltung  einer  En- 
quete über  die  Arbeiterverbältnisse.  IV,  692  G. 

396-  — Report  on  strikes  and  lockouts  by  the  labour  Correspondcnt  to  the  Board 
of  Trade.  V,  219  L. 

397.  — Ein  Experiment  mit  dem  Achtstundentage.  VI,  14  A. 

398.  — Hertz,  Friedrich  Otto;  Die  agrarischen  Fragen  im  Verhältnis  zum  Sozia- 

lismus. Mit  einer  Vorrede  von  Eduard  Bernstein.  XIV,  75  t L. 

399-  — Landwirtschaftliche  Manufaktur  und  elektrische  Landwirtschaft  XV, 

406  A. 

400-  — Die  Aussichten  der  elektrischen  Landwirtschaft  XVII,  715  M. 

401.  — Nordenholz,  A.,  Dr.  jur. ; Allgemeine  Theorie  der  gesellschaftlichen  Produk- 
tion. XVII,  279  L. 


Q- 

402.  Quarck,  M.,  Dr. ; Bcrthold,  G.,  Dr. ; Die  Entwicklung  der  deutschen  Arbciter- 

kolonien.  I,  367  L. 

403.  — Die  deutsche  Fabrikinspektion  im  Jahre  1887.  II,  347  M. 

404.  — Die  preufsische  Bergarbeitcrenquetc  vom  Jahre  1889.  III,  162  M. 

405.  — Der  Wucher  auf  dem  Lande,  Berichte  und  Gutachten  veröffentlicht  vom 

Verein  für  Sozialpolitik.  Schnapper-Arndt,  G. ; Zur  Methodologie  sozialer 
Enqueten.  Zuns,  J.,  Der  „Wucher  auf  dem  Lande“.  III,  695  L. 

406.  — Die  Reorganisation  der  Gewerbeinspektion  in  Preufscn.  IV,  207  M. 

407.  — Das  neue  Krankenversicherungsgesetz  für  das  Deutsche  Reich.  V,  279  G. 


R. 

408.  Rae,  John  ; Neue  Fortschritte  der  Achtstundcnbcwegung  in  England.  XII,  1 A. 

409.  Raphael,  Axel,  Dr. ; Das  schwedische  Arbeiterschutzgesetz  vom  io.  Mai  1889. 

UI,  140  G. 

410.  — Die  schwedische  Sozialpolitik  des  Jahres  1894.  VIII,  283  M. 

41 1.  Rauchberg,  Heinrich,  Prof.  Dr. ; Die  sozialstatistischen  Ergebnisse  der  letzten 

französischen  Volkszählung.  II,  281  A. 

412.  — Bücher,  Karl,  Dr. ; Die  Bevölkerung  des  Kantons  Basel-Stadt  am  I.  De- 

zember 1S88.  IV,  228  L. 

413.  — Philippovich,  E.  von,  Dr. ; Auswanderung  und  Auswanderungspolitik  in 

Deutschland.  V,  517  L. 

414.  — Die  Statistik  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  in  Oesterreich  für  die 

Jahre  1890 — 1895.  XII,  647  A. 

415.  — Die  Erhebung  über  Frauen-  und  Kinderarbeit  in  den  Vereinigten  Staaten. 

XII,  135  M. 

416.  — Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

Vorbemerkung.  Erster  Teil.  Die  Methode  der  Berufs-  und  Gewerbezählung. 
XIV,  227  A. 

417.  — Die  Berufs-  und  Gewerbczählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

Zweiter  Teil.  Berufsgliederung  und  soziale  Schichtung.  XIV,  261,  603  A. 


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Autorcn-Rcgistcr. 


671 


418.  Rauchberg,  H. ; Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich  vom 

14.  Juni  1895.  II.  Teil.  Berufsgliederung  und  soziale  Schichtung.  — 

IX.  Die  häuslichen  Dienstboten.  XV,  123.  — X.  Die  Familienangehörigen 
ohne  eigenen  Hauptceruf.  129.  — XI.  Ueberblick  über  die  soziale 
Schichtung  der  gesamten  Bevölkerung.  138.  — XII.  Der  Nebenerwerb.  147  A. 

419.  — XIII.  Die  Stellung  der  Frauen  im  Erwerbsleben.  XV,  332.  — XIV.  Alter  und 

Familienstand  der  Erwerbstätigen.  373.  — XV.  Das  Glaubensbekenntnis 
der  Erwerbstätigen.  402  A. 

420.  — Die  Landwirtschaft  im  Deutschen  Reich.  Nach  der  landwirtschaftlichen 

Betriebszählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  XV,  554  A. 

421.  — Gewerbe  und  Handel  im  Deutschen  Reich.  Auf  Grund  der  Gewerbezählung 

vom  14.  Juni  1895.  XVI,  142  A. 

422.  — Entwicklungstendenzen  der  deutschen  Volkswirtschaft.  XVI,  31 7 A. 

423.  Redlich,  Josef,  Dozent  Dr. ; Das  Österreichische  Heimatrecht  und  seine  Reform. 

X,  549  A. 

424.  — Waentig,  Heinrich;  Gewerbliche  Mittclstandspolitik,  XIII,  471  L. 

425.  Reeves,  Hon.  W.  P. ; Die  obligatorischen  Schiedsgerichte  in  einigen  englischen 

Kolonien.  XI,  635  A. 

426.  — Die  Gesetzgebung  Ncu-Seelands  über  Fabriken,  Läden  und  Dienstboten. 

XII,  516  G. 


s. 

428.  Schanz,  Georg,  Prof.  Dr. ; Die  neuen  statistischen  Erhebungen  über  Arbeits- 

losigkeit in  Deutschland.  X,  325  A. 

429.  — Rcitzcnstcin,  Dr.  Freiherr  von;  Der  Arbeitsnachweis,  seine  Ausgestaltung 

im  In-  und  Auslande.  XI,  824  L. 

430.  — Die  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit.  XVI,  A.  — I.  Der  Arbeitsnachweis. 

549.  — II.  Sonstige  Mittel  behufs  Verhütung  und  Unterdrückung  der 
Arbeitslosigkeit.  615. 

431.  Schippel,  Max,  M.  d.  R. ; Beiträge  zur  neuesten  Handelspolitik  Deutschlands. 

Herausgegeben  vom  Verein  für  Sozialpolitik.  I.  u.  II.  Bd.  XVI,  523  L. 

432.  Schmid,  Ferd.,  Prof.  Dr. ; Krebs,  W. ; Organisation  und  Wirksamkeit  der  ge- 

werblichen Schiedsgerichte  etc.  I,  355  L. 

433.  — Report  on  the  Statistics  of  Wages  in  Manufacturing  Industries.  I,  647  L. 

434.  — Deutsches  Reich.  Der  neue  Gesetzentwurf  betr.  die  Gewerbegerichte.  III. 

3>4  G. 

435.  — Stieda,  W. ; Das  Gewerbegericht.  III,  676  L. 

436.  — Smith,  R.  M. ; Wages  Statistics  and  the  next  Census  of  the  United  States. 

Statistische  Mitteilungen  über  die  beim  Bergbau  Preufsens  gezahlten  Arbeits- 
löhne. — Ermittlungen  über  die  Lohnverhältnisse  in  Berlin.  — Neefe, 
Dr.  M. ; Ermittlungen  über  die  Lohnvcrhällnissc  in  Breslau.  — Schmitz,  J. ; 
Uebersicht  der  für  die  sämtlichen  deutschen  Bundesstaaten  festgestellten 
ortsüblichen  Tagelöhnc.  III,  196  L. 


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672  Autoren-Register, 

437.  Schmid,  F. ; Deutsches  Reich.  Das  neue  Reichsgesetz  betr.  die  Gewerbegerichte. 

IV,  157  G. 

438.  — Die  neuen  sozialpolitischen  Vorlagen  der  österreichischen  Regierung.  V,  1 54  G. 

439.  Schmidt,  Conrad,  Dr. ; Wagner,  Adolf,  Prof. ; Lehr-  und  Handbuch  der  poli- 

tischen Oekonomie.  Erste  Hauptabteilung:  Grundlegung  der  politischen 
Oekonomic.  I.  u.  II.  Halbband.  VI,  588  L. 

439a.  — Sombart,  Werner;  Sozialismus  und  soziale  Bewegung  im  19.  Jahrhundert. 

X,  318  L. 

44°*  — Barth,  Paul,  Dr. ; Die  Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie.  I.  Teil. 
XII,  790  L. 

440a.  — David,  Eduard;  Sozialismus  und  Landwirtschaft,  1.  Band,  die  Betriebsfrage. 

XVII L 637  L. 

441.  Schneider,  F.  Dr.;  Deutsches  Reich;  Das  Gesetz,  betr.  die  Erwerbs-  und  Wirt- 

schaftsgenossenschaften. II,  293  G. 

442.  Schoenlank,  Bruno,  Dr.,  M.  d.  R. ; Die  Kartelle.  III,  489  A. 

443.  — Deutsches  Reich.  Die  Verordnungen  über  die  Einrichtung  der  Quecksilber- 

Spicgelbelegen.  111,  149  G. 

444.  — Eine  Randglosse  zur  mittelalterlichen  Sozialstatistik.  III,  659  M. 

445.  — Morgenstern,  F. ; Die  Fürthcr  Mctallschlägcrei.  III,  679  L. 

446.  — Smith,  Kichmond  Mayo;  Emigration  and  Immigration.  IV,  396  L. 

447-  — Pringsheim,  Otto  Dr. ; Beiträge  zur  wirtschaftlichen  Entwicklungsgeschichte 
der  vereinigten  Niederlande  im  17.  und  18.  Jahrhundert.  IV,  707  L. 

448.  — Daszynska,  Sophie;  Zürichs  Bevölkerung  im  17.  Jahrhundert.  Ein  Beitrag 

zur  Kenntnis  der  historischen  Städte-Statistik.  IV,  548  L. 

449.  — Ein  Kapitel  aus  der  urkundlichen  Geschichte  der  Kartelle.  V,  403  A. 

450.  — Zur  Statistik  der  Prostitution  in  Berlin.  VII,  330  M. 

451.  — Herkner,  H.,  Dr.  Prof.;  Die  Arbeiterfrage.  Eine  Einführung.  VII,  532  L. 

452.  Schüller,  Ludwig,  Dr. ; Die  Wiener  Enquete  über  Frauenarbeit.  X,  379  A. 

453.  — Richard,  Dr. ; Die  österreichische  Handwerkergesetzgebung.  XI,  381  A. 

454.  Schüler,  F.,  Dr.,  eidg.  Fabrikinspektor;  Die  Fabrikinspektion.  II,  537  A. 

455.  — Der  Normalarbeitstag  in  seinen  Wirkungen  auf  die  Produktion.  IV,  Sa  A. 

456.  — Studien  zur  Frage  des  ZUndhoIzmonopols.  V,  70  A. 

457.  — Die  Entwicklung  der  Arbeiterschutzgesetzgebung  in  der  Schweiz.  VI. 

357  A. 

458.  — Jay,  Raoul,  Professor;  Etudes  sur  la  question  ouvriere  en  Suisse.  VI, 

165  L. 

459.  — Das  Zürcher  Gesetz  betr.  den  Schutz  der  Arbeiterinnen.  VII,  461  G. 

460.  — Zur  Frage  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  in  der  Schweiz.  IX,  420  A. 

461.  — Die  Fäbrikwohnhäuser  in  der  Schweiz.  IY,  261  M. 

462.  — Die  Grundsätze  für  die  Ausbildung  der  prcufsischen  Gewerbeinspektion. 

XI,  502  M. 

463/  — Die  Verkürzung  der  Samstagnachmittag-Fabrikarbeit  in  der  Schweiz.  XI, 
252  M. 

464.  — Die  sozialen  Zustände  in  der  Seidenindustrie  der  Ostschweiz.  XIII,  510  A. 


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Autoren-Register. 


67  3 


465.  Schüler,  F. ; Weibliche  Fabrikinspektoren  in  der  Schweiz.  XVII,  384  A. 

466.  — Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  XVIII,  21  y\. 

467.  — Die  Revision  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes  (Schlufs).  XVIII,  282  A. 

468.  Schnitze,  Ernst,  Dr. ; Aschrott,  P.  F. ; Volksbibliothek  und  Volkslesehalle  eine 

kommunale  Veranstaltung?  XI,  540  L. 

469.  — Ploetz,  Alfred,  Dr. ; Die  Tüchtigkeit  unserer  Rasse  und  der  Schutz  der 

Schwachen.  XII,  148  L. 

470.  Schulz,  M.  von,  Magistratsrat  und  Gewerberichter;  Die  Stellung  der  Heimarbeit 

im  deutschen  Gewerberecht.  X,  731  A. 

471.  — Zur  Frage  der  kündigungsloscn  Entlassung  der  Arbeiter  im  deutschen  Ge- 

werberecht (§  123  Ziff.  3 R.G.O.).  XI,  787  M. 

472.  — Das  Redaktionsversehen  im  § 138a  der  deutschen  Reichsgewerbeordnung. 

XII,  429  A. 

473.  — Unger,  Emil,  Dr. ; Entscheidungen  des  Gewerbegerichts  zu  Berlin  unter  Be- 

rücksichtigung der  Praxis  anderer  deutscher  Gerichte.  XII,  798  L. 

474.  — Ansprüche  arbeitsunfähiger  Arbeiter  nach  deutschem  Gewerberecht.  XIII, 

382  G. 

475.  — Zur  Revision  des  deutschen  Gewerbegerichtsgesetzes.  XIV,  139  G. 

476.  — Die  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte  aus  § 91,  Absatz  6 der  deutschen 

Handwerkernovelle.  XIV,  705  G. 

477.  — Ueber  Schiedsverträge  der  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  nach  dem  deutschen 

Gewerbegerichtsgesetz  und  der  Reichszivilprozefsordnung.  XV,  598  A. 

478.  — Deutsches  Reich.  Die  Gewcrbegerichtsnovclle  vom  30.  Juni  1901.  XVI, 

678  G. 

479.  — Arbeiter*  und  Konsumentenschutz  im  Bäckergewerbe.  XVII,  51  A. 

479  a.  — Zur  Koalitionsfreiheit.  XVIII,  457  A. 

480.  Schulze-Gävernitz,  G.  von,  Univ.-Prof.,  Dr. ; Der  wirtschaftliche  Fortschritt,  die 

Voraussetzung  der  sozialen  Reform.  V,  1 A. 

481.  — Eine  Studie  zum  osteuropäischen  Merkantilismus.  VIII,  436  A. 

482.  Sbrojavacca,  L.,  Dr. ; Die  Unterstützungsvereine  der  Arbeiter  in  Italien.  III,  75  A. 

483.  Sigg,  Jean,  Arbeitersekretär;  Schweiz.  Ein  Gesetz  über  Arbeitstarife  und 

Kollektivstreitigkeiten  in  Kanton  Genf.  XVIII,  344  G. 

484.  Silbermann,  Josef,  Dr.,  Generalsekretär;  Die  I-age  der  deutschen  Handels- 

gehilfen und  ihre  gesetzliche  Reform.  IX,  350  A. 

485.  — Die  Frage  der  kaufmännischen  Schiedsgerichte  in  Deutschland.  XI,  658  A. 

486.  — Die  Arbeitszeit  der  kaufmännischen  Angestellten  in  den  Engros-  und  Fabrik- 

geschäften Berlins.  XVI,  726  M. 

487.  Simmel,  Georg,  Dozent  Dr. ; Jastrow,  J.,  Dr. ; Die  Aufgaben  des  Liberalismus 

in  Preufsen.  VI,  622  L. 

488.  — Kidd,  B. ; Soziale  Evolution.  VIII,  507  L. 

489.  Sinzheimer,  Ludwig,  Dozent  Dr. ; Zur  Statistik  der  Frauenarbeit  in  England 

und  Wales.  VII,  682  M. 

489a.  — Donald,  Robert;  The  London  Manual  and  Municipal  Yearbook  189697 
and  1897  98.  XI,  822  L. 


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674  Autoren-Register. 

490.  — Donald,  Robert;  The  Municipal  Ycarbook  for  the  United  Kingdom  for 

1897.  XI,  822  L. 

491.  — Hallgarten,  Robert,  Dr.  jur. ; Die  kommunale  Besteuerung  des  unverdienten 

Wertzuwachses  in  England.  (Münchener  Volks wirtschaftliche  Studien, 
Stück  32.)  XIV,  739  L. 

492.  Smith,  Adolphe,  F.  C.  S. ; Das  Sweating-System  in  England.  IX,  392  A. 

493*  Sombart,  W.,  Dr.  Professor ; Lohnstatistische  Studien.  11,  259  A. 

494.  — Die  deutsche  Zigarrenindustrie  und  der  Erlafs  des  Bundesrata  vom  9.  Mai 

1888.  II,  107  A. 

495.  — Die  Statistik  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  im  Deutschen  Reich  für 

1887.  II,  639  M. 

496.  — Bücher,  Karl,  Prof.;  Basels  Staatseinnahmc  und  Steuerverteilung  1878 — 1887. 

II,  681  L. 

497.  — Zur  Beurteilung  der  Zustände  der  römischen  Campagna.  III,  378  M. 

498.  — Die  Hausindustrie  in  Deutschland.  IV,  103  A. 

499.  — Gothein,  Eberhard ; Pforzheims  Vergangenheit.  Ein  Beitrag  zur  deutschen 

Städte-  und  Gcwcrbegcschichte.  IV,  247  L. 

500.  — Rosin,  II.,  Prof.  Dr. ; Das  Recht  der  Arbeiter-Versicherung.  Erster  Band. 

I.  u.  2.  Abteilung.  IV,  710  L. 

501.  — Wolf,  Julius,  Dr. ; Sozialismus  und  kapitalistische  Gesellschaftsordnung. 

Kritische  Würdigung  beider  als  Grundlegung  einer  Sozialpolitik.  (A.  u. 
d.  T.  Eines  Systems  der  Sozialpolitik  Erster  Band.)  V,  487  L. 

502.  — Mataja,  Victor;  Grofsmagazine  und  Kleinhandel.  V,  379  L. 

503.  — Studien  zur  Entwicklungsgeschichte  des  italienischen  Proletariats.  VI,  A. 

I.  Einleitung.  177. 

II.  Zur  Orientierung  über  die  heutige  Lage  der  Gewerbe  und  des 
gewerblichen  Proletariats  in  Italien.  181. 

III.  Die  Streikbewegung  in  den  italienischen  Gewerben  während  der 
Jahre  1860—1891.  218. 

504.  — Das  italienische  Gesetz  vom  15.  Juni  1893  betr.  die  Einsetzung  von  „Probi- 

viri“.  VI,  549  G. 

505.  — Sozialismus  und  kapitalistische  Gesellschaftsordnung.  II.  Erwiderung  auf 

die  „Antwort“  Professor  Julius  Wolfs.  VI,  147  M. 

506.  — Rosin,  Heinrich,  Prof.  Dr. ; Das  Recht  der  Arbeiterversicherung.  VI,  1 7 1 L 

507.  — Zur  Kritik  des  ökonomischen  Systems  von  Karl  Marx.  VII,  555  A. 

508.  — Schoenlunk,  Bruno,  Dr. ; Soziale  Kämpfe  vor  dreihundert  Jahren.  VII,  720  L. 

509.  — Stammhammer,  Josef;  Bibliographie  des  Sozialismus  und  Kommunismus. 

VII,  340  L. 

510.  — Studien  zur  Entwicklungsgeschichte  des  italienischen  Proletariats.  IV.  Die 

Arbeiterkammern  (Camere  dcl  Lavoro)  in  Italien.  VIII,  521  A. 

51 1.  — Zur  neueren  Litteratur  über  das  Handwerk.  IX,  624  L. 

512.  — Ideale  der  Sozialpolitik.  X,  I A. 

513.  — Stammhammer,  Josef;  Bibliographie  der  Sozialpolitik.  X,  166  L. 

514.  — Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation.  I.  Die  gewerbliche  Arbeit 


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Autoren-Register.  Qj  j 

in  natur-  und  scozialwissenhaftlicher  Betrachtung.  Bisherige  Litteratur. 
XIV,  l A. 

515.  Sombart,  W. ; Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation.  II.  Grundzüge 

einer  Prinzipienlchre  der  ökonomischen  Technik.  XIV,  17  A. 

516.  — Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation.  III.  Wirtschaft  und  Betrieb. 

XIV,  310  A. 

517.  — Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation.  IV.  Betrieb  und  Betriebs- 

formen. XIV,  321  A. 

518.  — Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation.  V.  Wirtschaftsstufe»,  Wirt- 

schaftssysteme, Wirtschaftsformen.  XIV,  368  A. 

519.  — Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens.  XVII,  I A. 

520.  — Beruf  und  Besitz.  XVIII,  1 A. 

521.  Stammler,  Rudolf,  Prof.  Dr. ; Lotraar,  Philipp,  Prof.;  Vom  Rechte,  das  mit  uns 

geboren  ist.  Die  Gerechtigkeit.  VI,  615  L. 

522.  Steck,  Albert,  Rechtsanwalt;  Die  heutige  Gewerkschaftsbewegung  in  der  Schweiz. 

X,  886  A. 

523.  Stcinitz,  Kurt,  Dr. ; Deutsches  Reich.  Die  unehelichen  Kinder  und  das  bürger- 

liche Gesetzbuch.  VIII,  474  G. 

524.  — Stammler,  Rudolf ; Wirtschaft  und  Recht  nach  der  materialistischen  Ge- 

schichtsauffassung. IX,  639  L. 

525.  Stevens,  Alzina  Parsons;  Die  Gewerkvercine  der  Vereinigten  Staaten.  XII,  695  A. 

526.  Struve,  Peter,  v.  ; Zusammenfassung  der  Resultate  der  wirtschaftlichen  Er- 

forschung Kufslands  durch  die  landschaftliche  Statistik.  Bd.  I.  I.  Vor- 
wort von  Prof.  A.  Tschuproff.  2.  Allgemeine  Ucbersicht  der  landschaft- 
lichen Statistik  der  Bauernwirtschaft  von  Prof.  A.  Fortunatoff.  3.  Die 
bäuerliche  Landgemeinde  von  W.  Woronzoff.  V,  498  L. 

527.  — Zusammenfassung  der  Resultate  der  wirtschaftlichen  Erforschung  Kufslands  durch 

die  landschaftliche  Statistik.  Bd.  II.  Die  bäuerliche  Pacht  der  nicht  zu  den 
Bauernanteilen  gehörigen  Ländereien.  Von  Prof.  N.  KaryschefT.  VI.  172  L. 

528.  — Hourwich,  J.  A. ; The  cconomics  of  the  russian  village.  VI,  630  L. 

529.  on,  Nikolai ; Studien  über  unsere  Volkswirtschaft  nach  der  Bauerneman- 

zipation (russisch).  VII,  350  L. 

530.  — Jauschul,  J.  J. ; Gewerbliche  Syndikate  oder  Unternebmerverbände  zur  Re- 

gelung der  Produktion  vornehmlich  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika. 
VIII,  514  L. 

531.  — Rosenberg,  G.  J. ; Zur  Arbeiterschutzgesetzgebung  in  Kufsland.  IX,  297  L. 

532.  — Die  Mansche  Theorie  der  sozialen  Entwicklung.  Ein  kritischer  Versuch. 

XVI,  658  A. 

533.  — Kistjakowsky,  Th.  Dr. ; Gesellschaft  und  Einzelwesen.  XIV,  222  L. 

534.  — Bernstein,  Eduard;  Die  Voraussetzungen  des  Sozialismus  und  die  Aufgaben 

der  Sozialdemokratie.  XIV,  723. 

535.  — K autsk v,  Karl ; Bernstein  und  das  sozialdemokratische  Programm.  XIV’,  723  I,. 

536.  Szanto,  E.,  Prof.  Dr. ; Geschichte  des  antiken  Kommunismus  und  Sozialismus. 

VIII,  308  L. 


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676 


Autoren-Register. 


T. 

537.  Thiels,  Karl,  Dr. ; Die  neuesten  Versuche  einer  staatlichen  Regelung  des  Ge- 

treidehandels. VIII,  345  A. 

538.  — Die  Konsumvereine  und  die  neueste  deutsche  Wirtschaftspolitik,  X,  49  A. 

539.  — Müller,  Hans;  Die  schweizerischen  Konsumgenossenschaften.  Ihre  Entwick- 

lung und  ihre  Resultate.  X,  169  L. 

540.  Tönnies,  Ferdinand,  Prof.  Dr. ; Natorp,  Paul,  Dr. ; Pestalozzis  Ideen  über 

Arbeiterbildung  und  soziale  Frage.  VII,  715  L. 

541.  — Das  Verbrechen  als  soziale  Erscheinung.  VIII,  329  A. 

542.  — The  American  Journal  of  Sociology.  VIII,  723  L. 

543.  — Gizycki,  G.  v. ; Vorlesungen  über  soziale  Ethik.  VIII,  705  L. 

544.  — Meyer,  Albert  v.  Fällanden ; Die  Verbrechen  in  ihrem  Zusammenhang  mit 

den  wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhältnissen  im  Kanton  Zürich. 

IX,  304  L. 

545.  — Hafenarbeiter  und  Seeleute  in  Hamburg  vor  dem  Strikc  1S9697. 

X,  173  A. 

546.  — Der  Hamburger  Strike  von  1896  97.  X,  673  A. 

547.  — Legien,  Carl;  Der  Strike  der  Hafenarbeiter  und  Seeleute  in  Hamburg- 

Altona.  X,  490  L. 

548.  — Strafthatcn  im  Hamburger  Hafenstrike.  XI,  5 1 3 M. 

549.  — Die  Enquete  über  Zustände  der  Arbeit  im  Hamburger  Hafen.  XII,  303  A. 

550.  — Lolmar,  Philipp ; Die  Freiheit  der  Berufswahl.  XII,  584  L. 

551.  — Natorp,  Paul;  Sozialpädagogik,  Theorie  der  Willenserziehung  auf  der 

Grundlage  der  Gemeinschaft.  XIV,  445  L. 

552.  — Prcufsen.  Die  Erweiterung  der  Zwangserziehung.  XV,  458  G. 

553.  — Aschrott,  P.  F..,  Dr. ; Die  Zwangserziehung  Minderjähriger  und  der  zur  Zeit 

vorliegende  Gesetzentwurf.  XV,  510  L. 

554.  — Lietz,  H.,  Dr. ; Das  erste  Jahr  des  deutschen  Landerziehungsheims  bei  Usen- 

burg  i.  H.  Lietz,  H.,  Dr.;  Das  zweite  Jahr  etc.  XV,  756  L. 

555.  Trap,  Cordt,  Direktor;  Die  dänische  Arbcitcrvcrsichcrung,  insbesondere  das 

Unfallversicherungsgcsetz  vom  7.  Januar  1898.  XII,  233  G. 

556.  Tugan*Baranowsky,  M.,  Privatdozent,  Dr. ; Die  sozialen  Wirkungen  der  Handels- 

krisen in  England.  XIII.  1 A. 

V. 

557.  Vandervelde,  Emil,  Deputierter  Prof.  Dr. ; Die  sozialistische  Genossenschaft  in 

Belgien.  VI,  303  A. 

558.  — Belgien.  Das  Gesetz  vom  15.  Juni  1896  über  die  Arbeitsordnungen. 

IX,  556  G. 

559.  — Belgien.  Der  Entwurf  eines  Gesetzes  über  Berufsvereine.  XI,  402  G. 

560.  — Ein  Kapitel  zur  Aufsaugung  des  Landes  durch  die  Stadt.  XIV,  80  A. 

561.  — Das  Grundeigentum  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834/99, 

XV,  419  A. 


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Autoren- Register. 


677 


562.  Vandervelde,  E. ; Das  ländliche  Genossenschaftswesen  in  Belgien.  XVI,  A. 

I.  Die  katholische  Organisation.  643. 

II.  Die  sozialistische  Organisation.  647. 

III.  Die  Ergebnisse  des  landwirtschaftlichen  Genossenschaftswesens.  656. 

IV.  Die  Zukunft  des  landwirtschaftlichen  Genossenschaftswesens.  669. 

563.  — Die  Rückkehr  nach  dem  Lande.  XVIII,  66  A. 

564.  Vanderrydt,  II.,  Ingenieur;  Belgien.  Das  Gesetz  vom  11.  April  1897  betr.  die 

Bestellung  von  Delegierten  zur  Grubeninspektion.  XI,  161  G. 

565.  — Die  Arbeitsinspektion  in  Belgien  während  der  Jahre  1895  und  1896. 

XII,  258  M. 

566.  Varlez,  Louis,  Dr. , Korrespondent  des  Arbeitsamtes  in  Gent.  Das  belgische 

Arbeitsamt.  X,  957  M. 

567.  — Die  Kommunalversicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  in  Gent.  XVII,  238  M. 

568.  Verkauf,  Leo,  Dr. ; Deutsches  Reich.  Das  lnvaliditäts-  und  Altcrsversichcrungs- 

gesetz.  II,  576  G. 

569.  — Das  bäuerliche  Ancrbenrccht  in  Oesterreich.  II,  311  G. 

570.  — Myrdacz,  P.,  Dr. ; Ergebnisse  der  Sanitätsstalistik  des  k.  k.  Heeres  in  den 

Jahren  1 870/82.  III,  205  L. 

571.  — Die  Gesetzgebung  zu  Gunsten  der  Bergarbeiter  in  Deutschland  und  Oester- 

reich. IV,  618  A. 

572.  — Oesterreich;  Der  Entwurf  eines  Hilfskassengesetzes.  IV,  491  G. 

573.  — Nasse  und  Krümmer;  Die  Bergarbeiterverhältnisse  in  Grofsbritamnicn 

IV,  393  L. 

574.  — Scring,  M. ; Arbeitcrausschüssc  in  der  deutschen  Industrie.  IV,  544  L. 

575.  — Die  Reform  des  Arbeitei  Schutzes  beim  preufsischen  Bergbau.  V,  606  A. 

576.  — Frankreich ; Das  Gesetz  betr.  die  Delegierten  für  die  Sicherheit  der  Berg- 

arbeiter. V,  183  G. 

577.  — Die  Reform  der  Unfallversicherung  in  Oesterreich.  VII,  42  A. 

578.  — Agrarschutz  und  Sozialrcform.  XVIII,  225  A, 

579.  Vinck,  Emil;  Vandervelde,  Emile;  Lcs  associations  professionelles  d’artirans  et 

ouvriers  en  Belgique.  VI,  627  L. 

580.  Virgilii,  Filippo,  Prof.  Dr. ; Die  soziale  Gesetzgebung  in  Italien.  XI,  726  G. 

581.  Voigt,  Paul,  Dozent  Dr. ; Die  neue  deutsche  llandwcrkergcsetzgebung. 

XI,  39  A. 

582.  — Ein  neuer  Beitrag  zur  Frage  des  Bauhandwerkerschutzes.  XVI,  204  A. 

w. 

583.  Wacntig,  Heinrich,  Prof.  Dr. ; Der  Stahlarbeitcrstrike  vom  Sommer  1901  und 

seine  Lehren.  Ein  Beitrag  zum  Verständnis  des  amerikanischen  Kapita- 
lismus. XVII,  549  A. 

584.  Wagner,  Adolf,  Prof.  Dr. ; Uebcr  soziale  Finanz-  und  Steuerpolitik.  IV,  1 A. 

585.  Wagner,  Paul;  Wolf,  R. ; Zur  Lage  der  kaufmännischen  Hilfsarbeiter  in  Oester- 

reich. I,  362  L. 


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6j8  Autoren- Register. 

586.  Webb,  Sidney  und  Beatrice;  Der  Norznalarbcitstag  und  die  englischen  Gewerk- 

schaften. IX,  440  A. 

587.  — Die  Stellung  der  britischen  Gewerkvereinc  gegenüber  der  Einführung  neuer 

Arbeitsmethoden.  X,  83  A. 

588.  — Die  theoretische  Basis  der  britischen  Gewerkvereine.  XI,  I A. 

589-  — Die  englischen  Gewerkvereine  nach  ihrem  wirtschaftlichen  Wert.  XI,  323  A. 

590.  Weber,  Alfred,  Dr. ; Das  Sweatingsystem  in  der  Konfektion  und  die  Vorschläge 

der  Kommission  für  Arbeiterstatistik.  X,  493  A. 

591.  — Neuere  Schriften  über  die  Konfektionsindustrie.  XI,  527  L. 

592.  Weber,  Max,  Prof.  Dr. ; Entwicklungstendenzen  in  der  I,age  der  ostelbischen 

Landarbeiter.  VII,  1 A. 

593.  — Lotmar,  Philipp;  Der  Arbcits vertrag.  Nach  dem  Privatrecht  des  Deutschen 

Reiches.  Erster  Band.  XVII,  723  L. 

594.  Westcrgaard,  Harold,  Prof.;  Die  Arbeiterversicherung  in  Dänemark.  VII, 

296  G. 

595.  — Niels;  Arbeiterbauvereine  in  der  Umgegend  Kopenhagens.  XIV,  716  M. 

596.  Winter,  Fritz,  Dr. ; Die  Heimarbeit  in  der  österreichischen  Konfektionsindustrie. 

XV,  725  M. 

597.  — Die  Lage  der  studentischen  Hauslehrer  an  den  Wiener  Hochschulen.  XVII, 

702  M. 

598.  Wittclshöfer,  Otto;  Die  soziale  Reform  als  Gebot  des  wirtschaftlichen  Fort- 

schritts. V,  436  A. 

599.  — Der  österreichische  Kartcllgesctzentwurf.  XIII,  122  A. 

600.  Wolf,  Julius,  Prof.  Dr. ; Sozialismus  und  kapitalistische  Gesellschaftsordnung. 

I.  Antwort  auf  die  Kritik  Professor  Werner  Sombarts.  VI,  135  M. 

601.  Wolflf,  W.  Henry;  Grofsbritannien.  Das  Arbeiter-Unfallentschädigungsgesctz. 

(Workmen’s  Compensation  Act.)  XI,  688  G. 

602.  Wright,  Carroll  D.,  Direktor;  Die  Organisation  der  arbeitsstatistischen  Aemter 

in  den  Vereinigten  Staaten.  I,  377  A. 

z. 

603.  Zeller,  W.,  Dr. ; Das  österreichische  Unfallversicherungsgesctz.  I,  533  G. 

604.  — Hilse,  K.,  Dr. ; Die  Haftpflicht  der  Strafscnbahncn.  I,  670  L. 

605.  — Schmitz,  J. ; Sammlung  der  Bescheide,  Beschlüsse  und  Rekursentscheidungen 

des  Rcichsversicherungsamtes  nebst  den  wichtigsten  Rundschreiben  des- 
selben. II,  534  L. 

606.  — Just;  Die  Unfallversicherung  der  in  land*  und  forstwirtschaftlichen  Betrieben 

beschäftigten  Personen  nach  dem  Reichsgesetz  vom  5.  Mai  1886.  II, 
213  L. 


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Topographisches  Register. 

AUSTRALIEN. 

607.  Wortlaut  des  Fabrik-  und  Ladengesetzes  vom  Jahre  1896  (Nr.  1 195).  X, 

595  G. 

Aufserdcm  siebe  Autoren-Register  Nr.  233  u.  426. 

BELGIEN. 

608.  Gesetz  betr.  die  Regulierung  der  Lohnzahlung  der  Arbeiter.  I,  621  G. 

609.  Wortlaut  des  Gesetzes:  „Loi  instituant  le  Conseil  de  l'Induslrie  et  du  travailM 

in  deutscher  Uebersetzung.  II,  149  G. 

610.  Gesetz  vom  9.  August  1889  betr.  die  Arbeiterwohnungen  und  die  Errichtung 

von  Patronage-Komitees.  IV,  527  G. 

61 1.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  15.  Juni  1896  über  die  Arbeitsordnungen.  IX, 

578  G. 

612.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Bestellung  von  Delegierten  zur  Gewerbe- 

inspektion. XI,  176  G. 

Aufserdcm  siehe  Autoren-Register  Nr.  72,  167,  169,  170,  179,  191,  429,  557, 
SS».  559.  5Ö‘.  562,  563.  564.  5*5.  569.  5*7  »•  579- 

BULGARIEN 

Siche  Autoren-Register  Nr.  322  u.  324. 

DÄNEMARK. 

613.  Wortlaut  des  Gesetzes  über  die  Versicherung  der  Arbeiter  gegen  die  Folgen 

von  Unfällen  in  grofsen  Betrieben.  XII,  248  G. 

Aufserdcm  siehe  Autorcn-Kcgister  Nr.  4,  226,  227,  354,  367,  380,  555,  594 
“-  595- 


DEUTSCHLAND 

Baden,  siehe  Autoren-Register  Nr.  38t,  382  u.  499. 


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6So 


Topographisches  Register. 


Bayern. 

614.  Wortlaut  der  bayerischen  Bekanntmachung  betr.  die  Einrichtung  und  den  Be- 

trieb der  Spiegelbclcganstalten.  III,  156  G. 

615.  Wortlaut  der  Verordnung  vom  10.  Februar  1901,  die  V.'ohnungsaufsicht  be- 

treffend. XVI,  704  G. 

616.  Wortlaut  des  Erlasses  vom  12.  April  1901  betr.  die  Verordnung  vom  lo.  Fe- 

bruar 1901  Über  die  Wohnungsaufsicht.  XVI,  707  G. 

Aufscrdcm  siehe  Autoren-Registcr  75,  76,  80.  162,  303,  445  u.  508. 

DEUTSCHES  REICH. 

617.  Grundzüge  zur  Alters-  und  Invalidenversicherung  der  Arbeiter.  I,  142  G. 

618.  Entwurf  eines  Gesetzes  betr.  die  Alters-  und  (nvaliditätsvcrsichcrung.  II,  152  G. 

619.  Bekanntmachung  betr.  die  Einrichtung  und  den  Betrieb  der  zur  Anfertigung  von 

Zigarren  bestimmten  Anlagen,  vom  9.  Mai  18SS.  II,  190,  G. 

620.  Gesetz  betr  die  Invalidität*-  und  Altersversicherung.  II,  603,  G. 

621.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  betr.  die  Gewerbegerichte.  III,  332  G. 

622.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 

III,  590  G. 

623.  Beschlüsse  der  VIII.  Kommission  zu  dem  Entwurf  eines  Gesetzes  betr.  Ab- 

änderung der  Gewerbeordnung.  III,  608  G. 

624.  .Antrag  der  sozialdemokratischen  Fraktion  zur  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 

III,  614  G. 

625.  Wortlaut  des  Antrages  der  deutsch-freisinnigen  Partei  zur  Schaffung  eines  Ge- 

setzes betr.  die  eingetragenen  Berufsvereine.  III,  625  G. 

626.  Wortlaut  des  Antrages  der  sozialdemokratischen  Fraktion  zur  Schaffung  eines 

Gesetzes  betr.  parlamentarische  Enqueten.  III,  630  G. 

627.  Wortlaut  des  Antrages  des  Abgeordneten  Siegle  betr.  arbeitsstatistische  Auf- 

nahmen. III,  631  G. 

628.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Gewerbegerichte  vom  29.  Juli  1890.  IV.  176  G. 

629.  Gesetz  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung  vom  I.  Juni  1891.  IV,  346  G. 

630.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Ileimstättcngesctzes  für  das  Deutsche  Reich  IV, 

388  G. 

631.  Wortlaut  des  Regulativs  zur  Errichtung  einer  Kommission  für  Arbeiterstatistik. 

V,  152  G. 

632.  Wortlaut  des  Krankcnvcrsicherungsgcsetzcs  vom  15.  Juni  1883  in  der  Fassung 

der  Novelle  vom  10.  April  1892.  V,  288  G. 

633.  Ausführungsbestimmungen  zum  Gesetz  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 

Bekanntmachung  betr.  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und  jugend- 
lichen Arbeitern  in  Glashütten.  V,  336  G. 

634.  Ausführungsbestimmungen  zum  Gesetz  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung; 

Bekanntmachung  betr.  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und  jugend- 
lichen Arbeitern  in  Drahtziehereien  mit  Wasserbetrieb.  V,  329  G. 

635.  Ausführungsbestimmungen  zum  Gesetz  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 


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Topographisches  Register. 


68 1 

Bekanntmachung  betr.  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und  jugend- 
lichen Arbeitern  in  Cichorienfabriken.  V,  330  G. 

<>36.  Ausführungsbestimmungen  zum  Gesetz  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 

Bekanntmachung  betr.  die  Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter  auf  Stein- 
kohlenbergwerken. V,  331  G. 

637.  Ausführungsbestimmungen  zum  Gesetz  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 

Bekanntmachung  betr.  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  auf  Stein- 
kohlenbergwerken, Zink-  und  Bleicrzbcrgwerken  und  auf  Kokereien  im 
Regierungsbezirk  Oppeln.  V,  332  G. 

■638.  Ausführungsbestimmungen  zum  Gesetz  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 

Bekanntmachung  betr.  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und  jugend- 
lichen Arbeitern  in  Rohzuckerfabriken  und  Zuckerraffinerien.  YT,  335  G. 

639.  Ausführungsbestimmungen  zum  Gesetz  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 

Bekanntmachung  betr.  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und  jugend- 
lichen Arbeitern  in  Walz-  und  Hammerwerken.  V’.  337  G. 

640.  Ausführungsbestimmungen  zum  Gesetz  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung. 

Bekanntmachung  betr.  die  Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter  in  Hechel- 
räumen u.  dgl.  V,  338  G. 

641.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  über  das  Auswanderungswesen.  V,  658  G. 

642.  Entwurf  eines  Gesetzes  betr.  Stadterweiterungen  und  Zonenenteignungen.  VI, 

521  G. 

643.  Entwurf  eines  Gesetzes,  betr.  die  Abänderung  von  Arbciterversicherungsgcsetzen. 

IX,  469  G. 

644.  Entwurf  eines  Gesetzes  betr.  die  Abänderung  der  Gewerbeordnung.  IX,  516  G. 

645.  Text  des  Gesetzes  betr.  die  Beschlagnahme  des  Arbcits-  oder  Dienstlohns.  X, 

463  G. 

646.  Text  des  § 249  der  Civilprozcfsordnung.  X,  464  G. 

647.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  betr.  die  Abänderung  der  Gewerbe- 

ordnung vom  15.  März  1897.  X,  629  G. 

648.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  das  Auswanderungswesen  vom  9.  Juni  1897.  XI, 

207  G. 

649.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Abänderung  der  Gewerbeordnung  vom  26.  Juli 

1897.  XI,  215  G. 

650.  Wortlaut  der  Bekanntmachung,  betr.  die  Einrichtung  und  den  Betrieb  der 

Buchdruckereien  und  Schriftgiefsereien  vom  31.  Juli  1897.  XI,  439  G. 

. 651.  Wortlaut  des  Handelsgesetzbuches  vom  lo.  Mai  1897.  VI.  und  VII.  Abschnitt. 

XI,  443  G. 

652.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  betr.  die  Sicherung  der  Bauforderungen. 

XII,  97  G. 

653.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Ausführungsgesetzes  zum  Gesetze  betr.  die  Sicherung 

der  Bauforderungen.  XII,  101  G. 

654.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  ln  validen  Versicherungsgesetzes.  (Dem  Reichstag 

am  i 9.  Januar  1899  vorgelegt.)  XIII,  590  G. 

Archiv  für  «02.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIII.  44 


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6$ 2 Topogwphi>cbc«  Register. 

$55-  WoxtUut  <ic*  fcltwurfe  CJQC5  Gesetze*  betr.  dtt  Abänderung  der  Gewerbe- 
ordnung. XIV,  304  G. 

656.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  Schutze  des  gewerblichen  Arbeits- 

verhiUtoisses.  XIV,  7 G. 

657.  Wortlaut  des  Invalidcnversichcrungsgc$ctzcs  vqxd  13.  Juli  1899.  XV,  188  G. 

658.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Abänderung  der  Gewerbeordnung  vom  30.  Juni 

1900.  XV,  666  G. 

659.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Bekämpfung  gemeingefährlicher  Krankheiten« 

Vom  30.  Juni  1900.  XVI,  234  G. 

660.  Wortlaut  des  Gesetzes  zur  Abänderung  des  Gesetzes  betr.  die  Gewerbegerichte* 

Vom  30.  Juni  190».  XVI,  691  G. 

661.  Wortlaut  der  Entwürfe  eines  Reichsgesetzes  betr.  die  Sicherung  der  Bau- 

forderungca.  XVII,  184  G. 

662.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  eine  Seeaiaansordnuag  vom  2.  Juni  1902.  XVII, 

*33  G. 

663.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Verpflichtung  des  Kauffahrteischiffe  zur  Mit- 

nahme beimzuse hallender  Seeleute  vom  Juni  (902.  XVU,  66z  G. 

664-  Wortlaut  des  Gesetzes  Uctr.  die  Stellenvermittelung  für  Scbiff&lcute  vom  2.  Juni 
1902.  XVII,  664  G. 

66s-  Wortlaut  de.  Gesetzes  Uctr.  Abänderung  secrecbtlicher  Vorschriften  des  Handels- 
gcselzbuchcs  von  2.  Juni  1903.  XVII,  066  Ci. 

Aufserdem  siche  Nr.  2,  5,  6,  20,  28,  29,  30,  31,  32,  33,  39,  41,  42,  43,  44, 
45.  47,  5*.  53.  55.  57.  59,  60,  81,  >03,  110,  in,  113,  114,  n$,  u6, 
119,  120,  121,  122,  123,  124,  12$,  127,  128,  130,  131,  132  I36,  137, 

139,  142.  *45.  »47.  »5*.  ‘53,  «54,  »55.  *5*.  **•>  »63,  164.  **5.  *73. 

>74.  »75.  ‘7*.  »7«.  »82.  *94,  *97.  »9«,  208,  209,  »30,  232,  247,  253, 

254,  255,  256,  261,  262,  263,  264,  265,  266,  267,  268,  269,  270,  272, 

273,  274,  276,  277,  278,  279,  280.  281,  282,  283,  284,  28$,  289,  290, 

295,  296,  298,  299,  3°*.  302,  304,  3<>9.  3>°*  3*5.  3*7.  3*8,  3*7.  33“, 

337.  348,  349,  35°.  368,  369.  370.  37*.  37*.  383.  387.  402,  4°3,  4°5. 

407,  4*3,  4*6.  4*7,  4*8,  4*9.  420,  4»*,  422,  428,  429,  431,  432,  434, 

435-  437.  44*.  443,  444,  449.  468,  47°,  47*.  47*.  473.  474,  475.  476, 

477,  478,  479,  484.  485,  494,  495.  498,  500,  500a,  $11,  $23,  $37,  538, 
554,  568,  $7»,  574,  57»,  58 *,  582,  584,  590,  59*.  593.  604.  605  u.  606. 

666.  Hamburg.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Wohnuagspflege.  XIII,  181  G. 

Siehe  auch  Nr.  27,  545,  $46,  548  u.  549. 

667.  Hessen.  Gesetz  betr.  die  Wohnungsfürsorge  für  Minderbemittelte.  XVIII, 

*57  G. 

668.  Lübeck.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Wohnungspflege  in  der  Stadt  Lübeck 

und  deren  Vorstädten.  XVIII,  149  G. 


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Topographische*;  Register. 


683 


Preufsen. 

669.  Wortlaut  der  Denkschrift,  bctr.  die  künftige  Regelung  der  Gewerbeinspektion 

in  Preufsen.  IV,  214  M. 

670.  Wortlaut  des  Gesetzes,  bctr.  die  Abänderung  einzelner  Bestimmungen  des  All- 

gemeinen Berggesetzes  vom  24.  Juni  1865.  V,  665  G. 

671.  Wortlaut  der  Vorbildungs-  und  Prüfungs-Ordnung  für  die  preufsischen  Gewerbe- 

Aufsichtsbeamten.  XI,  507  M. 

672.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  über  Zwangserziehung  Minderjähriger. 

Dem  preufsischen  Herrenhaus  am  8.  Januar  1899  vorgelcgt.  XV,  485  G. 
Aufserdem  siehe  Nr.  I,  84,  112,  126,  128,  129,  171,  *10,  211,  228,  245, 
302.  377,  393,  397,  4°4,  4°6,  45°,  462,  486.  487,  547,  552,  553,  575, 
584,  592. 


Siebe  Nr.  308  u.  326. 


Sachsen. 


Württemberg. 

673.  Verfügung  des  Ministeriums  des  Innern  über  die  Wohnungsaufsicht.  XVIII. 

152  G* 

Aufserdem  siehe  auch  Nr.  161  u.  297. 

ENGLAND. 

674.  Gesetzesvorlage  betr.  die  Haftpflicht  der  Arbeitgeber,.  I,  586  G. 

675.  Die  Truckgesetze  von  1831  und  1887.  II,  383  G. 

676.  Wortlaut  des  Gesetzes  zur  Ergänzung  und  Ausdehnung  der  Bestimmungen  über 

Fabriken  und  Werkstätten.  Vom  6.  Juli  1895.  VHi,  645.  G* 

677.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Einigungsämier.  IX,  586  G. 

678.  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  betr.  Acndcrung  des  Rechtes  auf  Ent- 

schädigung der  Arbeiter  für  Unfälle,  die  sie  in  der  Ausübung  ihres  Be- 
rufes erleiden.  X,  943  G. 

679.  Wortlaut  der  Akte  zur  Verbesserung  des  Gesetzes  in  betreff  der  Entschädigung 

von  Arbeitern  infolge  von  Unfallverletzungcn,  welche  sie  im  Laufe  ihrer 
Beschäftigungen  erleiden  (6.  August  1897).  XI,  713  G. 

680.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Beschaffung  von  Sitzen  für  den  Gebrauch  von 

Ladcnangestclltcn  vom  9.  August  1899.  XV,  256  G. 

681.  Wortlaut  des  Gesetzes  zur  Ergänzung  der  dritten  Abteilung  des  Gesetzes  von 

1890  über  die  Behausung  der  arbeitenden  Klassen  vom  8.  August  1900 
(63  & 64  Vict.  Kap.  59).  XVI,  247  G. 

682.  Wortlaut  des  Gesetzes  zur  Verbesserung  der  Gesetzgebung  über  die  Entschädi- 

gung von  Arbeitern  für  Unfälle  im  Arbeitsverhältnis  vom  6.  .August  1897. 
XVI,  464  G. 

683.  Wortlaut  des  Arbeiter-Entschädigungsgesctzes  vom  30.  Juli  1900.  XVI,  477  G. 

Aufserdem  siehe  auch  Nr.  10,  12,  15,  16,  17,  18,  21,  22,  23,  24,  26,  31,  73, 

44* 


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684 


Topographisches  Register. 


38,  41,  62,  68,  69,  82,  94,  95,  96,  97,  98,  118,  133,  134,  135,  151,  152, 
153,  168,  172,  187,  235  286,  287  a,  292,  293,  294,  306,  307,  310,  352, 
353.  363.  379.  396,  408,  435.  4^9.  432.  468,  489,  490,  491,  492,  556, 
573«  586,  587,  588,  589  und  601. 

FRANKREICH. 

684.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Aufhebung  der  auf  die  Arbeitsbücher  bezüg- 

lichen Bestimmungen.  III,  641  G. 

685.  Wortlaut  des  Dekretes  betr.  den  Obersten  Arbeitsrat  vom  22.  Januar  1891. 

IV,  195  G. 

686.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  22.  Juli  1891  betr.  die  Errichtung  eines  Arbeits- 

amtes. IV,  704  G. 

687.  Wortlaut  der  Verordnung  vom  19.  August  1891  betr.  die  Bildung  eines  Arbeits- 

amtes. IV,  704  G. 

688.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  8.  Juli  1890  betr.  die  Delegierten  für  die  Sicher- 

heit der  Bergarbeiter.  V,  188  G. 

689.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  27.  Dezember  1890  über  den  Arbeitsvertrag  und  das 

Verhältnis  der  Eisenbahngesellschaften  zu  ihren  Angestellten.  V,  347  G. 

690.  Gesetz  betr.  die  Arbeit  von  Kindern,  minderjährigen  Mädchen  und  Frauen  in 

gewerblichen  Unternehmungen.  VI,  116  G. 

691.  Wortlaut  des  Gesetzes  betreffend  das  fakultative  Sühne-  und  Schiedsverfahren 

in  Gesamtslreitigkeitcn  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitern  oder  Ange- 
stellten vom  27.  Dezember  1892.  VI,  341  G. 

692.  Wortlaut  des  Gesetzes  über  die  unentgeltliche  Krankenpflege  vom  15.  Juli  1893. 

VI,  557  G. 

693.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  29.  Juni  über  die  Hilfs-  und  Pensionskassen  der 

Grubenarbeiter.  VII,  484  G. 

694.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  9.  April  1898  über  die  Haftung  für  Unfälle,  von 

denen  die  Arbeiter  in  ihrer  Thätigkeit  betroffen  werden.  XVI,  479  G. 

695.  Wortlaut  des  Dekretes  vom  28.  Februar  1899  zur  Ausführung  des  Artikels  26 

des  Gesetzes  vom  9.  April  1898.  XVI,  488  G. 

696.  Wortlaut  des  Dekretes  vom  28.  Februar  1899  zur  Ausführung  des  Artikels  27 

des  Gesetzes  vom  9.  April  1898.  XVI,  493  G. 

697.  Wortlaut  des  Dekretes  vom  28.  Februar  1899  zur  Ausführung  des  Artikels  28 

des  Gesetzes  vom  9.  April  1898.  XVI,  499  G. 

698.  Wortlaut  des  Ministerialerlasses  vom  I.  März  1899  betr.  Einsetzung  eines  Be- 

ratungsausschusses für  Arbcitsunfallversicherung.  XVI,  500  G. 

699.  Wortlaut  des  Dekretes  über  die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  von  Auf- 

trägen seitens  des  Staates.  XV1I1,  1 79  G. 

700.  Wortlaut  des  Dekretes  über  die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  von  Auf- 

trägen seitens  der  Departements.  XVIII,  181  G. 

701.  Wortlaut  des  Dekretes  über  die  Arbeitsbedingungen  bei  Vergebung  von  Auf- 

trägen seitens  der  Gemeinden  und  der  öffentlichen  Wohlthätigkcitsanstalten. 
XVIII,  183  G. 


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Topographisches  Register. 


685 


Aufserdem  siehe  Nr.  8,  31,  41,  58,  70,  117,  212,  213,  214,  215,  216,  217, 
218,  219,  220,  221,  222,  223,  224,  225,  365,  371,  41 1,  429,  432,  537. 
576  u.  591. 


FINNLAND. 

702.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  den  Schutz  der  Arbeiter  in  den  industriellen  Ge- 

werben. III,  650  G. 

703.  Wortlaut  der  Verordnung  einschliefslich  näherer  Vorschriften  über  die  Aus- 

führung des  Gesetzes  betr.  den  Schutz  der  Arbeiter  in  den  industriellen 
Gewerben.  III,  655  G. 

704.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  5.  Dezember  1895  ^etr*  die  Haftung  des  Arbeit 

gebers  für  körperliche  Beschädigung,  die  den  Arbeiter  betrifft.  XIII,  41S  G, 

705.  Wortlaut  der  Verordnung  vom  18.  Februar  1897,  nähere  Vorschriften  enthaltend 

über  die  Ausführung  des  Gesetzes  vom  5.  Dezember  1895  betr.  die  Haf- 
tung des  Arbeitgebers  für  körperliche  Beschädigung,  die  den  Arbeiter 
trifft.  XIII,  425  G. 

706.  Wortlaut  des  Erlasses  vom  9.  Dezember  1897  betr.  die  Prinzipien  zur  Schätzung 

des  Invaliditätsgrades  bei  Anwendung  des  Gesetzes  vom  5 Dezember  1895 
über  die  Haftpflicht  des  Arbeitgebers  für  körperliche  Beschädigung,  welche 
die  Arbeiter  trifft.  XIII,  430  G. 

Aufserdem  siehe  auch  Nr.  184  und  185. 

ITALIEN. 

707.  Wortlaut  des  Gesetzes  über  die  Probi-viri.  VI,  557  G. 

708.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  17.  März  1898,  die  Betriebsunfälle  der  Arbeiter 

betr.  XII,  734  G. 

709.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  17.  Juli  1898  Nr.  350,  die  National versorgungs- 

kasse  für  das  Alter  und  die  Invalidität  der  Arbeiter  betr.  (Cassa  nazio- 
nale  di  previdenza  per  la  vecchiaja  e per  la  invaliditä  degli  operai). 
XIII,  662  G. 

710.  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Nationalversorgungskassc  ftlr  die  Invalitität 

und  das  Alter  der  Arbeiter.  XVII,  199  G. 

710a.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  19.  Juni  1902  bclr.  die  Frauen-  und  Kinder- 
arbeit. XVIII,  573  G. 

Aufserdem  siehe  Nr.  31,  77,  93,  107,  108,  109,  329,  374,  482,  493,  497,  503, 
504,  510  u.  580. 


NIEDERLANDE. 

711.  Gesetzentwurf  gegen  Ueberarbeitung  und  Verwahrlosung  jugendlicher  Personen, 

I,  «55  G- 

712.  Niederländisches  Gesetz  d.  d.  28.  Juni  1881  betr.  den  Kleinhandel  mit 

geistigen  Getränken  und  die  Verhütung  der  öffentlichen  Trunkenheit 
I,  312  G. 


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686 


Topographische*  Register. 


713.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  5.  Mai  1889  gegen  übermäßige  and  ge- 

Ährlkfie  Arbeit  junger  Personen  and  Fräsen  ia  deutscher  Uebersetzung. 
II,  510  G. 

714.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  19.  Januar  1890  über  vorbereitende  Mafsregeln  zur 

Erlangung  der  notwendigen  Kenntnis  von  Thatsacben  und  Zuständen,  um 
zu  beurteilen,  wis  weit  Ausdehnung  der  sozialen  Gesetzgebung  ein  Be- 
dürfnis sei.  IV,  695  G. 

715.  Wortlaut  des  Entwurfs  eine*  Gesetzes  cur  Einführung  einer  Versicherung  der 

Arbeiter  gegen  die  Folgen  von  Unfälle«  in  bestimmten  Betrieben. 

x,  757  c. 

716.  Wortlaut  der  hauptsächlichen  Artikel  des  Gesetzes  betr.  die  Errichtung  von 

• Arbeitskammern.  XI,  758  G. 

Aufscrdcm  siche  auch  Nr.  34,  35,  106,  316,  791,  392.  394,  395  u.  447. 
NORWEGEN. 

Siehe  Nr.  159  u.  378. 

ÖSTERREICH. 

717.  Oesterreichisches  Gesetz  vom  28.  Dezember  1887  betr.  die  Unfallversicherung 

der  Arbeiter  (Text).  I,  554  G. 

718.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  l.  April  1889,  betr.  die  Einführung  besonderer 

Erbteilungsvorschriften  für  landwirtschaftliche  Besitzungen  mittlerer  Gröfse. 

n,  334  g. 

719.  Der  Fjitwurf  eines  Gesetzes  betr.  die  Vcräufscrung  beweglicher  Sachen  gegen 

Ratenzahlungen.  IV,  390  G. 

7*0.  Wortlaut  des  Gesetzentwurfs  betr.  die  registrierten  Hilfskassen.  IV,  502  G. 
72t.  Wortlaut  des  Gesetzentwürfe  betr.  die  Errichtung  von  Berufegenossenschaften 

* der  Landwirte.  VII,  493  G. 

722.  Wortlaut  des  Gesetzentwurfs  betr.  die  Errichtung  von  Rentengütcm.  VII, 

501  G. 

723.  Wortlaut  des  Gesetzentwurfs  betr.  die  Errichtung  von  Arbeiterausscbüssen  und 

Einigungsämtern.  VII,  676  G. 

724.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  27.  November  1896  betr.  die  Einführung  von  Ge- 

werbegerichten etc.  X,  278  G. 

725.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  5.  Dezember  1896,  wodurch  einige  Bestimmungen 

des  Gesetzes  vom  3.  Dezember  1863  (B.G.B1.  Nr.  105)  betr.  die  Regelung 
der  Heimatverhältnissc,  abgeändert  werden.  X,  664  G. 

.726.  Wortlaut  des  GeseUentwurfs  Über  Kartelle  in  Betiehong  auf  Verkaufegegen- 
stände, die  einer  mit  der  industriellen  Produktion  ia  enger  Verbindung 
stehenden  indirekten  Abgabe  unterliegen  (189  der  Beilagen  tu  den  steno- 
graphischen Protokollen  des  Abgeordnetenhauses.  XIV.  Session  1898). 
XIII,  187  G. 


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Topographisches  Register.  68)r 

747.  Wortlaut  des  Gesetzentwurfs,  womit  Bestfthtnimge*  na  Htniatthilrang  dar 
Trunksucht  gHroTtoi  Werde».  XVIII,  194  G. 

Aufserdem  siehe  auch  Nr.  7,  II,  31,  39,  41,  49,  54,  100,  105,  138,  140,  143, 
144,  152,  153,  157,  165,  166,  181,  182,  231,  448,  312,  325,  328,  33*, 

332.  334,  335.  336,  338,  339,  34°,  34 1,  342,  343,  344,  345.  346,  347, 

366,  385.  386,  389,  390,  414,  423,  424,  429.  432,  437,  438,  452,  453 

569,  57°,  571,  572,  577,  585,  59i,  596,  597,  599  u-  603. 


Siehe  Nr.  537. 


RORTOOaL. 


römisches  reich. 

Siehe  Nr.  146,  148  u.  I49. 


RUMÄNIEN. 

Siehe  Nr.  I4I. 

RUMLAND 

728.  Wortlaut  des  Arbeiterschutzgesetres  vom  24.  Februar  189t).  IV,  204  G. 

729.  Wortlaut  des  Gesetzes  VOM  8. 'tt>.  Jühi  Ober  die  l'mttitungetl  tlts  Gemeinde- 

landes. VII,  690  G. 

730.  Wortlaut  des  Gesetzes  vom  14.  26.  Dezember  1893  über  die  Unveräußerlichkeit 

des  Bauernlandes.  VII,  692  G. 

731.  Die  neue  Fabrikgesetzgebung  Kufslnnds.  XII,  47;  O. 

732.  Wortlaut  des  am  2./14.  Juni  1897  bestätigten  Gutachtens  des  Relebsrats  über 

die  Länge  Und  Verteilung  der  Arbeitszeit  in  Fabriken,  Hütten  Und  Berg, 
werken.  XII,  51*  G. 

Aufserdem  siehe  auch  Nr.  31,  4»,  *9,  5»,  9I,  9*,  Hst,  229,  *34,  *47,  3*3, 
481,  526,  527,  528,  528a,  5*9  «.  531. 

SCHWEDEN. 

733.  Wortlaat  des  Gesetzes  betr.  Schutz  gegen  öeffchreu  Im  Bettiebe.  Ill-,  144  G. 

734.  Wortlaut  des  Entwurfs  einen  Oe#ett*s  IW  da»  Königreich  Schweden  betr.  Ver- 

sicherung zum  Zwecke  der  Gewährung  einer  Pension  bei  dnnenhder  Erwerbs- 
Unfähigkeit.  VIII,  632  G. 

Siehe  auch  Nr.  31,  252,  409  u.  410. 

SCHWEIZ. 

735-  Text  de«  Rundschreibens  an  sämtliche  europäische  Industriestaaten  betr.  Arbeiter- 
schutz.  II,  502  G. 

736.  Wortlaut  des  Züricher  Gesetzes  betr.  den  Schutz  der  Arbeiterinnen.  VU,  468  G. 

737.  Wortlaut  des  waadtländischen  Gesetzes,  betr.  das  Lehrlingswescn  vom  21.  No- 

vember 1897.  XI,  468  G. 


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688 


Topographisches  Register. 


738.  Wortlaut  des  Gesetzentwurfs  betr.  Arbeitslosenversicherung  in  Zürich.  XI,  779  G. 

739.  Wortlaut  des  Entwurfs  einer  Verordnung  betr.  Arbeitslosenversicherung  in  Zürich. 

XI,  780  G. 

740.  Wortlaut  des  Bundesgesetzes  (Entwurfs)  betr.  Fabrikation,  Einfuhr,  Ausfuhr  und 

Verkauf  von  Zündhölzchen  mit  gelbem  Phosphor.  XII,  257  G. 

741.  Wortlaut  des  Gesetzentwurfs  betr.  Arbeiterinnenschutz  im  Kanton  Bern.  XVII, 

697  G. 

Aufsrrrlem  siche  auch  Nr.  31,  4 1 , 48,  56,  71,  8$,  86,  87,  88,  99,  102,  104, 
128,  164,  188,  189,  190,  192,  196,  198,  199,  200,  201,  202,  203,  204,  204  a, 
204b,  257,  258,  259,  260,  271,  29I,  31 1,  314,  320,  321,  355,  356,  357, 
35*.  359,  360.  361,  36*.  375.  4‘2,  4*9.  43*.  44*.  456.  457.  45*.  459. 
460,  461,  463,  464,  465,  466,  467,  483,  496,  522,  537,  539,  540,  544. 

UNGARN. 

742.  Wortlaut  des  Gesetzentwurfs  betr.  die  Sonntagsruhe.  III,  364  G. 

743.  Wortlaut  der  Verordnung  betr.  die  Sonntagsruhe.  III,  365  G. 

744.  Wortlaut  des  Gesetzes  und  der  Verordnung  betr.  die  Sonntagsruhe.  IV,  520  G. 

745.  Wortlaut  des  Gesetzentwurfs  Uber  die  Regelung  der  Rechtsverhältnisse  zwischen 

den  Arbeitgebern  und  den  landwirtschaftlichen  Arbeitern.  XII,  120  G- 
Siehe  auch  Nr.  50,  51,  74,  249,  250,  251,  288  u.  373. 

VEREINIGTE  STAATEN  VON  AMERIKA. 

745.  Gesetz  betr.  die  Errichtung  eines  Arbeitsdepartements.  I,  618  G. 

747.  Amerikanische  Gesetze  zum  Schutze  der  Bauhandwerker  und  Bauarbeiter.  XII, 

104  G. 

748.  Wortlaut  des  Gesetzes  zur  Regelung  der  Kinderarbeit  im  Staate  Illinois  und 

der  Anordnung  seiner  Durchführung.  XII,  549  G. 

749.  Wortlaut  der  Entscheidung  des  Obersten  Bundesgerichts  der  Vereinigten  Staaten 

vom  28.  Februar  1898.  Nr.  261  u.  264.  XII,  765  G. 

750.  Wortlaut  des  staatlichen  Bibliotheksgesetzes  von  Illinois.  Amcndiert  und  an- 

genommen am  10.  Juni  1897.  XIII,  212  G. 

Aufserdem  siehe  auch  Nr.  3,  14,  61,  78,  79,  151,  152,  205,  206,  206  a,  230, 
237.  23*.  239,  240,  241,  242,  243,  244,  305,  379,  384,  415,  432,  433, 
436,  446,  468,  511,  525,  530,  542,  583  u.  602. 


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Sachregister. 

(NB.  Die  Ziffern  beziehen  sich  auf  die  voranstehenden  Nummern  der  einzelnen 
Artikel  des  Autoren-  und  topographischen  Registers.) 

Abzahlungsgeschäfte  $2,  2p8t  312,  719. 

Achtstundenbewegung  7 91  397,  408. 

Agrargeschichte  129,  149- 
Agrargesetzgebung  141. 

Agrarpolitik  JÄi  14^,  182,  40$. 

Agrarreform  143. 

Agrarschutz  e;78. 

Agrarstatistik  420. 

Alkoholmonopol,  Schweiz  321. 

Allmend,  Austeilung  der,  Schweiz  320. 

Altersversicherung,  Deutschland  269.  274.  276,  280,  284,  387,  $68,  617,  618,  620. 

England  292.  Italien  108.  IQQ,  710.  Schweden  2$2. 

Anerberccht,  bäuerliches  in  Oesterreich  569. 

Arbeit,  gewerbliche  $1^  $1$. 

Arbeit  und  Rhythmus  9. 

Arbeiter,  landwirtschaftliche,  Ungarn  745. 

Arbeiter,  städtische  11$. 

Arbeitsamt,  Belgien  S66.  England  1 18.  Frankreich  117.  216 , 686,  687. 
Schweiz  260. 

Arbeiterausschüsse,  Deutschland  574.  Oesterreich  38$,  438,  723. 

Arbeiterbauvereine,  Dänemark  $9$. 

Arbeiterbeamtentum  l6$. 

Arbeiterbewegung,  sozialistische  190. 

Arbeiterbildung  $40. 

Arbeiterfrage,  Schweiz  4^8. 

Arbeiterfrage  4$!. 

Arbeiterinnen,  England  96. 

Arbeiterinspektoren  $76. 


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690 


Sachregister. 


Arbeiterkammern,  Niederlande  106,  716.  Italien  510.  Belgien  60Q. 

Arbeiterkolonien  402. 

Arbeitsbuch,  Frankreich  211,  684. 

Arbeitsdepartements  746. 

Arbeitslosenversicherung,  Deutschland  193,  19g,  430.  Belgien  198.  England  i£> 
187,  393-  Schweiz  86,  189,  196,  199,  200,  738,  739. 

Arbeitsnachweis  429.  Frankreich  223. 

Arbeitsordnungen,  Belgien  558,  611. 

Arbeitsrat,  oberster,  Frankreich  215,  68g. 

Arbeiterinnenschutz  71,  303,  4S9-  Schweiz  736,  741. 

Arbeiterschutz,  Belgien  179.  Deutschland  44,  8l*  103,  173,  178,  348,  349,  443, 

479,  494,  622,  623,  624,  620,  633,  634,  633,  636,  637,  638,  639,  640, 

644,  647,  649,  650,  655,  656,  658.  England  18,  24t  22^-  2j6. 

Finnland  184,  702,  703.  Frankreich  219.  Niederlande  39«.  Ruialand 

93,  S3i , 728,  732.  Schweden  409.  Schweis  4gy,  735.  Vereinigte 
Staaten  20g,  206,  206  a. 

Arbeiterschutz,  internationales  Amt  56. 

Arbeiterschutz,  internationaler  83,  17S. 

Arbeitersekretariate  232. 

Arbeiterstatistik,  Belgien  167.  Deutschland  52,  627.  Oesterreich  54. 
Arbeiterstatistik,  Kommission  für  Deutschland  631. 

Arbeiterstatistik,  Amt,  Vereinigte  Staaten  14,  602. 

Arbeitstarife,  Schweiz  483. 

Arbeitsunfähigkeit  474. 

Arbeitsanfälle  34. 

Arbeitsvermittlung,  Oesterreich  340,  341,  342,  343,  344» 

Arbeitsertrag  164,  593.  Frankreich  tiy. 

Arbeiterversicherung,  Dänemark  $94.  Deutschland  171,  122,  123»  *$3t  36 1.  366, 

22°1  225-  3*5»  S°°.  506.  SIS.  *41 

Arbeiterwitwen  und  -Waisen  120. 

Arbeiterwohnungswesen  60» 

Arbeiterwohnungsgesetz,  Belgien  72. 

Arbeitszeit  der  kaufmännischen  Angestellten  486. 

Arbeitszeit  in  den  Transportanstalten  8$. 

Arbeitszeit,  Verkürzung  der,  in  der  Textilindustrie  310. 

Arbcits-  oder  Dicnstlohn,  Beschlagnahme  64g. 

Armenpflege,  Deutschland  121.  England  292.  Owterteich  J,  §48. 

Armenrecht,  Dänemark  4. 

Armenstatistik,  Norwegen  378. 

Armenwesen  in  Steiermark  248. 

Aussperrungen  61,  166.  396. 

Auswanderungsgesetz  1 19,  383. 

Auswanderungspolitik  382. 

Auswanderung,  Deutschland  413,  446,  641,  648.  Vereinigte  Staaten  3&4» 


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Sachregister. 


Bäckergewerbe,  Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  479. 
Bauernbefreiung,  Böhmen  181.  Preufsen  345. 

Bauernbefreiung  und  Ursprung  der  Landarbeiter  228. 
Bauernstandes  Untergang  171. 

Bauernverband  259. 

Bauernwirtschaft,  die  bäuerliche  Landgemeinde,  Kufslands  $26. 
Bauarbeiterschutz  747. 

Bauforderungen,  Sicherung  der  370,  6$^  6&L. 

Baugenossenschaften  59.  Kopenhagen  395. 

Bauhand  werkerfrage  370. 

Bauhandwerkerschutz  582. 

Baupfandgesetz  137. 

Baumwoliweberei  im  Mittelalter  301. 

Befähigungsnachweis  im  Handwerk  39« 

Bergarbeiterschutz,  Preufsen  $75,  670.  Frankreich  576. 
Bergarbeitergesetzgebung,  Deutschland  und  Oesterreich  SB. 
Bergarbeiterenquetc,  Preufsen  404. 

Bergbaugenossenschaften  438. 

Bergarbeiter- Hilfs-  und  Pensionskassen,  Frankreich  221,  693. 
Bergwerkinspektion,  Belgien  564.  Frankreich  688. 

Bergleute,  Achtstundenarbeit,  Fngland  94. 
Bergarbeiterverhältnisse,  Großbritannien  573. 
Berufsgenossenschaften  der  Landwirte,  Oesterreich  72t. 
Berufsstatistik  $20. 

Berufsvereine,  Belgien  $$9.  Deutschland 
Berufswahl  $90. 

Berufszählung,  Deutschland  1895,  337»  416,  417%  418,  419. 
Beschlagnahme  des  Arbeits-  oder  Dienstlohnes  194. 
Besteuerung,  kommunale  des  Wertzuwachses,  England  491. 
Betriebsformen  und  Wirtschaft  $16. 

Betriebsformen  und  Betrieb  517. 

Betriebsunfälle  der  Landwirtschaft  278. 

Betriebsunfälle  der  Arbeiter,  Italien  107« 
Bevölkerungsbewegung,  Schweiz  37$,  412. 

Bewegung,  soziale,  im  19.  Jahrhundert  439. 

Bibliographie  des  Sozialismus  $09. 

Bibliographie  des  Sozialpolitik  $13. 

Bibliothekgesetz,  staatliches,  Amerika  750. 

Bibliothek  und  Lesehalle,  öffentl.,  Berlin  377. 

Borstenindustrie,  Schutz  der  Arbeiter  44. 

Bürgerliche*  Gesetzbuch,  Diensttertiag  299. 

Bürgerliches  Recht  und  besitzlose  VolksWasse  317.  318 
Btchdruckemcn,  Arbeiterschttz  103« 


691 


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692 


Sachregister. 


Campagna,  römische  9^  497. 

Cichorienfabriken,  Arbeiterschutz  635. 

Cigarrenindustrie,  Arbeiterschutz  494. 

Civilprozefsnovcllc,  sozialpolitischer  Inhalt  209. 

Civilprozefsordnung,  Text  des  § 24Q,  646. 

Civilprozefsordnung,  Abänderung  1 54. 

Delegierte  für  Bergbauinspektion,  Frankreich  688. 

Detailhandel,  Wandlungen  in  36. 

Dienstbotenschutz,  Neu-Seeland  426. 

Dienststreitigkeiten,  Oesterreich  389. 

Dienstvertrag  im  bürgerl.  Gesetzbuch  299. 

Dorfgemeinde,  russische  528. 

Drahtziehereien,  Arbeiterschutz  634. 

Einigungskammern,  Belgien  170. 

Einigungsämter,  England  294.  379,  677. 

Kinigungsämtcr,  Frankreich  220.  691. 

Einigungsämter,  Oesterreich  385,  723. 

Einkommensteuer,  England  24. 

Einwanderung,  Amerika  446. 

Eisenbahnarbeiter,  Arbeitsvertrag,  Frankreich  217,  68q. 

Enqueten,  parlamentarische,  Deutschland  626. 

Enquctcngcsctz  über  Arbeitsverhältnisse,  Niederlande  395,  714. 
Entwicklungsgeschichte,  wirtschaftliche,  Niederlande  447. 

Entwicklung,  körperliche  der  Arbeiterbevölkerung,  Zentralrufsland  101. 

F'rbrecht,  bäuerliches,  Preufscn  144- 
Erbteilungsvorschriften,  Oesterreich  718. 

Erbrechtsentwurf,  Schweiz  99- 
Ernährungsstatistik,  Ungarn  288. 

Erpressung  und  Koalitionsrecht  l$6. 

Ersatz  von  Vcrmögensschäden  186. 

Erziehung  und  Unterricht  l 53. 

Ethik,  soziale  543. 

Evangelisch-soziale  Bewegung  55. 

Evolution,  soziale  488. 

Fabrikarbeiter,  Lage  der,  Zenlralrufsland  90. 

Fabrikant  oder  Handwerker  125. 

Fabrikgenossenschaften,  Oesterreich  438. 

Fabrikgesetzgebung,  Australien  233,  607.  Dänemark  227-  Rufsland  91^  731.  Schweiz 
2S7,  366,  467.  Vereinigte  Staaten  237. 

Fabrikinspektion,  Allgemeines  41,  454-  Deutschland  403.  England  135.  168.  172. 

Frankreich  212.  Niederlande  34*  35.  Oesterreich  325,  328.  Rufsland 


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Sachregister.  ^93 

12;  Schweii  204,  333,  356,  358,  3321  36°,  j6i,  362,  465.  Ungarn  242= 
Vereinigte  Staaten  338,  244.  S.  auch  Gewerbeinspektion. 

Fabrik  Wohnhäuser,  Schweiz  461. 

Farmerbund,  Vereinigte  Staaten  78. 

Feldgemeinschaft,  Sibirien  234. 

Fortbildung  des  Arbeitsverhältnisses  1 77. 

Fortbildungsbestrebungen  der  Dresdner  Arbeiterschaft  308. 

Frauenarbeit,  England  489.  Frankreich  690.  Italien  109  a.  Oesterreich  452.  Vereinigte 
Staaten  41  5. 

Frauenarbeiterschutz,  Belgien  I7Q-  Niederlande  713. 

Frauenbewegung,  die  Anfänge  der  65. 

Frauenbewegung,  bürgerliche  6fL  England  und  Deutschland  136. 

Frauen  frage  im  Altertum  64. 

Frauenstimmrecht,  England  62* 

Frauenstudium  der  Nationalökonomie  183. 

Fragen,  agrarische  398. 

Fürsorgeerziehungsgesetz,  Frcufsen  1 12. 

Gastwirtsgehilfen,  Arbciterscbutz 
Gefängnisarbeit  3 1 3. 

Gefängniskunde,  Lehrbuch  der  5. 

Gemeindebesitz,  Rufsland  528a,  729,  730. 

Genossenschaften,  Belgien  557,  562.  England  15.  Deutschland  131,  376,  44t- 
Genossenschaften  römischer  Gärtner  77- 
Geschichte  des  Sozialismus  13. 

Geschichtsauffassung,  materialistische  524. 

Gesindewesen  und  Gesinderecht,  Deutschland  1 10. 

Gesundheitsverhältnisse  der  Fabrikbevölkerung,  Schweiz  102. 

Getreidehandel,  Regelung  des  $37. 

Gewerbegerichte,  Allgemeines  82*  432.  435.  Dänemark  2 2Ü,  Deutsches  Reich  1 13. 

Il6.  434,  43L  413.  4Ii  436,  42i  4Z»,  <>lii  Italien  304;  707. 

Oesterreich  39Q.  724. 

Gewerbegescbichte,  Ulms  Baumwollweberei  301.  Pforzheims  Vergangenheit  4QQ.  Ge- 
schichte der  Kartelle  44Q.  Mittelalterliche  Sozialstatistik  444. 
Gcwcrbcgcsctzgebung,  Reform  der  295. 

Oewerbeinspcktion,  Belgien  565,  Oesterreich  334,  332,  334,  333,  336;  338,  332; 

345,  346,  347-  Frcufsen  126,  40b,  462,  669.  671.  Schweden  733.  S,  auch 
F'abrikinspcktion. 

Gewerbeordnung,  Deutschland  174.  348,  349.  368,  472. 

Gewerberecht,  Deutschland  470.  471.  474. 

Gewerbestatistik,  Belgien  169. 

Gewerbezählung,  Deutschland  416,  417.  418,  4t9.  421. 

Gewerkschaften,  Allgemeines  19.  Belgien  5 79.  Deutschland  20,  43*  45,  1 56. 

Flngland  68,  96,  133.  I 34»  235.  3Q7.  $87.  s88,  589-  Frankreich  214.  üS, 
222.  Schweiz  522.  Vereinigte  Staaten  525. 


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Sachngisl«. 


6»» 

Glashütten,  Ar  beite  rschuiz  ia  6av 
Grofsbetricb,  fabrikmitfsiger  ia  Russland  40- 
Grofsmagazine  und  Kleinhandel  302. 

Grubeninspektion,  Delegierte  zur,  Belgien  612. 

Grundeigentum,  Belgien  56L» 

Gutsherrschaft.  Aufkommen  der  171. 

Hafenarbeiter,  Hamburg,  Strike  345.  34 & 347 ► 348,  545. 

Haftpflicht,  Deutschland  132,  277,  604.  England  95^  331,  674,  682.  683,  678.  67Q. 

Finnland  704.  705,  706»  Frankreich  6<u.  693.  6o6.  697.  Italien  708. 
Schweiz  311.  314. 

Hagelversicherung,  Bulgarien  322,  3^, 

Handelsgchilfen,  Deutschland  133,  484.  England  680. 

Handelsgesetzbuch,  Deutschland  155,  631. 

Handelskrisen,  England  336. 

Handelspolitik,  Deutschland  302,  431. 

Handwerker  oder  Fabrikant  125. 

Handwerksgeschichte,  Deutschland  308. 

Handwerkergesetzgebung,  Oesterreich  453.  Deutschland  381. 

Handwerk,  Litteratur  31 1. 

Haushaltungsbudgets,  Deutschland  162,  197.  England  12.  Schweiz  188. 
Hausindustrie,  Deutschland  2^  498. 

Hauslehrer,  studentische,  Lage  der  3Q7. 

Hechelräume,  Arbeiterschutz  640. 

Heimstättengesetz,  Deutschland  142,  630. 

Heimarbeit,  Oesterreich  ll,  396,  725. 

Heimatrecht,  Oesterreich  423. 

Hilfsarbeiter,  kaufmännische,  Oesterreich  385. 

Hilfs-  und  Pensionskassen  der  Grubenarbeiter  Frankreich  221,  693. 
Hilfskassengesetz,  Oesterreich  372,  720. 

Industrie-  und  Arbeitsrat,  Belgien  170. 

Industrie  und  Landwirtschaft,  Unfälle,  Deutschland  278. 

Industrie,  Obcrschlesien  393. 

Industrientwicklung,  Kufsland  323. 

Invaliden-  und  Altersversicherung,  Deutschland  269.  274,  276,  280.  281.  283,  284, 
387,  368,  617.  618.  620,  634,  657.  Italien  108.  109,  709,  710.  Schweden 
252,  734. 

Italiener  die,  Chicago  242. 

Justiz-Statistik,  Deutschland  6, 

Kartelle,  Allgemeines  UQ.  442,  449. 

Kartcllgesctz,  Oesterreich  399,  726. 

Kartelle,  Verein.  Staaten  330. 


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Sachregister. 


621 

Kaufmännische  Angestellte,  Arbeitszeit,  l’reuisca  486. 

Kaufmannsgerichte,  Deutschland  1 14. 

Kaufmännische  Schiedsgerichte  485. 

Kaufmannsgehilfenschutz,  England  680. 

Kinder,  schulpflichtige,  Erwerbsthätigkeit,  Deutschland  2, 

Kinderschutz,  England  2Ä6»  Italien  109a.  Niederlande  7 1 1.  Verein.  Staaten  240 , 41  $, 
Kleinhandel  und  Grofsmagazinc  $9*i 
Koalitionsfreiheit  479  a. 

Koalitionsrecht  und  Strafrecht,  Deutschland  196. 

Kontraktbruch  und  Koalitionsrecht,  Deutschland  295. 

Kollektiv-Streitigkeiten  und  Arbeitstarife,  Schweiz  483. 

Kommunalpolitik,  Belgien  367.  Oesterreich  366.  England  26^  97,  490.  Deutsch- 
land U£,  r42,  326. 

Kommunalpolitik,  Arbeitslosigkeit  194,  500  a. 

Kommunalpolitik,  Allgemeines  207,  468,  536. 

Konfektion,  Sweatingsystem  fr9Q- 
Konfektionsindustrie,  Neuere  Schriften  $91. 

Konfektionsindustrie,  Heimarbeit,  Oesterreich  596. 

Konsumgenossenschaften,  Deutschland  538.  Schweiz  539. 

Konsumentenschutz  im  Bäckergcwcrbc  479. 

Krankenpflege,  unentgeltliche,  Frankreich  jo^  692. 

Krankenunterstützung,  Dänemark  367. 

Krankenversicherung,  Deutschland  33»  42*  267.  269,  274,  276,  279.  282.  407« 
49S,  632. 

Krankenversicherung,  Oesterreich  414.  Schweiz  271 , 460. 

Krankheiten,  gemeingefährliche,  Bekämpfung,  Deutschland  139.  6^9- 
Kriminalität,  allgemeine  4SI.  Deutschland  327. 

Kriminalstatistik,  Deutschland  £ 304.  Italien  329. 

Kriminalpolitik,  Schweiz  291. 

Ladengesetz,  Australien  607. 

Landarbeiter,  England,  Lage  der  23. 

Landarbeiter  in  Knechtschaft  und  Freiheit  230. 

Landarbeiterfrage,  Preufscn  592.  England  287  a. 

Landarbeiter,  Ungarn  JAi  2>l- 
Landarmenwesen,  Deutschland  330. 

Land-  und  Forstwirtschaft,  Deutschland,  Unfallversicherung  606. 

I^and wirte,  Berufsgenossenschaften,  Oesterreich  721. 

Landwirtschaft,  elektrische  400. 

Landwirtschaft  und  Industrie,  Betriebsunfälle,  Deutschland  278. 

Landwirtschaft,  kapitalistische  236. 

Lebenskosten  belgischer  Arbeiterfamilien  iqi. 

Lehrer,  Versichcrungsptlicht  der,  Deutschland  124. 

Lehrlingswesen,  Schweiz  25S,  737. 


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6g6 


Sachregister. 


Leibeigenschaft,  Hufsland  und  Deutschland  247. 

Lesehalle,  öffentliche  in  Berlin  377. 

Liberalismus,  Preufsen  487. 

Lohnpolitik  und  Lohntheorie  16$. 

Lohnsystem,  Reformversuche  25. 

Lohnstatistik,  Münchener  Kellnerinnen  &Q.  Arbeiter  Stuttgarts  161. 
Lohnstatistik,  zur  Organisation  der  176.  Amerika  433,  436. 

Lohnstatistik,  Italien  493. 

Lohnzahlung,  Belgien  6o£- 

Manufaktur,  landwirtschaftliche  399. 

Maschinenbauer,  englische,  Strike  98. 

Marxismus  507,  §32. 

Maximalarbeilstag,  Vereinigte  Staaten  749. 

Merkantilismus,  Kufsland  48 L. 

Methodenstreit  298. 

Minderjährige,  Zwangserziehung,  Preufsen  553. 

Minimallohn,  Lohnpolitik  165. 

Milserntcn,  Kufsland  229. 

Mittelstandspolitik,  Oesterreich  424. 

Mutterschaft  und  geistige  Arbeit  öj. 

Muttcrschaftsversichcrung  63. 

Normalarbeitstag,  allgemeines  455.  England  586.  Ver.  Staaten  241. 

Notes  Critiques,  Frankreich  58. 

OcfTcntlichc  Arbeiten,  Arbeiterschutz  165.  Arbeitsbedingungen,  Frankreich  225. 
Obcrschlesicn,  seine  Industrie  393. 

Pacht,  bäuerliche,  Rufsland  527. 

Pädagogik  554. 

Postsparkasse,  Oesterreich  49. 

Produktion,  gesellschaftliche  40 1. 

Programm  der  Zeitschrift  46. 

Proletariat,  gewerbliches,  Italien  503. 

Proportionalwahl,  Württemberg  III. 

Prostitution,  Preufsen  450. 

«Quecksilber-Spiegelbelcgc,  Arbeiterschutz  443. 

Kasse,  Tüchtigkeit  unserer  469- 
Rassenhygiene  388. 

Ratenhandel  und  Abzahlungsgeschäfte,  Oesterreich  312. 

Recht  des  Schadenersatzes  287. 

Rechtsphilosophie  ^21. 

Rechtsprechung,  soziale,  Deutschland  605. 


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Sachregister. 


697 


Reform,  soziale  598. 

Reichstagswahlen  45  a, 

Rcichsvcrsicherungsamt,  Deutschland  29,  60  y 
ReichsversicherungsgeseUgebung,  Deutschland  273. 

Rentengüter,  Oesterreich  722. 

Rohrzuckerfabriken,  Arbeiterschutz  638. 

Schiedsgerichte,  obligatorische,  England  425. 

Schiedsvcrträgc  der  Gewerbegerichtc,  Deutschland  477. 

Schiffswerftarbeiter,  Lage  der,  Ungarn  250. 

Schriftgicfscreien,  Arbeiterschutz,  Deutschland  103,  650. 

Schwindsuchtsgefahren 
Säuglingssterblichkeit  371. 

Samstagnachmittag-Fabrikarbeit,  Schweiz  463. 

Sanitätsstatistik,  Oesterreich  570. 

Seearbeiterschutz,  Deutschland,  663,  66$. 

Sccmannsordnung,  Deutschland  330,  369,  662. 

Seidenindustrie,  soziale  Zustände,  Schweiz  464- 
Selbstmordstatistik,  Dänemark  380. 

Sklaverei  in  den  Kolonien  246. 

Sonntagsruhe,  Ungarn  5^  £1^  742,  743,  744. 

Sozialgeschichte,  Soziale  Kämpfe  vor  300  Jahren  508. 

Sozialgesetzgebung,  Belgien  72. 

Sozialdemokratie,  deutsche  53,  $34»  $3$. 

Sozialismus,  Geschichte  des  13. 

Sozialismus  und  soziale  Bewegung  439. 

Sozialismus  und  I.and  Wirtschaft  440  a. 

Sozialismus  und  kapitalistische  Gesellschaftsordnung  $ot,  $0$,  600. 

Sozialpädagogik,  allgem.  364,  $$t.  Frankreich  36$. 

Sozialpolitik  182,  512.  Schweden  4 IQ. 

Sozialrcform  480,  $78. 

Sozialstatistik,  Deutschland  42,  47.  160,  2 56,  315,  422,  428,  444.  445,  484.  Eng- 
land 38,  69.  Frankreich  41 L.  Holland  39  t.  394.  Norwegen  1 $9. 
Sozialversicherung,  Reform  unserer  272. 

Soziale  Wanderungen  137. 

Soziologie  150,  440.  533,  542- 

Spiegclbeleganstaltcn,  Einrichtung  und  Betrieb,  Bayern  614. 

Submissionen,  Frankreich  225,  699,  700,  701. 

Sweatingsystcm  in  der  Konfektion,  Deutschland  590. 

Sweatingsystem,  England  352,  492. 

Sweatingsystcm,  Vereinigte  Staaten  239. 

Syndicatc,  Frankreich  218,  222. 

Staatssozialismus,  Bulgarien  322,  324. 

Staatseinnahmen  und  Steuerverteilung,  Schweiz  496. 

Archiv  für  so  1.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVTll.  45 


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Sachregister. 


698 


Staatsstcucrn  des  Kantons  Zürich  204  b. 

Städlccrweiterung  und  Zonenenteignung,  Preufsep  l,  642. 

Städtestatistik,  Schweiz  448, 

Stadtverwaltung  im  römischen  Kaiserreich  146. 

Statistik  Württemberg  297,  Italien  374. 

Steinkohlenbergwerke,  Arbeiterschutz,  Deutschland  636,  6.37 • 

Stellenvermittlung  für  Schiflfsleutc,  Deutschland  664, 

Sterblichkeit,  Budapest,  373- 

Steuerpolitik,  Bayern  303.  Deutschland  $84. 

Steuerprogression,  Preufscn  158,  t. 

Steuerreform,  Prcufcen  211. 

Steuervor lagen,  Preufscn  210. 

Stcucrverteilung  und  Staatseinnahmen,  Schweiz  496. 

Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens  3 iq.  . 

Strafgesetzentwurf,  Oesterreich  l 37> 

Strafrecht  und  Koalitionsrccht,  Deutschland  296, 

Strafscnbahncn,  Haftpflicht,  Deutschland  604- 
Streitfragen  des  Sozialismus  $34,  534. 

Strikcstatistik , Deutschland  163.  England  983  396.  . Frankreich  Italien  503. 
Vereinigte  Staaten  61,  383. 

Tagelöhne,  ortsübliche,  Deutschland  264. 

Tarifverträge  300. 

Textilindustrie,  mechanische,  Arbeitszeit  310. 

Theorie  der  politischen  Ockonomie  427. 

Todesursachenstatistik,  Italien  374.  *•  *» 

Truckgesetze,  F.ngland  675. 

Trucksystem,  England  353. 

Trunkenheit,  Gesetze  gegen.  Oesterreich  1 38.  140*  727.  Niederlande  712. 
Ticrhaarindustric,  Arbeiterschutz.  Deutschland  »44.  • * 

Tran*»portanstalten,  Arbeitszeit  in  »len,  Schweiz  8^:  • » 1 

Trusts  in  Amerika  3,  30$. 

Uneheliche  Kinder  und  bürgerliches  Gesetz,  Deutschland  5 23. 

Unfallversicherung,  Dänemark  367,  33>,  613.  Deutschland  30.  33^  130,  132,'  255. 

262.  263,  268,  260.  274.  276,  279,  280.  2S4.  285,  372,  493,  600 . Eng- 
land 22j  601 . Finnland  183.  Frankreich,  224,  698.  Niederlande  316. 
715.  Oesterreich  100,  231.  414.  377,  60;.  717.  Schweiz  27t,  337,  466. 
Untergang  des  römischen  Reiches  148. 

Unterricht  und  Erziehung  1 53. 

Unterstützungsvcrcine  der  Arbeiter,  Italien  482. 

Urgeschichte  der  Arbeit  9. 

Ursprung  der  Landarbeiter  22Ä. 

\ t /. 

Verbrechen  und  soziale  Verhältnisse,  Schweiz  544. 

Vereins-  und.  Vcrsammlungsrecht,  Deutschland  234. 


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Sachregister. 


699 


Versicherungspflicht  der  Lehrer  124. 

Versicherung  soziale,  Oesterreich  105. 

Verstaatlichung  der  schweizer  Eisenbahnen  87. 
Verwaltungsstatistik,  Handbuch  333- 
Volksbildungswesen,  Handbuch  des  1 52. 
Volksbibliotheken,  Berlin  377  a.  Vereinigte  Staaten  243, 
Volkshochschulen,  England  151. 

Volkswirtschaft,  russische  529. 

Volkslesehalle  und  Volksbibliothek  468. 


Waldcigcntum  und  Waldwirtschaft.  Schweiz  SIL 

Walz-  und  Hammerwerke,  Arbeiterschutz,  Deutschland  649. 

Wanderungen  soziale,  Belgien  560,  563. 

Warenhaussteuer,  prcufsische  84. 

Wertzuwachs  unverdienter.  England  49 1- 
Wirtschaftsstufen,  Wirtschaftssysteme,  Wirtschaftsformen  5 1 8. 
Wohlfahrtseinrichtungen,  allgem.  180,  350  a.  Belgien  öio. 

Wohnungsverhältnisse,  Dänemark  3 $4-  Deutschland  £2»  52:  &£L  263,  289.  200, 


Lübeck  668.  Württemberg  673.  England  Uh  2J_,  681.  Oesterreich  386 
Schweiz  1Q2,  201,  202. 


Wucher  auf  dem  Lande,  Deutschland  403. 

Xahncarics  248  a. 

Zigarrenarbeiterschutz,  Deutschland  619. 

Zigarrenarbeiter,  soziale  Lage,  Baden  381. 

Zink-  und  Bleierzbergwerke,  Arbeiterschutz,  Deutschland,  637- 
Zonenenteignung  und  Städteerweiterung,  l'rcufscn  l.  Deutschland  642. 
Zuckerraffinerien,  Arbeiterschutz,  Deutschland  638. 

Zündhölzchenfrage,  Schweiz  104.  456,  740. 

Zünfte  im  Mittelalter  Jl: 

Zwangserziehung  Minderjähriger,  l’reufsen  5 5 2 , 553,  672. 


309 , 666.  Bayern  7$ , 76 , 6t  S,  616.  Hamburg  2]_.  Hessen  66; 


FE8  3 1912 


45* 


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läppert  & Co.  (G.  Pit*’ «che  Buchdr.),  Naumburg  a.  S. 


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univermty  of  michiqan 


3 9015  06526  0393 


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