Skip to main content

Full text of "Der neue Pitaval. Eine sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit"

See other formats


Der neue 
STENZL 


Julius Eduard 
Hitzig, Willibald 
Alexıs, Anton ... 


HARVARD LAW LIBRARY. 


Röceived We 7. 1908 








Der Vene Ditaval. 


Neue Serie. 
Dreiunbzwanzigfter Band. 


— — — 


Digitized by Google 


- — 


r 
Der 


MWeue Pitaval. 


Eine Sammlung 


der intereſſanteſten Criminalgeſchichten aller Länder aus 
älterer und neuerer Beit. 


Begründet 
vom 
Criminaldirector Dr. 3. €, Hitzig 
und 


Dr. W. Gäring (W. Alexis). 
Fortgeſetzt von Dr. 9. Bollert. 


— 7 


| nm 
Neue Serie. 
Dreiundzwanzigfter Band. 





Reipzig: 
F. A. Brodhaus, 


1889. 


A⸗ Hepr 14 1303 


Borwort. 


An die Spike des im vorigen Jahre erjchienenen 
22. Bandes unfers „Pitaval“ haben wir ven Proceß wider 
Johann von Wejel in Mainz wegen Keßerei gejtellt. 
Den diesjährigen Band eröffnen wir mit dem Proceffe 
gegen Johann Hus, den großen böhmischen Reformator. 
Gohann von Wefel, ein ſchwacher Greis, wiberrief feine 
der Fatholifchen Kirche anftögigen Lehrfüge und bat um 
Gnade; er wurde zu lebenslänglicher Einfperrung im 
Klojter zu Mainz verurtheilt. Johann Hus blieb ftand- 
haft, die Biſchöfe übergaben feine Seele dem Teufel, er 
aber „befahl fie in die Hände feines Heilandes Jeſu 
Ehrifti” und ftarb auf dem Scheiterhaufen „freudig, 
muthig, zuverfichtlih, wie nur einer der zahlreichen 
Märtyrer, die in den erften Zeiten des Chriſtenthums 
ihr chriftliches Befenntnig mit dem Tode befiegelt haben’. 

Der Proceß gereicht dem Kaifer, der die Verurtheilung 
zuließ, troß des dem Hus zugeficherten freien Geleites, 
und gleichermaßen dem Concil von Koftnig zur höchiten 
Unehre. Die verderbte römische Kirche konnte fromme 


VI Borwort. 


Männer nicht mehr tragen, welche die Autorität des 
Wortes Gottes prebigten und fich allein auf die Gnade 
und das Verdienſt Jeſu Chriſti ſtützten. Auch dieſer 
Proceß iſt ein weltgeſchichtliches Zeugniß wider die Natur 
und die Praxis des römiſchen Stuhles und der Würden— 
träger der römiſchen Kirche. 

Den Diebjtahl beim Handelsmann Scüller 
haben wir aufgenommen, weil darin die Anwendung der 
Folter genau befchrieben wird und ber Fall ein deutliches, 
freilich fehr unerfreuliches Bild des deutſchen Eriminal- 
proceffes in der Mitte des vorigen Jahrhunderts gibt. 
Bergleiht man die Zuftände vor hundert Jahren mit 
dem jett im Deutjchen Reiche geltenden Strafverfahren, 
jo wird man nicht in Abrebe ftellen können, daß ber 
Fortjchritt auf dieſem Gebiete ein ungeheuer großer ift. 

Der Proceß wider den Dr. med. Floden wegen 
Vergiftung aus Fahrläffigfeit gehört der neueften 
Zeit an. Derſelbe hat vor zwei Jahren die Stadt 
Straßburg im Elfaß in hohem Grade bewegt und auf- 
geregt. Er ift der Nepräfentant einer ganzen Gattung, 
injofern es fih um einen „ärztlichen Kunftfehler” handelt 
und um die Frage, in welchem Maße der Arzt ftrafrecht- 
(ih für ein Verjehen die Verantwortung zu tragen hat. 

Die BVermögensberaubung des Kaufmanns 
Sſolodownikow und Die Ermordung des Eollegien- 
aſſeſſors Tſchichatſchew find berühmte Criminalfälfe 
aus der Gefellichaft in Petersburg, Der Staatsrath 


Borwort. VII 


Anatole Fedorowitſch Koni, Oberprocureur des Cri— 
minal⸗Caſſations-Departements des ruſſiſchen Senats, 
derſelbe, den der Zar im vorigen Jahre nach Borki ent— 
ſendete, um die Unterſuchung wegen des dortigen Eiſen— 
bahnunglücks zu leiten, hat 1888 ein Werk in ruſſiſcher 
Sprache veröffentlicht: „Gerichtliche Reden von A. F. Koni.“ 
Es enthält 27 Criminalfälle, bei welchen der berühmte 
Juriſt thätig geweſen iſt. Mit Erlaubniß des Verfaſſers 
haben wir jenem Werke zwei dieſer Fälle entnommen, 
die für die ruſſiſchen Verhältniſſe und Anſchauungen be— 
zeichnend ſind und auch die gerichtliche Beredſamkeit in 
Rußland charakteriſiren. 

Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham 
iſt ein unvergleichliches Stück aus der engliſchen Straf— 
rechtspflege, ein ſo bizarrer, man kann ſagen toller 
Proceß, wie er nur in England möglich iſt. Der Proceß 
wider den Tagelöhner Morand und Genoſſen wegen 
Mordes endlich beleuchtet die Mängel und Schwächen 
der franzöſiſchen Rechtspflege, insbeſondere die bedenk— 
lichen Strömungen, die ſich in den Sprüchen der Ge— 
ſchworenen in neuerer Zeit geltend machen. 

Die beiden letzten Beiträge verdanken wir dem Herrn 
Generalconſul Dr. Meyer in Wien, der ein treuer Freund 
unſers Sammelwerkes geblieben iſt. 


Gera, im November 1889. 
Dr. A. Vollert. 


Vorwort 


Johann Hus. Sein Proceß und ſein Tod. 1414 
—1415... 

Ein Diebſtahl beim Sara: Schüller i in ar 
beim in der Eifel. Mitte des vorigen Jahrhunderts 

Der Broceß wider den Dr. med. Flocken wegen Per: 
giftung aus Fahrläffigkeit. Straßburg im Elſaß. 
1887 und 1888. ; 

Die Bermögensberaubung des Kaufınanne Sfolo- 
bomnifow. Petersburg. 1870. 1871. 

Die Ermordung des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 
Petersburg. 1873. 1874. . . . eg 

Der Einbrud im Pfarrhofe von Eolingham. Raub 
und Mordverfuh. — England. 1879—1889. 

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. Mord. 
— Joigny in Franfreih. 1888. 


Seite 


62 


99 


150 


173 


217 


272 


| 
l 
i 
I 
| 
i 
ı 
1 
I 
’ 


Digitized by Google 


Iohann Aus. 
(Sein Proceß und fein Top.) 


1414—1415. 


Der Proceß wider Johann Hus darf in der Reihe 
der kirchenhiſtoriſchen Procefje des „Pitaval“ nicht fehlen, 
denn jo befannt auch der tragiiche Tod des von jeiner 
Zeit mit gleicher Glut gehaften und geliebten Mannes 
auf dem Scheiterhaufen zu SKonftanz fein mag, jo 
unbefannt ijt das Detail des Verfahrens, das eine jo 
unvermuthete Wendung genommen bat: ein Günftling 
der Krone Böhmens, aber noch mehr der Mann, der 
wie fein anderer die Seelen feines czechiichen Volkes 
in feiner Hand hatte; ein Unterthan, der mit dem Kaiſer— 
wort fommt transire, stare, morari et redire libere, 
ein für das wahre Wohl der Kirche begeifterter Reformator 
— wird von dem großen NReformconcil dem Tode über- 
geben; er ftirbt ihn freudig, muthig, zuverfichtlich, wie 
nur einer der Märtyrer, welche das Chriftenthum in 
jeinen beiten Zeiten hervorgebracht. Kann aber eine Er- 
örterung der für das Verſtändniß dieſes Procefjes noth— 
wendigen theologiihen und Firchenpolitifchen Vorfragen, 
fann eine Vorführung unmöglich geworvener Gemaltacte 
auf das Intereſſe eines weitern Leſerkreiſes Anfpruch 

XXI 1 


2 Johann Hus. 


erheben? Wir wagen ein Ja zur Antwort aus einem 
zwiefachen Gefichtspunfte. 

Einmal möchte der Frühling der Zeit vor der Thür 
jein, da nach einem Ausipruc des Neſtors unter den 
Kirchenhiftorifern der Gegenwart die Kirchengejchichte Be— 
ftandtheil der allgemeinen Bildung werden wird, ſodann 
fönnte die Darftellung dieſes Procefjes an ihrem be: 
ſcheidenen Theile einen Sieg erftreiten helfen. 

Der romantische Katholicismus der erjten Hälfte des 
Jahrhunderts, der von der Weberzeugung erfüllt war, 
daß die römische Kirche und der moderne Staat mit 
jeiner Glaubens- und Gewifjensfreiheit fich nicht auszu— 
Ichltegen brauchen wie Feuer und Waffer, ver das Gott- 
wohlgefällige auch des pofitiven Proteftantismus zu wür- 
digen verftand, ift dahin. Jeſuitenorden und römische Kirche 
find iventifch geworben, der Jeſuitenzögling Leo XIII., 
der fih in der Masfe des rejervirten und gewiegten 
Diplomaten gefällt, kann über die „fittenverberblichen und 
gemeinjchädlichen” Einwirkungen der „abjcheulichen Irr— 
lehren“ des Protejtantismus poltern, ein über drei Jahr- 
hunderte alter Kampf ift heftig aufs neue entbrannt. 
Rom meint fich jtark genug, die Gefchichte zu überwinden, 
und dennoch fürchtet e8 nichts fo fehr als die Geſchichte. 
Die Geihichte muß den Protejtanten lehren, daß der 
„Fels der Wahrheit” in allen Geiftesfämpfen die neuen 
Gedanken nie widerlegt, fondern immer nur vergewaltigt 
hat, die Geihichte muß den Protejtanten lehren, vie 
Macht und Lift Roms durch klare Einficht in diefe That- 
jache geijtig zu überwinden. Es handelt fich bei dieſem 
Unterricht in feiner Weife um plumpe, blinde Agitation, 
jondern um das Aufzeigen gejchichtlicher Wahrheiten. 

Auch das ungerechte, Schmachvolle Verfahren des geift- 
lichen Gerichts wider Hus kann für die Rüftung, welche 


Johann Hus. 3 


gegen römiſche Anläufe zu wappnen vermag, vielleicht 
ein eines Waffenftüc liefern. Betreffs einer Darftellung 
der Stimmungen und Bewegungen des 15. Iahrhunderts 
im allgemeinen aber dürfen wir wol auf unfern Auf- 
jag über „Iohann von Weſel und feine Zeit” aus dem 
borjährigen Bande des „Pitaval“ verweijen. 


— {a 


Johann Hus iſt im böhmischen Marktflecken Huſſinetz 
an der Blanitz am Fuße des Böhmermwaldes aller Wahr- 
iheinfichfeitt nach im Jahre 1369 geboren. Er war 
czechiicher Nationalität und ein Kind des DVolfes, doch 
waren feine eltern verhältnifmäßig wohlhabend Er 
war ein guter Sohn der Fire. Als er im Prager 
Subeljahr von 1393 in die Petersfirche auf vem Wyſchehrad 
zur Beichte ging, gab er dem Beichtvater feine letzten 
vier Groſchen und machte dann die vorgefchriebenen Pro- 
cejfionen mit, um des großen Ablafjes theilhaft zu werben. 
Do ging bis in fein Mannesalter neben folcher Devotion 
eine gewiſſe Neigung zu leerem Zeitvertreib, z. B. mit 
dem Schachipiel, her und eitle Vorliebe für Lurus in ber 
Kleidung, wie der gewifjenhafte, gegen fein Sch jo hart 
gewordene Mann fich fpäter einmal jelbftanklägerijch 
verlauten läßt. Hus ftudirte in Prag und fchlug bie 
afademifche Laufbahn ein. Auf der Leiter ver afademijchen 
Grade gelangte er vom Baccalaureus der freien Künite 
zum Baccalaureus der Theologie, dann zum Magifter der 
freien Künſte. Die vom hellſten Glanze der Wiffenjchaft 
und höchiten äußern Ehren umjtrahlte Würde eines 
theologischen Doctors erwarb er jedoch nicht. Im Jahre 
1398, zwei Jahre nachdem er Magijter geworden, fing 
Hus an, philofophiihe DVorlefungen an der Univerfität 

1* 


4 Sobann Hus. 


zu halten; jchon drei Jahre fpäter wurde er Dekan der 
philofophiichen Facultät, im vierten Jahre zum erſten mal 
Rector der Univerfitit — ein deutlicher Beweis für bie 
Achtung, die er erworben. Bei feinen Studien war Hus 
bejeelt von einer veblichen Wahrheitsliebe; jagt er doch 
jelbjt in einem akademiſchen Acte, e8 jet ihm nicht um 
hartnädige Behauptung der einmal gefahten Anficht, 
jondern um die Wahrheit zu thun; er babe von der 
eriten Zeit feines Studiums an fich zur Kegel gemacht, 
jo oft er in irgendeinem Punkte eine richtigere Anficht 
vernehme, von feiner frühern Anficht freudig und 
demüthig abzugeben. „O die betrügen ſich“, heißt es in 
einer Predigt, „die vor dem Papfte nieverfallen und alles 
für gut halten, was er thut, wie ich e8 auch für gut 
hielt, als ich die Heilige Schrift und das Leben bes 
thenern Heilandes noch nicht kannte.“ Den ftärkiten Ein- 
fluß auf Hus gewann durch feine philofophifchen und 
theologischen Schriften der Engländer Wichf. Dieſer 
Einfluß ift fo bedeutend, daß Hus fat nichts Anderes 
ift al® der nad Böhmen verpflanzte Wichf, daß ganze 
Kapitel in Huffens Werfen, ja man kann fagen, ganze 
Werke faum etwas anderes find als Nachbildungen, Ab- 
ichriften aus Wiclif. 

Wielif ift der hervorragendite Träger jener Reform: 
unternehmungen bes Mittelalters, die außerhalb des 
Rahmens derjenigen Reformationen jtehen, welche Hand 
in Hand mit der Großfirche unternommen wurden; man 
ſprach der Univerfalfirche die Kraft ab, fich aus fich felbit 
zu vegeneriren. 

Im Jahre 1365 forderte die avignonenſiſche Curie 
den ihr unter Innocenz III. durch Johann Ohneland zu— 
gejtandenen Lehnszins von England aufs neue und zu— 
gleich die Nachzahlung der Rückſtände feit 33 Jahren. 


Johann Hus, 5 


Der ritierliche, helvdenhafte Eduard III. und das Parla- 
ment von 1366 erklärten, weder König Johann noch 
irgendjemand anders habe das echt gehabt, das Reich 
oder die Nation ohne Zuftimmung der leßtern einer 
andern Macht zu unterwerfen. Urban V. mußte fich mit 
der Erfenntniß begnügen, einen politiichen Fehlzug gethan 
zu haben. Im diefer nationalen Angelegenheit ſtellte 
Johann Wiclif, Profeffor der Theologie zu Oxford, 
jeine Feder in den Dienft des Königs und der Nation. 
Im Jahre 1374 wurde er Mitglied einer Gefandtjchaft, 
die zu Brügge mit päpitlichen Delegirten über Leiftungen 
Englands an den Papft zu verhandeln hatte. Hier machte 
er Quellenjtudien zu dem ungeiftlichen Wejen, der Käuf— 
fichfeit, dem Hochmuth und der Heimtüde der Curie, 
immer fchärfer wurde von num an feine Oppofition, als 
Heilmittel für die verfeuchte Kirche empfahl er Armuth 
derfelben. Als erzwingbar aber rechtfertigt Wiclif die 
Armuth der Kirche mit folgenden Sätzen: Nicht Kaijer, 
nicht Papſt, ſondern Gott allein ift die Duelle alles 
Beſitzes. Er theilt denfelben an feine Gehorjamen aus, 
ſodaß aller menjchliche Befit fein dominium iſt, fondern 
nur ein ministerium. Wer durch Todſünde Gott um- 
gehorjam wird, verliert vor Gott fein Befitrecht. Aber 
es fann ihm fein Lehen auch rechtlich abgeiprochen werben, 
dem ſündigen Priefter durch König, Parlament, Concilien 
und Synoden. Denn über allen weltlichen Dingen, auch 
über den Temporalien der Kirche jteht die Königsgewalt, 
fie hat zu forgen, daß das der Kirche gejchenfte Gut den 
ihm zugedachten Zweck erreiche. So fünnen nicht blos 
weltliche Herren der Kirche ihre Temporalien nehmen, 
wenn diejelbe beharrlich fehlt, auch dürfen fie e8 nicht 
blos, ſondern fie find ſogar fittlich verpflichtet, dies zu 
thun. — Es fchwebt Wiclif, wie jo manchen bedeutenden 


6 Johann Hus. 


Kirchenlehrer vor ihm, das Ideal einer politia evan- 
gelica, eines „evangelifchen Staates“ vor, habens omnia 
in communi, mit Gütergemeinfchaft unter Ausjchluß jedes 
Sondereigend. Er warnt aber ausprüdlich vor Mis- 
brauch feiner Theorie vom Beſitzrecht. Dffenbar arbeitet 
in Wichif ſchon die moderne Staatsidee, die damals fich 
zu entwideln begann und befonvers in national gefinnten 
Männern zündete. 

Auf Wichif’8 firchenpolitifche Periode folgt eine refor- 
matorifche Periode. Als die erjchredte Chriftenheit 
das Schaufpiel erlebte, daß zwei Stellvertreter Gottes 
die furchtbarjten Bannflüche widereinander jchleuberten, 
und in jede Stadt, jedes Dorf die Ziwietracht geworfen 
war, da ward die Bahn frei für Fühneres Vorwärts- 
ichreiten. Wiclif geht zu rüdhaltslofer Bekämpfung des 
Papſtthums über: der Papft ift der Antichrift. Mit der 
ganzen fittlichen Entrüftung des Chrijten und Patrioten, 
aber dennoch wilfenfchaftlich nobel ftellt er in der Streit- 
ihrift: „De Christo et suo adversario Antichristo“, 
die für die ganze Art feiner Polemik als typiſch gelten 
fann, zwölf Antithefen auf; die elfte fett Chriftum, ben 
prunflofen und bienjtbereiten, dem Papfte mit feinem 
prächtigen Hofſtaate entgegen, der ſelbſt vom Kaiſer 
Knechtspdienfte fordere. In der zwölften jagt er, Chriſtus 
habe Weltruhm und Geldgewinn verachtet, vom Bapfte jet 
alles käuflich. Daraus ergibt fih ver Schluß: Niemand 
joll dem Papſte folgen, joweit derſelbe nicht ſelbſt Jeſu 
Chriſto nachahmt, noch ſoll der Papſt über das hinaus 
Gehorſam fordern, was die Schrift ihrem hellen Sinne 
nach bezeugt. Denn wenn jemand irgendwelchem Chriſten 
weiter müßte folgen, könnte er leichtlich von Chriſti Fuß— 
ſtapfen abweichen. Dem Kampf gegen den Papſt tritt 
der Kampf gegen ſeine Vorfechter zur Seite, gegen die 


Johann Hus. 7 


Bettelmönde. Aufbauende Arbeit aber that Wiclif in 
Predigt und Seeljorge, Bibelüberjegung und in der Er- 
richtung eines Wanderprediger-Inftitutd. Seine „armen 
Prieſter“ jollten in das geiftliche Arbeitsfeld der Bettel- 
mönche eintreten und unter freiern Formen eine Löſung 
der Aufgaben verfuchen, welche von diefen nicht erfüllt 
worden ivaren. 

Wir brauchen auf Wielif's Lehre bier nicht des 
Nähern einzugehen, es find eine ganze Reihe Punkte des 
firhlichen Lehrſyſtems, die der doctor evangelicus von 
der Pofition der alleinigen Autorität des göttlichen Wortes 
ans angreift. Das ‚„Erpbebenconcil” von 1382 verdammte 
jeine Lehren, die Univerfität jchloß ihn aus, aber weder 
jeines geiftlichen Aıntes wagte man ihn zu berauben, noch 
gar zu ercommuniciren. Er ſtarb im Frieden jeiner 
Yandpfarre 1384. Welch ohnmächtige Rache, wenn 
43 Jahre nachher noch feine Gebeine aus dem Grabe 
gerifjen und verbrannt wurden und die Ajche in fließendes 
Waſſer geworfen! Mächtiger lobte das euer, das ber 
gewaltige Mann, der die Regungen der englijchen Volks— 
jeele verftanden wie fein Zeitgenojje, für ein langes Jahr— 
hundert in feinem Vaterlande entfacht hatte. Längſt auch 
waren die Funken hinübergeflogen nach dem waldigen 
Böhmen und hatten der Wiclifie dort in Huffens Perſon 
die Strahlenfrone des Martyriums eingetragen. 

Bedeutjam wurde für Johann Hus das Jahr 1402. 
Er empfing die Priejterweihe und wurde „Rector und 
Pfarrer” an der Bethlehemsfapelle, fein Amt bejtand 
nicht im Mefjelefen und jonjtigen pfarramtlichen Ge- 
ihäften, fondern in jonntäglicher czechijcher Predigt für 
das „gemeine Volk’; mit diefer Beitimmung war die 
Kaplansjtelle an Bethlehem fundirt worden. Mit dem 
Empfang der Priejterweihe ging eine Wandlung in Hus 


8 Johann Hus. 


vor ſich, und durch den Predigtdienſt an der Gemeinde 
wurde er zu immer größerer Vertiefung in Gottes Wort 
veranlaßt; zudem lernte er um jene Zeit nach den philo- 
ſophiſchen Schriften Wiclif's auch die theologijchen kennen. 
Nunmehr erfcheint Hus in all feinem theologijchen und 
firchlichen Denken als eine gefchloffene, Klare Perjönlich- 
feit, die fich in allem Wejentlichen gleich bleibt. Er wurde 
der Mann, der die jocialen Wünfche, die Eirchlichen Reform— 
ideen, die nationalsczechifchen Gedanken feiner Lands— 
leute in gleich bedeutender Weiſe zu charaktervollem Aus- 
drud zu bringen verjtand. 

Seine reformatorifhen Gedanken bewegen ich 
um die beiden Pole des „Geſetzes Chrijti“, d. h. des 
göttlichen Wortes, als einziger Glaubensnorm und ber 
wahren Kirche Chrifti, an deren Herftellung zu helfen 
das höchite Ziel feiner Arbeit und Kämpfe war. Aus 
dem eriten Grundfate folgt ihm ab, daß man Concilien 
und päpftlichen Bullen nur glauben kann, wenn fie etwas 
ausjprechen, was aus der Schrift geſchöpft oder mittelbar 
auf die Schrift gegründet if. Der Papſt und jeine 
Curie fann irren und irreleiten. Und die Mitgliedjchaft 
in der Kirche Chriftt ift nicht abhängig von der äußern 
Anerkennung durch die Hierarchie oder von der Zugehörig- 
feit zu diefer, jondern ausfchlieglich von der Erfüllung 
des göttlichen Geſetzes. Es kann jemand in der Kirche 
jein, äußere Mitgliedfchaft, ja felbit Aemter und Würden 
in derjelben haben, ohne doch von der Kirche zu fein; 
wer aber von der Kirche ift, wer gegen Gottes Gejet 
ſich nicht verhärtet, der ift auch in der Kirche. Wer 
nur in der Kirche tft, nicht aber von ihr, der gleicht 
der Spreu unter dem Korn auf der Tenne, dem Unkraut 
im Weizenader. 

In feinen focialen Anfhauungen geht Hus wie 


Johann Hus. 9 


Wichf von dem Gedanken, daß die ganze Meenjchheit 
einen großen Lehenscomplex bildet unter dem oberjten 
Lehnsherrn Gott, und von der Todfünde aus. Durch 
fie verliert fein geiftliches Amt und feinen weltlichen 
Befig, wer e8 auch fei, denn „feine weltliche oder geift- 
liche Herrichaft, fein Amt und feine Würde wird von 
Gott nicht gebilligt”. Diejenigen, „welche ihren Beſitz 
gegen göttliche8 Gebot verwalten und gebrauchen, haben 
fein Recht an dieſem Beſitz“; „der Beſitz irgenbeines 
Gutes von feiten eines Ungerechten und Gottloſen (tft) 
ein Diebitahl und ein Raub“. 

Sn der praftifhen VBerwerthung feiner Ge- 
danken wurde Hus allmählich erſt ver Mann, der von 
jeinem Gewiſſen geprungen nach Reformationen jtrebt in 
DOppofition zu dem Firchlichen Regiment, das für den 
verwahrlojten Zuftand der Chriftenheit Fein Auge haben 
will. Anfänglich glaubte er, für und mit feinen Obern, 
was er für recht erfannt, in die Wirklichkeit einführen 
zu fünnen. Der Wenvdepunft in dieſem Verhalten wird 
durch das Jahr 1410 bezeichnet. 

Im Jahre 1403 gelangte Dr. Sbynko von Hajen- 
burg auf den prager erzbiichöflichen Stuhl, ein Mann 
bon geringer theologijcher Erfenntnig, aber des erniten 
Vorjages, feine Geiftlichfeit in Zucht zu nehmen. Er 
beitellte Hus zum Shynodalprediger, und e8 waren 
ernjte Strafpredigten, die der Klerus feitvem bei Er- 
öffnung der böhmischen Provinzialconcilien zu hören be— 
fm. Hus ließ es nicht bei allgemeinen Vorftellungen 
bewenden, jondern nannte die Mängel beim rechten Namen 
und ſtellte fie anfchaulich dar, ſodaß Klerifer, welche fich 
getroffen fühlten, dem muthigen Manne begreiflicherweife 
todfeind wurden. Als ferner Wilsnad im Branden- 
burgiichen Wallfahrtsort für Tauſende und aber Taufende 


10 Johann Hus. 


wurde, die dem heiligen Blute zuliefen — an drei Hoſtien 
ſollte das Blut Chriſti ſinnlich ſichtbar geworden ſein —, 
unterſuchte Hus im Auftrage des Erzbiſchofs mit zwei 
Collegen eine Anzahl der Wunderheilungen, die daſelbſt 
ſollten bewirkt worden ſein, und als ſich dieſelben als 
nichtig herausgeſtellt, wurde für Böhmen das Laufen nach 
Wilsnack verboten. Hus ſchrieb zur Rechtfertigung des 
Verbotes die Abhandlung: „Daß alles Blut Chriſti 
verklärt ſei“ Es ſind noch andere Maßnahmen, die zur 
Beſſerung des kirchlichen Weſens in jenen Jahren im 
Sinne Huſſens vorgenommen wurden. Der Abweſenheit 
der Pfründeninhaber von ihren Gemeinden wurde ge— 
ſteuert, regelmäßige Viſitation eingeführt, dem Schenken— 
beſuch, dem leichtfertigen und unzüchtigen Leben vieler 
Kleriker nachdrücklich gewehrt. Huſſens Wiclifismus 
wurde in keiner Weiſe Gegenſtand der Erörterung; ein 
Verbot der Univerſität an die Docenten, gewiſſe Sätze 
Wielif's vorzutragen, wurde auf Huſſens Verwendung 
ſpäter ſogar dahin beſchränkt, jene Artikel nicht in einem 
irrigen Sinne vorzutragen oder zu vertheidigen. 

Das Einvernehmen zwiſchen Sbynko und Hus 
wurde geſtört durch eine Beſchwerde der Diöceſangeiſt— 
lichkeit an den Erzbifchof, Hus habe bei feinen Predigten 
in der Bethlehemsfapelle die Geiftlichfeit vor dem Volke 
angefchwärzt, das Volk zu ihrer Verachtung und zum 
Haffe aufgeftachelt. Hus verantwortete fich zwar, aber 
wurde von Sbynko doch feines Amtes als Synodal- 
prebiger enthoben, bald darauf auch öffentlich durch erz= 
biichöflichen Anschlag an allen Kirchthüren als ungehor- 
jamer Sohn der Kirche getadelt und ihm die Ausübung 
jeines Priefteramtes unterjagt. Vollſtändig wurde der 
Bruch zwijchen beiden Männern durch die Verſchiedenheit 
ihrer Stellung gegenüber der Bapftipaltung. Als 


Johann Hus. 11 


nämlih das päpftliche Schisma dadurch befeitigt werben 
jollte, daß die Kardinäle zu Pija einen neuen Bapft 
wählen und Gregor XIL von Rom und Benebict XIII. 
von Avignon zur Abdanfung zwingen wollten, wünſchte 
die Krone Böhmen wie andere Staaten die Neuwahl zu 
fördern durch Erklärung ihrer Neutralität gegenüber ben 
beiden Päpften. Der Erzbifchof mit feinem Klerus, zur 
Aeußerung aufgefordert, meinte von Gregor nicht abgehen 
zu fönnen, an ber Univerfität waren die bairifche, polnijche 
und ſächſiſche „Nation“ derſelben Anficht, die böhmifche 
aber willfahrtete vem König unter tem maßgebenden Ein- 
fuffe von Hus. Diefe firchenpolitiihe Spannung wurde 
verichärft Durch das mächtig gewordene nationale Sonder- 
gefühl der Böhmen gegenüber ven Deutjchen, und obgleich 
ber König anfänglich noch nach jenen Verhandlungen bie 
Deutjchen feiner Geneigtheit verfichert, wechjelte feine 
Stimmung doch bald, und er decretirte zu Anfang des 
Jahres 1409 im Sinne der Gzechen, daß fortan bei 
allen Wahlen und Handlungen der Univerfität Prag von 
den abzugebenven vier Stimmen nicht mehr jede Nation 
eine haben folle, jondern die Böhmen deren drei, aljo 
die Baiern, Polen und Sachſen zuſammen nur eine, 
Bier Tage darauf folgte das Mandat, wonach niemand 
im Königreich, weder geiftlichen noch weltlichen Standes, 
von jett an Gregor XII. als Papft anerfennen und ihm 
Gehorſam leiften dürfe. Die befannte Folge jenes könig— 
lichen Decret8S war die Auswanderung der beutjchen 
Doctoren, Meagifter und Studenten aus Prag, die der 
Mehrzahl nach die Univerfität Leipzig gründeten. In 
Prag wurde Hus der erfte Nector der umgeftalteten 
Univerfität und ein öffentlicher Charakter, der Huffitismus 
erhielt die Oberhand in ganz Böhmen. Er wird charaf- 
terifirt durch den Zug nach innerfirchlicher Reform auf 


12 Johann Hus. 


Grund des göttlichen Wortes, das Verlangen nach 
Befferung der focialen Berhältniffe durch Einziehung des 
Kirchenguts, und durch die kraftvolle Geltendmachung 
nationaler Sonderideen. Hus ftand auf der Höhe jeines 
Lebens, er genoß die Gunſt des Hofes, die Königin 
hörte ihn gern predigen, und war vor allem der Mann 
des Volkes. 

Der erbitterte Erzbifchof legte feine Gegenminen. Es 
ging eine öffentlihe Rüge wider die Stellung ber 
Magiſter der böhmifchen Nation in der PBapitfrage aus, 
Hus war darin mit Namen genannt. Hus antivortete mit 
einem Tadel des Erzbifchofs, daß derjelbe Gregor XII. doch 
jchlieglich verlaffen und dem neugewählten Alexander V. 
jeine Dbedienz erflärt habe. Dann beauftragte Sbynko 
jeinen Inguifitor, Hus wegen vorgetragener Irrlehren 
und aufreizender Predigten aufs Korn zu nehmen, und 
Alerander V. wurde, wie Hus behauptete, bejtochen, 
in einer Bulle ven Erzbifchof anzumeijen, daß er gegen 
die Verbreitung von Irrlehren einfchreite, Widerruf der— 
jelben und Ablieferung Wiclif’fcher Schriften erzwinge, 
auch das Predigen an Orten, wo es nicht altherfömmlich, 
unterjage. 

Die Broclamationder Bulle am 9. März 1410 und 
die Berbrennung von über 200 Bänden Wiclif’fcher 
Schriften bei Glodengeläute und Tedeum-Geſang ent- 
fejjelte eine VBolfsbewegung, die dem Erzbifchof die Popu- 
larität Huffens und feine eigene Unbeliebtheit aufs klarſte 
darthun mußte. Die Studenten und das Volk ergingen 
jih in Gaſſenhauern: 


Sbynjek, Biihof, U B E- Schüler, 
bat Bücher verbrannt, 
weiß nicht, was darin ftebt! 

oder: 


Johann Hus. 13 


Shynjef bat Bücher verbrannt, 
Zdenjef hat fie angezündet, 
zur Schande der Czechen. 
Wehe allen treulojen Pfaffen! 


Es kam auch zu Thätlichfeiten von beiden Geiten. 
Der Erzbifchof aber ging noch weiter und fprach über 
Hus und alle, die mit ihm wider die Ausführung ber 
Bulle an den beffer zu unterrichtenden Papft appellirt 
hatten oder fich der Appellation noch anfchliegen würden, 
ven Bann aus. Hus blieb jedoch getroft, die Stabt- 
behörden, mehrere Barone des Landes, ja felbit König 
und Königin verwendeten fich für ihn. Er predigte nach 
wie vor in feiner Bethlehemsfapelfe vor vielen Zuhörern. 
Dabei ftreifte er auch die Zeitfragen, und es kam zwijchen 
Prediger und Gemeinde zu beftärfender Nede und Gegen- 
rede. Wir hören ihn ausrufen: „Siehe der Papſt jchreibt, 
es gebe viele unter und, deren Herzen der Ketzerei voll 
ſeien. Ich aber fage und danke Gott, daß ich feinen 
feterifchen Böhmen kenne.“ Und das ganze Volf ant- 
wortet mit dem Rufe: „Er lügt, er Lüge!” (nämlich 
ber Papſt). Hus fpricht weiter: „Ich habe gegen bie 
Befehle des Erzbifchofs appellirt und appellire fortan: 
wollt ihr euch mir auch anſchließen?“ Die Antwort 
lautet: „Das wollen wir, wir Schließen uns an!‘ „Fürchtet 
die Ercommunication nicht”, fährt der Prediger fort, „ihr 
habt mit mir nah Brauch und Gewohnheit der Kirche 
appellirt!“ Ja, er wirft die Worte in das Volk hinein: 
„Es wäre wahrhaftig nothiwendig, daß wir, wie e8 im 
Alten Bunde durh Mofen befohlen war, uns mit dem 
Schwert umgürteten und Gottes Geſetz vertheidigten!” 
Sbynko fchritt zwar, weil er auch den auf Alexander V. 
gefolgten Sohann XXIII. für fich gewonnen, bis zum 


14 Johann Hu. 


Interdiet über die Stadt Prag fort, aber die Ohn— 
macht der Hierarchie wurde nur um fo offenkundiger. 
Ein endlicher Einlenfungsverjuch fam, weil Sbynko darüber 
ftarb, nicht zur Perfection, doch Tegte fi) der Sturm 
damit für einige Zeit. Der Angelpunft des Conflicts 
it Huffens Wiclifie gewefen. 

Bald genug aber fam e8 zu neuen Reibungen 
zwiichen den Wichifiten und der Hierarchie. Der Papft 
Johann XXIL. rief 1411 die Chriftenheit zu einem 
Kreuzzuge gegen König Ladislaus von Neapel auf, 
weil er von Gregor XII. nicht laſſen wollte. Die Theil— 
nehmer und Förderer des Krieges follten deſſelben Ab- 
lajjes theilhaft werden, wie er den Kreuzfahrern ing 
Heilige Land einft gejchenkt worden ſei. Hus und feine 
Partei erklärte fich gegen den Kreuzzug und Ablaß-Unfug 
in Schrift und Predigt und auf dem Katheder. Bei 
einer großen Disputation an der Univerfität feierte Huſſens 
Freund Hieronymus von Prag einen glänzenden Sieg. 
Er begeijterte die Studenten dermaßen, daß fie vom Rector, 
der ven Vorſitz führte, kaum bejchwichtigt werden fonnten; 
nach dem Acte geleiteten fie Hieronymus und Hus feier- 
ih nah Haufe. Ein bei Hofe angejehener Edelmann 
aber veranftaltete einen den Papſt bejehimpfenden Auf- 
zug. Man führte öffentliche Dirnen mit den päpftlichen 
Bullen am Halje auf einem Wagen durch die Stadt, 

Herolde worauf und umgeben von Wiclifiten in großer 
Zahl, die mit Schwertern und Knütteln gerüftet waren. 
Sodann wurden die Bullen öffentlich verbrannt. In 
biefer neuen Phaſe des Streited ging eine Scheidung 
innerhalb der huffitiichen Partei vor fich, eine Anzahl bis— 
beriger Freunde von Hus ftanden till und wurden fogar 
jeine Feinde. Hus verhöhnte fie daher als „Krebſe“. 
Der Papft dagegen ließ den über Hus und feine An- 


Johann Hus. 15 


hänger verhängten Kirchenbann in allen Kirchen Prags 
verkündigen. Wenn Hus nicht Buße thue, ſolle ihm 
niemand Speiſe und Trank, Gruß und Herberge ge— 
währen. Jeder Ort, wo er weile, ſolle unter dem Inter— 
dict ftehen. Die Ausführung des Interdicts in Prag 
hatte eine fo große Aufregung im Gefolge, daß König 
Wenzel Hus aufforderte, auf eine Weile freiwillig ins 
Eril zu gehen, er wolle feine Ausſöhnung mit der Geijt- 
fichfeit vermitteln. 

Hus verlief die Stadt im December 1412, nachdem 
er in einer Denfjchrift vom Papfte an ben oberjten 
Kichter Jeſum Chriſtum appellirt hatte. Es heißt darin: 
Wenn e8 Anordnung aller alten Rechte fei, des göttlichen 
beider Teſtamente und des Fanonifchen, daß die Richter 
fih an den Thatort zu begeben hätten, um daſelbſt über 
das dem Angeklagten oder Verdächtigten vorgerücdte Ver- 
brechen Leute zu befragen, die ven Angeklagten kennen 
und nicht feine Nebenbuhler und Feinde find, und wenn 
der Angeklagte fichern Zutritt haben und der Richter 
mit ben Zeugen nicht fein Feind fein dürfe: fo ſei er 
offenbar vor Gott feiner Widerjpenftigfeit und Ex— 
commumication entjchuldigt, denn dieſe Bedingungen träfen 
bei ihm nicht zu. Er richte dieſe Appellation an ven 
Herrn Jeſum Chriftum, den gerechteften Richter, der jedes 
Menſchen gerechte Sache kenne, ſchütze und richte, an den 
Tag bringe und ohne Möglichkeit einer Entkräftung be— 
lohne. — Hus hielt fich meist in zwei Burgen der Um— 
gegend auf, predigte vor den Scharen, die ihm zuſtrömten, 
trat auch hin und her als Neijeprediger auf, jchrieb feine 
Hauptichrift „Won der Kirche” und ftärkte feine prager 
Freunde durch tröftliche, zuwerfichtliche Briefe. „Ich bitte 
euch”, jchreibt er einmal, „daß ihr erftlich die Sache Gottes 
erwägt, der großes Unrecht gejchieht; denn e8 wollen 


16 Johann Hu. 


gewiſſe Leute Sein heiliges Wort unterbrüden, ein für 
das Wort Gottes nützliches Heiligthum (die Bethlehems- 
fapelle) zerftören und die Menfchen jo vom Heile fern— 
halten. Erwäget ſodann die Schmach eures Vaterlandes 
und eures Stammes, eriwäget drittens vornehmlich ben 
Schimpf und das Unrecht, das man euch ungerechterweife 
zufügt. Erwäget viertens und tragt es mit Gleichmuth, 
daß der Teufel gegen euch wüthet und der Antichrift die 
Zähne fletfcht; doch wird er wie der Hund an ber Fette 
euch nichts fchaden, wenn ihr Liebhaber der göttlichen 
Wahrheit ſeid!“ 

Huffens Eril hat eine doppelte Bedeutung, einmal 
verbreiteten fich nun feine Anfchauungen nur um jo weiter, 
und ſodann löſte fich in Prag feine Suche von feiner 
Perfon; e8 wurde Far, daß fie auch unabhängig von 
ihm lebensfähig geworden fei. Die unermüblichen Schritte 
des Königs aber, den großen Conflict zu vergleichen, 
blieben ohne Erfolg, die beiden Parteien waren ſchon viel 
zu weit auseinander. Da fam die Sache Hufjens uner- 
warteterweije auf die Tagesordnung des üfumenijchen 
Concils von Konſtanz. Sigismund, König von Ungarn 
und römijcher König, mochte der Meinung fein, daß über 
die angeblichen Keßereien in Böhmen, auf die nachgerade 
von allen Seiten mit Fingern gewiefen wurde, das Concil, 
das fein Werk war, jehr gut mit befinden könne. Und 
Hus ging auf Sigismund’s Anerbieten auf bereitwilligite 
ein. Wünſchte er doch nichts jehnlicher, als fich öffent- 
(ih und volljtändig vwertheidigen zu fünnen. Der König 
jicherte ihm freies Geleit zu. | 

Hus beftellte für alle Fälle fein Haug und nahm in 
einem bebeutjamen Briefe von feinen böhmischen Freunden 
Abſchied. „Betet eifrig‘, heißt e8 darin, „geliebte Brüder, 
geliebte Schweitern, dag Chriftus mir Bejtändigfeit geben 


Johann Hus. 17 


und mich vor einem Makel bewahren wolle. Und wenn 
mein Tod zu Seinem Ruhm und eurem Nutzen etwas 
beiträgt, ſo wolle er mich ihn ohne verwerfliche Furcht 
ſterben laſſen. Wenn es uns aber mehr nützt, wolle er 
mich euch zurückgeben und ohne Makel hin- und zurück— 
führen, damit wir fernerhin vereint Sein Geſetz lernen 
und des Antichriſts Netz einigermaßen zerreißen und den 
künftigen Brüdern ein gutes Vorbild laſſen. Vielleicht 
ſeht ihr mich zu Prag vor meinem Tode nicht wieder; 
wenn aber der ſtarke Gott mich euch zurückgeben will, 
ſo wollen wir uns gegenſeitig um ſo fröhlicher wieder— 
ſehen; auf alle Fälle aber, wenn wir uns in der himm— 
liſchen Freude zuſammenfinden.“ Im Auftrage Sigis— 
mund's geleiteten Hus zwei böhmiſche Barone, Wenzel 
von Duba auf Leſtna und Johann von Chlum, genannt 
Kepka. Der dritte beſtellte Heinrich von Chlum auf 
Latzenbock, ſtieß erſt in Konſtanz zu ihnen. Von gelehrten 
Freunden reiſte mit ihm beſonders Peter von Mladeno— 
witz, der über die Reiſe und den Proceß Tagebuch geführt 
und die einſchlägigen Urkunden geſammelt hat. Er iſt 
unſer Hauptgewährsmann für die folgende Darſtellung. 


— — — 


Am 11. October nahm die Reiſe ihren Anfang. Sie 
führte über Weiden, Sulzbach zunächit nach Nürnberg. 
Dort hatten voraufziehende Kaufleute Hufjens Ankunft an— 
gejagt, darum jtand das Volk auf den Straßen, gaffend 
und fragend, welcher der Hus ſei. In den folgenden 
Städten that die Borläuferdienfte der Biſchof von Lübeck, 
der in Tagemarfchweite vorausreifte und ausfprengte, daß 
man Hus auf einem Wagen in Ketten geführt bringe; 
jo lief man ſcharenweiſe wie zu einem Schaufpiel ent- 

XXI 2 


18 Johann Hu. 


gegen, wenn die Böhmen nahten. Ueberall wurde der 
Mann, deſſen Namen in aller Munde war, gut auf- 
genommen, ja geehrt; ſodaß feine vorgefaßte Meinung 
vom Haffe der Deutjchen gegen ihn feit der Katajtrophe 
an der prager Univerfität durch die Thatjachen jelbit 
corrigirt wurde. „Wiſſet auch”, jchreibt er an feine 
böhmischen Freunde von Nürnberg aus, „daß ich bisher 
feinen Feind gemerkt habe.“ „Alſo befenne ich, daß die 
Feindſchaft wider mich von feiner Seite größer iſt als 
von den Einwohnern des Reiches Böhmen.“ In Nürn- 
berg und andern Städten ließ er deutjche und Tateinifche 
Anschläge an den Kirchthüren machen, worin er kund— 
that, daß er nach Konftanz reife, um von dem Glauben 
Rechenschaft zu geben, ven er bisher gehabt, noch habe und 
bis zum Tode mit Chrifti Hülfe behalten werde. Wer 
ihn eines Irrthums oder einer Ketzerei bezichtigen wolle, 
möge died vor dem Concil thun, dort fei ev bereit, Rede 
zu jtehen. Es fanden Unterredungen mit Geiftlichen und 
Gelehrten ftatt, Hus redete auch zu dem Bolfe, und es 
war „dankbar, wenn e8 die Wahrheit hörte”. So war 
neben der Neugier an Huffens Perfon ein Intereffe an 
jeiner Sache unverkennbar. Bon Nürnberg reifte Herr 
Wenzel von Duba dem Könige an den Rhein nach, um 
den verfprochenen Geleitsbrief für Hus in Empfang zu 
nehmen, während dieſer mit Sohann von Chlum bivect 
nah Konftanz fich wendete. Die Ankunft in Konftanz 
erfolgte am 3. November, Hus nahm Quartier in ber 
Paulsgaffe bei einer guten Frau, der Witwe Fida, in 
dev Nähe der päpftlichen Herberge. Am 5. November 
traf Wenzel von Duba ein mit dem zu Speier am 
18. October ausgefertigten Geleitsbrief. Durch benjelben 
nahm Sigismund den zum Goncil reijenden Magijter 
Hus in der bei folchen Urkunden gewöhnlichen Form in 


Sobann Hus, 19 


feinen und des Heiligen Römifchen Reiches Schuß und 
befahl allen Reichsangehörigen, ihn freundlich aufzu- 
nehmen, gut zu behandeln und ungehindert hin- und 
zurückpaſſiren zu lafjen. 

Huſſens Gegner hatten ihre Arbeit wider ven Ber: 
haften längft begonnen. Noch in Böhmen hatte man 
acht Belaftungszeugen eidlich zu Protokoll vernommen, 
die über ketzeriſche Säte des Magifters in Gefprächen 
und Predigten Ausfage thaten. Hus befam jedoch nicht 
blos Kunde davon, fondern ſelbſt eine Abjchrift des Schrift: 
jtüdes von der Hand des Notars, der die Zeugen ver- 
bört hatte. Er ftellte die Ausfagen durch Interlinear- 
bemerfungen und Zufäte zurecht: „Gott hat mir beſchieden, 
baß ich die Feinde kennen lerne und ihre Lügen wider: 
lege.” In RKonftanz waren beſonders Michael von 
Deutſchbrod und Stephan von Paletz gegen ihn 
thätig. Michael war ehemals Pfarrer von St.-Adalbert 
in Prag und fürzlich vom Papſte zu dem wichtigen Anıte 
eines Sachwalters in Glaubensjachen (procurator de 
causis fidei) ernannt worden. Paletz war ein einjtiger 
Jugendfreund und Gefinnungsgenoffe von Hus, erit 1412 
wurde er fein Gegner. Michael de causis, wie man 
ihn zu nennen pflegte, fing gleich am Tage nach Huſſens 
Ankunft an, Plakate an die Kirchthüren anheften zu laſſen 
„wider den ercommunicirten, hartnädigen, der Ketzerei 
verdächtigen Sohann Hus“. Er that es mit Lärm und 
öffentlichen Aufjehen. Später vereinigte er fich mit 
Paletz; jie nahmen mehrfache Zufammenftellungen gegen 
Hus gerichteter Artikel vor, die theilweife aus deſſen 
Schrift „Von der Kirche‘ gezogen fein jollten, und eilten 
von einem Prälaten zum andern, um Hus anzujchtwärzen 
und feine Gefangennehmung auszuwirken. Hus felbit 
verhielt fich diefen Umtrieben gegenüber ruhig und würdig. 


20 Johann Hus. 


Am 4. November begaben ſich die beiden Herren von 
Chlum zu Johann XXIII., um ihm Huſſens Ankunft zu 
melden und ihn um ſeine Hülfe zu bitten, daß Hus nicht 
beeinträchtigt werde. Der Papſt antwortete, das wolle 
er weder ſelber, noch wolle er geſtatten, daß es geſchehe, 
auch wenn Hus ihm den leiblichen Bruder getödtet hätte. 
Gegen die öffentlichen Anſchläge aber wollte er nichts 
thun: „Wie könnte ich das? Gehen ſie doch von euren 
eigenen Leuten aus!“ Gemäß weiterer Abmachungen that 
auch Hus nichts dagegen, der Papſt aber ſuspendirte das 
Interdiet und den über Hus verhängten Bann. Hus 
konnte die Stadt und ihre Kirchen frei beſuchen, nur 
ſollte er nicht dem Hochamt beiwohnen, um jeden Anſtoß 
zu vermeiden. Doch machte Hus von dieſer Erlaubniß 
keinen Gebrauch. Er blieb ſtets zu Hauſe, mit Ent— 
würfen zu Vorträgen vor dem Coneil beſchäftigt. 

Da wurde am 28. November Hus plötzlich ver— 
haftet. Man hatte das Gerücht verbreitet, der Ketzer 
habe aus der Stadt zu entweichen verſucht; es war zwar 
unzweifelhaft falſch und baſirte auf einem höchſt harm— 
loſen Vorkommniß — die auf den Heueinkauf ausziehenden 
Knechte der Böhmen hatten anfänglich die Plane des 
Wagens nicht abgenommen —, aber es wurde Veran— 
laſſung für einen großen Gewaltact. In der Mittags— 
ſtunde des genannten Tages ſchickten der Papſt und die 
Cardinäle die Biſchöfe von Augsburg und Trient, den 
Bürgermeifter von Konftanz und einen Herrn Hans von 
Baden in Huffens Herberge, um ven Magifter zu holen. 
Er habe früher gewünjcht, zu ihnen zu reden, fie jeten 
nunmehr bereit, ihn zu hören. Da ſtand zuerjt Johann 
von Chlum vom Tijche auf und fprach mit großer Heftig- 
feit, denn er ahnte die wahre Abficht der Gejandtichaft, 
Hus jtehe in des Kaiſers Schuß, und er fei vor Sigis- 


Sobann Hus. | 21 


mund für die perfönliche Sicherheit Huſſens verantwortlich. 
Es ſei des Kaiſers erflärter Wille, daß vor feiner An- 
funft in Konſtanz in Huffens Sache nichts vorgenommen 
werde. Er warne die Gefandten, der Ehre des Königs 
zu nabe zu treten. Der Bilchof von Trient entgegnete, 
man ſei einzig in frieblicher Abficht hergefommen und 
wünsche alles Aufjehen zu vermeiden. Da ftand auch 
Hus vom Tifche auf und erklärte: „Sch bin zwar nicht 
nur zu den Garbinälen hierher gefommen und habe 
niemals begehrt, zu ihnen allein zu reden, fondern zum 
ganzen Concil bin ich gefommen und will bort reden, 
was Gott mir gibt und worum man mich fragt; aber 
dennoch bin ich auf die Bitte der Herren Garbinäle bereit, 
jofort zu ihnen zu fommen, und wenn ich über etivas 
befragt werde, hoffe ich Lieber den Tod wählen zu wollen, 
ehe ich die mir aus der Schrift oder fonjtwie erkannte 
Wahrheit verleugne.” Darauf erneuerten die Gefandten 
ihre Bitte freundlich, aber fie hatten doch das Haus und 
die Nachbarfchaft mit ſtädtiſchem Kriegsvolk bejegt. Als 
Hus die Treppe herabitieg, eilte ihm feine Wirthin weinend 
entgegen, er jegnete fie zum Abſchied, dann ritt er mit 
der Gejandtihaft und Johann von Chlum nad dem 
biihöflichen Palais, wo der Papſt feine Wohnung hatte. 

Es empfingen ihn die verfammtelten Carvinäle und 
ſprachen: „Magiſter Iohannes, Vieles und Wunder- 
liche8 jagt man von Euch, daß Ihr viele Irrthümer hegt 
und im Reiche Böhmen verbreitet habt; deswegen haben 
wir Euch rufen lafjen, um mit Euch zu reden, ob dem 
alfo ſei.“ Hus erwiderte, er wolle lieber jterben, als 
an einem Irrthum fejthalten; ſobald man ihm einen 
Irrthum nachweiſe, ſei er in Demuth bereit, ihn abzu— 
legen. Die VBerfammlung erklärte dazu ihre Befriedigung 
und verließ dann den Saal, Hus blieb mit feinem Be- 


22 Johann Hus. 


ſchützer unter militäriſcher Bedeckung allein. Um 4 Uhr 
des Nachmittags verſammelten ſich die Cardinäle aber— 
mals in der Wohnung des Papſtes, um über Hus einen 
Beſchluß zu faſſen. Es waren auch die Böhmen dabei, 
von der einen Seite beſonders Michael und Paletz, aber 
auch Freunde des Angeklagten. Erſtere boten neuerdings 
alles auf, um einen Rückſchritt unmöglich zu machen, und 
gaben ſich keine Mühe, die Schadenfreude über ihre Er— 
folge zu verbergen. Hüpfend vor Freude riefen ſie aus: 
„Ha, ha! nun haben wir ihn; er wird uns nicht ent— 
gehen, bis er den letzten Heller bezahlt“ (Matth. 5, 26). 
Als es ſchon ſpät geworden war, erſchien der päpſtliche 
Haushofmeiſter vor Chlum und Hus mit dem Beſchluſſe, 
Chlum könne gehen, Hus aber müſſe dableiben. Da eilte 
der Ritter in höchſter Entrüſtung, daß man unter dem 
Vorwand einer gütlichen Conferenz den Magiſter gefangen 
genommen, alſogleich zum Papſte, den er noch in der 
Verſammlung antraf. Er warf dem Papſte mit dürren 
Worten Wortbrüchigkeit vor, er wolle ſeine Stimme laut 
erheben wider alle, welche die königlichen Briefe gebrochen. 
Der Papſt jedoch rief die Cardinäle zu Zeugen auf, daß 
er nimmermehr Hus habe gefangen nehmen laffen, und 
Iprach jpäter zu Chlum unter vier Augen: „Ihr wißt 
ja, wie ich mit den Cardinälen ftehe; die haben mir ven 
Gefangenen aufgebrungen, ich mußte ihn übernehmen.’ 
Daran ift richtig, daß in der That fchon des Papftes 
Tiara ind Wanfen gefommen war, je länger je mehr 
gewann die Anficht Boden, daß zum Beſten des Friedens 
und der Einheit der Kirche alle drei ſchismatiſche Päpite 
zur Nieverlegung ihrer Würde bewogen werben müßten, 
alfo auch Johann XXIII., der das Concil zu leiten 
gefommen war. Db aber in Sachen ver böhmischen Keteret 
Differenzen zwifchen dem Papſte und feinen Cardinälen 


Johann Hus. 23 


beſtanden, bleibt zweifelhaft. Hus wurde noch am ſelben 
Abend in das Haus eines Domherrn von Konſtanz ge— 
bracht und acht Tage lang von Bewaffneten gehütet. 
Am 6. December wurde er in das Dominicanerkloſter 
übergeführt, das auf einer Infel im Bodenſee dicht bei 
der Stadt lag. Ein finfterer, an eine Kloafe jtoßender 
Kerker nahm ihn auf, fo ungefund, daß er darin nach 
einigen Wochen erfranfte. 

Johann von Chlum ftritt ritterlich für die Freiheit 
feines Schüglingse. Er beflagte fich öffentlich über den 
Papjt und die Cardinäle und wies den föniglichen Geleits- 
brief Grafen und Herren, Biſchöfen des Concils, auch 
anjehnlichen Bürgern der Stadt vor. Sodann protejtirte 
er jchriftlich durch Anjchläge an den Kirchthüren, die ev 
eigenhändig bejorgte. Man gab auch dem heranreijenden 
König Nachricht von dem Schickſal Huffens, und der flammte 
auf, gab Befehl, Hus in Freiheit zu jegen, und drohte, 
die Thür feines Gefängniffes mit Gewalt erbrechen zu 
laſſen. Doc wir werden jehen, daß Sigismund's That— 
kraft fich in folchen Aeußerungen erjchöpfte, zu burch- 
greifendem Wollen für feine und bes Reiches Ehre 
gegenüber dem Lügnerifchen Concil fonnte er fich nicht 
aufraffen. 

Endlih in der Chriftnacht, den 25. December jpät 
nach Mitternacht, hielt König Sigismund mit feiner 
Gemahlin Barbara von Eilfey, vielen fürftlichen Herren 
und Frauen und einem glänzenden Gefolge von etwa 
taufend Berittenen, bei hellem Fadelfchein und ſchneidender 
Kälte, feinen fejtlichen Einzug in Konſtanz. Er gönnte 
der Königin und den vornehmen Damen faum mehr als 
die Zeit, fich in geheizten Zimmern von der Reiſe zu 
erwärmen und ihren Anzug zu wechjeln; dann begab er 
ih noch vor Anbruh des Tages in feierlichem Zuge 


24 Sobann Hus. 


unter Fadelichein in die helferleuchtete Kathedrale, wo 
der PBapft ihn empfing, der das Hochamt mit ungewöhn- 
licher Pracht perfünlich feierte. Nach althergebrachter 
Sitte diente der römiſche König dabei, als Diafonus 
gekleidet, mit der Krone auf dem Haupte, am Altar und 
fang mit EHangvoller Stimme das Evangelium: „Es ging 
ein Befehl vom Kaifer aus.” Nach der Mefje übergab 
ihm der Bapft ein geweihtes Schwert mit dem Bedeuten, 
e8 zum Schirm der Kirche zu gebrauchen: was Sigis— 
mund mit freudiger Bereitwilligfeit zujagte, 

Die Eoncilsverhandlungen nach den Feiertagen 
betrafen Hus und feine Gefangenschaft. Sigismund ging 
mehreremale erzürnt aus der Sitzung weg, ja verließ 
jogar einmal die Stadt. Aber die verfammelten Väter 
jetten feinem Recht, einem Unterthanei feinen Schuß 
zu gewähren, ihr Necht entgegen, einen ver Ketzerei Ber- 
bächtigen nach den bejtehenven Kirchengejegen zu richten, 
und als er die Stadt verlaffen, Tiefen fie durch eine 
Gejandtichaft anfragen, wozu denn das Concil da wäre, 
wenn er nicht geftatten wolle, daß es feine gejetliche 
Wirkffamfeit entfalte. Es bleibe ihm nichts übrig als 
auseinanderzugehen. Der jchwahe Mann wagte nicht 
geltend zu machen, daß er nicht die Zuftändigfeit der 
Väter, über Hus zu befinden, bezweifle, wohl aber bie 
Ehrlichfeit ihres Verfahrens. Somit ließ er feit dem 
1. Januar 1415 dem Proceß gegen Hus feinen Lauf, 
auch tröftete er fich mit der Autorität der geltend ge— 
machten Meinung, daß da nach göttlichem und menjch- 
lihem Rechte fein zum Nachtheil des katholiſchen Glaubens 
gegebenes Verſprechen gültig jein könne, er auch nicht ver- 
pflichtet jei, das einem Keter gegebene Wort zu halten. 
Somit war des Magifters Tod im Grunde fchon befiegelt, 
denn bie Väter veritanden e8 weder, noch waren fie willeng, 


Johann Hus. 25 


mit ihm wirklich zu verhandeln, fie liefen fich genügen, 
ftarf genug zu fein, ihn zu verdammen. 

Am 4. December 1414 hatte der Papft zur Vor— 
unterfuhung über Hus einen Ausſchuß von drei 
Biſchöfen beftellt. Sie follten alle Mafregeln ergreifen, 
die fie zur Ermittelung und Sicherftellung der Wahrheit 
binfichtlich der gegen Hus erhobenen Beichuldigungen für 
nöthig erachten würden; das Endurtheil wurde ihnen 
ansdrüdlih nicht anheimgeftellt. Die Commiffion hielt 
die üblichen Rechtsformen inne. Weil ein Inquiſit die 
Zeugen, die in feiner Sache deponiren follten, mußte 
ſchwören fehen, fo führte man fie Hus im Gefängniß 
zu, einmal nicht weniger als 15 an einem Tage, un— 
geachtet eben damals Hus fo krank war, daß für fein 
veben zu fürchten war. Der Angeflagte bat um einen 
Anwalt zu feiner Vertheidigung und um gegen die Zu: 
afjung von perfönlichen Feinden zur Zeugenjchaft Ein- 
wand zu erheben. Man wies aber das Verlangen eines 
Rechtsbeiſtandes für einen der Ketzerei Verdächtigen 
ſchließlich als ungefeglih ab, obgleih man anfänglich 
demſelben nachlommen zu wollen erklärt hatte. 

Weiter Tegte die Commiffion dem Angeklagten fein 
Buch „Von der Kirche” vor, damit er die Autorjchaft 
anerfenne. Sodann z0g Stephan von Paletz aus dem— 
ſelben 37 irrige Lehrfäte aus und nahm in‘ weitern 
d Artikeln Bezug auf andere Lehr» und Streitjchriften, 
auf verwerfliche Predigten, Briefe und andere Neuferungen 
des Inquifiten. Diefe Anktlagejchrift wurde Hus zu: 
geitelft, als er fich von feiner Krankheit mit Hülfe der 
päpftlichen Leibärzte und in einem gefündern Gelaß des 
Kofters einigermaßen erholt hatte. Er gab feine Verant- 
wortung fchriftlich. Er führt die ihm ſchuld gegebenen Punkte 
der Reihe nach buchjtäblich auf und knüpft an jeden feine 


26 Johann Hus. 


Beleuchtung. Bon vielen Artifeln beweiſt er, daß jie 
unrichtig aufgefaßt, verftümmelt und aus dem Zuſammen— 
hang geriffen jeien, aljo einen andern Sinn gäben, als 
er für fie vermeint gewefen. Von den Artikeln, die er 
anerfennt, beweift er, daß die angeblichen Irrlehren viels 
mehr Wahrheiten feien, indem er fie aus der Schrift, 
auch wol aus den Kirchenvätern begründet. Hus hält 
jeine von uns oben entwidelten Gebanfen über die wahre 
Kirche Chrifti voll und ganz aufrecht. 

Die erhobene Anklage noch auf einen weitern An— 
flagepunft zu erjtreden, gejtattete eine bei Hufjens 
Anhängern in Böhmen inzwilchen eingetretene Cultus— 
veränderung. Magifter Jakob von Mies, das Haupt 
der böhmischen Reformer nach Hufjens Abreife, hatte be- 
gonnen, die Rückkehr zum Abenpmahlsgenuß unter beiderlei 
Geſtalt für die Laien nicht blos theoretifch zu fordern, 
jondern thatjächlich einzuführen. Allein die Huffiten waren 
jich über diefe Art ver Abenpmahlsfeier, die das Sinn- 
bild ihrer Partei werden jollte, damals noch nicht klar 
und unter fich uneinig. Hus wies von Konſtanz aus 
in einem kurzen Aufjage die dogmatiſche Correctheit der 
communio sub utraque nach, meinte aber, daß e8 wenn 
fomit auch erlaubt, doch nicht Pflicht fei, im Abendmahl 
Brot und Wein zu genießen. Man möge dahin wirken, 
daß durch eine Bulle die Spendung des Kelches an die 
gejtattet werde, welche ihn aus Andacht begehrten. Als 
das Concil aber unter dem 15. Juni 1415 den Kelch 
für die Laien geradezu verbot, erjchten ihm dieſe Ueber— 
ordnung von Herkommen über Gotted Wort als Wahn- 
wis, und er bat jeinen Freund Hawlik, Prediger an 
Bethlehem zu Prag, Jakob von Mies nicht länger zu 
widerftreben: „Leifte dem Kelchjaframent des Herren feinen 
Widerſtand, das Chriſtus felbjt und durch feinen Apoſtel 


Johann Hus, 27 


eingejegt hat: denn die Schrift ift nicht dawider, jondern 
allein eine nach meiner Anficht aus Nachläffigfeit ein- 
geriffene Gewohnheit. Nicht ver Gewohnheit, fonvern 
allein Chriſti Vorbild und der Wahrheit müfjen wir 
folgen. Soeben hat das Concil, unter Berufung auf 
das Herfommen, den Kelchgenuß von feiten der Laien 
als Irrthum verdammt, und wer ihn ausübe, jolle, 
wenn er nicht wieder zu Einficht komme, als Häretifer 
beftraft werden. O diefer Echurferei! Chrifti Einſetzung 
als Irrthum zu verdammen! Ich bitte um Gottes willen, 
dag du Magifter Jakobell“ (fo gewöhnlich um feiner 
fleinen Statur willen genannt) „nicht länger befämpfit, 
damit feine Spaltung unter den Gläubigen entftehe, worüber 
ſich der Zeufel freut.‘ | 

Die Unterfuchungscommiffion z0g ihre Arbeit jehr in 
die Yänge, und es trat ein Creigniß ein, das geeignet 
war, Hus Hülfe zu bringen. Johann XXIII. Hatte 
in beftimmtefter Zufage verfprochen, dem Wunſche des 
Concils zufolge zu vefigniven; bald aber fuchte er wieder 
Ausflüchte und entwich fchlieglih am 20. März ver- 
fleivet aus der Stadt, um von einem fichern Orte aus 
die Auflöfung der unbequemen Verſammlung verkünden 
zu fönnen. Dem flüchtigen Papfte folgten auf jeinen 
Befehl alle feine Diener, und jomit legten die Wächter 
Huffens die Schlüffel zu deſſen Gefängniß in des Königs 
Hand und verließen die Stadt. Nun wäre ed dem 
Könige ein Leichtes gewefen, feinem Geleitöbrief nach- 
träglich Beachtung zu verfchaffen, aber welchen Zweck 
hatte e8, einem machtlofen Gefangenen gegenüber eine 
Gewiffenspflicht zu erfüllen, wenn e8 bie verfammtelten 
Väter ungnädig aufnahmen, die im Intereffe des Königs 
um die Einheit der Kirche fo kräftig fich mühten! Der 
König beſprach fih im Gegentheil mit den Vätern des 


28 Johann Hus. 


Concils, was mit Hus werden jolle, und nach Deren 
Rath übergab er den Gefangenen noch an bemfelben 
Zage, da er die Schlüffel empfangen (24. März), dem 
Biihof von Konſtanz. Hus hatte in feinen nach bes 
Papftes Flucht gefchriebenen Briefen fomit recht gehabt, 
fih fanguinifchen Hoffnungen nicht hinzugeben, ſondern 
nur die Möglichkeit feiner Befreiung ins Auge zu fallen. 
Dergeblid war die BVorftellung der zu Meſeritz ver: 
jammelten Stände von Böhmen und Mähren gewejen, 
die zu Anfang des Jahres mit Appell an des Königs 
fürftliche Ehre, unter Hinweis darauf, daß er Böhmen 
zu erben gebenfe, für Hus Befreiung aus der un 
gejeglichen Haft und öffentliches, freies Verhör ver- 
langt hatten, „damit, wenn jemand ihn eines Irrthums 
halben anflagen wolle, er öffentlich fich vertheidigen könne, 
wie er öffentlich und ohne Furcht das göttliche Gejet 
geprebigt hat. Und wenn er rechts- und ordnungsgemäß 
bei einem Irrthum betroffen wird, foll gejchehen, was 
die Gerechtigkeit fordert”. 

Der Biſchof von Konftanz brachte feinen Gefangenen 
in jein feſtes Schloß Gottlieben am Rhein, dreiviertel 
Stunden unterhalb ver Stadt. Dort wurde Hus im oberjten 
Geſchoß des weftlichen Thurmes untergebracht. Wenn er 
im Gefängniß bei den Dominicanern noch hatte Briefe 
Ihreiben dürfen und Befuche empfangen, fo trug er jeßt 
tagsüber Fußfeffeln und wurde in der Nacht außerdem 
auf jeinem Bette mit Handfchellen an die Wand gefeffelt. 
Die Nahrung war ganz färglich, niemand wurde zu ihm 
gelaffen, fein einziger Brief aus diefer zehnmöchentlichen 
Gefangenſchaft ift vorhanden. 

Der erlofchene Auftrag des Papftes an bie Unter- 
juchungsrichter wurde vom Goncil an eine neue Com- 
miſſion von vier Mitgliedern erneuert. Die Verhöre, 


Johann Hus. 29 


bie biejelbe mit Hus anftellte, gejchahen ganz im Ge: 
heimen. 

Aber eben dieje Heimlichfeit des Verfahrens und bie 
jtrengere Haft ihres Führers trieben die Böhmen und 
Mähren, ja jelbft einige Polen zu erneuerten Be- 
ihwervden. Wer fehen wollte, konnte jest erfennen, 
daß Hus doch fein einjamer DVerlafjener fei, jondern daß 
ſein Volk hinter ihm ftehe. So überjchiekten die zu Brünn 
verfammelten Barone dem König unterm 8. Mai eine 
Denkſchrift, die das jetige noch härtere Gefängniß Huffens 
und die Heimlichkeit des Proceffes beflagte. Am 12. Mai 
hingen zu Prag nicht weniger als 250 Edelleute ihre 
Siegel an eine Denkſchrift ähnlichen Inhalts, die ihre 
Spige in folgenden Sätzen hat: Hus, ber nichts ver- 
ihuldet und nunmehr genug erbuldet habe, möge aus 
dem Gefängnig entlaffen, in Freiheit geſetzt und nicht 
länger mit Gewalt und Unrecht unter Anklage gehalten 
werden zu Schimpf und Schande der ganzen böhmijchen 
Nation. Wenn das nicht gejchehe, werde Sigismund 
und dem ganzen Reiche Böhmen ein großer Schaden er: 
wachen. Schon werbe nvieljeitig Mistrauen gegen ben 
König ganz offen laut. Hus müffe frei nah Böhmen 
zurüdfehren. Diefe Eingabe war von einem Schreiben 
an die böhmischen und mährifchen Hofbeamten des Könige 
begleitet, worin dieſe um fräftige Verwendung für den— 
jelben Zwed angegangen wurden. Die legtern aber 
waren jchon felber vorgegangen. Sie verlangten ein 
ichnelfe8 Ende des Proceffes, da bei der Erjchöpfung 
jeiner Körperfräfte für Huffens Verſtand zu fürchten jet. 
Das diesbezügliche Schriftitüc war von Wenzel von Duba, 
Sohann von Chlum, Heinrich Latzenbock und andern 
Böhmen, dazu von den in Konftanz anmejenden Polen 
unterzeichnet und wurde einer im Franciscanerklojter ftatt- 


30 Sobann Hus. 


findenden Conferenz von Deputirten der vier Nationen 
des Concils (deutjche, englifche, franzöfifche und italienijche) 
übergeben, zugleich beichwerten fich die Böhmen für ihre 
Nation, daß Gegner Böhmens verleumbderifche Gerüchte 
beim Concil verbreitet hätten, wie 3. B. daß in Böhmen 
das Saframent des Blutes Chrifti in gemeinen Flajchen 
umhergetragen werde, und daß Schufter Beichte hörten 
und das Abenpmahl fpenveten. Als dieſe Beſchwerde 
verlefen wurde, jtand der in der VBerfammlung anwejende 
Biihof Sohann von Leitomifchl auf und fprach, bie 
Klage gehe ihn und die Seinigen an, und er nehme bie 
Berantwortung für feine Reden auf ſich. Denn aller- 
dings habe er mehrere Unorbnungen, die in nenejter Zeit 
in Böhmen, infolge der überhandnehmenden Communion 
unter beiderlei Gejtalt, eingeriffen, jo wie fie ihm aus 
Böhmen glaubwürdig berichtet worden, zur Kenntniß des 
Concils gebracht. Solches fei jedoch nicht in der Abficht 
geichehen, die Ehre feines Vaterlandes und feines Volkes 
zu fränfen,; im Gegentheil liege ihm dieſe Ehre mehr 
am Herzen als feinen Gegnern, die fie eben durch an— 
jtößige Neuoronungen bloßzuftellen feine Scheu trügen. 
Um jedoch auf die Klage eine begründete Antwort er- 
theilen zu fönnen, bat er fich die nöthige Frift aus, die 
ihm auch ertheilt wurde, 

Am 16. Mai erhielten die böhinischen und polnischen 
Herren ſowol vom Concil als vom Bifchof von Leitomijch! 
Antwort. Letzterer hielt jett jchriftlich feine neulich ge- 
gebene Erklärung von Anftößigfeiten beim Heiligen Mahle 
infolge der wichfitiichen Forderung beider Elemente für 
die Laien aufrecht. Jüngſt habe eine prager Frau das 
einem Priefter gewaltfam abgedrungene Saframent eigen: 
mächtig genoffen und zur Entjchuldigung diefes Frevels 
viele Irrthümer behauptet und vertheidigt. Won einer 


Johann Hus. 31 


Spendung der Sakramente durch Schuſter jedoch habe er 
niemals etwas vorgebracht, beſorge aber, daß ein ſolcher 
Skandal in die Länge auch noch zum Vorſchein kommen 
könne. Darum bat er wiederholt die Väter des Coneils, 
zur Unterdrückung ſolcher Unordnungen unverzüglich ge— 
eignete Maßregeln zu ergreifen. Von ſeiten des Concils 
gab der Biſchof von Carcaſſonne den Herren mündlich 
die Antwort, durch Huſſens Gefangennehmung könne der 
königliche Geleitsbrief um ſo weniger gebrochen worden 
ſein, als man eben erfahre, daß Hus dieſen Brief erſt 
15 Tage nach ſeiner Gefangennehmnng erhalten habe; 
auch fei e8 unrichtig, daß er ohne vorläufige Unterfuchung 
eingeferfert worden, da e8 befannt ei, daß er nach Kom 
citirt, wegen Nichterfcheinens in contumaciam verurtheilt 
und ercommunicirt, feine Abfolution gefucht und erhalten 
habe, daher er folglich als Erzfeter (haeresiarcha) gelten 
könne, zumal er unter folchen Umftänden auch in Konftanz 
öffentlich zu predigen fich unterftanden hätte. Zwei Tage 
jpäter (18. Mai) replicirten die Herren, das Concil ſei 
binfichtlich des Datums in Huffens Geleitsbrief im Irrthum 
und fränfe die Ehre der königlichen Reichskanzlei, indem 
es die Möglichkeit vorausjege, daß biefelbe eine Urkunde 
um volle zwei Monate zurücdatiren und jomit fäljchen 
könne. Sie beriefen fi auf den König felbjt, ver die 
Ausfertigung angeoronet, auf die Fürften und Herren, 
die dabei gegenwärtig geweſen; es ſei nicht der Herren 
Schuld, daß am Tage jener Gefangennehmung niemand 
den Brief habe leſen wollen; auch ſei e8 unwahr, daß 
Hus in Konftanz jemals öffentlich gepredigt habe, da er 
jogar nie über die Schwelle des von ihm bewohnten 
Haufes gekommen ſei u.f.w. Solche Neben und Gegen- 
reden wurden dann an den folgenden Tagen noch fort- 
gejett und arteten zulett in bittere Perjönlichkeiten zwiſchen 


32 Johann Hus. 


dem Bilchof von Leitomifchl und den Baronen aus, End— 
(ih auf die Bitte der lettern um Freilaſſung des Ge- 
fangenen, damit er fi an Körper und Geift erholen 
fönne, indem die Herren jede gewünjchte Bürgjchaft leiſten 
wollten, daß er dieje Freiheit nicht missbrauchen werde, 
antwortete am 31. Mai der Batriarh von Antiochien im 
Namen des Concils, daß man zwar Hus auch gegen 
taufend Bürgfchaften nicht auf freien Fuß jegen könne, 
daß aber das Eoneil den Bitten der Barone hinfichtlich 
ſeines öffentlichen Verhörs Folge geben und ven Ge— 
fangenen am nächjtlünftigen 5. Juni in einer öffentlichen 
Verſammlung hören wolle. 

So hatte man der gerechten Forderung ber öffent- 
fihen Meinung endlich nachgegeben; aber für den Aus- 
gang biefer öffentlichen Vernehmung war e8 von übeljter 
Vorbedeutung, daß das Eoncil am 4. Mat jene feit 1403 
oft erwähnten 45 Artikel Wielif's verdammt, ihn jelbit 
für einen bis an fein Ende unverbeiferlichen Keter er- 
klärt und ben obenerwähnten fanatiichen Beichluß gefaßt 
hatte, der 1427 an Wichf’8 Gebeinen vollzogen wurde. 
Am 5. Juni wurde Hus aus Gottlieben nach Konſtanz 
in das Franciscanerflofter gebracht, wo er bis zu feinem 
Tode verblieb. Zwei Tage vorher war der abgejette und 
eingefangene PBapit Iohann XXIII. in Gottlieben ein- 
gebracht worden, ſodaß der eine hohe Gefangene des 
Concils den andern ablöfte. 


Am 5. Juni, einer Mittwoch, verfammelten 
ih im Refectorium der Franciscaner zum eriten Ver— 
hör des Erzfeters faſt alle auf dem Concil anwefenden 
geijtlichen Notabilttäten, die Cardinäle, Erzbifchöfe, Biſchöfe 


Johann Hus. 33 


und Brälaten; ſodann viele Theologen und andere Per: 
jonen. Bevor der Gefangene herbeigebracht wurde, gefchah 
die Verleſung des Ergebnifjes der Vorumnterfuhung. Ein 
Böhme, der in des Vorlejers Nähe zu ftehen gekommen 
war, erblidte unter den zum Vortrag bejtimmten Stüden 
auch das bereits fertige Verdammungsurtheil des Hus. 
Er fette dem gleichfalls anmwejenben Peter von Mladenowitz, 
und biefer die Herren von Chlum und Duba in Kennt: 
niß davon, welche augenblidlich zu Sigismund eilten, 
ihn davon zu benachrichtigen. Der König fchiete fofort 
Ludwig, den Pfalzgrafen vom Rheine, und den Burg- 
grafen Friedrich non Nürnberg, die verfammelten Väter 
vor einer Üübereilten Entfcheivung in der Sache zu warnen. 
Hus folle geduldig angehört werben, und die Artikel, über 
die Fein Ausgleich erzielt werde, feien zu des Königs 
Kenntniß zu bringen, damit er fie einer Anzahl noch zu 
beitimmender Doctoren zum Durchficht übergeben könne. 
Auch brachten die Barone den genannten Yürften bie 
Autographe der ftrittigen Werfe Huſſens zur Uebergabe an 
das Concil, damit fie zur Controle der aus ihmen ge— 
ihöpften Anklagepunkte dienen könnten; doch follten fie 
zurücerjtattet werben. 

Nachdem Hus in die DVerfammlung eingeführt 
worden und bie Fürften fie verlaffen hatten, wurden ihm 
die joeben genannten Hanpdjchriften (e8 waren jein Buch 
„Bon der Kirche“, feine Streitjchriften wider Paletz und 
Stanislaus von Znaim) mit der Frage vorgelegt, ob 
er fie als die feinigen anerfenne. Hus jah fich die Bücher 
genau an, befannte ſich zu ihnen, indem er fie dabet in 
die Höhe hob, und erklärte zugleich feine Bereitwilligfeit, 
wenn man ihn belehre, daß Irrthümer darin enthalten, 
diefelben zu widerrufen. Hierauf verlas man die aus 
jeinen Schriften ausgezogenen Sätze und die Zeugen- 

XXIII. 3 


34 Sobann Hus. 


ausſagen. Als aber der Magijter auf einzelne Punkte 
eingehen und fich vertheidigen wollte, fchrien viele zu— 
gleich auf ihn ein; fuchte er nachzumweifen, daß man in 
den Auszügen gewiſſe Ausdrüde von ihm misdeutet habe, 
jo hieß es: „Laß deine Sophifterei und antworte Ja 
oder Nein!” Berief er ſich auf Ausiprüche von Kirchen- 
vätern, jo viefen viele: „Das fteht nicht in ihnen! Das 
gehört nicht hierher!” Schwieg er, fo fagten andere: 
„Nun jchweigeft du! Das ift ein Zeichen, daß du wirk— 
(ih diefe Irrtümer hegeſt!“ Für feine Bücher rief 
man nach dem Teuer. So leichtfertig verfuhr ein bie 
Geſammtkirche darftellender, „im Heiligen Geifte” ver- 
jammelter Körper, der in allen Glaubens- und Kirchen: 
jachen abjoluter Richter und Gejetsgeber jein wollte! ‘Der 
von den aufgeregten Vätern umtobte Angeklagte blieb 
ruhig und ließ fich nicht einfchüchtern. Sobald er wierer 
zu Worte fam, bemerkte er mit lauter Stimme: „Ich 
dachte, daR auf diefem Concil mehr Anftand, Frömmig— 
feit und Zucht fein würde!” Darauf ermwiderte der 
Präjident, Iohann von Brogni, Cardinal-Biihof von 
Oſtia: „Was fagft du? Im Schlojfe haft du eine 
demütbigere Sprache geführt!‘ Hus gab ihm zur Ant- 
wort: „Weil dort niemand auf mich einjchrie; hier aber 
jchreit ihr alle!“ Man mochte fühlen, daß man fich eine 
Blöße gegeben, und erfennen, daß jo die Angelegenheit 
nicht gefördert werden fünne. Die Situng wurde ge= 
Ihloffen und auf Freitag, den 7. Juni, vertagt. 

Der Erzbifchof von Riga führte Hus in fein Gefängniß 
zurüd. Der Magifter begegnete dabei feinen Freunden, 
gab ihnen die Hand und fpradh: „Habt feine Furcht 
um mich!“ Sie antworteten: „O nein‘, und er jprach: 
„Ich weiß e8 wohl, ich weiß es wohl, ALS er die Stufen 
emporjchritt, jegnete ev das Volk, lachte und war fröhlich. 


Johann Hus, 35 


Sreudige Zuverficht athmen auch feine Briefe aus biefen 
Zagen. So wünjcht er fih Glück dazu, daß es ihm 
bereits gelungen, zwei Artikel von der Klageliſte ftreichen 
zu machen, und lebt ver Hoffnung, daß e8 auch bei andern 
noch gelingen werde. 

Freitag, den 7. Juni, fand eine faft totale Sonnen 
finfterniß ftatt; eine Stunde nah dem Naturfchaufpiel, 
des Vormittags um 10 Uhr, verfammelte fich das Coneil 
zum zweiten Verhöre Huffens, wiederum bei ben 
Sranciscanern. Die Zugänge wurden (wie auch am 5. und 
8. Juni) von bewaffneten Stabtjoldaten beſetzt gehalten, 
ah König Sigismund wohnte der Verhandlung bei. 
Es ging an diefem Tage weniger ftürmifch zu als am 
eriten, denn e8 war von jeiten bed Königs und bes 
Concils kundgemacht worden, daß alle Schreier aus der 
Berjammlung binausgewiejen werden follten. Die Grund— 
lage der Vernehmung bildeten gewiffe Artikel, welche von 
Zeugen bejtätigt fein jollten und theils Huffens Buch „Von 
der Kirche“, theil8 Vorgänge in Prag feit dem Jahre 1408 
betrafen. Das Verhör drehte fich bejonders um Huffens 
Berhältnig zu Wick. Der erfte Anklagepunft lautete 
auf wichfitiiche Leugnung der Brot-Verwandlungslehre. 
Als Hauptlämpfer gegen Hus trat Peter d'Ailly auf, 
der Cardinal von Cambrai, welcher als Vorſitzender der 
Slaubenscommiffion des Concils das Verhör leitete. 
Ally ftand zwar unter den Männern obenan, bie es 
damals unternahmen, die Einheit der Kirche wiederher- 
zujtellen, indem fie über die jtreitenden Päpſte hinweg 
auf die Autorität der Univerfalfirche und ihre Repräſen— 
tation im Concil zurüdgingen; er wollte auch jene „Re— 
formation an Haupt und Gliedern“, die der herzliche 
Wunſch aller Ernjtgefinnten war — aber daß dazu das 
geſammte Firchliche Leben aus dem Worte Gottes von 

3* 


36 Johann Hus. 


Grund auf zu erneuern und mit Beſſerung von Einzel— 
heiten beſonders ohne Antaſtung der hierarchiſchen Ver— 
faſſung nichts zu erreichen ſei, das blieb ihm verſchloſſen, 
und ſomit konnte er gegen Hus, der die offenen Schäden 
der Kirche doch auch wollte heilen helfen, weil derſelbe 
evangeliſch, nicht hierarchiſch geſinnt war, mit der größten 
Antmofität vorgehen. Dazu fam ver philofophiiche Gegen— 
jat der beiden Männer. Dem Nominaliften Ailly erſchien 
ber verhafte Realismus Huffens als eine nothwendige 
Duelle aller denkbaren Ketzereien. 

Hus betritt beharrlich, daß er Wiclif's Angriff gegen 
die Lehre von der Wandlung fich angeeignet habe. 
Er blieb auch feſt, als Aillh und mehrere englische Doctoren 
aus jeinem Realismus folgern wollten, daß er die Wand: 
lung verneinen und das Bleiben des Brote auch nach 
der Conjecration behaupten müjje. Seine Bertheidigung 
machte doch folchen Eindrud, daß einer von den englijchen 
Doctoren im Concil ſelbſt ausjprach, diefe philofophifchen 
Fragen gehörten nicht zur Sache und Hus jet in Betreff 
des heiligen Abendmahls rechtgläubig. 

AS Hus von den Zeugenausfagen mehrere geradezu 
für falih und nur aus bitterer Feindſchaft erbichtet er- 
Elärte und fich dagegen auf Gott und fein Gewiſſen berief, 
bemerkte ihm d'Ailly, das Concil fünne nach der Be— 
ichaffenheit feines Gewiſſens feinen Spruch fällen, fondern 
allein nach den vorhandenen Ausjagen beeiveter Zeugen. 
Hus fcheine in der Ablehnung diefer Zeugen zu weit zu 
gehen, da er auch den parifer Kanzler Gerjon für ver- 
bächtig halte, der gewiß ein jo berühmter Doctor ſei, 
wie nur einer in der ganzen Chrijtenheit gefunden werden 
fönne. 

Ferner wurde Hus zur Laft gelegt, daß er gegen bie 
Berurtheilung der 45 Artikel Wiclif’s in Prag opponirt 


Johann Hus, 37 


babe. Er gejtand, daß er mehrere ver Artifel für wahr 
halte, betonte jedoch, daß er für feine Perſon feinen der 
genannten Sätze hartnädig behauptet, ſondern nur ihrer 
Berurtheilung in Bauſch und Bogen und ohne Beweis 
fich widerjegt habe. Als ihm weiter auch jchuld gegeben 
wurde, daß er tiefe Verehrung für Wiclif's Perſon 
geäußert habe, ftellte er das feineswegs in Abrede; wenn 
er auch feine Gewißheit habe, dag Wichf ſelig geworden 
jet, jo fönme er doch nur wünfchen, daß feine Seele 
einmal dahin gelangen möge, wo Wiclif’8 Seele ei. 
Lautes Gelächter und Kopfichütteln war die Antwort der 
Berfammlung. 

Daſſelbe Gelächter ertönte, als der Angeklagte auf 
die Frage, ob e8 erlaubt fei, auch an Chriftum zu 
appelliren, antwortete: „Sch befenne hier öffentlich, 
daß feine Appellation rechtmäßiger und wirffamer tft als 
die an Chriftum.” Es war ja nach jener Verfammlung 
Meinung ein echtes Keterfriterium, dem Willen der firch- 
(then Autorität fich nicht zu fügen und dennoch Chriſt 
fein zu wollen. Als römiſch gedacht läßt fih Huffens Wort 
ver Ausfpruch gegenüberfteflen, den einer der Doctoren 
bei ven Verhandlungen, ihn zum Widerruf zu beivegen, 
gethan Hat: „Wenn das Soncil fagen würde, dak du 
mr ein Auge haft, obwol du zwei haft, jo mußt du 
mit dem Goncil befennen, daß dem alfo ſei!“ 

Ferner maß man Hus die Schuld an den Zerwürf— 
niffen innerhalb der prager Umiverfität fowie an ven 
Gewaltthätigleiten bei, welche in der Hauptitabt gegen 
Prälaten und Klerifer vorgekommen feien, auch Anderes 
der Art rücdte man ihm vor. Mit Gefchid und Klar- 
heit lehnte Hus jede perjönliche Verantwortung Für folche 
Vorfälle ab. 

Arm Ende konnte Ally es wicht unterlaffen, Huffens 


38 Johann Huf. 


Prahlerei zu rügen, daß er ganz freiwillig zum Goncil 
gefommen fein wolle, und wenn er nicht hätte fommen 
wollen, weder König Wenzel, noch König Sigismund ihn 
zu bdiefer Reife hätten zwingen fünnen. Der Magiiter 
antwortete, dem fei in der That alfo: er habe fo viele 
große Herren in Böhmen für fih, daß diefe ihn auf 
ihren Burgen volllommen zu jchügen in der Lage gewejen 
wären. „Welche Vermefjenheit!” rief der Kardinal mit 
fichtbarer Entrüftung aus. Doch es ſprach nunmehr 
Johann von Chlum, Hus rede die Wahrheit: „Ich 
bin ein armer Edelmann in unferm Yande, und doch ver- 
möchte ich einziger an ein Jahr lang gegen welche Macht 
immer ihn zu fchirmen. Und es gibt viele große Herren, 
die ihn lieben, mit jehr feſten Schlöffern, die ihn jchirmen 
fönnten, folange fie wollten, felbjt gegen beide genannte 
Könige,” 

GSeichloffen wurde die Situng durch Ermahnungen 
des Cardinals und felbft des Königs an den Angeklagten, 
er möge fich doch dem Concil unterwerfen. ‘Der König 
berichtigte zuerft den Irrthum hinfichtlich des Datums 
in dem vielbefprochenen Geleitsbriefe. Diejen Brief und 
jeinen Töniglihen Schuß habe er Hus allerdings noch 
vor deſſen Abreije aus Böhmen zugefichert und ihm auch 
Öffentliches Gehör zu verfchaffen verfprochen; darum habe 
er ihn auch dem beſondern Schuße der Herren von Chlum 
und Duba empfohlen, obgleich man behaupte, daß er einen 
der Ketzerei Verdächtigen in feinen Schuß zu nehmen 
nicht befugt gewejen. Nun ſei Hus ein vuhiges öffent- 
liches Gehör zugeftanden und damit das königliche Ver— 
iprechen gelöft worden. „Es erübrigt“, fuhr der König 
fort, „nichts mehr, als mich den Ermahnungen des Car- 
dinals anzuschließen, daß du nicht auf deinem Eigenfinn 
beteheft, jondern dich gänzlich der Gnade des Concils 


Johann Hus. 39 


anvertrauft. Es wird mir, meinem Bruder und dem 
Königreich Böhmen zu Liebe dich gnädig aufnehmen und 
bir feine jchwere Buße auferlegen. Willft du aber auf 
deinem Eigenfinn beharren, fo werben die Väter ſchon 
wiſſen, wie fie dich zu behandeln haben. Sch habe ihnen 
zugejagt, daß ich feinen Ketzer bejchügen werde; ja wollte 
jemand hartnädig auf feiner Keterei beftehen, jo wäre 
ich ber erfte, der ihn auf den Scheiterhaufen führte. 
Darum möchte ich dir nochmals rathen, dich ganz im die 
Gnade des Concils zu ergeben, und zwar je eher, je 
bejfer, damit du nicht in noch tiefere Schuld verfalfeft.‘ 
Hus antwortete furz mit einem Danke für den empfangenen 
föniglichen Schug- und Geleitsbrief und mit der wieber- 
holten Betheuerung, er jei ganz von freien Stüden hierher 
gefommen, und nicht in der Abficht, irgendetwas hart- 
nädig zu vertheidigen, vielmehr in aller Demuth fich eines 
befjern belehren zu Lafjen, falls man ihm nachweife, daß 
er in irgendeinem Stücke geirrt habe. 

Die Situng wurde gejchloffen und einen Tag ver: 
tagt, der Erzbiſchof von Riga führte ven Angeklagten in 
jeinen Kerfer zurück. 

Das dritte und entjcheivende Verhör in Huſſens 
Sade fand am 8. Juni, abermals unter dem Präfidium 
des Cardinals Peter d'Ailly und an demſelben Orte ftatt; 
wiederum war außer ben Vätern König Sigismund er- 
ihienen, von böhmijchen Freunden ftanden Hus Wenzel 
von Duba, Johann von Chlum und Peter von Mladeno— 
wiß zur Seite. Der Angeklagte wurde über 39 zum 
Vortrag gebrachte Artikel vernommen, von denen 26 aus 
jeiner Schrift „Von der Kirche‘ gezogen waren und 7 
bezw. 6 aus den Streitichriften wider Stephan von Palet 
und Stanislaus von Znaim Um die Richtigkeit dieſer 
Site darzuthun, wenn fie nicht wörtlich ausgezogen waren, 


40 Johann Hu, 


geihah auch die Verlefung ver einjchlägigen Stellen in 
den Handjchriften. Ally glaubte dabei wiederholt be- 
tonen zu müffen, daß Huffens Gedanken in ihrer originalen 
Faſſung noch ſchlimmer Lauteten als in der Faſſung der 
Auszüge. Die wichtigften dem Concil anftößigen Lehr— 
ſätze des Angeklagten aber waren folgende: Die wahre 
Kirche ift die Gemeinschaft der von Gott Erwählten. Kein 
Kirchenamt, Feine Kirchliche Würde gibt zugleich Mitglied- 
ichaft in der wahren Kirche, fondern nur wer fittlich in 
der Nachfolge Jeſu wandelt, ift ein wahrer Chriſt, Prieſter, 
Cardinal und Papft. Chriftus, nicht Petrus ift das Haupt 
ver Kirche. Wenn ber beftellte Stellvertreter Chriſti feinem 
Herrn nicht nachfolgt, ift er des Antichrifts Gefandter und 
Stellvertreter Judas Iſcharioth's. Das Papſtthum und 
jeine Macht ift eine Schöpfung der Faiferlichen Gewalt. 
Die weltlichen Herren haben bie fittliche Pflicht, die Priefter 
zur Beobachtung des Geſetzes Chrifti anzuhalten. Es ift 
durchaus nicht richtig, daß der Beſtand der Kirche auf 
Erden von dem Vorhandenſein des Papftes abhängig jet. 
Es ijt unrecht, einen Keber nicht blos in Kirchenzucht zu 
nehmen, jondern auch der weltlichen Obrigkeit zur Strafe 
an Leib und Leben zu überlaffen. Die Strafe des Inter- 
dicts widerjpricht dem Vorbilde Chrifti. — Der Vortrag 
diefer Sätze und ihrer Belegſtellen, ihre Verteidigung 
jodann durch den Angeflagten rief des öftern Bewegung, 
Aufregung, Kopfſchütteln und Gelächter hervor. 

Das größte Auffehen jedoch erregte die Theſe: Wenn 
ein Papſt, Bifchof oder PBrälat jich in Todfünde 
befindet, fo ift er nicht Papft, Bifchof oder Prälat. Als 
Hus die Thefe durch die Erflärung zu rechtfertigen fuchte, 
daß ein folder Papft u. f. w. wol dem Amte nach, nicht 
aber dem Begriff und Weſen nach PBapft u. f. w. jein 
fönne, und beifpielsweife hinzufügte, daß auch ein König 


Johann Hu. 41 


in Zodfünde vor Gott nicht König fei, rief man nad) 
König Sigismund, der foeben zum Tenfter des Refec— 
toriums ſich hinansgelehnt und mit dem Pfalzgrafen vom 
Rheine und dem nürnberger Burggrafen ein Geſpräch 
über bie Gefährlichkeit der bisher gehörten Sätze an- 
gefnüpft Hatte. Hus mußte feine Anficht vor dem Könige 
wiederholen, worauf berfelbe nur eriwiderte, daß wol 
niemand ohne Sünde fei; der Cardinal Ally aber brach 
in den Vorwurf aus, daß Hus, nicht zufrieden, das An— 
jehen des Klerus zu kränken, auch bie weltliche Macht 
zu untergraben gejucht habe. Der Tettbeiprochene Sat 
von Hus lautete, die apoftolifche Kirche ſei vortrefflich 
geweien ohne Papſtthum; möglicherweife könne man auch 
jegt und bis ans Ende ver Welt das Papſtthum ent- 
behren. Da bemerkte ein Engländer, Stofes, nicht mit 
Unrecht, Hus betrete hiermit ganz und gar ben Weg 
Wiclif's und habe gar nicht nöthig, fich feiner Schriften 
und Lehren zu rühmen, feine Lehren ſeien vielmehr Wicltf’s 
Lehren. 

Nach beendigter Durchſprache dieſer Lehrſätze fagte 
Ally zu Hus, daß er nunmehr zwifchen zwei Wegen vie 
Wahl habe: entweder gebe er fich ganz in die Gnade 
und Hände des Concils und unterwerfe fich deffen Spruche, 
dann werde man fchonend mit ihm verfahren. Ober er 
bejchreite noch weiter den Rechtsweg und erhalte noch 
weitere® Gehör, das aber könne gefährlich für ihn werben, 
er fönne in noch größere Irrthümer fich verwideln. Em— 
pfehlenswerther jei der erfte Weg. Im gleichem Sinne 
ließen auch andere Prälaten fich vernehmen. Hus neigte 
das Haupt und antwortete demüthig: „Ehrwürdigſte 
Väter! Ich bin von freien Stücken hierher gefommen, 
nicht um irgendetwas hartnädig zu vertheibigen, jondern 
mih vdemüthig vom Concil eines. beijern belehren zu 


42 Johann Hus. 


laffen, wenn ich etwas nicht wohl ober mangelhaft auf- 
geftellt haben ſollte. Doc bitte ich um Gottes willen, 
daß mir ferneres Gehör gefchenft werde, damit ich meine 
Abficht mit den mir vorgeworfenen Artikeln und die Be- 
weiſe aus den Kirchenvätern darlegen kann. Sollten meine 
Gründe aus Vernunft und Schrift nicht ftichhaltig fein, 
jo unterwerfe ich mich der Unterweifung des Concils.“ 
Sofort fchrien viele Stimmen, das jet mit Vorbehalt 
gejprochen; der Zurechtweifung und Entſcheidung der 
Berfammlung müffe er fich unterwerfen. Hus nahm 
dieſe Ausprüde auf, er habe nicht verfänglich reden 
wollen. 

Dieje Erklärung nahm Ailly für bedingungsloſe Unter- 
werfung und eröffnete dem Magijter nunmehr, daß gegen 
60 Doctoren aus Vollmacht vom Eoncil entſchieden hätten: 
Hus folle 1) feinen Irrthum in Behauptung jener 
Artikel vemüthig anerkennen; 2) diefe Sätze für alle 
Zufunft abſchwören; 3) dieſelben auch öffentlich 
widerrufen; 4) das Gegentheil der Artifel insfünftige 
annehmen, behaupten und ‚verfünbigen. 

Da erwiderte Hus mit aller Chrerbietung, er jei 
bereit dem Concil Gehorſam zu leiften und fich weijen 
zu laffen; aber er bitte um Gottes willen, man möge 
ihn nicht zwingen zu lügen und Säte abzufchwören, von 
denen er — Gott jei fein Zeuge und jein Gewiljen — 
jih nichts bewußt fei, die ihm niemals in den Sinn 
gekommen feien; namentlich der Satz, daß im heiligen 
Abendmahl nach der Konfecration das Brot als Stoff 
noch bleibe. Sätze, welche er wirklich aufgeftellt habe, 
wolle er, wenn man ihn eines bejjern belehre, demüthig 
widerrufen. Aber wenn er ſämmtliche ihm ſchuld gegebene 
Süße, unter denen viele ihm mit Unrecht zugejchrieben 
worden, abſchwören müßte, jo würde er eine Lüge begehen 


Johann Hus. 43 


und ſich die ewige Verdammniß zuziehen; das gehe wider 
ſein Gewiſſen! 

Aber wer hatte Verſtändniß für dieſen Ernſt, dieſe 
Zartheit des Gewiſſens? Sigismund fagte leichtfertig: 
„Höre Hus, warum willſt du nicht alle irrthümlichen 
Sätze abſchwören, von denen du behaupteſt, daß die Zeugen 
ſie wahrheitswidrig dir beigelegt haben? Ich wollte doch 
alle Irrthümer abſchwören; darum muß ich doch nicht 
irgendeinen früher gehegt haben!“ Und der Cardinal 
Franz von Zabarella, Erzbiſchof von Florenz, ver— 
ſprach, Hus eine wohlbemeſſene Abſchwörungsformel vor— 
zulegen; dann möge er erwägen, was er thun wolle. 
Von diefem Punkte an verlief das Verhör wieder als 
ein wildes Hin- und Herrevden, wobei der eine Mann 
gegen die ganze Verfammlung ftandzuhalten hatte. Von 
neuem wurden ihm bie prager Ereigniffe vorgeworfen, bie 
Engländer erörterten feine Beziehungen zu Wichf u. f. w. 
As einigermaßen wieder Ruhe eingetreten war, jtand 
Palet auf, um die Erflärung abzugeben, daß er nicht 
aus falſchem Eifer oder perfönlichem Haß die Klagen 
wider Hus erhoben habe, fondern um feinem Doctoreide 
nachzufommen. Michael de causis fchloß fich ihm 
an. Hus antwortete: „Ich ftehe vor Gottes Gericht, 
der mich und euch mit Gerechtigkeit richten wird, wie 
wir's verdienen.’ 

Hierauf nahm der Erzbifchof von Riga den Gefangenen 
abermals in Empfang und führte ihn im feinen Kerker 
zurüd. Im Vorübergehen grüßte ihn Johann von Chlum, 
reichte ihm die Hand und tröftete ihn. Es ijt faft rührend 
zu leſen, wie hoch der bedrohte Mann im Gefühle feiner 
Verlaffenheit und der ihm entgegengebrachten Verachtung 
diefeß geringe Freundfchaftszeichen gewerthet hat. „O wie 
wohl that e8 mir, fchreibt er, „als mir Herr Johann die 


44 Sobann Hus. 


Hand bot; er Hat fich nicht gejchent, mir Armen die Hand 
zu bieten, mir veriworfenen Ketzer, mir Gefefjelten, mir 
auf den fait alles einſchrie!“ 

Hus hatte in den drei Verhören fih männlich und 
muthig benommen. Es war ihm gelungen, der Auf- 
bürdung gewiſſer Irrlehren fich zu erwehren; die Sätze, 
bie er als die feinigen anerfennen fonnte, hatte er auf- 
recht erhalten (einzelne angebrachte Limitationen find micht 
von Belang) und aus der Schrift und den Vätern be- 
gründet. Doch was vermochte ihm das zu nüßen? Das 
Concil hatte ven Angeklagten gehört, aber das Reſultat 
ber Bernehmung ftand vor allen Verhören feft, die Väter 
benahmen fich pharijätich ficher, auch hinterliftig und brutal; 
Unbefangenheit in Glaubens- und Gewiffensfragen war 
jener Verſammlung, ja faft jener Zeit eine unbefannte 
Größe: Widerruf ob mit, ob ohne Ueberzeugung — ober 
Gefängniß und Tod war die graufame Alternative, denn 
fünnte die Kirche, das ökumeniſche Concil irren? 

Nach aufgehobener Situng ereignete fich eine Scene, 
unbedeutend ſcheinbar und nicht für Hus geneigte Ohren 
beftimmt, die auf die ganze Frage, ob mit Hus ehrlich 
verfahren worden, ein beventjames Licht wirft. Hus war 
abgeführt, die Wachen hatten den Saal geräumt, ba 
fnüpfte der König beim Aufbruche mit den Prälaten 
ein Geſpräch an. Sigismund mochte glauben, daf Die 
Böhmen mit Hus aus dem Saale gegangen feien, er 
alfo mit Gefinnungsgenoffen alfein fer; aber die Herren 
Johann von Chlum, von Duba und Peter Mladenowitz 
hatten ſich in eim Fenfter zurückgezogen und vernahmen 
folgende Worte des Königs: „Ehrwürdige Väter! Ihr 
habt num gehört, daß von dem Vielen, was in ben 
Büchern jenes Menfchen fteht, wozu er fich befannt hat 
und worin er hinreichend widerlegt worden ift, ſchon eine 


Johann Hus. 45 


Einzelheit zu feiner Verdammung genügen würde. Darum 
mag er, wenn er jene Irrthümer nicht widerrufen, ab- 
Ihwören und das Gegentheil annehmen will, verbrannt 
werden, oder mit ihm gejchehen, was euch vechtens dünkt. 
Doch rathe ich, daß wenn er auch Verjprechungen macht, 
widerrufen will und wiberruft, ihr ihm nicht tranet, wie 
auch ich ihm nicht trauen würde; nach Böhmen und zu 
jeinen Beichügern zurücigefehrt, würde er jene Irrthümer 
und andere mehr doch. wieder verbreiten, und würde bie 
neue Berirrung ärger werben als die alte. Darum ver- 
bietet ihm alles Prebigen und verhindert feine Nückfehr. 
Schickt auch die hier verdammten Artikel meinem Bruder 
in Böhmen und nach Polen und in die andern Länder, 
wo er fchon feine geheimen Anhänger und Gönner hat, 
und traget nicht nur den Biſchöfen und Prälaten, jondern 
auch den Königen und Fürften auf, diefe Anhänger zu 
trafen, damit die Aeſte zugleich mit dem Stamme aus— 
gerottet werden. Wahrlich, ich war noch jung, als dieſe 
Sefte in Böhmen begann: und zu welcher Stärfe iſt fie 
nicht ſeitdem emporgewachjen! Sch werde num das Concil 
bald verlaffen, darum ſäumet nicht in dieſer Sache, und 
machet auch ſobald als möglich mit feinen Schülern ein 
Ende, namentlich mit dem, der hier gefangen fit, mit 
dem — dem” — „Hieronymus“ fam man ihm zu Hülfe. 
„Ganz recht, mit Hieronymus. Für ihn brauchen wir 
feinen ganzen Tag; es wird dann fchon: leichter gehen, 
denn jener Menſch ijt der Lehrer, fie benennen ihn den 
Lehrer Hus, und diefer Hieronymus ift fein Schüler!‘ *) 


*) Hieronymus von Prag, nähft Hus der bebeutendfte 
Bichfit in Böhmen, war freiwillig zum Concil gefommen. Als 
er bie Nutzlofigfeit feiner Anwefenheit für den Freund und bie 
Gefahr für fih erfannte, verließ er die Stadt, wurde aber unter» 
wegs gefangen und gefeffelt zurückgebracht (im April 1415), Durch 


46 Johann Hus, 


Nach diefen Worten gingen fie insgefammt in heiterer 
Stimmung auseinander. 

Die böhmischen Herren Hinterbrachten ihrem Schüß- 
ling des Königs Worte, und wenn Hus über fein Schid- 
jal noch hätte in Zweifel fein fönnen, fo wußte er von 
nun an ficher, was ihm bevorftand. Die Briefe aus 
der Gefangenfchaft bei den Franciscanern find voll der 
fihern Erwartung des Todes. Und wenn im Angeficht 
dieſes erbarmungslofen Feindes alles Lebendigen in den 
meiften Fällen all die armeligen Masken fallen, die ber 
Menſch dem Menfchen gegenüber vorgenommen, wenn bei 
den roheſten VBerbrechern ver oft tief vergrabene Funke 
religidfen Sinnes, wie ihn jede Menfjchenbruft birgt, 
wieder zur Flamme wird und der Mörder gejteht und 
bereut, um ohne Lüge dem Tode ind Geficht bliden zu 
fönnen, jo find auch Huſſens Abſchiedsbriefe wahrlich 
ehrlich und wahr: die Perfönlichkeit aber, die ſich in 
ihnen offenbart, muß man wahrhaft hochachten und lieb- 
gewinnen. 

Der Gefangene dankt jeinen Freunden, die ihm 
in Konſtanz beigejtanden, für all den männlichen Bei- 
jtand in Rath und That, den fie ihm erwiejen, er wünfcht 
ihnen Gottes Kohn, er ermahnt das ganze böhmiſche Volf 
in einem Sendjchreiben an baffelbe, nie zu vergefjen, was 
diefe Männer für die Sache der Wahrheit gewagt. Er 
banft feinen Gönnern in Böhmen, und befonders dem 
König Wenzel und feiner Eöniglichen Herrin, daß fie ihn 





balbjähriges hartes Gefängniß und unausgejettes Drängen feiner 
Nichter matt geworden, wiberrief er und erfannte Das Urtheil über 
Hus als gerecht an. Doch er ermannte fih wieder. Nach Zurüd- 
nahme des Widerrufs und Hffentlihem Verhöre vor dem Koncil, 
ftarb auch er, am 30. Mai 1416, mannhaft und freudig wie Hus, 
ben Feuertod. 


Johann Hus. 47 


geliebt, gütig behandelt und Fleiß angewendet für ſeine 
Befreiung. Selbſt im letzten kurzen Lebewohl nach Böhmen 
heißt es noch einmal: „Der Königin, meiner gütigen 
Herrin, ſaget in meinem Namen Dank für alle Wohl— 
thaten, die ſie mir erwieſen!“ Ueberall hin, an die 
Freunde in Konſtanz, an die Gönner und Getreuen in 
Böhmen, an die Univerſität Prag, an alle Einzelnen, 
denen er ſchreibt, ergehen ſeine Ermahnungen, der 
erkannten Wahrheit, nicht um ſeinet-, ſondern um Chriſti 
willen, treu zu bleiben und nach ihr, d. h. dem Gebote 
Gottes gemäß zu leben. Was ſeine Feinde betrifft, 
ſo beklagt er zwar Sigismund's Unbeſtändigkeit, daß 
derſelbe ihn eher verurtheilt als ſeine Feinde, und nicht 
wenigſtens mit Pilatus geſprochen: „Ich finde keine Schuld 
an ihm“, oder: „Ich habe ihm freies Geleit gegeben; 
wenn er alſo des Conecils Entſcheidung nicht Leiden will, 
ſchickke ich ihn mit eurem Spruche dem Könige von Böhmen 
zurück, damit der mit ſeinem Klerus ihn richte“: wie 
ihm Sigismund ja mündlich verſprochen habe, daß er 
genügendes Gehör, und wenn er ſich nicht unterwerfen 
würde, ſichere Rückkehr bekommen ſolle. Später aber 
vermag Hus, ſeinen Freunden zu ſchreiben, daß er auch 
Sigismund danke für alles Gute, das derſelbe ihm er— 
wieſen. Gott möge dem Könige alles verzeihen, was er 
trugvoll gehandelt. Er verzeiht allen feinen perſönlichen 
Feinden insgeſammt: „Ich bitte für fie Gott aufrichtigen 
Herzens, daß er ihnen verzeihe!“ Bon Paletz ſchreibt 
er einmal, daß berjelbe bei einer Beſprechung im Ge— 
fängniſſe angefichts der Commiſſion des Concils ihn mit 
ten Worten begrüßt habe: „Seit Chriftt Geburt ift, 
Wichf ausgenommen, fein gefährlicherer Ketzer aufgeftanden 
ald du”, er fügt aber Hinzu: ,, Dies hätte ich vielleicht 
wicht jchreiben dürfen, damit es nicht etwa jcheint, ich 


48 Johann Hus. 


baffe ihn.“ Weiterhin vermochte e8 Hus jogar, ben 
gewejenen Yugendfreund und ſpätern Hauptgegner um 
Verzeihung zu bitten, wenn er ein Wort des Vorwurfs 
gegen ihn gebraucht habe, und Paleg wurde wie Hus 
jelber zu Thränen gerührt. Michael de causis zeigte 
weniger Herz, gerade deshalb aber jagt Hus von ihm: 
„Der arme Mann!” 

Ueber das Concil freilich lauten Hufjens Aeußerungen 
bitter und abjprechend. Er geißelt die Simonie, den Geiz, 
ben Hochmuth, die Heuchelei der Väter. Unfehlbar ſei 
die VBerfammlung wahrhaftig nicht: habe fie doch vor 
allem in Johann XXIII. fich geirrt. Derſelbe fei als 
Mörder, Knabenſchänder, Simonift und Häretifer befannt 
gewejen und doch gewählt worden; erit habe man ihn 
als „Heiligften Vater” durch Kniebeugung und Fußkuß 
geehrt und dann eben jener Verbrechen halber verurtheilt 
und abgejegt. „Wo bleibt nun die Doctrin, daß der 
Papit das Haupt und Herz der Kirche ijt, die unverfieg- 
bare Quelle aller Autorität und geiitlichen Vollmacht? 
Set ift die gläubige Chriftenheit ohne Papft, Jeſus 
Chriſtus ift ihr Haupt und Herz, die Duelle aller Getites- 
gaben und Gnaden.“ „O daß ihr doch dieſes unfehlbare 
Concil ſähet“, jchreibt er feinen Getreuen in Böhmen, „ihr 
würdet wahrhaftig etwas ungeheuer Abjcheuliches erbliden. 
Bei den Schwaben geht die gemeine Rede, Konftahz könne in 
dreißig Jahren nicht von den Sünden gereinigt werben, 
die das Concil in der Stadt gethban hat. Es ſpuckten 
manche aus, jo abjchenliche Dinge haben fie hierorts 
geſehen.““) Hus fieht in all diefer VBerfehrtheit des 


*) Zu den fittlichen Zuftänden in Konftanz bringt ein Hiftorifer 
bei: „Neben den Repräjentanten der Kirche hatten fich beim 
Koftnizer Concil (als Repräjentantinnen?) fiebenhundert öffentliche 


Johann Hus, 49 


Verjtandes und Herzens die Bosheit des Antichrifts, „den 
Greuel der Berwüftung an heiliger Stätte”. „Aber ich 
bin ver Zuverficht, daß Gott nach mir ftärfere Männer 
geben wird, welche die Bosheit des MWiderchrifts beffer 
an den Tag bringen und ihr Leben hingeben für vie 
Wahrheit des Herrn Jeſu Ehrifti.’ 

Für jeine eigene Perjon erhofft Hus den gnädigen 
Beijtand Gottes zu einem jtanphaften Tode und das ewige 
Leben. Er bittet feine Freunde, darum für ihn zu beten; 
auh auf die Fürbitte der Heiligen hofft er, in dieſem 
Stücke hat er die Schranken feiner Zeit nicht durch— 
brohen. Der Gedanke an einen Widerruf kommt ihm 
nicht, aber es ijt nicht Hochmuth, der ihın das Bewußt- 
jein gibt, dem Concil gegenüber die Wahrheit zu ver- 
treten, feine Freunde nämlich bittet er, feine Lehre zu 
prüfen und alles Nichtjtichhaltige aufzugeben und zu 
verbeſſern. 

Mit dem 8. Juni war Huſſens Schickſal beſiegelt, dennoch 
ließ man ihn noch volle vier Wochen am Leben. Es iſt 
möglich, daß die Veranlaſſung für dieſen Aufſchub in 
neuen Briefen zu ſuchen iſt, die zu Huſſens Gunſten 
in Konſtanz einliefen. In einer Verſammlung der vier 
Nationen am 12. Juni kam jener Brief zur Verleſung, 
dem 250 Siegel böhmiſcher und mähriſcher Herren an— 
gehängt waren. Zur Beſchwichtigung der bei ſolchen 
Demonſtrationen doch nicht eindruckslos gebliebenen Ge— 
müther hoben der Biſchof von Leitomiſchl und Paletz hervor, 
daß wenigſtens König Wenzel keinen Schritt zu Huſſens 
Gunſten gethan habe. Das war wahr, aber der König 


Luftdirnen eingefunden, «die ander heimlich Dirnen und Curtiſanen 
noch ungezählt». Gebhard Dacher nahm auf hurfürftl. ſächſiſchen 
Befehl ein Verzeichnis derſelben auf.‘ 

XXIII. 4 


50 Johann Hus. 


that für Hus, dem er feine Gunjt jo mannichfach zu— 
gewendet hatte, feit derjelbe nah Konftanz gegangen, 
feinen Schritt mehr, nicht, weil er fich von Huffens Ketzerei 
überzeugt hätte, fondern um ber Feindſchaft mit feinem 
Bruder Sigismund willen: das konſtanzer Coneil als 
Sigismund’s Concil exiſtirte nicht officielf für den böhmiſchen 
König. Die Väter des Concils beichäftigten ſich am 18. 
und 23. Juni noch einmal mit der Prüfung von Hufjens 
Lehrjägen und verdammten auf Grund verjelben alle feine 
Schriften zum Feuer, mit ihm felber befaßten fie jich 
nur infofern noch, als ihm eine Widerrufungsformel 
vorgelegt und durch Deputationen des öftern ver— 
fucht wurde, ihm diefelbe annehmbar zu machen. Bon 
diefer Widerrufungsformel kann anerfannt werben, daß 
fie entgegenfommend gehalten war, Hus follte um ein 
„barmherziges“ Verfahren mit ihm bitten und proteftiren 
bürfen, daß man ihm vieles aufgebürdet, woran er nie 
gedacht habe. An den Deputationen betheiligten fich jelbit 
die vornehmſten Mitglieder ver Verfammlung, wie Atlly 
und Zabarella, mit Theilnahme und Beſorgniß erfüllt 
zeigte ſich insbejondere das unbekannt gebliebene Mit- 
glied, das Hus in feinen Briefen nur den „Vater“ 
nennt. Allein Hus erklärte, auch in dieſer Faſſung 
nicht abſchwören zu können, denn er würde doch immerhin 
noch viele Wahrheiten verwerfen, einen Meineid thun, 
dem „Wolfe Gottes großen Anjtoß geben. Der „Vater“ 
machte zwar geltend, daß Huffens etwaige Schuld, wenn er 
nämlich doch Wahrheiten abſchwören follte, ja nicht auf 
jein Haupt käme, jondern auf feine Obern, die ven 
Widerruf verlangt, aber Hus fürchtete bei einem jolchen 
Handel für feine Seligfeit. 

So fam die imnerlichjte Differenz zwijchen dem An- 
gekfagten und feinen Richtern in den vier zwijchen dem 


Johann Hus. 51 


„Later“ und Hus gewechjelten Briefen zu klarem, zu— 
geipistem Ausdruck: Hus emancipirte fich bewußt als 
Einzelner vom Urtheil der Gefammtheit, hatte alſo vie 
Gewifjensfreiheit begriffen, aber auch die damit gejekte 
eigenfte perjönliche Verantwortung; das Concil bewegte 
fh in den hergebrachten Gedanken von ber umbedingten 
Autorität des Ganzen über das Glied. Zwei Zeiten 
waren einander gegemübergetreten, die alte Zeit noch 
(ebensfräftig genug, den neuen Geift zu bämpfen, aber 
bie neuen Gedanken fchon mit willig vergofjenem Herz- 
blut vertreten; und dieſe Leidenswilligfeit weiffagte ven 
Sieg der neuen Zeit. 


Am 1. Juli gab Hus dem Concil die fchriftliche 
Erklärung, daß er nicht abſchwören könne noch wolle, 
und am 5. Juli wiederholte er fie mündlich der legten 
Deputation, vier Bifchöfen, zu denen fih im Auftrage 
Sigismund’S die böhmischen Herren gefellt hatten. Der 
6. Juli, ein Sonnabend, wurde der Tag feiner Ber- 
intheilung und Verbrennung. Die Prälaten verfammelten 
fh im Dome zu Konftanz zur fünfzehnten General- 
Seſſion des Concils unter dem Vorfite des Carbinal- 
Biſchofs von Oſtia, Sohann von Brogni; einen bejondern 
Glanz verlieh der Sigung der König, indem er auf 
einem Throne figend, von den Zeichen der Majeſtät um— 
geben, anmwejend war. Inmitten der Kirche erhob jich 
ein tiſchförmiges Gerüft und darauf ein mit dem Mef- 
ornat behängter Holzftod. Der Erzbifchof von Gneſen 
elebrirte die Mefje, und unterdefjfen mußte Hus von 
dewaffneten umringt an der Kirchthür ftehen bleiben. 
Dann wurde er an das Gerüft herangeführt und ver- 

4* 


52 Johann Hus. 


harrte davor kniend im Gebete, während der Biſchof 
von Lodi ſich in kurzer Predigt über die Schädlichkeit 
der Ketzereien in der Kirche und die Verpflichtung des 
weltlichen Armes zu ihrer Ausrottung erging. Die Ver— 
handlungen begannen mit Verkündigung der Strafe der 
Excommunication und zweimonatlicher Einſperrung, wenn 
jemand, weß Standes und Ranges er auch ſei, Zwiſchen— 
reden, Widerſpruch, Zeichen des Beifalls oder des Mis— 
fallens ſich zu Schulden kommen laſſe. Der erſte Punkt 
der Tagesordnung betraf irrige Lehrſätze Wiclif's. Die 
Univerfität Oxford hatte deren 260 aus feinen Schriften 
ausgezogen. Sie wurden verdammt, foweit das noch nicht 
geichehen war. Dann fam Huffens Sache an die Reihe. 
Es wurde ein Bericht über den Gejammtverlauf des 
Procefjes zur Verhandlung gebracht; als der Neferent das 
Berzeichnig der Hus jchuld gegebenen Irrthümer vorzu— 
tragen begann, ergriff der Angeklagte das Wort, um 
gleich den erſten Artikel richtig zu limitiren. Mean hieß 
ihn jchweigen, und da er dennoch zu den weitern Artikeln 
wieder zu reden anfing, befahl Kardinal Zabarella von 
Florenz den Wachen, ihn zum Schweigen zu bringen. 
Mit lauter Stimme bat der Angeklagte nun inftändig 
um Gottes ‘willen, man möge ihm doch Gehör geben, 
damit nur die Zuhörer nicht meinten, ev habe jo Irriges 
gelehrt, aber die Bitte wurde abgeichlagen, Hus fonnte 
nur auf die Knie fallen und mit gefalteten Händen gen 
Himmel blickend ftill beten. Er erhob fich wieder, als 
der Vorwurf erneuert wurde, er habe die Wandlung ver— 
worfen, feine Gegenrebe jchnitt Zabarella ab, indem er 
auf ihn einjchrie, Hus aber ermeuerte feine Bitte um 
Sehör und ven Proteft, ihm dieſe Irrthümer aufzuhaljen. 
Auch zu andern Punkten weiter das Wort zu nehmen, 
ließ er jich nicht mehr abhalten. Mit fittlicher Entrüftung 


Johann Hus. 53 


wies er die Beichuldigung zurüd, die man jett zum erjten 
male vorzubringen wagte, ev habe fich für die vierte Perjon 
in der Gottheit ausgegeben, eine Beſchuldigung, die un— 
beitritten als aus feindjeliger Confequenzmacherei hervor: 
gegangen angejehen wird. Als Huffens Appellation an 
Chriftum unter den verdammungswürdigen Irrthümern 
an die Reihe fam, antwortete der gequälte Mann mit 
lauter Stimme: „Herr Gott! fiehe, nun verdammt dies 
Goncil gar dein Thun und Geſetz als einen Irrthum, 
da du doch jelbit von den Feinden ſchwer bedrängt deine 
Sache Gott deinem Vater als dem gerechteften Richter 
anheimgeftellt haft; uns Armen zum Borbild, wenn wir 
irgendwie bejchwert find, zu dir, dem gerechteften Richter, 
zu fliehen und bein Urtheil demüthig zu verlangen!” 
Auch den Umjtand hob er noch einmal laut und öffent— 
lih hervor, daß er zum Goncil von freien Stüden mit 
freiem Geleite gefommen ſei. ine Röthe überflog Sigis- 
mund’s Wangen, als Hus bei diefen Worten jeine Augen 
auf ihn heftete. Als ein Jahrhundert jpäter Karl V. 
darum angegangen wurde, mit dem nach Worms ge— 
fommenen Ketzer Luther ebenjo zu verfahren, wie es in 
Konstanz mit Hus gejchehen jet, da entjchten der Kaifer, 
daß Luther das zugejagte Geleit zur Her- und Rückreiſe 
poll genießen jolle: Nolo erubescere cum Sigismundo. 

Den folgenden Spruch des Concils verkündete ein 
fahlföpfiger, alter Italiener, der Biſchof von Concordia: 
Hus folle als ein offenbarer, hartnädiger Ketzer 
des Priefteramts entjeßt, aller empfangenen 
Weihen beraubt und dem weltlihen Arme über- 
geben werden. Seine Bücher jeien zu verbrennen. 
Auch hierbei erhob Hus wider einzelne; Punkte jeine Ein- 
iprache zum letzten mal, gegen das Ende hin fiel ev in die Knie 
und betete jtill mit dem Bli nach oben. Als der Biſchof 


54 Johann Hus. 


ſchwieg, rief er Chriſtum laut um Vergebung für alle 
ſeine Feinde an. Und dabei verſtanden viele Kirchen— 
fürſten nichts Beſſeres zu thun, als den Verurtheilten 
unwillig anzublicken und auszulachen! 

Sieben Biſchöfe ſchritten nunmehr zur Degradation 
des abtrünnigen Prieſters. Sie ließen ihn in den vollen 
Schmuck der Meßgewänder kleiden; als der Verurtheilte 
die Alba umthat, gedachte er des weißen Spottkleides, 
mit dem der Heiland von Herodes zu Pilatus zurück— 
geſchickt worden. Nochmals wurde Hus aufgefordert zu 
widerrufen und abzuſchwören. Er ſtand auf, betrat das 
Gerüſt und im vollen prieſterlichen Schmuck, den Abend— 
mahlskelch in der Hand ſprach er ſchmerzlich bewegt unter 
Thränen, er fünne fich vor Gott nicht zum Lügner machen, 
nicht wider jein Gewiffen der göttlichen Wahrheit, die er 
vertreten, entjagen, auch nicht allen feinen Zuhörern und 
ben andern treuen Predigern des Wortes Gottes ein 
Aergerniß geben. Er ftieg herab, und die priefterlichen 
Abzeichen wurden ihm eines nach dem andern unter den 
herfömmlichen Berwünfchungen abgenommen, zulegt wurde 
ihm auch die Tonſur zerftört. Es erfolgte der Sprud: 
„Nun hat die Kirche alle Eirchlichen Rechte von ihm ge- 
nommen, fie hat nicht8 weiter zu thun. Er werde bem 
weltlichen Arm übergeben!’ Dann fagten die Bijchöfe: 
„Deine Seele geben wir dem Teufel anheim“, Hus aber 
befahl jie Chrifte. Weiter wurde ihm eine Baptermüte 
aufgejegt, bei einer Elle hoch, die mit drei Teufeln be- 
malt war, welche eine Seele umfrallten, und bie Infchrift 
trug: „Hic est haeresiarcha.” Als Hus fie erblidte, 
ſprach er: „Mein Herr Jeſus Chriftus hat für mich 
Armen eine viel härtere und fchwerere Krone aus Dornen 
unſchuldig bei feinem allerichimpflichiten Tode zu tragen 
geruht, und darum will ich armer Sünder diefe viel 


Yohann Hus. 55 


leichtere, denn fie ijt blasphemifch, demüthig tragen für 
jeinen Namen und feine Wahrheit.‘ Auf des Königs Befehl 
fegte nunmehr Pfalzgraf Ludwig den Reichsapfel weg 
und nahm den Verurtheilten in feine Gewalt. Er über- 
lieferte ihn an den konſtanzer Stabtmagiftrat mit 
den Worten: „Nehmet hin den Johann Hus, der nad 
des Königs, unfers allergnädigjten Herrn Urtheil und 
unjerm eigenen Befehl als ein Keter verbrannt werben 
ſoll!“ 

Das Concil fette feine Sitzung fort, Hus aber wurde 
zur ſofortigen Vollſtreckung des Urtheils abgeführt. 
Auf dem Domkirchhof lohte das Feuer ſchon aus ſeinen 
Büchern, er ſah es im Vorüberſchreiten und lächelte. Zu 
den Umſtehenden ſprach er, ſie möchten nur nicht glauben, 
daß er wirklich Irrlehren halber ſterben müſſe; dieſe 
ſeien ihm mit Unrecht ſchuld gegeben auf das Zeugniß 
perſönlicher Feinde hin. Mit feſten Schritten, betend und 
ſingend ging er dem Tode entgegen, auch ſeine Unſchuld 
noch des öftern betheuernd. Faſt die ganze Bürgerſchaft 
war zur Aufrechterhaltung der Ordnung bewaffnet aus— 
gerückt, ungeheuer war der Zudrang des Volkes. Es 
fehlte nicht an Aeußerungen des Mitleids. Der Richt— 
platz befand ſich zwiſchen Stadtmauer und Graben auf 
dem „Brühl“, einer Wieſe nach dem Schloſſe Gottlieben 
zu gelegen. Dort angekommen kniete Hus nieder und 
betete laut mit heiterer Miene. Als ihm zugerufen wurde, 
er ſolle aufſtehen, erhob er ſich und ſprach laut und ver— 
nehmlich: „Herr Jeſu Chriſte, dieſen grauſigen, ſchmach— 
vollen und rohen Tod will ich von wegen deines Evan— 
geliums und der Predigt deines Wortes ganz geduldig 
und demüthig ausſtehen.“ Hierauf entkleideten ihn die 
Nachrichter und banden ſeine Hände rückwärts mit Stricken 
und ſeinen Hals mit einer Kette an einen ſtarken in den 


56 Sobann Hus. 


Boden gerammten Pfahl. Da er aber mit dem Gefichte 
gegen Sonnenaufgang gefehrt war und einige Zujchaner 
das bei einem Ketzer unfchielich fanden, jo wendete man 
ihn gegen Sonnenuntergang um. Seine Füße ftanden 
auf Holzbündeln und rings um feinen Leib wurden zwei 
Fuder Holz mit Stroh vermiſcht bi8 an das Kinn hinauf 
emporgejchichtet. 

Im Testen Augenblide fam, vom König gejandt, der 
Keihsmarfchall Haupt von Pappenheim herbei und 
“ forderte zufammen mit dem Pfalzgrafen Ludwig Hus 
nochmals auf, durch Widerruf fein Leben zu retten. Da 
antwortete er, den Did zum Himmel gerichtet, mit lauter 
Stimme: „Gott iſt mein Zeuge, daß ich dasjenige, was 
mir fäljchlicherweife, weil auf faljches Zeugniß hin, ſchuld 
gegeben wird, niemals gelehrt und geprebigt habe; viel- 
mehr war meine Hauptabficht bei meiner Predigt und 
allen andern Handlungen und Schriften nur darauf ge- 
richtet, die Menjchen von der Sünde zu befehren. Und 
in der Wahrheit des Evangeliums, welche ich gejchrieben, 
gelehrt und gepredigt habe nach den Worten und Sätzen 
der heiligen Väter, will ich heute mit Freuden ſterben!“ 
Da jchlugen beide Herren die Hände zujammen und ent- 
fernten ſich, die Nachrichter aber zündeten den Holzitoß 
an. Der Magifter fing mit heller Stimme an zur fingen; 
erit: „Chriſte, vu Sohn des lebendigen Gottes, erbarme 
dich unjer!”, dann: „Chrijte, vu Sohn des lebendigen 
Gottes, erbarme dich mein!” Als er aber weiter fang: 
„per du geboren bijt aus Maria, der Jungfrau‘, trieb 
ihm der Wind die Flammen ins Geficht, ſodaß man nur 
noch ſah, wie er Lippen und Haupt bewegte. Binnen 
der wenigen Augenblide, in denen fich schnell zwei, 
allenfalls drei Vaterunfer jagen laſſen, war er lautlos 
erſtickt. 


Johann Hu. 57 


Als der Holzſtoß niedergebrannt war und der Pfahl 
mit dem verfohlten Leibe im Halseifen daran noch auf: 
recht jtand, jtießen die Henker beides um und jchürten 
mit einem dritten Fuder den Brand aufs neue. Auch 
jchritten fie mit Knitteln um das Feuer und zerichlugen 
die Knochen, damit fie um fo jchneller zu Ajche würden; 
als fie den Kopf gefunden, theilten fie ihn durch Schläge 
in Theile und warfen ihn ins Teuer zurüd; das Herz 
ſpießten fie an einem zugefpitten Knittel auf, um e8 beſonders 
zu braten, zu verbrennen und mit Pilen zu durchſtoßen: 
wir unterbrüden dieſe graufigen Details nicht, weil fie 
in bebeutjamer Weiſe den Geijt jener Zeit illuftriren 
helfen. ALS der Reichsmarſchall und ver Pfalzgraf Huſſens 
Kleider in den Händen ver Nachrichter erblicten (es fiel 
nämlih, was ein Delinguent bei feiner Hinrichtung 
Brauchbares an fich trug, dem Henfer zu), befahlen jie, 
diefelben gleichfalls ins Feuer zu werfen, indem fie dafür 
eine Entjehädigung zu geben veriprachen. Schließlich wurde 
die ganze auf der KRichtftätte entjtandene Ajche aufgerafft 
und in den nahen Rhein ausgejchüttet, damit von dem 
Todten nicht etwas übrigbleibe, was jeine Anhänger 
etwa als Reliquie fortnehmen fönnten. 

Das Eoncil und König Sigismund follten ihres Sieges 
über den Erzfeter nicht froh werden. Was half’s, daß 
des Gerichteten Yeben und Leib aufs gründlichſte ver: 
nichtet waren, er wurde recht erit lebendig mit feinem 
Tode! Ganz Böhmen jchied fich über ihm in zwei feind- 
liche Lager, die Huffiten erwiejen fich weit jtärfer als die 
Katholiken, und die auf Yahrzehnte entbrannten Kämpfe 
zogen auch die angrenzenden Gebiete in Mitleidenjchaft. 
Und weit über dieje unmittelbaren Folgen jeines Todes 
hinaus geht Huffens welthiftorifche Wirkung, die er durch 
jeine Gewiſſenstreue auf Jahrhunderte geübt hat. 


58 Johann Hus. 


Wir haben letztlich noch die Fragen um den Bruch des 
Hus gelobten freien Geleits und um das wider ihn 
erkannte Strafmaß zu erörtern, und zwar auf Grund 
des damals gültigen Rechtes. — Der Umſtand, daß dem 
Magiſter der königliche Geleitsbrief erſt am 5. November 
zu Händen kam, iſt nicht von Bedeutung. Hus reiſte 
unter dem vollkommenen ausreichenden „lebendigen Ge— 
leite“ der böhmiſchen Barone, die für ihn durch aus— 
drücklichen Auftrag Sigismund's beſtellt waren, der könig— 
liche Brief kam als „todtes Geleit“ zu dem lebendigen 
noch hinzu, ohne aber eine rechtlich weiter greifende oder 
ſonſtwie andere Wirkung zu haben. Die Urkunde ſchützte 
Hus nicht gegen eine Unterſuchung und eventuelle Ver— 
urtheilung von ſeiten des für ſeine Sache zuſtändigen 
Concils, d. h. ſie hatte, wie die Vergleichung ihres 
Wortlauts mit den ſonſt bekannten Geleitsbriefen ergibt, 
nicht die Bedeutung eines „gerichtlichen Geleits“, ſondern 
nur eines „politiſchen“. So hat Hus ſelbſt, ſo haben 
auch die böhmiſchen Herren die königliche Zuſage ver— 
ſtanden. Gebrochen worden iſt das königliche Geleit, 
als am 28. November Hus ohne Verhör auf Befehl 
des Papſtes und der Cardinäle eiligſt verhaftet wurde. 
Die über ihn ſchon gefällte Entſcheidung mit der Strafe 
der Excommunication aber konnte nicht als Erſatz der 
Vernehmung gelten, weil Johann XXIII. den Bann 
über Hus und das Interdict über den Ort ſeines Auf— 
enthalts ſuspendirt hatte. Auch lag weder ein anerkannter 
Fluchtverdacht vor, noch etwa Nichtbeachtung des ihm 
vorgeſchriebenen Verhaltens. Sigismund's Schuld 
beſteht in der unritterlichen Nachgiebigkeit, mit der er 
dieſer Verachtung ſeiner königlichen Gewalt nur affectvolle 
Worte entgegenzuſetzen hatte. Ein Karl V. erneuerte 
dem Dr. Luther, als er denſelben auf den Spruch ber 


Johann Hus, 59 


Kirhe Hin, daß er ein verftodter Ketzer fei, mit ber 
Reichsacht belegte, doch vorher ausdrücklich das freie 
Sefeit auch für feine Heimkehr nach Wittenberg. 
Nicht das nahmen die Böhmen Sigismund fo übel, daß 
er Hus nicht gegen ven Kegerproceß ſchützte, ſondern daß 
er, anjtatt Huffens Anwalt zu fein, die Väter zu feiner 
Verdammung angeeifert. 

Was die Todesitrafe betrifft, jo war fie für einen 
verſtockten Keter rechtens, wer durch Widerruf fein Leben 
rettete, wurde zu lebenslänglicher over langjähriger Haft 
in einem Klojtergefängniß verurtheilt. Diefer Maßſtab 
war Hus befannt und wurde von ihm anerfannt. ‘Die 
Frage ift nur, ob Hus einer Ketzerei überwiejen worden 
it. Wenn feinerzeit Wiclif’8 Angriff auf die Wandlungs- 
Iehre den Proceß wider ihn in Fluß gebracht hatte, fo 
mochte auch für Hus der gefährlichite der ihm zur Laft 
gelegten Sätze ver fein, daß nach der Conſecration ber 
Hoftie auf dem Altare materielles Brot bleibe. Aber 
gerade in dieſem Lehrſtück ift Hus feinem Lehrer nicht 
gefolgt, fondern vechtgläubig gewejen, wie ſchon auf dem 
Concil eine Stimme öffentlich anerkannte und auch 
fatholifche Forfcher ver Gegenwart thun. Was Huffens 
Anfichten über die „wahre Kirche” und das „Geſetz 
Chrifti”, das göttliche Wort als einzige Glaubensnorm 
betrifft, mit der daraus abfolgenden Beichränfung der 
Autorität der Hierarchie und der Möglichkeit einer 
Appellation an Jeſum Chriftum, fo muß daran erinnert 
werden, daß ein Dogma Von der Kirche damals noch 
nicht formulirt war, und darum war das ökumeniſche 
Concil, wenn auch Nepräfentation der Geſammtkirche, 
dem Magifter gegenüber des begründeten Nachweijes jeiner 
Irrthümer nicht entbunden. Aber war Hus nicht Wiclifit 
und Wiclif's Kegerei am Tage? Nun, Hufjens Verehrung 


60 Johann Hu, 


für die Perfon des Engländers fonnte jchwerlich als Be— 
weis der Härefie gelten, und ber in Prag gejhehenen 
Berurtheilung Wichf’icher Säte hatte er aus berechtigten 
formalen Gründen opponirt. Auch die Verantwortung 
für die in Prag und Böhmen entjtandenen Unruhen 
hatte der Angeklagte deutlich abzulehnen verjtanden, dazu 
würden fie ein Erfenntniß auf den Tod kaum aus— 
reichend motivirt haben. — Wir brauchen überhaupt 
nicht nach Karen Gründen für Huffens Verdammung 
zu fuchen, das Concil ſelbſt hat fein Urtheil ohne Moti— 
pirung geſprochen: Das Eoncil hafte den Geift, der in 
Hus fich regte, fein Schriftprincip, feine Gewiſſenstreue 
waren mit vömifch-hierarchifchen Gedankengängen uns 
vereinbar. 


Man ift proteftantifcherfeits früher geneigt geweſen, 
in dem Verfahren wider Hus rein einen brutalen Ge— 
waltact zu erbliden, zumal die Gejchichtspichtung in 
Alugblättern und Volksſchriften ſich früh des Falles 
bemächtigte und den wahren Sachverhalt mannichfach 
entjtellte und verbunfelte. Neuerdings haben wir an ber 
Hand der Urkunden und Concilsacten kennen gelernt, 
daß die Formen des Ketzerproceſſes eingehalten worden 
find; aber die Anklage bleibt voll und ganz für bie 
römische Kirche beftehen, daß man ſich weder gemüht 
hat, jene Formen ernjt zu nehmen, noch gar den Ver— 
juh gemacht hat, mit Hus fich wirklich fachlich, red— 
(ih und unbefangen auseinanverzujegen: daß Hus ein 
Keger fei, war eine ausgemachte Sache vor dem erſten 
Act des Verfahrens. Es genügte dem Concil, die Macht 
zu befigen, das „böhmifche Gift” als folches zu brand- 


Johann Hus. 61 


marken, dafür aber hatte man feine Erkenntniß, daß 
nicht eine kirchenpolitiſche Frage, ſondern eine religiöſe, 
eine Gewiſſensfrage vorlag. Rom hat dafür nie ein 
Auge gehabt, und ſomit iſt Hus allerdings als Märtyrer 
geſtorben. 


Ein Diebkahl beim Handelsmann Schüller 
in Blankenheim in der Eifel. 


(Mitte des vorigen Jahrhunderts.) 


Der nachſtehend mitgetheilte Criminalproceß aus 
der Mitte des vorigen Jahrhunderts dürfte deshalb auch 
für einen weitern Kreis von Leſern von Intereſſe ſein, 
weil ſich die Acten eines Proceſſes ſelten in ſolcher 
Vollſtändigkeit erhalten haben und ſie uns einen überaus 
klaren Einblick in den Gang des Inquiſitionsverfahrens, 
die angewandte Tortur und die ſchließliche Vollſtreckung 
der Urtheile gewähren. Sind doch in den Acten ſogar 
die Notizen vorhanden, welche ſich der Vorſitzende des 
Schöffenſtuhls gemacht hat, um bei der vorzunehmenden 
Tortur, wahrſcheinlich der erſten, welcher er in ſeinem 
Leben beigewohnt, die vorgeſchriebenen Formen nicht zu 
verſäumen. Die Acten werden nach dem heutigen Ver— 
fahren bei einem Diebſtahl, in welchem die Beſchuldigten 
im Beſitz der geſtohlenen Gegenſtände angetroffen und ein 
Betheiligter die That ſofort mit allen Einzelheiten einge— 
ſtanden hat, nur höchſtens 20—30 Folien füllen. Hier 
find fie zu einem anfehnlichen Bündel von Actenfascifeln 
angefchwollen, und Hunderte von Seiten nehmen einerjeits 
die verjchiedenen Inquifitionsprotofolle und andererjeitd 
die dem Oberhof zu Koblenz vorgetragenen und von biejem 
Gericht gebilligten Relationen ein. 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller 63 


Wir haben der Darftellung abfichtlich die unfern dem 
Kanzleiftil immer mehr entwöhnten Ohren etwas fremd— 
flingende Sprache des vorigen Jahrhunderts zu Grunde 
gelegt. Für die barbarifchen Formen des damals geltenden 
Procefjes paßt auch der barbarifche Stil. Man wird 
fich vielleicht mit Befriedigung davon überzeugen, wieviel 
menschlicher wir in unfern Strafen und Rechtsanfchauun- 
gen dem vorigen Sahrhundert gegenüber geworben find, 
wieviel deutjcher wir ſelbſt in der Schreibweije unjerer 
Acten und dem Stil unferer Urtheile geworden find. 

Am 24. Juni 1751 wurde der gräflih Manverfcheid- 
Blankenheim'ſchen Kanzlei zu Blankenheim in der Eifel 
gemeldet, daß in der Nacht vom 23. zum 24. Juni in 
die Wohnung des Handelsmannes Schüller zu Blanfen- 
heim eingebrochen jei. Das Gericht hat in feiner vollen 
Bejegung mit dem Oberjchultheiß und zwei Gerichtsjchöffen 
jofort Generalhausfuchung und Augenjchein eingenommen 
und feitgeftellt, daß in die aus Lehm und Stücdhölzern 
gefügte Rückenwand des Kramladens ein jo großes Loch 
gebrochen war, daß ein Menſch bequem einfteigen konnte. 
Die obern Fächer des Kramladens waren ganz geleert 
und die werthvollſten Sachen, Damafte, Zi und Kattun 
im Werth von 300 Thlrn. wurden vermißt, während bie 
minderwerthigen Stoffe unberührt gelajfen waren. Neben 
dem gebrochenen Loch lag ein Pflugfolben, deſſen ſich Die 
Diebe auch damals ſchon zum Erbrechen der Wand be- 
dient hatten. Und um den Zugang von der Wohnung 
des Beftohlenen her abzujperren, während fie mit dem 
Einpaden der geftohlenen Sachen bejchäftigt waren, hatten 
die Diebe die Thür des Ladens nach der Wohnung hin 
mit einem Strumpfband feitgebunden, welches jpäter in 
der Unterfuchung noch eine große Rolle fpielte, 

Auf die Anzeige hin wurden jofort einige Soldaten und 


64 Ein Diebftahl beim Handelsmann Scüller. 


Bürger ausgefchieft, um die Thäter auszufundjchaften und 
zu verfolgen „und namentlich die Heden und Büſche zu 
durchſuchen“. 

Daneben lenkte ſich ſofort, ohne daß ein dafür erkenn— 
barer Grund aus den Acten hervortritt, der Verdacht 
gegen die Juden, welche damals nur auf Grund beſonderer 
Schutzbriefe geduldet waren, und es wurde feſtgeſtellt, daß 
der Jude Joſeph aus Engelgau, einem in der Nachbar— 
ſchaft belegenen Dorfe, flüchtig geworden ſei. Seine Ehe— 
frau wurde am 26. Juni gefänglich eingezogen, „weil ſie 
ſich erkühnt hatte, ſich ohne Schutz und Geleit in den 
gräflichen Landen aufzuhalten“. Bei ihrer Vernehmung 
gibt ſie an, ſie habe gehofft, daß ihnen neuer Schutz ge— 
währt würde, zur Sache aber behauptet ſie anfangs, ihr 
Mann habe ſich in der Nacht des Diebſtahls zu Hauſe 
aufgehalten, ſpäter aber beſinnt ſie ſich, daß er auswärts 
geweſen ſei, er verreiſe oft drei bis vier Tage, ohne ihr jemals 
ſeiner Reiſe Ziel und Zwecke mitzutheilen. Inzwiſchen 
wurde ermittelt, daß der Knecht eines Juden Moſer zu 
Bergheim beſtändig einen verdächtigen Verkehr mit aus— 
wärtigen und umherziehenden Juden unterhalte. Dieſer 
Knecht hatte am 24. Juni beim Schultheiß in Kuchenheim 
eine neue Schlafhaube und etwas Zitz mit dem Bedeuten 
niedergelegt, er habe dieſe Sachen von zwei Juden er— 
halten, die er nach Bonn begleiten müſſe, er wolle ſie bei 
ſeiner Rückkehr wieder abholen. Der Beſtohlene wurde 
nach Bergheim geſchickt und bei Moſer wurden für 
10—12 Thlr. Waaren vorgefunden, welche Schüller mit 
Sicherheit ald ihm gejtohlen wiederfannte. Moſer wurde 
mit jeinem Knecht nach Blankenheim gebracht und fagte 
aus: Am Morgen des 24. Yuni fei der ihm befannte 
Joſeph aus Engelgau in Begleitung von zwei andern ihm 
nicht befannten Juden in feine Wirthichaft gekommen. 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Shüllenr 65 


Alle drei ſeien jchwer mit Süden beladen gewejen, und 
er babe den Joſeph gefragt: „Was haft du denn? Ich 
glaube du trägft ven Dom zu Köln.” Joſeph antwortete, 
er jet Kaufmann geworben und trage Waaren, Joſeph habe 
fie offen im Wirthszimmer ausgelegt, und der Zeuge habe 
ohne irgendeinen Verdacht von den Waaren gefauft. 

Auf Verlangen der drei Fremden iſt der Knecht des 
Moſer mit ihnen weiter gegangen und hat ihnen die Waaren 
auf der Strafe nad Bonn eine Strede weit getragen, 
bis fie einem andern Juden begegneten und dieſen als 
fernern Padträger annahmen. Als Lohn hatten fie dem 
Knecht die Schlafmüge und 1', Ellen von dem Zit 
übergeben. 

Auf Grund der Ausjagen des Mofer und feines 
Knechts wurde eine genaue Beichreibung aufgenommen, 
wie die drei Diebe nach „Statur, Kleidung und ſonſten 
beihaffen gewejen”, und dann der Beftohlene, oder wie 
er in ven Acten heißt, die pars derobata mit dem Re— 
quifitortaljchreiben nach Bonn geſchickt. Zugleich wurde 
demjelben ein Schreiben an den Bertrauensmann bes 
Grafen von Manderſcheid in Bonn, dem kurkölniſchen 
Hofrath von Uphoff mitgegeben und der lettere um Bei- 
bülfe erjucht. In Bonn vifitirte man fofort die Juden— 
gaſſe. ES wurde feitgeftellt, daß die Diebe in der Stabt 
jelbjt bei einem Bäder logirt hatten, und der Beftohlene 
verfolgte diejelben weiter nach Siegburg. Dort wurden 
die beiden Diebe Nathan Levifch und Joſeph Salomon 
mit dem größten Theil der geftohlenen Waaren angetroffen. 
Dei der Bifitation des Joſehh Salomon wurde das 
Gegenftüd des Strumpfbandes, mit welchem die Ladenthür 
zugebunden war, in der Tafche gefunden. Als der Ge- 
richtsdiener e8 ihm aus der Taſche zieht und die Ueber— 
eanitimmung mit dem vom Bejtohlenen mitgebrachten 

XXI. 5 


66 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


Strumpfband feitgeftellt wird, bricht der Schultheiß im 
die Worte aus: „Jud, das Bändel hat dich verrathen. 

Einige Schwierigkeit macht der Transport nach 
Dlanfenheim; denn der Schultheiß von Siegburg ver- 
langt, daß die Inhaftirten durch blanfenheimer Schügen 
abgeholt werden ſollen; durch Uphoff’8 VBermittelung wird 
indeß ein bonner Hufarencommando ausgewirkt und 
unter deffen Leitung werden die beiden Angejchuldigten 
nah Blankenheim gebracht. 

Unterwegs geftand der einundzwanzigjährige Nathan 
Leviſch dem Hufarenwachtmeifter feine Betheiligung an 
dem Diebftahle ein. Jedoch wollte er nur als Knecht 
bet den beiden andern Juden, dem entflohenen Joſeph 
aus Engelgau uud dem Joſeph Salomon gemwejen jein. 
Er fei, fagt er, mit feiner Frau in Holland gewejen, 
von dort nach Neuwied gefammen und habe in Neuwied 
den Juden Joſeph Salomon. kennen gelernt, der ihm im 
jülicher Land Arbeit verjprochen habe. Sie jeien zu— 
fammen ven Rhein herunter bis Bonn gefahren und 
über Poppelsdorf nach Engelgau gegangen, wo fie bei 
dem entflohenen Joſeph einfehrten. „Am folgenden Abend 
gingen fie’, wie er weiter befennt, ‚nach Blankenheim.“ 
Bor dem Drt wurde ihm gejagt, er folle die Schuhe 
ausziehen; er weigerte fih anfangs, Joſeph Salomon 
jetste ihm aber ein Meffer und als er bei feiner Weigerung 
beharrte, eine Piftole auf die Bruft. Infolge deſſen ent- 
ſchloß er fich mitzugehen und an einer Straßenede Schild- 
wache zu ftehen. Kurze Zeit darauf kamen bie beiben 
andern Juden mit drei großen Baden, von welchen er 
den einen überwachte. Dann wanderten jie zuſammen 
nach Siegburg. 

Bei feiner Verhaftung in Siegburg vor dem „praetore 
et V scabinis bejegten Gericht‘ Leugnete Leviſch an 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 67 


fänglich. Später machte er die hier mitgetheilten An- 
gaben, die er im dem in Blankenheim unter den gleichen 
Formen erfolgten inquifitorifchen Verhör wiederholte. 

Joſeph Salomon aus Frankfurt, ein Schutzjude des 
Herrn von Darff, leugnete dagegen alles; er will bie 
Waaren für 25 Piltolen von einem Handelsmann in 
Neumayen gekauft haben. Als ihm das Strumpfband 
in Siegburg aus der Tafche gezogen wird, befitt er fogar 
die Unverjchämtheit, ven Gerichtspiener zu bejchuldigen, 
er habe es ihm heimlich hineingeftect. 

Der am 3. Juli ftattgehabten Inguifition folgten bie 
eidlichen Bernehmungen der Zeugen gleichfall® vor be= 
jegtem Gericht zu Blankenheim bis zum 15. Juli. Frau 
Joſeph aus Engelgau erkannte die beiden Angefchulpigten 
als diejenigen Freinden wieder, welche vor dem Diebjtahl 
eine Nacht in ihrem Haufe zugebracht und fich mit ihrem 
Manne entfernt hatten. Schülfer verficherte, daß die in 
Beichlag genommenen Waaren ihm gejtohlen jeien. Er 
legte Vergleichsftüde vor, die er bereits. vor dem Dieb— 
ftahl von dem gejtohlenen Ballen abgejchnitten und in 
Dlanfenheim verfauft hatte, er fagte aus, daß Joſeph 
Salomon unter dem Vorwande, etwas faufen zu wollen, 
am Tage vor dem Diebftahl in feinen Laden gefommen 
war und dort augenjcheinlich recognofeirt hatte. Auch 
Mofer und fein Knecht beftätigten, daß die ihnen vor- 
geitellten beiden Gefangenen am 24. Juni in Bergheim 
geweien und die Waaren bei fich gehabt hätten. Es 
wurde durch richterlichen Augenfchein der Ort feſtgeſtellt, 
an welchem Leviſch Wache gehalten haben will, und e8 
erwies ſich derſelbe als gut gewählt, weil man von dort 
aus die ganze Hauptitraße überfehen, die durch ein Neben- 
gäßchen eingebrochenen Diebe leicht benachrichtigen und 
jofort ins Freie gelangen fonnte. 


5* 


68 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


E8 liegt noch ein notarielles Protokoll bei den Acten, 
durch welches unter Vergleichung mit der Rechnung des 
fölner Lieferanten mit den befchlagnahmten Stücken feſt— 
gejtellt wurde, daß für 53 Rthlr. Waaren fehlten. Zu 
dieſem Werth mußten aljo die Diebe bereits Waaren 
verfauft haben. 

Joſeph Salomon wurde wieder vernommen. Er er— 
flärte, die Zeugen hätten einen faljchen Eid gejchworen, 
verwickelte fich aber in Widerjprüche mit feinen frühern 
Angaben. Beim Eintritt in das kurkölniſche Land mußten 
die Waaren in Kuchenheim verzollt fein, und in ber That 
wurde auch ber Fuchenheimer Zollzettel aus Salomon’s 
eigener Brieftajche herausgeholt und ihm vorgelegt. Zuerit 
behauptete er, er habe ven Zettel gefunden und die Waaren 
in Brühl verzollt, dann aber fagte er „ganz boshafter- 
weise‘, er fei nicht unter feinen Briefen gewejen, ſondern 
von fremder Hand daruntergefchoben. Zum Schluß 
wurden Leviſch und Salomon confrontirt, die In— 
quifitionsprotofolle gejchlofjen und dem Grafen von Man— 
dericheid mit dem Erjuchen zugefchiet, dem leugnenden 
Salomon Tauf fein Erjuchen defensorem in Köln zu 
beſtellen (als welche hiefigen Orts nicht zu gehaben find) 
und einen oder zweien bewährten Criminaliften als Re— 
ferenten die Protokolle einzuſchicken. 

Wenn man die umftändlichen Formen des Inquifitions- 
procefjes vor bejettem Gericht, die Reguifitionen von 
Blankenheim nah Bonn und Siegburg in ein Nachbar- 
gebiet berüdfichtigt, jo muß man über die Schnelligkeit 
des bier jtattgehabten Verfahrens ftaunen. Am 24. Juni 
ijt der Diebftahl entvedt und am 15. Juli die Unter- 
juchung bereit8 beendet. 

AS Referent wurde ein Rath bei dem Furtrierjchen 
Oberhof zu Koblenz beftellt. Sein Referat füllt bei dem 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 69 


weitläufigen Kanzleiftil des vorigen Jahrhunderts nicht 
weniger als 118 Folien, obwol der Referent nach dem 
Vortrag des aus den Inquiſitionsacten geſchöpften That— 
ſächlichen ſelbſt hervorhebt: 

„Betrachtet man nun ganz genau dieſen Verlauf, und 
daß darauf diefe Juden, wie bejchrieben worden, aljo 
verfundfchaftet, verfolgt und in der That fogar mit den 
Waaren ergriffen worden, jo wird wol fein vernünftiger 
Menſch zu finden fein, der den geringiten Zweifel machen 
wird, daß nicht eben dieſe beiden inhaftirten Juden die 
wahrhaften Thäter feien und jo gut als für überwiejen 
anzufehen find, als ob fie entweder der That geſtändig 
oder auch in flagranti ertappt worden wären.” 

Darauf führt die Relation mit großen Bedenken aus, 
ob auch ein wirklicher gewaltjamer Einbruch ftattgefunden 
babe; denn e8 ſei nur eine Wand von Stüdhölzern mit 
Lehm durchbrochen, fie zerftreut aber diefe Bedenken mit 
ber nicht eidlichen Ausſage der Frau Schüller, welche 
unter Eid zu wiederholen jei, daß neben der durchbrochenen 
Wand ein Pflugfolben gelegen und dicht dabei eine augen- 
icheinlich von den Dieben benutte Yeiter geitanden habe, 
Dann wird ausgeführt, e8 Liege ein gewaltjamer und 
gefährlicher Diebitahl vor, weil deren Theilnehmer jich 
verbunden und Salomon eine in Siegburg bei ihm ge- 
fundene mit vier Stüden groben Schrots und drei Kleinen 
zerhauenen Bleiſtücken geladene Piſtole bei fich geführt 
babe; auch habe er noch fieben Stücke zerhauenen Bleies 
mit Schrot in Mafulaturpapier bei fich getragen. Dem— 
nach Tiege ein armata manu begangene® furtum vor. 

Der Referent führt fort, daß auch ein großer und 
iharfer Diebftahl vorliege, und begründet die Größe jelt: 
ſamerweiſe nicht mit dem Werth und Umfang der in 
der Nacht vom 23. auf den 24, Juni gejtohlenen Sachen, 


« 


70 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 


fondern zieht von demſelben ven Werth der dem Schüller 
wieder zugefommenen Waaren ab, ſodaß er einen wirk— 
lichen Schaden von 73 Rthlrn. herausrechnet. Hier hat 
der Vertheidiger monirt, daß der Werth durch ein notarielles 
Protokoll unter Heranziehung der Rechnungen aufgeftellt 
jei, cum notario non credatur absque testibus und 
ichlägt der Referent daher vor, den Beftohlenen nochmals 
über den Werth zu befragen. 

Er folgert, daß Leviſch auxilium in furto ipso 
commissum präjtirt habe, denn ohne feine Hülfe hätten 
die zwei andern nicht jo viele Waaren fortjchleppen können. 
Man könne fogar annehmen, Levifch ſei der Anftifter 
des ganzen Diebjtahls gewejen. Denn er habe früher 
in Geroljtein gewohnt und dieſen Ort erjt vor fünf Sahren 
verlaffen, weil jein Bater eines Pferdediebſtahls verdächtig 
war, er ſei geftändig, ſchon früher auf einer Hochzeit 
einen Diebftahl begangen zu haben, kenne die ganze 
Gegend und ſei mit der Frau des Joſeph in Engelgau 
verwandt. Augenjcheinlich habe er den fremden Salomon 
in die Gegend gebracht, um mit ihm dort zu ftehlen. 
Er habe feine Abficht, ind Nieverland zu reifen, nicht 
ausgeführt und alle feine Schußreden, er fei gezwungen, 
habe nichts von dem Diebjtahl gewußt, feien nur für 
unwahre Ausflüchte und Lügen zu halten. Er jei baber 
al® confessus reus anzufehen und zur poena lagnei 
zu verurtheilen. Gegen ihn wird noch als belaftend am 
geführt, daß er in Siegburg anfänglich gelengnet und 
behauptet habe, er komme mit den Waaren aus Holland. 

Gegen Joſeph Salomon liege zunächſt nur die Aus- 
ſage des Leviſch vor, ber fein tüchtiger und unver- 
leumdeter Zeuge jei, da er nicht zum juramentum ab- 
mittirt werben könne. „Es haben aber die Criminal 
Rechten erfunden, daß ein jolcher socius fich per tor- 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller 71 


turam habilitrien muß, um dadurch zu beftätigem, daß 
das jeinige wahr fei, wobei denn abjonderlich gefordert 
wird, daß dem Leviſch in der Tortur fein Name des 
socii genannt wird, fondern daß er aus fich felbit heraus 
diejenigen benennen muß, bie ihm in und zu ber That 
verholfen haben. Und ba dieſes noch nicht gejchehen, 
muß Leviſch noch zur fcharfen Frage verwieſen werben, 
jedoch vorbehalt feines Geftändnijjes und des— 
halb in Rechten verdienter Zodesftrafe” Die 
wirkliche Zortur fei bier aber nicht nothwendig, „ſondern 
e8 genüge, daß er dazu verwieſen und ad locum torturae 
cum praeextensione instrumentorum torturalium et 
aliqua ligatura geführt und angegriffen werde und 
dann absque suggestione bei feiner vormaligen Aus- 
jage verbleibe“. Deshalb befürwortet der Referent, daß 
Leviſch auf gebundenen Stuhl geſetzt, und die Daum- 
ſchrauben diefem complici etwas applicirt und ein wenig 
angebrüct werben könnten, um deſto ficherer und um— 
jtändficher die Wahrheit heranszubringen. 

Gegen Salomon jpreche noch, daß er den Zollichein 
über den Ffurfölnischen gezahlten Zoll für drei Pade 
Waaren von Kuchenheim bei fich getragen, während er 
biefelben von Düffeldorf gebracht und bei Brühl verzollt 
haben will. 

Das Referat führt die Widerfprüche in Salomon’s 
Auslaffungen weitläufig aus, äußert feine Anficht dahin, 
dag man ihn für überführt halte, aber alle dieſe Um— 
ftände genügten nicht, ihn zu verurtheilen, und ev müfle 
„wegen jo vielfältigen Verdachts zur jcharfen Frag durch 
alle Grad hindurch condemnirt werben‘. 

Diefes Referat wurde am 20. October 1751 bei dem 
Oberhof in Koblenz vorgetragen und durch Vermittelung 
des Grafen von Mandericheid dem Schöffengericht zu 


72 Ein Diebftahl beim Handelsmann Shüller. 


Blankenheim überfandt. E8 wurden darauf am 1O. Novem- 
ber noch einmal der Bejtohlene Schüller und feine Ehefrau 
unter Eid vernommen. Schüller jchäßte den Werth der ihm 
Ipecificirt abhanden gekommenen Waaren auf 53 Gulven 
und nimmt an, daß ihm noch für 20 Gulden Waaren 
geftohlen feien, welche er nicht näher fpecificiren kann. 
Er fowol wie feine Frau bejtätigen, daß der Pflugfolben 
neben dem in die Wand feines Hauſes gebrochenen Loch 
gelegen und die Leiter angelehnt geftanden habe und beide 
Inſtrumente augenfcheinlich zum Durchbruch benust jeien. 
Ebenfo jagt der nochmals eiblich vernommene Schloffer 
Hermann aus. Demnach war das Bedenken des Ober- 
hof8 gehoben, ob auch ein „wirklicher gewaltfamer Ein- 
bruch“ vorliege, und e8 konnte nunmehr das weitere Ver- 
fahren ftattfinden. 

Am 15. November erfolgt die sententia prima bes 
Schöffenſtuhls Blankenheim dahin: — „wird auf Ge- 
ſtändniß des inquisiti Nathan Leviſch, welch’ Geftänp- 
niß hiermit ausdrücklich vorbehalten und die wohlverdiente 
Todesſtraf refervirt wird, nach eingeholter Nechtsbelehrung 
bei einem auswärtigen Oberhof hiemit zu Recht erkannt 
daß der geftändige Inquifit wegen der bei diefem Dieb- 
jtahl gewejenen Kameraden dahin zur jcharfen Frag zu 
verweifen, um wermittelft derfelben zu befennen und zu 
befräftigen, welcher oder welche diefen Diebftahl begangen, 
wo, wann und wie mit allen babei fürgenommenen Um— 
ſtänden.“ 

Da man am Oberhof in Koblenz vorausſetzte, daß 
die bei Anwendung der Folter zu beobachtenden Umſtände 
in Blankenheim nicht genügend bekannt ſeien, ſo wurde 
der Relation und dem bereits im Entwurf beigefügten 
drei Urtheilen noch eine genaue Folterinſtruction hinzu— 
gefügt: Pro notitia necessarie observanda, welche wir 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller 73 


unverändert in ihrem alterthümlichen Deutſch-Lateiniſch 
folgen laffen. Es lieſt fich aus den Worten das graufige 
Behagen heraus, welches der Referent beim Appliciren ver 
Daumfchrauben und der fpaniichen Stiefeln empfindet, 
indem er noch einige bejondere Feinheiten zur Erhöhung 
der Empfindlichkeit hervorhebt. 


Pro Notitia necessarie observanda. 


Gleich wie die ahnliegende Relation über Beyde in- 
quisitos Juden Nathan und Joſeph Bejaget, daß Erfterer 
der Nathan wegen feiner Bekäntnuß mit dem ftrang Vom 
leben Zum Todt hinzurichten, Der inquisit Joſeph aber 
durch alle gradus Zur ſcharfen Frag zu Condemniren, 
undt wegen des Viellfältigen wieder Denfelben obwaltenden 
Berbachts dardurch zur geſtändnus der wahrheit zu Ver- 
mögen ſeye, Vermit deme gleichwohlen, daß der inquisit 
Nathan feine aufag auf den Juden Joſeph, daß derjelbe 
den Diebftall Begangen, undt ihme den pad waare zu— 
gebracht habe. Durch die fcharfe Fragbeftättige, Vorhero 
auch pars derobata ver jchüller auf feinen geleiteten 
aydt, ſei feine Specification Erlittenen jchadens sub 
litr. E vergeftalt Bejtättige, daß Er dabey gewehen, wie 
der Notarius dieße Specification aus den Rechnungen 
mit Manual Errichtet, dabey Er jelbften demnechſt feinen 
ſchaden alffolchergeftalt überlegt, und nach wiſſen tarirt, 
daß nicht allein die Specificirte waaren auf 53 rthr. 
jonderen auch die ihme ohnwifjende undt manquivende 
waaren auf 20 rthr. ſchätze, und Bekräftige, desgleichen 
muß auch noch des derobati jchüllers Ehefrau furato 
abgehöhrt werden über den Befund nach Bejchehenen 
Diebftall, daß ahn und bey ihrem laden morgends frühe 
auf den 24. Junyh letzthin Ein leither, dan Ein pflug 


74 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


Ehen, oder pflug jeig gejehen, undt gefunden, undt war, 
wie nicht zu Zweiffelen, die Nachbahren undt fonjten 
Semand glaubhaftes Eingleiche® auch der Zeith gejehen 
haben folte, Ein oder anderer Dieſes Ebenfals zu Be— 
fräftigen hätte; welchen nechſt Dan die hiebey kommende 
torturalurthel Deme inquisiten Nathan zu publiciren, 
undt folgender gejtalt zu exequiren währe; 

Dan gleich die Enpliche urthel fo Entgegen venjelben 
abgefaffet, undt auch Hierbeneben gehet, Beſaget, daß 
berjelb wegen feiner geſtändnus mit der Enblicher Todts— 
jtraf zu Belegen jeye, jo wird in bießer torturalurthel 
deſſen geſtändnus undt desfals Verwürkte Bejtrafung 
austrücklichen Vorbehalten, womit Derſelb kein anlaß 
Nehmen möge, ſeine geſtändnus zu revociren, oder zu 
glauben, daß Er wegen dießes Diebſtalls umb zur Be— 
käntnus der wahrheit zu Bringen zu Dießer folter con- 
demnirt werde, ſondern dieſes gejchehet allein, umb vie 
wahrheit undt ficherheit zu haben wegen deren Complicum, 
undt Bey dießem fürgegangenen Diebjtall geweßenen ge- 
jellen, im mafjen gleichiwie feinem Zeugen ohne Jurament 
glauben Beygemeſſen wird, alſo wird Ebenfal® feinem 
Dieb oder übelthäter wegen feiner Complicum glauben 
Beygemeſſen, Er habe dan in der marter inhalts pein- 
licher halsgerichts ordnung art. 31 ſolche ahngegebene 
gejellen und Cammerathen wieberhohlet undt Beftättiget 
Daß ihm gleichwohlen folcher gejellen nahmen in ver 
marter Vorgehalten werde, jondern Es muß derſelb ſolche 
Bon freyen ftüden ohne suggestion Bekennen, welchem- 
nechſt Eine folche nominatio sociorum eriminis fo Vill 
würket, daß daraus Ein zulängliches inditium ad tor- 
turam wieder folche gefellen Entftehet, worauf der in- 
quisit Joſeph Salomon fowohl alsdan torquirt werden 
fan, als wir auch wan über furk oder lang ber flüchtige 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller 75 


Joſeph habhafft gemacht werben folte, undt diefer Von 
ihme Süden Nathan in der marter für den Thäter dießes 
Diebftall8 ahngegeben werden wird, derſelb auf den laug- 
nungsfall Ebenwohl mit ver fcharfen frag ahngegriffen, 
undt darzu Condemnirt werden fünte, wobeh dan folgendes 
in praxi zu observiren ftehet, daß van alfo diefe tortural- 
urthel in gegenwarth Hrn. Richter undt Beyfigeren wobeh, 
zugleich wenigft der ſchultheiß mit 2 jchöffen mit adhibirt 
werden müfjen, in welcher aller gegenwarth dan nicht 
alfein dieße urthel deme Juden Nathan zu publiciren 
jtehet, fonderen publicata. sententia derſelb über ben 
gangen Verlauf des die nacht zwijchen ven 23. auf ben 
24. Juny legthin zu Blankenheim Begangenen Diebitalls 
zu Befragen wehre, ohne daß ihme das geringite davon 
in Specie Vorgehalten werde, mithin außagen, war, wo, 
wie undt welche dießen Diebjtall Begangen, undt war 
dießes aljo gethan, und ad prothocollum per secreta- 
tarium et Judicy scribam aufgezeichnet worden ift, 
Derjelb zu Befragen ift, ob Dan dießes aljo ficher unbt 
wahrhaftig wahr jeye, daß Er die ihme publicirte urthel 
desfals ausjtehen, undt damit Befräftigen wolle, daß Er, 
ohne denen Benenten Complicibus damit waß ohnwahr 
nachzugeben, dieße folter ausftehen wolle, und müſſe, 
worauf fogar in Etwa doch nicht zum fcharffiten gebunden, 
anf den ftuhl gejegt auch wohl die Daumſchrauben dießem 
inquisito nathan Etwas zugefchraubet werden mögen, 
biß dahin davon die Empfindlichkeit in Etwa jchühret, 
wan derſelb nun alles wird alljolchergeftalt Bejtättigen, 
und die Complices ahngeben, jo wird dieße Benennung 
für Richtig gehalten, wo alß dan dem nathan alſo Bald 
die Daumfchrauben loßmachen, undt auf Binden zu laffen 
jeynd, forth auf freyen fuß in der marter Cammer zu 
ſtellen ift. 


76 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 


Wobey dan nochmahls wohl in obacht zunehmen Er- 
innernt wirbt, feine questiones suggestivas zu machen, 
weder den Nahmen des inquisiti Joſeph Salomon, als 
wie auch des flüchtigen Joſephs oder fonften Jemand 
Borzuhalten, fondern E8 muß dießer Nathan alles felbjten 
ahngeben, undt aufjagen, jo Bald nun diejes gefchehen, 
jo fan eadem et altera die die auch hiebei) fommende 
tortural urthel deme inquisito Joſeph Ebenfals in ob- 
gemelter aller ambts und gericht® personen dan auch in 
gegenwarths des nachrichters, wie folches auch bey publica- 
tion Voriger urthel zu Berftehen, in loco consueto 
judicy publicirt werben. 

Welchemnechſt der Hr. Präses deme inquisito Joſeph 
Borzuhalten hatt, wie Er nun mehro fehe, worauf Es 
ahnkomme, undt daß durch peinlihe Marter durch alle 
gradt zur geftändnus der wahrheit Vermöget werden folle, 
weldhe Er gleichwohlen nicht überftehen wurde, folte ge- 
denken, wie Vielle umbitändt Vorhanden, woraus nicht 
anderjt geglaubt werben fünte, als daß Er inquisit dießen 
Diebftall Begangen, undt weſſen auch überzeuget ſeyn, 
durch die aufag des inquisiten Nathans, des flüchtigen 
Joſephs, welcher dardurch fich ſchuldig gegeben, durch 
beffen Eheweib aypliche außag, daß den 22. undt 23. Juny 
in ihrem Hauß geweßen, undt daſelbſt gejchlaffen, ven 
23. aber gegenabendt alle 3 ausgangen, und nicht zurüd 
fommen wahren, tl. des Juden Von Berchems undt 
feines Knechts ausfag, wohin morgens den 24. Juny 
umb 6 uhren mit 3 fchwehren packwaaren fommen, davon 
Dannen auf Cochem (Cuchenheim) fortbgangen, wohin 
des Derchemer Judens Knecht Einen pad Von den Zen 
päden tragen helfen, daß zu Cochem ven Zoll für fich 
und 3 pad bezahlt, undt Bejage auch folches das Bey 
ihme gefundene Zollzettelgen, welches in feinem Kampf— 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 77 


fuder gefunden, daß Endlich felbjten nach Viellen leugen 
gleihmwohlen geitanden, undt gejtehen müffen, daß ven 
25. Juny zu Boppelsvorf mit waaren ahnkommen, wobeh 
dan auch der confessirender Nathan mitgeweßen, nach 
gehaltenem Schabes auf Bonn gangen, undt in Eins 
daßigen Bedershauß aufen ward, wie felbiten Bekennet, 
ſich Einlogirt, diejer fraw auch drey jehnupftücher Ver— 
faufet, Endlich Vom jontag bis Dienftag daſelbſt Ver- 
blieben, Bon dar auf fiegburg gengen, altwo dan auch 
mit den waaren Ergriffen, undt gefänglich überbracht 
worden, wo barbeneben Eine jcharfgeladene pistol, over 
jadpuffert Bey ihme gefunden worden, wie besgleichen 
Das gegentheill Von dem ftrumpff Bendel, womit vie 
Thür, worin geftohlen, zugebunden gehabt, forth auch alle 
waaren Bon dem Bejtohlenen mann Bon Blankenheim 
für die ſeinige ahnErkennet worden feynd, über deme 
nicht Erwißen fan, wo feßhaft, fonderen Viellmehr geftehen 
müffe, daß über all herumb vagire, nuhn jolte hierab 
Erſehen, wie aller dieſer umbſtänden halber ver Be— 
gangenen That überführt jeye, undt nichts mehr abgebe, 
als feine eigene geſtändnus, wo ohne daß allichon jo Viell 
Bekennet, daß man ahn der That nicht mehr zwehfele, 
jolte alfo in der güthe annoch zu ferneren Bekäntnus fich 
anſchicken, BeVor ihm durch die jcharfe Frag die glieder 
zerriffen, undt aljo zum armen Menjch und Kruppel 
gemacht wurde. 

Wan nuhn auf diejes alles nichts Verfangen wolte, 
weniger derſelb fich zur geſtändnus ahnjchiden jolte, fo 
wird dießer inquisit ahnforberift deme nachrichter über— 
antworthet umb zur marter Cammer zu führen, Zu Bor 
aber barzu zu praepariren, nemblich die haar und jonjten 
abjcheren, auch ausKleiden undt genau visitiren zu lafjen, 
ob nicht Etwa derjelb was Verdächtiges Bey fich habe, 


78 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


wo indeffen Hrn. Beambter, undt richterr, wie Vorgemelt, 
zu der Marter Cammer ſich zu VBerfügen haben, allwo 
dan Vorherr der nachrichter feine instrumenta Torturalia 
parat liegen, undt aufgehenkt haben muß, welchemnechit 
dan auch dießer inquisit durch den Nachrichter mit zurück— 
laffung der wacht undt übrig darzı nicht gehörigen per- 
sonen herbey gebracht werden muß, allwo dießem in- 
quisit nach mahls all Boriges kürtzlich Vorzuſtellen ift, 
darneben aber auch alle gradus undt deren instrumenta 
nemblich die Daumftod, die ſpanniſche ftiefelen, und der 
flajchenzug Vorzuzeigen ſeynd, jedes ind Beſondere, mit 
der ahnmerfung undt Verwarnung, daß Er gewiß dieſelbe 
nicht überftehen werde, undt fein laugenen ihme aljo auch 
nichts helfen werde; warn dießes alles aber in der güthe 
Bey dem inquisito nichts DVerfangen will, jo fchreitet 
man zur würflichen tortur, vergeftalt, daß deme in— 
quisiten zu Erſt die Händ zufammen gebunden, dem 
nechſt derſelb auf Einen ftuhl ahn Eine wandt feſt— 
gebunden werde, daß alſo daſelbſt aufricht ſitzen bleiben 
muß, demnechſt werden demſelben die augen Verbunden, 
Beyde Daumen mit jchmahler Cordel umbwickelt undt 
darauf zu Erſt der Daumſtock applicirt, wobey zu Err— 
inneren, daß bießer wie auch die andere Beyde gradus 
jeder Eine Completo 4tel ftundt pflege ahnzudauren, 
undt wird aber Ehender nicht diefe Atel ftundt gerechnet 
zum anfang bis die zutrüdung undt Empfindung Beh 
dem inquisito Verjpühret wird, welche minute der ftund 
dan auch alfo ad prothokollum gejetet wird, umb Zu— 
jehen, wan dießer actus ahngefangen, undt aufgehöhrt, 
wobey aber zu Errinneren ift, daß war der inquisit 
Etwa Belennen zu wollen, undt ihnen loß zu Binden 
begehren würbe, man folchem Begehren nicht gleich gehör 
geben jolle, jonderen E8 hatte inquisit als dan Vor 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller 79 


feiner Loß- Bindung Eine Etwaige glaubliche geſtändnuß 
zu Thuen, welchemnechit Erſt, Loßgebunden werben mag, 
wobey aber wohl zu Bemerfen ftehet, daß alfo bald, wan 
die instrumenta los undt aufgefchraubet werden, daß 
alfo gleich die minut undt Zeith Ebenfalls ad protho- 
eollum PVerzeichnet werde, um in dem Fall, wan anmwieber 
ih auf das leugenen Begeben folte, oder fonft die Rechte 
wahrheit nicht ausſprechen würde, wie jolches öfters ge- 
ſchieht, umb nuhen bie Zeith aljo umb zu Bringen, fo 
fahret man fo lang forth zur rechnen Bon der minut, 
wo man abgelafjfen, dan wo man ahnwieder mit würf- 
licher Empfindung ahnfanget, die Zeith ad prothocollum 
zu ſetzen, undt aljo jo lang zu Continuiren, bis bie 
Völlige Atel ftundt, oder 15 minuten in dem Erften, wie 
auch den anderen Beyden gradibus aljo Vollkommen Voll⸗ 
jogen worden ijt, wobey dennoch weithers zu Errinneren 
itehet, daß, warn: ver Inquisit Iofeph Beftandig in nega- 
tiva Bey allen 3 gradibus continuo Berbleiben undt 
die marter halfftärrig, oder hartnäckig überjtehen jolte, 
jo hatt man Bey Jedem gradu zu Beobachten, daß 
gleichwie die Zujchraubung langfamb nah Ein ander ge- 
ſchehen muß, daß wenigit Bey ablauf der halbſcheid der 
Viertelſtund die ſchraub ſich Völlig zu Befinde, undt dem— 
nechſt, ohne daß auch Etwas der inquisit Bekennet, die 
Daum- oder Beinfchrauben alfo Bald auf- undt Los— 
ihrauben zu laſſen Befohlen werde, fjolches auch ad 
prothocollum notirt werben müffe. Demnechit wird dem 
inquisito das geficht Loßgebunden, die durch die Daum: 
jtode zugejchraubte glieder gezeiget, umb zujehen, wie 
diejelbe zugerichtet, undt zu waß für Einen armjeeligen 
gebrechlichen Menichen Er ich ſelbſten muche, forth warn 
alles nichts DVerfangen will, demnechſt ahnwieder mit 
Etwaiger halber frifcher anfegung der instrumenten auf 


80 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 


frifch fleifch Bei der abgelaffener minut jo lang forth 
fahren, bis die PViertelftund allemahl Vorbey, hiebey iſt 
weither zu Errinneren, daß der Nachrichter zu Verrichtung 
jeiner function nicht allein nachtrudiamb Verwahrnett 
werde, fondern dießer muß atıch feine dexterität darin 
Beweifen, daß Er Bey dem Daumftoden mit Einem 
hammer, nachdeme aufs neu undt fo oft als zugejchraubet, 
darauf Flopfe, welches den inquisitum neue Empfindlich- 
feiten Verurfachet, wie desgleichen pfleget, undt muß ven 
inquisit das Bein, woran bie fchienjchraub ahngeſetzet 
wird, mit ahnbindung Einer dünnen Cordel ahn vie 
große Zehne jolchergejtalt feſt ausgejtredet werden, daß 
das Bein nicht aufliege, noch ruhen könne, undt wird 
demnechjt mit dem Hammerftill Zeithlich darauf geichlagen, 
wodurch diefe geſpante Cordel in Bewegung gebracht, undt 
ber inquisit jolches deſto Empfindlicher jpühret. Bey 
dem leßteren gradu des aufzugs ba dem inquisito bie 
Händt auf den rüden gebunden, undt aljo hinterwärths 
aufgezogen wird, jo ftehet hiebey zu consideriren, daß 
Ein gantes Dannen Bort dem inquisito mit bünnen 
doch ſtarken Cordelen ahn die Zehen gebunden werde, 
welches derſelb nicht allein alſo mit in die höhe ziehen 
muß, jonderen Es hatt der nachrichter Jedoch mit jolcher 
Beicheivenheit, das wohl Endlich dem inquisito nicht gar 
den leib undt glieder aus Einander ziehe, alſo Bejcheident- 
ih undt Yangjamb nach undt nach darauf zu tretten, 
undt zu truden daß nicht allein der inquisit jein Völliges 
gefühl darvon habe, jondern auch durch jothanes lang— 
james aufjtoßen und Bewegen die Erjchütterung ahn feinen 
leib Berjpühre, imgleichen pflegen auch Beh dießem actu 
Etliche quassaten gegeben zu werben, bergeitalt, daß vie 
Cordel, worahn der inquisit hanget, nicht allein Etliche 
mahl durch Einen hammer oder jtodjchlag-Erjchüttert, und 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 81 


Beweget wird, fonderen ber nachrichter pfleget auch, wann 
dem inquisit in ber hohe hanget, Eine folche abmaaf 
zu nehmen, daß auf Einmahl den inquisitum alfo hange, 
oder ohngefehr Einen ſchuh Hoch auf Einmahl fallen Laffet, 
Jedoch dergaftalt, daß weder mit dem leib noch den füßen 
auf die Erde fommet, fonderen gleichwohlen alfo jchweben, 
und bangen bfeibet, in summa gleichwie Bey gefährlichen 
hartnädigen, undt gleichjamb überwiehenen Dieben alle 
Vorjorg undt Behuthſamkeit Vorzufehre alfo auch Viell 
darahn gelegen in folchem casu ahn Einem Erfahrnen 
Richter, undt daß derjelb den nachrichter zu aller prae- 
caution hinweiße, warn derſelb ohne daß Vielleicht derley 
actus Entweder gahr nicht oder gahr jelten practiciret 
hatt, undt Eben darumb man hiebey auch alfo umbjtänd- 
(ich diefen tortural actum zur praecaution ahngezeigt 
hatt, undt wohl zu wünfchen wehre, daß Einem Judicem 
practicum zu dießem casu hatten, oder allenfald fich 
Etwa aus Erjehen mögten, wann jelbiten Vielleicht derley 
actus noch nicht gehabt, undt dabey geweßen, wie im- 
gleichen auch Ein geſchickter nachrichter mit tauglichen 
instrumenten Beh jolchen gefährlichen delinquenten wohl 
Donnöthen it, undt ahnzurathen wehre, wo indejjen alles 
Vorgemeldtes zur genauer observation für jeßo und Etwa 
fünftig anrecommendiret wird. 

Folgen nun auch die quastiones. 

Torturales, worüber der Inquifit Joſeph Salomon 

in der Marter zu Befragen: 

1) Wer den die Nacht zwifchen ven 23. undt 24. Juny 
letzthin zu Blanfenheim Begangenen Diebjtall aus- 
geübt habe. 

2) Wie Viel der Dieb geweßen. 

3) Wan, undt wo dießen Diebitall mit Einander 
unterredet. 

XXIII. 6 


82 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Shüller. 


4) Welcher Eingebrochen, undt Eingeftiegen. 
5) Welcher die gejtohlenen waaren herausgebracht oder 


geworfen. 


6) Wem Er dan die waaren herausgelangt. 
7) Wo dan mit den waaren fich hinbegeben. 
8) Ob undt was, auch wo Von dießen geftohlenen 


waaren Verkauft. 


9) Wo die Erfte nacht nach dem Diebjtall gefchlafen. 
10) Durch waß örther fie fommen, als mit dem Dieb- 


ſtall ſich forthgemacht. 


11) Ob auch als Jud ſeinen Zoll für ſeine person 


undt die waare Bezahlt, undt wo. 


12) Welcher ihm die 3 päck waaren Von Blanken— 


heim undt weithers forthtragen helfen. 


13) Wo fie in CammerXathichaft kommen, dieße undt 


vergleichen mehrere general fragſtück müffen dem 
inquisito Bejtändig in der marter Borgehalten 
werden, wobey ban auch weithers zu observiren 
jtehet, daß warn der inquisit in-der marter ohn— 
fangen wird, zu discutiren Von folchen, welche 
nicht zur haubtjach gehören, jo ijt demſelben fein 
gehör gegeben, noch zu antworth, jonderen E8 muß 
derſelb Bejtändig in genere auf dieſen Diebſtall 
Befragt werden, maſſen durch Vielles raisoniren 
der ſchmertzen Bergefjen, undt jolche reden Vor— 
jetzlich führen, umb aljo die Zeith zu passiren; 
wan biefer tortural actus auf foldhe weiß ob- 
servirt werben wird, jo Beſcheiht dem Kechtlich 
praxı Ein genügen, undt ftehet auch zu hoffen, 
daß die Mechte wahrheit an den Tag komme, 
womit die gerechtigfeit auch deſto gejicherter aus— 
gejprochen werben möge, undt fommen auch hiebey 
die urthelen, wie biejelben zu publiciren, wo in= 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 83 


befjen ber weithere Erfolg auch das weithere weiß 
wird, 

ALS forgfältiger Vorſitzender hat fich der Oberamt- 
mann zu Blankenheim einen furzen Auszug aus dieſer 
Inftruction gemacht, welcher von feiner eigenen Hand 
geichrieben gleichfall8 den Acten beiliegt und den wir 
gleichfall8 der Euriofität halber folgen Lafjen: 


1) debet publicari sententia, 

2) post publicatam sententiam debet interrogari 
in genere nach dem Diebjtahl am 23ten, 

3) muß ausfagen, warn, wie und wer ben Diebftahl 
begangen, 

4) ob diejes wahr ſei und er die im Urtheil benannte 
Folter ausjtehen wolle, ohne Jemand Unrechts 
anzugeben, 

5) demnah muß nicht zum jchärfiten gebunden auf 
den Stuhl gejetst auch wohl die Daumjchrauben 
ihm etwas zugejchraubt werden, bis er davon in 
etwa die Empfindlichkeit verjpürt, 

6) wenn alfo Alles bejtätigen und die complices 
nennen wird, jo wird bie Benennung für richtig 
gehalten und die Daumfchrauben [los zu machen. 


Noch am Tage der Urtheilspublication wurden denn 
auch dem Nathan Leviſch die Daumfchrauben vergeftalt 
zugefchraubt, daß ihm einige Empfindlichfeit verurjacht. 
Gr blieb bei jeinem Geſtändniß und fügte nur noch hinzu, 
daß der flüchtige Joſeph die Yeiter geholt habe, und wurde 
er daranf von der Folter entlafjen. 

Am Tage darauf, dem 16. November 1751, wurde 
den Salomon die sententia tertia dahin publicirt: 

„Daß der Inquifit Joſeph Salomon bei jo vielfältig 
wider ihn vorwaltenden jchweren Verdachts und In— 

6* 


84 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 


zichten — — zur feharfen Frag durch alle gradus zur 
Geſtändniß der Wahrheit zu verweiſen.“ 

Nach der in Gegenwart des Nachrichters erfolgten 
Berlefung wurde er nochmals zur Ausjage der Wahr 
heit ermahnt, dann zur Folterfammer gebracht und ihm 
die Torturalinftrumente mit dem deutlichen Hinweis vor— 
gezeigt: daß er burch jein Leugnen fi zum armen 
Menichen und Krüppel machen würde. Darauf ging man 
zur wirklichen Zortur über mit Applicirung der Daum— 
Schrauben. „Dabei war“, führt nun das Protokoll fort, 
„zu bemerfen, daß obwol man dem Inquiſiten bie 
questiones torturae in biejem Grad beftändig vor- 
gehalten, hat man von demjelben Feine Antwort erhalten, 
fondern er iſt nach etwas jchärferer Zudrückung nach 
ausgejtoßenen wenigen hebräijchen Worten zum Erjtaunen 
und Verwunderung aller Anweſenden in einen feiten Schlaf 
gefalfen.” Bon 10 Uhr 50 Minuten bis LO Uhr 58 Minuten 
wurden die Daumfchrauben zuerjt angelegt; um 11 Uhr 
13 Minuten wieder auf frifches Fleiſch bis nach Ablauf 
einer Viertelftunde. Um 11 Uhr 31 Minuten bat er die 
erite Empfindung der Schtenenfchrauben befommen, 11 Uhr 
37 Minuten wurde ihm das Geficht losgebunden, ihm 
die zugejchraubten Glieder gezeigt, wieder ohne Wirkung, 
und 11 Uhr 45 Minuten wurden die Schienenfchrauben 
bis zum Ablauf einer Bierteljtunde auf friichem Fleiſch 
weiter angelegt. 

Diefes „hartnädige und boshafte Betragen‘ wurde für 
etwas Ungewöhnliches und beinahe Unnatürliches gehalten; 
man glaubte an diefem Tage auch durch Applictrung des 
dritten Grades nichts zu erreichen und verjchob die 
Brocedur. 

Am folgenden Tage wurde um 10 Uhr 19 Minuten 
Vormittags mit dev Tortur fortgefahren. „Bei lang: 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 85 


jamer Aufziehung it er ſofort in einen Schlaf verfallen 
und obwohl der Nachrichter feine Derterität bezeigt, ven 
Juden etliche mal Herabichnappen laſſen und fonftige 
geift- und natürliche Mittel gebraucht, doch fein Wort 
von ihm erzwungen.” 

Das Berfahren gegen den geftändigen Nathan Leviſch 
bot feine criminaliftifchen Schwierigfeiten mehr. Es lag 
ein unumwundenes Geſtändniß feiner Betheiligung am 
Diebftahl vor, und nad dem Grundſatz der Carolina: 
„Das Geſtändniß ift die Krone der Beweiſe“, waren bie 
darten und graufamen Strafbejtimmungen des Geſetzes 
nur auf den Gejtändigen anzuwenden. Jedenfalls kannte 
Nathan Leviſch das ihm drohende Schickſal. Er fuchte 
ihm dadurch zu entgehen oder e8 zu mildern, daß er vom 
eriten Tage feiner Verhaftung an „ſich anheifchig machte, 
den römijch-Fatholifhen Glauben anzutreten”. Zwei 
blanfenheimer Seminarijten haben ihn dann in der Freude 
ihres Herzens über die gewonnene Seele tagtäglich im 
Gefängniß in der Lehre der Kirche unterwiefen und zwar 
ohne daß von diefem Umſtande dem Landesheren nad 
Köln berichtet wurde. Erſt als im November die Kälte 
ben Aufenthalt im Kerker unerträglich machte und jo den 
frommen Bejtrebungen ein Hinderniß bereitete, bittet ber 
eifrige Seminarift in „unbejchreiblicher Freude über die 
große Begierde des Leviſch zur heiligen Taufe zu 
jhreiten‘‘, dem Arreftanten ein anderes Gefängniß an— 
zuweiſen, „wo ein Geijtlicher zu weiterem exercitio ſich 
der Kälte halber bei demjelben aufhalten fünne. Der 
Graf von Manderſcheid geftattet indeffen auf den ein- 
geholten Bericht nur, daß der Delinquent ein- und das 
andere mal ohne Gefahr des Echappirens auf das Haus— 
gefindezimmer gebracht und daſelbſt Beiſeins benöthigter 
Mannſchaft von der Wache inftruirt werde”. Zugleich 


86 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


droht er der ganzen Compagnie, voran aber dem wacht- 
habenden Sergeant, Corporal und Gefreiten, die jchärfite 
Strafe an, wenn fie nicht jorgfältig Wache halten. 
Leviſch erreicht denn auch durch die bezeigte Frömmig— 
feit und Ausdauer in der Unterweifung, daß alle Semi— 
nariften am 20. November den Landesheren um Gnade 
für den Delinquenten bitten, und auch die Kanzlei berichtet 
auf hochgräfliche Anfrage in jener Zeit, daß derjelbe im 
hrijtlichen Glauben wohl unterrichtet fei. 

Der Landesherr felbjt feheint indeß von der Skepſis 
des vorigen Jahrhunderts etwas mehr angefränfelt zu 
fein als feine glaubenseifrigen Blanfenheimer; denn er 
(äßt die Unterweifung bis Mitte Januar 1752 fortdauern 
und jchreibt dann: „Der Jude Nathan Leviſch wird 
hoffentlich bereits im Chriftenthum zureichend unterwiejen 
und auch noch gefinnt fein, in den Schoo8 der römijch- 
fatholifchen Kirche zu treten. Wenn e8 nun babei bleiben 
folfte, jo habt ihr anbeigehendes am Oberhof zu Koblenz 
ergangenes Todesurtheil der Drbnung nach zwar zu 
publiciren, gleichwohl anjtatt des Strangs durch das 
Schwert ihn hinrichten und zwei Tage vor der Publication 
und Erecution taufen zu laffen. Dann mag die Geijt- 
(ichfeit dejjen Beharrlichkeit aufzumuntern ihın davon wol 
die Nachricht geben mit ber Erinnerung jedoch, e8 müſſe 
feine Seel und Seelenheil und nicht die Strafminderung 
das Hauptziel der Befehrung ſein.“ 

Das zweite in diefer Sache gegen Leviſch ergangene 
Urtheil des Oberhofs zu Koblenz lautet: „— — daß 
— Leviſch wegen geftändiger Anwejenheit bei diefem großen 
Diebjtahl zu Blankenheim getragener Beihülfe und anderer 
in actis vorgefommener Umftände zur wohlverdienten 
Straf und Andern zum abjchredenven Erempel mit dem 
Strang vom Leben zum Tode hinzurichten und dazu zu 


Ein Diebftahl beim HSandelsmann Schüller. 87 


verweijen, als wir denn hiermit für Recht erfennen mit 
dem Strang vom Leben zum Tode hinzurichten befehlen 
und verweiſen.“ 

Das durch landesväterliche Huld gemilverte Urtheil 
wurde am 20. Januar 1752 an Leviſch volljtredt, und 
‚ die Kanzlei berichtet darüber, „daß er nach vorher em— 
prangener Tauf und Wegzehrung in Begleitung des ehr- 
würbigen patris guardianı des Kapuciner-Ordens zu 
Münjtereifel, deſſen Gejellen und zweier Seminarijten 
zum auferbaulichen Exempel aller anweſend geweſenen 
Chrijtfatholifchen in Verfolg der ihm in diefem Fall ver- 
liehenen Gnaden am 20. Januar mit dem Schwert hin- 
gerichtet und dabei das Amt des Nachrichters wohl ver- 
richtet ſei“. 

Größere Schwierigkeiten bot das weitere Verfahren 
gegen Salomon. 

Nach den Regeln der Carolina und der herrichenden 
Auffaffung ihrer Lehren hätte der Inquifit in Wreiheit 
gejegt werben müſſen. Derjelbe war aber, wie ſich aus 
den über ihn eingezogenen Erfundigungen ergab, ein übel- 
berüchtigter Mann und mit in einen Raubmord an einem 
Paftor in Gravenbroich verwidelt, in welchem Proceß 
jeine Mitſchuldigen gerädert worden waren. Deshalb 
berichtet die Kanzlei am 22. November an den Grafen 
von Manderſcheid: „Gleichwohl nun der Jude Salomon 
die Folter durch alle Grad ausgejtanden, mithin vor und 
nah boshaftiger und halsjtarriger Weife von dem Dieb- 
jtahl nichts eingeftand, jo haltet man doch dafür, daß 
diejem ungeachtet in gegenwärtiger fo klarer Sade, ba 
nur die eigene Geſtändniß mangelt, derjelbe keineswegs 
auf freien Fuß gejett werde, damit dem publico von 
jolh boshaften Menſchen über kurz oder — kein großes 
Unheil verurſacht werde.“ 


88 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 


Die Acten werden num wieder an den Oberhof zu 
Koblenz eingejendet und eine Nechtsbelehrung erfordert. 

Die darauf am 6. December 1751 am Oberhof er- 
itattete ulterior relatio hebt alle Umftände hervor, welche 
gegen Joſeph Salomon fprechen, tadelt, daß die Tortur 
nicht in continua serie et una die vorgenommen, fondern 
die zwei erjten Grade am 16. und der dritte am 17. 
appficirt fei, hält aber in dieſem Punkte dafür, daß nicht 
contra iura verfahren: „erwogen für's erite die Um— 
jtände, wie hernnach folgen wird folches vernünftig erfordert 
haben, für’ andere fo waren die 3 gradus ben erjten 
Tag nicht vollzogen und folglich die andictirte Tortur 
auch noch nicht ihren Effect und finem erreicht hatte, 
für’8 dritte, jo hat man secunda die ab illa tortura 
angefangen, wo man vorigen Tags abgelafjen, für’s Ate 
jo hat man secunda die nidt a primo gradu an— 
gefangen.” Deshalb liege feine repetitio torturae vor, 
zumal die Unempfindlichfeit und der hartnädige Schlaf 
des Delinquenten die Anwendung des ten Grades am 
eriten Tage ausgejchloffen habe. 

Der Referent zweifelt nicht an der Schuld, tritt 
aber dann in die Frage ein, was denn bermalen zu 
Iprechen jet. 

Nach der Carolina equ. 61 feien dem Delinguenten 
die Abzugskoften zur Laſt zu legen, aber er müffe ab- 
jolvirt werben. 

Die Folge davon wäre, daß die Sachen als nicht 
geitohlen und die Behauptung des Joſeph Salomon über 
ihren redlichen Erwerb für richtig angenommen werden 
müſſe, dagegen fprechen aber die eidlichen Ausſagen des 
bejtohlenen Schüler und der übrigen Zeugen. Demnach 
jet anzunehmen, daß fih Salomon im Befit gejtohlener 
Sachen befunden, daß er am Dienstag bei dem Be— 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schiller. 89 


jtohlenen im Laden gewejen, daß er mit in dem Haufe 
des flüchtigen Joſeph geichlafen und nachher mit dem 
geftändigen Leviſch zuſammen mit den geftohlenen Sachen 
betroffen ſei. Im ſolchen Fällen jchreibe aber ver be- 
rühmte Leyſer in thesi 640: 

„dum jura reum etenim naturaliter convictum 
si tamen tormenta pertulit nihilque confessus est 
absolvi oportet atque iter judex contra scientiam 
suam judicare cogitur, attamen conscientia sua con- 
sulat, rem ad principem referre et improbus in- 
ficator in opus publicum detur suadere potest.“ 


(Wenn der durch die natürlichen Umftände Ueberführte 
‚die Folter überftanden hat, ohne ein Geſtändniß abzu— 
legen, ift er nach dem Recht freizufprechen, und der Richter 
wird jo gezwungen, gegen jein Gewiffen zu urtheilen, 
dann ſoll er dennoch in feinem Gewiffen berathen, ob 
er die Sachlage nicht dem Fürſten vortragen und biejem 
rathen foll, den hartnädigen Leugner in ein Arrefthaus 
bringen zu lafjen.) 

Weiter fage Leyſer, der König ſolle diefe Entſcheidung 
treffen dürfen, wenn er aber hier vom Könige rede, jo 
jet zu bedenken: 

„quod quilibet dominus in supposito quod do- 
minium habeat ıillimitatum et jurisdiectionem superio- 
rem, sit rex et imperator in sua ditione itaque 
habeat potestatem puniendi reos ad mortem usque 
iter etiam desuper leges condere.“ 

(daß jeder Herr in dem Bereich, in welchem er bie 
unbegrenzte Herrichaft und die höhere Jurisdiction aus— 
übe, König und Kaiſer ſei und daher die Gewalt habe, 
die Schuldigen zum Tode zu verurtheilen und darüber 
Geſetze zu geben.) 


99 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


Dann fährt der Referent wörtlich fort: 

„Wogegen zwar wiederum jtreitet, quod leges obligant 
in futurum non in praeteritum, aber dahier wird es 
nit proprie pro lege lata angejehen, ſondern weil 
eben dem Landesherrn viel an der Ruhe in feinem Land 
gelegen, daß er ſolche auch auf alle rechtliche Weg zu 
verichaffen ſchuldig und gleichwie nach den gemeinen Rechten 
ein jolcher Frevler, welcher vermitteljt der Tortur eine 
Miſſethat abgeleugnet, darnach, wenn feine andern Um— 
jtänd vorhanden, muß ab observatione judicii abjolvirt 
und praestita urpheda bimittirt werben, jo ergiebt jich 
ex praecedente, daß auch ein Landesherr bei jo viel 
übrigbleibenden Umſtänden mit einer exrtraordinarien Be— 
jtrafung zur Erhaltung der Ruhe im feinen Yanden und 
diefes um deſto ficherer damit fürgehen könne, als jogar 
ber befennende complex Nathan Leviſch wegen dieſes 
Diebftahls rechtlich mit ver ordinären Strafe des Strangs 
belegt werden joll, mithin aljo auch Fein Zweifel dabei 
obwalten werde, daß vefhalb auf Grund feiner Befennt- 
niß und die Ausfage ſeines complicis der Joſeph Sa— 
(omon leben und fterben werde. Und wenn diejes Alles 
auch nicht wahr, was vorher ex Leysero angeführt und 
ver rechtlichen Bernunft gemäß erjcheinet, fo habe ich Doch 
feinen Anftand über das den Inquifiten Salomon nad 
Inhalt der jüngeren Kur- und Rheinifchen Kreis-Pönal— 
Sanftion, als worunter die Grafichaft Blankenheim ge- 
hörig mit einer Feitungs- Arbeit zu belegen. Inmaßen 
daſelbſt verordnet ift, daß jolche herumvagirende, müßige, 
nirgendwo jeßhafte Leut, welche zu 2 und 3 und mehr 
herumvagiren und alfo ergriffen werden endlich und zulett 
auf zeitliche und ewige Fejtungsarbeit gejetst werben mögen. 

Sic relatum et approbatum am Oberhof in Koblenz 
am 6. December 1751.“ 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Shüller. 91 


Wie Mufif mag eine derartige Relation dem fleinen 
Eifeldynaſten des vorigen Jahrhunderts geflungen haben, 
in welcher er an Machtuollfommenheit dem Kaifer und 
König gleichgejtellt und ihm das Necht eingeräumt wird, 
über Leben und Tod Gejege zu geben. Deshalb ver- 
ordnet er auch alsbald, „daß der Ingquifit auf lebens: 
linglih zum Stod- oder Zuchthaus verwiefen und ver- 
dammet werben foll und weilt das Schöffengericht zu 
Blankenheim an, nach Anzeige der beigefügten Relation 
das Urtheil ohne Anftand zu verfaffen und dem Delin- 
quenten zu publiciren. Aber ver Kaifer und König befitt 
fein Stock- oder Zuchthaus, und deshalb verfügt er be= 
iheidener weiter, copiam des Urtheils an ven furfölnijchen 
Hofrath von Uphoff zu fchiden und demſelben wegen des 
faiferswerther Stockhauſes zu empfehlen, ob es nicht 
angehe, denſelben lebenslänglich gegen jährliche Abzugs— 
foften, die fih auf 25 Rthlr. belaufen jollen, in jenes 
Stodhaus hinzufegen. 

Schon vorher war mit der Kanzlei berathichlagt, was 
man mit dem Verbrecher anfangen folle, da ja Fein 
geeignetes Gefängniß vorhanden war. Die Kanzlei hatte 
auf das Faiferswerther Stodhaus hingewieſen, wo für 
die Unterhaltung derartigen Gefindels 13 Rthlr. jährlich 
gezahlt zu werben pflege. Man hatte auch jchon durch 
durabele Anfrage in Kaijerswerth die Unterbringung zu 
erreichen verfucht, allein der Vorſteher des Stodhaufes 
hatte unter unterthäniger Bereitwilligfeitserflärung, den 
Delinquenten gegen Zahlung von 25 Rthlrn. aufzunehmen, 
ich nur dann dazu im Stande erflärt, wenn die Land— 
jtände einverftanven feier. Denn das Stodhaus ſei nur 
für das Erzitift Köln gebaut. 

Nach Anweifung des Landesherrn und der Foblenzer 
Relation gemäß lautete denn auch das Urtheil des Schöffen- 


92 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 


jtuhls dahin, daß Salomon zwar wegen überjtandener 
Zortur nach vorläufiger abgejchworener Urphede ab ob- 
servatione judici mit Abtrag gleichwohlen feiner Ab- 
zugs- und Defenfionskoften zu abjolviren, wegen ſchweren 
in actis enthaltenen Verdacht und Argwohns ja jelbiger 
Bekenntniß zur Sicherheit der Landesunterthanen auf 
febenslänglich zum Zucht- oder Stockhaus zu verweifen 
und zu verbammen (29. Januar 1752). 

Die Copie des Urtheild wurde an Uphoff geſchickt 
und der Antrag auf Aufnahme des Salomon in das 
faiferswerther Stockhaus gejtellt. Der Hofrath präfentirte 
das Urtheil der kurkölniſchen Regierung, „va aber felbige 
in demjelben eine offenbar gegen die Rechte anlaufende 
Contradietion erkannte“, jo trug fie Bedenken, das Urtheil 
mit dem von dem eifrigen Hofrath bereit8 entworfenen 
Schreiben an Se. furfürftl. Hoheit abgehen zu lafien, 
„damit man unnöthiger Dinge an fremden Sachen jich 
nicht pflichtig mache‘, und erbat fich zunächſt die rationes 
decidendi. 

Diefe rationes werben bereitwillig geſchickt in ber 
Zuverficht, „daß dieſer Jud Salomon angetragenermaßen 
zum Stodhaus auf Kaiferswerth geführt werden möge, 
wobei um fo weniger Bedenken vorhanden, da jelbiger 
nach Inhalt der decisiones dazu verurtheilt und Die 
Sentenz dem Delinguenten bereits publicirt jet“. 

Aber auch die rationes genügen noch nicht. Der 
Hofrath zweifelt fehr, „daß man felbige für gut und 
in jure fundirt anfehen werde. Ich möchte an folchen 
Urtheil fein Theil Haben“, will aber die Sache noch ein- 
mal vortragen. Und zehn Tage fpäter verlangt er ven 
völligen Inquifitionsproceh, „denn die furkölniiche Regie— 
rung bat unanime nad) Einficht des Urtheil® cum ra- 
tionibus decidendi bejchloffen, daß fothanes Urtheil im 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 93 


denen Rechten nicht bejtehen könne; deßhalb möge der 
Reichsgraf den Inquifitionsproceß einem Bonner hoben 
Gerichtsſchöffen zur Relation einfchiden, damit die unter- 
laufenen groben Fehler abgeändert und der Inguifit in 
das Stodhaus gebracht werden könne“. 

Hierauf antwortet der Graf fofort, er werbe bie 
Acten nicht einjchiden, und e8 erfolgt zugleich ver Befehl 
an die Kanzlei, einem etwa an fie gerichteten directen 
Erjuchen um Acteneinfendung nicht zu entjprechen. Mit 
diefem Befehl Freuzt fich ein Schreiben der Kanzlei, von 
welcher direct die Einjendung gefordert war. Sie führt 
aus: „daß die kurkölniſche Hofraths-Regierung die völligen 
acta inquisitionis anzufehen begehrt, um ein anderes 
Urtheil abfaſſen zu laſſen, iſt wohl ein befremdliches Zu— 
muthen und muß diefes vermuthlich aus einer politischen 
Urfach herrühren, da doch alle Umftänd und Gejchichts- 
erzählung in dem berjelben überſandten rationibus und 
Dabei von dem Coblenzifchen Hofgericht oder deſſen Eriminal- 
Referendario weitwendig wiederholt worden.“ 

Die Kanzlei führt aus, daß in dergleichen Fällen die 
Criminaliften gejpaltener Meinung feien, da einige ben 
Inquifiten, welcher die Tortur ausgeftanden, praestita 
urpheda losſprechen und bemittiren, andere aber ihn 
ab instantia, aber nicht definitive abjolviren wollen, 
bezieht jich für die lettere Anficht auf Carpzov und ſtellt 
die Entjcheidung dem Grafen anheim. 

Der Brief, mit welchem der Neichsgraf das an ihn 
und jeine Kanzlei gejtellte Anfinnen beantwortet, iſt jehr 
harakterijtiih und lajjen wir ihn daher mit Hinweg— 
laffung des Eingangs folgen: „und diene darauf in 
Antwort, daß die begehrte Infpeftion des Inquiſitions— 
Verfolgs, um ein anderweites Urtheil daraus abzufaſſen, 
deßwegen überflüffig, weil einestheild die Urtheil dem 


94 Ein Diebftabl! beim Handelsmann Schüller. 


Delinquenten jehon publicirt it, mithin dieſe nicht mehr 
geichärft werben fan. Andrentheild bewegen mich bie 
Umftände der Gejchicht, alle Vorkehrung zu thun, damit 
ein jolcher Böjewicht außer Stande gejegt werde, meinen 
und den benachbarten Unterthanen hinfüro Schaden zu 
thun; folglich möchte ich nicht gern ſehen, daß man nun— 
mehro trachten möge, jelbigen von allem Verdacht zu ab- 
ſolviren und er dadurch auf freien Fuß gejtellt wurde. 
Auch ift das Koblenzer Oberhofgeriht mit vergleichen 
wacdern Leuten befanntermaßen beftellt, daß man fich ihrer 
Decifion ohne zu bejorgender Verantwortung confirmiren 
darf. Daß anfonjten der Hofrath die Urtheil einzufjehen 
verlangt, habe ich nicht unbilligen Fönnen, daß felbiger 
aber ferner die rationes decidendi auch begehrt, daraus 
blidte ſchon eine fichere Geringjchätung meiner heim- 
gelafjenen Regierungsfanzlei. Auch würde die Communi- 
cation nicht erfolgt fein, wenn ſelbige fich nicht damit 
übereilt hatte.” Es folgt die Aufforderung „bei jolchen 
der Sachen Eigenheit den Hof-Rath auf andere Gevdanfen 
zu bringen und den Bericht zu veranlaſſen“. 

Uphoff antwortet: „Es ift ganz und gar nicht die 
Frage, ob das Urtheil gejchärft werben foll, ſondern im 
Gegentheil wird dafür gehalten, daß jolches allzu ſcharf 
jet, weil der Ingquifit nach ausgeftandener Tortur a poena 
mortis abfolvirt und in eine andere dem Tod gleiche 
Strafe verdammt worden ift. Ich laſſe es dahin ge— 
jtelft, ob der Oberhof zu Coblenz mit wadern Leuten 
bejtellt it und ob Ew. Hochgräfl. Excellenz jich deren 
Decifion ohne zu gefährender Verantwortung confirmiren 
bürfen. Man darf Niemand bejonders von auswärts 
in das Stockhaus jegen, e8 ſei denn, daß man bei hiefiger 
Regierung erfennt, daß er durch Urtheil im Recht dazu 
condemnirt worden fei. E. E. ermefjen demnach, daß 


Ein Diebftabl beim Handbelsmann Schüller.. 95 


man bei einem fo dunklen Urtheil boppelfältig billige Ur- 
fach gehabt habe, die rationes dec. anzufehen, da es müge 
das Urtheil gejtaltet fein, wie e8 immer wolle, der In— 
quiſit niemals in's Stodhaus aufgenommen werde. 

„Dan hat auch den Gedanken nicht, daß dieſer dem 
publico gefährliche Menſch auf freien Fuß geftellt werde, 
fondern um Hochberjelben eine gefällige Gewierigfeit zu 
bezeigen, hat man das medium erjonnen, daß E. E. die 
Akten anhero fchiden mögen, damit man hierdurch in 
Stand gejegt werde, ferner an Hand zu geben, wie dem 
Verf durch einen einzelnen Federzug, ohne eines Menfchen 
Sewifjen zu Fränfen, abzuhelfen ſei, welches visis actis 
um jo eher gejchehen kann, als Hochderoſelben als Landes— 
herrn das jus aggratiandi mithin auch die Urtheil certo 
respectu vermuthlich ratione laborum publicorum et 
quidem perpetuorum zu mindern je und allezeit frei 
ſteht, wo es bei dem ewigen Gefängniß zu belaſſen oder 
gleichwohl dieſe paſſage ſo glimpflich geändert werden 
könnte, daß es gleichwohl über eins herauskommt, wozu 
ferner Nichts gefordert wird, als daß man ſage: der 
Inquiſit ſolle ſo lange als Hochderoſelben gefalle in dem 
Stockhaus aufbehalten werden.“ 

Der Graf ging auf dieſes Anſinnen indeß nicht ein; 
er erſuchte Uphoff nochmals ſeinen Credit bei dem Kur— 
fürſten geltend zu machen, gab aber in der Zwiſchenzeit 
der Kanzlei ſchon den Befehl, zu überlegen, ob ſich zu 
Blankenheim außer dem Schloß auf geringe Koſten ein 
Ort ausfindig machen laſſe, wo der Delinquent ohne Ge— 
fahr des Entweichens hingeſetzt werde. 

Wie vorausgeſehen bedauerte Uphoff, dem Herrn Grafen 
nicht, wie er gewollt, gedient haben zu können, da der 
Statthalter bei ſeiner Anſicht verbleibe. Und nun wurde 
nach langen Schreibereien die Herrichtung eines Gefäng— 


96 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


nifjes für Salomon auf dem Schlofje zu Gerolftein an— 
geordnet und mit jcharffinniger Unterjcheivung bejtimmt, 
daß die Mittel zur Inſtandſetzung des Gefängnifjes von 
der Srafichaft Gerolftein, daß aber das Waffer und Brot 
für den Delinquenten vom Schloßwachtmeijter herzugeben, 
die Bewachung durch deſſen Knecht zu erfolgen, da der 
Gerichtsbot fich Hierzu nicht emplotiren laſſe, die Ab- 
gangsfoften aber aus den Mitteln der Grafjchaft Blanfen- 
heim beftritten werden jolften. 

Später ift Salomon noch nach Burg Bettingen trans- 
portirt, „und dort am 3ten März 1755 als ein Hart- 
nädiger Jud abgereift und hat von feinem Geiftlichen 
und feiner Belehrung etwas wifjen wollen“. 

Einige charafterijtifche Einzelheiten find aus dem Ver— 
fahren noch hervorzuheben. Wir haben oben jchon bemerkt, 
daß die verhältnigmäßige Schnelligkeit des Berfahrens 
angenehm berührt. Dahin gehört auch die prompte Er- 
ledigung der Kequifitionen. Der Diebftahl war in der 
Nacht vom 23. auf den 24. Juni vorgenommen, und 
wenn auch neben dem offictellen Requifitionsjchreiben an 
die kurkölniſchen Behörden das Privatjchreiben an den gräf- 
lichen Vertrauensmann in Bonn, den Hofrath von Uphoff, 
bejchleunigend und ebnend eingewirft haben mag, fo tft 
e8 doch viel, daß am 30. Juni ber fiegburger Stadt— 
jchultheiß jchon ver Abhebung halber vorläufig bejcheinigt, 
daß die Diebe ertappt und bereits mit vorſorglichem Ver— 
hör der Anfang gemacht if. Und am 3. Juli wurde 
bereits in Blanfenheim mit dev Inguifition begonnen. 

Unter den Gerichtsfoften find diejenigen des foblenzer 
Oberhofs befonders zu erwähnen. Dort werden für bie 
erite Relation mit den Urtheilsentwürfen etwa 48 Rthlr., 
an Porto der Acten von Koblenz nach Blankenheim über 
3 Rthlr. und für die zweite Relation 12 Rthlr. berechnet. 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 97 


Dem Bertheidiger find 9 Rthlr. zugebilligt. Der fieg- 
burger Stabtjchultheiß berechnet die durch die dortige vor- 
läufige Inquifition entjtandenen Koften auf 12 Rthlr., 
miteingejchloffen 3 Rthlr. für die von zwölf fiegburger 
Schüten bejorgte Bewachung der Feitgenommenen. Und 
um unnöthige Botengänge zu fparen, zieht er dieſen Be— 
trag gleich von der bei Joſeph Salomon vorgefundenen 
und beichlagnahmten Baarichaft ab, ein jehr kurzes, aber 
boch etwas eigenmächtiges Verfahren, da dieſes Geld dem 
Salomon gebört und mit dem Verbrechen in feinem Zu: 
ſammenhang jtand. 

Beim Durchlefen der Acten vergeffen wir ganz, daß 
der Criminalproceß fih um die Mitte des vorigen Jahr— 
hunderts abjpielt, kaum vierzig Jahre vor der Franzöſiſchen 
Revolution, im Jahrhundert der Aufklärung, als Tho— 
maſius in Halle jchon eine humanere Auffaffung des 
Strafrecht zu verbreiten verjuchtee Daß hier im der 
Eifel noch die Folter herricht, fan nicht wundernehmen. 
Hatte doch der große König erjt elf Jahre früher bei feiner 
Thronbefteigung für Preußen die Tortur bejeitigt. Hier 
jtehen wir noch ganz unter dem finftern Schreden ber 
Carolina. Und die Richter find noch jchredlicher als das 
Geſetz jelbft. Denn nach dem Geſetz, welches nur ven 
Gejtändigen ftrafte und deshalb zur Folter griff, um ein 
Geſtändniß hervorzubringen, mußte der Verbrecher, welcher 
alle Grade der Folter erduldet Hatte, ohne ein Geftänd- 
niß abzulegen, freigejprochen werben. Hier aber halten 
- fie ven Salomon fejt und verurtheilen ihn aus landes— 
herrlicher Machtvollkommenheit zu lebenslänglichem Stod- 
haus, weil er den Unterthanen des Grafen von Wander: 
icheiv gefährlich fei. Der arme Menſch, an Geift und 
Körper durch die Folter gebrochen, ſoll noch gefährlich 
fein. Und die furkölnifchen Juriſten wollen ſchließlich 

XXIII. 7 


98 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schiller. 


dafjelbe nur in anderer Form, wie aus den Briefen des 
Hofraths von Uphoff hervorgeht. Sie halten e8 nur 
für falfch, daß diefe Strafe im Urtheil ausgeiprochen jet. 
Nach ihrer Anficht mußte das Urtheil die Freifprechung 
ohne Clauſel anordnen. Dann aber follte ver Graf als 
Landesherr wegen ber Gemeingefährlichfeit des armfeligen 
Krüppeld die Verweijung zum Stodhaus ausiprechen und 
die Thore von Kaiferswerth würden fich für Salomon 
geöffnet haben. In der Praxis alfo vafjelbe: ein Hin- 
wegfegen über Recht und Geſetz aus Gründen der Zweck— 
mäßigfeit und der abjolute Kandesherr, der oberfte Richter, 
über dem Geſetz, wenn das lettere die Verurtheilung des 
Delinguenten nicht geftattet. 


Der Proceß wider den Dr. med. Flocken wegen 
Vergiftung aus Sahrläffigkeit. 


(Straßburg im Elſaß.) 
1887 und 1888. 


Die veutfchen Gerichte haben fich in ven letzten Jahren 
häufiger als bisher mit Fällen auf dem Gebiete der fo- 
genannten „Arztlichen Kunftfehler” zu befchäftigen gehabt. 
Mag der Grund darin zu fuchen fein, daß folche Fehler 
heutzutage mehr an die Deffentlichfeit dringen, oder daß 
man ihnen abfichtlih, zum größern Echuge von Leben 
und Gefundheit des Publikums, jeitens der Behörde ener- 
giſcher entgegentritt: bald bier, bald dort hört man von 
einem gegen Aerzte oder Apothefer eingeleiteten Strafver: 
fahren, welches in den jelteften Fällen mit Freiſprechung 
endigt. 

Ein in jeder Beziehung hervorragender und in ben 
weiteften Kreifen Aufjehen erregender Fall diefer Gattung 
lag in dem verfloffenen Jahre der Straffammer des 
faijerlichen Landgerichts zu Straßburg im Elſaß zur 
Aburtheilung vor. Sowol die Zahl der Angeklagten, 
al8 deren verhältnißmäßig angejehene Stellung in ber 
ftraßburger Gefellichaft; nicht minder auch die beflagens- 

7* 


100 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


werthen Opfer der ärztlichen Fahrläffigfeit und die un— 
würdige Art, wie man dabei anfänglich den Thatbejtand 
zu verbunfeln und die Behörde zu hintergehen bejtrebt 
war; mehr noch die wifjenjchaftliche Bedeutung des Falles 
in mebicinifcher wie in juriftifcher Hinficht — alles ver- 
einigt fih, um eine eingehende Darftellung dieſes Pro- 
ceſſes zu rechtfertigen. 

Die Hauptperfon in dem erjchütternden Drama, in 
welchen es ſich um zwei Menjchenleben auf der einen, 
um Schädigung und nahezu Vernichtung von Anfehen 
und Stellung auf der andern Geite handelte, war ein 
junger Arzt, dem es weder an Kenntniſſen noch an ein= 
flußreichen Beziehungen mangelte. Dr. Robert Floden, 
38 Jahre alt, gebürtig aus der Pfalz, aber ſchon von 
früher Jugend an in Straßburg erzogen, hatte im Jahre 
1872 an der bortigen Univerfität promovirt, war dann 
nach abgelegtem Staatsexamen raſch in die Stellung 
eines Affiftenzarztes an der geburtshülflichen Klinif und 
ipäter in die eines Cantonalarztes vorgerüdt und hatte 
es verſtanden, fich in den weiteiten Kreifen befannt und 
beliebt zu machen. Seine Gattin war eine ziemlich be= 
güterte Elſäſſerin von nicht gewöhnlicher Schönheit und 
anerfannter Herzensgüte. Sie hatte ihren Mann mit 
einem reizenden Zöchterchen beſchenkt. Alles ſchien da— 
nach angethan, ben renommirten Arzt und glüdlichen 
Familienvater denjenigen Menſchen beizugejellen, deren Los 
ein beneidenswerthes genannt werben burfte. 

Am 31. October 1887 wurde Dr. Floden im Laufe 
des Vormittags durch einen Boten nach dem unweit 
Straßburg gelegenen Dorfe Eckbolsheim zu einem Pa— 
tienten gerufen. Der Schwanenwirth Mathis daſelbſt 
hatte jeit einigen Tagen über Schmerzen in den Füßen 
und im rechten Arm geflagt und fich furz vorher zu 


Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 101 


Bett gelegt. Der Arzt, welcher das volle Vertrauen 
der Familie genoß, erjchten gegen 1 Uhr nachmittags, 
betrachtete den Kranken flüchtig und verjchrieb dann zwei 
Necepte, von welchen das eine zum äußerlichen, das 
andere zum innerlichen Gebrauch bejtimmt war. Beim 
MWeggehen empfahl er, die Recepte in der Meijen- 
Apotheke zu Straßburg anfertigen zu lafjen, „weil fie 
dort frifcher zu haben ſeien“. 

Das war die erjte Ungehörigfeit. Es muß auffallen, 
daß der Arzt feinem Patienten eine beftimmte Apothefe 
vorjchlägt und fie vor andern bevorzugt. Es lag des— 
bald nahe, an eine Art Compagniegefchäft zwijchen Arzt 
: und Apotheker zu benfen, eine vielleicht nicht ganz un: 
gerechtfertigte und wenigftens in der ftraßburger Ber 
völferung für richtig erachtete Schlußfolgerung, die auch 
von der Anflagebehörve ſpäter in ergiebigiter Weije ver- 
werthet worden tft. 

Die Meijen- Apotheke in Straßburg wurde von dem 
Apothefer Jakob Greiner, einem wohlhabenden Straß- 
burger in den vierziger Jahren, geleitet und ſtand als 
„„ofapothefe‘ bei dem Publikum gleichfalls in bedeuten— 
dem Rufe. Leider huldigte ver Herr Hofapothefer allzu jehr 
dem Jagdſport, der ihn öfter als nöthig feinen Berufs- 
gejchäften entzog. Im feiner Abwejenheit wurde die Apo- 
thefe von dem Gehülfen Alfred Wolff, dem Sohne 
eines Notars aus Dberbronn, und dem noch jugendlichen 
Lehrling Jakob Andres aus Weißenburg verwaltet. 
Beide befanden fich in der Apothefe, als der alte Vater 
des Wirthes Mathis die Floden’schen Recepte überbrachte 
und zubereiten ließ. Er erhielt von ihnen zwei Flaſchen 
Arznei, die er zugleich mit den Recepten jeinem Sohne 
nah Edbolsheim zurücbrachte. 

Nachdem der Vater des Kranken nach Edbolsheim 


102 Der PBroceß wider ben Dr. med. Floden. 


zurüdgefehrt war, erhielt der Wirth Mathis von feiner 
Mutter um 3'/, Uhr den erjten Löffel der innerlich zu 
nehmenven Arznei; nach zwei Stunden ber Vorjchrift ge- 
mäß ben zweiten und um 71/, Uhr den dritten Löffel. 
Gleich nach dem Genuß des zweiten Löffels klagte ber 
Kranke, dag ihn die Arznei zu ſehr angreife. Bald dar- 
auf jtellte fich heftiges Erbrechen und Durchfall ein; 
nad dem dritten Löffel verftärften fich dieſe Zufälle in 
außerorbentlichem Maße. Das Erbrechen und der Durch- 
fall wiederholten fich Häufig die ganze Nacht hindurch. 
Die Ereremente waren wäfferig geronnen und bräunlich 
gefärbt. Der Kranke wurde dabei von einem heftigen 
Drennen im Halfe und von jtarfem Durfte geplagt, den 
er vergebens zu ftillen fuchtee Da die Schmerzen in ber 
Nacht nicht nachlaffen wollten, jo eilte fein Bruder gegen 
Morgen zu Dr. Floden, dem er von dem Zuftande bes 
Kranfen Kenntnig gab. Der Arzt verfah fih in ber 
Apotheke Haenle mit Optum-Ertract, Aether und Jod⸗ 
falium und fuhr zu dem Kranken, bei dem er gegen 
5 Uhr früh in fichtlicher Beftürzung eintraf. 

Er Tieß ſich von deſſen Mutter das Arzneifläfchchen 
geben, kratzte die Etifette jo weit ab, daß das darauf 
Geſchriebene unleferlich wurde, und leerte den Inhalt aus. 
Mit warmem Waffer, welches ihm auf fein Verlangen 
geholt wurde, fpülte er das Glas forgfältig, ſchüttete ein 
Pulver ein (Jodkali), welches er in Waſſer auflöfte, und 
ichrieb vor, daß dem Kranfen dreiviertelftündlich ein 
Eplöffel davon gereicht werben follte. Zugleich verord- 
nete er Fußbäder, ließ ven Patienten Eis fchluden und 
in Eis gefühlte Milch trinfen, das Erbrechen hörte in» 
folge deffen auf, nicht aber der Durchfall. Diejer bielt 
den ganzen folgenden Tag und die Nacht über an. ‘Der 
Arzt wurde nochmals gerufen. Als er am 2. November 


® 


Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 103 


gegen 5 Uhr in der Frühe ankam fand er den Kranken 
ber Auflöfung nahe. 

Er verordnete Senfbäder und verfchrieb ein neues 
Recept, welches in der Stadt angefertigt werben jollte. 
Bor jeinem Weggange verlangte er jedoch von der Frau 
Mathis das erſte Recept zurück; als diefe, feinem Wunjche 
willfahrend, e8 aus einem Buche nahm und zur Erbe 
fallen ließ, bob e8 Dr. Floden auf und ftedte e8 zu 
ih. Bon der Frau darauf aufmerkfjam gemacht, daß er 
das neue Recept im Krankenzimmer habe liegen laſſen, 
antwortete er: das alte fei gerade jo gut. Der Bruder 
des Kranken begab fich mit dem Doctor nach der Stabt, 
um bie neue Arznei mitzubringen. Eine halbe Stunde 
jpäter etwa verjhied Michael Mathis. In dem 
von dem behandelnden Arzte ausgeftellten Todtenſcheine 
wurde ald Todesurſache Endicarditis (Herzkrankheit) 
nach acutem Gelenfrheumatismus angegeben. 

Kurz vorher, ehe Dr. Floden am 31. Detober 1887 
zum erjten male zu Mathis gerufen wurde, erjchten das 
Dienftmäpdchen des Wirths Herter aus dem „Luxhofe“ 
zu Straßburg bei ihm und meldete, daß ihr Dienftherr 
über Schmerzen in den Füßen Fage und feinen ärztlichen 
Beiftand wünfche. Floden hatte den Wirth Herter im 
Laufe jenes Monats bereit8 an einer leichten Halsentzün- 
dung behandelt und dagegen Brießnik’sche Umfchläge ver- 
orpnet. Ein Kleines Gejchwür, welches ſich damals bil- 
dete, war von felbft aufgegangen. Am 30. October 
fühlte Herter Gliederweh, blieb aber noch im Geſchäfte 
bis zum folgenden Tage und fchiefte, wie erwähnt, erft 
am 31. October zum Arzte. Dr. Flocken erklärte dem 
Mädchen, er könne fich vor Ende der Sprechſtunden nicht 
entfernen, übrigens wiffe er wohl, was Herter fehle, er 
habe, wie der „Münchner Kind'l“-Wirth, Aheumatismus,. 


104 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden. 


Er verordnete deshalb, wie bei Mathis, ein Del zum 
Einreiben und eine Arznei zum innerlichen Gebrauch, die 
in ber Apothefe des Greiner gleichzeitig mit dem für 
Mathis beftimmten Necepte Hergeftellt wurde. Herter 
weigerte fich jedoch, diefe Arznei zu nehmen, ohne ärzt— 
(ich unterfucht worden zu fein. Erſt als Flocken gegen 
6 Uhr erjchienen war, ihm den Fuß verbunden und bie 
Anwendung der Arznei nochmals empfohlen hatte, nahm 
Herter, der furz vorher noch mit Appetit gegefjen 
hatte, gegen 8 Uhr den erften und um 10 Uhr ven 
zweiten Eflöffel. Gleich darauf jtellte fich Diarrhde ein. 
Nach dem dritten Löffel, ven Frau Herter ihrem Manne 
reichte, gejellte fich heftiges Erbrechen dazu, welches ſich 
und zwar unter den heftigften Anftrengungen häufig 
wiederholte. Der Kranfe Eagte über quälenden Durft, 
Brennen im Halje und Engbrüftigfeit. Sein Befinden 
wurde jo ſchlimm, daß man fich entjchloß, gegen 1 Uhr 
nachts zum Arzt zu fchiden. Dr. Flocken erjchien und 
beruhigte ven Kranken, welcher geneigt war, bie Uebel— 
feiten der Arznei zugzufchreiben, indem er ihm ver— 
fiherte, er habe das Mittel fchon fehr häufig ver- 
jhrieben. Uebrigens rieth er Doch, die Medicin wegzu— 
lafjen, und verorbnete eine andere, die er felbjt in der 
Greiner'ſchen Apotheke zubereiten ließ und dem ihn be- 
gleitenden Mädchen übergab. Als auch nach dem Genuß 
diefer Arznei der Zuftand fich immer mehr verjchlechterte, 
wurde gegen 4 Uhr morgens nochmal® zu Dr. Floden 
geihicdt. Er war zu jener Zeit gerade in Edbolsheim 
und hatte dajelbjt Gelegenheit, fich von der Wirkung der 
gereichten Arznei zu überzeugen. 

As er nah feiner Rückkehr von Edbolsheim um 
51/, Uhr früh Herter befuchte, befand fich diefer in einem 
Zuftande, der das Schlimmfte befürchten Tief. 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 105 


Dr. Floden Teerte die Arznei in das Waſchgeſchirr, be- 
feitigte die Etikette, jehwenfte dann das Glas aus und’ 
Ihüttete zwei Pulver hinein, die er in Waffer auflöfte 
und dem Patienten reichte. Um 8 Uhr früh erjchien er 
wieder, verordnete zur Stillung des Durſtes Mineral- 
waſſer, worauf zwar das Erbrechen, nicht aber der Durch- 
fall nachließ. Nach einem fernern Bejuche 309 Dr. Floden 
auf Wunfch der Familie Herter den Profeſſor Wieger 
zu, dem er mittheilte, er habe zwei Gramm Colchicum— 
Zinetur mit fünf Gramm falichlfaurem Natron ver- 
Ihrieben, Herter babe jedoch nur wenig genommen. Ob— 
wol Profeffor Wieger ven Durchfall der Colchicum-Tine— 
tur zujchrieb, glaubte er doch, beim Mangel anverweiter 
Anhaltepunfte und da Floden ihm erklärte, Eiweiß im Urin 
gefunden zu haben, ven Krankheitszuftand auf eine Nie- 
ren⸗ bezw. Herzbeutelentzündung zurüdführen zu müſſen. 

Am andern Tage war ber Kranke fehr theilnahmlos; 
ver Puls jchlug ſehr ſchwach; die Extremitäten waren 
kühl und boten leichte Anzeichen von Cyanoſe (Blau- 
ſucht). Zur Hebung der lektern wurde Sauerſtoff-In— 
balation verordnet. Es fanden an diefem und dem nächit- 
folgenden Zage noch häufige Beſuche ver behandelnden 
Aerzte ftatt, ohne daß die angewandten Mittel Hürfe 
bradten. Der Zuftand des Kranken wurde immer 
ſchwächer, bis endlih am Donnerstag ben 3. Novem- 
ber ver Tod eintrat. 

In Uebereinftimmung mit dem Ausjpruche des Pro- 
fefior Wieger gab Dr. Floden auf den von ihm ausge- 
tefften Todtenſcheine al8 Todesurſuche an: Herzlähmung 
(Fettherz) nach Enteritis, Darmentzündung mit acuter 
Nierenentzündung, und Herzbeutelentzündung. Auf eine 
Anfrage der Stuttgarter Rentenanftalt, bei der 
Serter für den Todesfall verfichert war, ob nicht 


106 Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 


Selbjtvergiftung vorliege und ob eine Section vor— 
genommen ſei, antwortete Dr. Floden, daß ein jolcher 
Verdacht völlig ausgefchlofjen fei, auch eine Beranlafjung 
zur Vornahme einer Section um fo weniger vorgelegen 
habe, als in den legten Wochen in Straßburg außerges 
wöhnlich häufige Fälle von acuter Gajtro-Enteritid vor— 
gefommen feien und Herter überbies an biphtherifcher 
Halsentzündung mit nachfolgenden heftigen rheumatiſchen 
Schmerzen gelitten habe. 

Alle diefe Angaben des Arztes waren, wie fich nach— 
träglich herausjtellte, einjchlieglich der Information des 
confultirten Profeſſor Wieger bezüglih der angeblich 
verordneten Colchicum-Tinctur, bewußt unwahr. Es 
fann überhaupt nur Indignation und Befremden erregen, 
wenn man, wie hier und fpäter bei den verantwortlichen 
Bernehmungen, überall das Beſtreben durchſchimmern 
fieht, von vornherein den begangenen und auch zur vollen 
Erfenntniß gelangten Fehler zu bemänteln und zu beſchöni— 
gen. Anftatt, wie e8 einem wifjenjchaftlich gebildeten und 
harafterfeften Manne geziemt hätte, die VBerantwortlichkeit 
für die folgenſchweren Unfälle voll zu übernehmen und, jo- 
lange e8 noch Zeit war, das Menjchenmögliche zur Ver— 
hütung des Aeußerſten zu thun, verichanzte Dr. Sloden 
fih Hinter dem Deckmantel der Gleichgültigfeit und Lüge, 
welche den, wir wiederholen e8, an fich verzeihlichen Irr— 
thum in den Augen jedes Urtheilsfähigen und jelbjt des 
unparteiifchjten Richters nur verichlimmern konnte. 

Sp weit war die Sache gediehen, als die jtraßburger 
Staatsanwaltichaft von den Vorfällen Kenntniß erhielt, 
und zwar zunächjt von dem edbolsheimer plöglichen To— 
desfall. Die Leitung der Angelegenheit fand fich in den 
Händen eines energifchen Staatsanwalts, der erit kürz— 
lich nach Straßburg verjegt worden war und fich bereits 


Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 107 


in den um dieſe Zeit oder furz vorher abgewidelten el- 
ſäſſiſchen Landesverraths-Proceſſen jehr tüchtig und 
bienfteifrig eriwiefen hatte. Es kann deshalb nicht wun- 
vernehmen, daß das elſäſſiſche Publikum in dieſer emfig 
betriebenen Unterfuhung mit ihren zahlreichen Verhören 
und plöglichen BVerhaftungen anfangs für bie in ange— 
jehener Lebensftellung befinplichen Beſchuldigten vielfach 
Partei ergriff. Gab es doch nicht wenige, die den Fall 
auf das politifche und localpatriotiſche Gebiet hinüber- 
zufpielen und den Doctor und Apotheker mitfammt ben 
Gehülfen als die Opfer blinder Verfolgungsfucht darzu— 
jtellen verfuchten. 

Später wendete fich allerdings das Blatt, als man 
vernahm, daß die Angeklagten das Mögliche gethan hatten, 
um ihre Schuld zu vertufchen und ben Thatbeitand zu 
verbunfeln, und als e8 bald darauf dem Staatsanwalt 
im Verein mit dem Unterfuchungsrichter gelang, ven an- 
fänglich hartnädig Leugnenten ein umfafjendes Geftänd- 
niß abzuringen, hörten die Sympathien des größern Pu» 
blifums für die Angefchuldigten gänzlich auf. 

Am 3. November fam der Fall Mathis zur Anzeige, 
der Staatsanwalt ließ den Dr. Floden vor fich fommen 
und unterzog ihn einem eingehenden Verhör, aus welchem 
er erjt abends gegen 8 Uhr entlaffen wurde. Vom Yuftiz- 
gebäude in der Blauwolkengaſſe begab er ſich fofert in 
die unfern gelegene Meifen-Apothefe, verabredete bort mit 
Greiner den Plan, wie fie fich der drohenden ftrafgericht- 
lichen Berfolgung entziehen und ven Erfolg der Unter- 
juchung vereiteln wollten, ein Plan, deffen Ausführung 
für den fonft wahrfcheinlich unbehelligt gebliebenen Apo- 
thefer verhängnißooll werben jollte, 

Der Apotheker Greiner fehiete feinen Lehrling Andres 
ichleunigft in die dem Juſtizgebäude gegenüberbefind- 


108 Der Brocef wider den Dr. med. Floden. 


liche Wallenfels’jche Papierhandlung mit dem Auftrage, 
dort ein neues Neceptirbuch zu kaufen; vafjelbe wurde 
dem am 29. October im Gebrauch befindlichen Receptir- 
buche, in dem die beiden Floden’schen Recepte eingetragen 
waren, untergejchoben. Am Morgen des 4. November 
brachte Greiner zwei Necepte zum Borjchein, die von 
Dr. Floden gejchrieben waren und von denen das eine 
auf Mathis, das andere auf Herter lautete. In dem 
erjtern Recepte war Digitalis mit Ahabarber, in dem 
(eßtern zweit Gramm Tinctura colchici in einer Löfung 
von 150 Gramm verfchrieben. Greiner beauftragte ven 
Apothefergehülfen Alfred Wolff, die bereits jeit dem 
29. Dctober gemachten Einträge in das neue bei Wallen- 
fels angefaufte Neceptirbuch einzujchreiben, dabei jedoch 
die zwei Necepte für Mathis und Herter nicht wahr- 
heitsgetreu nach ihrem urjprünglichen Inhalte, jondern 
entjprechend ben beiden von ihm erſt am 4. November 
vorgelegten Necepten einzuzeichnen. Der Eintrag erfolgte 
unter den Nummern 34205 und;34206. Die aus dem al- 
ten Receptirbuche herausgerifjenen Blätter, jowie die Kladde 
und das Driginalrecept von Herter, welches in ver Apo- 
thefe zurücgeblieben war, wurden vernichtet. Das Ori— 
ginalvecept für Mathis hatte fih Dr. Flocken bei feinen: 
legten Bejuh in Edbolsheim, wie oben mitgetheilt, an— 
geeignet und ebenfalls befeitigt. 

Greiner und Flocken ermahnten ven Gehülfen Wolff 
und den Lehrling Andres, über die Sache das tiefite 
Stilffchweigen zu beobachten. Als die Staatsanwaltichaft 
am Morgen des 4. November das Receptirbuch in der 
Apotheke abholen ließ, händigte Greiner dem Criminal- 
commifjar das neuangefertigte, bei Wallenfels angefaufte 
Neceptirbuch ein. In dem Verhöre, welchem Wolff und 
Andres ſodann durch den Criminalcommiffar unterworfen 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 109 


wurden, erklärten beive: das auf Mathis bezügliche Recept 
Nr. 34205 entipreche genau der VBorjchrift des Dr. Floden; 
bie Digitalis-Infufion babe Andres zubereitet, nachdem 
ihm Wolff die beftimmte Quantität Fingerhutblätter ver- 
abfolgt habe. 

Am 5. November 1837 wurbe der Apothefer Greiner 
von der Staatsanwaltihaft vernommen. Auch er be- 
bauptete, das Receptirbuch ſei nicht etwa nach Einleitung 
des Strafverfahrens neu bergeitellt, fondern am 29. Dc- 
tober begonnen und ſeitdem ununterbrochen fortgeführt 
worden. Am 3. November abends 10 Uhr fei Dr. Tloden 
in die Apotheke gefommen und habe erzählt, daß er joeben 
wegen bes dem Mathis verorbneten Neceptes verhört wor- 
den ſei. Da Dr. Sloden fich des Inhaltes feines Neceptes 
nicht mehr genau erinnerte, hätten fie beide gemeinschaftlich 
das Neceptirbuh aufgejchlagen und unter Nr. 34205 
dasjenige Recept vorgefunden, welches heute noch darin 
eingetragen jet. Als Andres am 5. November nachmittags 
4 Uhr auf dem Bureau der Staatsanwaltjchaft erjchien, 
um zwei ältere NReceptirbücher Greiner’s abzuholen, wurde 
er von dem Staatsanwalt über die vor dem Polizeicom- 
milfar Spatz gemachten Angaben befragt. Er beharrte 
dabei, daß das Neceptirbuch jchon feit dem 29. October 
in Gebrauch gewejen fei, daß das Recept 34205 genau 
der Vorſchrift des Dr. Floden entipreche und daß Wolff 
die Arznei und er die Fingerhutblätterinfufion hergeftellt 
babe. 

Am 5. November abends ermittelte die Polizeibe- 
börde, daß Andres an Abend des 3. November bei dem 
Papierhändler Wallenfeld ein Negifter und Wolff am 
4. November ein zweites Negifter gekauft habe. Das 
dritte und einzige bei Wallenfel® noch vorhandene Re— 
gifter ftimmte mit dem Neceptirbuche bis in die Kleinften 


110 Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 


Einzelheiten überein. Dennoch verficherten Wolff und An— 
dres, die noch an demſelben Abende einem neuen Ver— 
höre unterzogen wurden, daß ihre früher gemachten An— 
gaben wahr ſeien. Erft nach anderthalbftündiger Ber- 
handlung bequemten fie fich zu dem Geſtändniſſe, daß 
das Receptirbuch am Abend des 3. November bei Wallen- 
fel8 angefauft und dag Wolff am Morgen des 4. November 
auf Anordnung des Apothefer8 Greiner die Einträge in 
das Buch bewirkt habe. Sie fügten indes Hinzu: das 
Recept 34205 habe in dem frühern Receptirbuche ebenfo 
gelautet und fei wortgetren in das neue Buch, übertragen 
worden. Andres befannte: fein Principal Greiner habe 
ihm verboten von dem Ankaufe ver Negifter der Polizei- 
behörde oder der Staatsanwaltichaft etwas mitzutheilen. 
Der fofort vernommene Apothefer Greiner ftellte bie 
Ausfagen feines Gehülfen und Lehrlinge in Abrede und 
blieb bei feinen frühern Angaben ftehen. Insbeſondere 
erflärte er; „Ich weiß nichts davon, das am Abend bes 
3. November ein neues Regiſter angefauft und daß am 
Morgen des 4. November das alte Regiſter durch das neue 
erjegt worden ift. Wenn Wolff und Andres dies ge— 
than haben, fo ift es ihrerjeitS aus eigenem Antriebe und 
ohne mein Wiſſen geſchehen.“ 

Das Shitem der Täufchung, welches Dr. Flocken und 
Apothefer Greiner erfonnen hatten, um bie Behörben irre- 
zuführen, half ihnen wenig. Es brach zujfammen, als 
der zweite Herter’sche Fall ruchbar wurde und zur Ver— 
haftung der Angejchuldigten führte. 

Die Witwe Herter hatte durch Die Tagesblätter von 
ver eingeleiteten Unterfuhung Kenntniß erhalten, fie ver— 
glich den Tod ihres Mannes mit dem des Gaftwirths 
Mathis in Eckbolsheim und fchöpfte nun Verdacht, daß 
die faliche Behandlung des Dr. Floden auch das Unglüd 


Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 111 


in ihrem Haufe verurfacht Habe. Sie forderte in der 
Greiner’schen Apothefe das verhängnißvolfe Necept. Man 
bändigte ihr nicht das richtige, wie wir wiffen be- 
reits vernichtete Necept ein, jondern das mit Nr. 34206 
bezeichnete, aber untergefchobene Recept. Sie übergab 
daffelbe zu den Unterfuchungsacten. Das Gericht ordnete 
die Ausgrabung und bie Section ber beiden Leichen an; 
indes Tieß fich die Todesurfache nicht beftimmt fejtitellen. 
Der Dr. Floden, der Apothefer Greiner, fein Gehülfe 
und jein Lehrling, die in ftrenger Einzelhaft gehalten 
wurden, weil man Collufionen befürchtete und auch der 
Verdacht der Flucht nicht ausgefchloffen war, Tiefen 
fh auch jetst nicht herbei zu einem offenen Geftänbnif. 
Sie behaupteten nach wie vor, die Necepte Nr. 34205 
und 34206 jeien von Dr. Floden jo verfchrieben und in 
der Greiner’ichen Apothefe jo hergeftellt, wie fie in dem 
Neceptirbuch eingezeichnet waren. 

Endlich entichloß ſich der Apothefergehülfe Wolff, 
wahrjcheinlich auf Zureden feiner ihn im Gefängniffe be- 
juhenden Anverwanbten, der Wahrheit die Ehre zu geben 
und ein offenes Bekenntniß abzulegen. Die drei andern An- 
geihuldigten gingen nach und nach ebenfalls mit ver Sprache 
heraus und räumten, freilich nur mit verjchiedenen Modifi— 
cationen, ein, was fie begangen hatten. Am 9. December 
wurden fie aus der wider fie am 26. November 1887 
verhängten Unterjuchungshaft gegen hohe Kautionen im 
Betrag von 10000, 20000 und 40000 Mark entlaffen. 

Das für alle entjcheivende Geſtändniß des Dr. Floden 
gipfelte in der von ihm zugegebenen Thatfache, daß er 
in beiden Fällen aus Verſehen Extractum colchici 
ftatt Tinctura colchici und zwar zwei Gramm in 
einer Löfung von 150 Gramm verjchrieben habe. Er 
glaubte daſſelbe jedoch dahin abjchwächern zu müſſen, 


112 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


baß er nicht einfach Extractum colchici, jondern Extrac- 
tum colchici aethereum verorpnet habe, eine Zuſam— 
menjegung, die nach den jpäter noch genauer zu bevich- 
tenden Gutachten der Sachverjtändigen nicht vorkommt. 
In dem Geftänpniß des Apotheferd Greiner war noch 
bon einem dritten Falle die Rede, ven Dr. Floden 
jedoch bis zum Schluß auf das entichiedenfte in Abrede 
geftellt hat, und der deshalb auch heute noch nicht auf- 
geklärt ift. 

Greiner hatte in Bezug hierauf Folgendes angegeben: 

„Dr. Sloden fam an dem Tage, an welchem er Ex- 
tractum colchici für SHerter und Mathis verfchrieben 
hatte, abends gegen 10 Uhr in meine Apothefe und 
theilte mir mit: Es fei ihm bei Herter eine Arzneiflafche 
aufgefallen, die eine Etikette mit jchwarzem Untergrund 
getragen habe. Er erzählte dann weiter, er habe heute 
dreimal Extractum colchici verjchrieben für Herter, 
für Wirth Mathis in Edbolsheim und für einen Drit- 
ten. Daß das Recept Mathis bei Greiner gemacht wor= 
ben fei, wifje er. | 

„Ich fragte ihn, wie er dazu fomme, Extractum zu 
verjchreiben; er antwortete: «Ich weiß nicht. Sie wiffen, 
gewöhnlich habe ich Tinctura verjchrieben; wie ich dazu 
fam, Extractum zu verfchreiben, weiß ich ſelbſt nicht.» 
Davon, daß er Extractum colchici aethereum ver— 
ichrieben, hat er nichts gejagt. Wer die dritte Berfon 
war, für die Dr. Floden am felben Tage Extractum 
colchici verfchrieben hat, weiß ich nicht. 

„As Dr. Sloden davon fprach, daß er Extractum 
colchiei verordnet hätte, habe ich ihn jofort darauf auf— 
merfjam gemacht, daß eine ſolche Doſis mir ſehr ftarf 
zu fein jcheine. Darauf erwiderte Floden: «Ah bah!» 
Dr. Sloden hat nach feiner Meinung überhaupt feinen 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 113 


vechten Begriff davon gehabt, welchen Giftgehalt 2 Gramm 
Ertractum haben. Er ift etwa um 9%, Uhr abends 
zu mir gefommen und hätte durch ſofortige Benach— 
rihtigung der Patienten ein weiteres Einnehmen 
der Arznei verhüten fünnen.“ 

Diefe Ausfage wurde im weſentlichen beftätigt durch 
den Apothefer Schmidt, der fich folgendermaßen äußerte: 

„Am Montag den 31. Dectober war ich mit dem Apo- 
thefer Greiner den Mittag über auf der Jagd und 
habe danach mit ihm zu Abend gegeffen. Wir gingen, 
als wir von der Jagd zurücfehrten, durch die Apothefe 
in den zweiten Stod, der von Greiner beivohnt wird 
Wir hielten uns in der Apotheke nicht auf. Greiner 
bat fih nicht erkundigt, was etwa vorgefommen fein 
möchte; auch hat fi Greiner weder nach den Necepten 
noh nach dem Neceptirbuch umgefehen. 

„Etwas vor 10 Uhr etwa fam Dr. Floden zu ung 
und trank bis gegen 11 Uhr Bier mit ung; ge 
iprächsweife bemerfte er dabei, e8 ſei ihm heute etwas 
Förichtes) (Komiſches) paffirt, er habe nämlich brei- 
mal 2 Gramm Extractum colchiei verjehrieben, anjtatt 
Tinetura. Er meinte ein Apothefer werde doch fo gejcheit 
fein und Tinctura ftatt Extract nehmen. Ich erwiderte 
ihm daranf, das dürfe ein Apotheker nicht, er müjfe 
vielmehr bei ihm anfragen, wenn er das Necept bean- 
ſtande. Ich fügte noch hinzu: diefe Recepte würden wol 
jo von den Apothefern, wie er fie verfchrieben habe, 
auch gemacht worden fein, weil Colchicumertract außer: 
ordentlich jelten verjchrieben werde. Mein Gedanke dabei 
war, daß den Apothefern, gerade weil das Mittel jelten 
oder gar nicht werjchrieben wird, die Schäblichkeit deſſel— 
ben wenig befannt tft; doch habe ich diefen Gedanken 
nicht ausgefprochen. 

XXI. 8 





114 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden. 


‚Greiner fragte nun den Dr. Floden, ob eins der 
Recepte in feiner Apotheke gemacht worden fei; Dr. Flocken 
antwortete: «Ja, das für Mathis, das für Herter ift 
wahrjcheinlich beit Munde gemacht, denn e8 befand fich eine 
Ihwarzgeränderte Etifette auf dem Glafe.» Greiner ent- 
gegniete: «Auch ich führe jolche Schwarzgeränderte Etiketten», 
und frug weiter, ob das Medicament ſchädlich ſei? 
Dr. Flocken berubigte ihn mit den Worten: «Ah bah, ich 
gehe heute Abend noch in den Luxhof.) Gegen 
11 Uhr entfernte ſich Dr. Floden, und ich folgte ihm bald 
darauf. Als Tloden an jenem Abend fam, waren bie 
beiden Brüder von Greiner anwejend, viefelben gingen aber 
ichnell weg und haben das vorerzählte Geſpräch zwiſchen 
Flocken und Greiner nicht angehört. Davon, wo das dritte 
Recept angefertigt worden und für wen es Flocken ver- 
ichrieben hat, ift weiter nicht gefprochen worden.“ 

Auf Vorhalt diefer Ausjagen erklärte Dr. Floden: 

„Ih habe am 31. October nur zweimal Colchicum- 
extract verjchrieben, nämlich für Mathis und Herter. 
Wenn Greiner und der Zeuge Schmidt behaupten, ich hätte 
ihnen gejagt, daß ich an jenem Tage drei verjchiedenen Per— 
onen Colchieumertract verjchrieben habe, fo irren fie fich. 
Sch bin an dem fraglichen Tage um 10 Uhr des Abends, 
e8 kann auch jchon etwas fpäter gewejen fein, in die Apothefe 
von Greiner gekommen, die gerade gejchloffen werben follte. 
Ich hielt mich eine furze Zeit unten in der Apothefe auf, wo 
ich ein Necept und wie ich meine, auch noch einen Brief ge= 
ichrieben habe. Als ich auf mein Befragen erfuhr, daß 
Greiner mit noch einigen andern Herren eben beim Nacht: 
ejjen jet, jah ich, wie ich das öfter that, noch in dem 
Neceptirbuch nach; dabei bemerfte ich, daß in den beiden 
mehrerwähnten Recepten ftatt Colchicintinctur, Col- 
hieinertract verfchrieben war. 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 115 


„Sb fragte die anmwejenden Gehülfen Wolff und 
Andres, was jie denn gegeben hätten; fie erwiderten, 
fie hätten Extract gegeben, und das Mittel im fünften 
Stod geholt. Nunmehr ging ich zu Greiner hinauf, um 
mit ihm deshalb Rüdjprache zu nehmen. Ich traf feine 
beiden Brüder und ven Apothefer Schmidt. Als die 
erjtern weggegangen waren, erzählte ich von der Ver— 
wechjelung, die mir heute paffirt war, und fragte Greiner, 
was er von Goldieinertract halte und wie ftarf das 
Mittel jei; Greiner erwiderte darauf, er habe verjchiedene 
alte Extracte; die Ertracte jeien zehnmal ftärfer 
als TZinceturen. Die Patienten fonnten, da die Mebdicin 
erit am Nachmittag gemacht worden war, am 31. Octo— 
ber nicht mehr viel genommen haben, wie ich glaubte, 
nicht mehr, als die Marimalvdofis beträgt. Ich beruhigte 
mich für den Augenblid und zwar um jo mehr, als mir 
Greiner verficherte, e8 machte nichts, die Leute wür- 
den nur ordentlich abgeführt werden, eine Ver— 
jicherung, die er jpäter und bis die Yeute ftarben wiederholt 
bat. Ih ging nach Haufe und las noch über das von 
mir verordnete Medicament. Ich fand, daß die Sache 
doch gefährlich werden fünnte, und überlegte, was zu 
thun ſei; da ging die Schelle und ich wurde zu Herter 
gerufen. Es war in der Nacht 12—1 Uhr. Ich hielt 
mich bei Herter jehr lange auf; e8 kann 19, bis 2 Stun: 
den gewejen jein. Al ich nach Haufe zurüdfam und 
nad Edbolsheim fahren wollte, fam ein Bote, der mich 
dorthin holen ſollte.“ 

Wir haben die vorjtehenden Ausjagen, wie fie in dev 
öffentlichen Verhandlung wiederholt wurden, ausführlich 
wiedergegeben, weil fie den Standpunft der beiden Ange— 
Schuldigten zu der Anklage und zueinander fennzeichnen, 
aber auch beweifen, wie leichtfertig dev Arzt und der Apothe- 

8* 


116 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden. 


fer über die ihnen anvertrauten Menſchenleben gejcherzt 
haben und wie fahrläffig der Dr. Floden namentlich 
gehandelt hat. Die Ausfage des Apothefers Schmidt follte 
für Dr. Flocken äußerst verhängnißvoll werden. ALS vie 
Acten bereits gejchloffen waren und Dr. Floden fih auf 
Grund der geleifteten Caution längft wieder auf freiem Fuße 
befand und feine Praxis wieder aufgenommen hatte, beichloß 
die Straffammer des Landgerichts unterm 10. April 1888 
auf Antrag der Staatsanwaltjchaft die Wiederverhaftung 
des genannten Arztes. Die VBertheidigung wendete hier- 
gegen bei dem Dberlandesgericht zu Colmar das Nechts- 
mittel der Beſchwerde ein, aber auch die zweite Injtanz 
billigte die angeordnete Maßregel. 

Bald darauf, am 24. April 1888, wurde vom Land: 

gericht der nachitehende Verweiſungsbeſchluß eröffnet: 

„Auf Antrag der faijerl. Staatsanwaltichaft wird gegen 
1) Dr. Robert Floden, Santonalarzt, 

2) Alfred Wolff, Apothefergehülfe, 
3) Jakob Greiner, Apothekenbeſitzer, 
4) Jakob Andres, Apotheferlehrling, 
jämmtlih zu Straßburg, 
welche hinreichend verdächtig erjcheinen: 
ad 1. Am 31. Detober 1887 durch zwei jelbftändige 
Handlungen | 

a. zu Edbolsheim den Tod des Wirthes Michael 
Mathis, 

b. zu Straßburg den Tod des Wirthes Ludwig 
Herter durch Fahrläffigkeit verurjacht zu haben, 
indem er die Aufmerkfamfeit, zu welcher er ver- 
möge feines Berufes bejonders verpflichtet war, 
aus den Augen ſetzte. 

ad 2. Am 31. October 1837 zu Straßburg durch zivei 
jelbftändige Handlungen den Tod 





Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 117 


. des Wirth Michael Mathis in Eckbolsheim, 

. des Wirths Ludwig Herter in Straßburg durch 
Fahrläſſigkeit verurfacht zu haben, indem er die Auf- 
merfjamfeit, zu welcher er vermöge feines Berufes 
bejonders verpflichtet war, aus den Augen fette. 

ad 3. Im November 1887 zu Straßburg durch eine und 

diefelbe_ Handlung | 

a. dem praftifchen Arzte Dr. Floden und dem Apo⸗ 
thekergehülfen Alfred Wolff nach Begehung des 
Vergehens der fahrläſſigen Tödtung des Michael 
Mathis und des Ludwig Herter wiſſentlich Bei— 
ſtand geleiſtet zu haben, um ſie der Beſtrafung 
zu entziehen, und zwar, ſoweit die Begünſtigung 
in Bezug auf die fahrläſſige Tödtung des Michael 
Mathis in Frage fteht, gemeinjchaftlich mit dem 
Apotheferlehrling Jakob Andres, 

b. ven Apotheferlehrling Jakob Andres durch Mis- 
brauch feines Anſehens, Aufforderung und andere 
Mittel vorfätlich beftimmt zu haben, dem praf- 
tiichen Arzte Dr. Flocken und dem Apothefergehül- 
fen Alfred Wolff nach Begehung des Vergehens 
der fahrläffigen Tödtung des Michael Mathis Bei- 
ſtand zu leiften, um die Thäter der Beitrafung 
zu entziehen. 

ad 4. Im November 1887 zu Straßburg gemeinfchaft- 

(ih mit Jakob Greiner dem praftiichen Arzte 
Dr. Floden und dem Apothefergehülfen Alfred 
Wolff nach Begehung der fahrläffigen Tödtung des 
Michael Mathis wiffentlich Beiſtand geleiftet zu 
haben, um fie der Beftrafung zu entziehen. 

Vergehen gegen 88. 222, 257, 47, 48, 73 und 
174 81.6.9. Das Hauptverfahren vor der Straffam- 
mer des Faiferlichen Landgerichts hierſelbſt eröffnet. 


Oo’ » 


118 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


„Die Unterfuhungshaft gegen Dr. Floden hat fortzu- 
dauern. Hinfichtlich der Unterfuhungshaft gegen bie 
Angeichulpigten Alfred Wolff, Jakob Greiner und Jakob 
Andres hat e8 bei den getroffenen Maßregeln zu ver- 
bleiben.” — — 

Den Borfig bei der Hauptverhandlung, welche am 
11. und 12. Mai 1888 in dem Schwurgerichtsfaal des 
Straßburger Landgerichts ftattfand, führte der Landge— 
richtödirector Krieger. Die Anklage vertrat ber 
Staatsanwalt Stadler, als Bertheidiger waren bie 
Rechtsanwälte Schneegans, von Schottenftein, 
Dr. Betri und Dr. Reinhard erjehienen, alle befannt 
als angejehene Mitglieder des ftraßburger Barreau. Die 
gewöhnlich den Gefchworenen eingeräumten Bläße wurden 
von einer ftattlichen Anzahl einheimifcher und auswärtiger 
Fachgelehrten und BProfefforen eingenommen, die ſämmt— 
(ih als Sachverftändige geladen waren. Als Vertreter 
der Allgemeinen Renten -Anjtalt zu Stuttgart und der 
Witwe Herter wohnte der Rechtsanwalt Dr. Mumm ven 
Sigungen bei. Außerdem war eine anjehnliche, vornehmlich 
aus Fachkreifen und Yuriften zufammengejekte, Zuhörer- 
Ihaft in dem verhältnigmäßig Heinen Saale verfammelt. 

Unter ven zahlreichen Zeugen, die fih in dem Raume 
zwijchen der DVertheidiger- und Sachverftändigen- Bank 
aufgeitellt Hatten, zogen die Witwen und die andern 
nächiten Angehörigen des Wirthes Mathis und des Wir- 
thes Herter fowie die tiefbekümmerte Frau des Dr. Flocken 
die Aufmerkſamkeit des Publikums in beſonderm Maße 
auf ih. Ihre und die übrigen Zeugenausjagen find 
damals von den Tagesblättern mit großer Ausführlichkeit 
wiedergegeben worden. Für eine actenmäßige wiſſenſchaft— 
liche Darftellung des Procefjes haben fie feine Bedeutung. 
Da wir das thatfächlihe Material bereits mitgetheilt 


Der Proceß wiber ben Dr. med. Floden. 119 


haben, können wir das Zeugenverhör übergehen. Dage- 
gen müffen wir uns mit den Gutachten der Sachver- 
ftändigen eingehend bejchäftigen. Diefe Gutachten haben 
auf das Urtheil nicht den entjcheivenden Einfluß aus— 
geübt, den man urjprünglich ihnen beizumeſſen geneigt 
war. Insbeſondere hat die den ftraßburger Gelehrten 
diametral entgegengejegte Meinung des göttinger Pro- 
feffors Dr. Hufemann den Gerichtshof nicht einen Augen- 
blik zu Gunften der Angeklagten zu jtimmen vermocht. 
Aber durch die verjchtedenen Beleuchtungen von fachwilfen- 
ihaftlicher Seite wurden die mebicinijch - pharmaceutifch 
intereffanten Fragen in ein helles Licht geſetzt. Be— 
merfenswerth find zunächjt die bereit8 in der Worunter- 
juchung durch den Privatoocenten Dr. von Schröder 
veranlaßten Verſuche an Thieren, behufs Feftitellung ber 
Einwirkung des Kolchieingiftes auf den thierifchen und 
menschlichen Organismus. Diefer Gelehrte hatte zu dem 
Ende einer Anzahl Katen die auf ihre Wirkung zu 
prüfenden Gifte unter die Haut gejprigt und dabei ge— 
funden, daß ſchon einige Gentigramm Colchicumertract 
genügten, um ein töbliches Ende herbeizuführen. In 
allen Fällen wurden die Ertvacte behufs Injection in 
etwas Waffer nah Hinzufügung einiger Tropfen Alkohol 
aufgelöft und nah Abkühlung auf Körpertemperatur 
den Thieren eingefpritt. 

ALS DVergleichdertracte benutzte er zwei Präparate, von 
denen er das erſte aus der Storchen-Apotheke des Herrn 
Reeb bezogen hatte, während das andere Präparat in der 
Apothefe des Bürgerjpitals eigens angefertigt worden war. 
Was die Art der Wirkung des Greiner'ſchen Colchicin— 
extracts anlangt, jo war diefelbe genau übereinſtimmend 
mit derjenigen, welche nach der Einfprigung von Colchiein 
oder Colchicumpräparaten an Katzen beobachtet wurde. 


120 Der Procef wider den Dr. med, Floden. 


Nach Injection des Giftes zeigten die Thiere in den erjten 
3—5 Stunden feinerlei auffallende Symptome. Durch 
größere Doſen fonnte ein rajcher Eintritt der Vergiftungs- 
ericheinumgen nicht bewirft werben, d. h. der Beginn der 
Vergiftungserjcheinungen war unabhängig von der Größe | 
der Dofis. Dies ift eine jehr bemerfenswerthe Eigenjchaft 
des Colchicins und der Colchicumpräparate, die nur jehr 
wenigen Giften zufommt. 

Nach Ablauf der angegebenen Zeit trat Erbrechen und 
Durchfall ein, gleichgültig ob das Gift in den Magen 
oder unter die Haut eingeführt worden war. Gleichzeitig 
mit dieſen Magen- und Darmerſcheinungen wurde eine 
erhebliche Stumpfheit, ein Herabgehen der Senſibilität 
an den Thieren beobachte. Die Magen- und Darm— 
ſymptome hielten in der Regel nicht bis zum Tode an, 
ſondern ließen nach einigen Stunden nach, ſodaß in vielen 
Fällen eine bemerkbare Beſſerung im Verhalten des Thieres 
eingetreten zu ſein ſchien. Bald aber ſtellten ſich die— 
jenigen Wirkungen des Giftes ein, welche einen tödlichen 
Ausgang herbeiführten. Es waren dies die centralen 
Lähmungserſcheinungen. Die Lähmung ergreift zuerſt 
die hintern Theile des Rückenmarkes und ſchreitet dann 
langſam vorwärts. Ungeſchicklichkeit bei der Direction 
der Extremitäten macht ſich geltend, das Thier muß 
längere Zeit genöthigt werden, bis es ſich zu einem Gang 
entſchließft. Die erſte Abweichung von den normalen 
Bewegungen beſteht darin, daß die Hinterbeine beim 
Stehen jteif und auseinandergejpreizt werben. Bald 
ichwindet auch die Herrichaft über die Borderbeine. Dann 
wird die NRejpiration langjamer. Auf der Seite liegend, 
immer langſamer athmend, geht das Thier meift ohne 
weitere Frampfhafte Erjcheinungen durch Lähmung der 
Reſpiration zu Grunde, 


Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 121 


Wir fönnen die weitern Einzelheiten dieſer intereffan- 
ten Berfuche ſowie auch das in der Situng verlejene Gut- 
achten des abwejenden Sachverjtändigen nicht ausführlicher 
ihildern und begnügen ung mit der fich unmittelbar dar— 
aus ergebenden Löfung der geftellten Frage: ‚Welche 
Wirkung wird das bei Greiner bejchlagnahmte Ertract 
nah den Verſuchen an Thieren auf den menjchlichen 
Organismus vorausfichtlih ausüben, wenn e8 in ber 
von Dr. Sloden verorbneten Verdünnung von 2 Gramm 
zu 150 Gramm angewendet und wenn dabei, wie im 
Fall Mathis und Herter nur drei Eßlöffel in Zwiſchen— 
räumen von je zwei Stunden genommen werden?‘ 

Dieje Frage wurde kurz gefaßt dahin beantwortet: 
„Drei Eflöffel entiprehen 60 Gramm Tinctura col- 
chici. Es hätte alſo der Kranke innerhalb vier Stunden 
60 Gramm Tinctura colchici erhalten, während vie 
Maximaldoſe pro Tag nach ver Pharmacopoea Grer- 
manica edit. altera 6 Gramm beträgt. Xettere wäre 
alſo um das Zehnfache überjchritten worden. Daß hier- 
burch der Kranke unter den Erfcheinungen einer Colchi— 
cumvergiftung zu Grunde gehen mußte, war mit Sicher: 
heit zu erwarten.” Auf verwandtem Gebiete bewegten 
fih die dem Profeffor Dr. D. Schmiedeberg vorgeleg- 
ten Fragen, von denen die erſte lautete: 

„Sun welchem Berhältniß in Bezug auf Giftgehalt 
fteht zur Tinctura colchiei das Extractum colchici und 
wieniel beträgt bei lettern die Marimaldofis: a) als 
Cinzelgabe, b) als TZagesgabe?“ 

In Beantwortung diefer Frage gab der als Autorität 
in dieſem Fache allgemein anerfannte Gelehrte Folgendes an: 

„Unter Tinctura colchici ift der alfoholiihe Aus— 
jug der Zeitlofenfamen (Semen colchici) zu verjtehen, ver 
nach der Deutjchen Pharmakopöe aus einem Theil Samen 


122 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


und zehn Theilen Alkohol bereitet wird, während 3. B. 
die Franzöfische Pharmafopde (Codex medicamentarius) 
auf einen Theil Samen nur fünf Theile Alkohol vor- 
ichreibt, ſodaß alſo diefe Tinctur doppelt fo ftarf ift als 
jene. in Extractum colchiei fennt die Deutjche 
Pharmakopde nicht. Verſchiedene derartige Präparate 
finden fi) in den Pharmakopöen anderer Länder. Für 
den vorliegenden Zweck ift aber nur das Extract der 
Franzöſiſchen Pharmafopde (Extractum colchici seminis 
alcoholicum) zu berüdfichtigen. Dafjelbe bejteht aus 
den gleichzeitig in Alkohol und Waffer Löslichen Beſtand— 
theilen ver Samen, während die Tinctur auch noch die 
in Waſſer unlöglichen Antheile (3. B. Harz und Fett) 
enthält. Nach den neuern Unterfuchungen muß angenom- 
men werden, daß in dem Zeitlojenfamen mehrere wirf- 
jame Beftanotheile (zwei Erhftalifierte Colchicine, Amor» 
phes Colchicin, Colchickin) enthalten find. 

„Bon den praftifchen Aerzten der verfchiedenen Länder 
wird für die Anwendung bei den Kranken, insbejondere 
bei jolchen, die an Gicht und Rheumatismus leiden, unter 
allen Colchieinpräparaten der Auszug dev Samen mit 
Wein (Vinum Colchici seminis) bevorzugt. Bei der 
Anwendung eines folchen Weines, der an Stärke unjerer 
Tinctur entiprach, hat man mit Verfuchen an gejunden 
Menjchen nad 3—7 Gramm, die in verjchtedenen Gaben 
während mehrerer Stunden verabreicht waren, mehr oder 
weniger jtarfes Erbrechen und Durchfälle, aljo bereits 
ausgefprochene Vergiftungserjcheinungen eintreten jehen. 
Erbrechen und Durchfälle fuchten früher manche Praftifer 
bei Kranken abfichtlich hervorzurufen, weil fie glaubten, 
daß der heilfame Erfolg nur in diefem Falle eintritt, ein 
Glaube, der fih wol noch hier und da erhalten haben 
mag.“ 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 1923 


Bezüglich der von Dr. Floden gebrauchten Ausrede, 
daß er zwar verjehentlich Extractum colchici, aber mit 
dem Zuſatz aethereum verfchrieben habe, ließ fich der 
Sachverftändige dahin aus: „Ein jolches Präparat wird 
nirgendwo hergeftellt und ift nicht gebräuchlich. Indes 
bleibt e8 dem Arzte unbenommen, jolche Präparate zu 
verorbnen und eigens anfertigen zu laſſen. Allein ein 
bejonderer Zwed läßt fich dabei nicht abjehen. Man 
kann als folchen nicht geltend machen, daß die ätherijche 
Tinctur und das ätherifche Ertract geringere Mengen 
giftiger Bejtandtheile enthalten und deshalb milder wir- 
fen und weniger jchädlich find; denn um dieſen Zwed 
zu erreichen, genügt es, von den gebräuchlichen Präparaten 
geringere Mengen zu verordnen. Wenn ein Arzt folche 
ungewöhnliche Zubereitungsformen dennoch anwenden 
will, etwa um fie zu erproben, jo muß er wenigjtens 
genau die Bereitungsweije angeben. Es darf nicht als 
jelbftverjtändlich vorausgefegt werden, daß der Apotheker 
zur Herſtellung der ätherifchen Zincetur die Samen und 
nicht die Zwiebel (Bulbus) ver Zeitlojfe und von ben 
erftern wiederum 1 Theil auf 10 Theile Aether ans 
wenden wird. Falls das Recept einfach Tinctura col- 
chici aetherea verlangt, fo kann der Apothefer ebenjo gut 
die Zwiebel ftatt der Samen benuken, wenn er fie ge- 
rade vorräthig hat, oder auf 1 Theil der lettern nicht 
10, fondern nur 5 Theile Aether wählen. Jedenfalls 
iollte e8 dem Apothefer nicht überlaffen bleiben, ein der— 
artig ftarf wirfendes Mittel nach eigenem Ermeſſen hin- 
fichtlich der Mengenverhältniffe zu bereiten.” 

Eine weitere Frage lautete: 

„Denn im Falle Mathis 2 Gramm Extractum col- 
chici in einer Löjung von 150 Gramm verjchrieben 
waren und Mathis hiervon am 31. October drei Eflöffel 


124 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden. 


voll genog und zwar nachmittags 31, Uhr den eviten, 
5, Uhr den zweiten, 71, Uhr den dritten, war diefe 
Dofis geeignet, den Tod des Mathis herbeizuführen?‘ 

Hierauf gab der Sachverftändige folgende Antwort, 
die fich zum Theil mit den Ergebnifjen der Dr. Schrö- 
der'ſchen Unterſuchungen Freut: 

„Man nimmt bei der Doſirung von flüſſigen Arzneien 
allgemein an, daß ein gewöhnlicher Eßlöffel 15 Gramm 
einer wäſſerigen Flüffigfeit faßt. Mathis hat demnach 
von der ihm verjchriebenen Medicin 45 Gramm genom- 
men, in welchem zujfammen O, Gramm Extractum 
colchiei und zwar von dem nach der Vorſchrift des 
franzöfiihen Coder aus Samen bereiteten Präparat 
enthalten waren. Ob dieſe Gabe geeignet ift, den Tod 
eines erwachjenen Fräftigen Menjchen herbeizuführen, kann 
nur auf Grund der bisher vorgefommenen Colchicum— 
vergiftungen entjchieden werden, da es eine andere, auch 
nur annähernd fichere Grundlage für diefe Beurtheilung 
nicht gibt. Nah Verſuchen an Thieren kann man 
nur im allgemeinen entjcheiven, ob eine Subſtanz gar 
nicht, wenig, oder ftarf giftig if. Ueber die Menge, 
welche gerade geeignet ift, ven Tod eines Menjchen her- 
beizuführen, geben Thierverjuche feinen fichern Aufichluf. 
Bon den 50—60 mir befannt gewordenen theil® tödlich 
verlaufenen, theils mit Genejung endenden Vergiftungs- 
fällen mit Colchieum find etwa 20, darunter eine Mafjen- 
vergiftung, nachweislich durch Colchicumſamen oder deren 
Präparat bedingt worden. Bet den übrigen handelt es 
ſich faft ausjchließlich um die Zwiebel (Bulbus colchicı). 

„ie bereits angegeben, hat Mathis innerhalb vier 
Stunden zufammen O,s Gramm Ertract genommen. Wie 
bei Beantwortung der erſten Trage bereit8 auseinander- 
geſetzt ift, find zur Gewinnung dieſer Exrtractmengen nicht 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 1925 


weniger als 5 und nicht mehr als 7,; Gramm Colchi— 
cumjamen erforderlich gewejen, eine Menge, welche ven 
obigen Herjtellungen zufolge wenigjtens für einzelne Fälle 
als eine tödliche bezeichnet werden mußte. Auf Grund 
der vorjtehenden Ausführungen muß die gejtellte Frage 
demnach dahin beantwortet werden, daß eine Gabe von 
O,« Gramm des hier in Rede ftehenden Extracts der 
Colchicumſamen, auf einmal oder wie in dem Yall 
Mathis, in drei Gaben binnen vier Stunden innerlich ge: 
nommen, bei einem erwachjenen Menjchen unter allen 
Umjtänden eine jchwere Vergiftung herbeiführen wird, 
und daß dieſe Gabe auch geeignet ijt, unter den obwal- 
tenden Umjtänden den Tod zu verurfachen, daß e8 aber 
auch Fälle geben fünnte, in denen eine Vergiftung nach 
dieſer Gabe mit Genefung endet.“ 

Bezüglich des Falles Herter erflärte der Sachver— 
jtändige, daß, da in diefem Falle der Thatbeſtand in Be- 
zug auf das Colchicumpräparat, die Größe der Gabe, 
die Art des Einnehmens der lettern der gleiche iſt wie 
in dem Falle Mathis, und da auch die Individualität 
des Herter nichts bietet, was auf die Beurtheilung der 
Gabe des Giftes von Einfluß fein fönnte, die Wirkung 
diefelbe jein mußte wie im Falle Mathis. — 

Es wirde über ven Rahmen unferer Darftellung 
hinausgehen, wollten wir die weitern Ausführungen diejes 
gründlichen Gutachtens auch nur im Auszuge wieder- 
geben. Ebenjo müffen wir uns bezüglich des Gutachtens 
des Gerichtsarzte8 Dr. von Mering, welcher die Sec- 
tion der beiden Leichen und die chemijche Unterjuchung 
der einzelnen Theile derjelben vorgenommen hatte, auf 
die Feftjtellung bejchränfen, daß weder Gelentrheumatis- 
mus bei der einen, noch Herzlähmung bei der andern 
jich anatomifch nachwetjen ließen. Die bei der Obduction 


126 Der Proceß wider den Dr. med. Floden, 


feitgeftellte mäßige "ettauflagerung des Herzens ift auf 
den Zod des Mathis, wie auch des Herter ohne wejent- 
lichen Einfluß gewefen. Die Frage nach der Todesurjache 
fonnte daher von biefem Gelehrten dem anatomijchen 
Defund gemäß nicht erklärt werden. Hervorzuheben 
dürfte noch fein, daß Dr. Floden bei der Section der 
Herter’ichen Leiche darauf bejtand, daß die Eingeweide auf 
Gift unterfucht würden, da ber franfe Herter ihm ge— 
jagt hätte, er habe einen dummen Streich gemacht und 
vielleicht zu feinem frühzeitigen Tode jelbjt beigetragen. 
Bei der chemischen Unterfuhung nach Colchicum war 
das Reſultat in beiden Fällen ein negatives, da im 
Magen und Darm fi eine Spur des Giftes nicht 
vorfand. 

Außer dieſen bereits in der Vorunterſuchung beige— 
zogenen Sachverſtändigen wurde in der Hauptverhand— 
lung noch vernommen der Vorſitzende der pharmaceuti— 
ſchen Prüfungscommiſſion und Director des pharmaceu— 
tiſchen Inſtituts zu Straßburg, Profeſſor Dr. Flückiger, 
welcher beſtätigte, daß die Deutſche Pharmakopöe nur die 
Colchicum-Tinectur kenne, und darauf hinwies, daß 
der Arzt gehalten ſei, bei außergewöhnlichen, beſonders 
gifthaltigen Recepten ein Ausführungszeichen (!) hinter 
die Verordnung zu ſetzen. Der Apotheker ſoll ſich in 
ſolchen Fällen ſtets mit dem Arzt ins Benehmen ſetzen. 

Dies beſtätigte auch der von der Vertheidigung als 
Sachverſtändiger geladene Apotheker Pfersdorf, welcher 
erklärte, er ſelbſt würde die vorliegenden Recepte nicht 
gemacht haben, ſelbſt ohne Ausrufungszeichen. Da indeß 
eine Maximaldoſis nicht vorgeſchrieben ſei, jo könne man 
dies dem Apotheker kaum verargen, zumal er ſelbſt ſtär— 
fer wirkende Gifte in größern Doſen, z. B. 1,15 Digitalis, 
verſchreiben durfte. Insbeſondere habe ſich der Gehülfe 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 197 


bei dem zweiten Recept, welches ganz gleichlautend 
mit dem erjten in die Apothefe Fam, beruhigt finden 
fönnen. 

Bei Erörterung der Frage, inwieweit ber Apothe- 
fergehülfe Wolff mangels hierüber im Reichslande be- 
ſtehender gejetlicher Vorſchriften überhaupt als Vertreter 
des Apothefer8 anzufehen ſei, hatte jchon Profejlor 
Dr. Flüdiger über die hierzulande bejtehende „Wirth- 
ſchaft“ geklagt, eine Klage, der fich auch der Kegierungs- 
rath Dr. Krieger anfchloß, indem er betonte, daß bie 
fragliche Geſetzgebung im Uebergangsſtadium ſich befinde. 
Bezüglich der Pflicht des Arztes in jolchen Fällen, wo 
er die Wirfung der Präparate jelbjt nicht Fennt, ſchloß 
fih indeß diefer Sachverftändige der Auffaffung des 
Profefjor Schmiedeberg an. 

Am günftigiten für den Angeklagten Wolff ſprach 
fih der Apothefer Dr. Amthor aus, welcher früher als 
Chemifer an der Unterfuchungsitation für Nahrungsmittel 
in Straßburg angeftellt war. Er hob hervor, daß man 
von einem Apothelergehülfen, der noch feine eigentliche 
wiffenjchaftlihe Bildung auf der Univerſität genoffen 
habe, ein fichere8 Urtheil über die Wirkungen ver ver- 
ichiedenen Gifte, insbefondere des Colchicum, von dem 
ſelbſt Profefjor Schmiedeberg zugejtanden habe, daß er 
nur wenig davon wilje, faum erwarten fünne. Der 
Apothefer habe auch die Verpflichtung, raſch zu arbeiten, 
und könne nicht bei jedem Recepte zum Arzte laufen, 
‚nonft würde die ganze Heilfunde lahm gelegt werden“. 
Es erübrigt noch, kurz auf die Anficht des göttinger 
Profeffors Dr. Huſemann zurüczufommen. 

Der greife Gelehrte erklärte, nach gewifjenhafter 
Prüfung der Frage über die Todesurjache in den beiden 
Vergiftungsfällen fei er zur Ueberzeugung gefommen, daß 


128 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


die von Dr. Flocken verordnete Dofis zu gering war, 
um ben Tod durch Colchieinvergiftung herbeizuführen. 

Es fünne zwar feinem Zweifel unterliegen, daß fein 
beuticher Pharmakologe oder Klinifer diefe Gabe als eine 
nachahmenswerthe empfehlen werde; nichtsdeſtoweniger 
fünne man aber nicht jagen, daß diefelbe eine unwiffen- 
ichaftliche fei; noch viel weniger würde fie als eine folche 
zu bezeichnen fein, deren Tödlichkeit bezw. Schäplichkeit 
ein wifjenjchaftlich gebildeter Arzt bei entſprechender Auf- 
merfjamfeit erkennen müſſe. 

Unter einem wiffenfchaftlich gebildeten Arzt verſtehe 
man einen ſolchen, der nach abſolvirten mediciniſchen 
Studien, nah den im Laufe derfelben beftandenen Ten— 
tamen und Ablegung der vorjchriftsmäßigen Staats— 
prüfung, feine Approbation erhalten habe. Mean dürfe 
bei alfer Achtung vor der wifjenfchaftlichen Bildung der 
beutjchen Aerzte doch gerade in Bezug auf ihre Kennt— 
niffe der Arzneimittel und ihrer Berhältniffe nicht über- 
triebene Forderungen ſtellen. Es fei notoriſch, daß das 
Wiffen des eben approbirten Arztes in biefem Zach durch— 
Ihnittlich weit geringer ſei als in allen übrigen Zweigen 
der Heilfunde. 

Eine Urtheilsfähigfeit über pharmafologiiche Fragen 
bringe der approbirte Arzt in feine neue Wirkfamtfeit in 
der Regel nicht mit; vollftändig orientirt ſei er höch— 
jtens über Mittel, die ev in der Klinik habe anwenden 
jehben. Dagegen fünne er die in der Pharmacopoea, 
Germanica enthaltene ſog. Maximaldoſentabelle aus- 
wendig, d. h. er wiffe, daß er in bejtimmten Fällen nach 
dem Recepte ein Ausrufungszeichen machen müſſe, und er 
wife Die Menge auswendig, welche für jedes in ber 
Tabelle enthaltene Mittel ihn zu diefen Ausrufungszeichen 
nöthige. Dieje letstere Kenntniß bleibe übrigens nur für 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 129 


einige Zeit. Da fich nichts fo Leicht vergeffe, wie 
Zahlen, jo habe der junge Therapeut ſchon nach einigen 
Jahren diejelben vergefjen, und der Arzt führe deshalb 
einen ärztlichen Kalender, der eine ſolche Tabelle ent- 
halte, oder ein Recepttafchenbuch bei fih, aus dem er 
ih Rathes holen könne. Er jchlage es in allen Fällen 
auf, in denen er über die Gabe nicht orientirt jei. 
Handele e8 ſich um einen Stoff, um eine Zubereitung, 
die in feinem gewöhnlichen Hülfsmittel nicht ftehe, fo 
jehe er in einem größern Werfe nach, aljo entweder in 
einem Werfe über Arzneimittellehre, oder vermuthlich in 
einem jolchen über Arzneiverorbnungslehre. Das hätte 
im vorliegenden Falle gefchehen müffen, denn von Extrac- 
tum colchieci nähmen die Marimalfalenvder feine Notiz 
und die Marimalpojentabelle der Pharmakopöe laſſe 
höchſtens indirect eine Beftimmung durch eine 
Schlußfolgerung zu. Ein eraminirter ober wifjen- 
ichaftlich gebildeter Arzt brauche aber noch keineswegs 
durch diefe Schlußfolgerung die Ueberzeugung zu gewinnen, 
daß er bei Verordnung von 2,0 Gramm Colchieumertract 
Geſundheit und Leben feines Patienten geführbe. 

In feinen weitern Ausführungen gab ſodann ver 
Sachverftändige eine Ueberficht über die in den verjchie- 
denen Ländern des Continents ſowie in Großbritannien 
und den DBereinigten Staaten von Amerika gebräuchlichen 
Arten der olchicumrecepte und ihre verjchiedenen 
Dofen und kam zu dem Schluffe, daß dem Arzte bie 
Kenntniß der Differenz der Stärfe der einzelnen Extracte, 
die jelbjt der Pharmakologe nicht auswendig wiſſe, nicht 
zugemuthet werden könne; mit andern Worten, daß ein 
wilfenjchaftlich gebildeter Arzt, beim Verordnen einer 
Tagesgabe von 2 Gramm Extractum colchici nicht im 
voraus erfennen und auch bei entiprechender Aufmerk— 

XXI. 9 


130 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


ſamkeit nicht zu der Anficht gelangen müſſe, daß dieſe 
Gabe für die Gejundheit und das Leben gefährlich fei. 

Diefe Behauptung des göttinger Profeffors war vie 
Zielſcheibe der jchärfiten und fchonungslofeften Angriffe 
des Vertreters der Staatsanwaltichaft. Bevor jedoch 
der Vorfikende ihm das Wort ertheilte, redete er dem 
Angeklagten Dr. Floden nochmals eindringlich ins Ge— 
wiſſen, um ben dritten Vergiftungsfall womöglich noch in 
legter Stunde aufzuklären. Es gab dies Veranlaffung 
zu folgender bemerfungswerther Unterhaltung zwijchen 
dem Präfidenten und dem Hauptangeklagten. 

Präfident. Herr Dr. Flocken! Che wir weiter 
gehen, möchte ich nochmals eine eindringliche Trage an 
Sie richten. Sie haben gehört von Schmidt und Greiner, 
daß Sie bei ihm an jenem Abend aus eigenem Antrieb 
davon gejprochen hätten, „va jei Ihnen etwas Förichtes 
paffirt, Sie hätten fich dreimal verjchrieben u. ſ. w.“. 
Ih frage Sie: wo ift der dritte Fall? Wo ift er? 
Sagen Sie e8! 

Angeflagter. Das ift jo wenig wahr wie das an— 
dere, daß der Ertract zehnmal ftärker ift. 

Präjident. Ich frage Sie: wo ift der dritte Fall? 

Angeflagter. Ich Habe mich nur zweimal ver- 
ſchrieben. 

Präſident. Ermittelt iſt der Fall nicht. Ich habe 
gedacht, Sie könnten vielleicht das Bedürfniß haben, Ihr 
Gewiſſen zu erleichtern, indem Sie uns ſagen, wo der 
dritte Fall iſt. 

Angeklagter. Ich verſichere, es ſind nur die beiden 
Fälle. 

Präſident. Dann frage ich Sie nochmals, was ich 
ſchon geſtern wiſſen wollte: wann ſind Sie über Ihren 
Irrth um klar geworden? 


Der Proceß wider den Dr. med. Flocken. 131 


Angeklagter. Ich habe mein Recept gefehen in der 
Kladde um 10 Uhr. Ich war ja um 5 oder 6 Uhr bei 
Herter. Hätte ich’8 gewußt, wär's doch ganz einfach ge- 
wejen, die Medicin wegzunehmen. 

Präfident. Aber Wolff und Andres, die auch nicht 
das geringjte Intereffe daran haben, dieſe Frage jo oder 
jo zu beantworten, beftreiten dieſe Möglichkeit. 

Angeflagter. Ich fage ja nicht, daß die beiden zu- 
gejehen haben, als ich ins Buch jchaute. Sie waren be- 
ſchäftigt. 

Präſident. Anſtatt dieſes Blickes in die Kladde, 
Herr Dr. Flocken, war's der „dritte Fall“, der Sie zur 
Erkenntniß gebracht hat? — der ruhig blieb? — der 
entweder glücklich verlaufen iſt? — oder ſchon mit Erde zu— 
gedeckt iſt? 

Angeklagter. Wenn ein dritter Fall beſtände und 
er wäre glücklich verlaufen, dann hätte ich ihn doch citirt, 
um zu zeigen, daß die Giftwirkung gering war — und 
wenn anders, dann wäre es doch herausgekommen. 

Präſident. Warum ſind Sie nicht ſpornſtreichs zu 
Herter geeilt, um zu retten? Warum? 

Angeklagter. Ich dachte, er habe höchſtens zwei 
bis drei Löffel voll genommen; das Extract iſt nicht um 
ſo viel ſtärker wie die Tinctur, ich habe Zeit gehabt mich 
zu Hauſe zu informiren. 

Präſident. Nun denn ja — ich habe meine Schul— 
digkeit gethan. 

Die Beweiserhebung iſt geſchloſſen. 

Hierauf nahm zunächſt der öffentliche Ankläger das 
Wort und verbreitete ſich nach einer rhetoriſch meiſter— 
haften Einleitung über die Hauptfragen: „1) Was iſt that— 
jächlich erwiefen ? 2) Was ergeben die Sachverftändigen- 
Gutachten? 3) Welche Schlüffe find hieraus zu folgern? 

9* 


132 Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 


Bei Prüfung der Trage nach der Todesurfache Fri- 
tifirte Redner einerjeits das Verfahren det Dr. Flocken 
bei Ausftellung der Todtenſcheine, andererjeitd aber auch 
die Widerfprüche in den Gutachten der Sachverftändigen, 
infonderheit befämpfte er die Anfichten des Profeſſor 
Huſemann. „Ich bin weit entfernt‘, ruft Redner aus, 
„Profeſſor Hufemann irgendwie anzugreifen und feinen 
wijfenjchaftlichen Auf oder feine perfönliche Ehrenhaftig: 
feit irgendwie in Frage zu ftellen; aber ich muß doch 
betonen, daß nicht der unparteiiſche Richter ihn hierher 
gerufen und inftruirt hat, fondern der Angeklagte, der in 
der ganzen Welt herumgejchrieben haben mag, bis er end— 
(ih einen Sachverjtändigen fand, der geneigt war, feine 
Sache zu übernehmen. Jedenfalls bejteht alfo ein gro- 
Ber Unterfchied in der Objectivität von vornherein, Pro- 
fejfor Hufemann wäre nicht genommen worden, wenn er 
ſich nicht bereit erflärt hätte, die Sache im Sinne des - 
Angeklagten zu vertreten.“ 

Die Vertheidiger Schneegans und Freiherr Schott von 
Schottenſtein legen Tebhaften Widerfpruch ein gegen dieſe 
Kritik, die überhaupt nicht jehr beifällig aufgenommen und 
auch jpäter lebhaft im Kreife der Fachgenoſſen commentirt 
wurde. In der That follte man juriſtiſch und thatjäch- 
lich feinen folchen Unterfchied machen. Es kommt nichts 
darauf an, von wen die Zeugen oder Sachverftändigen 
zur Hauptverhandlung geladen worden find, ob von ber 
Dertheidigung oder von der Anklage. Nach geleiteten 
Eide find fie an fich gleichwerthig, wie vor dem Gejek, 
jo au) vor den Organen des Gejeted. Leider wird 
gegen dieſen Fundamentalſatz ber Gerechtigkeit noch viel- 
fach bewußt oder unbewußt gefünbigt. 

„Dem fchlichten, Haren Vortrage Schmiedeberg’s ge— 
genüber”, fährt der Staatsanwalt fort, „kann der Sprüb- 





Der Procef wider den Dr. med. Floden. 133 


regen glänzender Gitate, welche Huſemann vorgebracht 
bat, nicht in Betracht fommen. Huſemann, ber die 
Frage der Vorausjehbarfeit nicht zweifellos bejaht, ift 
entgegenzuhalten, daß hierdurch geradezu ein privilegium 
odiosum für die Profefjoren der Pharmakologie gefchaffen 
wird. Denn fie find dann die einzigen, bie noch wegen 
Colchieumvergiftung beftraft werden fünnen. — Die Be- 
gründung der Anklage gegen Wolff gibt mir zumächit 
Beranlaffung, über einen Vorfall bei der Beweiserhebung 
zu fprechen. Profeſſor Flückiger ſprach davon, daß in 
unfern pharmacentifchen Verhältniffen eine «Wirthichaft» 
beſtehe. Ich würde darauf nicht zurückkommen, wenn 
diefe Worte aus einem weniger berufenen Munde ge- 
fommen wären. So aber ift Profefjor Flückiger die 
erfte Größe der Welt auf dem Gebiet der pharmaceu— 
tiichen Chemie und außerdem eljaß-lothringifcher Yandes- 
beamter, Vorſitzender der pharmaceutijchen Prüfungs- 
commiffion und Director des pharmacentischen Inftituts. 
Ih bin völlig überzeugt, daß die Aeußerung in gutem 
Glauben erfolgt ift; er hat feinem Unmuth darüber Aus- 
druck gegeben, daß die thatjüchlichen Berhältniffe nicht 
alle jo find, wie fie feinen wifjenjchaftlichen Idealen ent- 
iprechen; aber es fünnte doch dieſes Wort aus folchem 
Munde eine Misdeutung erfahren, und ich erachte es als 
die Pflicht de8 Vertreters der Staatsbehörbe, zu jagen, 
daß die hiefige Medicinalverwaltung, wenn auch noch) 
nicht alles jo ift, wie es fein follte, doch vollauf ihre 
Pflicht gethan hat. Sie hat feine glüclichen Zuftände 
vorgefunden, der größte Theil der Gejege ftammt noch 
aus der Zeit der Franzöſiſchen Revolution und batirt 
vom Germinal XI Abhülfe ijt bereits gejchaffen auf 
dem Gebiete des Prüfungswefens und der Reviſion der 
Apothefen; Regierungsratb Dr. Krieger bat bie 


134 Der Procef wider den Dr. med. Floden. 


Gründe angegeben, warum bisjett nicht weiter gegangen 
werden konnte. Die Apotherferordnung ift ein jehr 
ichwieriger Punkt. Sollen die Apothefen freigegeben oder 
concejfionirt werden? Das it eine verwidelte Frage. 
Wie gefagt, die Landesverwaltung trifft in feiner Weife 
eine Schuld, und unter Mitwirkung Profefjor Flüdiger’s 
wird, woran ich nicht zweifle, bald eine Beſſerung ge- 
ihaffen werden.” — Rendner bejaht hierauf in eingehen- 
der langer Begründung die Fragen nach ber jtrafrecht- 
lichen Berantwortlichfeit des Gehülfen Wolff, des Apothe- 
fers Greiner, des Lehrlings Andres. Der Strafantrag 
lautet, unter Annahme von Milderungsgründen für alle 
Angeklagten, für Wolff wegen fahrläffiger Tödtung in bei- 
den Fällen je 1 Monat oder — da auf eine Geſammt— 
jtrafe zu erfennen ift — auf zuſammen 6 Wochen, für 
Greiner 1 Monat Gefängniß, für Andres 100 Marf 
Gelpftrafe eventuell 10 Tage Gefängniß. — „Bei dem An— 
geflagten Dr. Floden find faft nur Erjchwerungsgründe 
in Betracht zu ziehen. Daß er einen guten Ruf ge- 
nießt, kann nicht jehr bedeutend ins Gewicht fallen; es 
ijt nicht fchwer, einen guten Ruf zu haben, wenn man 
eine jociale Stellung hat wie Dr. Floden. Er hat im 
Laufe des Verfahrens nicht gehandelt, wie ein Mann 
von Anftand und Ehre. Er hat es ferner unterlafjen, 
feinen Fehler wieder gut zu machen. Wie gejagt, lauter 
Erjchwerungsgründe. Mögen Sie aber immerhin, da 
wir feine Beranlaffung haben, gegen ihn die ganze Strenge 
des Gefetes in Anwendung zu bringen, auch bei 
ihm Milderungsgründe gelten laffen. Er wird durch eine 
gerichtliche Verurtheilung ohnehin fchwer genug leiden, 
denn einen gebildeten Mann trifft die Gefängnißitrafe 
jhwerer wie andere. Seine Subfiftenz wird dadurch 
in hohem Grave gefährdet und feine Familie ins Un— 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 135 


glück gejtürzt. Ich beantrage, gegen den Dr. Floden 
wegen des Falles Mathis neun Monate, wegen des Falles 
Herter ein Jahr und als Geſammtſtrafe 1!/, Jahre Ge- 
fängniß auszufprechen. 

Präfident. Der Staatsanwalt hat die Sachver- 
jtindigen in einen gewifjen Gegenjat zu bringen gefucht, 
indem er ausführte, Freiherr von Mehring und Schmiebe- 
berg feien durch das Gericht geladen, Hufemann aber 
durch den Angeklagten. Das ift ja dem Gericht nichts 
Neues geweſen. Es ift auch für das Gericht einerlei. 
Die ſämmtlichen Sachverjtändigen haben hier unter den 
Augen des Gerichts den Eid geleiftet, wie ihn das Geſetz 
borjchreibt, daß fie nach beitem Wiffen und Gewifjen 
ihr Gutachten abgeben wollen. Das Gericht wird, gleich- 
viel von welcher Seite die Sachverftändigen hierher ge- 
rufen worden find, die Gutachten, feiner Pflicht gemäß, 
mit gleichen Maße prüfen. Im übrigen muß ich e8 ber 
Vertheidigung überlaffen, auf die weitern Ausführungen 
zu antworten. 

Rechtsanwalt Schneegans beantragte ala Vertheidiger 
des Angeklagten Dr. Sloden für feinen Clienten Frei— 
iprechung. Das Leugnen defjelben ſei veritändlich und 
menjhlih und vom menjchlichen Standpunkte aus müſſe 
man alles betrachten, was der Menſch unter gewiſſen 
Umftänden thue. Deswegen müffe er jagen: „Ich war 
von Anbeginn bewegt, als ich fah, mit welcher Härte man 
gegen die Bejchuldigten, insbejondere den Dr. Floden 
vorgegangen ift. Handelte e8 fich doch nicht um ein ab» 
fichtliche8 Vergehen oder Verbrechen, bei welchem man 
den Thäter fofort zu verhaften pflegt, jondern um einen 
tahrläffigen Irrthum, der die Ehre nicht antaftet, denn 
jeder kann fich irren. Ich geftehe, es ift das erjte mal, 
daß ich gegen einen Mann in der focialen Stellung wie 


136 Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 


Dr. Floden in der Weife vorgehen fehe, und wundere 
mich darüber, daß man ihn verhaftet hat, mag er auch 
jein Thun zu verjchleiern gejucht haben. Wenn ich mich 
erinnere, wie im vorigen Jahre in Paris bei einem Fahr— 
läfligfeitsfalle verfahren worden ift, der eine ganz andere 
Bedeutung hatte, jo ftaune ich über dieſe Verſchiedenheit 
des Verfahrens.” 

Präfident. Ich möchte doch bitten, fich in dieſer 
Richtung nicht länger aufzuhalten. Es iſt das gefetliche 
Rechtsmittel gegen ven Bejchluß, den Angeklagten Dr. Flocken 
zu verhaften, ergriffen worden, bie zuftändige Behörde 
hat die Beſchwerde zurüdgewiefen, und damit war bie 
Sache erledigt. 

Rechtsanwalt Schneegansd. Bedauern darf ich e8 
immerhin nach der Lage meines Clienten. Der Tall in 
Paris, von dem ich geiprochen habe, der Brand der Oper 
hat Hunderte von Opfern gefoftet, und doch ift an eine 
Verhaftung des Directors nicht gedacht worden. 

An der Beweisführung des Staatsanwalts bemängelt 
Redner vor allem, daß feine Ausführungen auf die Unter- 
lage gebaut feien, Dr. Flocken habe Extractum verjchrie- 
ben, während die Thatjache, daß er nicht Exrtractum, 
jondern Zinetura habe jchreiben wollen, gänzlich außer 
Acht gelaffen werde. „Errare est humanum! Irren 
it menſchlich. Es Liegt ein einfacher, wenn auch folgen- 
jhwerer Irrthum vor. Nach der heutigen Verhandlung 
iſt man wol berechtigt, das Wort des Heilands anzu- 
wenden in ber Veränderung: «Wer fich nicht bewußt ift, 
je einen Irrthum begangen zu haben, ver hebe den erften 
Stein gegen Dr. Floden auf!» Sein Scidfal jchafft 
fich jelbjt der Mann, hat der Präfident geftern gejagt. 
Gewiß, ein ſchönes, erhabenes, ftolzes Wort; aber e8 gilt 
nicht in allen Fälfen. Es gibt befanntlich auch ein Fatum, 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 137 


eine Borjehung, eine höhere Gewalt. Dieſe höhere 
Gewalt leitet die Kugel des einen Mannes, der in das 
Dlaue ſchießt, ebenfo wie die des andern, die einen Men— 
hen in das Herz trifft. Dieſer wird beftraft, jener 
nicht, obgleich er daffelbe gethan hat. Der Erfolg allein, 
nicht die That ſelbſt entjcheidet. Im vorliegenden Falle 
würde eine Strafe die jchredlichiten Folgen haben: 
Dr. Sloden wird aus der gejellichaftlichen Stellung heraus: 
gerifjen, gebrandmarft mit dem Zeichen fahrläfjiger Ver— 
giftung, was joll aus ihm werden als Arzt? Seine 
ganze Stellung, jein häusliches Glück werde vernichtet. 
Da muß man doch fragen: wenn folch ein fahrläffiger 
Irrthum gefühnt werden muß, ift er dann nicht bereits 
ſchwer gefühnt durch alles, was über ven Dr. Flocken 
gefommen ift, durch feine jechswöchentliche Haft, dadurch, 
daß er heute auf ver Anklagebank vor Gericht erfcheint? 
Man legt Gewicht darauf, daß der Irrthum ein doppelter 
gewejen und in zwei Fällen vorgefommen ijt. Aber denkt 
man denn nicht an das befannte Beifpiel, welches jedermann 
an fich erfahren hat, daß man den Fehler in einer fal- 
ihen Addition, den man jucht, oft von neuem begeht?“ 

Der Redner wendet ſich zu ter in dem Gutachten 
erörterten Trage, ob Dr. Floden die Wirfung der Arz— 
net babe vorausjehen müffen. Er macht geltend: „Der 
Arzt kann nicht immer in Büchern und Tabellen nad): 
ihlagen und nachjuchen, das flößt Mistrauen ein, und 
es heißt doch — vielleicht auch mit einigem Nechte: bie 
Hauptheilfraft ver Medicin liegt in dem Vertrauen des 
Kranken. (Heiterkeit) Der Arzt muß das Necept fofort 
Ihreiben, er muß fich der Gefahr des Irrens ausfegen, 
das fommt überall vor, auch beim Nechtsanmwalt, 
wenn er in einer jchwierigen Trage fofort Stellung zu 
nehmen hat. Auf den Ruf des Dr. Flocken haftet 


138 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


nicht der geringfte led. Alles das find Gründe genug, 
ihn freizufprechen. 

Präfident. Sie haben mich nicht richtig verftanden, 
als ich das Citat gebrauchte: fein Schickſal ſchafft jich 
jelbjt der Mann. Ich meinte damit lediglich das Schid- 
jal, das fih Dr. Floden im Laufe der Vorunterfuchung 
bereitet bat. 

Aus der Nede des Rechtsanwalts Freiherrn Schott 
von Schottenftein, des zweiten Vertheidigers des An— 
geflagten Dr. Floden, theilen wir nur den Eingang mit, 
der fo lautet: „In Worten, die gefühlvoll Klingen und 
gewiffermaßen a priori ein Wohlwollen für den Ange- 
flagten befunden follen, hat die Staatsanwaltſchaft er- 
fHärt: wenn Dr. Floden — und ich ftelle feit, daß zu 
meinem Staunen und lebhaften Bedauern Dr. Floden 
aus den Angeklagten herausgegriffen worden ift, al® ob 
er allein alle Unwahrheiten gejagt hätte — ein reuevolles 
Geſtändniß abgelegt hätte, dann wäre e8 ja wol am 
Plate, daß auch die Staatsanwaltjchaft in weiten Um— 
fange Nachficht übte und viele Momente zu Gunften des 
Angeflagten geltend machte. Aber da er es nicht gethan, 
gewiffermaßen fich jelbft außerhalb des Geſetzes gejtelft 
hat, ift auch dem Ankläger die Aufgabe erleichtert worden. 
Nun kann er mit voller Schärfe vorgehen und ihn jo 
belajten, wie er belastet werden muß. 

„Dtejer Standpunkt ift weder juriſtiſch noch moralijch 
richtig. Entweder ift Dr. Flocden vor Gott, vor den 
Menjchen und vor dem Geſetze jo fchuldig, wie behaup- 
tet wird, dann muß ihn die ordentliche Strafe treffen, 
oder er iſt nicht fchuldig, dann ift e8 die geſchworene 
Pflicht des Vertreters der Staatsanwaltjchaft, alles zu 
berüdfichtigen, was die Gefetgeber des Deutjchen Reichs 
mit ehernem Griffel vermerkt haben. In der Strafprozeß- 


Der Procek wider den Dr. med. Floden. 139 


ordnung heißt es im 8. 258, daß die Staatsanwalt- 
haft ebenjo die Pflicht hat wie alle andern Organe der 
Zuftiz, nicht nur die Momente der Belaftung, fondern 
auch jene der Entlaftung ans Licht zu ziehen. Ich habe 
das volle Vertrauen zum Gericht, daß diefe Argumentation 
ber Staatsanwaltichaft nicht gebilligt wird. Es -ift un— 
zuläjfig, daß der Vertreter des Staates fich jo ausge— 
iprochen bat. Ich will angefichts der unbarmherzigen 
Kritik, welche der Angeklagte und die Vertheidigung durch 
die Staatsanwaltjchaft erfahren haben, nicht in denfelben 
Sehler verfallen. BPerjönlichfeiten gehören nicht hierher. 
Die Behauptungen der Staatsanwaltichaft ſtützen fich 
lediglich auf Vermuthungen.“ 

Wir können jelbftverftändlich die mehrere Stunden 
in Anjpruch nehmenden Vorträge, Neplifen und Dupfifen 
der Staatsanwaltichaft und der Bertheidigung, die ung 
in ftenographijchem Auszuge vorliegen, hier nicht wieder- 
geben. Wir begnügen uns daher nur noch furz darauf 
binzuweijen, daß die beiden Vertheidiger der Angeklagten 
Wolff, Greiner und Andres, der Neichstagsabgeorbnete 
Dr. Petri und Dr. Reinhard, ver Stellung ihrer Clienten 
zur Anklage entiprechend, hauptfächlich die juriftifch in- 
tereffanten Streitfragen der Verantwortlichfeit des Apo— 
thefers und jeiner Gehülfen, ſowie die rechtlichen Vor— 
ausjegungen der Begünftigung im Sinne des Deutjchen. 
Strafgejetbuches eingehend prüften und zu Gunjten ihrer 
Clienten auszulegen verſuchten. Für ſämmtliche Ange— 
klagte wurde Freiſprechung beantragt. 

Der Gerichtshof zog ſich zu einer dreiviertelſtündigen 
Berathung zurück und verkündete ſodann das Urtheil, durch 
welches Dr. Flocken zu neun Monaten, der Apotheker— 
gehülfe Wolff zu zwei Monaten und der Apotheker 
Greiner zu zwei Wochen Gefängniß verurtheilt, der 


140 Der Proceh wider ven Dr. med. Sloden. 


Lehrling Andres dagegen freigefprochen wurde. In 
den Urtheilsgründen ijt bezüglich der Schuldfrage und 
der Strafzumeffung hauptfächlich Folgendes ausgeführt: 
„Sur die ftrafrechtliche Würdigung der Trage, ob ver 
Tod als eine Folge des Verhaltens der Angeklagten 
Soden und Wolff, nämlich des Verordnens und Ver— 
abreichens des Colchieumertractes, fich darjtellt, hat die 
wiffenjchaftliche Feſtſtellung der abjolut tödlichen Doſe 
dieſes Giftes nicht dieſelbe Bedeutung, die dieſe Feſt— 
jtellung bei der Frage nach der jtrafbaren Fahrläffigkeit 
gewinnt. Vielmehr handelt es fich hier zunächit darum, 
zu willen, ob in beiden Fällen die verabreichten Dojen 
Golchieumertract wirklich den Tod verurfacht haben, 
wobei e8 ohne Belang ift, ob dieſe Wirfung durch andere 
begleitende Umstände und urjächliche Verhältniffe unter- 
jftüßt und verftärkt worden ift. Dieje Frage wird von 
ſämmtlichen Sachverftändigen bejaht, und dieſem Gut— 
achten Fonnte fich Das Gericht nur anjchliefen. Danach 
muß als feitftehend betrachtet werden, daß der Tod des 
Mathis und Herter durch das von ihnen als Arznei 
genommene Golchteumertract herbeigeführt worden iſt, 
welches Dr. Flocden verjchrieben und Wolff zubereitet 
und verabreicht hat. 

„Es fragt ſich in zweiter Linie, ob dieſe Folgen von 
den beiden Angeklagten in fahrläffiger Weije verjchuldet 
worden find. In dieſer Richtung ift, was den Angeklagten 
Dr. Flocken betrifft, al8 erwieſen anzunehmen, daß er 
nur aus Verſehen das fragliche Recept verichrieben hat, 
indem er ftatt Golchieumertract Colchieumtinctur ver: 
ichreiben wollte. In dieſem Verſehen liegt aber ein fahr- 
läjfiges Handeln, eine Verlegung feiner Berufsobliegen- 
heit, die e8 ihm zur Pflicht macht, bei Necepten, die ein 
jo beftiges Gift verordnen, mit einer Aufmerffamfeit und 


Der Proceß wider den Dr. med. Sloden. 141 


Genauigkeit zu verfahren, die das Vorkommen eines Irr- 
thums ausjchlieft. Die berufswidrige Fahrläffigfeit, die 
in dieſem Verhalten Liegt, ift jedoch nur dann eine ſchuld— 
hafte und jtrafbare, wenn der allerdings nicht gewolfte 
Erfolg einzig durch den Mangel der gebotenen Vorficht 
herbeigeführt worden ift. Dies würde aber nicht zu— 
treffen, wenn, wie Died das Keichsgericht wiederholt, ins- 
bejondere im Urtheil vom 20. December 1886 näher 
ausgeführt hat, ein an Gewißheit grenzender Grad von 
Wahrjcheinlichfeit vorläge, daß der tödliche Ausgang auch 
dann eingetreten fein würde, wenn das jchuldhafte Handeln 
nicht vorausgegangen wäre. Allerdings nicht etwa des— 
halb, weil die Saufalität zwifchen ver Handlung und dem 
Erfolg nunmehr unterbrochen erjcheint, da möglicherweije 
ver leßtere auch ohne dieſes Handeln eingetreten wäre; 
denn die Caufalität wird durch diefe Möglichkeit oder 
Wahricheinlichfeit nicht berührt; ſondern weil die An— 
wendung des 8. 222 des ©t.-G.-B. einen Zufammenhang 
jwijchen der fahrläfjigen Handlung und dem Erfolge 
vorausſetzt. «Fahrläjfig» iſt jedoch nur eine begriffliche 
Gigenjchaft, die als Ergebniß der Erwägungen des Be— 
urtheilenden einer Handlung beigelegt wird, ber danach 
eine cauſale Beziehung nicht zukommt, welch lettere viel- 
mehr nur dem Handeln jelbit anhaftet. Da es jedoch 
aus andern jtrafrechtlichen Gründen nicht angeht, einen 
Erfolg, der wahrjcheinlicherweije auch ohne dieſes Handeln 
oder ohne dieſes jo geartete Handeln eingetreten wäre, 
blos um deswillen unter Strafe zu ftellen, weil dem 
Handeln ein entſchuldbares Motiv zu Grunde liegt, fo 
erübrigt zur Erflärung der dem $. 222 des St.G.-B. 
mit Recht unterlegten Auffaffung nur das Eine, den 
Begriff der Fahrläffigfeit enger zu faſſen und feine 
Strafbarfeit dann auszufchliefen, wenn eine andere Hand— 


142 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


fung oder dieſelbe jedoch mit einem nicht zu beanjtandenden 
Beweggrund wahrjcheinlicherweife den gleichen Erfolg er- 
zielt hätte, ohne dafür zur ftrafvechtlichen Verantwortung 
gezogen werden zu fünnen. 

„Das Gericht ift num zu der Ueberzeugung gekommen, 
daß der Angeflagte bei pflicht- und berufsmäßigem Handeln 
die fragliche Mediein nicht habe verjchreiben fönnen und 
auch nicht würde werfchrieben haben. Der Angeflagte 
erklärte felbjt, daß er über die Wirfung des Colchicum— 
extractes nur jehr vage Anſchauungen gehabt und daß 
er dafjelbe für etwa zehnmal ftärfer als die entjprechende 
Tinctur gehalten habe. Auf Grund diefer Annahme hätte 
er nie dazu kommen fönnen, ben Extract in der ar 
geordneten Menge zu verjchreiben. 

„Außer diefen in der Abfaffung der beiden Recepte 
beruhenden Momenten der Nachläffigfeit fand aber das 
Gericht einen weitern Beleg dafür in dem Umftande, daß 
Dr. Tloden, obwol er um 10 Uhr abends feinen Irr— 
thum bereit8 bemerkt hatte, nichts that, um die Folgen 
defjelben rüdgängig zu machen, dies hätte zur Zeit, als 
Herter erſt den zweiten Löffel der ververblichen Medicin 
eingenommen hatte, noch gejchehen können. Es Tann 
dahingejtellt bleiben, woher der Angeklagte zu feiner 
Erfenntnig gelangt ift, ob durch Einfichtnahme der Kladde 
in der Greiner’schen Apothefe, oder, was wahrjcheinlicher 
it, aufmerkſam gemacht durch einen dritten gleichartigen, 
vielleicht noch vechtzeitig verhüteten Fall. 

„Was den Angeklagten Wolff betrifft, jo war berjelbe 
jeit etwa 14 Tagen in der Greiner’ichen Apothefe als 
Gehülfe bejchäftigt und Hatte am 31. October, an welchem 
Tage fein Principal, der Angeklagte Greiner, auf ver 
Jagd war, in deſſen Vertretung die Apothefergejchäfte wahr- 
zunehmen, zu denen die Zubereitung und Verabreichung 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 143 


der Medicamente gehört. ine folche vorübergehende Ver— 
tretung des Apothefers jeitens eines Gehülfen, der blos 
das Lehrlingseramen gemacht hat, aljo wifjenjchaftlich 
noch nicht ausgebildet iſt, iſt nach den hier beſtehenden 
Vorſchriften und Gebräuchen geftattet. Wolff hat eins 
der beiden Recepte jelbjt zubereitet, da8 andere aber unter 
jeiner Xeitung vom Angeklagten Andres beritellen laſſen. 
Er jelbit gibt an, daß er die ihm vorgelegten beiben 
Recepte überhaupt nicht geprüft habe, ſondern daß es 
Andres gewejen ift, ver das Ertract vom fünften Stocke 
holte und ihm übergab. Da es die Pflicht des Apothefers 
bezüglich feines Bertreters ift, die ihm zur Zubereitung 
übergebenen Necepte näher zu prüfen und an ver Hand 
der in der Pharmafopde angegebenen Marimalvojen zur 
Verhütung verhängnißvoller Irrthümer ven Arzt nach 
diefer Richtung Hin zu controliven, jo liegt in dieſem 
Unterlaffen jeder Prüfung eine ſchuldhafte Fahrläffigfeit. 

„Aber auch hier ift es, um die Strafbarfeit des Ver— 
ſchuldens feitzuftellen, nöthig, zu prüfen, ob die Ver— 
abreichung ver beiden Medicamente erfolgt fein würde, 
wenn eine pflichtgemäße Prüfung verjelben vorausgegangen 
wäre. In diefer Beziehung fällt vor allem ins Gewicht, 
daß Extractum colchici überhaupt in der Deutjchen 
Pharınafopde nicht enthalten if. Wenn nun auch die 
Verhandlung ergeben hat, daß vielfach in der Praris 
noch Mittel verjchrieben werden, die unfere Pharmakopöe 
nicht fennt, und diefem Verfahren auf Grund ver hier: 
zulande bejtehenden Verhältniffe Feine Hinderniſſe ent- 
gegenftehen, jo muß doch gerade beim Mangel diejer 
orbnungsmäßigen Handhabe für feine Drientirung vom 
Apothefer eine bejonders hohe Aufmerkſamkeit verlangt 
werden, 


‚denn dem Wolff weiter nichts befannt war über das 


144 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


Ertract, als daß es viel ftärfer jet als die Tinctur, fo 
mußte ihm jchon dieſe Erwägung und der gebotene Ver— 
gleich mit der in der Pharmakopöe enthaltenen Tinctur 
die Gewißheit verjchaffen, daß der für lettere gegebene 
Maximalſatz in den Recepten beveutend überjchritten fei. 
Solche Ueberjchreitungen jollen aber vom Apothefer nur 
angefertigt werden, wenn aus dem Necept hervorgeht, 
daß diefelben vom Arzt gewollt find. 

„uch die Thatjache, auf welche die als Sachverftändige 
vernommenen Apothefer beſonderes Gewicht legen, daß 
daſſelbe Recept kurz hintereinander zweimal von dem 
nämlichen Arzte verſchrieben worden war, durfte ihn, 
entgegen der Auffaſſung der Sachverſtändigen Pfersdorf 
und Amthor, nicht beruhigen, da daraus keineswegs der 
Schluß zu ziehen iſt, daß ein Irrthum ausgeſchloſſen war. 
Die Verpflichtung, ſich angeſichts des ganz außergewöhn— 
lichen Receptes über den Willen des Arztes zu ver— 
gewiſſern, durfte Wolff um ſo weniger außer Acht laſſen, 
als ſich der Ausführung unter den obwaltenden Um— 
ſtänden weder locale, noch ſonſtige Hinderniſſe in den 
Weg ſtellten. 

„Auch bezüglich des Angeklagten Wolff iſt demnach 
durch die Verhandlung feſtgeſtellt worden, daß durch ſeine 
pflichtwidrige Fahrläſſigkeit der Tod des Mathis und 
des Herter verurſacht worden iſt. Da aber die Thätig— 
keit der beiden Angeklagten Flocken und Wolff als zwei 
gleichwerthige urſächliche Factoren bezüglich des ein— 
getretenen Erfolges zu beachten iſt, ſo müſſen beide und 
zwar unabhängig voneinander als Thäter im Sinne 
des 8. 222 St. G.«B. angeſehen werden. 

„Was die gegen Greiner und Andres erhobene 
Anklage betrifft, ſo hat die Verhandlung feſtgeſtellt, daß 
Dr. Flocken in der Frühe des 1. November, nachdem 


Der Proceß wider ben Dr. med. $loden. 145 


bei Mathis und Herter die Vergiftungserjcheinungen fich 
gezeigt hatten, dem Angeklagten Greiner hiervon Mit- 
theilung machte und daß der leßtere ihm vorjchlug, zwei 
neue Recepte zu verjchreiben, ein Vorjchlag, auf den 
Flocken einging. 

„Dr. Sloden hat das Mathis’sche Necept an fich ge- 
nommen und vernichtet, Greiner hat das in feiner Apothefe 
verbliebene echte Recept für Herter bejeitigt. Da Greiner 
jowol wie Wolff und Andres bei ihren durch die Staats— 
anwaltjchaft erfolgten VBernehmungen die vorgenommenen 
Aenderungen im Receptirbuche hartnädig in Abrede ftellten, 
jo hätten dieſe Manipulationen aller Wahrfcheinlichfeit 
nach eine Aufklärung der Sachlage verhindert, wenn es 
nicht gelungen wäre, den Ankauf des neuen Receptir- 
buches nachzumweijen, und wenn Wolff darauf hin nicht den 
wirklichen Sachverhalt zugeftanden hätte, 

„Durch diefe Handlungen hat fich ver Angellagte Greiner 
des Vergehens der Begünftigung im Sinne des $. 257 
&t.-G.-B. ſchuldig gemacht. Derjelbe war nach der ihm 
durch Flocken gewordenen Mittheilung nicht im Zweifel, 
daß Teßterer fowol wie fein Gehülfe Wolff fich eines 
Bergehens ſchuldig gemacht hatten. Die Thätigfeit, die 
er felbjt in diefer Richtung entwidelte, war von der Ab- 
ficht geleitet, ven Dr. Floden und den Wolff der Be— 
jtrafung zu entziehen. Greiner behauptet num allerdings, 
daß es für ihn zumächit fich darum gehandelt habe, bie 
Dermögensnachtheile, die eine Unterfuchung gegen Floden 
und Wolff vorausfichtlih für ihn im Gefolge haben 
mußte, von fich abzuwenden, und daß, wenn feine Thätig- 
feit auch feinem Gehülfen Wolff und dem Dr. Floden 
zugute fommen mußte, diefer Erfolg von ihm keineswegs 
oder wenigftens erjt in zweiter Linie beabfichtigt worben 
jet; daß er übrigens ſehr unfichere Anschauungen über 

XXI. 10 


146 Der Proceß wider den Dr. med. Floden, 


feine Haftbarfeit gehabt habe und durchaus im Unflaren 
darüber geweſen fei, ob er nicht auch ftrafrechtlich dafür 
verantivortlich gemacht werden könne, daß er den Wolff 
während feiner Abwefenheit als Vertreter zurüdgelafjen 
babe. 

„Was letztern Punkt betrifft, jo lag jedoch, da bie 
Dertretung den beſtehenden Vorſchriften entſprach, für ihn 
fein Grund vor, eine ftrafrechtliche Unterfuchung befürchten 
zu müffen. Vielmehr hat er felbjt bei feiner vichterlichen 
Bernehmung, nachdem der Sachverhalt fchließlich Klar 
gejtellt war, als Grund feines Handelns das Intereſſe 
angegeben, das er daran gehabt habe, die Wahrheit nicht 
laut werden zu lafjen, weil feine Apothefe dadurch ruinirt 
werben fonnte und weil er ven mit ihm eng befreundeten 
Dr. $loden, von welchem der Hauptfehler gemacht worben 
war, habe ſchützen wollen. In dieſer Erklärung bürften 
die Motive feines damaligen Handelns ihren richtigen 
Ausdruck gefunden haben. Zum Thatbejtand des $. 257 
St.⸗G.-B. ift nicht erforderlih, daß der Begünjtiger 
einzig und allein von dem Beweggrund geleitet worben 
ift, die Zwede der Strafverfolgung in Bezug auf den 
Thäter zu vereiteln, vielmehr genügt e8, daß der Wille 
des Begünftigers diefen Erfolg — gleichviel aus welchem 
Deweggrund — bezwedt hat, wie dies fchon daraus er- 
heilt, daß der 8. 257 eit. felbft eins der möglichen Motive, 
nämlich den eigenen Vortheil, ausdrücklich hervorgehoben 
und zu einem weitern Thatbejtanpsmerfmal gemacht hat. 

„Das Gericht ift auf Grund der Verhandlung zu der 
Ueberzeugung gefommen, daß e8 dem Anklagten Greiner 
bet der Vernichtung der Recepte, ver Kladde und bes 
Receptirbuches und bei der Unterichiebung anderer Necepte 
und Receptirbücher, indem er dadurch nachträglich ven 
Angeklagten Floden und Wolff durch Rath und That 


Der Proceß wider ben Dr. med. $loden. 147 


Beijtand leitete, zunächit darum zu thun war, die letztern 
der Beftrafung zu entziehen. Mit der Verwirklichung 
dieſes Zwecks fanden die ſämmtlichen Beweggründe, die 
ihn hierzu bejtimmen konnten, ihre Befriedigung. Nach 
ben Ergebniffen der Verhandlung ift ferner die Angabe 
bes Angeklagten vollftändig begründet, daß hierbei jein 
eigener Vortheil mitbezweckt war. Er verfuchte die Ver— 
mögens- und fonftigen Nachtheile, die ihm burch bie 
Unterfuchung vorausfichtlich treffen mußten, von ſich fern 
zu halten. 

„Die Gründe, welche zur Freiiprechung des Angeklagten 
Andres führten, waren theils in deſſen Jugend und Un- 
erfahrenheit, theil8 in der Möglichkeit gegeben, daß er 
bei jeiner Thätigkeit lediglich die Abficht verfolgte, jich 
jelbjt gegen eine etwaige Unterfuchung ficherzuftellen. 

„Bezüglih der Strafzumefjung wurde erwogen, daß 
e8 fih um eine fchwere Verlegung der Berufspflicht 
handelt, der zwei Menfchenleben zum Opfer fielen. Was 
Dr. Flocken bejonders angeht, jo wurde in Betracht ge- 
zogen, daß er aus freien Stüden durchaus nichts gethan 
hat, um rechtzeitig die Folgen feiner Fahrläfjigfeit wieder 
gut zu machen, und daß dies den Fall Herter in einem 
beſonders ungünjtigen Licht erjcheinen laſſe. Der Irr— 
thum in Betreff des Receptes war aufgeklärt und das 
Leben des Herter konnte vielleicht noch gerettet werben. 
Dr. Floden hat jedoch dieſe feine wichtigfte Pflicht ver- 
ſäumt und fpäter nur das Beſtreben gezeigt, fich den 
rechtlichen Folgen ſeines Thuns zu entziehen. Mildernd 
fommt dabei allerdings in Betracht, daß er an dem frag- 
lichen Tage jehr bejchäftigt war und daß er ſpäter, ind» 
bejondere bei Herter, ſich Mühe gab, pas früher Verfäumte 
nachzuholen. Unter diefen Umſtänden erjchten für den 
Tall Mathis eine Gefängnißitrafe von vier Monaten und 

10* 


148 Der Proceß wiber ben Dr. med. Flocken. 


für den Fall Herter eine folche von ſechs Monaten an— 
gemeſſen, an deren Stelle gemäß $. 74 St.-G.«B. eine 
entiprechende Gejammtftrafe von neun Monaten zu jegen 
war, Dabei hielt e8 das Gericht zugleich für angezeigt, 
einen Theil der erlittenen Unterfuchungshaft von der er- 
fannten Strafe in Abzug zu bringen. Bezüglich des An— 
geflagten Wolff wurde berüdjichtigt, daß Jugendlichkeit 
und Umnerfahrenheit die Haupturfachen feines fahrläffigen 
Verhaltens waren, daß er durch feine offene Darjtellung 
Licht in den Sachverhalt gebracht hat. Andererjeits mußte 
aber erfchwerend ins Gewicht fallen, daß er ohne im 
geringiten ſich der Schwere feiner damaligen verant- 
wortungsreichen Stellung bewußt zu werden, mit un— 
begreiflicher Sorglofigfeit den Lehrling Andres bei der 
Zubereitung der Medicamente gewähren ließ. Für jeden 
der beiden Fälle erjchten demnach eine Gefängnißftrafe 
von ſechs Wochen geboten, an beren Stelle ebenfall® nach 
8. 74 St.-G.⸗B. eine Geſammtſtrafe und zwar in ber 
Höhe von zwei Monaten zu treten hatte. 

„Was den Angeklagten Greiner betrifft, fo war bei 
Ausmeffung der Strafe vor allem zu erwägen, daß er 
e8 war, ber dem Dr. Floden ven Rath ertheilte, jene 
unwürdigen Manipulationen vorzunehmen, welche die Be— 
feitigung der Spuren des Vergehens bezwedten, und daß 
während es feine Pflicht als Principal war, feinem Per— 
jonal in einem feinem Berufe und feiner Stellung ent- 
iprechenden ehrenhaften Benehmen voranzugehen, er ihnen 
Rathicehläge und Anweiſungen ertheilte, in welcher Weife 
die Wachſamkeit der Rechtspflege am beten getäufcht werben 
fünnte. Andererſeits wurde aber auch der bisherige gute 
Ruf des Angeklagten und jeine Unbejcholtenheit gebührend 
berücfjichtigt und deshalb eine verhältnißmäßig geringe 
Strafe über ihn verhängt.’ 


Der Brocef wider den Dr. med. Floden. 149 


Die von dem Apothefer Greiner und Wolff gegen diejes 
Urtheil eingelegte Revifion wurde durch das Neichsgericht 
am 27. September 1888 verworfen. 

Dr. Flocken unterwarf jich dem Urtheil. Durch einen 
Gnadenact wurde die Gefängnißftrafe in Feſtungsſtrafe 
verwandelt. Er verbüßte diejelbe in der Feſtung Bitich. 

Die civilrechtlichen Anfprüche der Hinterbliebenen von 
Mathis und Herter find durch eine angemefjene Ent- 
ihäbigung im Vergleichswege befriedigt worden. 


Die Vermögensberanbung des Anufmanns 
Sſolodownikow. 


(Petersburg.) 
1870. 1871. 


Am 25. Auguſt 1870 erſchien ver Gärtner des neben 
der Forjtafademie in Petersburg gelegenen Landhauſes, 
welches dem Kaufmann erſter Gilde Nifolat Sſolodownikow 
gehörte, vor dem Landpolizeicommiffar des Forſtbezirks 
und meldete, der Beſitzer dieſes Landhauſes ſei in Der 
Nacht zuvor geftorben. Ueber diefe Meldung wurde ein 
Protokoll aufgenommen. Am 29. Auguft und am 1. Sep- 
tember fand ſich das Gericht in der Wohnung des mit 
Tode abgegangenen Kaufmanns Sfolodownifow ein, um 
ben Nachlaß feitzuftellen. Es fanden fi vor: 28 Rubel 
baar, 50000 Rubel in drei vom Kaufmann Sfawin blanco 
girirten Wechſeln, zwei Schulpfcheine des Kaufmanns 
Antſchinnikow über ein Darlehn von 20000 Rubel und 
eine Quittung des Waffili Ljubaͤwin über 700 Rubel. 

Es wurde ermittelt, daß der DVerftorbene von feinem 
Bruder Michael Sſolodownikow mehrere Millionen Rubel 
geerbt Hatte, und e8 entjtand der Verdacht, daß ein großer 
Theil feines Vermögens beifeitegefchafft worben fei. Der 


Die Bermögensberaubung des ꝛc. Sfolobownifomw. 151 


Verdacht, dieſes Verbrechen begangen zu haben, fiel auf 
ben frühern Diener und jpätern Hausverwalter Jakob 
Sfuslenifow, welcher in der Nacht vom 24. zum 25. Auguft 
in dem Landhauſe zugebracht hatte. Die wider ihn ein- 
geleitete Unterfuchung ergab Folgendes: 

Der Diener Koloffow war am 25. Auguft, früh 6 Uhr, 
in das Schlafzimmer feines Herrn getreten und hatte ihn 
todt im Bett liegend gefunden. Er theilte dies ohne 
Berzug dem in obern Stod fchlafenden Sſuslenikow mit. 
Der lettere kleidete fich fchnell an und ging in das Sterbe- 
zimmer; er jah vom Efzimmer aus, daß der Hausverwalter 
bie obern Schubladen der rechtS von der Thür ftehenpen 
Kommode mit den daran befindlichen Schlüffeln öffnete, 
ein Buch herausnahm, es unter feinen Rod ſteckte und 
biefen zufnöpfte. Er kehrte in fein Zimmer zurüd und 
äußerte im Vorbeigehen, er wolle ein Pulver einnehmen, 
weil er fiebere. Bald darauf fam er wieder, eignete jich 
eine in jener Kommode jtehende Chatoulle von Rothholz 
an, öffnete diefelbe mit einem Schlüffel und unterjuchte 
bie darin befindlichen Papiere. Er nahm ferner bie 
Schlüſſel zum Kafjenjchranfe im Stadthauje, eine Papp- 
ihachtel mit kleinem Silbergeld und eine goldene Schnupf- 
tabacksdoſe an fich und befahl uns, von dem Todesfalle 
Niemand etwas zu fagen, auch die Polizei davon nicht 
in Renntniß zu fegen. Dann fuhr er in die Stadt und 
fehrte erjt um 1 Uhr mit dem Bankier Ljubamwin in das 
Landhaus zurück. 

Der Hausarzt des Kaufmanns Sſolodownikow, 
Dr. Heffe, erklärte: Sfuslenitow habe ihm am Morgen 
bes 25. Auguft, und zwar 9'/, Uhr, den Tod feines Herrn 
gemeldet und dabei bemerft, daß er in ber Stabt bon 
diefem Todesfalle Kenntniß erhalten habe. Dr. Heſſe 
begab fich in das Landhaus, im Efzimmer ftieß er auf 


152 Die Bermögensberaubung 


Sfuslenifow, der an ihm vorübereilte und dabei unter 
dem Node einen Gegenjtand verborgen hielt. Dr. Heife, 
wußte, daß der Verftorbene, deſſen Hausarzt er jeit 
ſechs Jahren war, auf Sſuslenikow fchlecht zu ſprechen war. 
Schon im Jahre 1866, als dieſer feinen Dienft an- 
getreten hatte, ſprach ſich Sſolodownikow dahin aus: 
„Er ift ein brauchbarer, anftelliger Menfh, man muß 
ihn aber kurz halten, fonft ift er zu allem fähig.” Als 
Dr. Heffe am 21. Auguft in das Landhaus Fam, fand 
er den Hausherren in einem aufregten Zuftande. Er 
klagte über Sfuslenifow’s Undank, nannte denfelben einen 
verfluchten Räuber und fügte hinzu: „Er ift ohne Hojen 
zu mir gefommen und foll auch arım wie eine Kirchen- 
maus wieder von mir weggehen.” 

Bon verjchiedenen Perjonen wurde bejtätigt, daß 
Sſolodownikow ein bedeutendes Kapitalvermögen binter- 
laſſen haben müßte. 

In Sſuslenikow's Wohnung fand man bei einer 
Hausfuhung 40000 Rubel in Wechjeln, die ſämmtlich 
erſt nach dem 25. Auguft, dem Todestage feines Herrn, 
ausgeftellt waren, Abrechnungen über 35000 Rubel und 
7000 Rubel verkaufte Werthpapiere und 950 Rubel baar. 

As man ihn befragte, woher dieje beträchtlichen Geld- 
mittel rührten, verwidelte er fich in Widerfprüche, gejtand 
aber zu, im December und Januar 1871 bei dem Juwelier 
Iwanow in Petersburg einen Ring im Werthe von 
1600 Rubel und 42°), Karat Fleine Brillanten für 
2300 Rubel 50 Kopeken theils verkauft, theils umgetaufcht 
zu haben. Der Ring wurde der Gemahlin des Majors 
Liprandi, dem Dr. Hefje und dem SKleinbürger Waffıli 
Sſolodownikow vorgezeigt. Sie erfannten ihn als das 
Eigenthum des DVerftorbenen an. Die Brillanten waren 
aus dem Bilde des Heiligen Nifolat ausgebrochen, welches 


des Kaufmanns Sjolodomnifom. 153 


Sſuslenikow in Verwahrung hatte. Im der großen Krone, 
an dem Rande verjelben und in ven Streuzen ivaren bie 
echten Brillanten herausgenommen und unechte bafür 
eingejett, nur im Namenszuge des Heiligen befanden fich 
noch echte Steine. 

Der Angejchuldigte wollte zuerft nur einen Brillant- 
. ring bei feinem Herrn gejehen haben. Als der Iumelier 
Iwanow aber beftätigte, daß Sjuslenifow jenen Ring an 
ihn verfauft habe, gab er an: er habe ven King von 
dem Diener Koloffow Fäuflich für 50 Rubel erworben 
und venjelben dem Neffen Sſolodownikow's übergeben 
wollen, dann aber fich entjchloffen den King zu verfaufen. 
In Betreff der Brillanten behauptete er anfänglich, ver 
am 1. April 1871 verftorbene Kapellmeifter des faijer- 
lihen Theaters Ljädow habe fie ihm gegeben. Später 
jagte er aus: Sſolodownikow habe ihn beauftragt, die 
Brillanten aus der großen Krone des SHeiligenbildes 
herausnehmen zu laffen. Er habe dieſen Auftrag bejorgt. 
Der Juwelier Lindholm befundete: das jehr fojtbare Bild 
im Werthe von etwa 12000 Rubel jet ihm von Sſusle— 
nifow übergeben worven; er habe mehr als 400 Stüd 
Brillanten ausgebrochen und biefe durch ebenjo viele faljche 
Steine erjekt. 

Auf Grund diefer Ergebniffe der Vorunterfuchung 
wurde der Angeklagte verhaftet und wegen eines Dieb- 
ſtahls über 300 Rubel an Werth vor das Schwurgericht 
veriviefen. Die Verhandlung fand in Petersburg am 
20. December 1871 ftatt. Den Vorſitz führte der Vice- 
präfivent des Gerichts Fürft Kefuatow. Die Anklage 
vertrat der Staatsanwalt Koni, die Vertheidigung hatte 
ver Rechtsanwalt Ankowsky übernommen. 

Der Angeklagte gab in ver Hauptjache Folgendes an: 
„Als der Diener mir am Morgen des 25. Auguft 1870 


154 Die Bermdgensberaubung 


bie Nachricht brachte, Sſolodownikow ſei gejtorben, begab 
ich mich in fein Schlafzimmer, um mich von feinem Ab- 
leben zu überzeugen. Er lag im Bett auf ver Seite, 
ich wendete den Körper fo, daß das Geficht nach oben 
gerichtet war, und faltete die Hände über der Bruft. 
Dann befahl ich der Dienerjchaft, bei der Polizei Anzeige 
zu machen, und fuhr in die Stadt. 

„Ich war mit Sjolodownifow feit dem Jahre 1845 
befannt. Unſer Verhältniß war ein jehr freundichaft- 
liches und intimes. Im Jahre 1848 ftarb meine Frau. 
Im Jahre 1851 machte mir Sjolopownifow den Vor— 
ichlag, ein ihm naheſtehendes hübjches junges Mädchen zu 
heirathen, und verfprach mir eine Mitgift von 25000 Rubel. 
Ih ging auf diefen mich entehrenden Antrag nicht ein, 
wir entzweiten uns und e8 fam zu einem völligen Bruche, 
Wir fahen uns 16 Jahre lang nicht wieder. Im Jahre 
1867 begegnete mir der DVerftorbene auf der Newsky— 
Perfpective. Er redete mich an und bot mir an, zu ihm 
zu ziehen und bei ihm zu wohnen. Ich fagte zu ihm: 
wenn er mir eine Stelle geben wollte, fo ſtünde ich ihm 
zu Dienjten, aber als Gejfellichafter wollte ich nicht bei 
ihm leben. 

„Einige Zeit nachher forderte mich Sſolodownikow brief- 
ih auf, als Hausverwalter zu ihm zu fommen. Wir 
wurden einig und ich trat nun in feinen Dienft. Er 
erzählte mir, wie er in den verfloffenen Iahren gelebt 
hatte, und fügte hinzu: Er fei ſehr böſe geweſen, daß 
ich die Heirath ausgefchlagen, und habe fich gefreut zu 
hören, daß ich im eine recht jchlechte Lage und in Noth 
gerathen jet. 

„Ich erhielt anfänglich nur freie Station und monat- 
ih 7 Rubel. Sehr oft mußte ich in Geichäften zu ihm 
aufs Land, auch die ihm vom Arzte verorbnieten Ein- 


bes Kaufmanns Sſolodownikow. 155 


reibungen machen, weil ich, wie er fich ausbrüdte, fo 
weiche Hände hätte. Er behandelte mich nicht gut, oft 
geradezu tyranniſch. Er fagte, er thäte dies, um mic 
zu prüfen. 

„sm Jahre 1868 wurde Sſolodownikow von feiner 
Köchin wegen jchwerer Beleidigung durch Schimpfworte 
verklagt. Mean hatte ihm mitgetheilt, es könnte wol fein, 
daß er deshalb ins Gefängnif wandern müßte. Er gerieth 
darüber in die größte Angſt. Er war fo außer fich, daß 
er mich dringend bat, die Sache gütlich beizulegen, und 
mir zu dieſem Behufe 10000 Rubel einhänbigte. Ich 
ging zum Friedensrichter und hörte dafelbjt, die Köchin 
habe 100 Rubel als Buße gefordert, fei aber mit ihrer 
Klage, die fie durch Beweife nicht habe unterftügen können, 
abgewieſen worden. 

„Rah meiner Rüdfkehr ſetzte ich Sſolodownikow hier- 
von in Kenntniß. Er war fehr zufrieven, bebanfte fich 
bei mir und frug nicht danach, was aus bem Gelbe 
geworden ſei. Er dachte vielleicht daran, wie jchwer es 
war, ihm etwas recht zu machen, und daß in brei 
Jahren vierzig Perjonen jeiner Dienerichaft gewechſelt 
hatten. 

„Sfolodownifow hatte wenig Umgang und wenig Be- 
fannte: feinen Arzt Dr. Hefje, den Regiffeur Kulikow 
und den Bankier Ljubawin. Zuneigung hatte er auch 
zu biefen Perfonen nicht. Er glaubte, daß Eigennutz 
und nicht Freundfchaft fie zu ihm führte, und ging nur 
deshalb mit ihnen um, weil er eine Unterhaltung haben 
wollte und an ven Arzt einmal gewöhnt war. 

„Er jagte oft zu mir: von meiner Uneigennütigfeit 
jet er überzeugt und mir allein vertraue er unbedingt. 
Er meihte mich ein in alle feine Angelegenheiten und 
jpeifte und trank ausſchließlich in meiner Geſellſchaft. 


156 Die Vermögensberaubung 


„per DVerftorbene gehörte zu der Sekte ver Sfopzen 
(Eunuchen, die fich aus religisfen Gründen verjtümmeln 
laffen). Als der bekannte Proceß gegen den Sfopzen 
Plotitin geführt wurde, ſchickte er mich mit einem Packet, 
welches wahrjcheinlich eine bedeutende Geldſumme enthielt, 
nah Moskau. Er nähte das mit zwei Giegeln ver- 
ichloffene Padet in meine Hofentafche und trug mir auf, 
es in Moskau einer Perſon zu übergeben, die zu mir 
fommen und mir ihren Namen nennen würde, Sch voll- 
zog den mir ertheilten Auftrag, in Mosfau fand fich ein 
Heiner alter Mann bei mir ein, erhielt von mir, nachdem 
er den richtigen Namen angegeben hatte, das Padet und 
entfernte fich jodann fchleunigjt, ohne daß weiter ein Wort 
gewechjelt wurde, 

„An dem Dr. Hefje misfiel dem Verftorbenen, daß er 
ein Lutheraner war und trotdem ihn zum Pathen feines 
Kindes gebeten hatte. Am Tage vor feinem Tode ſprach 
mir Sjolodownifow feinen heißen Dank aus für alle ihm 
erwiefenen Dienfte und für meine Freundſchaft. Er über- 
gab mir zur Belohnung dafür 15000 Rubel und fette 
hinzu: er bleibe noch mit 10000 Rubeln in meiner Schuld 
wegen Erledigung der Klage vor dem Friedensrichter. Ich 
erwiderte ihm, dieſe 10000 Rubel hätte ich ja in ver 
zur Niederfchlagung der Sache behändigten Summe jchon 
erhalten. Da ſank er auf die Knie und rief: «Gott fei 
Lob und Danf! Dir Jaſcha (Jakob) danke ich jett, meine 
vollfommene Beruhigung!» 

AS der Präfident dem Angeklagten fein auffallenves 
Benehmen am Morgen des 25. Auguft vorhielt, ver- 
widelte er fich in Widerfprüche und fonnte feine genügende 
Erflärung geben. 

Auf Vorhalt in Betreff des werthvollen Ninges und 
der aus dem Heiligenbilde herausgebrochenen Brillanten 


bes Kaufmanns Sſolodownikow. 157 


jagte er aus: „Ich habe nach Sſolodownikow's Tod für 
den Unterhalt des Stadt- und des Landhaufes wenigſtens 
3000 Rubel von meinem eigenen Vermögen verausgabt. 
Dann fam der Neffe des Berjtorbenen, der inzwijchen 
ebenfall® mit Tode abgegangene Waſſili Sſolodownikow, 
zu mir und bat mich um einen Vorſchuß, den er ſofort 
nach dem Antritt der Erbichaft zurüdzuzahlen verſprach. 
Ich konnte diefe Bitte nicht erfüllen, da forderte mich der 
Erbe auf, aus dem Heiligenbilde die echten Steine heraus: 
nehmen und durch falſche erfegen zu laffen. Er bemerkte, 
er wolle das Bild dem Waalamfcher Kloſter ſchenken. 
Den Mönchen könne es gleichgültig fein, ob die Steine 
echt over faljch wären. Sch habe den Auftrag bejorgt, 
den Erlös aus den verkauften Brillanten aber zum Unter— 
halt der Häufer verwendet. 

Sn Bezug auf den Ring wiederholte er feine frühere 
Angabe. Er ftellte auf das beftimmtejte in Abreve, nach 
dem Tode feines Herrn irgendetwas aus dem Nachlaß, 
insbefonvere größere Geldſummen oder Werthpapiere fich 
angeeignet zu haben. 

Der als Zeuge vernommene Dr. Hefje hat ven Ver— 
jtorbenen wöchentlich zweimal bejucht, er litt an Waſſer— 
ſucht und ift an diefer Krankheit gejtorben. Sſolodownikow 
hat ihm wiederholt gejagt: er befite jo viel Geld, daß 
er fich faft ſchäme, die auf feine Obligationen dev innern 
Anleihe jo oft fallenden größern und Fleinern Gewinne 
einzufaffiren. 

Dr. Heffe wiederholte, daß der Angeklagte, mit dem 
er am 25. Auguſt 1870 im Sterbezimmer zujammen- 
getroffen fei, einen Gegenjtand unter dem Rode verborgen 
und beijeitegejchafft habe. 

Aus den Ausfagen des Regiſſeurs Kulifow ergibt fich, 
daß der Verſtorbene von feinem Bruder fünf bis ſechs 


158 Die Bermögensberaubung 


Millionen Bapierrubel geerbt, luxuriös gelebt, Künftler, 
insbefondere Schauspieler bei fich gejehen und gajtfrei 
bewirthet hat, daß er große Gejchäftsipeculationen in 
Talg betrieben, ſpäter aber alles aufgegeben und fich in 
die Einſamkeit zurücdgezogen hat. 

Er zeigte dem Zeugen gelegentlich einmal die Schwie- 
len an feinen Händen und äußerte lächelnd: vie habe 
ih mir beim Gouponabjchneiden mit der Schere zu— 
gezogen. 

Weiter wurde feitgeftellt, vaß der Verftorbene bei dem 
Bankier Ljubawin eine laufende Rechnung hatte, daß der 
fegtere mit dem Angeklagten am Todestage im Sterbe- 
bauje und im Sterbezimmer gewejen war: daß beibe fich 
dort längere Zeit zu thun gemacht hatten, ehe der Arzt 
und die Polizei fich daſelbſt einfanden. 

Zjubawin gab vor Gericht ald Zeuge unbeitimmte, 
ausweichende Antworten. Er erklärte, Sſolodownikow 
könne unmöglich viel Geld bejeffen haben, venn er habe 
von ben ererbten fünf Millionen gleich eine Million an 
zwei Handlungsdiener feines verftorbenen Bruders ver— 
ſchenkt, beim Zalggejhäft über eine Million verloren 
und im Goncurje Podſoſſow's eine halbe Million ein— 
gebüßt. Der Bau der Waalamer Kirche ſei ihm theuer 
zu jtehen gekommen, und fein früheres fehr üppiges Leben 
habe ungezählte Summen verjchlungen. Bei ihn habe 
der Berjtorbene bis zum Mat 1870 in laufender Rech— 
nung bi8 30000 Rubel gut gehabt, dann aber das Geld 
erhoben, 

Sſolodownikow habe feinem Bruder, auf deſſen Ver— 
anlaffung er entmannt worden fei, geflucht und mit der 
Selte der Sfopzen niemals Verkehr unterhalten. 

Dr. Heſſe jei eine® Tages zu ihm gefommen und 
habe fich erkundigt, ob der Verftorbene ein Teftament 


des Kaufmanns Sjolodomwnilom. 159 


hinterlegt und etwa feinem Pathen (dem Sohne des 
Dr. Heffe) ein Legat ausgefett habe. 

Auf den Vorhalt, daß der Zeuge mit dem Angeklagten 
im Sterbezimmer allein geweſen ſei und daß er fich dann 
in ein Zimmer bes obern Stodes begeben habe, ant- 
wortete Ljubäwin: Das jet gefchehen um eine Cigarrette 
zu vauchen. Bei der Leiche habe er das Rauchen für 
unpafjend gehalten — um fo mehr, weil man bie Geiftlich- 
feit zur Todtenmeſſe erwartet habe. 

Dr. Hefe, der mit Ljubawin confrontirt wurde, gab 
an: in Sſolodownikow's Schlafzimmer habe ſtets eine 
Kite mit Cigarren geftanden, ber Angeklagte hätte ihm 
am 25. Auguft eine Cigarre daraus angeboten und 
Ljubäwin, der damals ſelbſt rauchte, habe noch die Be— 
merfung gemacht: das ſeien Cigarren für Bauern, und 
ihm aus feiner Gigarrentafche eine Cigarre gereicht. 

Der Diener Koloſſow wiederholte feine frühere Aus- 
age. Er hat gejehen, daß der Angeklagte Papiere aus 
der Kommode an fich genommen hat und mit benjelben 
in das Zimmer gegangen ift, in welchem fich Ljubawin 
befand. Der lettere hat ihm, wie er behauptet, damals 
eine Stelle in feinem Haufe angeboten, aber ihn, als er 
fich jpäter dazu meldete, abjchlägig bejchieven. 

Der Angejchuldigte richtete die Frage an den Zeugen: 
ob er nicht eines Tages der Wäfcherin geklagt habe: es 
jei ihm eine Weite abhanden gekommen, in deren Taſchen 
io viel Geld gewejen jei, daß es für jein ganzes Leben 
ausgereicht haben würde. 

Koloffow antwortete: Ya, e8 ift mir eine Wefte weg— 
gefommen, e8 waren aber nur 70 Rubel darin, die ich 
mir von meinem Lohne eripart hatte, 

Die Hausfnechte und der Gärtner verficherten, ver 
Angeklagte habe ihnen ftreng unterjagt, der Polizei Anzeige 


160 Die Bermögensberaubung 


von dem Todesfalle zu erjtatten oder mit irgendjemand 
barüber zu fprechen. 

Nachdem noch verjchievene Rechnungen, Zeugniffe und 
etliche Auszüge aus dem umfangreichen Tagebuche des 
Derftorbenen verlefen worden waren, nahm ber Staat- 
anwalt das Wort und begründete die Anklage folgender: 
maßen: 

„Meine Herren Richter und Gejchworenen! 

„Am 25. Auguft 1870 ftarb in feinem bei der Forſt— 
afademie, ganz nahe bei der Stadt Petersburg gelegenen 
Haufe der Rentner Nikolat Sſolodownikow. Er war nicht 
verheirathet, gehörte der Sekte ver Sfopzen an und galt 
nicht ohne Grund für reich. 

„Nach feinem Tode fanden fich indeß nur Wechjel und 
Schuldjcheine im Betrage von 77000 Rubel und 28 Rubel 
baares Geld vor. Die Papiere waren nod nicht fällig, 
der reihe Mann hätte alfo fchon in den nächiten Tagen 
nicht mehr das zu den nöthigften Ausgaben erforderliche 
Geld gehabt, wenn er nicht noch gerade zur rechten Zeit 
geitorben wäre. 

„Die Staatsanwaltichaft glaubt nicht an diefe unerflär- 
liche plögliche Verarmung. Sie vermuthet vielmehr, daß 
die Berarmung erit nach dem Tode des Verſtorbenen zum 
Nachtheil feiner Erben raſch und auf ſchlaue Weiſe herbei- 
geführt worden ijt, daß ein Mann den Raub bewirkt hat, 
welcher fich für einen Freund Sſolodownikow's ausgibt 
und niemals den Pfad der Ehre und Treue verlafjen 
haben will. 

„Mm diefe Behauptung zu beweijen, müffen wir einen 
Blick auf die Perfönlichkeit des Verjtorbenen und auf die 
Beziehungen zu feiner Umgebung werfen. Die Ausfagen 
der Perfonen, die ihm nahe ftanden, und fein umfang- 
reiches, feit 20 Jahren mit ziemlicher Genauigfeit ge- 


des Kaufmanns Sfolodomwnilom. 161 


führtes Tagebuch machen es uns möglich, ein deutliches 
Bild von Sjolodownifow zu zeichnen. 

„Das Schidjal des Wilmanftand’ihen Kaufmanns 
Nikolai Naſarowitſch Sſolodownikow war ein überaus 
tragifches. Als er die deutjche Petriſchule befuchte, in 
weiche er nach den noch vorhandenen Zeugniffen mit 
guten Kenntniffen in den fremden Sprachen eingetreten 
war, wurde er eine Waiſe. Sein älterer Bruder, ein 
alter einflußreicher Sfopze, nahm ihn aus der Schule. 
Er wollte die Seele des Knaben retten, indem er das 
Fleiſch für immer tödtete. Im einer ber «Radenic» ge- 
nannten Gebetsverfammlungen feiner Glaubensgenofjen 
wurde ber vierzehnjährige junge Menſch gewaltjam ver- 
ſtümmelt und biutüberjtrömt in ein geheimes Nebengemach 
getragen, um daſelbſt verbunden zu werden. Während 
dies geſchah, jtimmte die bei feinem Bruder verfammelte 
Skopzengemeinde Lobgefänge an und dankte dafür, daß 
bie Schar der «Weißen Zauben» fich wieder um ein 
Täubchen vermehrt habe. 

„Der Knabe genas und lebte fortan bei feinem Bruder, 
der ihn völlig beherrſchte. Als er älter wurde umd 
begriff, daß er auf unmenjchliche Weiſe verſtümmelt 
worden umd infolge deſſen unfähig war, fich zu ver— 
heirathen und ein Familienleben zu gründen, entbrannte 
in ihm ein großer Zorn. Er fing an feinen Bruder zu 
haffen und wollte mit ihm und der Sekte der Sfopzen 
feine Gemeinfchaft mehr haben. Er entwich heimlich und 
ließ fich weder durch Bitten noch durch Drohungen be 
wegen wieder zurüdzufehren. Sein Bruder nahm die 
Hülfe der Polizei in Anjpruch und erklärte, daß er ihn 
enterben würde. Aber noch ehe er diejen Vorſatz aus- 
geführt hatte, ereilte ihn der Tod. Nun war Nikolai 
Siolodownifow fein eigener Herr und der Befiter eines 

XXIII. 11 


162 Die Bermögensberaubung 


großen Vermögens, welches von dem Bankier Ljubäwin 
und dem Börjenmafler auf fünf Millionen Rubel geſchätzt 
worden ift. Er bejaß nicht blos Werthpapiere, jondern 
auch ein Haus am Boulevard der reitenden Garde in 
Petersburg, welches fpäter für 200000 Rubel an den 
Fürſten Kotſchubei verkauft wurde, zwei Seejchiffe und 
mehrere Waarenlager. 

‚Nikolai Sſolodownikow war allerdings ein Skopze 
geworden, aber wider feinen Willen. Er gehörte nach 
feinen Anfichten und Gewohnheiten nicht zu dieſer finftern 
Sekte, fondern war ein lebensluftiger junger Mann, ein 
Freund der ſchönen Künfte. 

„Ex bezog das Haus feines Bruders, entließ die Diener: 
ichaft vefjelben, nachdem er fie freigebig belohnt hatte, und 
ichenfte zwei alten Commis eine Million Rubel. Er be- 
gann ein Leben herrlich und in Freuden. Das ganze 
Haus wurde neu und luxuriös eingerichtet, er jchaffte 
fich theuere Pferde an, hielt offene Tafel für Künftler 
und Schaufpieler, denen er auch in Geldverlegenheiten 
aushalf, und oftmals hörte man jeßt in dem alten finjtern 
Skopzenhaufe bis tief in die Nacht den Klang der Becher, 
das Lachen und Singen einer fröhlichen Zechgejellichaft. 

„Bei jeder erſten Theatervorſtellung ſah man den an 
dem weibijchen, bartlofen und aufgedunſenen Geficht, ſowie 
an der plumpen behäbigen Geſtalt leicht fenntlichen Theater- 
freund Nikolat Sfolovownifow in den erjten Reihen ver 
Lehnſtühle fiten. 

„Das Geſchäft gab er ganz auf, nachdem er in einer 
Zalgjpeculation eine Million und bei dem Concurs des 
Handlungshaufes Podſoſſow eine halbe Million verloren 
hatte. Er bejaß noch immer Geld genug, um ganz nad 
jeinen Neigungen zu leben und fich alles anzujchaffen, 
was jein Herz begehrte. Es ift bewiejen, daß er nad 


bes Raufmanns Sſolodownikow. 163 


jenen Berlujten und nach dem Bau der Kirche in Waalam 
die ihm 50000 Rubel foftete, noch 169000 Rubel in 
fünfprocentigen Papieren, 30000 Rubel in laufender 
Rechnung beim Bankier Yjubawin, eine große Summe 
in Papieren der innern Anleihe und außerdem fein Haus 
in der Stadt, fein Landhaus und viele werthuolfe Gegen- 
ftände beſaß, 3. B. ein Heiligenbild im Werthe von 
12000 Rubeln. 

„Er konnte faum die Hälfte feiner jährlichen Einfünfte 
verbrauchen, denn in den fechziger Jahren hatte er feine 
Lebensweife gänzlich verändert. Er war nicht mehr ver 
gaftfreie Mäcenat, der eifrige Theatergaft und Freund 
in der Noth, auch nicht mehr der freigebige Beiſitzer des 
Hofgerichts, der fein Gehalt den ärmern Beamten über- 
fieß und freigebig für die Aufbefferung der Gefängniffe 
und Gefangenen forgte. Er war ein einfamer, ab— 
gejchloffener Mann geworben, ver mit feinem Menfchen 
mehr vertraulich verfehrte, ein Geizhals, der jede Aus— 
gabe jcheute. Sein Tagebuch läßt erfennen, wie fich bieje 
Umwandlung vollzogen hat. Da fteht gejchrieben, daß 
ihn die Rolle eines Freundes der Kunft und eines Be— 
ichügers der Künſtler nicht mehr befriedigte. Das geränfch- 
volle Treiben wurde ihm läſtig, er glaubte zu bemerfen, 
daß man ihn nur ausbeuten wollte Seine Gebanfen 
wenbeten fich ab von dem eiteln weltlichen Wefen, er jehnte 
ſich nach dem Glück eines ftillen friedlichen Familienlebens. 
Wir lefen in jenem Tagebuche: «Die Gebete eines einſam 
jtehenden Menſchen find Wünfche und Forderungen eines 
Samilienvaters. Ein theilnehmender Blick einer theuern 
weiblichen Seele iſt tauſendmal mehr werth als feine 
Rolle gut fpielen.» 

„Das troftlofe Bewußtſein feines phyſiſchen Unvermögens 
erfüllte ihn mit Groll und Bitterkeit. In feinem Tage: 

11* 


164 Die Bermögensberaubung 


buche finden fich zwei Frauennamen, denen Kojewörter 
beigejetst find, aufgezeichnet. Es jcheint, dag Sſolodownikow 
ein Opfer habjüchtiger Kofetterie geworben ift, daß Damen 
ſich ihm genähert haben, die e8 auf jeine Börſe abgejehen 
hatten. Vom Jahre 1854 an enthalten die Blätter des 
Tagebuchs mehr und mehr bittere Bemerkungen über die 
Menſchen, vie ihn brandichagen wollen. Er nennt jie 
Heuchler und jagt 3. B.: «Da fam heute jo einer, um 
zu gratuliren und fich nach meiner Gefunpheit zu er- 
fundigen. Ich weiß jchon, dur jcheinheilige Fratze, worauf 
du hinausgehſt, was dein Bejuch bedeutet. Du möchteft 
verjuchen, ob ſich wieder etwas herausloden läßt. Ich 
habe dich aber gehörig ablaufen lafjen, ich habe immer 
gethan, als ob ich dich nicht verjtände, und bir nur Thee 
angeboten.» 

„In Verzweiflung darüber, wie er die Dede feines 
Lebens ausfüllen könne, kauft er wieder Pferde und be- 
theiligt fih am Sport. Aber ſchon nad Yahresfrift 
verfauft er alles, was zum Stall gehört. Er legt ſich 
auf die Zaubenzucht, baut prachtuolle Kiosfe, jchafft fich 
die jchönften Exemplare an und fjcheint ſich am Fluge 
ber Thiere zu freuen. Allein jehr bald ift er ihrer eben- 
falls überdrüjfig und wendet fih nun religidien Be— 
jtrebungen zu. Auf Kulikow's VBeranlaffung erfüllt er 
jtreng alle Vorjchriften der Kirche. Er lieft das Leben 
der Heiligen, erbaut fih an dem von Gott gejegneten 
Wirken des Vorjtehers des - Sfarowsfifchen Kloſters 
Sjerafim, macht Auszüge aus der «Nachfolge Chrifti » 
und wallfahrtet nach verjchiedenen Klöftern. Bor allen 
zieht ihn das auf einer Inſel im Ladogafee gelegene 
Kloſter Walaam an. Dort beruhigt ihn die wilde große 
artige Natur und nicht minder die Strenge, mit welcher 
die Mönche ihre Pflichten erfüllen. Er entjchließt fich, 


des Kaufmanns Sſolodownikow. 165 


ein Jahr lang in dieſem Klofter zu leben und auf dem 
in den See hinausragenden Feljen eine Kirche zu bauen. 

„Aus dem Tagebuche aus dieſer Zeit erfieht man, 
daß die trüben Eindrüde des Stadtlebens verjchwinden. 
Friedliche, gottergebene Gedanken beherrfchen ven Schreiber. 
Aber plößlich tritt wieder eine gänzliche Umwandlung ein. 
Im Begriffe, auf furze Zeit nach Petersburg zurückzu— 
fehren, bejucht er jeine Kirche noch einmal, wo er «von 
Herzen ‚und aus ganzer Seele, frei von allem irdischen 
Zreiben beten fonnte». Getröftet und zufrieden ging er 
in feine Wohnung. Dort erwartete ihn Bater Damasfin. 
Er wünſcht ihm zunächſt glückliche Reife, dann zieht ev 
ein Bapier heraus und lieſt e8 Sſolodownikow vor. Es 
enthielt eine Aufzählung alles deſſen, was man für das 
Klofter noch thun fünne, wenn Sſolodownikow fich ent- 
fchlöffe, eine Million Rubel zu ſpenden. 

„Damaskin, der Vorſteher des Kloſters, war ein 
asfetifcher, ftrenger, energijher Mann, dem das Wohl 
feines Kloſters über alles ging. Wahrjcheinlich hatte er 
das Klojterleben Sſolodownikow's für einen vollitändigen 
Bruch mit der Welt gehalten und deshalb gehofft, ihn zu 
einer jo großen Schenfung bejtimmen zu fönnen. Uns 
flugerweife deutete Damaskin in diefem Gejpräche darauf 
bin, daß Sfolodownifow zu der Sekte der Sfopzen 
gehöre. Das traf den legtern an der verwundbarſten 
Stelle. Peinlich eingewurzeltes Mistrauen, fein Haß 
gegen die Menjchheit, die ihn ausbeuten wollte, machte 
von neuem auf. Es erfaßte ihn eine furchtbare Wuth. 
Am liebften hätte er das Papier fortgefchleudert, aber er 
nahm fich gewaltfam zuſammen und that jo, als ob er 
den Vorjchlag überlegen und vielleicht annehmen wollte. 

„Er verlieh das Klofter auf Nimmerwieberjehen. Auf 
dem Dampfboote, welches ihn fortführte, jchrieb er in 


166 Die Bermögensberaubung 


jein Tagebuch: «Das war ein Tag, ben ich nie in 
meinem Leben vergeffen werde! Ihr verabjcheut mic) 
alſo. Ich bin ein gottverfluchter Skopze, den ihr nicht 
um feiner fündigen Seele, fondern nur um feines Geldes 
willen zugelafjen habt. Meine Million war es aljo, bie 
ihr bedurftet!» Seine Seelenruhe war gänzlich dahin. 
Statt mit Gebeten und frommen Reden füllt er fein 
Tagebuch mit Klagen über die Habjucht der Menjchen, 
mit Ausdrüden der Entrüftung und mit Schimpfworten. 

„Er zerichnitt das Band mit dem Klofter gänzlich. 
Nach jeinem Tode jchrieb der Vorjteher Damaskin an 
den Unterjuchungsrichter: «Bald nach der Einweihung 
der Kirche verließ Sſolodownikow das Klofter. Obgleich 
wir ung voll Danf und Anerkennung mehreremal fchrift- 
ih an ihn wandten, erhielten wir doch nie eine Ant- 
wort. Er ließ feinen ver Klofterbrüder wieder vor fich.» 

„ach feiner Rückkehr nach Petersburg führte er das 
Leben eines Einfiedlers. Einen großen Theil des Jahres 
brachte er auf feinem, von einer hohen Mauer ums 
jchloffenen Landhauſe zu. Er brach alle gejellichaftlichen 
Beziehungen ab, jchimpfte auf feine Dienerjchaft, ſchränkte 
fih auf das äußerſte ein und erſchreckte die Kinder des 
Gärtners, die mitunter in den Garten famen, durch fein 
wüftes Geſchrei. 

„Sein Tagebuch wird von nun an fehr langweilig. 
Man findet darin feinen edlern Zug mehr, feine warme 
Empfindung. Faſt aus jeder Zeile fpricht Geiz, Hab- 
gier, Mistrauen und der ſtärkſte Egoismus. Er führt 
ein ödes, trauriges Leben. Mit Ausnahme von Kulikow 
und Dr. Hefje fieht er nur feine Dienerſchaft. Nur mit 
großer Mühe erreicht der Arzt, daß er fich etwas beſſer 
ernährt. Seinen einzigen Berwanbten, einen leiblichen 
Neffen, läßt er darben, er will nicht, daß er jemals zu 


des Kaufmanns Sſolodownikow. 167 


ihm fommt. Argwöhniſch bewacht er eine Fleine eijerne 
Chatoulfe, die fein Geld und jeine Werthpapiere birgt. 
Unerwartet und plöglich rafft ihn ver Tod hinweg. Kein 
Menfch fteht ihm bei in ver legten Noth. Er wird, nach— 
dem er faum ven legten Athemzug gethan hat, beraubt 
und ausgeplündert, gleichgültig ftehen die Hausgenoſſen 
mit brennenden Gigarren um den Todten herum, beim 
Wafchen geht man jo unvorjichtig zu Werfe, daß ber 
Kopf der Leiche auf den Boden jchlägt. in roher Haus- 
necht fpottet: «Aha, jett fiehjt du nichts mehr, im 
Sommer aber bemerkten deine Luchsaugen alles und bu 
verſtandeſt zu ſchimpfen.» 

„Bei der Lebensweiſe des Verſtorbenen iſt es unmög— 
lich, daß ſein Vermögen in den letzten Jahren ſich ver— 
mindert hat. Es muß erheblich gewachſen ſein. Wie kommt 
es nun, daß ſich nur wenige Rubel baares Geld vor— 
fanden, als er die Augen geſchloſſen hatte? Warum hat 
die Polizei die Verſiegelung ſo ſpät vorgenommen? Daran 
iſt der Angeklagte ſchuldig. Er verbot den Hausgenoſſen, 
den Todesfall anzuzeigen, er legte ihnen Stillſchweigen 
auf. Er, der ſich den Freund des Todten nennt, ſagt 
uns: «Wir kannten einander ſchon ſeit 1845. Ohne mich 
fonnte Sſolodownikow weder efjen noch trinfen, mich, 
mich allein liebte er, der ſonſt niemand liebte, mich ſah 
er gern bei fich, mir vertraute er unbegrenzt alles an.» 

„Aber wie ftimmt zu diefer Behauptung das Benehmen 
des Angeklagten? ALS er den Tod feines Freundes von 
dem Diener Kolofjow erfährt, bleibt er völlig theilnahn- 
(08. Den Leichnam überläßt er der Dienerjchaft und 
fein Menſch bemerkt etwas davon, daß der Todte feinem 
Herzen nahe geftanden hat. Durch die Verhandlung tft 
beiwiejen, daß das Verhältniß zwiſchen Sſolodownikow 
und Sſuslenikow Fein freundichaftliches geweſen tt. 


168 Die VBermögensberaubung 


„Der Verftorbene hat dem Angeklagten Geld angeboten, 
wenn er ein Mädchen, welches dem eritern nahe jtand, 
heirathen wollte In den Gefprächen mit Kulifow und 
Dr. Heſſe hat er feinen Hausverwalter Sfuslenifow einen 
Räuber genannt, ihn mit noch andern Schimpfworten 
belegt und gejagt, er ſei zu allem fähig, fogar fähig, 
ihn umzubringen. Sſolodownikow hat den Angeklagten 
tyrannifirt, fich über feine zerrüttete Vermögenslage ge— 
freut, ihm nur 7 Rubel monatlichen Lohn gezahlt und 
geäußert: er werde ihn fo fahl wie eine Rabe, ohne 
Hofen, wie er gekommen fei, aus dem Haufe jagen. 
Daraus ergibt fih, daß er nicht der Freund des An- 
geflagten geweſen ift. 

„Sſuslenikow hat ein Märchen erzählt von einer 
geheimnißvollen Reiſe nach Moskau, daß der DVerftorbene 
ihm ein Padet mit einer bedeutenden Geldſumme in die 
Hofentafche genäht und daß er daffelbe in Moskau einem 
geheimnißvolfen alten Mann habe überbringen follen. 
Er jucht glauben zu machen, daß Sſolodownikow ge= 
fürchtet habe, man werde ihn in die Unterſuchung 
wider den befannten Sfopzen Plotitzin verwideln. Aber 
es iſt ja bewiefen, daß Sſolodownikow nicht freiwillig, 
jondern durch einen Act brutaler Gewalt Mitglied ver 
Sfopzenjefte geworden ift. Kaiſer Nikolaus ſelbſt hat 
Mitleid gehabt mit dem Schickſal des unglüdlichen 
Mannes und ihm deshalb alle Rechte zuerfannt, bie 
ven Sfopzen nach dem Gefet entzogen werben. Infolge 
deſſen konnte er ſogar, wie Ihnen befannt ift, in ben 
funfziger Iahren Ehrenmitglied und Beifiger des Hof- 
gericht8 fein. Sfolodownifow hatte von den Strafen, 
die damals über die Sfopzen verhängt wurden, nichts 
zu fürchten. Er hatte nicht die mindejte Urfache, dieſe 
ihm verhaßte Sekte mit Gelomitteln zu unterjtügen. 


des Kaufmanns Sjolodomnifom. 169 


Die ganze Erzählung des Angeklagten ift augenfcheinlich 
erfunden. | 

„Der Angeklagte hat uns mitgetheilt, daß er 10000 Rubel 
von jeinem Herren empfangen habe, um bie Klage feiner 
Köchin rückgängig zu machen. Die Klage, in welcher die 
Köchin nur 100 Rubel Schadenerjat gefordert hatte, war 
vom Friedensrichter abgewiefen worden. Dies verſchwieg 
Siuslenifow und begnügte fich mit dem magern Berichte, 
die Sache fei erledigt. Er behauptet, fein Herr habe ihm 
eine Belohnung geben wollen und fich deshalb nicht er- 
fundigt, was aus den 10000 Rubeln geworben ei. 
Richtiger wird e8 fein, wenn wir fagen, daß der An— 
geflagte fich diefe Summe betrügeriich angeeignet hat, 
indem er vorfpiegelte, fie jei für die Vergleichung des 
Procefjes verausgabt worden. 

„Sanz unglaubhaft ift die Gefchichte von dem Verkaufe 
der Brillanten aus dem Heiligenbilde durch den An— 
geffagten. Er widerſpricht fich hierbei, denn er jagt 
anfänglich «der Verftorbene» und fpäter «Waſſili Sfolo- 
bownifow» habe ihm den Auftrag dazır ertheilt. 

„Pag fich dies verhalten, wie es wolle, e8 jteht feit, 
daß der Angeklagte über den Berfauf der aus dem Bilde 
berausgenommenen Brillanten feine Rechnung gelegt, 
fondern das Geld behalten und folglich unterjchlagen hat. 

„Siuslenifow [ebte, wie wir wiffen, bis zum Tode 
jeines Herrn in jehr ärmlichen Verhältniffen. Ein Zimmer 
in Petersburg und 7 Rubel Monatsgehalt war alles, 
was er hatte. 

„Als nach dem Ableben feines Herrn Hausfuchung bei 
ihm vorgenommen wurde, war er ein reicher Mann. Er 
befaß 40000 Rubel in Wechjeln, 7000 Rubel in fünf- 
procentigen Papieren, Rechnungen über 35000 Rubel in 
Banfactien und 950 Rubel baar. Er gibt an: 10000 Rubel 


170 Die Bermögensberaubung 


babe ihm ver Verftorbene gegeben, um die Injurienklage 
ber Köchin rückgängig zu machen, 15000 Rubel habe er 
ihm kurze Zeit vor feinem Ableben gefchenkt, um ihn für 
feine Dienfte und feine Freundſchaft zu belohnen, und 
etwa 3800 Rubel betrage der Erlös aus dem uns be- 
fannten Ringe und den Brillanten des SHeiligenbildes. 
Wir haben dargethan, daß die Angaben in Betreff ver 
10000 und der 15000 Rubel nicht wahr jein Fönnen. 
Aber wenn fie wahr wären, würde baburch doch nur ber 
Befit von 28800 Rubel erklärt. Wie kommt es, daß 
man rund 83000 Rubel bei ihm gefunden Hat? Auf 
welche Weije hat er die ungefähr 54000 Rubel erworben, 
deren Befit er nicht zu erflären vermocht hat? 

„Ueberdies will er auch noch 3000 Rubel zur Unter: 
haltung des Stabt- und des Landhauſes verwendet haben, 
und bat jeinerfeitS ein koſtſpieliges Leben geführt, nach- 
dem fein Herr die Augen gejchlofjen hatte, 

„Meine Herren Geihworenen, Sie kennen ven Charafter 
des Verftorbenen und werben bie Angaben bes Angeklagten 
nicht glauben. Ein Menfch, ver jede Kopefe genau an— 
fieht und fich ſelbſt alles entzieht, vergißt nicht, daß er 
10000 Rubel an feinen Hausverwalter gegeben hat, 
jondern verlangt Rechnungslegung. Ein folder Mann 
quält fich nicht mit dem Gedanken, daß er feinem Freunde 
nur 15000 Rubel und nicht 25000 Rubel als Belohnung 
geben kann. Es ift völlig unglaublich, daß ein Menſch, 
der nur an fich denkt und nur noch 28 Rubel in Haufe 
hatte, wie der Angeklagte behauptet, eine Summe von 
15000 Rubel heimlich weggibt. Er wußte ja nicht, daß 
er plötlich fterben würde, und wäre ſchon in den nächiten 
Zagen in bittere Noth gerathen. 

„Freilich ift e8 nicht richtig, daß Sſolodownikow nur 
noch 28 Rubel bejefjen habe, als er ftarb, denn im Mat 


bes Kaufmanns Sfolodownifom. 171 


hatte er vom Bankier Ljubawin 30000 Rubel zurüd- 
gezahlt befommen. Seit jener Zeit hat er fein Haus 
nicht verlaffen und Außerft fparfaın gelebt. Es iſt nicht 
möglich, daß er bis zu feinem Tode, alfo in etwas mehr 
als drei Monaten, 15000 Rubel verausgabt haben fol. 
Er verbrauchte bei feiner Lebensweife überhaupt nur 
5000 Rubel jährlich. 

„Sſuslenikow ift nach feiner Erzählung reichlich belohnt 
worden für feine Verdienfte. Sein Wohlthäter liegt im 
Grabe und ift ftumm. Was hat er aber gethan, als 
fein Freund ftarb: er hat befohlen, ven Todesfall zu 
berjchweigen, er hat die Schublaven der Kommode ge— 
öffnet, in welcher der Berftorbene feine Werthpapiere und 
jein baares Geld aufbewahrte, er hat heimlich unter feinem 
Node etwas weggefchleppt, als er dem Dr. Hefe begegnete, 
und wie der Zeuge Koloſſow ſah, einen Gegenftand ver- 
jtedt in fein Zimmer im obern Stod getragen. 

„Hat er vielleicht die Einnahme- und Ausgabebücher 
beifeitegefchafft, die Sſolodownikow mit ziemlicher Ge— 
wifjenhaftigfeit führte? Sie find fpurlos verſchwunden, 
und auch das Vermögen des Verftorbenen ift verfchwunden. 
Sch glaube den Ausfagen der Zeugen, ich glaube auch, 
daß der Angeklagte dem Diener Koloffow gegenüber ge- 
Hagt bat: ihn fjchüttle ein Wieberfroft. Es war ber 
Fieberfroſt des böſen Gewiſſens. 

„Er bat ſelbſt gefühlt, wie mangelhaft feine Erklärungen 
über den Urjprung feines Vermögens find. Deshalb jucht 
er zu beweifen, daß Sſolodownikow bei feinem Tode nichts 
mehr bejeffen habe, was geraubt werben konnte. Wir 
haben die Märchen von dem Greife in Moskau, ber eine 
große Summe Geld heimlich empfangen joll, und alles, 
was dahin gehört, bereit gewürdigt. Es iſt dem An- 
geflagten nicht gelungen, diefen Beweis zu liefern, es ift 


172 Die Bermögensberaubung des x. Sjolodomwnifom. 


ihm nicht gelungen, die Verdachtsgründe, die gegen ihn 
iprechen, zu entfräften. Meiner Meinung nah muß 
Ihnen, meine Herren Gejchiworenen, die Sache Har jein. 
Ich Hage Sſuslenikow an, ven Tod Sſolodownikow's benugt 
zu haben, um fein Vermögen, joweit e8 ihm möglich war, 
zu rauben, und zwar jedenfalls eine den Betrag von 
300 Rubel, von welchem das Strafgefetbuch fpricht, weit 
überfteigende Summe an fich zu bringen. 

„Der Angeklagte hat ung gejagt, daß eine der Urfachen 
von der großen Zuneigung Sſolodownikow's zu ihm bie 
weichen Hände gewejen wären, bie ihm bei den Ein- 
reibungen jo wohlgethan hätten. Wielleicht wird Ihr Ver— 
diet beweifen, daß feine weichen Hände auch recht lange 
Finger hatten.” 

Der Bertheidigung gelang e8 nicht, den Staatsanwalt 
zu widerlegen. Ihre Ausficht auf Erfolg war von vorn- 
herein hoffnungslos, weil die Erzählungen des Angeklagten 
gar zu unglaublich waren. Die öffentliche Meinung ging 
fogar noch weiter als die Anklage. Sie legte dem un- 
getreuen Hausverwalter nicht b[o8 die Bermögensberaubung, 
fondern fogar den Tod feines Herrn zur Laſt, obgleich 
e8 dafür an jedem fichern Grunde fehlt. Die Gejchworenen 
iprachen das Schuldig aus und der Gerichtshof verurtheilte 
ven Angeklagten zu dem Verlufte aller bürgerlichen Rechte 
und zur Verbannung in das Gouvernement Tomsk in 
Weſtſibirien. 


Die Ermordung des Collegienaſſeſſors Tſchicha- 
tfchew. 


(Petersburg.) 
1873. 1874. 


Am 26. November 1873, 5 Uhr nachmittags, kamen 
der verabjchiebete Stabsfapitän N. und feine Frau zu 
dem in Petersburg, Sachäsjewskoiſtraße, im Haufe Popow 
wohnenden Gollegienaffeffor a. D. Tſchichatſchew. Nach 
einem furzen Wortwechjel erhielt Tſchichatſchew von dem 
Stabslapitän eine Fräftige Ohrfeige. 

Es entjtand eine Schlägerei, N. verjegte feinem Gegner 
einige Mejferitiche, von denen zwei in die Bruft tödlich 
waren, Frau N, gab auf Zichichatichew aus einem acht- 
läufigen Revolver zwei Schüffe ab, ohne ihn zu treffen. 
Sie wurden von dem herbeigeeilten Hausfnecht Woronin 
und andern Perjonen getrennt. 

Tſchichatſchew jtarb an den erhaltenen Wunden. 

Die Vorunterjuchung ergab Folgendes: Frau N. hatte 
als Mädchen, während fie im Jahre 1867 in der Familie 
ihre8 Bruders auf deſſen Landgute lebte, ein intimes 
Verhältniß mit dem das Haus bejuchenden verheiratheten, 
aber von feiner Frau getrennt lebenden Tſchichatſchew 


174 Die Ermordung 


angefnüpft, welches einige Monate vor ihrer Verheirathung 
mit dem Stabsfapitän N. abgebrochen wurde. Vor ver 
Hochzeit Tieß fih Frau N. von Tſchichatſchew das Ver— 
iprechen geben, daß er über feinen Umgang mit ihr das 
tiefite Schweigen beobachten würde. Auf ihren Wunſch 
wohnte er im Mat 1868 ihrer Hochzeit als Zeuge bei. 
Ihrem Manne jagte fie weder vor noch nachher etwas 
von den Beziehungen, die fie als Mädchen zu Tſchichatſchew 
gehabt Hatte. Der Stabsfapitän N. äußerte fpäterhin, 
er habe zwar unbeftimmte Gerüchte über das Vorleben 
feiner Frau gehört, aber nie an die Möglichkeit gedacht, 
daß fie vor der Ehefchließung fich einem andern Mann 
hingegeben und ihn betrogen habe. Sechs Jahre lang 
lebte das Ehepaar einig und zufrieden. Im Juni 1873 
erfuhr Frau N. von ihrer Schwägerin, daß Frau Tſchicha— 
tihew von ihr als von einem unmoralifchen, ehr- und 
ſchamloſen Weibe rede. Sie glaubte, Tſchichatſchew habe 
jein Wort nicht gehalten, und fürchtete, ihrem Manne 
fönne die Sache hinterbracht werden. Sie entjchloß fich 
deshalb alles zu gejtehen, und theilte ihm eines Tages 
mit: Tſchichatſchew Habe fie im Haufe ihres Bruders 
verführt, fie habe feine Anträge und Lockungen abgewiejen, 
aber er jet immer zubringlicher geworden, habe enblich 
Gewalt gegen fie gebraucht und fie jet ihm — aber nur 
ein einziges mal — unterlegen. Ihr Mann war äußert 
aufgebracht. Er forderte von ihr, fie jolle dies in jeiner 
Gegenwart dem Zichichatichew ins Geficht jagen. Beide 
reiten nach Aſchewo, wo fich Tſchichatſchew auf dem Gute 
des Randebelmannes Nikolai Zerefchfewitich befand. Dort 
angelangt jtiegen fie in einer Fuhrmannsherberge ab, und 
der Stabsfapitän ließ den Collegienaſſeſſor bitten jeine 
Frau zu befuchen. Tſchichatſchew erjchien, die Thür wurde 
hinter ihm abgejchloffen und Frau N. erklärte ihm: fie 


des Collegienafſefſors Tſchichatſchew. 175 


habe ihrem Manne bekannt, was früher zwiſchen ihnen 
vorgegangen ſei, ſie erinnerte ihn an die nähern 
Umſtände und verlangte, er ſolle ihre Ausſage be— 
ſtätigen. 

Tſchichatſchew war ſehr verwundert über dieſe Scene. 
In der Meinung, der Stabskapitän N. habe von einer 
dritten Perſon Kenntniß von dem verbotenen Umgang 
ſeiner Frau mit ihm erlangt, nahm er alle Schuld auf 
ſich. Der Stabskapitän nannte ihn hierauf einen Schurken 
und eröffnete ihm, ſein Verbrechen müßte beſtraft werden. 
Frau N. mahnte ihn an ſein ihr gegebenes Verſprechen, 
daß er bereit ſei, ſein Leben für ſie zu opfern, und fügte 
hinzu: jetzt ſei die Zeit gekommen, das Gelübde zu er— 
füllen, er habe nur noch fünf Minuten zu leben. Dabei 
lagen ein Dolch und ein Revolver auf dem Tiſche. Zu— 
fällig klopfte Zereſchkewitſch in dieſem entſcheidenden Augen— 
blicke an die Thür. Tſchichatſchew war gerettet, er ent— 
fernte ſich mit dem Bemerken, daß er um 5 Uhr nach— 
mittags wiederfommen würde. Als er fich nicht einfand, 
juchte der Stabsfapitän den Collegienaffeffor in ver 
Wohnung des Herrn Zerejchfewitich auf, wurde aber mit 
dem Bemerfen abgewiejen, daß Tſchichatſchew erfranft jei. 
Segen 8 Uhr abends jchidte ver Stabsfapitän einen 
Zettel, in welchen gejchrieben war: er glaube nicht an 
die angebliche Krankheit und bejtehe auf einer Zuſammen— 
funft. Zereſchkewitſch bejchied ihn abfällig, der Stabs— 
fapitän antwortete: Cr begebe fich auf jein Gut Andrju- 
ichinow und werde dort bis zum 8. August auf Tſchichatſchew 
warten. ALS diefer Termin verjtrichen war, fand ſich das 
Ehepaar am 11. Augujt wieder in Ajchewo ein. Tſchicha— 
tihew war noch dort, aber gerade an dieſem Tage im 
Begriffe mit feinem Freunde von Witte nach Petersburg 
abzureifen. Vom Fenſter aus jah er feinen Feind an— 


176 Die Ermordung 


fommen, jofort warf er fich, feine Sachen zurüdlafjend, 
in den bereits angefpannten Wagen und fuhr weg. 

Der Stabsfapitän meldete fich bei Zereſchkewitſch, der 
ihn im ganzen Haufe herumführte, um ihn davon zu 
überzeugen, daß Tſchichatſchew nicht mehr anweſend jet. 
In großer Aufregung erflärte er, daß er nicht eher ruhen 
würbe, als bis er feinen Gegner getödtet habe. Er bat 
die Herren Zerefchfewitich und von Witte, feine Heraus- 
forderung dem Tſchichatſchew zu bejtellen, dann beitieg 
er jeinen Wagen, um ben Flüchtling womöglich einzu— 
holen. Unterwegs überlegte er indeß, daß Tſchichatſchew 
einen zu großen VBorjprung habe. Er fehrte um und 
fuhr vachejchnaubend nach Andrjuſchinow zurück. 

Tſchichatſchew verbreitete von Petersburg aus das Ge- 
rücht, er jet ins Ausland gereift, um fich vor der Ber- 
folgung zu retten. Im September fam N. mit Frau 
nach Petersburg; fie hörten Tſchichatſchew jet dageweſen, 
aber abgereift. Sie folgten ihm in das Ausland und 
juchten ihn bis Mitte Detober vergeblich; dann fehrten 
fie nach Rußland auf ihr Gut zurüd. 

Vom November 1873 an behandelte N. feine Frau 
oft auf wahrhaft graufame Weile. Er ſchlug fie, riß 
ihr die Haare aus, bejchimpfte fie, ſodaß fie eines Tages 
aus dem Haufe lief und fich in den Schnee warf, um 
jich zu erfälten und womöglich zu fterben. 

Frau N. jchrieb im November an Tſchichatſchew und 
machte ihm die bitterften Vorwürfe. Dieſer faßte eine 
Antwort ab, zögerte dann aber fie abzuſenden. 

Am 26. November fam das Ehepaar N. nach Peters: 
burg. Der Stabsfapitän war als Zeuge vom Gericht 
vorgeladen worden und benußte die Gelegenheit, um fich 
im Adreßcomptoir nach Tſchichatſchew zu erkundigen. Er 
erfuhr, daß diejer zwar in der Sachasjewsfoiftrafe im 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 177 


Hauje Popow eine Wohnung habe, aber am 29. October 
nah Moskau gereift fei. Er traute diefer Mittheilung 
nit und ging mit feiner Frau nachmittags 5 Uhr in 
das Haus Popow. Er trug ein Meffer bei fich, feine 
Frau war mit dem achtläufigen Revolver ihres Mannes 
bewaffnet. Bon einem Hausfnecht hörten fie, Tſchichatſchew 
jet zu Haufe. Sie traten ein und eröffneten ihm, fie 
fümen, um feine Antwort zu holen. Er übergab ihnen 
einen Brief und fügte Hinzu: er werde fich erft dann 
rechtfertigen, wenn fie den Brief gelefen hätten. 

Der Stabsfapitän ſteckte den Brief ungelefen ein und 
beitand darauf, Tſchichatſchew jolle jofort fagen, was er 
zu feiner Rechtfertigung vorzubringen habe, und fich auf 
die Forderung zum Duell erklären. Es fam zu einem 
Handgemenge, welches mit dem Tode Tichichatfchem’s 
endigte. 

Die Verhandlung in dieſer Sache fand am 2. und 
3. März 1874 vor dem Kreisgerichte in Petersburg ſtatt. 
Den Vorſitz führte der Präſident Baturnin, die Anklage 
wurde vom Oberprocurator Koni vertreten, die Ver— 
theidigung des Stabskapitäns N. hatte der Rechtsanwalt 
Spaſſowitſch, die ſeiner Frau der Rechtsanwalt Gerard 
übernommen. 

Der Angeklagte N. bekannte ſich ſchuldig, dem Tſchicha— 
tſchew Meſſerſtiche beigebracht und ihn dadurch getödtet 
zu haben. Er behauptete aber, er habe das Geſicht ſeines 
Gegners gar nicht geſehen, es ſei nicht ſeine Abſicht ge— 
weſen, ihn zu tödten, er habe ſich gewehrt und nicht an 
einen Mord gedacht. 

Frau N. ſagte aus: ſie habe nicht auf Tſchichatſchew 
geſchoſſen und in dem Augenblicke, wo ſie den Revolver 
abdrückte, nicht gewußt, was ſie that. 

Der Zeuge Oberſt von Raaben gab an: Tſchichatſchew 

XXIII. 12 


178 Die Ermordung 


bat mir erzählt, er habe als Friedensrichter in Nowortſchew 
die Befanntichaft der Angeklagten gemacht, die damals 
ein junges Mädchen war und im Haufe ihrer Verwandten 
lebte. Seine Frau hielt fich in jener Zeit jeit einigen 
Monaten im Auslande auf, weil die Ehegatten in Un— 
frieden lebten. Die Frau begegnete ihm ftets eifig Falt, 
troß feiner Bitten reifte fie bald dahin, bald borthin und 
lebte nicht mit ihm zuſammen. 

Als er mit der Angeklagten näher befannt wurde, 
fühlte er fich immer mehr zu ihr hingezogen. Es that 
ihm wohl, daß er ihre Theilnahme und Zuneigung be- 
merkte. Er ſah fie nur in Gegenwart ihrer Verwandten 
und fand feine Gelegenheit zu einer ungeftörten Unter- 
haltung mit ihr. Da fagte die Angeklagte eines Tages 
zu ihm: „Man geftattet uns feine vertrauliche Ausfprache; 
fommen Sie heute nach dem Abendefjen zu mir in mein 
Zimmer, dort wird uns fein Unberufener ſtören.“ 

Tſchichatſchew war überrajcht durch dieſen Vorjchlag, 
jagte aber zu und fand fich am Abend in ihrem Zimmer 
ein. Er ftellte ihr vor, daß fie jehr unvorfichtig handle, 
weil die Anwejenheit eines Mannes in ihrem Zimmer 
ihrem Rufe leicht ſchaden könne. Sie entgegnete: „Darin 
jehe ich nichts Böſes“, und nöthigte ihn, fich zu ihr zu 
jegen und mit ihr zu plaudern. Er wieberholte bie 
Warnung, unterhielt fich eine Zeit lang mit ihr und ver- 
ließ fie nach kurzer Zeit. 

Am folgenden Tage forderte fie ihn auf, fich feine 
grauen Haare wachjen zu laffen und feine Abenpbejuche 
bei ihr fortzufegen. Er folgte diefer Aufforderung, und 
es Fam nach und nach zu einem vertrauten Verhältniß 
zwijchen ihm und dem jungen Mädchen. 

Anfänglich bejchlich ihn die Furcht, er könnte zu weit 
gehen. In diejer Stimmung ſchrieb er feiner noch immer 


des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 179 


geliebten Frau: „ſie begehe einen großen Fehler, ihn ſo 
allein zu laſſen, weil er dadurch in Verſuchung kommen 
könne, anderwärts Troſt zu ſuchen“. 

Er erhielt ausweichende und unbefriedigende Ant— 
worten, und nun erſt knüpfte er intime Beziehungen mit 
der jetzigen Frau N. an. 

Später kehrte ſeine Frau zurück, ebenſo unverſöhnlich, 
ebenſo kalt wie vorher. Als er eines Tages mit ſeiner 
Frau in Geſellſchaft mit der Angeklagten zuſammentraf, 
errieth ſeine Frau, wie Tſchichatſchew ſich ausdrückte, 
gewiſſermaßen inſtinctiv, daß ein vertrauter Verkehr 
zwiſchen ihnen beſtand. Zu Hauſe machte ſie ihm eine 
ihn ſehr überraſchende Eiferſuchtsſeene und verlangte, er 
jolfe geftehen, wie weit dieſes Verhältniß gediehen jei. 

Er fuchte fie zu beruhigen, ihr den Verbacht aus- 
zureden; fie war aber eine von ben Frauen, bie jchiver 
Vernunft annehmen und hartnädig bei dem beharren, 
was fie fich in den Kopf gefegt haben. 

Die Eiferfuchtsicenen wiederholten ſich. Um benjelben 
zu entgehen und fich zu zerjtreuen nahm er bie Bejuche 
bei der Angeklagten, die er eine Zeit lang ausgeſetzt hatte, 
wieder auf. Die Angeklagte reijte indeß bald nachher ab. 
Er hörte, daß Herr N. ihre Belanntfchaft gemacht habe 
und fie zu heirathen gedenke. Später erhielt er von ihr 
eine fchriftliche Einladung, bei ver Trauung als ihr Braut- 
vater zugegen zu fein. Die Rolle war ihm peinlich, er 
übernahm fie aber, weil fie ihn dringend bat, ihr ben 
Wunſch zu gewähren, und geltend machte, daß dadurch 
jever etwaige Verdacht über ein Verhältniß zwiſchen ihnen 
entfräftet würde. 

Nach der Hochzeit jah er Frau N. nur noch dreimal 
auf etliche Augenblide. Ste beſchwor ihn, die ftrengjte 
Derichwiegenheit über feinen Umgang mit ihr zu bewahren, 

12* 


180 Die Ermordung 


denn e8 würbe ihr ſchlimm gehen, wenn ihr Mann etwas 
davon erfahre. Er beruhigte fie, verficherte, daß er nicht 
die mindeſte Veranlafjung habe, das Geheimniß kundzu— 
machen, und gelobte ihr unverbrüchliches Schweigen. 

Es kam zwifchen Tſchichatſchew und feiner Frau zum 
Bruce. Er Iebte bis zum Tode feiner Mutter im 
Petersburg, dann aber bald in Petersburg, bald im 
Auslande. 

Im Jahre 1873 reiſte er nach Nowortſchew, um bei 
der Gründung eines Creditvereins behülflich zu ſein. Er 
ſtieg daſelbſt bei feinem alten Freunde Zereſchkewitſch ab. 
Am dritten Tage nach feiner Ankunft befuchte ihn ganz 
unerwartet der Stabsfapitän N. und frug ihn im Laufe 
des Gefpräches, ob er nicht auch feine Frau zu fprechen 
wünſche, die ja eine alte Bekannte von ihm ſei. Tſchicha— 
tſchew eriwiberte, er würde fich freuen, fie wieberzujehen, 
und begleitete ven Stabsfapitän, der ihn zu ihr führen 
wollte. Unterwegs unterhielten fie fich über gejchäftliche 
Dinge. Der Stabsfapitän bezeichnete eine jämmerliche 
Fuhrmannsfneipe al8 den Ort, wo er mit feiner Frau 
abgeftiegen ſei. Tſchichatſchew wurnderte fich darüber, denn 
er wußte, daß N. fonft bei feinem Verwandten, dem 
Landespofizeichef, oder im Gafthofe wohnte, Trotzdem 
folgte er ihm, ohne Argwohn zu hegen, in ein durch eine 
Scheunenwand getheilte® Gemach, aus welchen N. ihn 
in ein Nebenzimmer führte. Dort jtand feine Frau. 
Sie erwiderte den Gruß Tſchichatſchew's fteif und fagte 
fein Wort. Ihr Mann Schloß die Thür ab, und auf 
dem Tiſche lagen ein Dolch und eine Piftole. Der weich- 
berzige, jchüchterne Tſchichatſchew erichraf, er merfte, daß 
etwas Ungemwöhnliches im Werfe war. Es fam ihm der 
Gedanke, der Stabsfapitän könne von dem PVerhäftnif 
jeiner Frau zu ihm etwas gehört haben und wolle ihn 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 181 


deshalb zur Rede ſetzen. Er wußte, daß mit dem Stabs— 
fapitän N. nicht zu fpaßen war. 

Jetzt hob Frau N. an, ihre frühern Beziehungen 
zu ibm bis in die geringiten Einzelheiten aufzudeden. 
Sie ftellte e8 jo dar, al8 habe Tſchichatſchew ihre Un— 
erfahrenheit benugt und ihr nach Aufwenbung aller Ver: 
führungsfünfte zulegt Gewalt angethan, um feinen Zweck 
zu erreichen. 

Während diefer Erzählung ftand N. finfter und 
drohend dabei, wie ein Richter dem Delinquenten gegen: 
überjteht. 

Frau N. ſchloß: „Erinnern Sie fih, Herr Tſchicha— 
tihew, daß Ste mir damals Ihr Wort gaben, Ihr Leben 
für mich zu opfern. Jetzt verlange ich die Erfüllung 
Ihres Verjprechens und fordere Ihr Leben.” Es iſt be- 
greiflich, daß dieſe Schlußrede Tichichatjchew ftußig machte 
und daß er ſich, obwol er erjchroden und ziemlich fafjungs- 
{08 war, eines Lächeln nicht erwehren konnte. Der 
Angeflagte N. gerieth darüber in Zorn. Er jchrie ihn 
probend an: „Sie wagen noch zu lachen!‘ und fuhr, 
fih zu feiner Frau wendend, fort: „Sieh, er höhnt 
ung!’ 

Tſchichatſchew entjchuldigte fih, N. aber rief: „Sie 
dürfen nicht länger leben. Wenn Sie nicht ſelbſt frei- 
‚willig ein Ende machen, jo wird es von anderer Hand 
gejchehen!” Frau. fügte hinzu: „Ich habe mein Wort 
verpfändet. Wenn Sie fich nicht ſelbſt dazu entjchließen, 
geichieht es durch mich!“ Der Angeklagte N. frug jeine 
Frau: „Biſt du bereit?”, fie antwortete: „Sa! ich bin 
es!“ In dieſer Fritiichen Lage erklärte Tſchichatſchew, es 
ſei ihm unmöglich, dieſer Forderung nachzukommen, man 
ſolle ihm Zeit laſſen, einen Entſchluß zu faſſen. Die 
Angeklagten gaben ihm fünf Minuten Friſt. 


182 Die Ermordung 


Als Zerejchkewitich ihn jpäter frug, weshalb er nicht 
energifch proteftirt und insbeſondere nicht fofort die An— 
ichuldigung, daß er dem jungen Mädchen Gewalt an- 
gethan, zurücgewiefen habe, erwiderte er: „Sch ſchwieg, 
weil die Frau mich dauerte. Ich kannte den rachfüchtigen 
Charakter ihres Mannes und feine Reizbarfeit.” Er 
fuhr dann fort in feiner Erzählung: „Er habe nach 
einen Auswege aus der verzweifelten Lage gejucht, und 
zu feinem Glück pochte jemand von außen an bie 
Thür. Der Stabsfapitän rief: «ES darf Niemand 
herein!n»“ 

Es war Zerefchfewitich, er blieb vor der Thür ftehen 
und antwortete: „Gut, ich werde warten.” Die Ans 
geflagten wagten nun doch nicht, ihr Vorhaben auszu— 
führen. Sie bewilligten Aufſchub und gaben Tſchichatſchew 
frei. Als er mit Zerefchkewitich fortging, frug ihn ber 
fettere, der nicht wußte, was gefchehen war, ob er ben 
Stabsfapitän und feine Frau zu Tiſch Bitten follte. 
Tſchichatſchew antwortete ganz verftört: „Wie du willft, 
wie bu willſt!“ 

Jetzt erjt bemerkte Zereſchkewitſch, daß fein Freund 
fajt von Sinnen war. Er unterließ die Einladung und 
erfundigte jich, was denn zwiſchen dem Stabskapitän 
und ihm vorgefallen wäre. Tſchichatſchew theilte ihm 
alles mit. Zereſchkewitſch rieth, die unfinnige Forderung, 
daß er fich das Leben nehmen folle, rundweg abzulehnen. 
ALS der Stabsfapitän N. abends zu Zerejchfewitich Fam 
und Tſchichatſchew zu jehen verlangte, erflärte ver Haus- 
herr, fein Gaft jet unwohl und fünne niemand empfangen. 
Der Stabsfapitän fprach feine Verwunderung aus und 
übergab einen Zettel für Tſchichatſchew, in welchem er 
bon biejem eine beftimmte Antwort auf das an ihn ge- 
jtellte Verlangen forderte. Tſchichatſchew Tieß ihm fagen: 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 183 


„er fühle ſich ſo leidend, daß er den Zettel nicht habe 
leſen können“. 

Nun ſchrieb N. einen Brief, um deſſen Uebergabe 
er Zereſchkewitſch bat. Darin hieß es: „Ich erwarte Sie 
beſtimmt im Laufe der nächſten beiden Wochen auf meinem 
Gute, ohne Zeugen.“ 

Die Angeklagten reiſten ab, weil ſie einſahen, daß 
ſie vorläufig ihren Zweck nicht erreichen konnten. 

Tſchichatſchew aber zerbrach ſich vergebens den Kopf, 
was er anfangen ſolle. Er blieb in Nowortſchew, um 
ſeine Geſchäfte zu erledigen. Dieſe zogen ſich länger 
hinaus, als er dachte. Als er den Koffer packte, um 
mit ſeinem Freunde von Witte abzureiſen, ſtürzte der 
letztere plötzlich in ſein Zimmer mit den Worten: „Der 
Stabskapitän N. und ſeine Frau ſind hier, raſch, raſch 
in den Wagen und fort!“ 

Tſchichatſchew war unentſchloſſen, aber ſein Freund 
ließ ihm keine Zeit, er zog ihm den Paletot an, ſtülpte 
ihm die Mütze auf den Kopf, trieb ihn in den Wagen 
und befahl dem Kutſcher, zur nächſten Station zu fahren. 

Zehn Minuten nach der Abfahrt erjchien der Stab8- 
fapitän. Dan fagte ihm, ZTichichatichew ſei abgereift. 
Er wollte das nicht glauben, dann fagte er: „Geſtern 
Abend war er noch hier.“ 

Zerejchkewitich wiederholte: „Er ijt fort!” 

Der Stabsfapitän ging, fam aber gleich darauf mit 
feiner Frau zurüd und verlangte nach Tſchichatſchew. 
Zerefchkewitich zuckte die Achjeln und ftellte ihm frei, das 
Haus zu durchſuchen. Sie machten von biefer Erlaubnif 
Gebrauch. ALS fie ihn nicht fanden, waren fie ſehr er- 
bittert, Frau N. fehrie wüthend: „Ich bringe den ſchänd⸗ 
lichen Verführer um, er hat meine Unerfahrenheit auf 


184 Die Ermordung 


das abjcheulichite misbraucht und mich unglüdlich ge- 
macht!” Endlich zogen fie ab. 

Zerejchfewitich und von Witte aber fuhren zur nächiten 
Station, auf welcher fie mit Tſchichatſchew zufammen- 
trafen. Er und von Witte reiften mit der Bahn weiter, 
während Zerejchkewitich zurückkehrte. Unterwegs ftieß er 
auf die Angeklagten, die Tſchichatſchew nacheilten, ihn 
aber nicht mehr einholen konnten. Tſchichatſchew kam 
glüdlih nach Petersburg und erzählte dort fein Aben- 
teuer. Nach und nach beruhigte er fich wieder und zwar 
um jo leichter, weil ihm Zereſchkewitſch jehrieb, die An— 
geflagten fchienen ihre Rachegedanken aufgegeben zu haben, 
fie wären auf ihr Gut gegangen und würden bemnächit 
ins Ausland reifen. 

Tſchichatſchew Tieß das Gerücht verbreiten, er begebe 
jih ind Ausland, in Wahrheit aber ging er zu feinem 
Freunde, dem Dberjt von NRaaben, in das Lager von 
Krasnoe-Selo und blieb daſelbſt 14 Tage. 

Bis zum November ereignete fich weiter nichts, als 
daß von N. ein Brief fam, den Tſchichatſchew dahin be— 
antworten wollte, man jolle ihn in Ruhe laffen. Ehe 
die Antwort abgegangen war, traf von Zereſchkewitſch die 
Nachricht ein, der Stabsfapitän fer als Zeuge in Sachen 
des Friedensrichters Klingenberg nach Petersburg geladen. 

Dieje Mittheilung veranlaßte Tſchichatſchew, mit feinen 
Verwandten Rath zu pflegen, was er thun follte. Sie 
hielten e8 zwar für unmöglich, daß die N.s ein Attentat 
auf fein Leben beabfichtigten, viethen aber doch, die Polizei 
zu benachrichtigen. Dazu Fonnte fich Tſchichatſchew nicht 
entjchließen, er lebte fich nach und -nach in den Gedanken 
ein, es fönne am Ende doch fo fchlimm nicht werben. 
Der Oberſt von Raaben erbot fich den nervöſen Tſchicha— 
tihew, der fchwerlich Faltblütig bleiben würde, bei ver 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 185 


Zuſammenkunft mit dem Stabskapitän zu vertreten. 
Tſchichatſchew ging jedoch auf dieſen Vorſchlag nicht ein. 
Er kannte den Stabskapitän als einen aufbrauſenden 
Menſchen, befürchtete, daß er gegen den Offizier grob 
werden und dadurch die Sache verſchlimmern könnte, 
insbeſondere aber ſollte N. auch nicht erfahren, daß der 
Oberſt von dem Verhältniß Tſchichatſchew's zu Frau N. 
unterrichtet ſei. 

So wurde denn endlich beſchloſſen, Tſchichatſchew ſolle 
ſich nur in Gegenwart des Oberſten, als Zeugen, in eine 
Auseinanderſetzung mit dem Stabskapitän einlaſſen, und 
wenn dieſer zum Angriff überginge, ſolle der Oberſt ihn 
ergreifen und Tſchichatſchew Leyte zur Hülfe rufen. Man 
fam überein, daß der Angeflagte nur um 6 Uhr empfangen 
werben bürfte, weil der Oberft um dieſe Zeit ſtets zu 
Haufe war. 

Alles ſchien aufs beſte georbnet zu fein. Es kam 
aber ganz anders. 

Am 26. November fehrte ber Dberft ſchon um 4 Uhr 
nachmittags vom Dienft zurüd. Er war ſehr ermübet, 
er legte fich, was fonft nicht feine Gewohnheit war, in 
jeinem Zimmer, welches an das von Tſchichatſchew ſtieß, 
zur Ruhe und jchlief ein. Halb im Schlafe hörte er, 
daß ihn jemand wedte, Tſchichatſchew ſtand vor ihm 
und flüfterte ihm zu: „Stehen Sie auf, fie find ge— 
fommen!” 

Der Zeuge fprang auf und fleidete fich haftig an. 

Tſchichatſchev war dem Angeklagten N. inzwifchen 
entgegengetreten und hatte die Zwiſchenthür hinter fich 
zugemacht. Einer nur minutenlangen bitigen Unterredung 
folgte heftiger Lärm. Frau N. fagte: „Ich bin gefommen, 
Antwort auf meinen Brief zu holen.“ 

Tſchichatſchew übergab ihr die tags vorher fchriftlich 


186 Die Ermordung 


aufgejette Antwort, mit den Worten: ‚Da ift fie! Sie 
mögen daraus erjehen, was ich Ihnen mitzutheilen habe; 
ich laſſe mich auf Unterhandlungen nicht ein und erfuche 
Sie, mich in Ruhe zu laffen. Sollten Sie indeß noch 
vollftändigere Erflärungen wünfchen, jo läßt fich darüber 
reden.” 

Der Angeklagte nahm den Brief und murmelte etwas 
von einem Duell. 

Tſchichatſchew erwiderte: „Nach Ihrem Verfahren 
gegen mich kann ich die Herausforderung nicht annehmen; 
Sie haben jedes Recht dazu verwirkt!‘‘ 

Hierauf großer Lärm. ALS der Oberft eintrat, fand 
er die beiden Männer im Fauſtkampf; die Schläge fielen 
hageldiht. Der Oberſt riß den Angeklagten weg von 
Tſchichatſchew, fehleppte ihn auf einen Divan und hielt 
ihn dort feſt. Der Stabsfapitän hatte ein Meffer in 
der Hand. Es krachte ein Schuß. Tſchichatſchew rief: 
„Jetzt kann man fie ver Polizei übergeben.” Gleich darauf 
jagte er: „Ich bin verwundet!” Frau N., die gejchoffen 
hatte, wurde von einem Hausfnecht weggeführl. In 
biefem Augenblide fiel ein zweiter Schuß. Frau N. 
wurde gewaltſam entfernt und vie Treppe hinunter- 
befördert. Den Stabsfapitän befürderte der Oberſt in 
ein Vorzimmer und fchloß dafjelbe ab. Die Frau rief 
ihrem Wanne zu, „ob ihm etwas zugeftoßen fei“, ver 
Dberft entgegnete: „Hier ift nicht der Ort Zärtlichfeiten 
auszutaufchen. Ihr wahrer Feind ift Ihr Mann. Sie 
find fein blindes Werkzeug.” Plötzlich fagte jemand: 
„Tſchichatſchew iſt ſchwer verwundet!“ Darauf ant- 
wortete fie: „Hörft dur, Kolinka“ (Koſename für Nikolai), 
„ich babe ihn getödtet.” Ihr Mann, der dieſe Aeußerung 
durch die Thür vernommen hatte, eriwiderte: „So ver— 
giß nicht, was ich dir gejagt habe.“ 


bes Eollegienafjefiors Tſchichatſchew. 187 


Bald darauf erjchtenen die Polizei und ber Unter— 
inchungsrichter. 

Vom Präfidenten nach der Perfönlichkeit des ver- 
ftorbenen Tſchichatſchew befragt, erflärte ter Oberſt von 
Raaben: „Er war ein Menſch, deſſen Gutmüthigfeit 
und Meichherzigfeit zur Verzweiflung bringen konnten, 
ſchwach, nervös, leicht erregbar, wahr und reblich in Wort 
und That, human und menjchenfreundlih. Im Dienjte 
des Staates ftand er lediglich aus Patriotismus, nicht 
der Befoldung wegen. Er war ſehr wohlhabenn. Vor 
einigen Jahren hat er für 70 Kinder eine Dorfjchule 
bauen lafjen, für die er jährlich mit freigebiger Hand 
ipendete. Auch in feinem Zeftamente hat er der Schule 
noch 10000 Rubel vermadt. Bon feiner Frau, die ihın 
das Leben verbitterte, lebte er geſchieden. Trotzdem hatte 
er ihr, als fie fich trennten, eine unabhängige Stellung 
gefichert, und mehr als einmal fagte er, daß er fie wieber 
ins Haus nehmen würde, wenn fie durch irgendeinen 
Zufall von dem ihr jett naheftehenden Manne getrennt 
werben ſollte. Im Teſtament bat er ihr 5000 Rubel 
ausgejegt. — Er war ein feltfamer, dem weiblichen Ge— 
ichlecht gegenüber zartfühlender Menſch.“ 

Der Zeuge Woronin (Hausfnecht) jagte aus: „Ich 
war in der Tſchichatſchew's Wohnung gegenüberliegenden 
Küche, als ich Lärm und Schreien hörte und darauf 
zueilte. Ich ſah Tſchichatſchev am Divan ftehen, ein 
Unbekannter hatte ihn an der Bruft gepadt. Sch jprang 
hinzu, um den Fremden von hinten zu faffen, fühlte 
aber jofort einen Schmerz in der Hand. Der Unbekannte 
hatte durch meine Finger hindurch Herrn Tſchichatſchew 
ein Mefjer in die Bruft geftoßen und mich dabei ge= 
fchnitten. Im felben Augenblic ſprang Oberjt von Raaben 
hinzu, griff den Fremden an umd rief mir zu, ich jolle 


188 Die Ermordung 


die Frau feithalten. Sie gab einen Schuß ab. Als ich 
die Frau faßte und fortzog, fiel ein zweiter Schuß. Nun 
warf ich fie nieder und jchleppte fie zur Treppe. Sie 
ſchrie und ſchimpfte Zichichatfchew einen Schurfen und 
Elenden. Dem Fremden rief fie fragend zu: „Kolja, 
wo haft du das Mefjer?“ Diefer antwortete: „Zum 
Fenſter Hinausgeworfen!” — Als ich fagte, Herr Tichicha- 
tſchew ſei auf den Tod verwundet, rief der Frembe: 
‚Run, Gott mit ihm!“ 

Zeuge Popow, der Neffe des Gemorbeten, ſprach fich 
im hohen Grade günftig aus über den ſympathiſchen 
Charakter feines Oheims, und beftätigte alles, was von 
Raaben ausgejagt hatte. 

„Nach der Kataftrophe war der Angeflagte vollfommen 
gefaßt, rauchte eine Cigarrette und tranf Thee. Bei ber 
Ankunft der Polizei jchimpfte er auf Tſchichatſchew und 
nannte ihn einen Schurken, bat dann aber, man möge 
bemjelben fein Bedauern über das Gejchehene aus- 
drücken.“ 

Die Zeugin Frau Popow gab an: „Mein Bruder“ 
(der Ermordete) „hat mir ſein Abenteuer in Aſchewo ganz 
ſo mitgetheilt, wie es der Oberſt berichtete. Daß er 
einem Mädchen Gewalt angethan haben ſollte, glaube 
ich nicht; zu einer ſolchen That war er unfähig; er trat 
dem weiblichen Geſchlecht gegenüber immer ſchüchtern und 
zurückhaltend auf.“ 

Nach den Ausſagen Zereſchkewitſch's iſt der Angeklagte 
ein leicht reizbarer, rachſüchtiger Menſch, der auf alle 
Welt gewohnheitsmäßig ſchimpfte und mit dem ſchwer 
auszukommen war. Tſchichatſchew, ehrlich und gutmüthig, 
war ſicher nicht fähig, ein Mädchen zu vergewaltigen. 
Er weigerte ſich, der Frau N. in Aſchewo eine ſchriftliche 
Beſtätigung über fein Verhältniß zu ihr zu geben, nament— 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 189 


lich darüber, daß er ſie ohne ihre Einwilligung gebraucht 
habe. Den falſchen Beſchuldigungen in Gegenwart ihres 
Mannes gegenüber ſchwieg er, weil er Mitleid mit ihrer 
Page hatte. 

Die Zeugin N., die Schwägerin der Angeflagten, be- 
fundete: „Beim Austritt aus dem abeligen Fräulein 
ftift, in welchem das junge Mädchen feine Erziehung 
genoffen hatte, that fie oft jo naive, unfluge Fragen, wie 
ein Feines Kind. Ich hielt fie deshalb für unerfahren 
in allem, was Welt und Leben betrifft, und rieth ihr, 
beſonders vorfichtig im Umgang mit Männern zu fein, 
weil fie ſonſt leicht in Gefahr fommen könnte, ihren guten 
Ruf zu verlieren und fich unglüdlich zu machen. Sonſt 
war fie bejcheiden, heiter und ruhig.” 

Perjonen aus der vornehmften Gefellichaft, wie die 
Fürſtin Chowansfy, General Stenbof Fermor und andere 
Gutsbefiger der Gegend, beftätigten die Charafteriftif, 
die Oberft von Raaben von dem verftorbenen Tſchichatſchew 
gegeben hatte. Allgemein hielt man dafür, daß er ven 
Damen gern den Hof machte. 

Der Angeklagte wurde von den Zeugen übereinstimmend 
als ein ftreng rechtlicher, aber reizbarer und ftolzer Menſch 
bezeichnet, der oft jeharfe, bittere Kritif übte, ohne fich 
um die Meinung anderer viel zu fümmern. Ausprücde 
wie: „Idiot, Krethi und Plethi, Canaillen“, führte er 
beftändig im Munde. Er war deshalb im Gouvernement 
nicht beliebt, wohl aber wegen feiner energiichen Thätig- 
feit geachtet und vielfach gefürchtet. 

Nach beendigtem Zeugenverhör nahm der Angeklagte 
das Wort und fprach fih, mitunter ftodend und immer 
jehr erregt, über die Anklage in folgender Weife aus: 

„Meine Frau war mir immer eine liebende, ergebene 
Gattin, die meine Anfichten theilte. Wir lebten glücklich, 


190 Die Ermordung 


ich hatte fein Geheimniß vor ihr und glaubte, daß auch 
fie keins vor mir habe. ALS fie mir beichtete, was fich 
zwijchen ihr und Tſchichatſchew vor unjerer Verheirathung 
zugetragen hatte, traf e8 mich wie ein Blitz aus heiterm 
Himmel. Ich Hatte fie mir niemals anders als keuſch 
und unentweiht vorjtellen können. Nach ihrer Natur- 
anlage und ihren Wejen war ich davon überzeugt, dag 
fie in ihrer Unwiſſenheit und Unerfahrenheit ver Ver— 
führung unterlegen jein müſſe, daß fie nicht freiwillig, 
jondern gewaltjam entehrt worben fei. Sie theilte mir 
mit, Tſchichatſchew Habe das Haus ihrer Berwandten, 
bei denen fie wohnte, häufig bejucht, ihr den Hof gemacht 
und das traurige Verhältnig zu jeiner Frau erzählt. ALS 
das Unglüd gejchehen und fie jein Opfer geworden, habe 
er jein Berbrechen bereut, fie angefleht, das Geheimniß 
zu hüten, damit feine jchlimmen Folgen entjtünden, und 
gejagt: fie würde ihm dadurch beweifen, daß fie ihm 
verziehen habe. 

„Ich war innerlich ganz ſchwankend. Einmal glaubte 
ich, daß ˖ alles fich jo verhielt, wie meine Frau angegeben 
hatte, dann zweifelte ich wieder. Ich wußte mich in 
meine Lage nicht zu finden. Um Gewißheit zu befommen, 
verlangte ich von meiner Frau, fie jolle in meiner Gegen- 
wart von ihrem DVerführer Tſchichatſchew ein Bekenntniß 
feiner Schuld fordern. Wir dachten, er würde dazu 
bereit fein. Ich hatte mir vorgenommen, ihn unter 
irgendeinem Vorwande zu einem Duell zu zwingen und 
die Schande zu rächen. Wir wählten Ajchewo und hatten 
dort die befannte Zufammenkunft mit Tſchichatſchew. Als 
meine Frau ihm vorhielt, was er an ihr verbrochen hatte, 
jagte er fein Wort. Er ftimmte nicht zu, wiberjprach 
aber auch nicht, nur als das Wort «Gewaltthätigfeit» 
fiel, äußerte er, daß man fein Vergehen fein gewaltthätiges 


bes Kollegienafjeilors Tſchichatſchew. 191 


nennen könne. Meine Frau erinnerte ihn an fein DVer- 
jprechen, ihr fein Leben opfern zu wollen. 

„Ich konnte nicht fchweigen und rief ihm beleibigenve 
Worte zu, weil mich der Zorn übermannte. Ob ein 
Dolh und eine Pijtole auf dem Zijche gelegen haben, 
weiß ich nicht. 

„Zereſchkewitſch unterbrach uns und wir fonnten die 
Unterredung nicht beendigen. 

„Als Tſchichatſchew troß feines Verſprechens nicht zu 
uns auf unſer Gut kam, hatte ich feine Ruhe mehr. 
Wir fuhren wieder nach Ajchenow. Ich wollte ihn zu 
einer Erklärung zwingen und ihn dann fordern. 

„Mein Plan mislang, er war entflohen. Ich fchidte 
ihm durch Zerejchkewitich meine Forderung jchriftlich zu. 
Es wurde mir aber erwibert, nach dem PVorgange in 
Ajchewo könne die Forderung nicht angenommen werben. 
Ich glaubte, die Ablehnung erfolge wegen ver Be— 
feivigungen, die ich ausgeftoßen Hatte, und entgegnete: es 
fei das ein Grund mehr zum Duell. Die Art und Weife, 
wie der Auftritt in der Dorffneipe von Tſchichatſchew 
weiter erzählt worden war, hatte mich geärgert. Ich reijte, 
um mich zu zerjtreuen, ind Ausland. Aber ich konnte 
mich nicht beruhigen. Ich war aufgeregt und fchlafloe. 
Ich fchenkte meiner Frau zwar Glauben, ich wußte, daß 
fie mich lieb hatte, aber ich mochte fein, wo ich wollte, 
fogar in der wiener Ausftellung vergaß ich nicht, ie 
unglüclich ich geworden war. Immer wieber tauchten 
Zweifel in meiner Seele auf. Im diefer Verfaſſung jehrieb 
ih den Brief an Tſchichatſchew, deſſen Concept fich bei 
ven Acten befindet. 

„Als ich nach ſechs Monaten zurüdfehrte, hörte ich, 
in der Gejellfchaft würde über uns geiprochen, die Sache 
jet mit allen Detaild befannt. Ich verlor meine Fafjung 


192 Die Ermordung 


gänzlich, ich Konnte mich nicht mehr mäßigen, und meine 
arme Frau litt unter ‚meiner Stimmung und meiner 
Behandlung. Ich war mehr denn je entfchlofien, ven 
Räuber der Ehre meiner Fran zu einem Duell zu zwingen, 
vorher aber wollte ich feine Vertheidigung hören und 
Gewißheit darüber haben, daß meine Frau völlig un- 
ichuldig gewejen und von ihm mit Gewalt genöthigt worden 
jet, fich ihm hinzugeben. Ich kannte meine Heftigfeit und 
gab meiner Frau deshalb den Revolver, als wir am 
26. November 1873 in Tſchichatſchew's Wohnung ein- 
traten. Ich dachte nicht daran, ihn zu ermorden. Meine 
Frau forderte feine Erflärung. Er gab ihr einen Brief 
und ſagte, er fei zu einer weitern Beſprechung bereit, 
wenn wir benjelben gelejen hätten. Ich eriwiberte, ich 
wollte den Brief fofort lefen. Er remonjtrirte dagegen 
und verabjchiedete und. Ich war froh, ihn endlich geſtellt 
zu haben, und rief ihm, als er uns in barſchem Zone 
aus feiner Wohnung wies, meine Herausforderung zu. 
Er antwortete, nach den Vorgängen in Ajchewo nehme 
er ein Duell nicht an, und weigerte fich ganz entſchieden, 
obgleich ich ihm bemerkflich machte, jene Vorgänge hinderten 
ben Zweikampf nicht. Nun ohrfeigte ich ihn, ſodaß er 
gegen die Thür flog. Raſch erhob er fich, fiel über mich 
her und fehrie: «Der Hausfnecht joll Sie binden» Im 
biefem Moment trat ein Offizier aus dem Nebenzimmer, 
der fich mit Zichichatfchem auf mich warf. Es entitand - 
eine Schlägerei. Ich vertheidigte mich, jo gut ich Tonnte, 
wurde aber auf einen Divan nievergeworfen. Das Mefjer 
hatte ich bis dahin noch nicht in der Hand, nun aber 
gelang e8 mir, es aus der Taſche zu ziehen. Ich ſtieß 
blind zu auf Tſchichatſchew, der mit beiden Fäuften auf 
mich fchlug. Ich weiß nicht, ob und wohin ich ihn ge- 
ftochen habe. Ich hörte zwei Schüffe fallen. Meine Frau 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 193 


wurde abgeführt und ich befand mich plötzlich allein im 
Vorzimmer. Ich wußte gar nicht, was eigentlich ge— 
ſchehen war, und zog den Brief Tſchichatſchew's hervor, 
um ihn zu leſen. Da hörte ich meine Frau mir zu— 
rufen, daß Tſchichatſchew gefährlich verwundet ſei. Ich 
erſchrak, warf das Meſſer zum Fenſter hinaus und ließ 
Tſchichatſchew ſagen: Ich hätte ihn nicht abſichtlich ge— 
ſtochen, es thäte mir leid. Ich bäte um Verzeihung. 
Ich bin ſchuldig an der Verwundung, aber ich leugne, 
daß ich ihn habe ermorden wollen und daß ich abſichtlich 
gehandelt habe.“ 

Die Angeklagte Frau N. erzählte vor Gericht, daß 
ſie ihrem Manne ihren Fehltritt bekannt habe, weil ſie 
fürchtete, die Sache könnte ihm durch Tſchichatſchew's 
Frau hinterbracht werden und weil ihr das Geheimniß 
ihrem Manne gegenüber ſchwer auf dem Gewiſſen gelegen 
habe. Ob ihr Mann am 26. November ein Meſſer bei 
ſich gehabt habe, wiſſe ſie nicht, ſie habe geglaubt, daß 
Tſchichatſchew durch die von ihr abgegebenen Schüſſe ver- 
wundet worden fei. Geſchoſſen habe fie ganz ohne Ueber- 
fegung, weil man ihren Mann gejchlagen habe. 

Nach dem Gutachten von zwei Sachverftändigen, die 
in der Verhandlung verlefen wurben, hat Tſchichatſchew 
ſechs Stichwunden erhalten, die von einem jeharfen Mefjer 
herrührten. Zwei davon waren zolltief in die Bruſt 
eingedrungen, die eine links von oben nach unten, bie 
andere rechts geradeaus. Beide Wunden waren unbedingt 
tödlich. 

Weiter wurben folgende Briefe verlejen: 

1) Ein Brief des Angeklagten aus Berlin an Tſchicha— 
tſchew: 

„Nichts iſt empörender, als eine in jeder Hinſicht 
verächtliche und jämmerliche Perſönlichkeit eg: zu 

XXIII. 


194 Die Ermordung 


jehen, die ihre eigene Erbärmlichkeit nicht anerfennt. In 
Ihnen ift nichts Ganzes, alles kläglich Kein. Sie find 
ftoddumm, fade und geldgierig. Nur eine einzige Eigen- 
ichaft befiten Sie nicht im verfleinerten Maßftabe, die 
des Feiglings! Je mehr ich alle Phaſen Ihres Lebens 
durchdenke, je effer und widerlicher wird mir Ihre Per- 
fönlichkeit. Auch nicht ein einziger mildernder Umjtand! 
— Sie find ein erbärmlicher Menſch! — Nur der Aoler 
kann einem leibthun, dem man bie Flügel bejchnitten 
hat, nicht aber ein Patron wie Sie! 

„Verſtand befigen Sie nicht, Finnen ihn aljo auch 
nicht verlieren. Ich verfolgte Sie, um Sie zum Zwei— 
fampf zu nöthigen, und mit Ihnen zu verfahren, wie 
man mit einem Teigling verfährt, wenn er fich weigert, 
d. b. ihn mit dem Stod zu züchtigen. Meine Abficht 
haben Sie bei Ihrem Freunde verbreht, als ob ich Sie 
ermorden wollte. Wie haben Sie nur die free Stirn 
gehabt, jo etwas vorausjegen zu können? 

„Man verlangte von Ihnen eine Auseinanderſetzung, 
Sie aber hielten es für ficherer davonzulaufen.“ 

2) Der Brief der Angeklagten an Tſchichatſchew, von 
deſſen Wiedergabe der Länge wegen abgejehen werben 
muß. Er beiteht aus Schmähungen und Schimpfreben, 
in denen fich die ercentrifche Schreiberin ergeht. ‘Der 
Inhalt ergibt fich übrigens aus dem dritten Briefe, 
Tſchichatſchew's Antwort darauf: 

„Die erjten Zeilen Ihres Briefes enthalten jchon 
eine, durch nichts begründete Forderung. Sie jehreiben: 
Ich hätte gewagt, Sie aufs fchmählichite zu verleumben 
durch die Behauptung, ich habe Ihrem Freunde gejagt, 
Sie hätten mich entehrt u. ſ. w. 

„Der gibt Ihnen vor allem ein Recht, in jo be 
fehlendem Zone zu reden? Haben Sie denn vergefjen, 


bes Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 195 


daß ich bei den Scenen nach meiner Abreiſe aus Aſchewo 
nicht gegenwärtig ſein konnte? 

„Was ich nicht weiß, kann ich weder beſtätigen noch 
leugnen, kann auch Zereſchkewitſch, einem ſelbſtändigen, 
ehrenhaften Manne, den ich nicht fähig halte Verleum— 
dungen zu verbreiten und Thatſachen zu verdrehen, weder 
etwas verbieten noch befehlen. Ihre Schmähungen und 
Schimpfreden laſſen an Schärfe nichts zu wünſchen. Das 
iſt leicht, beſonders wenn noch Einflüſterungen mithelfen. 
Sie beweiſen indeß gar nichts, beleidigen nicht, beſchmuzen 
nur den, der ſie ausſtößt und zu ſolch niedrigen Mitteln 
greift. Ihr Brief enthält die widerſprechendſten Be— 
hauptungen, die eigentlich unbeantwortet bleiben ſollten. 
Beantworte ich ſie dennoch, ſo geſchieht dies aus dem 
Grunde, weil mein paſſives Verhalten Ihnen gegenüber 
ſtatt begriffen zu werden, falſch gedeutet und zu neuen 
Schimpfreden benutzt wird. Sie ſchreiben: «Sie ſind 
ein ehrloſer Feigling, der ein unglückliches, vor ihrem 
Manne und der Geſellſchaft verleumdetes Weib im Stich 
lift.» — Die Worte: «ehrlofer Feigling» paſſen nicht 
auf mid. Bei Ihrem erjten Beſuch in Ajchewo und 
Ihrer rechtfertigenden Erklärung gegenüber habe ich mich 
fchweigend verhalten, weil ich jo bejtürzt war, daß ich 
feine Worte fand, auch Lieber jchwieg und alles auf mich 
nahm, um Sie nicht bloßzuftellen. Und dies Verhalten 
nennen Sie feig, ehrlos! Wenn ich auch Feine Friegerijchen 
Neigungen verjpüre, fo muß ich es doch ausfprechen, daß 
mich Ihr Vorgehen ftugig machte, mehr noch als das 
Unerwartete der Scene. 

„Ich wollte Ihren Kummer nicht vergrößern und ver- 
mieb lieber jegliche Erklärung, weil fie nur ungünftig 
für Sie lauten konnte. Es war mir peinlich, daß das 
von mir jorgfältig gehütete Geheimniß an den Tag ger 

13* 


196 Die Ermordung 


fommen war, barum ließ ich auch die Schimpfreden Ihres 
Herrn Gemahls ruhig über mich ergehen. Sie fünnen 
nicht leugnen, daß ich, nachdem ich alles ohne Erwiderung 
angehört hatte, frug, was man weiter von mir wolle? 
Ich glaubte eine würdige Antwort zu erhalten, jtatt 
Dinge zu hören, die mir nie in ben Sinn gefommen 
waren. | 

„Ich jollte mir felbft das Leben nehmen! 

„Wie jchwer mir auch ums Herz war, konnte ich 
doch nicht umhin, diefe Forderung lächerlich zu finden. 

„Da drohte mir Ihr Gemahl mit Mord! 

„Leugnen Sie nicht, ich verdrehe dieſe Thatjache nicht. 
Wie fol man den Menfchen nennen, der, wenn er ich 
beleidigt fühlt, die Gefahr von fich ſelbſt abwenden will 
und e8 feiner Frau überläßt dem Gegner eine fo eigen- 
thümliche Forderung zu ftellen ? 

„Sie werben fich erinnern, daß mir zuerjt nur fünf 
Minuten, dann aber bi8 5 Uhr nachmittags Zeit zur 
Entſcheidung gegeben wurde, unter der Bedingung, daß 
ih die Drohungen gegen mich geheimhielte. 

„So ſchlau dies ausgedacht war, jo egoiftifh war 
es auch. 

„ach dem, was vorgegangen war, konnte da noch von 
einer wiederholten Zuſammenkunft die Rebe fein? 

„Ich hätte verrüct fein müffen, wäre ich darauf ein- 
gegangen. 

„SH ſah in Ihnen nur noch meine Feinde, nichts- 
beftoweniger bewahrte ih das Geheimniß. Ich be= 
ichleunigte meine Abreife, konnte fie jedoch erſt auf den 
11. Auguft feitjegen. 

„Was dann vorging, übertraf das Menjchenmögliche. 
Ihre Verfolgung meiner Berfon wurde aller Welt be- 
fannt, fie bildete das Gefpräch des ganzen Gouvernements, 


des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 197 


„Vieles wurde hinzugeſetzt, noch mehr entſtellt. So 
blieb mir nichts übrig, als die Wahrheit zu berichten, 
was ich ſo discret als möglich gethan habe. 

„Die ganze Schwere des Ereigniſſes fällt auf Sie, 
in noch höherm Grade auf Ihren Mann, der Sie eine 
ſo unwürdige Rolle ſpielen ließ. 

„Bevor ich ſchließe, kann ich die Stelle Ihres Briefes 
nicht mit Stillſchweigen übergehen, in welcher Sie den 
Wunſch ausſprechen, ich möge den Wahnſinnigen ſpielen! 

„Die Rolle käme denen eher zu, welche die Sache an 
die große Glocke gehängt haben, nicht mir! 

„Auch die Auslaſſung Ihres Briefes ſoll nicht üßer- 
gangen werden: «Sie find ein gemeiner Dieb, ber fich 
in ein Haus gejchlihen und das Mitleid eines uner- 
fahrenen jungen Mädchens misbraucht hat, um fein 
Theuerſtes zu ftehlen.» 

„Wie unwahr! Verkehrte ich doch in dem Haufe, 
bevor ich von dem Dafein des unerfahrenen Mädchens 
wußte. Warum Sie mich aber Dieb nennen, verftehe 
ih nicht. Sch Habe nie etwas genommen, was ınir nicht 
gutwillig gegeben wurde. 

„Bor Ihrem Manne wollen Sie nie etwas verheim- 
licht haben, und verjchwiegen ihm doch jahrelang, was 
Ihnen ſchaden konnte. Eine ftreng moralifche Frau hätte 
den Manne die Bekenntniſſe vor ihrer Verheirathung 
gemacht. Damals wäre das ehrlich gewejen. 

„Ihre Begriffe fcheinen verwirrt zu fein. Was Gie 
unter Verleumdung und Wahrheit verftehen, begreift fein 
Menih. Klar ift nur, daß Sie in fünftlich erregter Wuth 
auf Befehl Ihres Heren nach fo vielen Jahren großes 
Unheil angerichtet haben. Gegen mich aber haben Sie 
gewijjenlo® gehandelt, indem Sie die ganze Schuld auf 
mich jchoben. Dadurch wurden Sie zu meiner Feindin. 


198 Die Ermordung 


Trotzdem fchonte ic Sie, um nicht als Ankläger gegen 
Sie aufzutreten, und Sie nennen mich dafür einen Feigling! 

„In Ihrer mündlichen Bejchuldigung konnte ich die 
Beeinfluffung Ihres Mannes vermuthen; die DVerant- 
wortung für Ihren Brief fällt auf Ste allein und raubt 
Ihrer Lage jede Theilnahme. Bon dieſem Augenblid ar 
hört jede Verpflichtung meinerſeits Ihnen gegenüber auf, 
und ich muß auf Sie als meine jchlimmite Feindin bliden. 
Ihnen auszuweichen, habe ich Feine Urfache, ebenjo wenig 
bin ich verpflichtet, Site aufzufuchen. Gegen jedes etwaige 
Attentat Ihrerſeits habe ich meine Maßregeln getroffen! 

Hierauf wurden Stellen aus Zereſchkewitſch's Briefen 
an Tſchichatſchew verlefen, aus benen hervorgeht, daß 
Zereſchkewitſch ihm die Gerüchte mittheilt, die in ber 
Gegend laut geworben find. Die Klatjcherei erzählt von 
Dolch und Pijtole, von einem Glaſe mit Gift und einem 
Strid zum Hängen, von den Reifen der Angeflagten als 
Derfolger und daß der Stabsfapitän zum 26. November 
nach Petersburg geladen fei als Zeuge. 

Weiter wurden Stellen verlefen aus Frau N.'s Tager 
buch. Da heißt es: „Ach wie oft werfe ich mir vor, 
daß mir das unheilvolle Geſtändniß entjchlüpfte! Warum 
mußte ich es ihm geftehen! Es wäre beſſer gewejen, ich 
hätte e8 mit ins Grab genommen! Ich hätte ihn und 
mich nicht jo gequält. Was kann ich dafür, wenn ich 
nicht begreife, worüber er fich nur jo grämt? — Alles 
hätte ja im ftillen und befjer abgemacht werben fünnen. 

„3b ſchwur ihm, alles zu erfüllen, was er verlangt 
— begriff ich aber, was ich ſchwur? 

„Ich muß zu Grunde gehen; das ift unvermeidlich, 
ich bin auch bereit dazu, wenn ich ihn nur wieder glüd- 
lich ſehe. 

„Daß ihm aber das Glüd bringen wird, bezweifle ich. 


bes Eollegienafjejjors Tſchichatſchew. 199 


„zraurig ift, daß er dadurch, wie er mich behandelt, 
es dahin gebracht hat, daß ich ihn fürchte, während ich 
ſechs Jahre glücklich mit ihm lebte, er zärtlich gegen mich 
war und mich [iebte. 

„Ich fürchte ihn wirklich zumeilen, meide ihn, fuche 
ihm nicht unter die Augen zu kommen. — Was alles 
bat mir mein Leichtfinn zugezogen! 

„Heute bin ich den ganzen Tag allein und athme frei 
auf. — Sch grüble bejtändig darüber, wie jchwer e8 doch 
jein würbe, von ihm getrennt zu leben. 

„Ad, ich habe mein und fein Glück vernichtet! 

„Welch eine edle, tieffühlende Seele er befitt! — Wie 
viel Gutes habe ich von ihm genofjen! — Gott ift mir 
gnädig gewejen, als er mir einen Mann wie biejen 
jandte! — Vielleicht erbarmt ſich Gott meiner und rettet 
mid! — Er allein kann mich noch retten. 

„Der heutige Tag verging wie der geftrige. Ich hatte 
ihn nicht erwartet, faß mit meinem Mädchen allein, wollte 
mich fchlafen legen, hatte weder Glode noch Hundegebell 
vernommen, da hörte ich plößlich laut ſchreien. Heftig 
erihroden lege ich meine Arbeit weg, jtatt die Thür 
öffnen zu laſſen. Er fchlug ftarf dagegen, als ob er fie 
einbrechen wollte. Mean eilte, ohne Licht, zum Deffnen, 
was eine Kleine Weile dauerte. Er jchimpfte laut, ich 
war auch dabei und befam mein Theil ab. Früher be- 
grüßte er mich, namentlich in Gegenwart Fremder, nie 
anders als zärtlid. Jetzt bebe ich vor Angit, ftatt 
mich zu freuen und ihn zu begrüßen. _ 

„In jener Nacht fchloß ich Fein Auge, ging hinans 
auf die Straße und legte mich in den Schnee; brei 
Stunden blieb ich Liegen, ich wollte mich erfälten. Als 
ih wieder hineinkam, fagte er, er fei zum 27. nad 
Petersburg geladen, redete weiter mit mir und wir ver- 


200 Die Ermordung 


ſöhnten und. Am 14. November verlangte er, ich jollte 
einen Brief jchreiben; ich that es, er las ihn durch und 
verbejjerte ihn.“ 


Die Beweiserhebung war gejchloffen, der Thatbeſtand 
klar gejtellt. Der Oberprocurator am Caffationshofe Des 
Senates zu Petersburg, A. F. Koni, der höchſte Beamte 
der Staatsanwaltichaft in Rußland, erhob fih und be- 
leuchtete das begangene Verbrechen in einer interefjanten 
Rede, die im wejentlichen fo lautete: 


Meine Herren Richter und Gefchworenen! 

Durch Geftändniß und Zeugenausfagen wiljen Sie, 
daß am 26. November 1873 in ver Sachäsjewskoiſtraße ein 
Mord an dem emeritirten Prievensrichter Tſchichatſchew 
verübt worden iſt. Der Fall erregte in Petersburg und 
in der Gegend, in welcher vie Angeklagten und der Er- 
mordete gelebt hatten, großes Aufjehen. 

Die verjchiedenartigften Auslegungen, die abjurdeften 
und Fühnften Behauptungen und Vermuthungen wurden 
ausgeiprochen. Die Einen fehilderten die Angeklagten in 
den fchwärzeften Farben, die andern dagegen ſchmähten 
ben verjtorbenen Tſchichatſchew als einen Menjchen, ver 
feines Mitleivs würdig fei. 

Diefe Gerüchte, welche nur auf leerem Gejchwät be- 
ruhten, müffen heute ein Ende nehmen, denn bie gericht- 
liche Unterfuchung und die Verhandlung haben die Wahr- 
heit kundgemacht. Wir werden bie Bedeutung und ben 
Charakter der That auseinanderzufegen haben, Damit 
ein unparteiifche8 Urtheil gefällt werben kann. Es wirb 
fich zeigen, ob man ungeftraft über ein fremdes Leben 
verfügen darf unter dem Einfluffe des Zornes und des 


des Collegienaſſeſſors Tſchich atſchew. 201 


Haſſes, ob jedermann Richter in eigener Sache ſein und 
den Urtheilsſpruch vollziehen darf, ven er in ſeiner Leiden- 
ihaft jelbjt gefunden hat. 

Die Anklage bejchulvigt den Stabsfapitän N., im 
Jähzorn und in Gemüthsaufregung den Collegienaffefjor 
Tſchichatſchew getödtet, und die Frau N., im Jähzorn und 
Gemüthsanfregung auf das Leben des genannten Tichicha- 
tſchew ein Attentat begangen zu haben. 

Das Gefeß unterjcheivet ſcharf zwiichen dieſen Ver— 
brechen und dem Morde, der vorher geplant, vorbereitet 
und dann Faltblütig begangen worden ift. Die Voraus— 
jegungen dieſer Anklage find Jähzorn und Gemüths- 
aufregung und ber aus ihnen plößlich heruorgegangene 
Entichluß, den Gegner zu tödten, welcher zur Ausführung 
gelangt ift. 

Betrachten wir zunächſt die Perjönlichkeit des An—⸗ 
geflagten N. 

Er war Vorfitender der Semſtwa (Provinzial- 
inftitution), ein energijcher, thätiger Mann. Er genof 
das Vertrauen feiner Mitbürger und wurde beshalb für 
feinen verantwortlichen Boten gewählt. An jeiner Ehr- 
Vichfeit ift nie gezweifelt worven. Chrlichleit und Thätig- 
feit allein aber reichen noch nicht aus, um fich die Sym⸗ 
pathie der Menfchen zu erwerben. 

Der Angeklagte ftand allein im reife. Es bildeten 
fih Parteien gegen ihn, mit denen er zu fämpfen hatte. 
Seine fcharfe Zunge, fein fchroffes, abjprechendes Weſen 
machten ihn unbeliebt. Er felbft hat fich „ſchneidig“ 
genannt. Er geräth zu oft und zu rafch in Zorn und 
fpricht feine Meinung zu rücjichtslos aus. 

Die bei den Acten befindlichen Briefe bejtätigen bie 
bier gejchilverten Charakterzuge. Für ihn ift der ganze 
Kreis voll „Idioten“ oder „Lumpengeſindel“. Er allein 


202 Die Ermordung 


ift der Fuge Mann, er fteht geiftig höher als alle andern, 
er weiß alles beifer. 

Es ift begreiflich, das er feine Zuneigung im Kreije 
erweckte. Man bulvete ihn eben als ein nothwendiges 
Uebel. Diefer Mann beirathete ein junges Mäbchen, 
welches eben erft aus der PBenfion gefommen war. Die 
Zeugen fchilvern fie als fehr naiv. Nach ihrer Ver— 
heirathung ftand fie vollfommen unter dem Einfluß ihres 
Gatten, der fie als die ergebenfte und treuejte Lebens— 
efährtin bezeichnet. Sie war ftetS feiner Meinung. 
Selbſtändige Gedanken, eigene Entjchlüffe hatte fie nicht. 
Ihre Briefe und ihr Tagebuch beweifen, daß fie zu ben 
nicht jeltenen Frauen gehört, die zu weinen, zu leiden 
und fich zu grämen verstehen, bie bereuen, was fie gefehlt 
haben, aber nicht die Kraft befiten zu handeln und in 
einer jchwierigen Lage fich zu helfen. Sie bepürfen eines 
Haltes. Wie ftarf ihr Mann auf fie einwirfte, erfennt 
nian daraus, daß fogar ihr Briefſtil dem feinigen gleicht, 
daß fie diefelben Ausdrücke gebraucht wie er. 

Der Angeklagte hat wiederholt erklärt, er habe fich 
mit Tſchichatſchew „ehrlich und ftandesgemäß‘ auseinander- 
jegen wollen. In den Briefen ver Frau kommen dieſelben, 
in ihrem Munde jeltfam Elingenden Worte vor. Auch) 
in der Verhandlung hat fie gejagt, fie habe Tſchichatſchew 
bemeijen wollen, daß fie fich ſtets „anſtändig“ und „ehr- 
ih” benommen habe. Leider hat fie von ihrem Manne 
auch das Schimpfen gelernt. 

Ein Mann wie der Angeklagte hätte überhaupt fein 
jelbftändiges Weib neben fich geduldet, nur eine -weiche, 
paſſive Frau konnte mit ihm eine glüdliche Ehe führen. 
In das gute und friedliche Familienleben fehlichen fich 
nach den erften ſechs Jahren Mistrauen und Zweifel 
ein. Al Frau N. noch ein junges Mädchen war, bielt 


bes Eollegienafjeffors Tſchichatſchew. 203 


fie ich bei ihren Verwandten auf. Dort traf fie mit 
Tſchichatſchew zufammen. Er lebte getrennt von feiner 
Frau und trauerte darüber, daß er jo allein ſtand. 

Es iſt begreiflich, daß feine Lage die Theilnahme des 
Mädchens erwedte und daß diefe Theilnahme ihm wohl 
that. Er fuchte Troft und Ruhe bei ihr, es entwickelte 
ſich erſt Freundfchaft, dann Liebe und leider fam es zu 
einem nur zu vertrauten Verhältniß zwifchen ihnen. Wir 
brauchen den Schleier nicht weiter zu lüften, aber hervor- 
heben müſſen wir, daß von VBerführung oder gar von 
Gewalt nicht die Rebe fein kann. Die Umftände hatten 
die beiden Menfchen zuſammengeführt. Er jehnte fich 
nach .einer freundlichen, liebenden, weiblichen Seele, und 
fie hatte den lebhaften Wunſch, ihm fein Leid vergejjen 
zu machen. War eine Täuſchung vorhanden, jo bejtand 
fie nur darin, daß beide ein bauerndes, tiefes Gefühl 
nicht von einer augenblidlichen leivenfchaftlichen Erregung 
unterjchieden. 

Die ganze Situation und der Verlauf der Sache 
liefern den Beweis, daß Frau N. den Umgang mit 
Tſchichatſchew freiwillig angefnüpft hat. Sie war als 
Saft bei ihren Verwandten. Dieje hatten fie ermahnt, 
ihren Ruf zu fchonen, und fie gewarnt vor allzu freiem 
Verkehr mit Männern. Hätte Zichichatichew ihre Un- 
erfahrenheit gemisbraucht, ihr Vertrauen getäufcht, oder 
gar ihr Gewalt angethan, fo würde fie weinenb bei 
ihren Verwandten Schu und Beiftand gefucht haben. 
Statt deſſen hat fie nicht nur nicht8 gejagt, jondern das 
Verhältniß fortgefett, bis fie das Haus verließ und ber 
Stabsfapitän N. um ihre Hand bat. 

Tſchichatſchew war ein Verehrer hübjcher Frauen, aber 
ſchwach und ohne Energie. Er trat jchüchtern und zart 
auf und beſaß gewiß nicht die Willenskraft, feine Wünſche 


204 Die Ermordung 


mit Gewalt burchzujegen. Es iſt nicht denkbar, daß er 
in ihr Schlafzimmer eingedrungen fein und fie genöthigt 
haben follte, ihm zu Willen zu fein. Beide hatten ben 
moralifchen Halt verloren, beide waren in Leidenjch aft 
zueinander entbrannt und wiberftanden ihr nicht. Beide 
find gleich ſchuldig geweſen. Um jedem Verdachte vor— 
zubeugen, wohnte Tſchichatſchew der Hochzeit der An 
geflagten als Trauzeuge bei. 

Der Angellagte N. hatte feinen Verdacht gegen feine 
junge Frau, die er liebte, der er vertraute. Wie er und 
jagte, beichlich ihn nur felten eine Ahnung, daß nicht 
alles war, wie es fein follte, doch ſchlug er fich ſolche 
Gedanken aus dem Sinn. Seine Frau aber konnte bie 
alten böfen Erinnerungen, den Schandfled in ihrem Leben 
nicht vergeffen. Lange Zeit fehlte ihr der Muth, ihrem 
Manne ein Geſtändniß abzulegen. Scham und Furcht 
banden ihre Zunge. Gewiß, e8 war umrecht, aber ver- 
zeihlih. AS fie reifer wurde, als ihre Anhänglichkeit 
und Liebe zu ihrem Manne wuchs, blickte fie reue- und 
fummervoll auf ihre Verirrung zurüd. Sie quälte fich 
mit dem Vorwurfe, ihren Gatten bintergangen zu haben. 
Ihr Gewiſſen ließ ihr feine Ruhe Ihr Mann Hatte 
viele Feinde, fie war fein einziger Troft, und nım mußte 
fie fih immer wieder jagen, daß fie feines Vertrauens 
unwürdig, daß fie nicht aufrichtig gegen ihn gewejen war. 

Ih glaube, was fie uns in diefer Beziehung gejagt 
hat. Es wurde ihr immer fchwerer, das Geheimniß in 
fich zu verfchließen, und e8 bedurfte nur noch eines äußern 
Anftoßes, um fie dahin zu bringen, daß fie ihr Herz 
ausichüttete. Sie hoffte wol auch, ihr Mann würde ihr 
den jugendlichen Fehltritt verzeihen und feine Liebe nicht 
entziehen. Ihre Lage wurde noch unerträglicher, als fie 
befürchten mußte, daß ihre Schuld von dritten Perjonen 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 205 


offenbart werden könnte. Sie haben gehört, daß Frau 
Tſchichatſchew inftinetmäßig das Verhältniß ihres Mannes 
zu dem jungen Mädchen errathen hatte und daß fie davon 
zu Befannten ſprach. Die Gefahr der Entvedung wurde 
brohender. Wie leicht fonnte dem Stabsfapitän N. hinter- 
bracht werben, daß feine Frau vor ihrer Verhetrathung 
ſich mit Tſchichatſchew vergangen Hatte. 

Der Menſch, meine Herren Gejchiworenen, ijt aus 
Widerfprüchen zufammengefegt. Hochherzige edle Gefühle 
find oft gemifcht mit Kleinlichen Empfindungen. Falſche 
Scham und der Wunfch, fich vor Gefahr zu ſchützen, fich 
als rein und unjchuldig darzuftellen, find nicht felten bie 
Urfache, daß man nicht die volle Wahrheit jagt. Schwache 
Menſchen befennen zwar ihre Schuld, aber fie machen 
für fi Milderungsgründe geltend. So gefhah es auch 
bier. Frau N. berichtete ihrem Manne, was gejchehen 
war, aber fie beſaß nicht ven Muth, ihre Beichte gewifjen- 
haft und ehrlich abzulegen. 

Nach ihrer Erzählung war fie das Opfer von Tſchicha— 
tichew’8 Verführungskunſt geworden, er hatte Gewalt 
gegen fie angewendet. Unbedacht entfeffelte fie hierdurch 
in der Seele des Angeklagten einen Sturm, den fie nicht 
wieder zu bejänftigen vermodte.e Man fann fi vor- 
jtellen, was ber ftolze, ehrgeizige Mann litt, als er dieſes 
Geſtändniß anhören mußte. Sein ganzes Leben erjchien 
ihm vergiftet. In jede Erinnerung an das Glüd feiner 
Ehe, an die Liebe und Zärtlichkeit feiner Frau, drängte 
fich der bittere Gevanfe, daß alles Betrug und Lüge jet, 
daß vor ihm ein anderer die gleiche Gunft genoffen habe. 
Es entwidelte fi in ihm ein furchtbarer Haß gegen 
Tichichatichew. Das Vertrauen zu feiner Frau ſchwand, 
denn fie hatte ihm ihre Schande jahrelang verheimlicht. 
Er hatte die Achtung vor ihr verloren und kam mol 


206 Die Ermordung 


auch auf den Gedanken, daß das Geftänbniß nicht voll- 
jtändig jein möchte. Ihre Angabe, daß fie gewaltthätig 
entehrt worden fei, war doch recht unglaublich, die An- 
nahme, daß fie eine Zuneigung zu Tſchichatſchew gehabt 
habe, lag nahe, und auch ver Zweifel, ob die Beziehungen 
nach der Verheirathung etwa gar fortgejett worden jeien, 
nagte an feiner Seele. Tſchichatſchew und feine Frau 
waren ja öfter in Gejellfchaft zujammengetroffen, und 
weshalb hatte fie jo viele Jahre gejchwiegen und ihren 
Verführer gefhont? Der Angeklagte ließ fih immer 
wieder alle Detail8 ihres Verkehrs mit Tſchichatſchew er- 
zählen und mwühlte in ber offenen Wunde. Bald glaubte, 
bald bezweifelte er alles, was fie ihm erzählte. Heute 
hielt er feine Frau für das unfchuldige Opfer eines 
Schurken, morgen für eine Betrügerin, und forderte von 
ihr den Beweis, daß fie Tſchichatſchew haſſe, daß fie ihn 
verachte und niemals ein wärmeres Gefühl für ihn gehabt 
habe. Er glaubte, er würbe wieder ruhig werben, wenn 
Tſchichatſchew felbit geftände, daß er Gewalt habe an- 
wenden müfjen, um das zu erlangen, was ihm freiwillig 
nicht gewährt worden war. Er meint, wenn feine Frau 
ihren DVerführer aufforberte, fich ſelbſt das Leben zu 
nehmen, und er bieje Strafe für feine ehrlojfe Handlung 
an fich felbft vollzöge, wäre die Schande getilgt. So 
erflärt fi die Scene in Aſchewo. Wir brauchen fie 
nicht zu wiederholen; Sie wiffen was fich dort zu— 
getragen hat. 

Die Ausfagen der Zeugen jtimmen barin überein, 
daß Tſchichatſchew aus der Fuhrmannsherberge, in welcher 
er die Unterredung mit ben Angeflagten gehabt hatte, 
bleich, verftört und fat Frank herausgefommen ift. Es 
unterliegt feinem Zweifel, daß man ihm die Zumuthung 
gemacht hat, er folle Hand an fich legen und feinem 


des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 207 


Leben ein Ende machen. Die Angeklagten ſelbſt leugnen 
es nicht, behaupten aber, es ſei nur ein Scherz geweſen. 
Ich glaube nicht, daß die Angeklagten den Wunſch gehabt 
haben, Tſchichatſchew ſolle ſich vor ihren Augen tödten, 
denn ſie mußten ſich ſagen, daß dann jedermann geglaubt 
haben würde, ſie hätten ihn umgebracht. Ich lege keinen 
Werth darauf, daß ein Dolch und eine Piſtole dort 
gelegen haben. Ich bin der Anſicht, der Angeklagte wollte 
hören, wie die Aufforderung ſeiner Frau von Tſchichatſchew 
aufgenommen werden würde. Ging er darauf ein, ſo 
war nach der Anſicht des Angeklagten N. der Beweis 
erbracht, daß Tſchichatſchew ſchuldig und das von ihm 
entehrte Mädchen unſchuldig war. Hatte die letztere den 
Muth, dieſen Selbſtmord zu verlangen, ſo lag darin ein 
Zeugniß dafür, daß fie vergewaltigt worden war, daß 
fie ihren Verführer niemals geliebt hatte, daß fie ihn 
haßte um feiner That willen. Diefer Gedankengang be- 
berrichte ven Anflagten und erklärt, was er gethan bat. 
Die Liebe zu feiner Frau mußte ftarf erjchüttert fein, 
font hätte er fie nicht dazu gezwungen, in einem ſchmuzigen 
Einfehrhofe ihrem frühern Liebhaber alle Einzelheiten. 
ihres Verkehrs vorzuhalten, ihre eigene Schande haar: 
Hein zu erzählen, fie dem befchimpfenden Klatſch ver 
Nachbarn und des ganzen Kreifes preiszugeben, fie zu 
fohelten, zu quälen, zu fchlagen, nicht weil er fie für 
ſchuldig hielt, ſondern weil er an ihrer Unſchuld zweifelte, 
Der Angeklagte ijt ein felbjtfüchtiger, in feiner Ehre 
gefränkter, herzloſer Menih. Die Aufforderung an 
Tſchichatſchew, ſich jelbft zu tödten, war fein Scherz. 
Nicht umfonft hatte Frau N. nach dem Dictat ihres 
Mannes an ihn geichrieben: „Die Ehre einer Frau 
kann nur durch Blut rein gewafchen werben, folgen Sie 
dem Beiſpiele Ihres Bruders, der fich erjchoffen hat.” 


208 Die Ermordung 


Tſchichatſchev war ein lebensluftiger Menſch, ein 
eifriger Kunftfreund, er hatte ein fühlendes, warmes Herz. 
Die Zumuthung, ſich das Leben zu nehmen, war für ihn 
ein Schlag ins Gefiht. Im feiner Angft war es ihm 
unmöglich zu jchweigen, er mußte fich mit feinen Freunden 
berathen, und es war ganz natürlich, daß er fich vor 
jeinen Feinden zu jchügen fuchte. Es entjtanden über 
die Streitigfeiten zwijchen dem Stabslapitän N. und 
Tſchichatſchew die abenteuerlichiten Gerüchte, fie ver- 
“ breiteten fich weiter, als ber erjtere nach vierzehn Tagen 
zum zweiten mal in Ajchewo erjchien und feinem Gegner 
eine Herausforderung zuſchickte. Man kann fich vorftellen, 
daß die Stimmung des Angeklagten immer verbitterter 
wurde. Die vergebliche Fahrt nach Ajchewo, die Zurüd- 
weijung des Duells, der Gedanke, daß er die traurige, 
Tächerliche Rolle eines betrogenen Chemannes fpielte, 
brachten den ftolzen Mann faft um ven Verſtand. Meine 
Herren Geſchworenen, wahricheinlih ift das Leben auf 
dem Lande vielen von Ihnen bekannt. Es bejchäftigt 
fih nicht mit den gejellihaftlichen Fragen der Gegen— 
wart, welche die Bewohner in den großen Stäbten be= 
wegen. Das lebhaftefte Interefje erweckt der Eleinliche 
Klatih, der befannte Perfonen betrifft, beſonders jolche, 
bie eine hervorragende Rolle im Kreiſe fpielen. Der 
Stabsfapitän N., VBorfigender ver Semſtwa und Friebens- 
richter, war ein im Kreiſe wohlbefannter, vielfach ges 
bafter Mann. Nun wurde er ber Gegenftand des all- 
gemeinen Geſprächs, und wie wurde über ihn gerebet! 
Die einen freuten fich, daß fein Uebermuth geftraft worden 
war, bie andern fpotteten über den von der jungen Frau 
bintergangenen Gatten, noch andere zuckten mitleivig die 
Achjeln über feine vergeblichen Bemühungen, durch einen 
Zweilampf jeine Ehre wiederherzuftellen. 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 209 


Das Leben wurde ihm zur Hölle, die Theilnahme, 
die man ihm ausſprach, brachte ihn faſt zur Verzweiflung. 
Sein Haß gegen Tſchichatſchew wuchs immer mehr. Er 
reiſte in das Ausland. Ich behaupte nicht, daß die Reiſe 
ben Zweck hatte, feinen Feind dort zu treffen, ein Bes 
weis dafür ift nicht erbracht. Es ift wol möglich, daß 
er aus der Atmojphäre, die fein Leben vergiftete, heraus— 
fommen wollte und daß er hoffte, burch die Reife das 
verlorene Gleichgewicht wiederzugewinnen und bie über 
ihn und feine Frau umlaufenden Gerüchte zum Schweigen 
zu bringen. Seine Hoffnung fchlug fehl. Sein häus— 
ficher Kummer begleitete ihn, Tag und Nacht wurde er 
von ben quälendften Gevanfen verfolgt und troß alles 
Nachvenfens fand er feinen Ausweg. Er jchrieb von - 
Berlin aus den Ihnen befannten Brief an Tſchichatſchew, 
der den vollgültigften Beweis dafür Tiefert, daß Haß 
und Race gegen ihn feine Seele ausfüllten. Als er 
heimfehrte, hieß e8, daß er eine erfolglofe Hetzjagd hinter 
Tſchichatſchew her gemacht habe. Wiederum brehten fich 
die Gejpräche in allen Gejelfichaften um den Stabsfapitän 
und feine Frau, wiederum gab es Leute, die den unglüd- 
fihen Mann auslachten und verhöhnten. 

Die Angeklagten zogen fich gänzlich zurüd, fie ver- 
zichteten auf jeden Umgang und lebten einjam. Das 
Tagebuch der Frau N. gibt uns, Aufjchluß über das, was 
in ihrem Haufe vorgegangen iſt. Wir erfahren daraus, 
daß der Stabsfapitän fich feiner böfen Laune und feinem 
Zorne über jein Geſchick rückſichtslos überlief. Da 
niemand bei ihm war als jeine Frau, fo mußte ie 
darunter leiden. Er war in feinem Benehmen gegen fie 
jehr ungleichmäßig. Bald überhäufte er fie mit Xieb- 
fofungen, bald behandelte er fie mit großer Roheit. 
Immer wieder verhörte er fie über ihren Verkehr mit 

XXUL . 14 


210 Die Ermordung 


Tſchichatſchev und ließ fich erzählen, was er längit 
wußte. Mitunter ſprach er tagelang Fein Wort mit 
feiner Frau, oft belegte er fie mit Schimpfworten. Cr 
mishandelte das arme Weib, warf in der Wuth einen 
Stuhl nach ihr, fchlug fie mit der Fauſt und prügelte 
fie mit einem Pfeifenrohre. Sie vergießt viele Thränen 
und füllt ihr Tagebuch mit Klagen. Die Tage, an denen 
er verreift ift, find ihre Erholungszeit. Sie verläßt 
eines Nachts das Haus und wirft fich in den Schnee, 
um zu jterben. 

Der Angeklagte denkt in feiner Einjamfeit darüber 
nah, wie er fih an Zichichatichem rächen fann. Die 
Briefe an ihn, auch die Briefe feiner Frau, die auf 
jeinen Befehl gejchrieben worden find, ſprechen deutlich 
den grimmigjten Haß aus. Da heißt es: „Wir wollen 
unjere Hände nicht mit Ihrem unfaubern Blute befudeln, 
Sondern Ihnen eine Tracht Prügel verabreichen.” „Wir 
jenden Ihnen eine Ohrfeige, in der Hoffnung, dieſelbe 
auch thatfächlich ertheilen zu können.“ ‚Wir rathen Ihnen, 
fih auf der Jagd zu erjchießen, wie Ihr Bruder es ge 
than hat.” 

Der Stabsfapitän lechzt nach dem Blute feines 
Feinded. Er trägt ihm wiederholt ein Duell an. 
Tſchichatſchew fchlägt die Forderung ab, und nun fommt 
e8 zu der entſcheidenden Zufammenfunft am 26. Noven- 
ber 1873. 

Sch Habe verfucht, den Geiftes- und Gemüthszuſtand 
des Angeklagten zu ſchildern, und dargethan, daß es nur 
einer geringen äußern Veranlafjung beburfte, um eine 
Erplofion herbeizuführen. Cie erfolgte, als Tſchichatſchew 
fih nochmals weigerte, im Zweilampfe ſich dem An— 
geflagten zu ftellen. Er wurde geohrfeigt, es fam zu 
einer Balgerei, die und von den Zeugen lebendig ge 


bes Collegienafjeijors Tſchichatſchew. 211 


ſchildert worden iſt. Der Angeklagte brachte feinem Feinde 
Zichichatihem mit einem Meffer mehrere Wunven bei, 
an denen er gejtorben if. Hat er die Abficht gehabt, 
ihn zu ermorden? 

Die Waffe, mit welcher das Verbrechen verübt wurde, 
war ein jcharfgejchliffenes, ziemlich jchweres Mefjer. Es 
ließ ſich wegen ver elaftifchen Weder nicht Leicht öffnen. 
Der Angeklagte gibt an, er habe erſt, als ihn der Oberft 
von Raaben auf den Divan geworfen hatte, das Meffer 
gezogen, e8 mit ven Händen geöffnet und um ſich geftochen. 
Was weiter gejchehen fei, wiffe er nicht. Sie, meine 
Herren Gejchiworenen, werden biefer Angabe fo wenig 
Glauben jchenfen wie ih. Sie haben die Ausjage des 
Hausfnechts gehört, der zuerſt in das Zimmer trat, ſich 
auf die beiden miteinander ringenden Männer warf und 
eine Schnittwunde an den Fingern davontrug. Dies 
geſchah, ehe der Dberft von Raaben feinem Freunde zu 
Hülfe fam. Als er den Angeklagten von Tſchichatſchew 
wegriß, hielt der Hausfnecht die Frau N. am andern 
Ende des Zimmers feit. Der Hausfnecht blutete, aljo 
war er bereits verwundet, ehe von Naaben eintrat. Wollte 
man annehmen, daß der Angeklagte das Meſſer erft gezogen 
hätte, als von Raaben mit ihm handgemein geworben 
war und er auf dem Divan lag, wer hätte dann verletzt 
werben müſſen? Doch gewiß derjenige, ver auf ihm lag, 
und nicht die Finger, auch nicht die Bruft des Gegners, 
der auf ihm lag, hätten getroffen werben müfjen, ſondern 
der Rüden oder die Seiten. Der Oberft von Raaben 
war unbejchädigt bis auf etliche Schrammen an der Hand; 
nicht ihn, ſondern Tſchichatſchew, der zur Seite jtand, 
hatten die Meſſerſtöße in die Bruft getroffen. Alſo nicht 
während der Oberſt von Raaben mit dem Angeklagten 
rang, hat dieſer geftochen. Das Meffer war offen in 

14 * 


212 Die Ermordung 


jeiner Hand, ehe von Raaben eintrat, und Tſchichatſchew 
hatte nicht blos Wunden in der Bruft, fondern auch kleine 
Berlegungen, die von einem Mefjer herrührten, an ven 
Händen. Wir wiffen, daß der Angeklagte feinem Gegner, 
ber jeine Forderung ablehnte, einen Schlag in das Ge- 
ficht verjeßte, der jo heftig war, daß der Gefchlagene zu 
Boden ftürzte. Der Zorn des Angeklagten war in Wuth 
übergegangen, er hat offenbar gleich nad dem Schlage 
jeinem Feinde das Mefjer mehreremal in die Bruſt 
geftoßen. Die Wunden laufen von oben nad unten, 
dies paßt zu der Situation, benn ver Stabsfapitän ſtand 
und Tſchichatſchew lag am Boden oder erhob fich joeben 
von jeinem Sturze. Hätte der Angeflagte auf dem Divan 
liegend geftochen, jo müßten die Wunden von unten nach 
oben gehen. Hätte er fie Tſchichatſchew beigebracht, als 
fie fich gegenüberftanden, fo müßten die Wunden ebenfalls 
von unten nach oben laufen, denn Tſchichatſchew ift von 
höherm Wuchje als er. Ein Menſch, der in blinder 
Leidenschaft um fich fticht, ſtößt unficher und überlegt 
nicht, wohin er trifft. Diefe Mefferftöße find mit fejter 
jiherer Hand nach einem bejtimmten Ziele geführt und 
haben das Herz getroffen. 

Der Thäter hat gewußt, was er wollte Er war 
bei voller Befinnung, ev vertheidigte fich nicht, ſondern 
zücte das jcharfgefchliffene Mieffer gegen den von ihm 
zu Boden gefchlagenen Mann und ftach es ihm im bie 
Bruſt. Das heißt tödten wollen! 

Eine gewöhnliche Schlägerei ift es nicht gewejen, eine 
jolche verläuft bei uns zu Lande anders. Man kommt 
zujammen, ohne daß man fich Haft, man trinft und 
itreitet fih. Es entjteht eine Balgerei, man zerichlägt 
jich vielleicht die Köpfe und reißt fich den Bart heraus. 
Gejchieht dabei ein Unglüd, wird jemand getöbtet, fo 


u. 


Pen 


des Eollegienaffefjors Tſchichatſchew. 213 


bat fein Menſch diejen Ausgang beabfichtigt. Hier aber 
bat ein lange Zeit genährter Haß feine Befriedigung 
gefunten. Hier ift Menfchenblut abfichtlich vergoffen 
worden. 

Werfen wir noch einen Blick auf das Benehmen des 
Angeklagten nach vollbrachtem Morde. Der Stabsfapitän, 
den der Oberft von Raaben in ein VBorzimmer eingeichloffen 
hat, raucht dort ruhig eine Cigarrette. Er hat Appetit 
und bittet um ein Glas Thee, ja er erkundigt fich Falt- 
bfütig bei der Dienerichaft, ob Tſchichatſchew todt fei. 
Als er von feiner Frau Hört, nicht ihr Schuß habe den 
Tod ihres Feindes herbeigeführt, fondern er habe ihn 
mit dem Meffer erftochen, ſagte er: „Nun Gott ſei mit 
ihm!” So, meine Herren, beträgt ſich Fein Menjch, 
‚der einen andern zufällig und wider feinen Willen um- 
gebracht hat. 

Der Angeflagte dürftete nach Tſchichatſchew's Blute, 
er wollte fein Leben haben entweder im Zweikampf oder 
auf irgendeine andere Weife. Daß Tſchichatſchew auf den 
Angeklagten mit Fäuften fchlug, kann man ihm nicht zum 
Vorwurf mahen. Man darf nicht verlangen, daß ein 
Mann ftillhält, wenn fein Todfeind bei ihm einbringt, 
ihn thätlich angreift, zu Boden wirft und mit dem Meffer 
tractirt. Wir haben nach dem ganzen Verlaufe der Sache 
das Necht zu fagen: der Angeklagte hat die Abficht gehabt, 
Tſchichatſchew zu tödten, er bat im Jähzorn diefe That 
verübt. Sein Gedanfengang war: ‚Du willft mir feine 
Genugthuung geben — nun wohl, jo werbe ich über dich 
berfalfen wie ein wildes Thier. Du willſt nicht im Zwei— 
fampfe in die Mündung der Piftole jehen, fo follft du 
das Meffer koſten. Du haft mein Leben verborben, fo 
will ih dafür dein Leben haben.” Er hat feinen Vorſatz 
ausgeführt und den tödlich gehaßten Gegner ermordet. 


214 Die Ermordung 


Wir haben nur noch von der Angeklagten zu reden, 
und behaupten, fie hat verbrecheriichen Antheil an dem 
Morde. Sie ift der Leitung ihres Mannes unbedingt 
gefolgt und hat fich an feine Rodjchöße gehängt. Tſchicha— 
tſchew ift auch ihr verhaßt, denn er ift die Urfache ihres 
Unglüds. Unter ven Schlägen ihres Mannes weinend, 
gedemüthigt durch das Geſtändniß ihrer Schande, zitternd 
vor dem Gatten, der fie nicht mehr liebte, immer wieder 
gequält durch peinliche Verhöre über ihren Verkehr mit 
Tſchichatſchew, wollte fie zulett um jeden Preis ein Ende 
machen. Sie glaubte, wenn ihr Verführer Tſchichatſchew 
den Tod erlitten hätte, würde ihr Mann volle VBerzeihung 
gewähren und ihr feine Liebe und fein Vertrauen zurüd- 
geben. So reifte allmählich auch in ihrer Seele ber 
Entſchluß, fein Leben zu fordern, und als er fich weigerte, 
Hand an fich zu legen, feuerte fie zwei Schüffe auf ihn 
ab. Sie wußte, was fie that. Beachten Ste, meine Herren 
Geſchworenen, daß um zweimal zu jchießen auch ver Hahn 
bed Revolver8 zweimal gejpannt werden mußte. Sie 
fönnen fich nachfichtig gegen die Angeklagte beweijen, 
denn nicht fie hat Tſchichatſchew getödtet und fie ftand 
beit ihrem Handeln unter dem ftarfen Einfluffe ihres 
Mannes. Aber vergeffen dürfen Sie nicht, daß fie ihren 
Mann in zweifacher Weile betrogen hat, inbem fie ihm 
ihren Umgang mit Zichichatjcehew verjchwieg und dann 
zwar ein Bekenntniß ablegte, aber ihm vorjpiegelte, fie 
fei das Opfer einer Gewaltthat geworden. Dadurch find 
in ihrem Manne Zweifel und Mistrauen und Rache— 
gedanken entftanden, die zum Morde führten. Vergeſſen 
Sie nicht, daß fie den Revolver in mörberijcher Ab- 
ficht zweimal abgebrüdt hat. In Uebereinftimmung mit 
dem Gerichtshofe erhebe ich die Anklage, daß Frau N. 
dem Derjtorbenen nach dem Leben getrachtet, und daß 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 215 


der Stabskapitän N. ihm im Jähzorn das Leben ge— 
nommen hat. 

Meine Herren Geſchworenen, es ſind nicht heitere 
Betrachtungen, die ich anſtellen mußte. Das Drama 
ſchließt mit dem Tode eines guten Menſchen. Tſchicha— 
tſchew war uneigennützig und wohlthätig, er ſuchte die 
Volksbildung zu heben, richtete eine Volksſchule ein und 
war ein Mitbegründer einer Sparkaſſe. Für ſeinen 
Leichtſinn, für ſeinen Fehltritt, den er mit der An— 
geklagten zuſammen begangen, hat er mit dem Leben 
gebüßt. Dieſes Leben hat nicht etwa ein Menſch zer— 
ſtört, der die Tragweite ſeines Verbrechens nicht be— 
urtheilen konnte, ſondern ein gebildeter, kluger Mann, 
der ſelbſt Richter und deshalb berufen war, andern die 
Achtung vor dem Leben eines Menſchen und dem Geſetz 
zu lehren. Ich halte dafür, daß Ihr Urtheil ein 
ſtrenges gegen ihn ſein muß, denn das Gericht und die 
Rechtspflege ſind dazu da, das Leben zu ſchützen und 
jede eigenmächtige Verfügung über daſſelbe zu ſtrafen. 
Der Angeklagte hat eine angeſehene Stellung einge— 
nommen, er iſt ein thätiges und nützliches Mitglied der 
bürgerlichen Geſellſchaft geweſen und verſtand es, ihre 
Intereſſen zu wahren. Es war ihm viel gegeben, aber 
wem viel gegeben iſt, von dem wird man viel fordern. 
Ich glaube, daß Ihr Spruch in dieſem Sinne aus— 
fallen wird. 


Das Verdiet der Geſchworenen erklärte ven Angeklagten 
für Schuldig des im Jähzorn begangenen Mordes, ba- 
gegen wurde die Angeklagte freigeſprochen. 


216 Die Ermordung des Collegienaſſeſſ. Tſchichatſchew. 


Das Gericht verurtheilte ven Stabsfapitän zur Ver: 
bannung nach Sibirien, als freier Anfievler, ohne Ver: 
luft der bürgerlichen Rechte. Dort mag er etiva ein 
Sahrzehnt mit feiner Frau gelebt haben, dann aber 
werben beide Eheleute in ihre Heimat auf ihr Gut zurüd- 
gefehrt fein. 


Der Einbrud im Pfarchofe von Edlingham. 
(Raub- und Mordverſuch. — England.) 
1879—1889. 


Das Städtchen Alnwid in ver Grafihaft Northumber- 
land ift von einer ſchwer bisciplinirbaren Bevölkerung 
bewohnt. Man bezeichnet die Wilddiebe ganz laut mit 
Namen, und ihrer find nicht wenige. Die Pofizet hat 
einen harten Stand, und ihre Aufgabe wird überdies noch 
dadurch jehr erichwert, daß ein nicht geringer Theil der 
Einwohner des Städtchens offen und ungeſcheut mit denen 
Iympathifirt, die fortvauernd einen Heinen Krieg führen 
mit den Polizei- und Forftbeamten, und die verbotene 
Jagd als ihren Erwerb und ihre höchfte Luft ausüben. 

Die gefpannten Beziehungen zwijchen der Bevölkerung 
und ven Behörden befferten fich, als ein außergewöhnlich 
freches und brutales Verbrechen die Gemüther in Be— 
wegung jeßte. 

In der Nacht vom 6.auf den 7. Februar des Jahres 1879 
wurde von zwei Männern in dem Pfarrhofe des Dorfes 
Edlingham nächft Alnwid eingebrochen und unter ſehr er- 
jchwerenden Umftänden eine Beraubung ausgeführt. Der 
ſchon bejahrte Pfarrherr Namens Bulle, jeine hoch— 
betagte Fran, ihre Tochter und drei Dienſtmägde bewohnten 


218 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


das Haus. Der Pfarrer und feine Tochter wurden Durch 
ein verbächtiges Geräufch im Schlafe gejtört. Der erjtere 
bewaffnete fich mit einem alten Schwerte. Beide begaben 
fih von ihren im erften Stodwerfe gelegenen Schlaf- 
zimmern bie Treppe herab in das Erdgeſchoß, um zu 
fehen, was denn eigentlich vorginge. Zwei Räuber traten 
ihnen entgegen, der eine war mit einer Flinte bewaffnet, 
fie griffen die Hausbewohner an und es fiel ein Schuß, 
der den Pfarrer und feine Tochter an der Schulter vers 
wunbete. Dennoch gelang es ihnen die Räuber zu ver- 
jagen. Fräulein Budle insbefondere bewies einen ganz 
ungewöhnlichen Muth und große Energie. Trotz ihrer 
Wunde drang fie auf die Räuber ein, faßte einen der— 
jelben bei den Haaren und ließ jofort, nachdem die Ver— 
brecher fich geflüchtet hatten, das Dorf alarmiren und 
burch einen reitenden Boten die Polizei in Alnwid von dem 
Ueberfall in Kenntniß jegen. Geraubt war ein geringer 
Baarbetrag und eine goldene Uhr nebjt Kette und Siegel. 

Der erfte Verdacht fiel auf zwei übelberüchtigte Burfche: 
den Tagelöhner Charles Richardſon und den Gärtner- 
gehülfen George Edgell, die eine gerichtsbefannte Ver— 
gangenheit hinter ſich hatten und fogar früher bejchulpigt 
waren, einen Polizeibeamten Namens Gray ermordet zu 
haben. Die Bolizei fuchte fie jogleich in ihren Woh— 
nungen auf. Beide lagen im Bett, ihre Fußbefleivungen 
waren troden. Augenjcheinlich waren nicht fie die Thäter 
geweſen. 

Sodann richtete ſich der Verdacht gegen zwei andere 
nahezu ebenſo berüchtigte, notoriſche Wilddiebe, die Tag— 
löhner Michael Brannagan und Peter Murphy. 
Der letztere ſtand überdies bei der Polizei ſchlecht an— 
geſchrieben, weil gegen ihn der dringende Verdacht vor— 
lag, er habe durch eine beſchworene falſche Zeugenausſage 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 219 


vor Gericht die Freilafjung eines Cumpans herbeigeführt, 
ber des Entendiebſtahls bezichtigt war. 

Dieje beiden Leute wurden in der kritiſchen Nacht 
von den Polizeibeamten zu Haufe nicht angetroffen. Sie 
waren am Abend zuvor weggegangen und noch nicht heim- 
gekehrt. ALS fie enplih um 7 Uhr des Morgens an- 
famen, wurden fie feftgenommen. Ihre Röde und Fuß— 
beffeivungen waren durchnäßt. Won der Polizei zur Rede 
gejtellt, gaben fie nach einigem Zögern zu, auf Wilbpieb- 
ftahl ausgewefen zu fein, leugneten aber entjchieven von 
dem Einbruche etwas zu wifjen. 

Sie wurden in Haft behalten und die Unterfuchung 
warb wider fie eingeleitet. 

Es kam zunächſt darauf an, die Ipentität der An- 
geſchuldigten mit den Einbrechern feftzuftellen. Um dies 
Ziel zu erreichen, veranftaltete man eine Art Theater- 
coup. Die Unterfuchungsgefangenen wurden des Nachts 
in derjelben Kleidung, in der fie von den Bolizeiorganen 
überrajcht und feftgenommen worden waren, nad) Edlingham 
übergeführt und in das Zimmer gebracht, in welchem bie 
Räuber von dem Pfarrherrn betroffen worden waren. 
Mr. Buckle erſchien mit einer Kerze in der Hand in dem 
von nicht fonft erleuchteten Gemach. Seine Tochter folgte 
ihm. Beide erklärten übereinftimmend, daß die ihnen vor- 
geftellten Individuen in Statur und Kleidung den Ein- 
brechern glichen, daß fie jeboch nicht mit Beſtimmtheit 
ihre Gefichtszüge wiederzuerfennen vermöchten. 

Die Hauptverhandlung, bei der nad dem Brauche 
der engliichen Strafrechtspflege die Angejchuldigten nicht 
jelbft gehört wurden, fand unter großem Zubrange ber 
Bevölkerung ftatt. Richter Manifty leitete die Ver— 
handlung, der Anwalt Mr. Edward Ridley trat für 
die Anklage, der königliche Rath Mr. Milwain für die 


220 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


Bertheidigung in die Schranken. Die Schlußverhandlumg 
dauerte mehrere Tage und brachte einen nahezu zwingenden 
Indicienbeweis zu Stande. 

Die Thatzengen, Pfarrer H. ©. Buckle und feine 
Tochter, hatten die Räuber nur im ungewiffen Schein 
bes Mondlichtes, und in der fladernden Beleuchtung einer 
einzigen Kerze gejehen und konnten fie nicht mit Sicherheit 
agnofeiren. Aber die von ihnen übereinftimmend ent- 
worfene Bejchreibung desjenigen Burfchen, der das Mord- 
gewehr auf fie angelegt hatte, war ganz präcis und lautete 
dahin: „Ein vierfchrötiger, breitfchulteriger Gefell von 
militärifeh ftrammer Haltung, bärtig und dunkelhaarig.“ 
Dieſe Beichreibung paßte vollftändig auf Brannagan. Auch 
die Kleidung ftimmte. Auf diefen legtern Umstand Fonnte 
indeß nicht viel Gewicht gelegt werben, denn fie pflegt 
beit allen Leuten dieſes Schlages jo ziemlich die gleiche 
zu fein. Die Thatzeugen fagten unter ihrem Eide aus: 
Sie glaubten mit größter Wahrjcheinlichkeitt Brannagan 
als einen der Räuber bezeichnen zu können, wollten fich 
indeß doch nicht dazu verftehen, ihn auf Eid und Ge- 
wiffen für einen der Thäter zu erklären. 

Diefe Ausſage allein würde zur DVerurtheilung ber 
Angeklagten nicht genügt haben, aber die von der Polizei 
mit großer Sorgfalt durchgeführte Vorunterſuchung hatte 
noch außerdem eine Reihe der ſchwerwiegendſten be— 
Laftenden Momente feitgeftellt. 

Im Garten des BPfarrhofes waren am Morgen nad 
ver That Fußſpuren aufgefunden worden. Die fofort 
mit Gips firirten Eindrüde paßten genau auf die Stiefel 
Brannagan's und die Holzichuhe Murphys. Ein am 
Thatorte zurücdgebliebener Meißel, mit dem die Eingangs- 
thür zum Pfarrhofe aufgejprengt worden war, iſt von 
Sohn Redpath, dem Geliebten ver Schwefter Murphy's 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 221 


und zugleich beffen Duartiergeber, als fein Eigenthum 
anerfannt und diefer Umftand von dem Zeugen in öffent- 
licher Gerichtsfitung auch beſchworen worden, Ein ab— 
gerifjenes Stüd einer Zeitung, welches im Garten bes 
Pfarrhofes von Edlingham aufgefunden wurbe, paßte 
genau zu einem Blatte, welches im Unterfutter des Rockes 
ftaf, ven Murphy getragen hatte. Der beigezogene Arzt, 
Dr. Wilſon, hatte diefen Rock unterfucht, um feitzu- 
jtellen, ob der Rod etwa Spuren des Schwertes trüge, 
mit welchem der Pfarrer Buckle auf die Räuber ein- 
gebrungen war. Solche Spuren entdedte Dr. Wilfon 
nicht, aber er fand jene Zeitung, aus ber das im Pfarr- 
hofe liegende Stück herausgeriffen war. Einige Tage 
nach der That wurde ferner von einem Dienſtmädchen 
vor dem Fenſter des Pfarrhofes, durch welches die Ein- 
brecher fich geflüchtet hatten, ein Streifen groben Stoffes, 
auf den ein Knopf aufgenäht war, gefunden. ‘Die Farbe 
und die Dualität des Fetzens war bie gleiche wie die 
ber Hofe des Angejchuldigten Brannagan, von ber ein 
Stüd abgerifjen zu fein jchien. 

Beide Angeklagte waren die Nacht hindurch vom 
Haufe abwejend gewejen. Sie verjuchten dieſen Umſtand 
damit aufzuklären, daß fie wildern gegangen wären; allein 
ihre, vor der Polizei abgegebenen Ausjagen jtimmten in 
verichiedenen Punkten nicht überein. Sie gaben ein Ver⸗ 
jtef an, in welchem fie die erbeuteten. Kaninchen ver- 
borgen hielten, aber abgejehen davon, daß die Kaninchen 
vecht gut fchon tags vorher erbeutet und dahin gebracht. 
worden fein fonnten, fand man bei ihrer Verhaftung, 
die doch unmittelbar nach ihrer Rüdfunft erfolgte, den 
Spaten nicht, mit dem fie nach Kaninchen in deren 
Bau gegraben haben wollten. Cine Oelegenheit, ven Spaten 
vorher zu befeitigen, hatten fie aber faum gehabt. 


2232 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 


Die mit großem Aufwande von Gejchidlichkeit und 
Eifer geführte Vertheidigung bejtritt die Identität ber 
Einbrecher mit den Angeklagten und fuchte den Indicien— 
beweis in allen Punkten zu befämpfen. Es gelang ihr 
jedoch nur einen einzigen dieſer Verbachtsgründe zu 
widerlegen. Das vorgefundene Stückchen Stoff trug eine 
andere Sorte Knöpfe al8 die Hofe Brannagan’d. Das 
Stückchen Stoff erwies fih al8 ein abgejchnittener 
Streif, nicht al8 ein abgerijjener Fetzen. 

Die Berurtheilung der Angeklagten war unvermeid- 
lich. Sie wurden nach gründlicher Berathung der Ge- 
fhworenen, die drei Stunden brauchten, um fich über 
ihren Spruch zu einigen, am 23. April 1879 wegen 
ſchweren Einbruchsdiebſtahls und verfuchten Mordes zu 
lebenslängliher Zuchthausarbeit rechtskräftig ver- 
urtheilt. Beide traten ihre Strafe an und verbüßten 
diefelbe in den Zuchthäufern von Morpeth, Pentonville, 
Millbanf und Portsmouth. 

Nahezu zehn Jahre jpäter meldeten fich der Gärtner- 
gehülfe Edgell und der Tagelöhner Richardſon frei- 
willig bei der Polizeibehörde in Alnwid und gaben an: 
ste feien die Thäter gewefen. Bon Gewifjensqualen be- 
drüdt und von dem Geeljorger Edgell's hierzu bejtimmt, 
hätten fie fich entjchloffen, ein Befenntnif abzulegen, um 
den unfchuldigen Männern, die feit faft einem Jahrzehnt 
im Zuchthaufe jchmachteten, die Freiheit zurückzugeben. 

Ein Sturm der Entrüftung burchbraufte England. 
Kein Ausprud war zu fräftig, der nicht im Hinblid auf 
den gejchehenen Juſtizmord angewendet werden durfte. 

Es hagelte Interpellationen im Parlament: wie fich 
denn die Regierung zu dieſer Frage jtellen wolle? Welche 
Entihädigung fie den unjchuldig Verurtheilten, die ihre 
Lebenszeit in trauriger Kerfernacht verfeufzten, gewähren 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 223 


würde? Welche Sühne dem beleidigten Nechtsgefühl zu— 
theil werben jollte? 

Die Regierung, wol etwas unter dem Drude der 
öffentlichen Meinung ftehend, beeilte fich, dem allgemeinen 
Wunſche Rechnung zu tragen. Am 15. November 1883 
wurden Brannagan und Murphy aus der Haft entlafjen. 
Ihre Heimfahrt glich einem Triumphzuge, man feierte 
ſie, wie man Sieger, die aus dem Felde heimfehren, zu 
feiern pflegt. Ihre nähern Freunde waren ihnen bis 
Bilton= Junction entgegengefahren, um fie zu begrüßen, 
in Alnwid aber harrte ihrer eine erregte, jubelnde Menge. 
Unter allgemeinem Enthufiasmus wurden die entlafjenen 
Sträflinge auf die Schultern williger Gefinnungsgenoffen 
gehoben und vom Bahnhofe bis in die Stadt ge- 
tragen. Eine Mufikbande begleitete den Zug, Iuftige 
Weijen fpielend, und unter ven Klängen des Volksliedes 
„Home, sweet home!” zogen vie Befreiten in ihre 
Baterjtadt ein. Die Localblätter brachten fpaltenlange 
Berichte, und ſogar ernfte Zeitungen wie bie „Times“ 
widmeten dem Vorgange eingehende Darftellungen. 

Brannagan und Murphy wurden vorbehaltlos be- 
gnadigt. Die Regierung gewährte jedem von ihnen ein 
Ehrengejchenf von je 800 Pd. St. = 16000 Reichs— 
marf. 

Gegen bie beiden andern Burfche wurde die Unter- 
juhung eröffnet. Das Geſtändniß, welches fie ablegten, 
wich in einigen nicht unwefentlichen Punkten von ven 
früher gerichtlich erhobenen Thatſachen ab. Sie be- 
haupteten, fie hätten, um ihre Tritte unhörbar zu machen, 
die Füße mit Tuchfetzen ummwidelt. Die Gipsabgüffe 
der Fußſpuren im Garten mußten, wenn dies wahr war, 
von dritten unbetheiligten Perjonen herrühren, und ihre 
genaue Uebereinſtimmung mit den Stiefeln des Brannagan 


224 Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingham. 


und ben Holzſchuhen des Murphy verlor den Werth 
eines Beweismittel. Die Ausfagen der neuerdings An- 
gejehuldigten waren auch in Einzelheiten voneinander ziem- 
lich verſchieden. So behauptete jeder von ihnen, ber 
andere habe ven Plan zum Einbruche ausgehedt, ver 
andere habe zuerjt Hand angelegt u.f.w. In der Haupt- 
ſache aber ftimmten fie überein. Sie befannten fich jelbft 
als die Thäter. Wie es fcheint, hatten fie auf die Zu— 
jicherung gerechnet, die Edgell von dem Vicar zu St.-Paul 
in Alnwid, Herın Jevon I. M. Perry, erhalten haben 
wollte: daß fie nicht um eines Verbrechens willen zu 
einer Strafe verurtheilt werben Fönnten, um bejjentwillen 
zwei andere Männer durch rechtögültigen Spruch ver 
Gejchworenen eingeferfert worden waren. Allein dieſe 
Auffaffung erwies fich als unzutreffend. 

Der Polizeirichter, weniger durch ftarre Formen beengt 
als der Vorfigende einer Schwurgerichtsverhandlung, pflog 
eifrigft Erhebungen. Mr. Buckle, ein nunmehr jechsund- 
achtzigjähriger Greis, vermochte noch weniger als ehedem 
bie ihm vorgeführten Individuen zu iventificiren. Fräulein 
Buckle dagegen erklärte mit voller Beftimmtheit, daß Edgell 
feinesfalls der Mann geweſen fei, ven fie damals bei den 
Haaren erfaßt habe; aber auf dieje Erklärung bejchränfte fich 
ihr Zeugniß in Betreff der ihr vorgeftellten Angejchulpigten. 
Brannagan und Murphy erjchienen nun auch al® gejetzlich 
gänzlich unbevenkliche Zeugen und gaben beſchworene Aus- 
jagen über ihren Verbleib in der Nacht vom 6. auf den 
7. Februar 1879 ab, während fie doch in ber wider fie 
ſelbſt vurchgeführten Hauptverhandlung nicht verhört werden 
burfter und auch nicht befragt worden waren. 

Die Anklage wurde erhoben und vor den Affiffen in 
Newcaftle durchgeführt. Die Verhandlung fand am 
24. November 1888 ftatt. ALS Vorfigender fungirte ver 


Der Einbruch in Pfarrhofe von Edlingbam. 225 


Richter Baron Pollod. Für die Anklage erichienen der 
fönigliche Rath Mr. Gainsford Bruce und die Herren 
Hans Hamilton md D. F. Steavenjon; für die 
Bertheidigung der fünigliche Rath Mr. Digby Seymour 
und Wr. Strafhban. Namens des Polizeigerichts in 
Alnwid, welches das Geſtändniß der Angeklagten entgegen- 
genommen hatte, wohnte Mr. Skidmore der Verhand— 
lung bei. 

Zunächſt wird dem Gerichtshofe eine Petition der 
Einwohnerichaft von Alnwick unterbreitet, welche mit 
mehrern tauſend Unterjchriften verjehen, auf Grund des 
Selbjtbefenntnifjes der Angeklagten um eine milde Be— 
urthetlung ihrer That bittet, und deren Treifprechung 
von der Einficht und Großmuth des Nichters erwartet. 

Hierauf erhebt fih Mr. Seymour und macht Rechts- 
bevenfen geltend. Er jtellt die Vorfrage, ob überhaupt 
eine Verhandlung in Angelegenheit des Einbruches in 
Edlingham, nachdem zwei andere Perjonen gerade biejes 
Berbrechens wegen rechtskräftig verurtheilt worden, wider 
die jetst angejchuldigten Edgell und Richardſon zuläffig jei. 

Baron Pollod weift die Berechtigung dieſes Be— 
denkens zurücd, erfennt jedoch an, daß der Vertheiviger 
durch die Anführung diejes Umftandes und das Auf- 
werfen biejer Rechtsfrage nur jeine Pflicht erfüllt habe 
und deshalb Feine Rüge verdiene. Er bejchließt in bie 
Berhandlung einzugehen. 

Die Angeklagten Charles Richardſon, 53 Jahre 
alt, Tagelöhner, und George Edgell, 47 Jahre alt, 
Gärtnergehülfe, find bejchuldigt des Einbruches, Des 
Raubes einer goldenen Uhr ſammt Kette und Siegel aus 
gleichem Metall und einer Summe baaren Geldes, ſowie 
des Mordverſuches wider den Neverend Mr. Buckle und 
jeine Zochter. 

XXI. 15 


—2 
226 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam. 


Die Angeklagten befennen fich des Einbruchs und 
Raubes jchuldig, aber nichtichuldig des Mordverſuches. 
Sie behaupten, die Flinte, die fie mit fich führten, habe 
fih nur durch einen unglücjeligen, unvorbergejehenen 
Zufall entladen. 

Mr. Gainsford Bruce erflärt darauf, daß er die 
Anklage wegen des Mordverfuches fallen laſſe und diejelbe 
auf den eingeräumten Thatbeitand bejchränfen wolle. — 
Der logiſche Widerfpruch, der in diefem Vergehen liegt, 
wurde weder damals in der Verhandlung begründet, noch 
hat er jpäterhin Bedenken erregt. 

Da nach der englifhen Strafprocefordnung jomit 
nicht8 zu erweifen übrigblieb, denn der Einbruch und 
Raub galt dur das Befenntniß der Angeklagten für 
gerichtsordnungsmäßig nachgewiejen, wurde das Beweis— 
verfahren gefchlofjen. 

Mr. Seymour plaidirt für ein mildes Urtheil. Er 
hebt hervor, daß im Jahre 1879 für die Bemeſſung der 
Strafe der Mordverfuch ausichlaggebend gewejen. Diejes 
gewichtige Moment ift aber durch die Zurüdziehung der 
Anklage Hinfichtlich dieſes Punktes gänzlich weggefallen. 
Dagegen ijt die Seelengröße anzuerkennen, mit ber bie 
Angeklagten ſich zu ihrem freiwilligen Geftänpniß ent- 
Ichloffen und es angeficht der ihnen drohenden Strafe 
aufrecht erhielten. Edgell ift verheirathet. Die Sorge 
für jein Weib und für fein Kind verjchloß ihm bisher 
den Mund. Trotz beftändiger Gewifjensqualen glaubte er 
ſchweigen zu müſſen. Allein als fein Kind ftarb, da trat 
er mit dem Geſtändniß hervor. Wie jehr das Schickſal 
biefer beiden Menſchen vie öffentliche Meinung erregte, 
geht aus der mit mehr als 3000 Unterjchriften bevedten 
Petition der Einwohnerichaft Alnwids hervor, bie ins— 
gefammt ein mildes Urtheil hofft und erwartet. 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 227 


Baron Pollod fällt das Urtheil: „Der Wegfall 
der Anklage wegen Mordverjuchs müſſe wol auf die Be— 
mefjung ver Höhe des Strafjages von entjcheidender Ein— 
wirkung fein. Dagegen fönne der Richter weder das 
freiwillige noh das verjpätete Geſtändniß als 
mildernd oder erjchwerend berüdjichtigen. Die Petition 
der Bewohner Alnwids habe ihre Adreſſe verfehlt; fie 
jei nicht an ihn, ſondern an diejenigen zu richten, denen 
die Handhabung des Begnadigungsrechtes zuftehe.” Der 
Richter vwerurtheilte demnach die beiden Angeklagten zu 
fünfjähriger Zuchthausſtrafe. 

Damit gab fich aber — und dies ift ein jchöner Zug 
des öffentlichen Gewiſſens — die aufgeregte Volksſtimme 
nicht zufrieden! Wenn ein Juſtizmord begangen worden 
war, und dies fchien nach der dvermaligen Sachlage außer 
Zweifel zu ftehen, jo galt e8 nicht nur die Schuld ver 
Gefellichaft an ven Betroffenen zu fühnen, e8 waren auch 
Berjonen vorhanden, welche den verfehlten Richterſpruch 
herbeigeführt hatten. Die Polizeiorgane, durch deren Be— 
mühungen feinerzeit der Imdicienbeweis erbracht worden 
war, erjchienen nunmehr verdächtig, entweder in dem 
guten Glauben, die wirklichen Berbrecher dadurch ihrem 
Richter zuzuführen, oder gar in der böslichen Abjicht, 
überhaupt einen Schuldigen herbeizujchaffen, die einzelnen 
Indicien ohne Rückſicht auf die jubjective Wahrheit fabricirt, 
fünftlich gruppirt, vielleicht ſogar fäljchlich hergeftellt zu 
haben. 

Es wurde demgemäß ein Proceß gegen die in ber 
Sache thätigen Polizeibeamten eingeleitet und in mehr- 
tägiger Verhandlung durchgeführt. 

Am Montag, den 18. Februar 1889, erſchienen in 
Newecaitle vor dem Nichter Denman, als Vorſitzendem 
des Schwurgerichts, die Angeklagten: Thomas Harrijon, 


15* 


228 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam. 


70 Sahre alt, penfionixter Polizetinjpector, JIſaak Sair, 
42 Jahre alt, Polizeifergeant, und Robert Sprot, 
36 Jahre alt, Polizeiconftabler, unter der Anjchuldigung, 
„in den Monaten Februar, März und April des Jahres 
1879, in Gemeinjchaft mit dem jeither verftorbenen George 
Harfes, damaligen Polizeileiter des Bezirkes, fich in 
ungejetlicher Weije verabredet zu haben, um den richtigen 
Gang der Rechtspflege zu behindern und in faljche Bahnen 
zu leiten durch die Herbeichaffung, DBerfertigung und 
Vorführung gefälichter Beweismittel in der Nechtsjache 
wider Michael Brannagan und Peter Murphy wegen 
Einbruchs, Diebftahls und Mordverſuches im Pfarrhofe 
von Edlingham“. 

Die Anklage, welche namens der Krone erhoben 
wurde, vertraten; ver fünigliche Rath) Mr. Gainsford 
Bruce und die Herren D. %. Steavenjon und Hand 
Hamilton. Die BVBertheidigung führten Dir. Besley 
und Mr. Boyd. 

Mr. Gainsford Bruce begründete die Anklage jo: 
„Die Anfchuldigung geht dahin, daß die Polizeiorgane 
zujammengewirft haben, um hemmend und jtörend in 
den orbentlichen Gang der Rechtspflege einzugreifen. In 
der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1879 wurde im 
Pfurrhofe von Edlingham ein frecher Einbruchspiebitahl 
verübt. Die Bewohner des Haufes, die fich zur Wehre 
jetsten, wurden verlett. Die wirklichen Miffethäter wußten 
jich gejchiekterweife vor den Augen der Poltzeiorgane zu 
verbergen und den Schein der Unjchuld um fich zu vers 
breiten. Die Polizei jedoch, von dem Chrgeize getrieben, 
die Verbrecher zu entveden, ging, wahrjcheinlich unter 
dem birecten Befehle ihres Chefs, des jeither verjtorbenen 
George Harkes, daran, gefälfchte Beweismittel herbeizu: 
jhaffen, um die Verurtheilung ver beiden von ihr einmal 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam, 229 


verhafteten Individuen, Brannagan und Murphy, welche 
fie als der That verdächtig bezeichnet hatte, herbeizu- 
führen. Harkes ift inzwiichen mit Tode abgegangen und 
fann nicht mehr zur DBerantwortung gezogen werben, 
allein die Anklage gegen die Andern, die mit ihm zus 
jammenwirften, ift berechtigterweife zu erheben, weil fie 
wifientlich gefälichte Beweismittel hergeftellt haben. Die 
damals des Einbruches verdächtigen und deshalb proceffirten 
Männer wurden auf Grund der durch die Polizei be— 
hafften Indicien verurtheilt. Es ijt nunmehr feitzu- 
ſtellen: 1) Die Bolizet veranlafte die Gipsabprüde von 
Fußſpuren, die angeblich im Garten des Pfarrhofes am 
Morgen nach dem Attentate entdedt worden waren. 
Diefe Formen entiprachen genau den Abdrücken ber 
Stiefel des einen und der Holzichuhe des andern An— 
geffagten. Die Abgüffe waren jedoch wiſſentlich von 
dieſen Fußbekleidungsſtücken direct und nicht von wirk- 
lichen Fußipuren im Garten genommen und find troß- 
dem bei der Hauptverhandlung als Beweismittel vor: 
gebracht worden. 2) Ein Mann Namens John Redpath, 
der im Goncubinate mit der Schwefter des Peter Murphy 
lebte und diefem Unterftand gewährte, wurde durch einen 
ihm gefpielten Betrug veranlaßt, einen Meißel als jein 
Eigenthum anzuerfennen, der am Thatorte aufgefunden 
worden fein ſoll und den die Einbrecher angeblich benutzt 
haben, um vie Thür aufzufprengen. 3) Die Einbrecher 
haben im Garten des Pfarrhofes ein Stüc einer Zeitung 
zurüdgelaffen. Das Blatt, aus welchem e8 herausgeriffen 
war, ift in das Futter des Modes prafticirt worden, den 
Murphy in der Nacht des Attentats trug, um durch bie 
Zufammengehörigfeit diefer Papierfegen den Beweis der 
Anwejenheit Peter Murphy's am Thatorte herzuftellen. 
4) Ein Stüd groben, ftarf gerippten Baumwollſtoffes von 


230 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam. 


der Hofe Brannagan’s, die er nach der Behauptung der 
Polizei bei dem Attentate getragen hat, ift abgetrennt 
und an eine Stelle gebracht worden, an der e8 von 
einer unbefangenen Zeugin, einem Dienjtmäbchen des 
Pfarrers, drei Wochen nach der That gefunden werden 
mußte. Die Polizei hat gewußt, wie dieſes Stückchen 
Stoff an feinen Fundort gefommen iſt, und war nicht 
darüber in Zweifel, daß dieſes Stüd Stoff nichts be- 
weijen fonnte, dennoch hat fie e8 bei ver Hauptverhand- 
lung vorgelegt, um Brannagan's Anwejenheit im Pfarr- 
hofe varzuthun. Waren diefe Beweismittel echt, jo mußte 
man die Angeklagten Brannagan und Murphy für 
ichuldig erklären und verurtheilen. Im ihrer Gefammt- 
heit lieferten fie einen jo zwingenden Indicienbeweis, daß 
jede Jury einhellig zu einem VBerdammungsurtheil gelangen 
mußte. Wenn diefe Beweismittel aber gefäljcht waren, 
wenn demnach Brannagan und Murphy unjchuldig an 
dem Berbrechen waren, dejjen fie geziehen wurden, welche 
furchtbare Verantwortung trifft die Polizeibeamten, vie 
jetst angeklagt find! Zwei andere Perjonen, George Edgell 
und Charles Richardfon, haben jich feither freiwillig als die 
Thäter befannt und dem Gerichte gejtellt. Sie find wegen 
dieſes Verbrechens mit fünfjähriger Zuchthausitrafe be- 
ftraft worden. Sie werden bei diefer Verhandlung als 
Zeugen vernommen und gehört werden. Sie erzählen, 
daß fie in der Fritijchen Nacht in den Wald von Birsley 
gingen, um Faſanen zu jagen, daß es ihnen aber nicht 
gelang, jolche zu erbeuten. Erbittert über ihr Mis— 
geſchick faßten fie gemeinjchaftlich den Plan, in den Pfarr- 
hof von Edlingham einzubrechen, der ganz nahe bei jenem 
Gehölze Liegt. In der zweifachen Abficht, das Geräufch 
ihrer Fußtritte zu dämpfen und um ihre Spuren un— 
fenntlich und jomit nicht verfolgbar zu machen, zerriſſen 


Der Einbrub im Pfarrhofe von Edlingbam. 231 


fie einen zufällig gefundenen alten Sad und wanden die 
daraus gewonnenen Jutefeßen um ihre Stiefel. In einem 
der Gartenhäujer fanden fie einen Meißel, jprengten mit 
bemjelben eines der großen Fenſter auf, die wie Thüren 
bi8 an den Erdboden hinabveichen, und gelangten auf 
diefem Wege in das Innere des Hauſes. Sodann brachen 
fie mit dem gleichen Inftrumente die Thür des Wohn: 
zimmers auf und drangen in das Efzimmer. Der Lärm 
weckte Fräulein Buckle, die ihrerjeitd ihren Vater rief. 
Beide famen muthig über die Treppe in das Erdgeſchoß 
berab. Der jechsunpfiebzigjährige Pfarrer voran, ein 
Yicht in der einen, ein alte& Schwert in der andern 
Hand. Die Einbrecher verlöjchten jofort das Yicht, das 
fie jelbjt mit fich führten. Durch einen unglückheligen 
Zufall, durch eine der haftigen Bewegungen Richardſon's 
— wie er felber zugejteht — entlud ſich die Flinte, die 
er von der Jagd ber geladen bei fich trug. Sowol ver 
Pfarrer als deſſen Tochter wurden durch den Schuß ver- 
wundet. Wahrfcheinlich jedoch trafen die groben Schrot- 
förner fie nur als Prellſchuß, denn beide wurden glüd- 
licherweife nicht ernjtlich verlegt. Die Einbrecher fuchten 
jofort zu entfliehen: Miß Buckle erfaßte einen derſelben 
mit großer Energie an den Haaren, war aber begreiflicher- 
weije nicht Fräftig genug ihn fejtzuhalten. Sie flüchteten 
durch das Fenſter und waren hierbei genöthigt, fich auf 
die Knie niederzulaffen. In der That find Eindrücke, 
die von Knien herrühren vürften, vor dem Wohnzimmer: 
fenster jeinerzeit im Gurten bemerkt und conjtatirt worden. 
Dies betätigt die Darftellung, welche die Verbrecher jelbit 
bon der That gegeben haben. Edgell und Richardſon 
eilten auf dem Fürzeften Wege nach Haufe, verbargen 
ihre durchnäßten Stiefel und Strümpfe und legten trodene 
Kleider und Stiefel zurecht, in der Vorausficht, daß die 


232 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


Polizeiorgane bald ihre Spur gefunden haben und nicht 
jäumen würden, ihnen einen Beſuch abzujtatten. Sie 
tänjchten fich darin auch nicht. Die Polizei fam in ihre 
Behaufung, fand jedoch anfcheinend alles in befter Ord— 
nung und zog leicht befriedigt wieder ab. Von dort begab 
fie fih zu Brannagan — dieſer war noch nicht nach Haufe 
gefommen. Die Polizei ging in das Haus Redpath's und 
conftatirte, daß auch Murphy über Nacht weggeblieben 
und noch nicht heimgefehrt war. Derart von ven wirf- 
lichen Einbrechern weg und auf eine faljche Fährte ge- 
lenkt, jteiften die Polizeibeamten fih nun darauf, in 
Brannagan und Murphy die wahren Verbrecher zu er- 
bliden. Dieje beiden Leute waren aber thatjächlich vie 
Nacht hindurch damit bejchäftigt gewejen, nach Kaninchen 
zu graben, und hatten einen Hund und einen Spaten mit 
jih geführt. Sie hatten auch wirklich vier Kaninchen 
erbeutet, die fie im Walde, unweit von Alnwid, verborgen 
zurücließen. Sie wollten eben in Alnwick nicht mit ihrer 
Jagdbeute gejehen werden. 

„Die Polizeibeamten hielten denn auch beide bei ihrer 
Heimkehr an. Ste liefen Brannagan und Murphy, nach- 
dem jie biejelben befragt und durchſucht hatten, jedoch zuerjt 
wieder ziehen und verhafteten fie erjt jpäter. Bei dieſer 
Verhaftung nahm die Polizei auch die Kleider der Verdäch— 
tigen in Verwahrung. Die Schweiter Murphhy’s, welche 
wol befürchten mochte, daß ihr Bruder wegen Wilddieberei 
zur Verantwortung gezogen werden jollte, hatte die Innen— 
tafche aus dem von ihm getragenen Rod, die vom Blute 
erbeuteten Wildes beſchmuzt war, herausgeriffen und gab 
deshalb nicht diejes Kleidungsſtück, fondern einen Rod 
ihres Liebhabers Redpath, den fie zuvor durchnäßt hatte, 
an die Polizeibeamten ab. Diejer Rod wurde gleich im 
Anfang der Unterfuhung zwar geprüft, allein nichts 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 233 


Verdächtiges daran gefunden. Neun Tage jpäter jedoch 
ereignete jich ein Wunder. Das famoje Zeitungsblatt 
wurde von einem unbefangenen Zeugen, den jeither ver- 
jtorbenen, vom Gerichte beigezogenen Arzt Dr. Wilfon, 
in Gegenwart eines der heute angeflagten Polizeibeamten 
im Unterfutter des Rockes entvedt. Den im Bfarrhofe 
gefundenen Meißel legte die Polizei gefchickter-, jedoch 
nicht Loyalerweife unter die übrigen Geräthe und das 
Handwerkszeug auf das Bret von Redpath's Schranf 
und richtete jodann an Redpath die Frage, ob der Meifel 
jein Eigenthum ſei? Getäufcht von diefem Kniffe, ant- 
wortete Redpath unbedenklich mit Ia. Später hat er 
jedoch eine andere Ausfage abgegeben und betheuert, es 
jet nicht fein Meißel geweſen, er habe, weil der Meißel 
unter feinem Handwerkszeug gewejen jet, angenommen, 
daß er ihm gehöre. Der Feten groben Baumwollſtoffes, 
der von einer gänzlich unbevenklichen Zeugin vor dem 
denfter des Pfarrhofes aufgefunden wurde, paßte in 
Größe und Qualität genau zu dem abgeriffenen Stüde von 
Brannagan's Hofe; allein ein fachverftändiger Schneiber- 
meifter, der als Zeuge vorgeführt werben wird, hat feit- 
geftellt, daß der Streifen abgefchnitten und nicht abgerifjen 
worden iſt und unmöglich jo lange Zeit, als zwijchen 
dem Einbruche und der Auffindung lag, Wind und Wetter 
ausgefett gewejen fein kann. Schon bei dem erjten 
Proceß in dieſer Angelegenheit, wider Brannagan und 
Murphy, hat der gelehrte Richter die Gejchtworenen er- 
mahnt, gerade auf dieſes Beweisftüc feinen Werth zu legen, 
und dabei bemerkt: Der Stoffreft paſſe zwar in Größe, 
Farbe, Form und Dualität zu der Hofe Brannagan’s, 
aber der aufgenähte Knopf ſei ganz verjchieden von den 
andern Knöpfen, die fich noch auf dem Beinkleide be- 
fänden. Es ift übrigens für den Ausgang der ver- 


234 Der Einbrudb im Pfarrhofe von Edlingbam. 


maligen Verhandlung gleichgültig, ob die Angeklagten es 
veritanden haben, diefen Streifen als ein für die Schuld 
der Angeklagten wichtiges Beweisſtück herbeizujchaffen. 
Verſucht haben fie es. Entſcheidend wird nur fein, ob die 
Geſchworenen eine ungejegliche Verabredung ver Bolizijten 
annehmen. Unter ven beim Einbruche geftohlenen Gegen- 
ſtänden befanden fi ein an einer goldenen Uhrkette be= 
feitigtes Siegel, welches dem Fräulein Buckle gehörte. 
Es wird nachgewiefen werben, daß Nichardjon an einen 
Juwelier in Alnwid ein goldenes Siegel verkauft hat. 
Der Juwelier wird diejen Umftand vor Gericht bejtätigen. 
Brannagan und Murphy find vorbehaltlos begnadigt, 
Edgell und Richardſon dagegen, welche das Berbrechen 
eingejtanden haben, jind deshalb zu fünf Jahren Zucht- 
hausftrafe verurtheilt worden.” 

Es folgte das Zeugenverhör. Zunächſt werden bie 
Belaftungszeugen aufgerufen. 

Wir führen nur die wichtigjten Ausfagen an. 

Kapitän Terry, der Kommandant der Conjtabler, 
der die Stiefel, Röde und andern Kleidungsſtücke der 
jeweilig Verurtheilten unter Verjchluß hatte, legt diejelben 
dem &erichtshofe vor und berichtet über feine Be— 
obachtungen an denjelben. 

Ihm folgte Charles Richardſon, der in Sträf- 
lingskleidern vorgeführt wird. Er gibt an, daß er und fein 
Kamerad Edgell in der Fritiichen Nacht urfprünglich nur 
ausgingen um zu jagen. Sie konnten aber nicht8 erbeuten, 
fein Wild fam ihnen zu Schuß, und fo bejchlofjen fie 
den Einbruch in den Pfarrhof zu Edlingham. Es war 
eine plögliche Eingebung. Sie ummidelten ihre Füße 
mit Sadleinwand und fanden im Stalle einen Meißel, 
vermitteld dejjen fte fich den Eingang erzwangen. 

Nach engliicher Strafprocefordnnung ift e8 Sache der 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 235 


Partei, die von ihr vorgeführten Zeugen zu vernehmen. 
Der Ankläger erklärt ſich für befriedigt, nachdem er 
Kichardfon längere Zeit befragt hat. Der Richter ent- 
icheidet jedoch: „Die Ausjagen, die der Zeuge abgegeben 
babe, fünnten auf Wahrheit beruhen und die dermalen 
angeflagten Perſonen dennoch völlig unfchuldig fein.“ Er 
ordnet daher das Streuzverhör dieſes Zeugen durch den 
gegneriichen Anwalt an. 

Das Kreuzverhör wird vorgenommen. Der Zeuge 
verfichert im Laufe dejjelben, ver Gedanfe und der Vor— 
ihlag zu dem Einbruche jei von Edgell ausgegangen. 
Richardſon ift mit Edgell jchon oftmals zuvor des Nachts 
auf Wilpdiebitahl ausgewefen, um nach Hafen, Kaninchen 
oder Faſanen zu jagen. 

Sodann wird Edgell vernommen. Auch diejer er- 
ſcheint im Sträflingsanzuge vor dem GerichtShofe und ift 
von einem Gefängnifwärter begleitet. Er wiederholt im 
wejentlichen die Ausjagen des vorigen Zeugen und be- 
ftätigt die Angaben, die er vor dem WBolizeirichter in 
Alnwick gemacht hat. Edgell muß im Kreuzverhör zu— 
geſtehen, daß er mit Richardſon und Bob (Robert) Vint 
wegen der Ermordung des Polizeiſergeanten Gray in 
Unterjuchung gewejen ijt. Er betheuert aber nichts Ge— 
naueres über dieſe Unthat zu willen und insbejondere 
feine Kenntniß davon zu haben, daß Richardſon ven 
Polizeifergeanten erjchoffen habe. Der geijtliche Herr, 
jein Seelforger, hat ihm aber allerdings gejagt: „Die 
Umftände werden für Richardſon doch allmählich Fritifch. 
Ueber furz oder lang wird er fich genöthigt jehen, den 
Mord einzubefennen.” Edgell gibt ferner an: der Geijt- 
lihe und der Rechtsanwalt Hätten ihm, auf Grund eines 
von ihm eingeholten Rechtögutachtens, bevor er das frei- 
willige Geſtändniß vor dem Polizeirichter abgelegt habe, 


236 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam. 


zugefichert: es drohe ihm und Richardion feine Strafe, 
wenn fie zugejtänden, daß der Einbruch in Edlingham 
von ihnen verübt worden fer, denn das Schwurgericht 
habe bereits zwet andere Berjonen wegen eben diejes Ver— 
brechens verurtheilt. Ein volles Jahr hindurch, oder noch 
länger, hätten die beiden Herren Edgell zugeredet, ja, 
ihn bejtürmt, das Geſtändniß zu machen, und ihm wieder: 
holt betheuert, e8 werde ihm nichts gejchehen, er könne 
gar nicht bejtraft werden. Endlich habe er jich von feinem 
Seelforger in einem Augenblide hierzu bejtimmen lajjen, 
da er Frank und der Meinung gewejen jet, er müſſe 
ohnedies jterben. 

Nichardjon, nochmals in das Kreuzverhör genommen, 
gibt gleichfalls an, der Rechtsanwalt habe ihm verfichert, 
daß das Gutachten eines Nechtsgelehrten eingeholt worden 
jei, und habe ihn darüber beruhigt, daß er, wenn er 
jich freiwillig als der eigentliche Einbrecher befenne, doch 
nicht bejtraft werden fünne, weil fchon zwei Männer 
deſſelben Berbrechens -wegen im Zuchthaufe ſäßen. Er 
hat diefer Angabe vertraut. Unter der Anfchuldigung, den 
Polizeifergeanten Grab) ermordet zu haben, iſt Richardſon 
zwei Monate lang in Unterfuchungshaft gewejen. Allein 
er will unschuldig an diefem Verbrechen jein. Er be- 
hauptet, in der Nacht des Mordes ſei er gar nicht im 
Walde bei Glebe-Field, wojelbit die That verübt wurde, 
gewejen. Er ſei jchon eine Woche lang zuvor gar nicht 
wildern gegangen. 

Mr. Edward Ridley, derzeit Friedensrichter, der 
im Jahre 1879 in der gegen Brannagan und Murphy 
durchgeführten Verhandlung als Ankläger fungirt, ebenjo 
Mr. Maniity, der als Richter feinerzeit die Verhand— 
lung geleitet hatte, berichten über die Einzelheiten und 
Vorgänge im Jahre 1879. 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingbam. 237 


Der Eönigliche Rath Mr. Milwain, ver Vertheidiger 
der Angeklagten Brannagan und Murphy im Procefie 
von 1879, wird aufgerufen und legt die Information vor, 
auf Grund deren er damals die Bertheidigung übernahm 
und burchführte. 

Der Vorfigende, Richter Denman, entjchien jedoch, 
daß feine SZeugenjchaft im gegebenen Stadium der Ver— 
handlung unzuläffig jet. 

Hierauf werden Brannagan und Murphy ver- 
nommen. ie erjtatten einen übereinjtimmenden Bericht 
über ihr Verbleiben in der kritiſchen Nacht, geitehen wol 
zu, wildern gegangen zu fein, jtellen aber entjehieden im 
Abrede, in Gejellichaft Edgell's und Richardſon's geweſen 
zu jein, 

In das Kreuzverhör genommen, geben fie zu, in einer 
ganzen Reihe von Fällen gewildert zu haben und wegen 
Wilddiebſtahls und Uebertretung der Forftgejege mehrfach 
bejtraft zu fein. Ste räumten auch ein, bei mehrern 
Gelegenheiten abweichende und fich widerjprechende un- 
wahre Ausjagen abgegeben zu haben. 

Nunmehr erjcheint Fräulein Buckle als Zeugin. Sie 
wiederholt die Angabe, welche fie jchon in der Verhandlung 
von vor 10 Jahren gemacht hatte, und bejchreibt ven 
Vorgang während des Einbruchese. Sie vermag jedoch 
weder in Edgell noh in Richardſon die Einbrecher zu 
erfennen. 

Damit ift die Reihe der von der Anklage geführten 
Zeugen erjchöpft. 

Bertheidiger W. Besley richtet hierauf eine An— 
ſprache an die Gefchworenen, um die Behauptungen ber 
Anklage zu entkräften, und jucht jie Punkt für Punkt 
zu widerlegen. Auch er führt etliche Zeugen vor. 

Se. Ehrwürden H. ©. Budle wiederholt die Ausjage, 


238 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 


bie er in ber Hauptverhandlung vom Jahre 1879 abge- 
geben bat. Nach feiner Anficht, Die er unummwunden 
ausipricht, find Edgell und Richardſon ganz ficher nicht 
die Männer gewejen, welche in der Ffritiichen Nacht in 
den Pfarrhof eingebrochen find. 

Der Polizeiconftabler Chambers, der urfprünglich 
mit in die Anklage wegen „ungejetlicher Verabredung“ 
einbezogen werden follte, aber jchon von dem Polizeirichter 
als gänzlich unbetheiligt entlafjen wurde, gibt, nunmehr 
als Zeuge vernommen, an, daß er perfönlich anwejend 
gewejen ift, als die Gipsabgüffe von den Einprüden und 
den Fußſpuren im Garten abgenommmen worben find. 
Er conftatirt mit aller Bejtimmtheit, daß dieſes fofort 
am Morgen des 7. Februar 1879 gejchehen ift, und be- 
jchreibt ausführlich und in allen Einzelheiten das hierbei 
beobachtete Verfahren. Er verweijt darauf, daß Dr. Wilſon 
ebenfall8 gegenwärtig war und fich darüber eingehend ge- 
äußert habe. Chambers jelbft hat ven Meifel im Wohn: 
zimmer des Pfarrhofes aufgehoben, er gibt die beſondern 
Merkmale, die er an dem Inftrument fand, detaillirt an. 

Der hochwürdige Erzdiafon Hamilton fagt aus, 
daß er gegenwärtig war, als John Redpath den frag- 
lichen Meipel als fein Eigenthum anerkannte. Er bezeugt, 
Redpath habe ven Meißel genau bejehen, dann erſt den- 
jelben mit voller Beſtimmtheit als ihm gehörig bezeichnet 
und gleichzeitig auch die bejondern Merkmale hervorge- 
hoben, an welchen er ihn erfenne. Redpath habe damals 
ferner angegeben, daß fih das Werkzeug jeit mehr als 
zwei Jahren in feinem Befite befinde. 

Verſchiedene Zeugen fprechen fich über den Leumund 
der Angeklagten aus. Alle ohne Ausnahme wiljen nur 
das Günftigfte zu berichten. 

Mr. Besley nimmt wieder das Wort. Er faßt die 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 239 


Ergebniffe der damaligen Berhandlung zufammen und 
beflagt lebhaft, daß die Anklage nicht alle Zeugen be- 
rufen hat, die feinerzeit bei der urjprünglichen Ver— 
handlung wider Michael Brannagan und Peter Murphy 
vernommen worden find. Er jagt: „Die Anklage hat 
es wol für zwedmäßig gehalten, Fräulein Budle zu be> 
rufen, weil fie ihrer bevurfte, um bie Einzelheiten des 
Einbruches zu bezeugen, allein die Ausfage der Dame 
bat weit mehr gegen als für die Anklage bewiejen, denn 
fie hat in Edgell und Richardſon die Einbrecher nicht 
erfannt. Wenn der geehrte Vertreter der Anflage bei 
den Gejchiworenen die Verurtheilung der Angejchuldigten 
beantragt, muß er die Jury auffordern, der von ihm ſelbſt 
borgeführten Zeugin zu mistrauen. Und warum hat es 
die Anklage unterlaffen, ven ehrmwürbigen Herrn Buckle 
ebenfall8 vor die Schranken des Gerichtshofes zu laden? 
Nur durch Zufall hat die Vertheivigung e8 erfahren, daß 
dies nicht gejchehen folltee Zum Glück war fie in der 
Lage, ihrerjeits dieſe Vorladung noch rechtzeitig vorzu— 
nehmen. Die Erinnerung des geiitlichen Herrn in Betreff 
der Perſon der Verbrecher ift weit jchärfer zum Ausdrucke 
gelangt als in den Ausfagen feiner Tochter. Seine An— 
gaben find für die Anklage geradezu vwernichtend. Er er- 
klärt bejtimmt: Edgell und Richardſon find nicht bie 
Thäter gewejen! — Aber auch noch andere Zeugen hätten 
von jeiten der Anwälte der Krone berufen werden müffen. 
Ihre Vorladung ift unterblieben, weil ihre Ausfagen mit 
den Behauptungen der Anklage in unlösbarem Wider- 
ipruche ftanden. Nicht die Vertheidigung hätte die Auf- 
gabe gehabt, den Polizeiconjtabler Chambers, den hoch- 
würdigen Herrn Erzdiafon Hamilton vorzuladen, es 
wäre Sache der Kronanwälte gewejen, wenn fie ihrer 
Aufgabe getreu die Erforfchung der Wahrheit als oberften 


240 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


Zwed vor Augen gehabt hätten. Nach allem, was wir 
nunmehr wiſſen, ift die Anjchuldigung gegen Brannagan 
und Murphy vermalen noch feiter begründet als im Jahre 
1379, wo fie von den Gejchworenen einjtimmig verurtheilt 
wurden. Die Jury hat diesmal nicht zur entjcheiven, 
welches von den beiden würdigen Paaren, ob die Wild- 
Diebe Brannagan und Murphy oder die Wilddiebe Edgell 
und Richardfon, ven Einbruch im Pfarrhofe zu Edlingham 
verübt haben. Stünde die Entjcheidung hierüber, bet dieſer 
Jury, fie würde faum jchwanfen, fie würde Brannagan 
und Murphy für die Thäter erklären und jo ihre ur= 
ſprüngliche Verurtheilung vatihabiren. Eins jteht als 
Ergebniß dieſer Verhandlung feſt: daß Edgell und 
Richardſon nicht die Männer waren, welche jenen 
Einbruch begangen haben. Die Zeugenausjage über die 
Art der Auffindung der Fußſpuren im Garten und über 
die Anfertigung der Gipsabgüffe ift zwingend für jeben, 
ber jehen und hören will. Die Gipsabprüde find in der 
loyalſten Weiſe hergejtellt worden. Darüber befteht nicht 
ber leifefte Zweifel mehr. Was den Meifel anbelangt, fo 
ift zwar nicht in Abrede zu ftellen, daß Rebpath zur An— 
erfennung feines Eigenthums vermitteld einer Xijt pro= 
vocirt worden ift, allein fein Zeugniß war klar und bleibt 
unanfechtbar. Er erfannte an, daß gerade dieſes Werf- 
zeug fich feit vollen zwei Jahren in feinem Beſitze befand. 
Was das Stücdchen Zeitungspapter anlangt, das im 
Unterfutter von Murphy's Rod gefunden wurde, und den 
Feten Stoff, der von der Hofe Brannagan’s abgerifjen 
zu fein jchien, fo ift auch nicht der Schatten eines Nach— 
weiſes dafür erbracht worden, daß die Bolizeiorgane ihre 
Hand dabei im Spiele gehabt hätten, als dieje von dritten, 
unbefangenen Perjonen aufgefundenen Beweisjtüde an bie 
Fundſtelle gejchafft oder gethan wurden. Sowol die An— 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 241 


geflagten als ihr inzwijchen verfjtorbener Vorgefekter, 
der Polizeichef George Harfes, haben fich von jeher als 
Männer von erprobter Chrenhaftigfeit erwiejen, denen 
derartige jchamloje Fälfchungen nicht zugetraut werben 
DREI, 240 

Nachdem Mr. Bruce namens der Anklage replicirt 
hatte, richtete am legten Verhanblungstage, Samstag, 
den 23. Februar, der Richter Denman folgendes Reſume 
an die Gejchworenen: 

„. . . . In meiner langen Erfahrung ift mir fein Fall 
vorgefommen, in dem von gewifjer Seite mit mehr Nach- 
prud gejtrebt wurde, auf Heine und Fleinliche Indicien 
bin, zu ganz bejtimmten und concreten Schlußfolgerungen 
zu gelangen. Diefe Indicien find aber oft jehr fraglicher 
Natur gewefen. Darum muß ich im Intereffe der ge- 
rechten und finnesgemäßen Anwendung des Geſetzes Sie 
ermahnen, daß Sie, die Sie berufen find, durch Ihr 
Urtheil das Verhalten des Gerichtes zu bejtimmen, ich 
darauf beichränfen mögen, Ihre Aufmerkfamfeit, Ihr Ge- 
dächtniß und Ihre Beurtheilung ausſchließlich auf die 
Shnen im Gerichtsfaale bewiejenen Thatſachen zu richten, 
und daß Sie fich nicht von dem Widerſtreit der öffent— 
lichen Meinung, der doch ficherlich auch zu Ihrer Kenntniß 
gekommen fein muß, beeinfluffen laffen mögen. Der in 
Frage jtehende Fall ift von jehr großer und weittragender 
Bedeutung. Wenn man die Schuld der drei Angeklagten 
als vorhanden annehmen will, fo find zwei Möglichkeiten 
in das Auge zu faſſen, die in ihrer relativen Wichtigkeit 
weit voneinander abweichen. Wenn nachgewiefeu iſt, daß 
die angeflagten Polizeiorgane jelbit an die Schuld Bran— 
nagan’s und Murphy's nicht glaubten, dennoch aber 
Beweisſtücke fäljchten, um deren Verurtheilung herbeizu- 
führen, jo haben ie ein abjcheuliches — en 

XXIIL 


242 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 


weitaus vwerwerflicher, als wenn fie, von der Schuld ber 
beiden Leute überzeugt, beabfichtigten, bei ven herbeigejchafften 
Beweijen nur etwas «nachzuhelfen». Doch auch in dieſem 
weniger argen Falle, wenn fie jelbft in veblicher Abficht 
durch folche Praftifen die Zwecke geregelter Juſtizpflege zu 
fördern vermeinten, bliebe ihr Vorgehen durch und durch 
unmoralijch, jchändlich und verdammenswerth. Ald «Ver— 
ihwörung» oder «unerlaubte Verabredung» im Sinne 
des Geſetzes muß es gelten, wenn die drei Angeklagten 
oder auch nur einer berjelben im Einverftändniffe mit 
ihrem, feither verfjtorbenen, Vorgeſetzten George Harfes 
conjpirirten und fich mit ihm dahin einigten, dem Gerichte 
Beweiſe zu unterbreiten, von denen fie wiffen mußten, 
daß fie gefälfcht, umrichtig und geeignet waren, bie Ge— 
vechtigfeit auf andere Bahnen zu leiten, auch dann, wenn 
fie jelbjt von der Anficht ausgingen, daß die von ihnen 
verhafteten Individnen die wirklichen Verbrecher wären. 
Anders ftellt fich die Sachlage, nicht nur nach ven Grund: 
ſätzen der Moral, fondern auch nach den Geſetzen Englands, 
wenn diefe Männer, die heute auf ver Anflagebanf fiten, 
in ehrlicher Ueberzeugung von der Schuld Brannagan's 
und Murphy’ und in gutem Glauben Beweigjtüde 
dem Gerichte vorführten, von deren Unrichtigfeit fie nichts 
wußten, bie fie nach ihrer eigenen ehrlichen Anſchauung 
für überweijend erachtet haben. Wenn dann auch jene 
Beweisſtücke zu einem vorjchnellen und ungerechten Urtheil 
verleitet hätten, jo find fie dieſerwegen noch nicht ſchuldig. 
Ebenfo wenig Fönnen Sie die Angeklagten jchulpig jprechen, 
wenn bie leßtern von der redlichen Abficht befeelt, bie 
Wahrheit aufzuklären und in dem Glauben, auf ber 
richtigen Spur zu fein, einem Zeugen, deſſen Unbefangen- 
heit nicht außer allem Zweifel jtand, mit Anwendung einer 
Yilt eins der Beweisftüde, den Meifel, in die Hände 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 243 


ipielten, um von ihm eine wahrheitsgetreue Ausfage über 
das Eigenthum an dieſem Handwerksgeräth hervorzuloden, 
die fie font fchwerlih von ihm erlangt hätten. Es iſt 
dies ein von feiten der Polizei einem Zeugen bevenf- 
licher Natur gegenüber ganz zuläffiges Vorgehen, wenn 
die Abficht redlich darauf gerichtet war, die Wahrheit 
darzuthun. Die Frage, die zu entjcheiden ift, geht dahin: 
«ob die Angeklagten im Cinverfiändniffe mit dem ver: 
jtorbenen George Harfes, im Bewußtjein, daß fie Beweiſe 
fäljchten, in unehrlicher Weiſe fich beftrebten, einer auf 
ſchwachen Füßen jtehenden Anklage nachzuhelfen». Die 
Geſchworenen haben zu erwägen, daß nach unſern ftraf- 
procefjualifchen Vorjchriften die Angeklagten nicht berechtigt 
find, perjünlich etwas zu ihren Gunften worzubringen. 
Es wäre ebenjo ungerecht al8 grauſam, wenn fie berur- 
theilt werden jollten, weil in Ihrer Enticheivung Grund— 
ſätze maßgebend würden, die im Civilproceſſe zuläffig und 
nothwendig, im Strafprocefje aber verwerflich find, wenn 
Sie nämlich die größere oder geringere Wahrfcheinlichkeit, 
bie für die eine oder die andere Angabe jpricht, mitein- 
ander bilanciren wollten. In Straffachen muß die Schuld 
des Angeklagten nach der Ueberzeugung des Richters er- 
wiejen fein. Nur wenn die Anklage nachzuweijen im 
Stande ift, daß feine andere Erklärung gegeben werben 
kann, als das ſchuldbare Einverjtändniß der Angeklagten, 
dürfen Sie diejelben verurtheilen, jonjt muß ihre Frei— 
iprechung erfolgen. Der Fall ift unzweifelhaft ein ganz 
außergemöhnlicher. Der nadten Thatfache, daß zwei 
Männer im Jahre 1879 zu lebenslänglicher Zuchthaus- 
arbeit verurtheilt wurden und daß nach faft einem De— 
cennium zwei andere Leute freiwillig herwortreten und 
befennen, daß fie jenes Verbrechen begangen haben, um 
deſſentwillen die andern beiden jeit nahezu 10 Jahren im 
2 16* 


244 Der Einbrud im Bfarrhofe von Edlinghbam. 


Kerker ſchmachten, ift in fünf Jahrhunderten englijcher 
Gerichtöpflege nichts Aehnliches an die Seite zu ftellen. 
In diefer Beziehung fteht ver Fall ohne feinesgleichen 
da. Ueberdies bejtehen noch jet Zweifel und Unklar— 
heiten. Sie laſſen fich nicht bejeitigen, ja es iſt ſogar 
ber Verdacht rege geworben, daß jenes verjpätete Be— 
fenntniß nicht reinen Gewifjensjcrupeln, fondern andern, 
vielleicht unlautern Motiven entjprungen jei! 

„Wenn dies aber wirklich der Fall ift, welche unge- 
heuere, welche geradezu frevelhafte Verantwortlichkeit haben 
jene auf fich geladen, die durch ihren unberufenen Eifer 
wieder andere, unfchuldige Perfonen unter dem Verdachte, 
eine ungerechte Berurtheilung durch frivole Machinationen 
verurfacht zu haben, auf die Anklagebank brachten! 

„Das etwas ftarfe Bild, das der Vertheidiger Mr. Besley 
gebraucht hat, al8 er Ihnen zurief: «Wenn das Gebäude 
der Anklage nur auf Ausjagen der nunmehr als die wirf- 
lihen Einbrecher geltenden zwei Burjche allein beruhen 
jollte, hätten Sie dann den Muth, darauf hin auch nur 
einen Hund hängen zu laffen?» — es ijt gerechtfertigt. 
Dieſes Zeugniß ijt in der That ein ſolches, daß es zu 
ernten Bedenken Anlaß bietet. Die Anklage beruht aber 
thatjächlich darauf, daß ein jtrafwürdiges Einverjtändniß 
zwijchen den angeflagten Bolizeiorganen bejtanden habe. 
Ehe Edgell und Richardſon ihr überrafchendes Befenntnif 
ablegten, war man allgemein überzeugt, ein ziwingender 
Indicienbeweis habe die Verurtheilung der Angeklagten 
Brannagan und Murphy herbeigeführt — ein dermaßen 
zwingender Beweis, daß ein erfahrener, vorfichtiger Richter 
und intelligente Geſchworene nach einer langdauernden, 
jorgfältig geführten Schlußverhandlung, bei welcher ein 
hochbefähigter und gewiffenhafter Vertheidiger und ein 
Iharfjinniger und pflichteifriger Rechtsanwalt den Ange- 


Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingham. 245 


fagten zur Seite ftand, dieſe zwei Perſonen ebendesjenigen 
Verbrechens für jchuldig erklärten, deſſen Verübung, wie 
es nunmehr heißt, nicht ihnen, ſondern zwei andern ver- 
lotterten Burſchen zur Laſt fallen ſoll. Die Frage, welche 
Sie zu entſcheiden haben, ijt jevoch nicht: ob A, ob B, 
od C den Einbruch im Pfarrhofe zu Edlingham begingen. 
Diefe Frage iſt durch andere Gejchworene und fie tft 
widerjprechend beantwortet worden. Sie mögen fich ihre 
eigene Anficht darüber bilden, ob es ficher ift, daß dieſe 
oder jene Perjonen die Verbrecher waren, oder ob noch 
immer Zweifel darüber möglich find, aber Sie haben 
darüber nicht zu entjcheiden. Ihr Wahrfpruch hat diefe 
Bedeutung nicht. Ihre Entſcheidung gilt ausjchließlich 
und allein der Frage: Sind die angeflagten drei Männer, 
oder einzelne von ihnen, der ihnen zur Laſt gelegten 
Handlung, der fträflichen ungefetlichen Verabredung zum 
Zwede der Herbeiführung einer Verurtheilung jener zuerit 
wegen des Einbruches in den Pfarrhof von Edlingham 
vor Gericht geftellten Individuen, ſchuldig? 

„Meberlegen Sie in Ruhe ven Hergang. Es iſt zweifellos 
fichergeftellt und wird von feiner Seite beftritten, daß 
ein frecher und verwegener Einbruch im Pfarrhofe von 
Edlingham in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1879 
verübt wurde. Ob Sie nun Brannagan und Murphy 
oder Edgell und Richardſon als die Verbrecher anjehen, 
gewiß ift, daß die That in rücfichtslofer, brutaler Weiſe 
und mit großer Gefährdung von Menjchenleben begangen, 
in feiger und tückiſcher Weife ins Werk gejetst worden ijt. 
Das Haus war nur von einem einzigen alten Manne, 
dem hochbejahrten geiftlichen Herrn, und einigen Frauens— 
perfonen bewohnt. Welches der beiden Paare immer ben 
Einbruch verübte, die Thäter waren mit diefen Verhält- 
niffen wohl vertraut. Brannagan hatte als Knabe im 


246 Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingham. 


Pfarrhofe Schulunterricht genofjen, Edgell war zeitweilig 
aushülfsweije als Gärtner im Haufe bejchäftigt worden. 
Welches der Paare ald Einbrecher dort auftrat, e8 war 
ein Paar feiger Schufte, denn jie betraten das von feinem 
widerjtandsfähigen Manne bewohnte Haus, bewehrt mit 
einer geladenen Flinte. Der alte Herr ſowol als feine 
Tochter bewieſen rühmenswerthe Unerjchrodenheit. Beide 
boten der Gefahr kühn die Stirn, indeß wollte in eriter 
Linte der Vater die Tochter und die Tochter den Vater 
ſchützen. Sie wollten ihr Eigenthum vertheidigen und 
die Räuber fejtnehmen, ſelbſt dann noch, als fie durch den 
Schuß, der auf fie abgegeben wurde, verwundet worden 
waren. Der nächte Morgen traf die Verbrecher — mögen 
es nun Brannagan und Murphy oder Edgell und Richard- 
jon gewejen fein — in Alnwid. Die Anklage meint, e8 
habe im Intereſſe der Verbrecher gelegen, fo raſch als 
möglich ihr Heim aufzufuchen, um, fall8 die Polizei Ver— 
dacht jchöpfen und Nachforſchungen anjtellen follte, ruhig 
im Bette betroffen zu werben; die Vertheidigung dagegen 
macht mit ebenjo großer Wahrfcheinlichfeit geltend: pie 
Verbrecher möchten unter dem Schulpbewußtjein, ein 
Gewehr abgefeuert zu haben, aber ungewiß darüber, ob 
dem Schufje ein Menjchenleben zum Opfer gefallen jet, 
einen Umweg eingefchlagen haben, um Alnwid von der 
entgegengejetten Seite zu betreten. Denn dadurch ver- 
binverten fie, daß man ihre Spur auffand. Wie ich 
wiederholt betonte, iſt e8 diesmal nicht unſere Aufgabe 
zu entjcheiden, wer die Einbrecher geweſen find. Dieſe 
Trage bleibt für ung ein Incidenzfall. Wer immer es 
gewejen fein mag, als lobenswerth joll hervorgehoben 
werben, daß die Verfolgung mit überrajchender Schnellig- 
feit eingeleitet und zielbewußt durchgeführt worden ift. 
Dies gejchah wieder infolge ver Geiftesgegenwart und des 


Der Einbrud im Pfarrbofe von Edlingham. 247 


energiichen Eingreifens des Fräulein Budle. Sie ſandte 
nämlich fofort einen berittenen Boten nah Alnwid, der 
einen Arzt und die Polizei herbeiholen jollte. Die Organe 
ber lestern fehrten bereitö um 5 Uhr morgens von Ed— 
lingham nach Alnwid zurüd. Der erjte Verdacht richtete 
fich gegen Edgell und Richardſon, zwei berüchtigte Burjchen, 
gegen die bereits früher ein Verdacht der allerjchwerjten 
Art, der Verdacht eines Mordes, erhoben worden war. 
Die Polizei fand jedoch beide in ihren Betten, angeblich 
ichlafend, und — was jehr bezeichnend und bemerfens- 
werth iſt — dieſelben Polizeibeamte, denen jett übergroßer, 
weit über das Ziel hinausſchießender Scharffinn, ja jogar 
jene Schlauheit vorgeworfen wird, die Fünjtliche Beweis- 
ſtücke zu fabriciren im Stande ift, fie fanden nichts, rein 
gar nichts Verdächtige vor. So gingen fie beruhigt ihres 
Weges. Lag aber irgendein Grund vor, weshalb etwa 
die Polizei Edgell und Richardſon fchonen, fie gegen andere, 
dritte Perfonen bevorzugen follte? Bei deren gerichts- 
befannten Antecedentien? — Gewiß nicht. Edgell und 
Richardſon hatten, wie aus ihren eigenen Ausjagen her— 
vorgeht, wegen des Mordes eines Polizeifergeanten in 
Unterfuchung gejtanden. Sie find gerade Menjchen jenes 
Schlages, gegen die fich der Verdacht naturgemäß und 
in erjter Linie richtet, gerade von dem Schlage auch, nad) 
dem die Polizei gern greift und den fie nur ungern wieder 
losläßt. Es lag ficherlich für die Polizei fein Grund vor, 
gerade dieſe Burjche beſonders rückſichtsvoll zu behandeln, 
gerade fie zu fehonen. Eher fünnte man das Gegentheil 
annehmen. Nichtsveftoweniger ließen die Polizeibeamten 
biejen zuerjt rege gewordenen Verdacht fallen und fahndeten 
nah Brannagan und Murphy, die ihnen verhältnigmäßig 
doch weit harmlojer erjcheinen mußten. Als fie in deren 
Behaufungen famen, kann e8 nur wenig nach 5 Uhr 


248 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


morgens gewejen fein. Beide waren die Nacht über nicht 
heimgefehrt. Die Polizei zog zunächft ab, fam aber um 
7 Uhr früh wieder dahin zurüd. Nun waren die Ge— 
juchten eingetroffen. Sie verantworteten fich mit verjelben 
Ausflucht, die fie Schon mehrmals in ähnlicher Fällen 
vorgebradht hatten: «Site feien auf dem Moore von 
Charlton wildern gewejen.» Die Polizei fand dieſe Be— 
reitwilligfeit, ein DVBergehen zuzugeftehen, welches jonft jo 
beharrlich geleugnet zu werben pflegt, jehr verbächtig. 
Sie glaubte den Burjchen aber nicht und feste ihre Er— 
hebungen fort. Der Anfläger von heute ift hingegen 
dieſem Befenntnifje gegenüber, weit weniger ffeptiih. Ihm 
ericheint die Jagd auf dem Moore von Charlton glaub- 
würdig und der Wahrheit entjprechend. Einen Nachweis 
für die Richtigkeit ihrer Angaben haben Brannagan und 
Murphy nicht erbracht. Es ift nur bemerkt worden, daß 
fie auf einem Wege Alnwick erreichten, der nicht direct 
auf Edlingham als Ausgangspunkt weilt; allein dies 
würde, wenn fie die Einbrecher waren, ganz gut Durch 
einen mit Schlauheit gewählten Umweg, der auch ihr 
jpäteres Eintreffen begreiflich machen würde, leicht zu er— 
klären fein. Sie behaupteten, die erbeuteten Kaninchen 
in einer Anpflanzung zurüdgelaffen und verſteckt zu haben. 
Thatjächlich find an der von Brannagan und Murphy 
bezeichneten Stelle Kaninchen verſteckt vorgefunden worden. 
Es ift aber ebenfo möglich, daß fie diefelben fchon ein oder 
zwei Nächte zuvor gejagt und gefaugen und, um einer 
Entdeckung des Wilddiebſtahls vorzubeugen, bort verborgen 
gehalten haben. Dies würde mit ven Thatjachen in feiner 
Weiſe im Widerfpruch ſtehen. Was hätte fie verhindern 
fünnen dies zu thun? Der Zuftand des aufgefundenen 
Wildes fteht diefer Annahme nicht entgegen. Wenn fie 
in der kritiſchen Nacht jo vorgegangen find, wie e8 Edgell 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 249 


und Richardſon von fich behaupten, wenn fie auf ihrer 
Jagd nichts, oder nur etliche Kaninchen erbeutet und dieſe 
in ihr Verſteck gebracht haben, jo Liegt in dem Umſtande, 
daß wirklich an der von Brannagan und Murphy ange- 
gebenen Stelle fi) Kaninchen befunden, nichts, was ber 
Annahme, vdieje beiden Individuen feien die Einbrecher, 
wiberjprechen würde. Sie haben auch angegeben, einer 
von ihnen hätte einen Spaten, ber zum Ausgraben ber 
Kaninchenbaue bejtimmt war, in feinem Rodärmel ver- 
borgen gehabt, allein jene beiden, nicht in die Anklage 
miteinbezogenen Boliziften, welche Brannagan und Murphy 
anhielten, müßten recht alberne Stümper geweſen jein, 
wenn fie, als fie die Wilderer durchjuchten, dieſen Spaten 
nicht jofort entdeckt und beichlagnahmt hätten. 

„Die Beweisaufnahme ift äußert umfangreich — ich 
jelbft habe über 209 Foliofeiten Notizen vor mir liegen 
— und e8 ift fchwer, die fich widerjprechenden Angaben 
zu entwirren. Man muß daher, um fich ein klares Ur- 
theil bilden zu fönnen, bie verfchiedenen Möglichkeiten 
des Falles einzeln genau erwägen. Zuerft die, daß Bran- 
nagan und Murphy die Einbrecher waren, und dann wieder 
die Gründe erwägen, bie dieſer Annahme entgegenitehen. 
Hierauf muß man Edgell und Richardſon als die Ein- 
brecher anfehen, aber auch wieder erwägen, welche Gründe 
gegen diefe Annahme ftreiten. Dieje Brage aber haben 
Sie, meine Herren von der Jurhy, ich mache Sie wieber- 
holt darauf aufmerffam, nicht zu löſen. Es bleibt über- 
haupt dahingeſtellt, ob heute nach dem vorliegenden Ma- 
teriale diefe Frage von irgendeiner Jury bejtimmt und 
in befriedigender Weife beantwortet werben fünnte. Zwei 
wichtige Zeugen, ver Polizeileiter George Harkes und der 
Arzt Dr. Wilfon, find ja feit dem Zeitpunfte der erjten 
Hauptverhandlung in dieſem vielerjchlungenen Procefje 


250 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam. 


mit Tod abgegangen, und es mag jein, daß niemals mehr 
volles Licht über die Thatumftände verbreitet werden wird. 

„Die erjte Annahme geht aljo dahin, daß Brannagan 
und Murphy die Einbrecher waren. Wenn Sie nun der 
Anficht find, daß die Polizei die Indicten gegen die Ge- 
nannten in aufrichtigem Beſtreben nach Wahrheit, auf 
redliche Weiſe zufammengeftellt hat, jo Tiegt ein fait un- 
umftößlicher Beweis gegen diefe Leute vor. Nachdem ich 
das im Jahre 1879 bei der Verhandlung durchgeführte 
Beweisverfahren genau geprüft habe und nach jorgfältiger 
Durchficht der Aufzeichnungen des damaligen Verhand- 
lungsrichters, jo kann ich al8 Ergebniß meiner aufmerfjamen 
Studien mit gutem Gewiſſen jagen: ich habe jelten einen 
Strafproceß erlebt, in dem die Schlußfolgerung klarer 
und präcijer vorgezeichnet erjchien. Wenn eine Jury nach 
den Ergebnifjen ver Schlußverhandlung noch Zweifel ge- 
hegt hätte, ob fie verurtheilen follte, jo würde ich der 
Ueberzeugung fein, daß dieſe Jury nicht aus intelligenten 
Männern zufammengejett gewejen wäre. Sleinerlei Um— 
jftand war damals zu Tage getreten, der das Zeugnif 
ber Polizei hätte irgendwie zweifelhaft erjcheinen laſſen 
fünnen. Ein Stüd Zeitungspapier war im Pfarrhofe 
aufgefunden worden, welches zu jenem Blatte, welches 
Dr. ®ilfon im Unterfutter von Murphy’ Rod vorfand, 
genau paßte. Redpath, der Duartiergeber Murphy's, 
hatte Har und bejtimmt ausgejagt, daß der Meißel, der 
ihm vorgewiefen wurde und der gleichfalls im Pfarrhofe 
aufgefunden worden war, jein Eigenthum jet. Er jagte 
unbefangen aus, weil er nicht ahnte, daß dieſes Werkzeug als 
ein wichtiges Beweisſtück fungiren ſolle. Redpath wurde 
zu zwei verjchiedenen malen befragt, und er gab die Kenn— 
zeichen, die ihn veranlaßten, gerade diefen Meißel als 
fein Eigentum zu agnojciren, genau und unverhohlen an. 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 251 


„Als ein ferneres Indicium war urjprünglich ein Kleiner 
Tegen groben Tuches oder Baumwollſtoffes mit einem 
Knopfe vorgelegt worden, der geraume Zeit nach dem 
nächtlichen Einbruche unter dem Fenjter des Wohnzimmers 
des Pfarrhofes von einem Dienftmädchen aufgehoben 
worden war. Der rechtsgelehrte Kichter, welcher ber 
Hauptverhandlung im Jahre 1879 präfidirte, hat dieſen 
Teen vor Augen gehabt und bemerkt, daß ver Knopf 
daran den andern Knöpfen an der Hofe Brannagan’s 
nicht gli. Er hat darum dieſes Beweisſtück beanſtandet 
und zurücgewiejen, vafjelbe wurde deshalb in die fchließ- 
liche Anklage nicht miteinbezogen und bat feinen Einfluß 
auf die Urtheilsichöpfung der Gefchworenen ausgeübt. Da— 
gegen wogen um jo jchwerer die Ausſagen des Reverend 
Mr. Buckle und jeiner Tochter. Diefelben äußerten fich 
allerdings mit der anerfennenswertheften Vorficht und 
Gewiſſenhaftigkeit. Allein fie jtimmten doch darin über- 
ein, daß der Mann, welcher die Flinte gegen fie abfeıterte, 
in Geftalt und Ausfehen dem Angeklagten Brannagan 
vollftändig glich, daß der DBetreffende breitjchulterig war, 
von militärisch ftrammer Haltung, und dunkles Kopfhaar 
trug. Man fand im Garten Fußſpuren, fie wurden un— 
verzüglich in Gips abgeformt. Die Gipsabgüffe paßten 
genau zu ben Stiefeln Brannagan’s und den Holzihuhen 
Murphy's. Alle diefe Indicien vereint mußten genügen, 
um eine noch jo zweifelfüchtige Jury zur Abgabe eines 
«Schuldig» lautenden Wahrjpruches zu veranlaffen. Nun 
heißt e8 wol, Brannagan und Murphy waren doch nicht 
die Thäter, denn es ift nachgewiejen, daß zwei andere 
Individuen den Einbruch verübt haben. Wenn Sie aber 
mit mir der Anficht find, daß Edgell der Bejchreibung, 
welche Fräulein Buckle jeinerzeit von dem Einbrecher gab, 
ven fie doch bei den Haaren gefaßt hatte, ebenjo wenig 


252 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 


entjpricht wie Richardſon, jo ift der Beweis, der gegen 
Brannagan und Murphy vor zehn Jahren als erbracht 
galt, unerjchütterter denn je. Noch mehr. Sie haben zu 
erwägen, ob Mer. Budle over feine Tochter fich geirrt 
haben, als fie angaben, Edgell könne nicht der Mann 
gemwejen fein, der auf fie gejchoffen habe, Bedenken Sie, 
daß Edgell und Richardfon in der wider fie durchgeführten 
Verhandlung fich ſchuldig erklärten des Einbruches, nicht 
ichuldig des Mordverfuches, daß das Urtheil in dieſem 
Sinne lautete und daß fie deshalb mit einer verhältniß- 
mäßig geringen, zeitlichen Freiheitsſtrafe belegt worden 
find. Von einem der Parteivertreter iſt auch hervorge— 
hoben worden, daß Redpath ſchwache Augen habe und 
jein Zeugniß aus diefem Grunde mit Mistrauen aufzu— 
nehmen fei. Seine Anerkennung des Eigenthums an dem 
fraglichen Meipel fünne nur mit Vorbehalt als beweijend 
angejehen werben. Dieſe Behauptung ift nicht jtichhaltig. 
Meine Erfahrung lehrt mich, daß ſelbſt völlige Blinpheit 
bie Fähigkeit, gewiffe Gegenftände an befondern Merf- 
malen zu erfennen, nicht ausfchlieft. Ich erinnere mich 
aus meiner eigenen Praxis eines bemerfenswerthen Falles, 
in dem ein ſtockblinder Mann einen Glasgriff, der ihm 
geftohlen worden war, ficher wiedererfannte. Er fand 
denſelben unter 20 verjchiedenen, ihm beim Kreuzverhör 
vom gegnerischen Advocaten vorgelegten Glasgriffen ohne 
Schwierigkeit und mit voller Sicherheit heraus. Der 
Meißel, der hier in Frage fteht, hatte aber bejonvere 
Kennzeichen: ein Sprung, der entlang dem Griffe ver- 
lief, und überdies war ein Stüdchen des lettern ganz 
abgefplittert. Dies find Merkmale bejonderer Art, bie 
dem Eigenthümer nicht entgehen fünnen. Redpath wurde 
obendrein in dieſer Angelegenheit zu zwei verſchiedenen 
malen vernommen, und wie wir aus den Zeugenausfagen 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingbam. 253 


ſowol des Schriftführers am Friedensgerichte, als bes 
hochwürdigen Erzdiafons Hamilton entnehmen, wurde 
er beim zweiten mal von dem Wertheidiger der Ange— 
Hagten, Der. Milwain, in ein jcharfes Kreuzverhör ge- 
nommen. Beidemal erfannte er jedoch den Meißel mit 
voller Beftimmtheit als den feinigen und gab jeine Gründe 
hierfür an. Warum aber bejchwor er dann in ber zweiten 
Hauptverhandlung vor dem Friedensrichter das Gegen- 
theil? — Die Erflärung iſt leicht zu finden. Sie ift 
in der menfchlichen Natur begründet, wenn fie auch nicht 
jehr ehrenvoll für den Zeugen ijt. Redpath war furz 
nach der Verurtheilung Brannagan’s und Murphy's ge- 
nöthigt, fich in die freiwillige Arbeitsanftalt zu begeben, 
in diejelbe zu flüchten, wenn man will. Es blieb ihm 
fein anderer Ausweg mehr. Er hatte durch feine ums» 
umwundene Ausfage den allgemeinen Unwillen feiner Ge- 
jellfchaftsfreife erregt. Seine Geliebte, die Schweiter 
Murphy's, Hatte ihn verlaffen. Er war verfemt, von 
allen gemieden, und als lette Zufluchtsftätte blieb ihm 
nur das Aſhlhaus. Es ift dies nicht überrafchend bei 
einer Bevölkerung, welche die heimfehrenden Zuchthäusler 
wie lorbeergefrönte Helden, im Zriumphe empfing. Er 
war ein armer, wenig willensjtarfer Menjch, er juchte 
wol durch die abgeänderte Zeugenausjage wieder etwas 
populärer zu werben. Es liegt Ihnen jeine neuerliche 
beihworene Ausfage vor, in der er nunmehr behauptet, 
alle Angaben, die er in Betreff des Meißels, der eine 
jo wichtige Rolle im Beweisverfahren fpielte, im Jahre 
1379 beeidet hatte, jeten irrig und unwahr gewefen. Wenn 
Sie diefer nachträglichen Correctur den Glauben ver- 
weigern und jeine urfprüngliche Angabe für wahr erachten, 
jo ift das Herfommen des Meißels, der unbejtrittener- 
maßen beim Einbruche als Werkzeug diente, bis auf Mur— 


254 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


phy's Wohnftätte zurückzuverfolgen und bildet ein äußerſt 
wichtige8 Belaftungsmoment gegen die Compagnie Bran- 
nagan und Murphy. Was die in dieſem Procefje von 
Murphy in feiner Eigenjchaft als Zeuge abgegebene Aus- 
fage betrifft, jo war die Art und Weiſe, wie er biefelbe 
vorbrachte, geradezu bedenklich. Zuerſt ſprach er fließend. 
Seine Darftellung machte ven Eindruck des Eingelernten. 
Als er aber in das Kreuzverhör genommen, aufgefordert 
wurde, dieſes oder jenes Detail zu beſchwören, da ftockte 
er, da antwortete er nur zögernd und nur auf einbring- 
liches Befragen. Selbit ohne Rüdficht auf die Zeugen- 
ichaft der Polizeiorgane, nur im Hinblid auf die Ausfagen 
des Reverend Mr. Budle, feiner Tochter und der andern 
unbefangenen Zeugen, denen gewiß voller Glaube beizu- 
mefjen ift, erjcheint der Beweis gegen Brannagan und 
Murphy fo gut wie erbradht. Wenn nun diefe Zeugen- 
ichaft der Polizei als eine ehrliche angenommen wird, jo 
ift der Beweis, der vorher jchon gelungen ſchien, dadurch 
vollfommen ergänzt worden. In ber jeßigen Berhandlung 
ift ein Zeuge aufgetreten, der perjünlich gegenwärtig war, 
als die Gipsabgüffe hergeftellt wurden, und ver für deren 
Nichtigkeit einfteht. Dr. Wilfon ift todt. Allſeitig wird 
zugegeben, daß er eine höchſt achtungswerthe und intelli- 
gente Perfönlichkeit geweſen iſt. Nichtsveftoweniger hat 
man angedeutet, er könne vom damaligen Bolizeileiter 
George Harfes getäufcht und misbraucht worben fein. 
Dr. Rilfon war e8 nämlich, der Murphy's Rock unter- 
ſuchte. Er that dies vorfichtigerweife, um ſich zu ver— 
gewiffern, ob in demſelben etwa Schnitte von dem Schwerte 
bemerkbar wären, mit dem der Reverend Mr. Buckle fich 
bewaffnet hatte, al8 er den Einbrechern entgegentrat. Bei 
‚diefer Unterfuchung fand Dr. Wilſon im Unterfutter des 
Nocdes jene Zeitung, zu welcher das von den Einbrechern 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 955 


im Pfarrhofe verlorene Stüd gehörte. Der fragliche Rod 
it ein ſehr defectes Kleidungsſtück, jehr abgetragen und 
zerrifjen, und es ijt in dem Umftande, daß das Zeitungs. 
papier jtatt in der Innentafche im Unterfutter ftaf, nichts 
Auffälliges zu erbliden. Es ift Zeugenfchaft dafür an- 
geboten worden, daß der Rod, welcher als jener Murphy's 
der Polizei übergeben wurde, eigentlich dem Redpath ge- 
hörte. Dies ift an fich wol möglich, denn die beiden 
Männer lebten ja thatjächlich in einem gemeinjchaftlichen 
Haushalte, und Berwechjelungen wären nicht unmöglich 
gewejen. Es ijt auch behauptet worden, gerade dieſer 
Rod jet von der Schweiter Murphy's, der Geliebten 
Redpath's, vorſätzlich durchnäßt und dann erjt in die 
Hände der Polizei ausgeliefert worden, um fie zu täujchen 
und glauben zu machen, daß Murphy den Rod in jener 
feuchten Februarnacht getragen habe. Es wird ferner 
geltend gemacht, Brannagan und Murphy hätten einen 
Hund mit fich geführt, und in der Unterjuchung vom 
Sahre 1879 habe nichts davon verlautet, daß man Hunde— 
puren gefunden habe. ‘Diejer Umitand tft jedoch keines— 
wegs erheblich, denn zur Zeit des Einbruches befand fich 
ein großer Wachthund in der Hundehütte nächft dem 
Pfarrhofe. Derfelde wurde auch am folgenden Morgen 
von der Kette gelaffen, und es wäre kaum möglich ge- 
wefen, feitzuftellen, ob etwaige Spuren von biejem Hunde 
oder einem andern berrührten. Kerner iſt darauf hin- 
gewiejen worden, die Zeugen hätten bejtätigt, daß bie 
beiven Bejchuldigten am Morgen nach dem Einbruche auf 
einem Wege in Alnwid eingetroffen wären, der nicht in Die 
Richtung nah Edlingham führt. Allein dies beweilt gar 
wenig. Sie konnten abfichtlich den Umweg gewählt haben. 
Dies würde auch mit der Ausjage jenes Polizeibeamten 
übereinjtimmen, der angab, daß die Fußfpuren im Garten 


256 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


des Pfarrhofes jich in einer nicht nah Alnwick führenden 
Richtung entfernten: Er habe die Fußſpuren noch eine 
furze Strede verfolgen fünnen, dann aber hätten fie fich 
auf dem harten Boden verloren. Es ift übrigens aus 
dem Datum des Einfchreibebuches dieſes Poliziften con- 
jtatirt worden, daß er diefe Beobachtungen wirklich ſchon 
am 7. Februar 1879, am Morgen nach dem Einbruche 
und nicht erjt nachträglich gemacht hat. — Was für 
Leute find aber eigentlich Edgell und Richardjon? Ueber 
ihr Vorleben find Sie genügend unterrichtet. Ueber ven 
Eindrud, den ihr perjönliches Auftreten zurüdläßt, ift 
wenig zu jagen. Er jteht noch friich in Ihrer Erinnerung, 
fie jind ja bier auf der Zeugenbanf erjchienen. Nichard- 
jon präjentirt fich genau jo wie man Einbrecher ſich typisch 
vorzuftellen pflegt. Laſſen Sie fich jedoch dadurch nicht 
zu falfchen Schlüffen verleiten! Meinen Sie wol, daß 
die Polizei einen folchen Vogel ohne weiteres hätte fliegen 
laſſen, wenn fie nicht jehr triftige Gründe dafür hatte? 
Edgell fieht allerdings weniger ruppig aus, allein darum 
doch nicht vertrauenswürdiger. Er vertritt fo recht den 
Typus des Friechenden, immer weinerlichen und demuths— 
voll zufammenfnidenden Bettlers. Sie haben feine Art 
fih zu geben auf der Zeugenbanf beobachten Fünnen. 
Lauten aber auch nur die Ausfagen diefer beiden in jenen 
Punkten wejentlich gleich, in denen fie — die Aufrichtig- 
feit ihres Geftänpdniffes vorausgeſetzt — übereinstimmen 
müßten? Nein... Beide, jowol Edgell als Richardfon, 
waren mit den Verhältniffen auf dem Pfarrhofe wohl- 
vertraut. Beide hatten vollauf Gelegenheit, fich über die 
Einzelheiten und Ergebniffe der Verhandlung wider Bran⸗ 
nagan und Murphy genau zu unterrichten. Sie waren 
jomit ganz leicht im Stande, eine erdichtete Erzählung über 
die Umftände des Verbrechens vorzubringen. Edgell und 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Eblingbam. 257 


Richardſon waren — umd dies ift ein Schwarzer Punkt — 
bes Mordes eines Polizeibeamten wegen in Unterjuchung 
gewejen. Das Dunkel, welches über jenem Mord ſchwebt, 
iſt noch immer nicht aufgehellt. Sie jelber geben überein- 
jtimmend zu, daß fie von dritten Perjonen zu ihrem Geftänd- 
niß gedrängt und von ihnen dazu bewogen worben find. 
Sie behaupten, fowol der Seelforger Edgell's als ihr Rechts- 
anmwalt hätte ihnen vwerfichert, daß ein Nechtsgutachten 
eingeholt worben fet und daß fie jedenfalls ftraflos aus- 
gehen müßten, wenn fie fich ſelbſt vor Gericht als die— 
jenigen angäben, die den Einbruch verübt hätten. Ihre 
Beitrafung fei unzuläffig, jo habe man ihnen gejagt, weil 
wegen jenes Verbrechens ſchon zwei Männer rechtsfräftig 
berurtheilt wären und feit Jahren als Zuchthausfträflinge 
dafür büßten. Sie glaubten feſt an die Nichtigkeit dieſer 
Rechtsauffaſſung, bis zu dem Augenblid, wo zu ihrer 
großen Ueberraſchung ihre VBerurtheilung erfolgte. Es 
it zwar nicht recht begreiflih, daß ein hervorragender 
Rechtsgelehrter wirklich einer folchen Rechtsanficht huldigen 
und ihr in einem Öutachten Ausdruck gegeben hat. “Dem 
Gerichtshofe ift dieſes Gutachten nicht vorgelegt worden, 
aber der Thatfache, daß man ein folches eingeholt bat, 
ift von feiner Seite widerfprochen worden. Sch muß aljo 
annehmen, daß die Leute in diefem Sinne belehrt worden 
find und in der darauf bafirten faljchen Zuverficht ihre 
Gejtändniffe machten. Im den wichtigften Einzelpunften 
gingen aber die Angaben der beiden weit auseinander. 
Sie ftehen mit den von dem Neverend Mr. Budle und 
jeiner Tochter abgegebenen Ausjagen mehrfach in grellem 
Gegenſatz. Wollen Sie ihnen glauben? — Es wird 
auch zu Gunften Brannagan’s und Murphy's angeführt, 
daß fie wiederholt um ihre Begnadigung gebeten !haben. 
Meine Erfahrung aber geht dahin, daß — die 
XXIII. 


258 Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlingham. 


von einer fchweren Verurtheilung betroffen worben find, 
in der Regel Begnadigungsgefuche überreichen, und daß 
fih immer gutherzige Menjchen finden, die folche Be— 
gnadigungsgejuche befürworten. 

„Die dermaligen Angeklagten find fammt und ſonders 
Männer von erprobtem guten Ruf und Wohlanftändigfeit. 
Dies darf Sie jedoch nicht hindern, fie alle oder einzelne 
von ihnen zu verurtheilen, wenn Sie die Anklage wohl 
begründet erachten. Wenn Ste aber nicht die Anjchauung 
gewonnen haben, daß die beſchuldigten Polizeiorgane, jet 
es im Uebereifer, jet es aus Böswilligfeit oder aus andern 
Gründen, fich vergangen haben, fo ift e8 Ihre Pflicht, 
dieſelben freizufprechen.’ 

Die Jury gab nach furzer Berathung ihr Verdict ab: 
Nicht ſchuldig! 

Der Richter erklärt fich mit dieſem Urtheil einver- 
Itanden. Er verfündigt, daß er ven Gefchworenen, Mann 
fir Mann, für ihre Mühewaltung — die Berhandlung 
hatte fünf Tage in Anfpruch genommen — eine Gebühr 
von 4 Guineen (gleich 84 ME.) als Entſchädigung an— 
weiſen werde, 

Mr. Boyd erbittet die Intervention des Richters dahin, 
daß die nicht unerheblichen Koften der Vertheidigung auf 
den Staatsfchat übernommen werden. Richter Denman 
erflärt fich in diefer Angelegenheit für incompetent, fpricht 
aber die Anficht aus, daß ein diesbezügliches an die Re— 
gierung gerichtete® Geſuch wol von Erfolg begleitet fein 
iverde. 

Die Angeklagten werden als ſchuldlos entlaffen. 


In England braucht die öffentliche Meinung, wenn 
ein Strafproceß allgemeines Auffehen erregt hat, längere 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 259 


Zeit, um fich zu beruhigen. Auch in dem vorliegenden 
Falle fam e8 zu einem Nachipiel in der Prefje und im 
Parlament. 

Der Seeljorger Epgell’s, ein Mann, ver jeit 23 Jahren 
dem geijtlichen Stande angehört und feit 16 Jahren als 
Vicar der St.-Paulsfirche in Alnwick angejtellt ift, Jevon 
I M. Berry, fühlte fih durch den ihm vom Nichter 
Denman gemachten Vorwurf, daß er Edgell und Richard- 
jon durch nicht ftichhaltige Zuficherungen zu einem Ge— 
jtändnifje bewogen habe, in feiner Ehre gefränft und 
wendete fich mit einer vom 26. Februar 1889 datirten 
Einjendung an die „Times“, um feinen Standpunkt dar- 
zulegen. Er fagt in feiner Erflärung im wejentlichen: 
„Es ift und bleibt ein feeliiches Geheimniß, was Edgell 
und Richarbfon veranlaßt hat zu geftehen, daß fie, und 
jie beide allein, den Einbruch verübt haben; durch dieſes 
Bekenntniß haben fie eine Kerferjtrafe von fünf Jahren 
über fich felbit heraufbeichworen. Edgell hat vor dem 
Richter Denman in Newcaftle angegeben, ich ſei es ge- 
wejen, ver ihn zu dem Gejtänpniffe bewogen habe, weil 
ich ihm verfichert hätte, er könne für biejes Verbrechen 
nicht mehr beitraft werden. Der rechtsgelehrte Richter 
bat auf diefe Ausfage Edgell's bin, ohne mich vorher zu 
hören, einige jehr jcharfe Bemerkungen über mein Ver— 
halten fallen laffen. Ich war von der Anklage als Zeuge 
vorgeladen, bin aber nicht vorgerufen und vernommen 
worden, und fonnte daher vor Gericht feine Erklärung 
abgeben. Sch bin nicht verhört worden, obgleich ich, 
nachdem ich Edgell's Ausjage in den Zeitungsblättern gelejen 
hatte, ven Anfläger ausdrücklich und fjchriftlich erjuchte, 
er möge mich vorrufen laffen. Sch bin aljo verurtheilt 
worden, ohne gehört zu fein. Edgell hat nur einen Theil 
deſſen berichtet, was ich mit ihm in diefer Angelegenheit 

17 * 


260 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 


bejprochen habe. Ich erklärte ihm nachbrüdlich, er würde 
nur dann unbebingt ſtraflos ausgehen, wenn ber Staats- 
jecretär des Innern ihm im vorhinein «freies Geleit » 
zuficherte. Es ijt wahr, ich habe um jolches «freies Ge- 
leit» für Edgell angefucht, ich habe e8 aber nicht erwirfen 
fönnen. Ich habe Edgell jedoch hiervon verjtändigt und 
ihm auseinandergejegt, daß ein worbehaltlojes Geſtändniß 
ihn nicht vor einer Verurtheilung jchügen könne. Dennoch 
habe ich es als Geiftlicher und Seelſorger für meine 
Pflicht gehalten, ihm in das Gewiffen zu reden und ihn 
aufzufordern, troß diefer möglichen Gefahr reuig feine 
Unthat zu befennen, um die wegen feines Werbrechens 
ungerecht verurtheilten Männer dem Kerfer zu entreißen. 
Gerade deswegen bleibt das Räthſel ungelöft, was ihn 
und Richardſon bewogen haben mag, fich als die Thäter 
anzugeben, wenn fie nicht wirklich die Einbrecher waren. 
Der rechtsgelehrte Richter fagte in jeinem Nefume laut 
den jtenographiichen Aufzeichnungen des «Newcastle 
Evening Chronicle» vom 23. Februar wörtlich: 
„«“Sowol Edgell als Richardſon waren des Mordes 
an dem Polizeioffizier Gray in Edlingham im Jahre 1873 
bezichtigt worden. Es ift jehr auffallend, daß dieſe alte 
Gejchichte bei diefem Anlafje aufgerührt wurde. Edgell 
jelbjt hat bei ver Verhandlung zugegeben, jener Herr, ver 
fich fo eifrig darum bemühte, daß die angeblich unjchulpig 
Verurtheilten ihre Freiheit wiedererlangen möchten, und 
dies durch das Geſtändniß Edgell's und Richardſon's zu 
erreichen ftrebte, habe im Laufe der Beiprechungen, bie 
er mit ihm gehabt, der Befürchtung Ausdruck gegeben, 
Richardſon könnte fich als Mörder jenes Polizeioffizieres 
jchuldig befennen. Warum aber zeigte jener Herr diejer- 
wegen Bejorgnig? Was in der Welt Fonnte ihn, ver 
ſich jo befliffen zeigte, ein ergangenes ungerechtes Urtheil 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 261 


richtig zu ftellen, veranfaffen, eine jolche Unruhe darüber 
an den Tag zu legen, ob Richardſon fich jenes Mordes 
ihuldig befennen würde oder nicht? Iſt e8 denn nicht 
auch im Imterefje der Gerechtigfeitspflege und der öffent: 
lichen Moral gelegen, daß Richardjon jene Unthat ein- 
gefteht, wenn er fie begangen hat? — Ich kann es nicht 
begreifen. Es jeheinen bier geheimnißvolle Motive mit- 
zufptelen. Einerſeits der Drud, der von jener Perjön- 
[ichfeitt ausgeübt wird, auf daß die Wahrheit in Sachen 
eines dunkeln Verbrechens zu Tage trete, und gleichzeitig 
die fieberhafte Beſorgniß, daß derſelbe Menſch den an- 
geblich von ihm an einem wehrlojen Polizeibeamten be- 
gangenen abjcheulichen Meuchelmord befennen möchte. 
Warum jollte er gerade in diefem alle zurüchaltend 
bleiben? Am Ende gar deswegen, weil man auf irgend- 
eine Weije fich die Anſchauung gebilvet hatte, mit ber 
DVerurtheilung Brannagan's und Murphy's jet ein arger 
Fehler begangen worden. Sollte etwa jemand es mit 
jeinem Gewiſſen vereinbarlich gefunden haben, an ihrer 
Stelle andere Perjonen als die Thäter vorzuführen, un— 
befümmert darum, ob fie auch wirflich ſchuldig wären ? 
Welch eigengeartetes Gewilfen müßte dies fein! Zwei 
Perjonen dazu veranlaffen, daß fie fich ftatt Brannagan 
und Murphy als Einbrecher ftellen, und diefes Geſtändniß 
durch die Ausficht hervorloden, daß dieſes Bekenntniß 
eines nicht begangenen Verbrechens, das obendrein voraus— 
fichtlich jtraflos bleiben werde, fie vor der drohenden, weit 
größern Gefahr zu jehüten vermöge, wegen eines Mordes 


verfolgt und verurtheilt zu werden? — Sollte Dies ber 
Gedankengang jener Berjönlichfeit geweſen fein, die fich 
unberufen in die Unterfuchung mengte?....» 


„Ich habe dieje jo energijch aufgeworfene Frage durch 
meine Zeugenausjage beantworten wollen. Die Perjün- 


262 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


lichfeit, auf die fich die Worte des Richters beziehen, bin 
ich. Ich Habe mich bereit gezeigt, in offener Gerichts- 
verhandlung auf meinen Eid die Erklärung abzugeben, 
und ich habe auch fehriftlich dem Ankläger gegenüber er- 
klärt: e8 fei ganz und gar unrichtig und feinerlei be- 
gründeter Anlaß zur Bermuthung dafür gegeben, daß ich 
zu irgendeiner Zeit die Beſorgniß gehegt oder gezeigt 
hätte, Edgell oder Richardſon könnten die Ermordung des 
Polizeibeamten Gray zugeftehen. Ich habe zu feinem von 
beiden darüber ein einziges Wort gejprochen. Ich bin 
der fejten Ueberzeugung geweſen, daß Edgell fein Ge- 
ſtändniß wegen des Cinbruches ablegte, nicht etwa um 
daburch den weit jchwerern Verdacht des Meuchelmorbes 
von fich abzujchütteln, ſondern einzig und allein in ber 
Erfenntniß feiner Pflicht, unſchuldige Menjchen von einer 
Buße zu entlajten, die ihnen um eines Verbrechens willen 
aufgelegt worden war, welches er begangen hatte. 
„Damit habe ich wol genug gejagt. Die nadte That- 
jache iſt, daß Edgell und Richardſon, trotzdem fie hinreichend 
über die Tragweite ihres Entjchluffes unterrichtet waren, 
fih freiwillig zum Geftändnifje gemelvet haben, fie hätten 
den Einbruch begangen. Sie gaben dieje Erklärung zuerjt 
vor dem Yuftizbeamten Herrn Elsdon und jpäter vor dem 
Polizei-Dberinjpector YButcher ab. Sie wiederholten ihr 
Geftändnig vor dem Richter Baron Pollock und wurden 
von ihm zu fünfjähriger jchwerer Zuchthausftrafe ver- 
urtheilt. Sie haben das gleiche Geftänpniß vor dem 
Triedensrichter in Alnwick beeidet und fie haben es in ber 
legten Verhandlung unter ihrem Zeugeneide vor bem 
Richter Denman in Newcaftle zu einer Zeit wiederholt, 
als fie fich feiner Illuſion mehr darüber hingeben konnten, 
welche Folgen ihr Bekenntniß nach fich ziehen mußte. Es 
ijt wahr, in ihren jeweiligen Ausjagen find gewiffe Wider— 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 263 


iprüche vorgefommen. Sie haben nicht das Gleiche darüber 
ausgejagt, wer den Plan zu dem Einbruche zuerjt aus: 
geheckt hat und wer von ihnen beiden zuerjt in das Haus 
eingedrungen ift. Dieſer Widerjpruch ift aber von dem 
legten Ankläger mit Recht als der ſchlagendſte Beweis dafür 
gedeutet worden, daß feine Verabredung zwijchen ihnen 
jtattgefunden bat. Dieje Widerfprüche entjpringen aus der 
Natur des Menjchen, der, auch wenn er jeine Schuld zu— 
geiteht, gern noch Vorbehalte macht, fich als den Berführten, 
den Genofjen aber als ven eigentlichen Anftifter zum Böfen 
hinstellen möchte, auch wenn er in der Hauptjache die 
Thatjachen unummunden zugejteht. — Ich überlaffe es 
getrojt der Beurtheilung der öffentlichen Meinung, ob die 
Löſung des pipchologijchen Räthſels auf dem Wege möglich 
ist, auf den der rechtsgelehrte Richter zu weifen für gut 
befunden hat. Die öffentliche Meinung mag entjcheiden, 
ob ich wirklich meinen Einfluß auf das Gemüth dieſes 
Menſchen, Edgell, misbraucht habe — denn ich bemerfe 
bier ausdrüdlich, daß ich jeinen Genofjen Richardjon vor 
jeiner Verhaftung gar nie gejprochen habe —, ob ich 
Edgell zum Geſtändniß eines Verbrechens, deſſen er nicht 
jchuldig war, veranlaßt habe, um ihn dadurch vor den 
möglichen Folgen zu bewahren, die ihm durch die Ent- 
hüllung feines Antheil8 an einer weit jcheußlichern von 
ihm mitbegangenen Unthat drohte. Und dies jollte bie 
einzig mögliche Löſung dieſes pſychologiſchen Problemes 
jein!? 

„Die «Times» hat in ihrem Berichte einen äußerſt 
wichtigen Umſtand erwähnt, ver in ver Verhandlung nahezu 
unbeachtet vorüberging. Es iſt das Moment der um— 
wicelten Füße der Einbrecher. Was ich von diefer That— 
jache weiß, bejchränft fich auf das Nachftehende. Am 17. 
November 1887 machte Edgell mir und Herrn BPerch 


264 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


zum erſten mal das Gejtändnig. Er fagte, als er und 
bie Einzelheiten ver That beichrieb, er und fein Genoffe, 
den er damals noch nicht mit Namen nannte, hätten in 
einem der Nebengebäude zufällig einen alten zerrifjenen 
Sad gefunden, denſelben in Streifen gejchnitten und mit 
"diefen die Stiefel ummidelt, um dadurch das Geräuſch 
ihrer Schritte zu dämpfen. Eine Unterjuchungscommiifion 
iſt vom Staatsfecretär des Innern im Auguft 1888 an— 
geordnet worden. Der BVertreter der Yuftizbehörve, der 
beauftragt war, dieſe Commiffion zu leiten, war der 
Rechtsanwalt Mr. Dransfield von Newcaſtle-on-Tyne. 
Sch ſelbſt führte ihn in meinem Wagen zu einem Guts- 
püchter Namens Mordue in Edlingham. Ich Hatte nie 
vorher mit Herrn Mordue verfehrt, ihn weder gejehen 
noch gejprochen. Der Pächter war der feften Leber: 
zeugung, daß Brannagan und Murphy die Einbrecher 
gewejen waren, allein in feiner Herrn Dransfield er- 
ftatteten Darftellung des Ereignifjes, die in meiner Gegen- 
wart, unaufgefordert und ohne jedwede Suggeitivfrage 
erfolgte, und die zweifello® ohne das geringfte Bewußt- 
jein über die Tragweite feiner Ausfage abgegeben war, 
erzählte er: «Ich errinnere mich ganz gut, daß ber 
damalige Bolizeichef Herr George Harkes mir noch am 
Abend deſſelben Tages, an dem der Einbruch erfolgte, 
gejagt hat, daß die Kerle, die aus dem Speijezimmer- 
fenfter jprangen, die Füße wahrjcheinlich mit alten Feten 
umwidelt gehabt haben werben.» Auch Herr Morpue 
ber Jüngere, der Sohn des Gutspächters, erinnerte fich 
daran, daß fein Vater ihm dieſes damals mitgetheilt 
hatte. — Dieje Thatjache ift in der legten Verhandlung 
als Beweismoment nicht zur Geltung gelangt.” 

So viel aus dem umfangreichen Briefe des geijtlichen 
Herrn. Das Nachipiel im Parlament klang aus anderm 


Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 265 


Zon. Während nach dem Belanntwerben des Gejtänd- 
nifje8 der Compagnie Edgell und Richarbfon ein Schrei 
der Entrüftung über den erfolgten Juſtizmord durch bie 
Lande ging und dem Staatsjecretär des Innern die Be— 
willigung einer ausgiebigen materiellen Entihädigung an 
die unjchuldig Verurtheilten förmlihd im Sturme ab- 
gezwungen wurde, hat in der Sitzung des Unterhauſes 
vom 7. März 1889 der Abgeorbniete Sir G. Campbell 
den Minifter über feine Abfichten interpellirt und von 
Mr. Matthews nachitehende Antwort erhalten: 

„Sch Habe ven wirklich recht ſehr verwidelten und 
ichwierigen Fall ernfthaft und forgfältig erwogen und bin 
zu dem Schluffe gelangt, daß es nicht thunlich ift, noch 
weitere Erhebungen zu pflegen oder noch weiter gehende 
Unterfuchungen einzuleiten, um ver Wahrheit auf den 
Grund zu fommen und neue Thatjachen aufzudeden. Der 
Generalanwalt hat den ftricten Auftrag ertheilt, für bie 
legte Berhandlung alles Material herbeizufchaffen, das 
irgendwie Licht in das Dunkel bringen könne. Dies ift 
auch gejchehen. Es mußte freilich der Beurtheilung des 
intervenirenden Anwaltes überlafjfen bleiben, welche von 
ben Zeugen er zur Zeugenjchaft berufen wollte Die 
Herren Perry und Perch waren wol vorgeladen worden, 
man hat fie jedoch nicht zur Abgabe ihrer Ausjagen auf- 
gefordert, denn die ihnen von Edgell und Richardſon 
gemachten Mittheilungen ſtanden nicht im Zujammen- 
hange mit der Anklage wider die Poltzeiorgane, Doch 
waren fie vorgeladen und fonnten, wenn die Bertheidigung 
den Wunſch ausgefprochen hätte, fofort berufen werben. 
Herr Perry war auch feinerzeit von dem Polizeirichter, der 
das Verhör mit Edgell und Richardſon abhielt, vor- 
geladen geweſen und fonnte jchon damals einem Kreuzverhör 
unterworfen werben. Die Geldfumme, welche die Re- 


266 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


gierung für Brannagan und Murphy als Entſchädigung 
anmwies, it zu Handen ver hierzu deſignirten Curatoren 
ausgezahlt worden. Es wird dem Parlament anläßlich 
der Nachtragseredite Rechnung darüber gelegt werben. 
Der Bericht des Rechtsanwalts des Schatamtes Tann 
dem Haufe nicht mitgetheilt werden. Er enthält ver- 
traulihe Angaben, die zu öffentlicher Erörterung nicht 
geeignet find, auch ift das Plenum des Haufes nicht im 
Stande als Yuftizhof zu fungiren. Ich fühle mich jowol 
berechtigt als verpflichtet, hier zu erklären, daß ich nicht 
allein auf Grund einfeitiger Berichte vorgegangen bin, und 
erit dann einen Schritt zur Begnadigung Brannagan’s 
und Murphy's gethan habe, als Edgell und Richardfon 
geitanden und ihr Bekenntniß aufrecht erhalten hatten, 
troß der Warnung, daß fie fich hierdurch ftraffällig 
machten, und wirklich zu fünfjähriger Zuchthausftrafe 
verurtheilt worden waren.‘ 

Sir G. Campbell fragte weiter, ob der Ankläger 
dahin inftruirt gewejen fei, nur diejenigen Beweismomente 
vorzubringen, welche möglicherweije zu einer Verurtheilung 
führen konnten, oder ob er beauftragt war, überhaupt 
alle Beweiſe erheben zu laſſen, welche Licht über ven 
bunfeln Hergang verbreiten, alfo auch die Glaubwürbig- 
feit Edgell's und Richardfon’s erjchüttern konnten? 

Minifter Matthews entgegnet: von feiten des 
Minifteriums fei dem Kronanwalte der ftricte Auftrag 
ertheilt worden, die Anklage nicht als Selbſtzweck zu be— 
handeln, fondern alles zu thun, was zur Erforichung der 
Wahrheit dienlich fein könne. 

Sir ©. Campbell erwibdert, daß er anläßlich ver 
Berathung der Nachtragseredite auf den Gegenitand 
zurüdfommen werde, um nachzumweifen, daß nicht dieſer 
Tall als jolcher einen unbefrienigenden Abjchluß gefunden 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 267 


habe, fondern daß überhaupt das englische Strafgejeg an 
barbariichen Beitimmungen kranke und die Strafproceß— 
ordnung, wie fie derzeit beitehe, vollkommen unfähig jet, 
die Wahrheit an den Tag zu bringen. 


Damit jchloß vorläufig die durch diefen jonderbaren 
Proceß hervorgerufene Bewegung. Ob diejelbe noch Folgen 
haben wird, muß dahingeſtellt bleiben. Der unleugbar 
große Rechtsfinn der Briten wird eben durch ihre Vor- 
liebe für das Althergebrachte. und ihre Scheu, an ein- 
gelebten Ginrichtungen zu rütteln, nur zu ſehr be— 
einträchtigt und gehemmt. Der ganze Berlauf dieſes 
merfwürdigen Proceſſes aber veranlaßt uns doch zu 
einigen Betrachtungen. 

Die Anklage und die Verhandlung wider die Polizei- 
organe, deren Thätigfeit die Beichaffung des Beweis: 
material® wider die in ber erjten Verhandlung ver- 
urtheilten Angeklagten zu danfen war, iſt das Ergebniß 
ftarrer Conſequenz des Rechtsverfahrens, eine Conſequenz, 
die man freilich nicht überall gezogen haben würde. Be— 
merfenswerth, ja erftaunlich ift aber, daß die Zeugen 
ausjagen in diejer Verhandlung ganz geeignet erjcheinen, 
wieder Zweifel an der Nichtigkeit des zweiten Urtheiles 
zu erweden und bie Frage, ob Brannagan und Murphy 
nicht doch die Einbrecher geweſen jind, eine Frage, die 
vorher gelöft zu jein jchien, von neuem aufzırwerfen. 

Die Bedeutung ded Nefume des Richters Denman 
liegt darin, daß er das Schuldig über Brannagan und 
Murphy zu rechtfertigen verjucht und die Aufrichtigfeit 
des von Edgell und Richardſon abgelegten Gejtänpnifjes 
in Zweifel zieht. Die Meinung eines jo gewiegten und 


268 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 


erfahrenen Criminaliften, der völlig unbefangen den Er- 
gebniffen dreier, einander ergänzenden Verhandlungen 
fi gegenüber befand und unter dem perjönlichen und 
unmittelbaren Eindrud der Vernehmung aller betheiligten 
Hauptperjonen des Dramas jtand, ijt gewiß von fehr 
beachtenswerthem Gewichte. 

AS die beiden Burjche, Edgell und Richarbfon, im 
Herbit 1887 mit dem überrafchenden Geftänpniß hervor- 
traten, daß fie die eigentlichen Einbrecher im Pfarrhofe 
zu Edlingham gewejen feien, und daß fie, wenn auch 
unabjichtlich, ven Pfarrherrn und feine Tochter verwundet 
hätten, daß aljo Brannagan und Murphy unfchuldiger- 
weije dieſes Verbrechens wegen zu lebenslänglicher Zucht- 
hausarbeit verurtheilt worden wären — da mußte ein 
verhängnißvoller Irrthum der Nechtiprechung, ein Juſtiz— 
mord angenommen werden. Die gejtändigen Verbrecher 
wurden am 24. November 1888 vor Gericht geftellt und 
ihrerjeitS verurtheilt. Ein Zweifel ſchien nicht mehr mög- 
(ih. Brannagan und Murphy wurden der veralteten 
und verwerflichen englifchen Rechtsanfchauung gemäß nicht 
rehabilitirt, jondern begnabigt; dann aber gefeiert und 
durch eine für ihre fociale Lebensſtellung ſehr beveutende 
Dotation entfchädigt. Die Thatjache, daß Edgell und 
Richardſon als Folge ihres Befenntniffes ohne Wider- 
ipruch ihre VBerurtheilung zu fünfjähriger jchwerer Kerfer- 
haft hinnahmen und die Strafe antraten, leiftete bie 
jicherfte Gewähr für die Wahrheit ihrer Angaben. Keine 
Erklärung vermag das Gewicht dieſes Umftandes zu be- 
ſeitigen. Mochten fie auch urjprünglich der Meinung 
gewejen fein, fie müßten ftraflos bleiben, eine Anjchauung, 
bie nach englijcher Rechtiprechung nicht al8 ganz unbegründet 
verworfen werben darf, jo find fie doch feitvem eines 
Beſſern belehrt worden und dennoch unentwegt bei ihren 


Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingbam. 269 


Ausjagen verblieben. In dem nunmehr wider die Polizei- 
organe wegen unerlaubter Verabredung zur Ueberführung 
Unjchuldiger eingeleiteten Strafproceß traten fie als 
Hauptzeugen auf und wurden entiprechend einer der vielen 
Anomalien englijcher Procekführung als folche beeibet. 
Im Kreuzverhör haben fie wol zugeftanden, daß bie 
faljche Sicherheit, in der fie fich wiegten, die Triebfeder 
ihres Vorgehens gewefen jei, und baß fie bis zu ihrer 
wirflich erfolgten Verurtheilung feſt daran geglaubt hätten, 
fie müßten jtraflo8 ausgehen. Allein fie erkannten doch 
wol jchon während ver Verhandlung, wie kritiſch ihre Lage 
fich geftaltete, und hielten nichtsdeſtoweniger an ihrer Er- 
klärung fejt. Aber dies Eingeſtändniß, daß fie auf Grund 
eines Rechtsgutachtens an ihre Straflofigfeit geglaubt 
hatten, hat bei dem Richter und den Gejchiworenen tiefen 
Eindruck gemacht und quälende Zweifel hervorgerufen, 
ob denn thatfächlich die wahren Verbrecher derzeit im 
Kerfer büßen. Bei der gegen fie jelbit durchgeführten 
Berhandlung hatte man ausjchlieglich auf ihr Geſtändniß 
gefußt und von der genauen Erwägung und Erörterung 
der fejtgeftellten Thatumftände Abſtand genommen; num 
aber, da dies doch wieder gejchah, mußten Bedenken laut 
werden, bie man für alle Zeit hätte als ausgejchloffen 
erachten jollen. 

Die engliſche Strafproceforpnung fennt eben feine 
Wiederaufnahme des Verfahrens, 

Jeder der drei, dafjelbe Verbrechen betreffenden Proceffe 
mußte jelbjtändig durchgeführt werden, und darum Flaffen 
auch in jeder diefer Verhandlungen Lücken, deren bloßes 
Borhandenfein die Mängel der in dem Infelreiche geltenden 
Strafprocefordnung tlluftrirt. 

Der letzte diefer drei Proceffe, den wir hier etwas 
ausführlicher wiedergegeben haben, hatte, wie Wichter 


270 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


Denman in feinem Refume betont, feineswegs den Zived, 
die Trage zu enticheiden, ob Brannagan und Murphy 
oder Edgell und Richardfon die Einbrecher geweſen find. 
Die Gejchworenen mußten fich darauf befchränfen, zu 
erklären, ob die Polizeiorgane ihren Wirfungsfreis über- 
ichritten, ob fie „im Bewußtjein ungefeßlichen Vorgehens 
die Verbachtsgründe gegen Brannagan und Murphy 
künſtlich verftärkten‘‘ oder nicht. Allein die Beantwortung 
diefer Trage Schloß auch die Beantwortung der nicht 
geftellten Frage ein. Wenn die ebengenannten Individuen 
jchuldig waren, ift die der Jury vorgelegte Frage mindeſtens 
überflüffig.. Wenn andererfeits Brotmnagan und Murphy 
unſchuldig waren, Eonnte freilich der Zweifel entjtehen, 
ob die Polizei die Beweismittel jo, wie fie diefelben eruirt 
hatte, dem Gerichte unterbreitete, oder ob fie etwas „nach— 
geholfen” habe. Es ift immerhin beruhigend, daß weder 
dem Richter noch den Gefchworenen von 1879 irgendein 
Unrecht zur Laft fallt. Auch der Richter von 1889 mußte 
betonen, daß ein geradezu zwingender Indicienbeweis gegen 
die Angeklagten von damals vorlag. Auch ihre DVer- 
theidigung bat ihre Pflicht erfüllt. Merkwürbigerweife 
bat aber die legte Verhandlung wider die Polizeiorgane 
— troß der dazwifchenfallenden Verurtheilung der ge— 
ftändigen Edgell und Richardfon — eine Befräftigung und 
Verſtärkuug der damals beigebrachten Indicien herbei- 
geführt. — Uns iſt allerdings aufgefallen, daß in gar 
feiner der drei Verhandlungen bie Flinte erwähnt wurde, 
die uns ein fehr beveutjames Beweismittel zu fein jcheint. 
Freilich lehrt die criminaliftiiche Erfahrung, daß alle 
Indicien täufchen und irreleiten können. Es bleibt daher 
troß alledem möglich, daß Brannagan und Murphy uns 
jchuldig, daß Edgell und Richardſon die eigentlichen 
Thäter gewejen find, um jo mehr da, wie wir fchon 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 271 


vorher gejehen haben, der Umſtand als entjcheidend an- 
gejehen werben kann, daß die leßtern, nachdem ihnen 
bie Folgen ihres Geſtändniſſes inzwifchen Har geworben 
waren, dennoch bei ihrer Ausfage geblieben find. Nichts- 
bejtoweniger find nicht alle Zweifel beſeitigt. Brannagan 
und Murphy, jowie Edgell und Richarbfon — par nobile 
fratrum — find anrüchige Gejellen und verdienen als 
Menſchen feinerlei Sympathie. Es handelt fih nur um 
die Rechtsfrage, und diefe ift nicht in befriedigender Weife 
gelöft, weil — wie der Interpellant im Parlament richtig 
hervorhob — die englifche Strafprocekordnung nicht die 
Mittel bietet, die Wahrheit gründlich zu erforfchen. 

Befriedigend ift nur, daß diefe unbeholfenen Rechts- 
formen in der Hand fo hervorragend tüchtiger Menschen, 
wie e8 die englifchen Richter durchweg find, nicht mis» 
braucht werden, und als ein wahres Glüd für die britifche 
Rechtspflege darf man es bezeichnen, daß die Polizei- 
organe, denen in England eine weit verantwortungs- 
reichere und jehwierigere Aufgabe als auf dem Continent 
zufällt, vorwurfsfreti und unbejcholten aus dem gegen fie 
angeftrengten Proceß hervorgegangen find. 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 
(Mord. — Yoigny in Franfreich.) 
1888. 


Am 9. Februar 1888 zog ein Fiſcher aus Joigny, 
der in der Nonne fijchte, einen menjchlichen Arm aus 
dem Waffer, ver offenbar erjt vor kurzem vom Körper 
getrennt und noch einigermaßen befleivet war. 

Faſt gleichzeitig verbreitete fich die Nachricht, der Uhr: 
macer DVetard aus Joigny jet verſchwunden und jein 
Laden ausgeraubt. Vetard war ermordet und fein Leich- 
nam zerjtüdt worden. Die Mörder hatten einzelne 
Körpertheile ind Waſſer geworfen, die wieder an bie 
Dberfläche famen und in gerichtliche Verwahrung ge- 
nommen wurden. Die fofort eingeleitete Criminalunter- 
juchung fuchte das Verbrechen aufzuflären und die Mörder 
zu entdecken. 

Eine Familie von Landftreichern Namens Mouillon 
wurde eingezogen. Man glaubte die Schuldigen beveits 
ermittelt zu haben. Aber das Gericht war auf faljcher 
Fährte. Die Gefangenen wiejen ein unanfechtbares Alibi 
nah und mußten auf freien Fuß gejegt werben. Der 
Unterfuhungsrichter, deſſen Nachforſchungen erfolglos ver: 
liefen, machte fich ſchon darauf gefaßt, das Verfahren 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 273 


einſtellen zu müffen, da meldete fich ein älteres Fräulein 
und theilte mit, der Uhrmacher Vetard jei von einer 
Dirne in einen Hinterhalt gelodt, ermordet und beraubt 
worden. Nun hatte man fejten Boden, die Unterfuchung 
fonnte im Mai 1888 abgejchloffen und die Verhandlung 
der Sache vor dem Schwurgericht in Aurerre anberaumt 
werden. 

Eine ungeheuere Menge von Menjchen jtrömte in die 
Heine burgundiiche Stadt. Nicht nur ganz Joigny und 
die Nachbarorte jchienen anweſend zu fein, jelbit aus 
Paris waren Leute zugereift, die dem merfmwirbigen 
Proceffe beiwohnen wollten. Der Feine Verhandlungs- 
jaal war überfüllt, die Gänge und Gorridore des Ge— 
richtshaufes wimmelten von Zuhörern, jogar vor ben 
Eingangsthoren ftanden Hunderte in fieberhafter Er- 
regung. Es war fat unmöglich, für die Zeugen Raum 
zu jchaffen. 

Bor dem Präfidententifche find in großen Weißblech— 
fijten die corpora delieti aufgejtellt, ferner der Tiſch, 
auf dem ber Leichnam zerſtückt worden ift, und zwei Trag— 
förbe aus Weivengeflecht, in denen die Leichentheile zum 
Fluſſe gebracht fein jollen. 

Um 11 Uhr 15 Minuten wird die Verhandlung von 
dem Borfigenden Edmund Victor Lefranc eröffnet. 

Das Auditorium iſt in ungewöhnlicher Aufregung. 
As die Angeklagten vorgeführt werden, ertönen wilde 
Rufe und Verwünfchungen: „Nieder mit den Mördern! 
führt fie zum Zovel....“ Die Volksſtimme hat fie 
bereit8 gerichtet. 

ALS Angeklagte erjcheinen: 

1) Edme Arthur Alfred Morand, geboren in 
Villiers-Vinend am 9. März 1839, Tagelöhner in 
Joigny. 

XXIII. 18 


274 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


2) Julius Octav Bacher, geboren in Montacer 
am 5. September 1850, Gaftwirth in Joigny. 

3) Sofephine Martin, geboren in Yoigny am 
17. November 1861 und wohnhaft bajelbit. 

4) Eugenie Martin, verehelichte Clergeot, ges 
boren in Joignh am 31. Juli 1856 und wohnhaft 
dajelbit. 

5) Amelie Digard, verehelichte Bacher, geboren 
in Paroy-ſur-Tholon am 14. Januar 1859, Wirthin in 
Joigny. 

Der Staatsanwalt Le Bourdelles vertritt die An— 
flage. Der. Lailler, Advocat aus Paris, vertheidigt 
den Angeklagten Morand. Advocaten aus Aurerre: bie 
Herren Savatier-Larodhe, Remacle und Herolp, 
haben die Vertheidigung der andern Angeklagten über- 
nommen. | 

Der Schriftführer Lalmand verlieft die Ankflage- 
ichrift, welche die Ergebniffe der Vorunterfuchung zu— 
jammenfaßt und fodann jchliekt: 

„Morand, Vacher und Joſephine Martin werben 
angeklagt: 

„Am 8. Vebruar 1888 in Joigny, Departement der 
Yonne, gemeinschaftlich einen vorbedachten und verab— 
rebeten Mord an der Perſon des Herrn Vätard verübt 
zu haben, mit der Erjchwerung, daß dieſer Mord von 
langer Hand vorbereitet und in tüdifcher Weiſe aus- 
geführt ſich als Meuchelmord darftelt. Mit dem 
Meuchelmord concurrirt ein Diebftahl, begangen am 
gleichen Drte und zur felben Zeit, indem von der Perion 
des genannten Herrn Vetard Schlüffel widerrechtlich ent» 
nommen wurden. Diejer Diebftahl qualificirt fich durch 
die Theilnahme mehrerer Perfonen als Gejellichaftspieb- 
jtahl, begangen des Nachts in einem bewohnten Haufe, 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 275 


und mit Einbruch, indem zur gleichen Zeit und am 
gleichen Drte mehrere der Angeflagten durch widerrecht- 
liche Mittel in den Laden des vorgenannten Herrn Vetard 
gebrungen find und fich dort eine, im Betrage nicht genau 
befannte, größere Summe Geldes, Uhren, Juwelen und 
andere Werthjachen zum Nachtheile des Eigenthümers 
in fträflicher Weife angeeignet haben. 

„Sugente Martin, verehelichte Elergeot, wird angeklagt, 
jich des vorgebachten Mordes mitſchuldig gemacht zu haben, 
indem fie den drei Hauptangeflagten behülflich war zur 
Vorbereitung und Ausführung der That. 

„Sugenie Martin, verehelichte Elergeot, und Amelie 
Digard, verehelichte Vacher, werden angeklagt, fich zu 
Mitjchuldigen des vorgedachten Diebftahles gemacht zu 
haben, indem fie die gejtohlenen Gegenſtände ganz ober 
theilweife verhehlten, obgleich fie von dem verbrecherijchen 
Ursprung derjelben genügende Kenntniß hatten.’ 


Die Angeklagten hören die Berlefung ver Anklage: 
Ichrift fchweigend an. Nur Bojephine Martin und Frau 
Bacher fcheinen bewegt und vergiefen einige Thränen. 
Die andern bliden theilnahmlos um fich. 


Noch che in die Verhandlung eingetreten wird, er— 
hebt fih Mr. Lailler, Bertheidiger des Morand, zu 
einem Antrage, Er jagt: 

„Herr Präfident! Im einem Zeitungsblatte von 
Joigny ftand geftern Morgen, daß ein an Joſephine 
Martin nach deren Verhaftung gerichteter Brief zwar 
beichlagnahmt worden fei, jedoch nicht unter den Acten 
ericheinte. In dem betreffenden Artikel wird ſogar be- 
hauptet, man habe die Preſſe erfuccht, nichtS darüber zu 
veröffentlichen. Ich erlaube mir daher die ergebene An— 
frage an den Herrn Staatsanwalt: Eriftirt ein folcher 

18* 


276 Der PBrocef wider den Tagelöhner Morand, 


Brief? Was ift darin enthalten? Was iſt aus ihm 
geworden ?“ 

Der Yournalartifel, der in dem ‚„‚Radical de !’Yonne‘ 
erſchien, Iautete: 

„Was ift aus dem bei ver Poft in Yoignhy beichlag- 
nahmten, an die Joſephine Martin gerichteten Briefe 
geworden, in welchem ein Liebhaber der Yojephine ihr 
mittheilte, daß er fich über die Grenze begeben werde? 
Diefer Brief fam aus Paris und trug den Poftjtempel 
des Inoner Bahnhofes. Es hat darüber nichts verlautet, 
Doch wiſſen wir um fo ficherer, daß er eriftirt, da man 
uns erfucht hat, nichts darüber zu veröffentlichen.‘‘ 

Der Gerichtshof bejchließt nach kurzer Berathung die 
Requifition des betreffenden Actenſtückes aus Joigny. 
Der Präfident bemerkt bei Verfündigung des Gerichts- 
beſchluſſes, daß bei jeder Unterfuchung eine Reihe von 
Schriftſtücken, die dem Unterfuchungsrichter unwichtig 
icheinen, zurücbleiben, ohne dem Staatsanwalt oder dem 
Bertheidiger zugeftellt zu werden. 

Es wird zum Verhör gefchritten und zunächſt Jo— 
jephine Martin vernommen. 

Sie präfentirt fich als ein Kleines, zierliches Figürchen, 
ichlanf, von blafjer Gefichtsfarbe, mit großen glänzenden 
Augen. Sie ift brünett, die Züge find ftarf entwidelt. 
Ihr Gefihtsausprud ift offenherzig. Sie jchlägt häufig 
die Augen nieder, wenn fie angerevet wird. Die Stimme 
it von jeltenem Wohlklang, einfchmeichelnd und ge— 
winnend. Sie antwortet anfänglich leiſe, fait ſchüchtern 
und unverjtändlich, nach und nach aber wird die Stimme 
fauter und ficherer, und ſchließlich, als von den ent- 
jeglichen Einzelheiten der Miffethat die Rede ift, jpricht 
“fie einförmig, ohne irgendwelche Bewegung zu zeigen, 
fajt jo, als ob fie eine eingelernte Xection wieder— 


Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 277 


holte. Sie trägt ein bunfle® Gewand von eleganten 
Schnitt. 

Präfident. Sie wifjen, Angeklagte Martin, daß 
man über Sie die ungünftigite Auskunft erhalten hat. 
Seit mehrern Yahren haben Sie das Haus Ihrer 
Mutter verlaffen und fich der Proftitution hingegeben. 

Angeflagte. Ceit drei Jahren. 

Präjivdent. Sie haben aber ein Kind von vier 
Jahren, ein Kleines Mädchen, deſſen Water nicht befannt 
it. Das Kind Tebt bei Ihnen und fennt Ihre Lieb— 
haber. Der legte war ein Herr Babillot, der Ihnen 
50 Francs monatlich gab und Gie alle Abende bejuchte. 
Am DBorabende des Berbrechens haben Sie ihm aber 
gejagt, er möge am nächiten Abend, am Mittwoch, nicht 
zu Ihnen: fommen. 

Angeklagte. Ja, wegen ber Vorbereitungen zu ber 
bevorſtehenden Hochzeit meines Bruders. 

Präfident. Sie fannten Herrn Vetard? Ihr Kind 
fannte ihn gleichfalls ? 

Angeklagte. Nein, Herr Präfident. 

Präfident. Aber die Kleine hat, als man in ihrem 
Beilein von dem Manne fprach, der am Abend des Ver: 
brechens bei Ihnen war, ausgerufen: „Es war nicht 
Papa Babillot, e8 war Papa Vetard!.. 

Angeklagte. Ich begreife nicht, wie fie das fagen 
fonnte. Sie fannte Herrn Vetard nicht. 

Präfident. Das unglüdliche Kind muß Zeuge der 
Zeritüdelung der Leiche geweſen jein, denn fie fagte: 
„Papa Betard ift im Wein gelegen.” Was das Kind 
aber für rothen Wein hielt, war Blut. (Bewegung.) 
Sie müſſen Vetard gekannt haben, denn die Kleine fagte 
wiederholt: „Papa Vetard.“ 


278 Der Procen wider den Tageldhner Morand. 


Angeflagte Oh, das Kind nannte alle Herren 
Papa. (Heiterfeit.) 

Präjident. Der Staatsanwalt hat das Zeugnif 
des Kindes nicht gegen Sie anrufen wollen! Wir werden 
die Wahrheit auf anderm Wege zu erfahren trachten. 
Ihr Geftändniß bildet wol einen Hauptſtützpunkt ver 
Anklage, allein nicht den einzigen. Noch vor Ihrem 
Gejtändniffe war die Unterfuchung durch Briefe auf 
Ihre Theilnahme an dem Verbrechen aufmerkfjam gemacht 
worden. Es find dies die Briefe, die Sie mit den An- 
fangsbuchftaben der Roſalie Mary verfehen an VBetard 
gerichtet haben. Die Briefe lauten: 


Erjter Brief: 
Herrn Betard. 
Uhrmacher und Juwelier. 


Brüdenvorjtadt. 
Joigny. 


Mein lieber Freund! Ich bin heute Nacht um 2 Uhr 
mit der Eiſenbahn angekommen. Ich bin bei einer meiner 
Freundinnen abgeſtiegen. Ich will meine Familie nicht 
aufſuchen, bevor ich Dich geſehen habe, denn meine Ab— 
ſicht geht dahin, ganz in Joigny zu bleiben. Die Ent— 
ſcheidung wird von den Rathſchlägen abhängen, die Du 
mir geben wirſt, und ob Du die Beziehungen mit mir 
erneuern willſt, die zwiſchen uns beſtanden haben. Wenn 
Du mir entgegenkommen willſt, ſo werde ich hier bleiben. 

Ich werde Dich in der Nähe der Schlachthäuſer um 
7 Uhr erwarten. Ich rechne auf Deine Güte und Dein 
gutes Herz. Ich weiß jehr wohl, daß Du mich noch 
lieb Haft und daß es Dir wehe thun würde, wenn ich 
wieder abreijte. 


Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 279 


Wie ih Dir ſchon gejagt habe, ich erwarte Dich bei 
den Schlachthäufern um 7 Uhr. 

Wenn es aber Deine Abficht fein follte, nicht mehr 
mit mir zu gehen, fo komme doch um mir einen legten 
Kuß zu geben. 

Ich bin ganz die Deine. 

Deine Feine Freundin, die Dich fo ſehr liebt, und 
die Dich immer lieben wird. 

Aber vor allem fei Discret und verbrenne diefen Brief. 
Sage niemand, daß ich wieder hier bin — 


R. M. 
Der zweite Brief: 


Kleiner Freund! 


Ich bitte Dich taufendmal um Verzeihung. Denke 
Div nur, ich hatte meiner Tante in Sens gejchrieben, 
daß ich in Joigny angekommen bin, daß aber davon bei 
meiner Mutter nichts erzählt werben fol. Dann habe 
ich ihr auch die Wohnung mitgetheilt, wo ich bin, und 
da hat fie mir an demjelben Tage gejchrieben, an dem 
ih Dir das Stelldichein gegeben habe. 

Ih war gendthigt, mit dem erjten Zuge wegzufahren, 
und darum habe ich nicht fommen können, denn fie hat 
mir einen Plat in einem Hotel angetragen. Es find 
jetzt ſehss Tage, daß ich in diefem Hotel bin, aber beim 
beiten Willen kann ich nicht bleiben, es ift eben zu jchwere 
Arbeit für mid. _ 

Ih bin gendthigt, mir es fo einzurichten, wie ich 
Dir Schon gejchrieben habe. Heute noch juche ich mir ein 
paffendes Zimmer. Es iſt mir möglich gewejen, mir 
nach und nach 200 Francs zu eriparen, damit kann ich 


280 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


mir ſchon die nothwendigiten Anjchaffungen machen. Und 
Du wirft fommen können mich bejuchen wenn Du willft, 
und wir werden glüdlicher fein als je zuvor. Aber vor— 
läufig jprich nichts darüber, komme heute Abend an den— 
jelben Ort, ven ich Dir das vorigemal bezeichnet habe, 
damit ich Dir berichten kann, ob ich alles in Ordnung 
bringen fonnte und Dir den Ort angeben fann, wo ich 
allein mit Dir zufammenkommen fann und wo Du hin- 
fommen fannit. 
Heute Abend aljo ganz gewiß, mein Vielgeliebter. 
R. M. 


Dritter Brief: 


Ich werde Dih von 6 Uhr bis längſtens 6 Uhr 
15 Minuten erwarten. Aber, höre wohl, fperre Deinen 
Laden zu. Ich kann es nicht begreifen, daß Du Deinen 
Laden offen laſſen fannft, wenn Du doch fortgehft. 

Endlich wirjt Du doch einjehen, daß ich glüdlich fein 
werde, Dich wiederzufehen, und daß es mir geglückt ift, 
ein reizendes Kleines Zimmerchen zu finden. Es iſt nicht 
theuer, ich zahle nur 7 France monatlich dafür. 

Ich habe alle Einrichtungen wegen meines Bettes 
getroffen. Ich habe vier Stühle Ich habe nur einen 
ganz Kleinen Tiſch, aber e8 iſt Doch das Wichtigjte für 
den Augenblid. 

Weift Du, weil Du erfroren bijt, habe ich daran 
gedacht. Ich Habe einen Roſt im Kamin und Coafs. 
Es ift jehr warm bei mir. Aber wenn ich an die erite 
Nacht denke — ich verjichere Dich, es überläuft mich 
ganz eigen. 

Ich Hoffe doch, daß wenn Du fommen wirjt, um mir 
Gejellihaft zu leilten, ich mich nicht langweilen werde. 


Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 281 


Ich rechne feit auf Dein Kommen. Ich bitte Dich, 
faffe mich nicht figen wie geftern. Du fannft noch vor 
dem Eſſen fommen, und wenn Du willft auch gleich wieder 
gehen. Es ift nur um Deine Abfichten fennen zu lernen 
und ob Du wieder mit mir halten willit. Von meinen 
Leuten weiß noch niemand, daß ich hier bin. Du wirft 
jehen, es it jehr bequem zu mir zu fommen. Sch werde 
nicht anjpruchsvoll jein, ganz jo wie Du es wünſcheſt, 
ich will nur Dich haben. 

Morgen werde ich noch alles Nothwendige beſorgen. 
Ich werde auch zu meiner Familie gehen und meine 
Nähmaſchine zu mir holen. Ich werde mich noch heute 
wegen Arbeit in einem großen Magazin melden, und Du 
wirſt ſehen, ich werde glücklicher ſein als je zuvor. Aber 
bevor ich Dich bei mir empfange, will ich doch wiſſen, 
ob Du immer noch ſo viel Freundſchaft für mich hegſt, 
ob Du mich recht lieb haben willſt, und ob Du noch 
andere Bekanntſchaften haben willſt außer mir. Das 
will ich nicht leiden, ich will Dich ganz allein haben. 
Ich bin Dir noch immer unverändert gut. Ich habe 
Dich ſehr lieb und ich ſchwöre Dir, ich werde Dir treu 
bleiben, wie ich Dir ſchon verſichert habe. Ich wieder— 
hole es, ich will ſehr brav ſein. 

Ich rechne beſtimmt auf Dich, mein Vielgeliebter! 
Ich ſchicke Dir im voraus tauſend Küſſe. 

Fehle nicht beim Eingange der Straße 6 Uhr 15 Minuten 
ſpäteſtens. Wenn Du aber willjt, daß ich eine fehr große 
Freude haben foll, jo fomme zu mir zum Efjen. Ich 
habe eine gute Suppe und ein Huhn zugejtellt und wir 
werben jo glüdlich zuſammen fein. 

Wenn Du zuerjt fommit, jo warte auf der eriten 
Bank. 

Aber Du kannſt Dich darauf verlaſſen, ich werde es 


282 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


ſchon fein, die zuerſt kommt. Laß mich nicht lange warten, 
ich bitte Dich, mein vielgeliebter Schaß. 
Sch bin ganz die Deine, Deine kleine Frau, die Dich 
jo lieb hat. 
R. M. 


Ich fürchte beinahe, Du haft meinen geftrigen 
Brief nicht erhalten. Zeige meinen Brief niemand, fei 
viscret. 


Präſident. Erkennen Sie an, daß dieſe Briefe 
von Ihnen geſchrieben worden ſind? 

Die Angeklagte ſchweigt. 

Präſident. Am 10. Februar wurden Sie bereits 
verdächtig. Man hat Sie verhört und Sie haben be— 
hauptet, Sie wären zur Zeit, da das Verbrechen verübt 
wurde, bei Ihrer Mutter geweſen. Angeſichts Ihrer 
Ruhe und Ihres ſichern Auftretens hat der Unterſuchungs— 
richter feinen Verdacht fallen laſſen, allein eine Haus— 
juchung führte eine für Ste ſehr bevenfliche Entdeckung 
herbei. Man fand bei Ihnen einen zwar fertig ge— 
jchriebenen, doch noch nicht zur Poft beförderten Brief. 
Er war an Herrn Ablon, ven Präfidenten ver Handels— 
fammer und Eigenthümer des Haufes, in dem Sie wohnen, 
gerichtet. Dem Unterfuchungsrichter fiel die Aehnlichkeit 
der Schriftzüge mit den Briefen auf, die mit R. M. 
gezeichnet, in ver Wohnung des Herrn Vetard vorgefunden 
worden waren. Sie wurden einem Sachverjtändigen übers 
geben und dieſer erklärte mit aller Beſtimmtheit, daß fie 
von berjelben Hand herrührten wie der bei Ihnen vor— 
gefundene Brief. Das hat Sie bewogen, zum Gejtänd- 
nifje zu jchreiten. Geben Sie dies zu? 

Angeklagte. Ya, Herr Präfident. 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 283 


Präfident. Es fprachen übrigens noch andere Ver— 
dachtömomente gegen Sie. Man hat Herrn Vetard ge- 
jeben, wie er in Begleitung einer weiblichen Perjon Ihr 
Haus betrat, und während der ganzen Nacht ift in Ihrer 
Wohnung eine ungewöhnliche Bewegung, ein fortwährendes 
Gehen und Kommen beobachtet worden. Ihr Alibi war 
nicht aufrecht zu erhalten. Ihr Geſtändniß war aber 
fein freiwilliges, Sie haben fih nur erbrüdt von Be— 
weijen hierzu herbeigelaffen. Nun jagen Ste uns auf- 
richtig, warum haben Sie dieje Briefe gejchrieben? 

Angeklagte Es ift Herr Morand, der mich ge- 
zwungen bat fie zu jchreiben. Zuerſt habe ich nicht 
gewollt. „Aber Fräulein‘, jo jagte er zu mir, „Sie find 
doch ſonſt fo gefällig. Es handelt fich ja um einen Spaß. 
Herr Betard liebt einen guten Auffiger, und ich auch. 
Wir werden alle zwei etwas zum Lachen haben. Thun 
Sie mir Doch den Gefallen.” So habe ich mich ver- 
leiten lafjen. Ich glaubte wirklich, es handle fich um 
einen Spaß. 

Präjident. Und Sie haben Morand nicht gefragt, 
welcher Art diefer Spaß fein werde? 

Angellagte. D ja! Aber er erwiderte nur: „Sie 
werden es ſchon ſehen.“ 

Präſident. Alſo Morand hat einen ſolchen Ein— 
fluß auf Sie ausgeübt, daß Sie nicht widerſtehen 
konnten? 

Angeklagte. Ich habe ja nichts Böſes vermuthet. 

Präſident. Dieſe Verantwortung wäre vielleicht 
glaubhaft, wenn es ſich nur um einen einzigen Brief 
handeln würde, allein es ſind deren drei vorhanden. 
Sind ſie alle drei nur des Spaßes wegen geſchrieben? 

Angeklagte. Ich hätte Morand niemals zugetraut, 
daß er etwas ſo Fürchterliches im Schilde führe. 


984 Der Procef wider den Tagelüöhner Morand. 


Präſident. Dieje Vertheidigung it nicht glücklich 
gewählt. Ihre Aussage fteht im Widerjpruch mit Den 
Angaben verjchiedener Zeugen, insbejonvdere der Roſalie 
Mary. Diefe erklärt, daß alle Einzelheiten der Briefe 
auf genauer Kenntniß ihrer Lebensverhältnifje beruhen, 
daß die darin enthaltenen pofitiven Angaben richtig find, 
und daß daher die Briefe nur von einer Perjon her- 
rühren können, die fie jehr gut fennt. Sie und Ihre 
Schweiter, nicht aber Morand waren in der Lage, dieſe 
Einzelheiten und Familienbeziehungen zu willen. ft 
dies jo? 

Angeklagte. Nein, Herr Präfident. 

Präſident. Herr Veätard ift troß der verſchiedenen 
Briefe nicht gefommen. Was haben Sie am Abend des 
Verbrechens gethan? 

Angeklagte Ich ging um 6 Uhr aus. Ich be- 
gegnete Herren Morand. Er hat mich gefragt, ob ich 
nicht eine Säge hätte, die ich ihm leihen Fönnte. Ich 
antwortete, ich bejäße deren zwei. Ich habe ihm meinen 
Wohnungsichlüffel übergeben, um die Säge zu holen. 

Präſident. Alfo nur zu dieſem Zwede haben Sie 
ihm Ihren Schlüffel gegeben? 

Angeklagte. Ja wohl, Herr Präjident. 

Präſident. Wo find Sie hingegangen? 

Angeflagte. Zu meiner Mutter. 

Präfident. Um welche Zeit find Sie nad) Haufe 
zurüdgefommen ? 

Angeklagte. Ih kann die Zeit nicht ganz genau 
angeben. Es war zwijchen 9%/, und 1/10 Uhr. 

Präſident. Mit Ihrer Kleinen Tochter ? 

Angeflagte. Ja wohl, Herr Präfident. 

Präfident Was haben Sie zu Haufe wahr- 
genommen? 





Der Brocek wider den Tagelöhner Morand. 285 


Angeklagte. Meine Thür war verfchloffen. Sch 
Elopfte an, und als Morand, der in Hemdärmeln war, 
mir öffnete, jagte ih: „Wie, Sie find noch hier?” Er 
ſah ganz verftört aus und antwortete mir: „Treten Sie 
nur ein und macen Sie feinen Lärm!’ — „Was ijt 
denn 108? fragte ich und trat in die Stube. Vetard 
lag auf dem Tiſche, todt, in einer Blutlache, nur halb 
mit einem Quche zugededt. Meine Kleine begann zu 
meinen und ich jchrie laut auf. „Unglücdlicher Menſch! 
Was haben Sie gethan! Und bei mir! Was foll num mit 
mir geſchehen?“ — Morand jchnauzte mich mürriſch an: 
„Schweig gleich ftill, oder ich mache Di auch noch 
kalt!“ Er hatte jein großes Meffer in der Hand. Bacher 
war um die Leiche bejchäftigt. Sie waren gerade daran, 
die Beine abzujägen. Ich flüchtete in mein Schlaf- 
zimmer. Aber Morand rief mich heraus. „Es iſt fein 
Waſſer da!“ fagte er zu mir, „man fann fich nicht 
einmal die Hände wafchen. Holen Sie uns Waffer!” 
Aus Angit habe ich ihm willfahrt und bin zum Brunnen 
hinuntergegangen. 

Präfident. Alſo Sie haben fi nur aus Furcht 
den Anordnungen Morand's gefügt und haben mir des— 
halb Wafjer geholt, damit die beiden Mörder fich vom 
Blute reinigen konnten? 

Angeklagte. So tit es, Herr Präfident. 

Präfident. Ia, warum haben Sie dann, al8 Sie 
unten beim Brunnen waren, nicht um Hülfe gerufen? 

Angeklagte. Morand iſt mir gefolgt. Wenn ich 
gerufen hätte, hätte er mich gewiß umgebracht. 

Prajivdent. Angenommen, daß Sie aus Furcht jo 
bandelten: warum haben Sie dann am nächiten Tage 
feine Anzeige eritattet ? 

Angeklagte. Ich hoffte, daß die Wahrheit auch 


286 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


ohne mein Zuthun herausfommen würde. Ich wollte 
ihn nicht denuneiren, nicht aus Schonung für ihn, aber 
jeiner Kinder wegen habe ich gejchwiegen. 

Präſident. Was haben Sie am näcjten Tage 
gethan? 

Angeklagte. Des Morgens ging ich in die Meſſe. 

Präſident. Und ſpäter? 

Angeklagte. Dann war ich bei der Trauung 
meines Bruders. 

Präſident. Richtig, und dann nahmen Sie theil 
am Hochzeitseſſen, und gingen auf den Ball, und tanzten! 
Sie ſollen ſogar beſonders luſtig geweſen ſein. 

Angeklagte. O nein, das nicht, Herr Präſident. 

Präſident. Nur einen Augenblick waren Sie be— 
wegt. Sie kauften Zuckerwerk bei einer Nichte des Er— 
mordeten. AS Sie den Namen „Vätard“ auf ber 
Firmatafel oberhalb der Ladenthür erblidten, find Sie 
erichroden zufammengefahren. 

Angeflagte D nein, ich habe den Namen gar 
nicht geſehen. 

Präfident. Sie werden den Zeugen darüber hören. 
Man hat an diefem Tage jchon von dem Verbrechen 
geiprochen ? 

Angeklagte. Nah Tiſche war die Rede davon. 

Präfivdent. Und Sie haben ruhig zugebört, ob— 
gleich Sie abends zuvor ſelbſt Augenzeuge der abjcheu- 
fihen That waren! — Aber Sie haben über die Zer— 
jtüdelung der Leiche noch nichts gejagt. Was haben 
Sie davon gejehen ? 

Angeklagte. E83 war fchon fait gejchehen, al® ich 
nad Haufe kam. Die Beine waren bereits abgefägt. 
Sie lagen auf einem Stuhl. Morand fügte die Arme 
ab. Er hatte Einfchnitte auf beiden Seiten gemacht, und 


Der Proceß wider ben Tageldhner Morand. 287 


weil es ihm zu lange dauerte, ſtemmte er fein Knie an 
und trat feſt auf den Knochen, bis er brach. (Bewegung 
des Entjegens im Zuhörerraum.) Er hat die Gelenfe 
mit dem Fleiſchermeſſer ausgelöft, mit dem er mich be— 
drohte. Vacher ftand daneben und war ihm behülflich. 
Nachdem die Zerjtüdelung fertig war, find bie Theile 
der Leiche in Säcke gethan und diefe in zwei Tragförbe 
gelegt worden, wovon der eine meiner Schweiter gehörte 
und der andere von Vacher mitgebracht worden war. 
Morand und Vacher haben die Säde in die Nonne 
getragen. | 

Präfident. Nach dem Morde ift Morand zu Vetard 
gegangen, um den Laden auszurauben ? 

Angeklagte. As ich nah Haufe fam, war ber 
Diebftahl ſchon begangen. 

Präfident. Wieviel haben Sie erhalten? 

Angeklagte. Morand hat mir 40 Franes gegeben 
und DVacher auch 4O Franc, 

Präſident. Nach den Vermuthungen der Polizei 
haben Sie viel mehr erhalten, denn Sie haben viel Geld 
ausgegeben. 

Angeklagte. Ich habe gewiß nicht mehr empfangen. 

Staatsanwalt. Haben Sie nicht vierzehn Tage 
nach dem Morde, an dem Tage, wo Sie verhört wurden, 
nochmals 20 France befommen? 

Angeflagte. Ja! Morand war fehr aufgeregt, als 
er erfuhr, daß ich verhört worden fei. Er hat mich be- 
ſchworen, nichts zu verrathen. 

Präfident. Sie haben in der That zuerft andere 
Perſonen als die Thäter bezeichnet: einen gewiffen Pietre 
und den Schwiegerjohn Morand’s, Cizel. 

Angeklagte. Ja wohl. Ich habe zuerjt Pietre ge- 
nannt. Es iſt das fein intimfter Freund. Ich war 


288 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


überzeugt, daß diejer von der Sache wußte, und dachte 
jeine Angaben würden Morand zum Gejtänpnig zwingen. 
Cizel habe ich in der Aufregung mit Bacher verwechielt. 
Der Mitſchuldige ift Vacher. - 

Alle diefe Angaben werden mit ruhiger, —— 
Stimme gemacht. 

Die Angeklagte iſt ſo wenig bewegt wie ein Dienſt— 
mädchen, welches ſich wegen eines zerbrochenen Tellers 
verantwortet. 

Es wird zur Vernehmung Morand's geſchritten. 

Morand iſt ein herculiſch gebauter, ruhig blickender 
Mann. Seine Züge bleiben unbewegt, in ſeinem düſtern 
Geſicht zuckt keine Fiber. Sein Haar iſt ſchwarzbraun, 
doch bereits leicht ergraut. Sein Schnurrbart iſt ſtark, 
ſtruppig und noch ganz dunkelbraun. Sein Hände ſind 
muskulös und wohlgeformt. Er iſt mit einer alten Tuch— 
hoſe und einer weißen Bluſe bekleidet. 

Präſident. Die Thatſache, daß Herr Vetard um 
ungefähr 7 Uhr 15 Minuten in Begleitung einer weib— 
lichen Perſon in das Haus der Joſephine Martin ein— 
trat, ſteht feſt. Sie haben ſich um 6 Uhr 45 Minuten 
dahin begeben? Man hat Sie eintreten jehen. 

Angeflagter. Nein! Das ift vollfommen unrichtig. 
Ich kannte das Mädchen faum und war niemals 
bei ihr. 

Präfivdent. Aber die Zeugenausfage der Frau 
Droin lautet ganz bejtimmt. 

Angeflagter. Es ift eine falfhe Zeugin. Diefe 
Frau lebt feit zwei Jahren in Todfeindſchaft mit mir. 
Sie haft mich und hat einen Meineid gefcehworen, um 
mich zu verderben. 

Präjident. Wo waren Sie während der Zeit, ba 
das Verbrechen begangen wurde? 


Der Broceß wider ben Tageldhner Morand. 289 


Angeflagter. Zu Haufe, Herr Präfident, und im 
Bett. Ich bin an diefem Abend überhaupt nicht aus- 
gegangen. 

Präjident. Um wieviel Uhr haben Sie fich nieder- 
gelegt ? 

Angeflagter. Um halb acht Uhr. 

Präſident. Sie haben gehört, daß Joſephine Martin 
Sie der Thäterjchaft beſchuldigt? 

Angeflagter. Die Ausfage derjelben ift ein durch» 
fichtiges Lügengewebe. 

Präjident. Es liegen aber auch noch andere Ver— 
bachtögründe gegen Sie vor. Auf einem Ihrer Holz- 
ichuhe find Blutjpuren gefunden worden. 

Angeflagter. Ich bin jehr vollblütig und leide 
oft an Nafenbluten. Dan kann alle meine Kameraden 
darüber befragen, fie werden es insgefammt beftätigen. 
In der Unterjuchungshaft habe ich auch Najenbluten 
gehabt. Ich bitte nur den Kerkermeiſter darüber zu ver- 
nehmen. 

Präſident. Man hat bei Ihnen einen Tragforb 
vorgefunden. Die Martin gibt an, derjelbe habe zum 
Wegichaffen der Leichenreſte gedient. 

Angeflagter. Wenn er wirklich dazu verwendet 
worden ift, jo war ich e8 doch nicht, der ſich jeiner dazu 
bediente. 

Präfivdent. Es haben fih an dem Korbe Blut— 
jpuren gefunden. 

Angeflagter. Ich Habe ihn bei Gartenarbeiten 
benugt. WBielleicht babe ich mich bei der Arbeit einmal 
gerigt, dann hat mein eigenes Blut diefe Spuren hinter- 
laffen. (Unwillige Ausrufe im Zuhörerraum.) Ich be= 
haupte e8 ja nicht, ich fee nur den möglichen Fall. 

Präfident (zum Auditorium). Wenn noch weitere 

XXI 19 


290 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


derartige Störungen vorfallen, jo laſſe ich den Saal 
räumen. — Morand, fahren Sie fort. 

Angeflagter. Mein ZTragforb ſtand immer vor 
der Hausthür. Es fonnte ihn leicht jemand ohne mein 
Borwiffen benugen. Es ift daher möglih, daß ber 
CS chuldige fich feiner bevient hat. Ich jchwöre, ich weiß 
nichts davon. Ich bin unfchuldig. 

Präfident. Ihre Frau hat einen andern Erflärungs- 
grund für die Blutjpuren angegeben. Sie fagt, e8 jet 
darin mehreremal gefchlachtetes Schweinefleifh trans» 
portirt worden. 

Angeklagter. Diefe Thatjache ift auch richtig. Es 
ift dies fogar gleich nach Lichtmeß (2. Februar) gejchehen. 

Präfident, Ich komme jet zu den Briefen. Sie 
behaupten, Sie haben an deren Abfaffung nicht mit- 
gewirkt? 

Angeflagter. Ganz ficher nicht. (Sehr energiich:) 
Sch fchwöre, daß ich niemals in meinem Leben meinen 
Fuß über die Schwelle der Wohnung der Sofephine 
Martin geſetzt habe. Ich Habe fie faum gefannt und 
nie zuvor gejprochen. Die Roſalie Mary aber, deren 
Unterjchrift misbraucht worden fein joll, kenne ich gar nicht. 

Präfident. Man hat Sie um 9 Uhr 15 Minuten am 
Brunnen mit Iofephine Martin gejehen, gerade zu ber 
Zeit, als diefe Waffer für Sie geholt haben will. 

Angeflagter. Es ift nicht wahr. Ich war nicht 
dort. Ich lag bereits in meinem Bett. 

Präſident. Sie werden die Zeugen felbjt hören. 

Angeflagter. Ich war es nicht. 

Präfidente Am Tage nah dem Morde, am 
9. Februar, find Sie wie andere Neugierige zur Nonne 
gegangen, um das Herausfifchen der Gliedmaßen des 
Ermordeten mit anzufehen? 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 291 


Angeflagter. Iawohl, Herr Präfident. Zuerft war 
ich mit meinem Freunde Grivet ausgegangen, um ben 
Vaftnachtsochjen auzufchauen. Als wir bemerften, daß 
fich die Leute am Ufer der Yonne anjammelten, ver- 
fügten wir und auch dahin. Dean erzählte ung, es jei 
ein Männerarım gefunden worden, und wir fahen, wie 
die andern Neugierigen, den Arbeiten zu. 

Präfivdent. Am Morgen, als befreundete Arbeiter 
zu Ihnen famen, find dieje fajt betäubt worden von einem 
entjeglichen Gejtanf, der von Ihrem Herde ausging. 

Angeflagter. Ich verbrannte altes Lederzeug, alte 
fette Fetzen, alte Abfälle aller Art. Auch zwei tobdte 
gel aus meinem Garten waren dabei. Es mag übel 
genug gerochen haben. 

Präjident. Am Ufer der Nonne fiel Ihr verftörtes 
Weſen beim Auffinden der Leichentheile mehrern Ihrer 
Bekannten auf. 

Angeflagter. Ich war nicht verftört. Ich hatte 
feine Urjache dazu. Mein Gewiljen iſt rein. Sch bin 
bei Gott vollfommen unſchuldig an der Mordthat. 

Präfident. Sie behaupten, des Abends am 8. Februar 
gar nicht ausgegangen zu jein? 

Angeflagter. Nah 8 Uhr abends gewiß nicht. 
Um halb 9 Uhr war ich ficher im Bett. 

Präſident. Eine Zeugin, Frau Madeleine Salmon, 
hat aber behauptet, daß fie an jenem Abende nicht zu 
Haufe geweſen jind. 

Angeflagter. Die Frau irrt fih im Tage. 

Präfident. Ihre Tochter joll Frau Salmon gebeten 
haben, zu bezeugen, daß fie am jenem Abend Sie zu Haufe 
getroffen habe. 

Angeflagter. Man hat e8 mir erzählt. Sch weiß 
nicht, ob e8 wahr ift. 

19* 


292 Der Brocef wider den Tagelöhner Morand. 


Präfident. Sie haben während der Unterfuchungs- 
haft verjchiedene Verfuche gemacht, mit Ihrer Frau in 
Correſpondenz zu treten, um ein Alibi zu beweifen. Man 
hat Zettel aufgefangen, die jo lauten. Der erite: 

„Sage der Tante, der Madeleine und Louis, daß fie 
um 10 Uhr 15 Minuten fortgegangen find. Sie follen 
fih nur daran erinnern. Ich war ind Bett gegangen. 
Ich umarme Euch alle. Dein unjchuldiger Gatte. Stede 
nichts in die Taſchen.“ | 

Der zweite: 

„Wenn Marie Delooze am Abend des Verbrechens 
beit uns war, fo rite ein Kreuz unter dem Blechteller 
mit der Mefjerfpite. Wenn Du im Nermel meiner Jacke 
meinen Brief gefunden haft, mache eine Null daneben. 
Ih umarme Dih und die Kinder. Dein unfchuldiger 
Gatte. U 

Der pritte: 

„Wenn Du Marie, Deine Tante und Louis geiprochen 
haft, mache 1, 2, 3 unter dem Teller.” 

Der vierte: 

„Nähe mir Nachricht in das Hofenfutter ein. Ich 
werde meine Hoje morgen verlangen.‘ 

Der fünfte: 

„Du mußt Herrn Ablon und Herrin Contura auf: 
ſuchen. Sie glauben an meine Unjchuld und werben 
Dich unterftügen. Vergiß nicht, nach dem Zapfenftreich 
war ich im Bett.‘ 

Der jechste: 

„Du mußt Herren Ablon und Herrn Contura auf- 
juchen. Sie follen etwas für mich thun, denn ich bin 
unschuldig. Bejuhe auch Frau Grene. Ich umarıne 
Dich und die Kinder. Schide mir einen Bleiſtift.“ 

Präjident Wie erklären Sie dieje Briefe? 





Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 293 


Angeflagter. Ich wollte den Zeugen Thatumftände, 
bie jie als unwichtig vielleicht vergeffen hatten, ins Ge— 
dächtniß zurüdrufen. Ich bin unſchuldig, vollfommen 
unfchuldig und will e8 beweifen. 

Präfident. Wir fehren zu den Angaben ver Jo— 
jephine Martin zurüd. Cie behaupten, ihre Ausjage 
jet faljch? 

Angeklagter. Vollkommen erlogen, Herr Prä— 
ſident. 

Präſident. Iſt ſie Ihnen feindlich geſinnt? 

Angeklagter. Ich weiß es nicht. 

Präſident. Warum aber klagt die Martin Sie an? 

Angeklagter. Offenbar um den wirklich Schuldigen 
zu beſchützen. Ich erinnere mich, daß, wie ich zum erſten 
mal mit der Joſephine Martin vor dem Unterſuchungs⸗ 
richter confrontirt wurde, der Schriftführer, als der Herr 
Richter einen Augenblid das Zimmer verließ, der Jo— 
jephine Martin einen Zettel zugeftedt Hat. (Bewegung.) 
Diejer Schriftführer heißt Labeſſe. Ich bedauere jehr, 
daß er nicht bier ift. Er gehört hierher (deutet auf bie 
Anklagebanf). Ich Habe leider nicht den Muth gehabt, 
dem Herrn Unterfuchungsrichter jofort von meiner Wahr- 
nehmung Mittheilung zu machen. Man hat die Dirne 
einfach auf mich gehekt. 

Präfident. Und Sie vermuthen, diefer Zettel.... 

Angeflagter. Enthielt VBerhaltungsmaßregeln. 

Präfident. Sie bleiben alfo dabei, daß Joſephine 
Martin Unwahres über Sie ausgejagt hat? 

Angeflagter. Gewiß. Sie lügt. Ich bin unſchuldig. 

Präfident. Iofephine Martin! Erheben Sie id). 
Haben Sie den Angeklagten Morand gehört? 

Joſephine Martin. Ich betheuere es, Morand und 
Bacher find die Schuldigen. Sie follen es nur leugnen, 


294 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


fie find e8 doch gewejen. Ich verfichere, fie find e8. Aber 
fie werben fortfahren e8 zu leugnen, fie werben es noch 
auf den Schafott leugnen! 

Morand. Sch jchwöre es, ich bin unjchuldig! 

Präſident. Es gemügt nicht zu fchwören. Man 
muß es beweijen fünnen. 

Bertheidiger Mr. Lailler. Es ijt doch nicht Mo- 
rand's Sache, zu beweifen, daß er unschuldig ijt. Im 
Gegenteil, die Anklage muß beweijen, daß er fchuldig ift. 

Staatsanwalt. Die Anklage wird den geforberten 
Beweis führen. Sie haben e8 gar zu eilig, Herr Ver- 
theidiger! 

Zailler. Die Gejchworenen werden darüber urtheilen. 

Staatsanwalt. Ya wohl, und ich erwarte mit Ruhe 
ihr Verdict. 

Präſident. Ich fchliege vorläufig Ihre Vernehmung, 
Morand, und conftatire, daß Sie bereits bejtraft find 
und daß die Polizeinote jehr ungünftig über Sie lautet. 
Alle Welt fürchtet fih vor Ihnen. 

Angellagter. Ich habe in meinem Xeben feinem 
Menjchen ein Haar gekrümmt. 

Während der ganzen Dauer feiner Vernehmung, auch 
als er Joſephine Martin Auge in Auge gegenüberftand, 
hat Morand feinen Augenblid laug feine Selbftbeherrichung 
verloren. Er antwortete ohne zu ftoden, mit großer 
Geiftesgegenwart und Bejtimmtheit. 

Der Schanfwirth Vacher wird vernommen. 

Er ift ein dumm ausjehender, kleiner, dider Mann 
mit ſtark gerötheten, glatt vafirten Wangen, der richtige 
Typus eined Dorfgaftwirthes. 

Präjident. Bacher, erheben Sie fih. Sie haben 
die Ausjagen der Yojephine Martin gehört. Sie hat be- 
hauptet, daß, als fie nach Haufe fam, Sie und Morand 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 295 


mit der Zeritüdelung der Leiche des Herrn Vetard be— 
ichäftigt waren. 

Angeflagter. Es ift nicht wahr. Sch war um bieje 
Zeit zu Haufe. 

Präfident. Weshalb befchulvigt Sie die Martin? 

Angeflagter. Wahricheinlih um fich zu entlaften 
und andere nicht zu verrathen. 

Präfident. Angeklagte Martin, was fagen Sie 
dazu ? 

Joſephine Martin. Sie waren e8 und fein anderer! 
Sie hielten die Beine, die Morand abjägte! Niemand 
außer mir fann jagen, was bei mir vorgefallen ift. Mo— 
rand, Vacher und deſſen Frau find die Schuldigen! Nie- 
mand fonft war dabei. Als Morand mir die Thür 
öffnete, juchte Vacher fich zuerjt zu verbergen. Sch rief 
ihnen zu: „Aber ihr jeid ja Mörder! Es ift fürchterlich!‘ 
Bacher antwortete darauf: „Aber fo fehweigen Sie doch! 
Seien Sie doch ſtill!“ Dann hat Morand mich mit 
jeinem Mefjer beproht und mir gejagt: „Schreien Sie 
nicht, fonft bin ich im Stande, Ihnen das Gleiche an— 
zuthun!“ Mein eines Mädchen weinte und fragte, was 
die Leiche zu beveuten habe. Vacher hat mir eine Uhr 
und Kette gezeigt und mir gefagt: „Die gehören Ihnen. 
Sie befommen fie aber jegt noch nicht, denn Sie find 
zu Teichtfinnig, Ste würden ung verrathen.‘ Bacher hielt 
einen Soden Vetard’s in der Hand und zog ihm venfelben 
wieder an. Es war abjicheulich! (Bewegung im Zuhörer- 
raum.) 

Präfivdent. Hit denn die Leiche entkleivet geweſen? 

Joſephine Martin. Nein. Einzelne Gliedmaßen 
waren abgetrennt und jchon in Säcke gethan. | 

Präjivent. Haben die Mörder die Stube gewajchen? 

Joſephine Martin. Ja wohl, auch ven Fußboden. 


296 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand. 


Das Spülmwafjer haben fie in den Anftandsort meiner 
Wohnung gegojjen. Ich habe jogar geglaubt, fie hätten 
den Kopf der Leiche vahineingeivorfen, e8 war bies ein 
Hauptgrund, weshalb ich mich fürchtete etwas zu verrathen. 

Präfident. Hat nicht Morand etwas Auffälliges 
dazu bemerkt? 

Sofephine Martin. Ja wohl. Morand fagte: „Den 
Leichnam werfen wir in den Fluß, die Kleider werden 
wir verbrennen.” 

Präfident. Hören Sie das, Bacher? Es find das 
doch Einzelheiten, die man nicht erfindet? 

Angeflagter Bacher. Ich begreife nicht, warum 
fie mich bejchuldigt. Ich war zu Haufe und nicht in ihrer 
Wohnung. 

Präjivdent. Behaupten Sie etwa auch nach dem 
Beifpiele Morand’s, man müſſe die Mörder anderswo 
juchen ? 

Angeflagter. Ich weiß es nicht. Ich bin unfchubig. 

Präfident. Zu Ihrem Unglüde gibt e8 aber Zeugen, 
bie gegen Sie ausjagen. 

Angeflagter. Ich habe e8 fchon in der Unterfuchung 
erklärt und wiederhole e8, ich bin an jenem Abende nicht 
ausgegangen. 

Präfident. Ein Zeuge hat Sie am 9. Februar, 
gegen 6 Uhr morgens, an ben Ufern der Monne begegnet, 
unweit der Stelle, wo man wenige Stunden ſpäter den 
Arm Vetard's aufgefunden hat. Sie jahen forgenvoll aus. 

Angeklagter. Es fann fein. Ich erinnere mich nicht, 
ob ich gerade an diefem Tage und an jener Stelle war. 
Jedenfalls war dies ein bloßer Zufall, Ich gehe häufig 
früh morgens aus und fpaziere meiſtens am Ufer des 
Fluſſes. | 

Präfident. Auch an dieſem Morgen? 


Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 297 


Angeflagter. Möglich. Ich erinnere mich daran 
nit. Am Abend des 8. Februar bin ich aber ficher nicht 
ausgegangen. 

Präfident. Ein Zeuge, Herr Barte, hat dem Ge- 
richt mitgetheilt, daß Sie nicht zu Haufe geweſen find. 
Ihre Frau hat ihm gejagt, Sie wären verreift. 

Angeflagter. Das ift nicht wahr! 

Präſident. Alſo hat der Zeuge gelogen? 

Angeflagter. Nein, er irrt fih nur im Datum. 

Präfident. Ihr Dienſtmädchen Vellon wird fich 
aber im Datum nicht irren, und fie jagt aus, daß fie 
deutlich gehört habe, wie Sie ſpät in der Nacht heimfehrten. 

Angellagter. Es ift nicht wahr. Sie hat mich 
nicht gehört. Ich bin nicht nach Haufe gefommen, weil 
ich gar nicht fort war. 

Präſident. Alfo alle Zeugen irren jich, oder a 
ichuldigen Site fäljchlich ? 

Angeflagter. Ich kann nur wiederholen, ich bin 
unschuldig, ich war zu Haufe. 

Staatsanwalt. Geftehen Sie zu, größere Zahlungen 
in Gold und Banknoten geleiftet zu haben, und daß bies 
erft nach dem Mordattentate gewejen tjt? 

Angeflagter. Ich bin immer allen meinen Der: 
bindlichfeiten nachgefomnten. 

Präſident. Herr Ablon hat bezeugt, daß dies nicht 
immer rechtzeitig gejchehen tft. 

Angeflagter. Ich bitte, es ift niemals ein Wechjel 
gegen mich proteftirt worden. Ich habe im December 
einen Wechfel von 1000 Fre. eingelöit. Seither habe ich 
wieder Einnahmen gehabt. 

Präfident. Geben Sie zu, während Ihrer Haft 
einem Mitgefangenen Namens Barbe gejagt zu haben: 
„Morand wird uns doch nicht verzündet haben?“ 


298 Der Procef wider den Tagelöbner Morand. 


Angeflagter. Das ijt bloße Erfindung eines Men- 
ichen, der jich wichtig machen will. 

Bacher tritt weit weniger ficher auf al8 Morand. Er 
blickt zuweilen ganz dumm um fich, ehe er antwortet, er 
ftottert hie und da bei jeinen Antworten, bleibt aber feſt 
dabei, daß er vollfommen unjchuldig und zur kritiſchen 
Zeit zu Haufe gewejen jet. 

Frau Bader, die nach ihrem Manne verhört wird, 
ift eine große, magere Frau mit ftechenden Augen und 
dünnen Lippen, fie fieht ſtörriſch und unwirſch brein. 

Präfident. Frau Vader, find Sie am 8. Februar 
abends bei Joſephine Martin gemwefen ? 

Angeklagte. Nein, Herr Präfident. 

Präfident. Sie haben nichts dorthin gebracht und 
nicht8 fortgetragen ? 

Angeklagte Nein, Herr Präfident. 

Präjident. Joſephine Martin, hören Sie das? 

Sojephine Martin. Sie find in meine Wohnung 
gefommen, ich bejchwöre e8! Sie waren gar nicht entjegt 
über die That! Sie haben zwei Säde mitgebracht und 
eine Flaſche Sohannisbeergeiit. Sie haben die Schmud: 
jachen mitgenommen und haben noch gejagt: „Ich fürchte 
nur Eins, daß man euch erwijcht während ihr mit ven 
Zragförben zum Waſſer geht.‘ 

Angellagte Bacher. Es ijt nicht wahr, ich bin 
nicht bet ihr gewejen. 

Sofephine Martin. Niemand weiß befjer, was 
vorgegangen iſt, als ich. 

Angeklagte Bacher. Das glaube ich wohl, denn 
Sie waren bei dem Morde zugegen. Aber ih — ich war 
nicht dabei! 

Präſident. Wo waren Sie denn? 

Angeflagte Bacher. Zu Haufe. 


Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 299 


Präſident. Sehen Sie einander ins Geficht! 

Es gejchieht. Allein Feind der beiden Frauenzimmer 
weicht vor dem andern zurüd. 

Präſident. Ja freilich, ihr waret alle zu Haufe. 
Aber unglücklicherweile für Sie jagt das Dienjtmädchen 
Dellon aus, Sie wären im Laufe des Abends weggegangen. 

Angeflagte. Es iſt nicht wahr, ich bin nicht aus- 
gegangen. 

Präfident. Und an den folgenden Tagen, was 
haben Sie da gethan? 

Angeklagte. Nichts Bejonderes. 

Präfident. Sie find mit ihrer Magd Vellon und 
einem Herrn Benoit nach Paris gereift? 

Angeklagte. Das ijt richtig. 

Präfjident. Iſt diefer Benoit der Liebhaber ver 
Bellon ? 

Angeklagte. Sch weiß es nicht. 

Präfident, Aber fie jchliefen doch in demſelben 
Bette? 

Angellagte. Ya, während der Reiſe. 

Präfident. Wer zahlte vie Reiſekoſten? 

Angeklagte. Herr Benoit. 

Präjident. Es wird aber behauptet, Sie hätten 
die Neijefojten bezahlt. Was haben Sie in Paris gethan? 
Angeklagte. Wir waren zum Bergnügen dort. 

Präfident. Benoit hat gejagt, daß er Sie in Paris 
mit mehrern Eleinen PBadeten in der Hand gejehen habe. 

Angeklagte. Es waren dies Fleine Gejchenfe, bie 
ich mitbringen wollte. 

Präfident. Und es iſt wirklich Benoit gewejen, der 
alles bezahlt hat? 

Angeflagte. Ja wohl. Die Reife hat uns feinen 
Pfennig gefojtet. 


300 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand,. 


Präjident. Joſephine Martin, warum haben Sie 
zuerjt behauptet, Frau Morand fei e8 gewefen, die Vetard 
zu Ihnen geführt habe? Sie haben doch jpäter ſelbſt zu— 
gejtehen müſſen, daß fie unſchuldig ift. 

Sofephine Martin. Ich wollte Morand durch die 
Derbächtigung feiner Frau zum Geſtändniß bewegen. 

Frau Elergeot, geborene Deartin, deren Vernehmung 
nun folgt, fieht ihrer Schwefter ähnlich, aber ihre Züge 
find gröber und mehr entwidelt, auch ift fie ftärfer und 
voller als Joſephine Martin. Sie ift ſchwarz gefleivet 
und trägt ein Kopftuch jtatt des Hutes. 

Präfident. Es wird behauptet, daß Sie längere 
Zeit in intimen Beziehungen zu Vetard gejtanden haben. 

Angeklagte Es ift nicht wahr. Ich habe nie intim 
mit Vetard verkehrt. 

Präfident. Sind Sie e8 geweien, die Vetard ab- 
geholt und zu Ihrer Schweiter geführt hat? 

Angeklagte Nein, Herr Präfivent. Ich kann beim 
allerhöchften Gott fchwören, daß ich das Haus der Ma- 
dame Druge an diefem Tage nicht verlaffen habe. 

Präjident. Der eine dieſer Tragförbe gehört Ihnen ? 

Angeklagte. Ia. Meine Schweiter hatte ihn jchon 
mindeſtens acht Tage früher von mir geliehen. Ich weiß 
nicht mehr zu welchem Zweck. Ich bin nicht verantwortlich 
für die Verwendung meiner Sachen durch andere Perſonen. 

Präfident. Als Ihnen der Tragforb zurücdgegeben 
wurde, haben Sie da Blutfpuren daran bemerft? 

Angeklagte. Nein, Herr Präfident. 

Präfident. Sie ſelbſt haben ihn am Tage nach dem 
Berbrechen abgeholt? 

Angeklagte. Das ift richtig. 

Präſident. Noch ein anderer Verbachtsgrund wird 
gegen Sie geltend gemacht. Sie haben kurz nach dem 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 301 


Verbrechen weit mehr Geld bejeffen als jonft und große 
Ausgaben gemacht. 

Angeklagte. Ich habe mein rückſtändiges Gehalt 
als Kojtfrau für Pfleglinge in der Höhe von 50 Franc 
und eine Remuneration jowie einen Monatsbetrag von 
37 Francs auf einmal empfangen, und mein Mann bat 
am letten Januar 80 Francs an Lohn ausgezahlt erhalten. 

Präjident. Nach dem Berbrechen haben Sie eine 
verbächtige Aeußerung gethan. Sie haben Ihrer Schweiter 
vor dem Zeugen Robert gejagt: „Vergiß nicht anzugeben, 
daß du bei der Mutter übernachtet Haft.‘ 

Angefllagte. Das habe ich nicht gefagt. 

Na einer Unterbrehung von mehrern Stunden wird 
zur Zeugenvernehmung gejchritten. 

Paul Lemblay, 22 Jahre alt, Schwertfegergehülfe 
in Joigny. Am Mittwoch Abend, um halb 11 Uhr, habe 
ich beim Nachhaufegehen bemerkt, daß ver Raven des Herrn 
Vetard, der font um dieſe Zeit immer gejchloffen war, 
offen jtand. Vétard pflegte fonft um 6 Uhr abends zu 
ſchließen. Ich war darüber erjtaunt. Auch am nächften 
Morgen, als ich an die Arbeit ging, war der Laden fchon 
offen. Ich ging hinein, aber e8 war niemand darin. Ein 
Sicherheitswachtmann ging vorüber und ich machte ihn 
darauf aufmerkſam. 

Etienne Theophile Leblanc, 29 Jahre alt, Par— 
fumeur in Joigny. Er bewohnt das Haus, in dem jich 
Vetard's Raven befand. „Am Abend des 8. Februar jchloß 
ih mein Geſchäft zur gewöhnlichen Stunde. Mehrere 
Perjonen verbrachten den Abend bei mir. Fünf Minuten 
vor 10 Ubr habe ich zwei Perfonen in meinen Corridor 
eintreten und miteinander Sprechen hören. Es war eine 
Männer- und eine Frauenftimme. Was fie fagten, konnte 
ih nicht verftehen. Am nächjten Morgen war ich fehr 


.“ 


302 Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 


überrafcht, Vetard's Laden jo früh jchon offen zu ſehen, 
und jagte zu meiner Frau: «Da fchau nur, es fcheint, 
daß der dem Faftnachtsochien einen Frühtrunf widmet!» 
Etwas ſpäter bin ich ausgegangen und war jehr erjtaunt, 
nicht wie fonft die Uhren in der Auslage zu ſehen. Dffen- 
bar waren fie gejtohlen. Eine Nachbarin erzählte mir 
jpäter, daß zu der Zeit, wo am Abend zuvor ver Mann 
und die Frau in den Hausflur traten, eine andere Frauens— 
perjon im Hofe Wache geſtanden habe.“ 

Staatsanwalt. Haben Sie niemand beargmöhnt ? 

Zeuge. Nun, wie des Morgens ein Hochzeitszug 
porüberfam, da dachte ich mir, iſt wol einer darunter, 
deffen Hochzeitsanzug von Vẽtard's Geld bezahlt worden ijt? 

Präfivdent. Das find leere Phantafien. Sie haben 
nur über Thatjachen auszufagen. Haben Sie noch jonft 
etwas zu bemerken? 

Zeuge Am 13. Februar, um halb 1 Uhr, als man 
die Beine aus dem Wafjer herausfifchte, fagte ich zu 
einem Gensdarmen: „Man jucht den Mörder in ver 
Verne, und er iſt ganz nahe.” 

Präfident. Wen meinten Sie? 

Zeuge. Den Hauptangeflagten Morand! 

Bertheidiger Lailler. Das ijt eine bloße Ver— 
muthung! 

Zeuge. Freilich. Wenn ich deſſen gewiß gewejen 
wäre, jo hätte ich ihn angezeigt. Ich füge hinzu, daß 
e8 eine Frau gewejen tft, welche die Uhr aus der Aus— 
lage weggenommen bat. 

Ein Gefhworener. Woher wiſſen Sie das? 

Zeuge. Weil ziemlich dider Staub in der Auslage 
war, und bie Fingerfpuren, die zurücblieben, die einer 
Weiberhand waren. 


Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 303 


Bertheidiger Remacle Hit dies gerichtlich con— 
jtatirt worden? 

Präfident. Nein, aber ver Zeuge hat fchon in der 
Unterjuchung auf diefen Umftand bingewiefen. 

Lucien Gasnier, 28 Yahre alt, Bedienter. Am 
Tage des Verbrechens war ich bei VBetard wegen eines 
Kaufes. Er gab mir auf eine größere Note heraus, und 
als er die Geldlade öffnete, jah ich, daß er jehr viel 
Baargeld liegen hatte. 

Louis Dejenclos, 68 Jahre alt, Briefträger, hat 
in der Nacht gegen 2 Uhr Licht im Laden Vetard's ge- 
ſehen. 

Alexis Auguſte Babillot, 29 Jahre alt, Finanz- 
beamter in Joigny. Ich Habe bei dem Unterſuchungs— 
richter alles ausführlih zu Protokoll gegeben. Wichtig 
it an meiner Ausfage nur, daß ich am Abende des Ver- 
brechens am Haufe Joſephinens vorbeifam. Es war 
zwijchen halb 8 und 8 Uhr. Die Thür war verjperrt 
und die Fenjterläden waren gejchloffen. 

Präfident. Hatten Sie einen Hausjchlüffel? 

Zeuge. Nein. Joſephine gab ihn mir zuweilen, aber 
in der Regel hatte ich ihn nicht. 

Präſident. Man hat Ihnen einige Briefe vorge- 
wiejen und Sie haben die Schrift Ihrer Geliebten erfannt ? 

Zeuge Ja wohl, Herr Präfident. 

Präfivdent. Wußten Sie, daß Joſephine Martin 
mit dem Uhrmacher Vetard befannt war? 

Zeuge. Mein. 

Präfivdent. Hat Ihre Geliebte Sie vorher ver- 
tändigt, daß fie am 8. Februar abends nicht zu Haufe 
jein würde? 

Zeuge. Sie hat mir gejagt, fie würde vorausfichtlich 
den Abend bei ihrer Familie zubringen, weil ihr Bruder 


304 Der Brocef wider den Tagelöhner Morand. 


am nächiten Tage Hochzeit halte. Sie hat hinzugefügt, 
wenn es zu langweilig fein follte, würde fie Doch nach 
Haufe zurüdfehren. Darum bin ich für alle Fälle vorüber- 
gegangen. 

Bertheidiger Lailler. Sie famen täglich zu Jo— 
jephine Martin, haben Sie jemal® Morand bei ihr ge- 
jehen ? 

Zeuge Niemals. 

Präfident. Cs ift doch natürlich, daß Joſephine 
ein Zufammentreffen der verſchiedenen Männer zu ver- 
hüten wußte. (Gelächter im Zuhörerraum.) 

Jean Ablon, 63 Yahre alt, Bankier in Yoigny. 
Am 9. Februar morgens war ich eben daran, mein Fijch- 
zeug zu ordnen, als mein Fijcher zu mir fam und mir 
erzählte, man hätte am Ufer des Fluſſes einen menſch— 
lichen Arm aufgefunden. Sch habe fofort den Stants- 
anwalt hiervon verjtändigt. 

Das Auftreten der nächjten Zeugin ruft eine größere 
Bewegung des Publifums hervor. Es iſt dies die ehe- 
malige Geliebte Betard’s, Roſalie Mary, verehelichte 
Deproy, 28 Jahre alt, derzeit Dienftmagb in Tonnerre, 
Es iſt eine Kleine, frifche, rejolute Perjon, von etwas 
rundlicher Leibesbejchaffenheit. Sie hat fich Fofett heraus— 
gepußt und ihren jchwarzen Sammthut mit einem Sträuß- 
chen von Maiblumen geſchmückt. Trotz ihres felbftbe- 
wußten Auftretens wird fie durch die neugierigen Blicke 
des Auditoriums einigermaßen verjchüchtert. 

Sie gibt an: 

„Man bat mir bei Gericht Briefe vorgewieſen, die von 
mir herrühren follten. Es war dem jedoch nicht fo. Sie 
find von Joſephine Martin’8 Hand gejchrieben. Ich ver- 
muthe indeß, daß fie von Madame Elergeot ausgegangen 


Der Broceß wider ben Tagelöhner Morand. 305 


find. Dieje fannte meine Verhältniffe genau und hat 
diejelben vermuthlich der Joſephine berichtet.’ 

Präfident. Kannten Sie ven Angeklagten Morand? 

Zeugin. Nein, Herr Präfident. 

Präfident. Somit hat er die Briefe nicht dictiren 
fönnen. SKannten Sie Herrn BVetard? 

Zeugin. Ya wohl, Herr Präfivent. Ich habe ihn 
zuweilen in jeinem Laden gejprochen. 

Präjident. Aber Ihre Geſpräche drehten fich nicht 
um Uhren? 

Zeugin. Ach nein. 

Präfident. Er ift gern mit Ihnen zufammenge- 
troffen ? 

Zeugin. Ich glaube es wohl. 

Präfident. Er hat Ihnen Anträge gemacht? 

Zeugin. Sa, aber ich bin nicht feine Geliebte ge— 
worden. 

Präſident. Die Einzelheiten der incriminirten Briefe 
beruhen auf genauer Kenntniß Ihrer Verhältniffe? 

Zeugin. Sa wohl, Herr Präfident. 

Präfident. Sind Sie mit Yojephine Martin auf 
vertrauten Fuße geitanden ? 

Zeugin. Vor dem Verbrechen fannte ich fie faum 
wohl aber Frau Elergeot. 

Präfivdent. Hat Joſephine Martin Sie nach dem 
Verbrechen aufgejucht? 

Zeugin Zunächſt nicht. Frau Elergeot fam zu mir. 
Sie wollte horchen, welche Vermuthung ich über die Ver- 
fafferin der Briefe geäußert hatte. Joſephine Martin 
war bejorgt. Sie fürchtete, daß ich fie genannt haben 
fönnte, und jchidte darum ihre Echwefter zu mir. Als 
dennoch der Verdacht gegen ſie geäußert wurde, leugnete 
ſie mir gegenüber ſehr entrüſtet die hütefhaf ab, und 

XXIII 


306 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


Frau Glergeot jpottete über die Albernheit der Nichter. 
Don da an juchte mich Iofephine Martin möglichit oft 
auf und war voll Zuvorkommenheit und Liebenswürpigfeit. 

Angelique Godefroy, 47 Yahre alt, Näherin in 
Joigny. Gegen den 18. oder 20. Januar kam Fräulein 
Sojephine Martin, meine Nachbarin, zu mir und bat 
mic, an die „Magafins du Louvre‘ zu fehreiben, weil fie 
ein Hochzeitsfleid für die Trauung ihres Bruders bedurfte. 
Sie ift auf diefe Beftellung nicht zurückgekommen. Ich 
vermuthe als Urjache Geldmangel. Am 8. Februar theilte 
mir eine Frau Raoin mit, daß dieſe Hochzeit für den 
nächſten Tag anberaumt jei, und fügte hinzu: „Die arme 
Joſephine wird wol jchwerlich dabei fein fünnen, fie hat 
fein Kleid zum Anziehen.‘ An vemfelben Tage, abends 
gegen 7 Ubr, hörte ich zwei Perſonen die Treppe zu Jo— 
jephine hinauffteigen und wispern: „Phinel.. Phine!..“ 
Es erfolgte feine Antivort und die beiden Perjonen gingen 
wieder hinunter. Etwas jpäter, etwa um 7'/, Uhr, habe 
ich wieder zwei Perſonen hinauffteigen hören. Nach dem 
Klang der Schritte waren e8 eine mit der Dertlichfeit 
vertraute Frauensperjon und ein Mann. Dieſer ftolperte 
auf der Treppe. Gegen 8 Uhr vernahm ich viel Geräujch, 
kümmerte mich indeß nicht viel darum, denn ich las Die 
Zeitung oder plauderte mit einer Freundin. Um 10 Uhr 
war ein fortwährendes Gehen und Kommen. Zwiſchen 
11 und 1 Uhr wurde der Lärm jchwäcer. Sch war 
neugierig und legte mir bie Frage vor, was das zu be— 
deuten habe. Die Nacht war abjcheulih. Es regnete 
und ftürmte. Mich fröftelte und e8 wurde mir angft. 
Endlich um 1 Uhr jchlief ich ein. Um 6 Uhr am nächiten 
Morgen ſtand ich auf. Ich bemerkte, daß Joſephine Mar— 
tin noch nicht ausgegangen war. Bald darauf kam ein 
junges Mädchen mit einem Kleiderkorb zu ihr und brachte 


Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 307 


ihr den Hochzeitsitant. Gegen 10 Uhr vormittags jprach 
ih Marie Morand, die Tochter des Angeklagten, die bei 
mir nähen lernte. Sie erzählte mir, fie habe joeben Jo— 
jephine Martin begegnet, die in vollem Putz zur Trauung 
gegangen ſei. Sie ſehe ſehr hübſch aus. Kurze Zeit 
darauf vernahmen wir von einer Nachbarin, daß ein 
Männerarm am Flußufer gefunden worden fei. Frau 
Morand kam zu mir und erzählte, man habe ven Arm 
an dem Daumennagel als den des Uhrmachers Vötard 
erfannt. Wir plauderten über die verbrecherifche That, 
und ein anwejender junger Mann, Herr Salmon, jagte, 
er habe Herrn Vetard abends vorher um 7 Uhr in Be— 
gleitung eined® Frauenzimmers zu Joſephine gehen jehen. 
Sch erinnerte mich fofort an das merkwürdige Geräuſch 
vom DBorabend, allein ich dachte damals durchaus nicht 
daran, daß Joſephine jelber jchuldig fein könnte. Nach— 
mittags 4 Uhr kamen Herren vom Gericht mit Herrn 
Labeſſe zu mir. Herr Labeſſe fragte mich, ob Joſephine 
zur Hochzeit gegangen fei. Ich bejahte es. Er äußerte 
jofort: „Oh, das arme Ding! Gewiß fie hat mit ber 
Angelegenheit nichts zu jchaffen. Ich wußte e8 ja, fie war 
bei ihrer Mutter!“ Etwas fpäter fagte Frau Clergeot 
zu dem Gensdarmenwachtmeilter: „Sie kann nichts 
dafür. Sie hat bei unferer Mutter übernachtet.” ALS 
Sofephine kam, lief fie ihr entgegen und rief ihr raſch 
zu: „Daß du es nur weißt, ich habe es jchon gejagt, 
daß du heute bei ver Mutter übernachteft haft.” Am 
Abende Fam Joſephine zu mir herüber, ich fragte jie 
baarflein aus. Sie erwiderte mir aber: „Auf jolche 
Saden fann man gar nichts antworten!” Das hat mich 
zuerjt ftugig gemacht und mir Verdacht gegen fie ein— 
geflößt. Am 15. Februar fprach ich den Angeklagten 
Morand. Er jagte zu mir: „Nun, was denken Sie über 
20 * 


308 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


den Mord? Man hat die Thäter erwifcht, e8 find die 
Mouillons.“ Ich vrüdte ihm meine Zweifel an ber 
Richtigkeit diefer Nachricht aus. Morand erwiderte: „ES 
mag jein, daß der Mann unfchuldig ift, er ift ein Lump, 
aber ein guter Kerl. Die Frau halte ich aber einer jolchen 
That ſchon fähig.” Ich erinnerte ihn daran, daß Herr 
Betard nad Salmon’s Behauptung am 8. Februar abends 
zu Sofephine gefommen fei. Er erwiberte lebhaft: „Ab, 
ver Salmon ift eine Canaille, ein freiwilliger Polizeiſpion!“ 

Staatsanwalt. Haben Sie Morand bei der Jo— 
jephine Martin gejehen ? 

Zeugin. Ihn nicht, wohl aber Frau Morand. Die 
Kinder fpielten zuweilen miteinander, das war die Ver— 
anlafjung. 

Präfident (zuMorand). Haben Sie gejagt, daß Cal- 
mon eine Canaille und ein freiwilliger Polizeifpion ijt? 

Angeflagter. Nein. Man fprach von den vielen 
Anzeigen, die fälfchlich gegen die Monillons angebracht 
worden waren, und ich fagte im allgemeinen, dieſe An— 
zeiger ſeien Canaillen und freiwillige Polizeifpione. Ich 
habe es nicht von Salmon im beſondern behauptet. 

Zeugin. Sie haben e8 von ihm gejagt. 

Leon Salmon, 27 Yahre alt, Zijchlergefelle in 
Joigny. Am 8. Februar, des Abends um 7'/, Uhr, war 
ich vor der Hausthür meiner Mutter und habe veutlich 
Herrn Betard erkannt, als er mit einem Frauenzimmer 
in das Haus der Joſephine Martin hineinging. Er ift 
an mir vorübergefommen. ‚Herr Betard ift über eine 
Stufe geftolpert und hat etwas zwijchen ven Zähnen ge— 
murmelt. Das Frauenzimmer habe ich nicht erfannt. 

Präfident. Sehen Sie die Angeklagten Martin 
und Elergeot genau an. Scheint Ihnen eine won beiden 
die Begleiterin des Herren Vetarb gewejen zu fein? 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 309 


Zeuge. Die Joſephine Martin war es gewiß nicht, 
aber ich bin jett beinahe ficher, daß e8 die Fran Elergeot 
gewejen tit. 

Bertheidiger Remacle. War die Stiege zur 
Wohnung der Martin denn nicht beleuchtet? 

Zeuge. 9a, mit einer Lampe. 

Bertheidiger Lailler. Iſt das Frauenzimmer mit 
binaufgegangen? 

Zeuge Ja wohl. 

Dertheidiger Remacle War im Zimmer jchon 
Licht, als die Frauensperſon hinaufitieg. 

Zeuge Ja wohl. 

Eleonore Bognot, verehelichte Vetard, 37 Yahre 
alt, Krämerin in Saint-Julien-du-Sault. Joſephine 
Martin ift mit der Hochzeitsgejellfchaft in unfern Ort 
gekommen. Sie ijt in meinen Laden getreten, um Zucker— 
werk zu faufen. Als fie meine Firmatafel las, war fie 
ganz bejtürzt. 

Eugene Robert, 21 Jahre alt, Gärtnergehüffe. 
Ich habe gehört, wie Frau Clergeot ihrer Schweiter zu— 
rief: „Vergiß nicht zu jagen, daß du bei der Mutter 
übernachtet haft.“ 

Eine Reihe von Zeugen jagt über den Charakter 
Moranv’s aus. Die Stimmung verjelben ijt offenbar 
gegen ihn. Morand ſoll feine Kameraden oftmals hart 
angefahren und wörtlich bedroht haben; feiner von allen 
jedoch vermag zu behaupten, daß er jemals wirklich zu- 
geichlagen hätte. 

Adolfine Suffroy, verehelichte Droin, 55 Jahre 
alt. Am Tage des Berbrechens, abends zwijchen 6 Uhr 
15 Minuten und 7 Uhr, babe ih Morand bei der 
Sofephine Martin eintreten jehen. Ich jtand beim 
Brunnen. 


310 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


Präfivdent. Ihre Ausfage ift äußerſt wichtig. Ueber- 
legen Sie wohl, find Sie deſſen vollfommen ficher ? 

Zeugin. Bollfommen. 

Präfident. Sie hegen feine Feinpjeligfeit gegen den 
Angeklagten? 

Zeugin. SKeinerlet. 

Präfident (zu Morand). Sie hören die Zeugin. 

Angeflagter. Es ift faljche® Zeugnif. Ich war 
nicht dort. Ich war es nicht. Ich bin in meinem ganzen 
Leben niemals zur Joſephine Martin gegangen. Es ift 
ein Racheact der Frau, fo gegen mich auszujagen. 

Zeugin. D, wenn er aus biefem Zone jpricht! 
Ich weiß noch gar mancherlei über ihn zu erzählen! 

Präfident. Darum handelt es fich nicht. Ich frage 
Sie nochmals: hegen Sie feindfelige Gefinnungen gegen 
ven Angeklagten ? 

Zeugin. Nein. Ich bin nicht voreingenommen und 
vollfommen gerecht. Ich fage nur die Wahrheit. Am 
nächſten Tage habe ich felbit gehört, dag Morand ven 
Bacher durch einen Pfiff herbeirief. Sie führten ein 
erregtes Gefpräch, aber mit leifer Stimme, ſodaß ich die 
Worte nicht verjtehen Eonnte. 

Angeflagter. Aber das ift eine neue Erfindung! 
Das ift vollfommen unwahr! 

Zum erjten mal jcheint Morand etwas aufgeregt; 
alfein er gewinnt bald feine Selbftbeherrichung und Ruhe 
wieder und lächelt nur, als Frau Droin mit großer 
Zungengeläufigfeit alle die Drohungen aufgezählt, die er 
angeblich gegen fie ausgejtoßen haben will. 

Präfivdent. Sie haben bet anderer Gelegenheit be= 
hauptet, Morand fei ein Schmuggler? 

Zeugin. D, er läuft ganze Nächte lang herum! 
Ich habe es ihm fchon früher gejagt, ev thäte befjer 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand, 311 


daran, zu arbeiten, als folchen Lichtfchenen Beichäftigungen 
nachzugehen. 

Angellagter. Es ift ein vorbedachter Racheact. 
Ih habe die Frau einmal gerichtlich angezeigt, und feit 
biefer Zeit haft fie mid). 

Präfident. Sie behaupten alfo, diefe ganze Aus— 
fage beruhe auf Erfindung? 

Angeflagter. Mit aller Beſtimmtheit. 

Marie Ligault, verehelichte Duffange, 32 Yahre 
alt. Am 8. Februar abends ging ich nach dem Zapfen 
ftreich nach Haufe und jah Fräulein Martin, als fie zum 
Brunnen ging, um Waffer zu holen. Ein Mann war 
unweit von ihr. Sch habe ihn nicht erfannt. Herr Vetard 
war e8 ficher nit. Er war größer, trat jchwer auf 
und trug eine Mütze. 

Präſident. Glich der Mann dem Angeklagten 
Morand ? 

Zeugin. Herr Präfivent, das ift Gewiſſensſache. 
Ich kann eine folche Frage nicht Leichthin bejahen. 

Präfident. Sie haben recht. Alſo Sie erkennen 
jenen Mann nicht in dem Angeklagten? 

Zeugin. Nein! Es ift zu ernit, um leichtfinnig 
zu antworten. Was die Frauensperfon anbelangt, fo 
bin ich dagegen meiner Sache ficher. Es war Fräulein 
Martin, darauf fann ich ruhig fchwören. 

Präſident. Es ſtimmt dies nicht mit der Zeit. 
Die Angeklagte will damals noch bei ihrer Mutter ge- 
wejen fein. Frau Zeugin, fönnen Sie genau jagen, um 
wieviel Uhr Sie die Joſephine Martin gejehen haben? 

Zeugin. 8 Uhr 45 Minuten. Es fchlug eben vom 
Thurme der Kirche zum heiligen Johannes. 

Marie Mapdalenat, verehelichte Ablon, 40 Jahre 
alt, Weingartenbefigerin, war in Gejellichaft ver vorigen 


312 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


Zeugin. Sie fagt ganz übereinftimmend mit der— 
jelben aus. 

Präfident. Erfennen Sie in dem Angeklagten Mo- 
vand den Mann, den Sie gejehen haben? 

Zeugin. Ich habe ihn nicht genau gejehen und er- 
fenne ihn nicht. 

Bertheidiger Lailler. Was trug jener Dann für 
Schuhe? 

Zeugin. Soviel ich weiß, grobgenagelte Lederſchuhe. 

Staatsanwalt. Diefen Umftand hat Sofephine 
Martin aufgeklärt. Sie hat gejagt, dat Morand jeine 
Holzihuhe ausgezogen habe. 

Am nächſten Verhandlungstage wird der Brief zur 
Berlefung gebracht, den der Bertheidiger Yailler zu Be— 
ginn der Verhandlung reclamirte, Dieſer Brief lautet jo: 


„Joſephine! 

„Du biſt eine Elende. Du haſt mich retten wollen 
und haſt mich zu Grunde gerichtet. Im Augenblick, an 
dem Du meinen Brief empfängſt, lebe ich vielleicht nicht 
mehr, denn ich kann dem Schmerze nicht widerſtehen, der 
mich überwältigt, wenn ich bedenke, in welcher Lage ich 
mich befinde, und erwäge, daß es Deine Schuld iſt, Du 
Spitzbübin. Glücklicherweiſe für mich ſind meine Papiere 
in Ordnung, ſonſt wäre ich wol ſchon verhaftet. Du 
wirſt nie wieder von mir hören. Ich nenne Dir das 
Land gar nicht, wohin ich mich begebe. Ich reiſe morgen 
ab. Ich hoffe, Du haſt meine zurückgelaſſenen Papiere 
vernichte. Wenn ich den Muth habe, ins Ausland zu 
entfliehen, bin ich vielleicht gerettet. Ich ſage Dir nicht 
mehr, denn Du biſt eine Verworfene und Niederträchtige, 
die man meiden muß. Ich bitte Dich, verbrenne dieſen 
Brief ſofort, damit ihn niemand findet. 


Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 313 


„Set verflucht, denn Du haft das Herz dazu einen 
Mann in feinem Bett auszuliefern. Wie viele Unfchuldige 
haft Du nicht denuncirt! Ich habe e8 in der Zeitung 
gelefen, wie ich in Aurerre war. Gut, daß ich fort: 
gegangen bin. Wenn ich geblieben wäre und auf Did 
gehört hätte, wäre ich wol fchon eingejperrt, denn Du 
bift eine Verrätherin und jo verächtlih, daß Du nie 
wieder von mir hören wirft.‘ 


Staatsanwalt. Diejer Brief, meine Herren Ge- 
ihworenen, iſt mit Bleiftift gejchrieben. Er befand fich 
nicht in einem Briefumfchlag, jondern war in ein Stüd 
Papier eingejchlagen. Der Poſtſtempel lautet: „Paris, 
Lyoner Bahnhof — März 1888. Außerdem befindet 
fich ein Boftitempel darauf: „Quarre-les- Tombes — 
12. März 1888.” Der Pojtjtempel Joigny fehlt. Er ift 
offenbar deshalb irrigerweife nach Quarre-les-Tombes 
gejchieft worden, weil der Pojtbeamte die Straßenbezeich- 
nung „Große Tombe“ für den Ortsnamen gelejen hat. 

Präſident. Angeklagte Sojephine Martin, haben 
Sie diefen Brief erhalten? 

Angeklagte. Nein! Aber der Kerfermeifter, Herr 
Frank, hat mir gegenüber von diejem Briefe gejprochen. 

Präſident. Wiſſen Sie, wer den Brief gejchrieben 
hat? 

Angefllagte. Ich kann es nicht willen. 

Bertheidiger Remacke Wie it der Brief in die 
Hände des Unterfuchungsrichter8 gefommen ? 

Staatsanwalt. ch weiß es nicht. Vielleicht kann 
der Kerkermeiſter Frank darüber Aufjchluß geben. 

Präfident. Derfelbe ift als Zeuge vorgeladen und 
kann darüber vernommen werden. Site, Angeklagte 
Martin, erkennen die Handjchrift nicht? 


314 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand. 


Angeklagte. Nein! Herr Präfident. 

Das Zeugenverhör wird fortgeſetzt. 

Madeleine Butris, verehelichte Salmon, 55 Jahre 
alt. Am Tage des Verbrechens bin ich um 5 Uhr nach» 
mittags zu Morand gefommen. Er ift ausgegangen, und 
als ich um 10 Uhr abends wegging, war er noch nicht 
wiebergefomment. 

Präfident. Morand behauptet, er habe fich zu 
Bett gelegt. 

Zeugin. Nein, Herr Präfident! Ich bin deſſen 
ficher, daß er nicht zu Bett war. Er hat um 5 Uhr 
gegeſſen, ift eine Biertelftunde darauf mweggegangen und 
war um 10 Uhr noch nicht zurüd. 

Angeflagter. Ich Habe um 6 Uhr gegeffen und 
babe mich dann niedergelegt. Frau Salmon ift mit 
meiner Frau weggegangen, um den Faftnachtsochlen an— 
zufehen. Ich habe es gehört, wie fie weggingen. 

Zeugin beharrt bei ihrer Ausjage. 

Ein Gejhworener. Wo liegt die Schlafftube des 
Morand und wo waren Sie? 

Zeugin. Ih war in der Küche und die Thür 
feines Schlafzimmers führt in die Küche. Er mußte, 
um fich in fein Bett zu begeben, durch die Küche gehen. 

Vertheidiger Lailler. Sie haben nicht darauf ge= 
antwortet, ob Sie ausgingen, um den Faftnachtsochien 
anzujehen ? 

Zeugin. Ja, aber nur gerade vor die Thür. 

Präfivdent. Hat nicht Bertfa Morand, eine 
Tochter des Angeklagten, vwerjucht, Ihre Ausfage zu be- 
einfluffen ? 

Zeugin. Sie hat mir gefagt: „Nicht wahr, wenn ' 
Sie gefragt werden, werden Sie fagen, daß Papa um 


Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 315 


8 Uhr zu Haufe war.” Ich antwortete ihr: „Kind, ich 
werde die Wahrheit jagen.‘ 

Francois Werner, 36 Iahre alt, Weinbauer, 
bezeugt, daß er Blutflecken auf Morand's Holzichuhen 
gejehen hat. 

Marguerite Fanny Bellon, genannt Gabriele, 
22 Jahre alt, Dienjtmäbchen bei Vader. Diejes 
Mädchen, eine richtige Gafthofsmagd, frech, gejund, von 
derbem Gliederbau, frijcher Gefichtsfarbe und Tebhaft 
bligenden Augen, war längere Zeit hindurch jelbjt ver 
Theilnahme am Morde verdächtig und deshalb verhaftet. 
Jetzt galt ihre Zeugenausjage als die wichtigfte Stüte 
der Anklage wider das Ehepaar Vacher. Ihr Auftreten 
ift jehr ſelbſtbewußt. Sie gibt an: 

„Ih bin im Dienfte bei den Eheleuten Wacher ge— 
ftanden. Ich behaupte mit Bejtimmtheit, daß Herr Bacher 
am 8. Februar um 8 Uhr 45 Minuten ausgegangen und 
erft in jpäter Nachtjtunde zurücgefommen ift. Frau Vacher 
ging gegen 10 Uhr fort und blieb ungefähr 20 Minuten 
lang weg.” (Bewegung im Zuhörerraum.) 

Angellagter Bacher Es ijt nicht wahr. Wir 
ipielten Karten, ich, meine Frau und Gabriele, bis 10 Uhr 
30 Minuten. Sie jelbft jagte noch am andern Tage: 
„Es iſt ein wahres Glück, daß wir drei hier faßen und 
Karten fpielten. Man hätte jonft auch behaupten fünnen, 
ich jet e8 gewejen, die den Vetard umgebracht hat, man 
bejchuldigt ohnedies bereit8 die halbe Stadt und alle 
Mädeln.“ 

Zeugin beharrt bei ihrer Ausſage. 

Angeklagte Frau Vacher. Gabriele irrt ſich. Wir 
ſpielten zuſammen Karten bis nach 10 Uhr. Sie hat 
ſogar mit meinem Manne nicht wenig fofettirt. 


316 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


Angeflagter Bacher. Ich habe vie Außenthür 
jelbjt um 10 Uhr 45 Minuten zugemadht. 

Zeugin. Nein! Frau Bacher und ich haben zu— 
gejperrt. 

Angellagte Frau Vacher. Das ijt gelogen, 
Gabriele! 

Zeugin beharrt bei ihrer Ausjage. 

Angeflagter Bacher. Wenn ich fpät nachts nach 
Haufe gefommen wäre, jo müßten die Nachbarn davon 
wiffen. Der Hund des Photographen in unſerm Daufe 
macht in folchen Fällen immer einen Höllenlärm, ſodaß 
die Nachbarfchaft fich jchon oft beflagt hat. In diejer 
Nacht iſt e8 aber nicht gefchehen. 

Bertheidiger Savatier-Laroche. Waren nicht 
noch andere Perjonen, Gäfte, um diefe Zeit bei Vacher ? 

Zeugin. Nein, nicht mehr, Die legten, der Trom- 
peter und der Reſerviſt, waren um 9 Uhr jchon weg- 
gegangen. 

Bertheidiger Savatier-Laroche. Hatten nicht 
Sie jelbjt abends vor der Thür eine Unterredung mit 
einen Schreiber des Notard wegen eines Veilchen- 
ſtraußes? 

Zeugin. Nein, das war während des Tages. 

Vertheidiger Savatier-Laroche. Der Schreiber, 
Herr Albouy, ſagt aber, dieſe Unterredung habe Abends 
9 Uhr 15 Minuten ſtattgefunden. 

Zeugin. Nein, das iſt nicht richtig. 

Ein Geſchworener. Haben Sie bemerkt, daß Frau 
Vacher etwas mitnahm, als ſie wegging? 

Zeugin. Nein! Ich gab nicht Acht darauf. Ich 
ſpielte ja. 

Vertheidiger Savatier-Laroche. So, Sie ſpiel— 
ten? Ei, und mit wem denn eigentlich? 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 317 


Zeugin. Mit Herrn Grivet. 

Präſident. Sie find mit Frau Vacher nach Paris 
gereift ? 

Zeugin. Ja wohl, Herr Präfident. 

Präfident. Wer hat denn dieje Reife in Vorjchlag 
gebracht ? 

Zeugin. Herr Bacher. 

Angeflagter Bacher. Nein! Es war Benoit. 

Zeugin. Herr Vacher hat Benoit dazu ermuntert. 
Er hat ihm gejagt: „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, 
jo möchte ich gleih zur Unterhaltung nad Paris 
reifen.‘ 

Präfident. Iſt die Reife dann fofort angetreten 
worden? 

Zeugin. Nein. Sie wurde mehrmals verjchoben. 
Die Urfache der Verzögerung war die, daß Herr Benoit 
damals gerade fein Geld hatte. 

Präfident. Wie lange find Sie ausgeblieben? 

Zeugin. Bon Montag bis Mittwoch. 

Präfident. Wer hat die Koften getragen? 

Zeugin. Ich weiß nur, daß Herr Benoit für mich 
alles gezahlt hat. Er brachte auch Herrn Vacher ein 
Geſchenk, eine Meerichaumpfeife, mit. 

Präfident. Herr Benoit ftand mit Ihnen auf ver- 
trautem Fuße? 

Zeugin (lächelnd). Freilich. 

Präfident (zu Vacher). Welche eigenthümliche Idee 
von Ihnen, Ihre Frau mit Ihrem Dienftmädchen und 
deren Geliebten nach Paris zu fehicen! 

Angellagter Bacher. Meine Frau kannte Paris 
nicht. Es war eine gute Gelegenheit. (Heiterfeit.) 

Präfident. War Frau Bacher während der Reife 
im Befite von Geld? 


318 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


Zeugin. Ich habe Geld in ihrem Portemonnaie ge- 
jehen. Vielleicht 100 France. 

Angeklagte Frau Bacher. O nein, ed war nur 
etwas Fleine Münze. 

Präſident. Frau Vacher Hat in Paris einige Ein- 
käufe gemacht? Was wiſſen Sie davon? 

Zeugin. Sie hat eine Pfeife, einen Pelzkragen, einen 
Korb und andere Kleinigkeiten gefauft. 

Präfident. Was befand fi) im Koffer der Frau 
Bacher? 

Zeugin. Dinge, die nicht darin hätten fein dürfen. 

Präfivdent. Was meinen Sie damit? 

Zeugin. Die Goldfachen von Vetard. (Bewegung 
im Zubörerraumt.) 

Präſident. Haben Sie bdiefelben jelbit gejehen ? 
Waren Sie anwefend, als fie die Schmudjachen verfauft 
hat? Wiſſen Sie, wo und wann dies gejchah? 

Zeugin (zögernd). Nein! Das freilich nicht. 

Präjident. Wiffen Sie wenigitens, wann fie weg— 
ging, um diefelben zu verkaufen? 

Zeugin. Nein! Ich blieb immer bi8 um 11 Uhr 
vormittags im Bett liegen. 

Staatsanwalt. Die Anklage will ihrerjeits feine 
Unflarheit beftehen laſſen. Die Herren Gejchworenen 
wollen zur Kenntniß nehmen, daß die nunmehrige Zeugin 
Vellon felbjt verdächtig war und in Unterjuchung gewejen 
ift. In der Unterfuchung hat fie eingeftanden, daß fie 
Vetard abgeholt und zur Joſephine Martin geführt habe. 
Warum haben Sie das jo angegeben? 

Zeugin. Joſephine Martin hat mich dazu veranlaft. 

Präſident. Wie ift das gekommen? 

Zeugin. Joſephine Martin hat mir erzählt, der 
Polizeicommiffär habe ihr gejagt, daß ihre ganze Familie 


Der Proceß wider den TZagelöhner Morand. 319 


in die Gejchichte verwidelt werde. Sie bat mich, jo aus- 
zufagen, um jie zu entlaften. Sie weinte den ganzen 
Zag. Ich habe Mitleid mit ihr gehabt, und um ihr 
einen Dienjt zu erweijen, habe ich es fo angegeben. 

Präfivdent. Das war ein für Sie felbft fehr ge- 
fährlicher Liebesdienft, ven Sie ihr da erwiejen haben. 

Zeugin. Ich hatte es nicht jo bedacht. (Sie lächelt 
verſchmitzt.) 

Präſident (zu Joſephine Martin). Weshalb haben 
Sie die Vellon zu dieſer falſchen Ausſage verleitet? 

Angeklagte Joſephine Martin. Es geſchah, um 
Morand zu einem Geſtändniß zu beſtimmen. 

Präſident (zur Vellon). Hat die Angeklagte Martin 
Ihnen dieſen Grund angegeben? 

Zeugin. Ja wohl, Herr Präſident! Sie hat mir 
geſagt: „Wenn Morand hören wird, daß du geſtehſt, 
bu ſeieſt es geweſen, die Vetard abgeholt hat, jo wird 
er vielleicht in ſich gehen und die Wahrheit geſtehen. 

Präſident. Wann hat ſie Ihnen dies geſagt? 

Zeugin. Nachdem ſie die Beſchuldigung gegen eine 
andere Perſon zurückgezogen hatte. Aber es geſchah noch, 
bevor ſie dem Unterſuchungsrichter geſtand, daß ſie mich 
zu der falſchen Angabe verleitet habe, und daß ſie ſelber 
Vetard abholte. 

Prosper Barre, 24 Jahre alt, Maurer. Am Abend 
des Verbrechens war ich bei Vacher. Er war nicht an— 
weſend. Ich fragte ſeine Frau nach ihm, und ſie ant— 
wortete mir, er ſei verreiſt. 

Präſident. War die Vellon bei dieſer Unterredung 
anweſend? 

Zeuge. Nein! Sie war nicht da. Frau Vacher 
ſagte mir, ſie ſei ſpazieren gegangen. 

Präſident. Wo ſtanden Sie? 


320 Der Proceß wider den Tagelöhner Morant. 


Zeuge Beim Zahltiich. 

Präfjident. Sie haben Vader nicht Karten fpielen 
gejehen ? 

Zeuge. Nein! Es war niemand anwejend als ber 
Trompeter Ye Bätard. 

Angeklagte Frau Bacher Herr Barre berichtet 
eine wahre Thatjache, allein er irrt fih im Tage. Er 
war ein wenig angetrunfen. 

Präfident. Zeuge, Ihre Ausjage ift jehr wichtig! 
Erinnern Sie ſich des Tages genau? 

Zeuge. Es ift fein Irrthum möglih. Am 6. Februar 
war ich in Orleans, am 7. Februar in Laroche. Es muß 
daher am 8. Februar gewejen fein, daß ich zu Bacher fam. 
Sch war freilich Schon am 7. Februar gleich nach meiner 
Rückkehr auch bei Bacher. Aber damals war er anweſend. 
An diefem Tage war ich vielleicht ein wenig betrunfen. 

Angeflagter Daher. Am 8. Februar abends war 
ih zu Haufe und der Zeuge war an jenem Abend ficher- 
fich nicht bei mir. 

Cäſar Dumont, Küfer, hat Barre begleitet. Auch 
er war angetrunfen. Er gibt übereinftimmend mit dem 
vorigen Zeugen den 8. Februar als den Abend an, wo 
fie bei Vacher geweſen find. Auch er hat weder Vacher 
noch die Vellon gejehen. 

Eugene Bourdois, 24 Jahre alt, Kutjcher. 
Donnerstag, den 9. Februar, bin ih um 6 Uhr 
30 Minuten früh ausgegangen. Ich fam auf meinem 
Wege langfam gegen die Monne zu, ba vernahm ich 
Schritte hinter mir her. Ich blieb ftehen und jah mich 
um. Ich erfannte Herrn Vader. Er war barhaupt 
und trug ein leinenes Aermelleibchen und eine graue 
Hofe. Ich war erftaunt, ihn bei jolchem Wetter fo früh 
ausgehen zu ſehen. Er wendete fich dem Manöverfelde zu. 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 321 


Präfident. Vacher, irrt fich diefer Zeuge auch? 

Angeflagter Bacher. Es ift nicht möglich, an 
einem trüben Wintermorgen um 6 Uhr 30 Minuten, 
bei dem Wetter, das damals herrichte, einen Menjchen 
auf einige Entfernung mit Beftimmtheit zu erfennen.! 

Zeuge. Doc, ich habe Sie erfannt. Ich habe jogar, 
als ih nach Haufe fam, meinem Herrn gefagt: „Herr 
Bacher iſt aber heute jchon jehr früh ausgegangen.” 

Ambroife Louis Barbe Tagelöhner, war mit 
Bacher in einer Zelle im Gefängniß und hat ihn fagen 
bören: „Morand wird uns doch nicht verzündet haben!” 

Bacher leugnet, diefe Aeußerung gethan zu haben. 

Kerfermeifter Frank, gibt Auskunft über die Briefe 
Morand's an feine Frau. 

Bertheidiger Lailler (zu dem Zeugen). Sie haben 
eine Unterredung gehört, welche zwijchen der Unterfucchungs- 
gefangenen Joſephine Martin und Gabriele Vellon ftatt- 
gefunden hat? 

Zeuge Als ich meine gewöhnliche Kunde machte, 
habe ich eines Tages die Joſephine Martin und bie 
Bellon durch das Gitterfenjter im Corridor miteinander 
Iprechen hören. Gabriele fagte zu Vofephinen: „Du 
weißt ganz gut, daß bu mich zu der falſchen Ausjage 
verleitet haft, daß Morand mich veranlaft habe, Vetard 
abzuholen. Morand hat e8 nicht gethban. Du haft mich 
beitimmt, jo auszufagen. Es war am lekten Sonntag. 
Du haft heftig geweint und mich unter Thränen um- 
armt und haft mich bejchworen: Nette mich und meinte 
Familie!“ Die Martin hat ihr ganz laut darauf zu— 
geichrien: „Freilich weiß ich, daß esTerlogen war, aber 
deswegen, du dummes Ding, bhätteft du doch dabei 
bleiben können. Dir hätte esinicht viel geſchadet, aber 


mir jehr viel genüßt.” Die Bellon erwiderte: „3a, 
XXI. 21 


322 Der Procef wider den Tagelöhner Morand, 


wenn ich deine eijerne Stirn und deine unzerjtörbare 
Srechheit hätte! Dann wäre e8 mir möglich gewejen, 
an der Lüge feitzuhalten. Ich kann das eben nicht.” 
Die Martin entgegnete: , Hör’ auf, du willft nicht die 
Stirn haben, du, Haft du denn nicht dem Morand 
ins Geficht behauptet, daß er dich angejtiftet habe? 
Du haft ihn ja, weil er es leugnete, einen elenden Schuft 
und einen verworfenen Schurken genannt!“ 

Bertheidiger Nemacle Hat die Martin währent 
ihrer Unterjuchungshaft Briefe erhalten? 

Zeuge Meines Wiffens ift nur ein einziges an 
fie gerichtetes Schreiben angefommen; ich habe es ord— 
nungsgemäß dem Unterfuchungsrichter zugeftellt. 

Bertheidiger Remacle. Hat Joſephine Martin 
biejen Brief, ehe er abgeliefert wurde, gejehen ? 

Zeuge. Vielleicht. Ich erinnere mich deffen nicht. 

Bertheidiger Remacle. Ich erjuche Sie, Ihr Er- 
innerungsvermögen zu jfammeln. Haben Ste über dieſen 
Brief mit ihr gejprochen oder nicht? 

Zeuge Ich glaube nicht, aber ich kann es nicht 
beſtimmt verfichern. 

Angeklagte Joſephine Martin. Herr Frank redete 
mir immer zu: „Aber fagen Sie doch die Wahrheit, 
gejtehen Sie... .” Eines Tages fagte er mir: „Was 
it e8 denn mit dem Briefe, ven Sie erhalten haben, der 
von dem Tiebhaber, der jchreibt, er wolle fich um Ihret— 
willen in die Seine ftürzen. Leugnen Sie nicht, ich habe 
ihn ja gelejen.“ 

Zeuge. Ich kann mich daran nicht erinnern. 

Angeklagte Jojephine Martin. Herr Frank hat 
mir gejagt, e8 handle fich um einen Liebhaber, der mein 
Zimmer genau fenne und genaue Einzelheiten gejchrieben 
babe. 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 323 


Präjident. Herr Kerfermeifter, kannten Sie den 
Inhalt des Briefes? 

Zeuge. Ja! Der Unterfuchungsrichter hat ihn mir 
vorgeleſen. 

Vertheidiger Lailler. Ich kann die Bemerkung 
nicht unterdrücken, daß es ſehr ſonderbar iſt, daß die 
Angeklagten fortwährend von allen Vorgängen, die ſie be— 
trafen, unterrichtet worden ſind. 

Präſident. Es iſt nicht in Abrede zu ſtellen, daß 
im Laufe dieſer Unterſuchung mancherlei Ungehörigkeiten 
vorgefallen ſind. 

Auguſte Benoit, 45 Jahre alt, Grundbeſitzer. 
Vacher hat mich zu der Reiſe nach Paris ermuntert und 
mir zugeredet, die „Damen“ mitzunehmen. Ich habe 
alles bezahlt und Vacher eine Meerſchaumpfeife mit— 
gebracht. Die Reiſe hat mich 320 France gekoſtet. 

Der Arhiteft Dppenot gibt genaue Auskunft über 
die Wohnung der Joſephine Martin und über die dajelbft 
feitgejtellten Blutſpuren. 

Dr. Leriche erjtattet das Gutachten über die Leichen- 
refte. Diejelben wurden mit Beftimmtheit als von Vetard 
berrührend erkannt an der bejondern Bejchaffenheit des 
Daumennagel8 und an einer Narbe am Bein, die von 
einer Verlegung zurücgeblieben war. Dr. Leriche hatte 
ihn feinerzeit deshalb felbjt behandelt. Der Sachver- 
jtändige nimmt an, daß Vẽtard auf der Stiege rüdlings 
überfallen und daß ihm mit einem jchweren Hammer ber 
Schädel eingejchlagen worden ift. Sodann hat man ihn 
in das Zimmer gebracht und dort die Zerjtüdelung der 
Leiche vorgenommen. 

Die Leichenrefte werden enthüllt und die Angeklagten: 
Morand, Bacher und Joſephine Martin, vor diejelben 
geführt. Es ift 8 Uhr abends geworden, Dümmer- 

21* 


324 Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 


licht erfüllt den Saal. Eine dramatijche Scene jpielt 
jich ab. 

Morand erklärt mit größter Kaltblütigfeit, er fenne 
diefe Glieder nicht, er habe feinen Theil an dem Morde. 

Bacher ift jehr aufgeregt. Er feufzt mit erjticter 
Stimme: „Ich bin jehr unglüdlih! Wie fomme ich 
dazu! Ich war nicht dabei!” 

Joſephine Martin freifcht laut: „Es find die Mörder! 
Niemand weiß es als ich! Ich ſchwöre es, dieſe beiden 
da find die Mörder!” 

Mit diefer bewegten Scene endet die Verhandlung 
des zweiten Tages. 

Am dritten VBerhandlungstage richtet der Präſident 
die Aufforderung an die Joſephine Martin, fie möge 
nochmals genau jchildern, was fih an dem fritijchen 
Abend zugetragen habe. 

Angeklagte. Ich habe um 5 Uhr 30 Minuten, 
meine fleine Juliette an der Hand, meine Wohnung ver- 
laffen, um zu meiner Mutter zu gehen. Ich habe Morand 
beim Brunnen gegenüber meiner Wohnung getroffen. ch 
habe ihm erzählt, daß ich zur Hochzeit gehen und nicht 
nah Haufe kommen würde Cr hat mich um meinen 
Wohnungsichlüffel gebeten, damit er fich eine Säge ab- 
holen fünne. Er hat dabei ausdrücklich gejagt: „Da 
Sie heute Abend nicht nach Haufe fommen wollen, brauchen 
Sie Ihren Schlüfjel ohnehin nicht, holen Ste ihn bet mir 
ab, wenn Sie zurückkommen.“ Ich habe ihın den Schlüffel 
gegeben. Hierauf fagte er: „Sie fommen auf Ihrem 
Wege bei dem Uhrmacher Vetard vorbei, bitte, geben Gie 
ihn diefen Brief.” Ich nahm den Brief an mich und 
beabfichtigte ihn bei VBetard "abzugeben. Derſelbe war 
jedoch nicht anmwefend. Ich bin nun zu meiner Mutter 
gegangen. Um 6 Uhr 45 Minuten ging ich wieder zu 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 395 


dem Laden des Uhrmacher. Herr Vetard war zurück— 
gefommen, nahm den Brief, las ihn und ging mit mir 
fort. Bei der Fifchhalle trafen wir Morand. Wir gingen 
zujammen weiter. Vetard folgte uns, blieb aber etwas 
zurüd, Ich bin mit Morand voraus die Stiege hinauf. 
Detard Fam und nad. Er tft auf der eriten Stufe ge- 
ftolpert. Morand hat mir ein Gläschen Gognac ein- 
gejchenft und mich dann weggeſchickt. Ich war darüber 
jehr verwundert und habe Morand gefragt: „Ja, wes— 
halb wollen Sie denn noch dableiben? ” 

Angeflagter Morand. Bon Anfang bis zum Ende 
erlogen! Ich war nie bei Ihnen! Weder damals noch 
je zuvor. 

Angeklagte Iofephine Martin. Schweigen Sie! 
Sie find das abjceheulichite Ungeheuer! — Ich bin aljo 
fortgegangen und um 7 Uhr 30 Minuten bei meiner Familie 
gerade noch rechtzeitig zum Abendefjen angefommen. Wir 
haben die Vorbereitungen zur Hochzeit fertig geftellt. Meine 
Mutter verlangte, ich jollte bei ihr übernachten. Ich wollte 
aber nicht und bin nach Haufe zurüd, wo ich eben Vacher 
bei der Arbeit traf. Yeugnen Sie nicht! (Mit fteigenver 
Erregung:) Ihr allein feid die Mörder! Als ich Lärm 
Schlagen wollte, drohte mir Morand mit dem Fleijcher- 
meffer. Auf dem Fußboden war eine Blutlache, die mein 
Kind für rothen Wein hielt. 

Präſident. Zur Aufklärung der Herren Gefchworenen 
muß ich hier bemerken, daß man das Fleine Mädchen ver 
Sojephine Martin befragte. Das Kind fagte: „Papa 
Betard iſt gefallen. Man hat ein Leintuch über ihn ge- 
than und ihn gefchnitten.” Es jcheint demnach der Zer- 
jtüdelung des Leichnams beigewohnt zu haben. Zur 
Zeugenfchaft fonnte jedoch das Kind, weil e8 erjt vier 
Jahre zählt, nicht herangezogen werben, 


326 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


Auf Verlangen des Vertheidigers Lailler wird Fräulein 
Godefroy nochmals worgerufen. 

Bertheidiger Lailler. Haben Ste nicht um halb 
7 Uhr das Kind der Yofephine Martin jchreien hören? 

Zeugin Ya wohl, genau um dieſe Zeit. 

Bertheidiger Lailler. Sie haben Morand niemals 
bei der Martin gejehen ? 

Zeugin. Niemals. 

Bertheidiger Lailler. Können Sie uns etwas über 
das Benehmen des Schriftführers Labeſſe mittheilen ? 
Er joll Sie ja bejucht haben? 

Zeugin. Ja wohl, das hat er, Am 11. Februar 
ift Herr Labefje ganz athemlos zu mir gefommen und 
erzählte: „Joſephine ift nicht ſchuldig. Sie fünnen Betard 
nicht bei ihr haben eintreten jehen. Ich habe es ſchon 
beim Unteriuchungsrichter gefagt. Seien Sie außer Sorge. 
Ich werde jchon dafür forgen, daß Ihnen die Bejuche der 
Gensdarmen erjpart bleiben.” Ich erwiderte ihm: „Ich 
habe feinen Grund, mich vor dem Befuch der Gensdarmen 
zu fürchten. In jedem Falle werde ich nur die Wahrheit 
jagen. Uebrigens wenn auch ich verfchweigen wollte, was 
ich weiß, Salmon hat die Joſephine doch geſehen.“ Herr 
Labeſſe zuckte geringſchätzig die Achjeln und verjegte: „Dieſer 
Sulmon ift ein einfältiger Burjche. Ich werde ihm ſchon 
fagen, daß er fich geirrt hat. Meine liebe Angelika, das 
Herz blutet mir, wenn ich an die Qualen denke, welche 
diefe arme, unjchuldige Perſon erleiden muß.‘ 

Sachverſtändiger Eugene Benvit, Apotheker, gibt 
das Nejultat feiner chemifchen Unterfuchungen befannt. 
Demgemäß find die Blutjpuren in der Wohnung ver 
Sofephine Martin theilweife noch ganz deutlich erkennbar, 
andere find verwajchen. Im Stiegenhaufe find Spuren 
von Gehirnmaſſe vorhanden. Sie beftätigen die Anficht 


Der Proceß wider den Tagelöbner Morand. 327 


des Arztes, daß dort die Schädelzertrümmerung ftattge- 
funden habe. An den Sägen find gleichfalls unzweifelhafte 
Blutflecke zurücgeblieben. Das bei Morand vorgefundene 
große Meſſer dagegen weit feine Spuren imenjchlichen 
Dlutes auf. Im feinem Tragkorbe waren fleine, faſt 
mikroſkopiſche Spuren menfchlichen Blutes. Der andere 
Zragforb war frei von Blutflecken. 

Bertheidiger Lailler beftreitet, geſtützt auf die Unter: 
fuchungen des berühmten Brofeffors Brouardel, die Richtig: 
feit der Expertiſe, injoweit fie die mifroffopifchen Spuren 
im Tragforbe Morand's als Mienjchenblut diagnofticirt. 
Das Dlut eines andern Säugethieres fünne leicht für 
Menſchenblut gehalten werden. 

Das Mefjer wird der Iojephine Martin vorgewieſen. 
Diefe erklärt, das Meſſer, mit welchem Morand fie be- 
droht habe, fei weit größer gewejen. 

Der zweite Sachverftändige, Chemifer Dr. Gabriel 
Poncet, hat in beiden Tragförben Blutjpuren gefunden 
und behauptet mit Bejtimmtheit, es könne dieſes Blut 
nur von Menfchen, Hunden, Eichhörnchen, Meerjchwein- 
chen, Katzen oder Kaninchen herrühren, nicht aber von 
Schweinen, Ochſen oder Eſeln. 

Da Bacher behauptet hatte, die Achjelbänder des Trag- 
forbes der Glergeot könnten ihm nicht paſſen, weil es 
ein Trauenzimmerforb fei, fo wird ver Verſuch im Ge— 
richtsfaal gemacht. Die Achjelbänder paſſen ihm voll: 
fommen. (Bewegung im Zujchauerraum.) 

Präfivdent. Bacher, warum haben Sie dieje faljche 
Behauptung aufgeitellt? 

Angeflagter Vacher. Es war eine bloße Ver— 
muthung meinerjeits. Ich wußte es nicht, denn ich hatte 
den Verſuch nie zuvor gemacht. 

Zeuge Alerandre Fournier bejchreibt die Wohnung 


328 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


des Morand. Er theilt mit, daß man in diejelbe nicht 
nur durch die Küchenthür, fondern auch von der andern 
Seite her gelangen könne. 

Frau Salmon wird darauf hin nochmals vorgerufen. 
Sie ftellt die Ausfage dieſes Zeugen in Abrede und be- 
hauptet wieder, fie jei von 5 bis 10 Uhr dort gewejen, 
ohne Morand zu fehen. 

Angeklagter Morand. Die Thür wird felten be- 
nußt. Ich habe am Mittwoch Abend auch feinen Gebrauch 
von ihr gemacht. Ich bin durch die Küche gegangen, 
ohne mich aufzuhalten. Bielleicht war dies, während die 
Weiber ausgegangen waren, um den Faftnachtsochjen zu 
jehen, vielleicht war die Zeugin, wie jchon oft zuvor, beim 
Herdfeuer eingenidt. 

Auguste Pietre gibt Auskunft über die Kleider, welche 
Morand getragen, und beftätigt, daß ver Angeklagte Häufig 
an Najenbluten gelitten habe. 

Pietre war von Joſephine Martin zuerjt als der Mit- 
ichuldige Morand's denuncirt worden, aber jofort in der 
Lage, ein unzweifelhaftes Alibi nachzuweijen. Darauf hin 
erjt nannte fie Bacher, Der Bertheidiger Savatier-La=- 
roche macht die Gefchworenen auf den auffallenden Unter- 
ichted der Erfcheinung beider Männer aufmerkam. 

Präfident. Joſephine Martin, warum haben Sie 
Herrn Pietre denuncirt? 

Angeflagte Joſephine Martin. Ich habe ge— 
glaubt, daß Pietre, weil er ein Freund Morand’s ift, 
auch fein Helfershelfer gewejen fei, und hoffte, durch dieſe 
Anzeige Morand zum Geſtändniß zu bewegen. 

Marie Anne Gaillard, verehelihte Salmon, 
70 Sahre alt (eine Tante des Morand), gibt an: Ich 
bin am 8. Februar bei Morand gewejen und habe ihn 
um 8 Uhr abends gejehen. Ich bin des Tages darum 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 329 


jo jicher, weil e8 der Vorabend des Zuges des Taftnachts- 
ochjen war. Er, jeine ganze Familie und die Frau Ma- 
deleine Salmon waren dort. Morand fam um 8 Uhr 
nah Haufe und ift faft gleich darauf jchlafen gegangen. 

Präjident. Im der Borunterfuchung haben Sie an— 
gegeben, die fremde Frauensperjon, die bei Morand ge: 
wejen jet, wäre die Gabriele Vellon gewejen. 

Zeugin. Das fan nicht fein. 

Präſident. Sie haben das Protofoll fo unter: 
ſchrieben. 

Vertheidiger Lailler. Hatten Sie nicht längere 
Zeit den Tragkorb des Morand bei ſich zu Hauſe? 

Zeugin. Ja, einige Zeit nach dem Morde. 

Vertheidiger Remacle Die Zeugin iſt in ben 
abgefaßten Briefen Morand's genannt worden? 

Präjident. Ya wohl. Es Heißt in einem berjelben: 
„‚ Sage meiner Tante...“ 

Bertheidiger Lailler. Aber ihre Vernehmung vor 
dem Unterfuhungsrichter war erfolgt, ehe der Brief ge- 
jchrieben wurde. 

Die andere Frau Salmon wird wieder vorgerufen. 

Präjident. Haben Sie die Tante an jenem Abend 
bei Morands gejehen ? 

Zeugin. Ya, fie war dort! 

Präfident. Und Sie bleiben dabei, daß Morand 
nicht zu Haufe gewejen ift? 

Zeugin. Gewiß. 

Die Tante. Aber das ijt unrichtig. Er war da. 
Sie wifjen es, er ift um 8 Uhr nach Haufe gekommen, 

Sean Ye Bätard, Trompeter bei einem Dragoner- 
regiment, auch ein begünftigter Liebhaber ver Vellon. Ich 
war am Abende des Verbrechens bis gegen 9 Uhr bei 


330 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand, 


Bacher. Er, jeine Frau, Gabriele (Vellon), der Reſerviſt 
und der Photograph waren noch dort. Sch bin mit dem 
legtern weggegangen. 

Präfident. Haben Sie fonft niemand dort gejehen? 

Zeuge Nein. 

Die Zeugen Barre und Dumond werben wieder vor— 
gerufen. Sie bleiben bei ihren Angaben. 

Gabriele Vellon wird vorgerufen. Sie fagt: „Herr 
Bacher ift erft fortgegangen, nachdem der Trompeter fich 
entfernt hatte. Nur Grivet und ich blieben noch zurück.“ 

Louis Victor Legraverend, Photograph. Ich war 
an dem Abend des Verbrechens bei Vacher. Ich bin etwas 
nach halb 9 Uhr weggegangen. Ich habe mit dem Re— 
jerviften geplaudert und nicht darauf geachtet, ob Wacher 
anweſend blieb oder wegging. 

Aleris Grivet, Bädergehülfe in Charmont. Ich 
habe am Abend des Verbrechens mit Herrn und Frau 
Bacher bis 10'/, Uhr Karten gefpielt. Die Vellon war 
anmwejend und wiſchte das Gejchirr ab. Ach wohne im 
Haufe und habe dort gefchlafen. Wer die Hausthür an 
jenem Abend verjchloß, weiß ich nicht. Morand ift am 
nächjten Morgen gefommen und hat mich aufgefordert, 
den Faftnachtsochfen mit ihm anzufchauen. Wir gingen 
miteinander und bemerften eine Menſchenanſammlung am 
Ufer der Nonne. 

Leon Salmon wird nochmals vorgerufen. 

Vertheidiger Lailler. Sie haben einige Zeit lang 
geſchwankt, ob Sie die Anzeige erjtatten follen, daß Sie 
Betard in die Wohnung der Dirne Iofephine Martin 
haben eintreten jehen. Da Sie fich entichloffen haben, 
e8 zu thun, haben Sie zugleich dem Unterfuchungsrichter 
mitgetheilt, die Urfache Ihres Zögerns fei geweien, daß 
eine Perſon Sie beſtimmen wollte, diefe Ausfage nicht 


Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 331 


abzugeben. Sie ftehen nun vor Gericht. Sagen Sie, 
wer war dieſe Perjon ? 

Zeuge. Es war ber Schriftführer Labeſſe. Er 
ift zu meiner Mutter gefommen, hat ihr gejagt, ich 
irrte mich, ich müſſe mich irren. Ich hätte offenbar Per- 
jonen verwechjelt, es jei ein jehr erniter Fall und ich jolle 
mich hüten, Teichtfinnige Angaben zu machen, denn ich 
werde hierfür ganz entjchieden zur Verantwortung gezogen 
werden. 

Damit ift das Beweisverfahren gejchloffen und es 
folgen die Plaidoyers. 

Staatsanwalt Le Bourdelles nimmt das Wort. 
Nach längerer Einleitung gelangt er zur Charafterifirung 
der Angeklagten. Er jagt hierbei wörtlich: „Joſephine 
Martin? Es ift ein Weib.... Ein Weib! gibt e8 ein 
Wort, das fanftere Empfindungen weden kann? Allein 
fie verdient nicht diefe Bezeichnung zu führen. Sie be- 
reitet das jchauerlichite Verbrechen, ein Liedchen trillernd, 
vor, und Tags darauf, nachdem fie Augenzeuge der ent- 
jeglichen That gewejen, begibt fie fich, als ob nichts vor— 
gefallen wäre, zu einer Hochzeit, fie tanzt und bezeigt kaum 
eine flüchtige Erregung, ald der Zufall ihr auf einem 
Ladenjchilde den Namen Betard vor das Auge führt. 
Was kann die Vertheidigung zu Gunſten der Sofephine 
Martin vorbringen wollen? Sie wird vielleicht jagen: 
Joſephine Martin gibt zu, die erjten drei Briefe gejchrieben 
zu haben, fie hat Vetard zu fich geführt, allein damit tft 
auch der Gefammtumfang ihrer activen Theilnahme an 
der Vorbereitung des von ihr nicht vorbedachten Ver— 
brechens erſchöpft. Sie begibt fich zu ihrer Familie, und 
erft als fie wieder nach Haufe fommt, befindet fie fich 
angefichts der vollbrachten That, des fürchterlichen Schau 
ipiels! Und fie tritt vor die Gefchworenen und klagt: 


332 Der Brocef wider ben Tagelöhner Morand, 


Ich foll eine Verbrecherin jein?.... Ich bin es nicht. 
Ich Habe einem unwiderjtehlichen Zwange folgen müffen, 
ich habe mich nur aus Furcht den Anordnungen ber Ver- 
brecher gefügt. Ich gehorchte freilich ihren Weiſungen, 
doch ohne zu ahnen, wohin das alles führen follte, ich 
glaubte an einen Scherz! 

„Die Anklage kann aber eine ſolche Verantwortung 
nicht gelten lafjen. Ich wende mich zu Joſephine Martin 
und rufe ihr zu: Ihre Verantwortung iſt durchaus un— 
glaubwürdig. Sie iſt jo gezwungen, daß Sie genöthigt 
find, fih in das Gewand der verfolgten Unſchuld zu 
drapiren, das Ihnen durchaus nicht paßt. Nur einen 
Schritt weiter und Sie jagen zu Morand: Sie haben 
mein Zimmer verunreinigt, Sie find mir Schabenerfat 
ichuldig! 

„Mein. Sie find e8, die mit Vorbedacht das Verbrechen 
vorbereitet hat! ....“ 

Der Staatsanwalt verlieſt hierauf nochmals die drei 
mit R. M. gefertigten und von der Hand der Joſephine 
Martin geſchriebenen Briefe und fährt fort: 

„Sagen Sie nicht: Ja, ich habe dieſe drei Briefe ge— 
ſchrieben, denn ich glaubte an einen Spaß; den vierten 
Brief aber, den habe ich nicht geſchrieben, den hat mir 
Morand nur zur Beſtellung übergeben. Die Geſchworenen 
mögen urtheilen und entſcheiden, ob ſie annehmen wollen, 
daß dieſer vierte, nicht mehr vorhandene Brief von einer 
andern Perſon herrührt. VBetard, der notoriſch mis— 
trauiſcher Natur war, hätte doch ſchon an der Verſchieden— 
heit der Handſchrift Anſtoß nehmen müſſen, und gerade 
diesmal wäre er zum Stelldichein bereit geweſen? Ge— 
ſtehen Sie, Joſephine Martin, ſagen Sie die Wahrheit! 
Wenn irgendetwas Ihr Schickſal zu erleichtern im Stande 
iſt, kann es nur das unumwundene Bekenntniß ſein. Was 


Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 333 


aber hat zur Aufklärung und Entdeckung geführt? Gewiß 
nicht die Gejtändniffe der Sojephine Martin. Dieſe Ge- 
ſtändniſſe jpielen zwar eine wichtige Rolle im Gange ber 
Unterjuchung, allein fie erjchöpfen fie nicht. Es bevurfte 
ber DVergleichung der Handjchriften durch Sachverftändige, 
um auf bie richtige Fährte zu gelangen. Dadurch nur 
wurde der Zuſammenhang Far und dann erjt entichloß 
fich Sofephine Martin zögernd zu dem noch immer un— 
volljtändigen Geſtändniß. 

„Die Frage, ob Iojephine Martin bei der Ermordung 
Betard’8 gegenwärtig war, kann ich nicht mit voller Be— 
jtimmtheit behaupten. Nach ihrer Angabe wäre fie erit 
um 10 Uhr, als der Mord verübt und der Diebftahl 
begangen war, heimgefehrt. Was den Diebjtahl anbelangt, 
jo ift dies gewiß umrichtig. Er iſt überhaupt erjt zu 
einer jpätern Stunde ausgeführt worden, wie die Zeugen— 
ausfagen beweijen. E83 wäre bejjer gewejen, wenn Jo— 
jephine Martin ihre Betheiligung daran unverhohlen ein- 
geftanden hätte. Die Finger jener Frauenhand, die im 
Staube des Auslagefaftens ihre Eindrücke zurückließen, 
waren bie ihren. 

„Joſephine Martin, Sie wagen e8 zu verfichern, Sie 
hätten an einen Spaß geglaubt! Aber al8 Sie in Ihr 
Zimmer fraten und ben entjetlichen Anblic vor fich jahen, 
warum haben Sie da nicht um Hülfe gerufen? Angenommen, 
der Schreden, die Furcht lähmte Ihre Zunge. Was 
hinderte Sie am folgenden Tage zur Polizei zu geben, 
Ihr Herz einer Nachbarin auszujchütten?‘ 

Der Staatsanwalt erörtert nun die Widerfprüche in 
den Angaben ver Iofephine Martin. Diefe erichüttern zwar 
nach jeiner Auffafjung deren Glaubwürbdigfeit nicht. Die 
legten Mittheilungen der Angeklagten über die Perjon 
der Mörder entiprechen der Wahrheit, ihre frühern un— 


334 Der Brocek wider den Tagelöhner Morand. 


wahren Angaben bezwecten wirklich, Morand zu einem 
Geftändnig zu nöthigen. Er fährt fort: 

„Die Dirne Iojephine Martin hat eine beträchtliche 
Summe von Einzelheiten über die That angegeben. Gerade 
dieſe Einzelheiten werden aber durch andere Umſtände 
als wirklich jo vorgefallen beftätigt. Joſephine Martin 
hat die Schwierigkeiten gejchilvert, die Morand zu über- 
winden hatte, um die Knochen der Extremitäten vom 
Rumpfe zu trennen, die Ausführungen des Dr. Leriche 
haben die Erklärung dazu geliefert. Wenn ich auch die 
Ihärfiten Strafen, die unfer Geſetz verhängt, für die 
Uebelthäter begehren muß, jo fann ich doch für Joſephine 
Martin mildernde Umftände gelten laſſen. Erſtlich weil 
jie ein Weib ift, dann weil fie unter dem überwältigenden 
Einfluß eines Mannes geftanden ift, der alle Eigenjchaften 
beſaß, um auf jchwache Gemüther einen Drud auszuüben. 
Sie hatte nicht die moralifche Kraft, einem Morand zu 
iwiderjtehen. Ueberdies verdankt das Gericht ihrem Ge— 
ſtändniß viel zur Enthüllung des Geheimniffes, das über 
der graufen Miffethat lagert. Sch fordere daher für fie 
nicht die Todesſtrafe. Ich fordere fie dagegen für Morand. 
Er iſt ein abgefeimter, entmenjchter Böfewicht. Er leugnet 
alles, leugnet angefichts der überzeugendften Beweiſe, 
leugnet entgegen ver überwältigendften Gewißheit! — 
Gegen ihn fprechen die Befenntniffe der Joſephine Martin. 
Sie hatte feine Urjache ihn anzuflagen. Bon andern 
Zeugen kann man behaupten, fie jeien ihm feindlich ge- 
finnt. Allein die Martin? Warum follte fie ihn anflagen, 
wenn er nicht fchuldig wäre! — Kommen wir zu ben 
Thatjachen. Da find die Blutflefe an den Sägen und 
an den Tragkörben. Es find dies Spuren menjchlichen 
Blutes, Morand hat doch in feinem Korbe nicht das 
Fleiſch von Affen oder Meerichweinchen herumgejchleppt. 


Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 335 


Diejer blutige Tragforb redet eine überzeugende Sprache. 
Man wird doch nicht der albernen Erfindung Glauben 
ichenfen wollen, daß der myſteriöſe Thäter den Tragforb 
des Morand benugt habe! Dann die Holzichuhe. Auch 
auf diejen find Blutjpuren gefunden worden. Ein Zeuge 
hat fie zwei oder drei Tage nach dem Berbrechen deutlich 
gefehen. Die Sachverjtändigen haben fie unterjucht und 
jtiimmen überein, es find ficherlich Flede gewejen, die von 
menschlichen Blut herrührten.“ 

Der Staatsanwalt befpricht hierauf den unheimlichen 
Geruch in der Küche des Morand. Noch wichtiger aber ift, daß 
Morand am Abend des 8. Februar fein Haus verlaffen hat. 

„Die Zeugenfchaft ver Frau Madeleine Salmon wider- 
legt jeine Berficherung, er jet daheim geblieben und jchlafen 
gegangen. Können Sie von diefer Frau etwa auch be- 
haupten, fie jet Ihre Feindin, wie Frau Droin? Nein. 
Es iſt eine Freundin Ihrey Familie, die oftmals bie 
Abende bei Ihnen zubrachte. Sie fagte aber Kar und 
beutlih, Sie wären fortgegangen und den Abend über 
nicht wieder nach Haufe gefommen. Wollen Site fich 
gegenüber dieſer Ausjage auf die andere Frau Salmon, 
Ihre Tante, berufen? ALS ich die arme alte Frau vor 
dem &erichtstijche ſtehen ſah, empfand ich aufrichtiges 
Mitleid. Gebeugt von Alter, that fie ihr Beſtes, um 
Sie, Angeflagter, zu retten. Die Bedauernswerthe! Sie 
erregte nur ein Gefühl des Erbarmens für fich jelbit. 
Was jagte Sie aber eigentlih? Sie berichtete, Morand 
wäre zu Haufe gewejen. Das erjte mal, als fie ver- 
nommen wurde, vor dem Unterfuchungsrichter, war fie 
ihrer Sache noch nicht gewiß. An diejer Stelle freilich 
bat fie mit aller Entjchiedenheit ausgejagt. Sie that aber 
dabei des Guten zu viel. Sie erzählte ung, Morand 
babe einen Teller Suppe gegefien. Das jtimmt aber 


336 Der Procef wider den Tagelöhbner Morand. 


nicht mit Morand's eigener Angabe, nach welcher dieſer 
die Küche nur durchquerte, um in feine Schlaffammer zu 
gelangen. Noch mehr. Sie hat angegeben, eine fremde 
Perjon ſei dabei gewejen. Wer war dies? Im der Vor— 
unterfuchung fagte fie, es ſei die Gabriele Vellon gewefen, 
bier dagegen nannte fie Frau Madeleine Salmon. Geht 
nicht Elar daraus hervor, daß fie jo ausgejagt hat, um 
ihren Neffen zu retten? 

„Das Verbrechen war von langer Hand durch Morand 
vorbereitet. Es jollte am 6. Februar ausgeführt werden, 
und darum erzählte er feinen Kameraden, er wolle am 5. 
nach Sens oder Villeneuve reifen. Darum ſah man ihn 
auch am 6. vor dem Laden des Vetard herumlungern. 
Auch die Zeugen Frau Duffange und Herr Ablon haben 
die Ausfagen der Joſephine Martin bejtätigt. Ausichlag- 
gebend ift die Ausfage der Frau Droin. Sie hat Mo- 
rand bei Joſephine Martin eintreten fehen. Sie hat es 
mit aller Energie behauptet und an ihrer Behauptung 
fejtgehalten. Man wird ihr Zeugniß anfechten, weil ans 
geblich zwifchen ihr und Morand feit langer Zeit Feind- 
ſchaft beitehen joll. Aber iſt dieje Feindſchaft jo tiefgehend, 
daß fie deshalb eine wifjentlich faljche Zeugenausjage ab» 
gegeben hat? Frau Droin ift Morand nicht grün, ich 
will e8 zugeben. Allein ift fie deshalb bereit, einen Mein— 
eid zu fchwören, einen Menfchen auf das Schafott zu 
bringen? Morand hat ein Alibi vorzubereiten gefucht. 
Diefen Zwed verfolgte er mit den Zetteln, die er im 
Gefängniß ſchrieb und an feine Frau zu ſchmuggeln ver- 
juchte. Er wollte, daß die beiden Zeuginnen Salmon 
jeine Anmwejenheit zu Hauſe am Abend des 8. Februar 
betätigen jollten. Aber fein Plan ift mislungen. 

„Run zu Vacher. Morand fpielte die erjte Violine, 
Vacher war die zweite Rolle in dem Drama zugefallen. 


Der Proceß wider den Tagelühner Morand. 337 


Diejes geht zunächit wieder aus dem Geſtändniß der Jo— 
jephine Martin hervor. Nach ihren Angaben ift er es 
nicht gewefen, der Vetard ermordet hat. Er half aber 
bie Leiche zerftücdeln. Im diefem Punkte jagt die Joſephine 
Martin ganz beftimmt aus. Und nun frage ich wieder, 
welchen Beweggrund hätte das Frauenzimmer, ihn anzu— 
klagen, wenn er unfchuldig wäre? Sie hat zuerft allerdings 
nicht ihn, fondern Pietre denuncirt, aber als dieſer ein 
unzweifelbares Alibi nachgewiejen hat, gibt fie ver Wahr- 
heit die Ehre und jagt: Morand ift ver Mörder, er hat 
Vetard getödtet, er hatte einen Gehülfen, und diefer Ge- 
hülfe war Bacher. 

„Dieſe Angabe ver Joſephine Martin fteht nicht allein. 
Gabriele Vellon hat in der Vorunterfuchung angegeben, 
daß Bacher einige Tage vor dem Verbrechen fagte, er 
bedürfe eines Betrags von 1000 France, und einige Tage 
ipäter tft er im Befig einer Baarjumme von 600 France 
betroffen tworden.’ 

Der Staatsanwalt erörtert nun im Detail die ver- 
ſchiedenen Zahlungen, die Bacher nach dem 8. Februar 
in Gold und Banknoten geleiftet hat. 

‚Run gelangen wir zu der fir Vacher äußerſt wich- 
tigen Frage, in welcher Stunde das Verbrechen verübt 
worden ift. Die Magd Bellon, der man feine Feind— 
jeligfeit gegen ihren Dienftheren zutrauen kann, behauptet 
fteif umd feft, daß Vacher gegen 9 Uhr ausgegangen und 
erjt nach Mitternacht wiedergekommen iſt. Auch die Zeugen 
Dumend und Barre find pofitiv in ihren Ausjagen. Sie 
waren am 8. Februar des Abends in feinem Schanflocal 
und Vacher war nicht anwejend. Die Bertheidigung hat 
dagegen Herrn Legraverend als Zeugen vorgeführt. Er 
ſchwankt aber in jeinen Angaben, und die Ausjagen des 
Zrompeterd Le Bätard find confus.“ 

XXI. 22 


338 Der Proceß wider den Tagelöhner Moranb. 


Der Staatsanwalt erörtert hierauf, welchen Antheil 
Frau Vacher und Frau Clergeot an dem Verbrechen ge= 
nommen haben. Er gelangt zu dem Schluffe, daß fie 
nur Nebenperjonen geweſen find, aber doch bei dem Morde 
mitgewirkt haben. 

Der anonyme Brief eines angeblichen Liebhabers der 
Sojephine Martin ift nach feinen Ausführungen ein ges 
ſchicktes Machwerf der Familie Morand, verfaßt und 
abgejchieft, um die Gerechtigkeit irrezuleiten. 

Der Staatsanwalt ſchließt mit dem Strafantrag. Er 
fordert die Todesftrafe für Morand, langjähriges Zucht- 
haus für Vacher und die Martin, geringere Freiheits- 
trafen für Frau Bacher und Frau Clergeot. 

Der Bertheidiger Mr. Lailler nimmt für Morand 
das Wort: 

„Bor allem muß ich die Gefchworenen warnen vor 
Vebereifer und DVoreiligfeit, die in diefem Proceß jchon eine 
traurige Rolle gefpielt haben. Man fuchte ven Mörder. Man 
fieht denjelben in jedermann. Die Vorunterfuchung wird 
auf der Straße ſowol wie in dem Cabinet des Richters 
geführt. Anzeigen werden in den Zeitungen veröffentlicht, 
noch ehe fie an die Staatsanwaltichaft gelangen. Die 
aufgeregte öffentliche Meinung Eritifirt fchonungslos Die 
mit der Unterfuchung betrauten Beamten, man tabelt und 
ihmäht, bis die Sicherheitsorgane, gebrängt und gejchoben, 
in ihrer Verwirrung ein Individuum aus der Menge der 
Beichuldigten herausgreifen und ausrufen: Heurefa! Wir 
haben ihn! Und die öffentlihe Meinung macht Chorus, 
deutet mitiden Fingern auf ihn und wiederholt jubelnd: 
Wir haben ihn! 

„Wie liederlich ift diefe traurige Unterfuchung doch ge- 
führt worden! Protokolle und Documente fehlen und müffen 
in der Hauptverhandlung erft befonders vequirirt werben. 


Der Broceß wider den Tageldöhner Morand. 339 


Und welche Rolle fpielt jener famoje Schriftführer, dieſer 
Herr Labeſſe, der Zeugen aufftellt und zurücweilt, der 
diejenigen, welche die Dirne Joſephine Martin, mit der 
er in Beziehungen fteht, anflagen wollen, bejchimpft und 
geradezu bedroht! — Welchen Antheil die öffentliche 
Meinung nimmt, die bereit8 verdammt, ehe das Gericht 
gejprochen, beweifen die ſtandalöſen Scenen, bie hier jtatt- 
fanden, als man die Angeklagten hereinführte! 

‚er und was ift diejer fo viel angefeindete Morand? 
Er ift nahezu 50 Jahre alt, verheirathet und hat acht 
Kinder. Er gilt für einen tüchtigen Arbeiter. Der Staats- 
anwalt hat feiner Verwunderung Ausprud gegeben, daß 
Morand nicht öfter beftraft worden ift. Er mußte ihn 
al8 einen verworfenen Menſchen ſchildern, weil er ihn 
diejes grauenhaften Mordes ſchuldig findet. Aber die 
Thatjachen paffen chlecht zu dem Bilde, welches von ihm 
entworfen worden ift. Er foll brutal fein? — ja, womit 
ift e8 denn bewiejen worden? Alles fürchtet ihn — ja, 
warum denn, gegen wen hat er je feine jchwere Hand 
erhoben? Wann hat er je jelbft im Zorn, im Streit zu— 
geichlagen ? 

„Aber Iofephine Martin hat ihn als Thäter bezeichnet. 
Wenn fie diefe Denunciation zurüdgezogen hätte, wie jo 
viele andere Ausfagen, die fie gemacht hat, wäre ber 
Staatsanwalt gewiß nicht mit einer Anklage wider ihn 
vorgegangen. Gene Denunciation der Martin ijt aber 
nicht8 anderes als ein Gewebe von Lügen. 

„Die Dirne Martin erzählt, Morand habe ihr die 
Briefe an Vétard in die Feder dictirt. Das tft die erjte 
Lüge. Die hierfür gewiß claffiiche Zeugin Roſalie Mary 
hat uns gejagt, daß nur Frau Clergeot und Joſephine 
Martin in der Lage waren, dieſe Briefe zu entwerfen. 
Sie enthalten Thatjachen, die ihnen allein befannt gewejen 

22? 


340 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


find. Die Divne Martin und die ehrenwerthe Frau 
Clergeot fannten ja Herrn Vetard, daß aber Morand ihn 
fannte, bat niemand behauptet. 

„Die Dirne Martin hat Morand des Mordes be— 
ſchuldigt. Wann hat fie diefes gethan? Nicht etiva jofort, 
als fie fich zu einem Geſtändniß entjchloß, ſondern jpäter. 
Und wen Elagt fie gleichzeitig an? Bietre, den Freund 
Morand’s. Pietre beweift, vaß er unjchuldig tft an dem 
vergofjenen Blut. Darauf erklärt fie: Nicht Pietre, ſondern 
Bacher iſt Morand’s Helfershelfer gewejen! Herr Vetard 
it von einer Frauensperfon abgeholt worden. Joſephine 
Martin nennt, al® fie darüber befragt wird, die Frau 
Morand. Frau Morand aber kann es unmöglich gewefen 
jein. Als man der Iofephine Martin dies eröffnet, ftellt 
fie in Abrede, daß fie Frau Morand überhaupt genannt 
habe. Man muß e8 ihr aus den Protofollen beweifen. 
Dann befinnt fie fih. Sie beredet die VBellon zu einer 
falſchen Ausfage. Dieje ijt gutmüthig genug anzugeben, 
jie habe Herrn Betard abgeholt, gefteht indeß bald, daß 
fie in Joſephinens Auftrag gelogen hat. Nun erklärt 
Joſephine: «Ich jelbit habe Herrn Vetard auf Morand’s 
DBeranlaffung in meine Wohnung geführt.» Nach ven 
Ausjagen der Zeugen ift e8 freilich viel wahrfcheinlicher, 
daß ihre Schweiter, Frau Clergeot, die Freundin der 
Roſalie Mary, Herrn Betard beivogen hat ihr zu folgen. 
Und troßdem foll Joſephine Martin die claffische Zeugin 
jein, deren Ausſage über Menfchenleben entjcheivet! Diejen 
verlogenen Angaben joll man glauben! Erinnern Sie fich 
doch an die Unterrebungen zwijchen der Vellon und ver 
Joſephine Martin, an die Neuerung der lettern, die der 
an diejer Stelle al8 Zeuge vernommene Polizeicommiſſar 
berichtet hat: «Ich weiß, was ich zu jagen habe, ich werde 
immer daſſelbe wiederholen.» Wer ift e8, ver ihr dies 


Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 341 


eingegeben ? Vielleicht jener famoje Schriftführer, deſſen 
Rolle noch zu beleuchten ift, oder einer ihrer zahlreichen 
Liebhaber? Und welche Beweggründe für ihre falfchen 
Denunciationen, des Pietre, des Gizel, der Frau Morand 
und anderer, hat fie angegeben? — Sie wollte dadurch 
ein Geſtändniß des Morand erzwingen!! Diejer Er- 
Härungsgrund ift Tächerlich albern. Aber die Staats- 
anwaltjchajt läßt fich daran genügen. Darf man fo mit 
Menjchenleben und mit der Hoheit der Gerechtigfeitspflege 
jpielen?... 

„Frau Droin jagt aus, fie habe Morand in das Haus 
der Sofephine Martin eintreten fjehen. Warum hat fie 
das nicht gleich ausgejfagt? Sie erklärt: «Ich habe mich 
vor Morand gefürchtet.» Aber Morand war bereits 14 
Zage lang in Haft, und es hieß, er würde freigegeben 
werden, als ihr Gedächtniß erwachte. Wer hinderte fie 
denn zu ſprechen, da fie doch mußte, daß Morand im 
Gefängnig ſaß? Ich will nicht behaupten, daß fie aus 
Feindſchaft wiffentlich faljches Zeugniß abgelegt hat. Ich 
nehme vielmehr an, daß fie einen Mann dort hineingehen 
ſah und fich nach und nach einbilvete, es fünne Morand 
jein, er glihe Morand, es war Morand! Wie leicht 
fönnte fie fi) irren! Es war eine dunkle Nacht und fie 
befand fich ihrer eigenen Angabe zufolge 30 Meter weit 
von der Perjon, die fie jah. Hätte fie wirklich Morand 
erfannt, fie hätte gewiß nicht gejchwiegen, ſondern jofort 
ihren Nachbarn und Freunden erzählt, daß Morand, ein 
armer Arbeiter, der feinen überflüjfigen Heller befitt, 
eine fäufliche Dirne beſucht habe. 

„Erinnern Sie fich, meine Herren Gejchworenen, an 
die Brüder Mouillon. Als dieſe de8 Mordes an dem 
Uhrmacher Betard befchuldigt und verhaftet wurden, da 
meldeten fich in Joigny drei durchaus vertrauenswürdige, 


342 Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 


ehrenhafte Leute, die vor dem Unterfuchungsrichter er— 
Härten, fie hätten die Mouillons am Tage des Verbrechens 
in Joigny herumfchleichen ſehen — und doch waren dieje 
erwiejenermaßen in Dijon, alſo weit von diejer Stadt 
entfernt. Ein Zeuge ftand vor Gericht, der ihnen an 
ebendiefem Tage Wurft verkauft haben wollte, ein anderer 
hatte fie in ver Straße Tucri begegnet, ein britter machte 
fih anheischig, ihnen in das Geficht zu wiererholen, daß 
er ihnen in Joigny an dieſem Zage begegnet ſei und fie 
angerevet habe. Alle dieſe Zeugen jagten im beiten 
Glauben aus, und was fie ausfagten, war dennoch ent- 
ſchieden die Unmwahrheit. 

„Srwägen Sie nun die fociale Stellung dieſer An- 
geflagten und bie der Landſtreicher Mouillon. Wären 
die lettern durch einen für fie glüdlichen Zufall nicht 
jofort in die Lage gefommten, ihre Anwefenheit in Dijon 
nachzuweifen, wer hätte ihren DBerficherungen angeficht® 
der Angaben von ehrenwerthen und unbefangenen Zeugen 
irgendwelchen Glauben beigemefjen? Sie fäßen wahr- 
icheinlich an Stelle Morand's und Vacher’8 auf der An- 
Hagebanf. Sie erjehen daraus, daß man ein vollfommen 
tadelfreier Zeuge und willens fein kann, die Wahrheit, 
die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu jagen 
und fich dennoch irrt. Vergleichen Sie damit die Aus- 
jage der Frau Droin, ganz abgejehen davon, daß dieſer 
Aussage Schon nach dem Gejege nur geminderte Glaub- 
wiürdigfeit zufommt, wegen ihrer Feindfchaft gegen Morand. 

„Die Ausfagen der Frau Duffange und der Frau 
Ablon find an fich vollfommen unanfechtbar, allein fie 
beweifen rein gar nichts für die Anklage. Frau Ablon 
it jogar eine Entlaftungszeugin. Joſephine Martin hat 
erzählt, Morand trug Holzſchuhe, und dieſe Holzjchuhe 
jpielen ja noch eine weitere Rolle in der Anklage. Der 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 343 


Mann aber, den Frau Ablon gejehen hat, trug Leber: 
ſchuhe, fie ſagte ausprüdlich: «grobgenagelte Leverjchuhe». 
Ein gewifjer Pernet, der vor dem Unterjuchungsrichter 
ald Zeuge vernommen, aber zu ber Hauptverhandlung 
nicht vorgeladen worden it, behauptete, Morand habe 
bereit3 am 6. Februar jeinem Opfer aufgelauert, er habe 
ihn abends zwifchen 8 Uhr und 8 Uhr 30 Minuten zur 
Dirne Martin fchleichen jehen. Aber Morand wies durch 
unanfechtbare Zeugen nach, daß er am 6. Februar in 
Billeneuve-fur-Monne gewejen iſt. Er fonnte unmöglich 
zugleich dort und in Joigny fein. Herr Pennet hat fich 
am 6. Februar geirrt, jollte nicht auch am 8. Februar 
ein Irrthum vorliegen können? 

„Sp wenig dieſe Zeugenausfagen beweijen, jo wenig 
beweisfräftig find auch die Indicien, die man gegen 
Morand geltend gemacht hat. 

„Zunächſt die Blutfleden des Tragforbee. Die Sad: 
verjtändigen haben im ganzen zwei Flecke in der Größe 
von 2 Millimeter gefunden. Waren e8 wirflih Spuren 
von Menjchenblut? Sie fünnen es nicht mit Beſtimmt— 
heit erhärten. Es iſt Säugethierblut, mehr ijt nicht feit- 
gejtellt worden. Und diejen Tragforb nennt der Staats- 
anwalt den biutenden Anflagebeweis! Wenn e8 aber 
wirklich Vetard’8 Blut gewejen fein joll, wie fam es, daß 
nur jo geringfügige, jo verjchwindend geringe Spuren 
fejtzuftellen waren? Die Erklärung, die Morand für 
dieſe Fleden gibt, find weit einleuchtender und logischer 
als jene des Staatdanwalts. Und dann, diefer Trag- 
forb diente nicht ihm allein. Er verlieh ihn oft. Er 
war acht Tage lang bei Frau Salmon. Hat man fich 
auch nur der Mühe unterzogen, nachzuforichen, ob er dort 
nicht zum Transport rohen Tleifches verwendet wurde? 

„Und die Blutflede an ven Holzſchuhen. Morand er- 


344 Der Procef wider den Zagelöhner Moranbd. 


flärt, er leide oft an Najenbluten. Seine Kameraden 
und der Kerfermeijter bejtätigen feine Angabe. Erflärt 
dies die Flecken nicht vollfommen genügend? Wenn 
Morand im Blute feines Opfers gewatet hätte, e8 wären 
ganz andere Spuren zurüdgeblieben. 

„Endlich die abhanden gelommenen Kleider, die Morand 
früher getragen und vielleicht verbrannt haben ſoll. Der 
Staatsanwalt hat darauf feinen befondern Nachdruck ge- 
legt. Ich kann aber diefe Frage nicht fallen laffen, ich 
fann dem Unterfuchungsrichter den Vorwurf nicht eriparen, 
daß er hinfichtlich diefer Kleider nicht jorgfam vorgegangen 
it. Warum hat er nicht jofort alle Kleiver des Angeklagten 
mit Bejchlag belegt? Es ift nicht gefchehen. Es ift auch 
nicht einmal verjucht worden, nachzuweijen, daß Morand 
blutbeflecte Kleider bejejjen habe und daß dieſe vernichtet 
worden feier. Man bat aber einen folchen Nachweis zu 
erbringen nicht verfucht, weil er eben nicht zu erbringen 
war. Und der unheimliche Geruch der verbrannten Sachen? 
— Nun, Morand hat angegeben, was er verbrannt hat, 
und e8 liegt nicht der geringjte Anhaltepunft dafür vor, 
daß e8 etwas anderes gewejen wäre. 

„Das große Mefjer Morand’3 hat man vorgefunden. 
Dan Hat es mit Beichlag belegt. Die Anklage aber 
fonnte e8 nicht brauchen — denn die mifroffopifche Unter: 
ſuchung entdeckte fein Menjchenblut daran. 

„Und wo iſt Ihr Alibi? fragt die Anklage, wo waren 
Sie denn? — Ich war zu Haufe, lautet die Antwort. Die 
Anklage bezweifelt e8 und beruft ſich auf Frau Madeleine 
Salmon. Nun der Ausjfage der einen Frau Salmon 
jteht jene der andern Zeugin gleichen Namens gegenüber, 
und es ijt durchaus nicht erwiefen, daß Morand nicht 
nah Haufe fommen Fonnte, ohne von Frau Madeleine 
Salmon bemerkt zu werden.” 


Der Procef wider ben Tagelöhner Morand, 345 


Der Vertheidiger bejpricht die beiden einander wider- 
jtreitenden Zeugenausfagen in ber eingehenditen Weije. 
Ebenſo die Zettel, die Morand gejchrieben hat. Es find 
bie begreiflichen Aeußerungen eines Menfchen, der bie 
Beweiſe feiner Schulplofigfeit fammelt. Die Ausfprüche 
endlich, die ihm zur Laſt gelegt werben, find vollkommen 
nichtsfagend. Man müffe ihnen förmlich Zwang anthun, 
um ihnen einen verfänglichen Sinn unterzulegen. 

„Und nun“ — fo fährt er fort — „va die Anklage 
entfräftet it, muß ich meinerjeits einige Fragen an Sie 
richten. Was joll denn das Motiv des Verbrechens ge- 
wejen jein? — Die Abficht, Vetard zu berauben. Aber 
Morand befand fich in feiner beprängten Lage. Er ſowol 
wie feine Frau verdienten genug um zu leben. Gelonoth 
war nicht vorhanden. Er bejitt ein Häuschen zu eigen, 
das auf 3000 France gejchäßt ift, und ſchuldet auf daffelbe 
nur 1500 Francs. Es iſt feineswegs behauptet, geſchweige 
denn eriwiefen worden, baß er gelpbebürftig gewejen jet, 
daß ihn etwa Gläubiger gedrängt hätten: Man wird 
wol zum Mörder aus Haß, oder im Affect ohne weitere 
Vorbereitung. Jedoch um ein Mörder aus Habjucht zu 
werben, bedarf es einer längern Verbrecherſchule. Und 
obendrein ein Mord mit ſolchem Vorbedacht, folcher Ueber— 
legung aller Einzelheiten und Möglichkeiten! Und der— 
jenige, der alles geleitet, alles gethan haben foll, wo iſt 
ber Gewinn, den er davon gezogen hätte? Man hat bei 
Vetard mindejtend 2400 bis 3000 Franes geraubt, wo 
it Morand's Antheil hingefommen? Hat er in der legten 
Zeit vielleicht Schulden bezahlt oder auffällige Ausgaben 
gemacht? Oder fand fi außer etwas Fleiner Münze 
Baargeld bei ihm? Nichts davon. Man hat gut gejucht 
und doch nichts gefunden. 

„Und die Organifation des Complots. Die Dirne 


346 Der Proceß wider ben Tagelöhner Moranb. 


Martin gibt an: Morand hat alles organifirt und vor- 
bereitet. Ia, warum denn? Wo haben die VBerabrebungen 
ftattgefunden? Morand ift niemals bei ver Martin ge- 
wejen, niemand hat ihn je dort gejehen, auch bie jcharf 
auslugenden Augen der Nachbarinnen nicht. Die In- 
ftrumente, mit denen die That verübt worden ift, wo find 
fie, in weifen Beſitz? Mit einem Hammer foll dem Vetard 
der Schädel eingejchlagen worden fein? Wo ift der 
Hammer? Bei wen wurde er gefunden? Die Sägen?... 
Sie find Eigenthum der Joſephine Martin, in ihrer Woh- 
nung wurden fie in Bejchlag genommen. 

„Nein, Morand ift nicht ver Mörder. Aber wenn er 
es nicht ift, wer ilt e8 denn? Die Dirne Joſephine 
Martin weiß e8 wohl, fie weiß e8 jo gut, daß fie nur Eins 
fürchtet, nämlich daß man ben Mörder entvedt. Um das 
zu verhindern, beinzichtigt fie einen Unjchuldigen eines Ber- 
brechens. Man hat ihr zugeflüftert: «Hat die rächende 
Gerechtigfeit ein Opfer erhalten, fo ift fie befriedigt!» 

„zweifeln Sie noh an der Wahrheit? Ich mag 28 
nicht glauben. Laſſet das Recht walten, Ihr Gefchworenen, 
und fprecht den Uufchuldigen freil” — 

Der Bertheidiger NRemacle erhebt ſich und be- 
gehrt die DVertagung der Verhandlung für die nächjte 
Schwurgerichtsperiode. 

Die Angeklagten Joſephine Martin und Morand er— 
klären ſich damit einverſtanden. 

Der Vertheidiger Lailler unterſtützt das Verlangen 
ſeines Collegen. 

Die Vertheidiger Savatier-Laroche (für Vacher) und 
Herold (für Clergeot) widerſprechen namens ihrer Clienten 
und verlangen die Durchführung des Verfahrens. 

Der Staatsanwalt Spricht fich gleichfalls Dagegen aus 
und der Gerichtshof lehnt die Vertagung ab. 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 347 


Bertheidiger Savatier-Laroche erklärt für bie 
angeflagten Eheleute Bacher: 

„Ich jchließe mich in der Hauptjache ven Ausführungen 
meines Collegen Lailler an. Die Angaben der Yojephine 
Martin find durch und durch erlogen und unglaubwürdig. 
Wenn aber diefer Zeugin nicht geglaubt werben barf, 
was fpricht noch gegen Bacher? Niemand hat ihn am 
Thatorte gejehen. Zwei luftige Saufbrüber jagen aus, 
fie hätten ihn am 8. Februar nicht zu Haufe angetroffen, 
aber andere gewichtigere Zeugenausfagen erhärten das 
Gegentheil. Das Alibi ift bewiefen. Nur entftellte Ge- 
ſprächsfragmente von zweifelhaften Werthe und vielfacher 
Deutung fähig bleiben noch übrig als Belaftungsmomente. 
Es iſt Fein Beweis gegen Vacher geführt worden, ver 
einen unbejcholtenen Mann um Ehre und Freiheit bringen 
fönnte. Gegen Frau Bacher vollends fpricht gar nichts. 
Die Reife nach Paris ift vollfommen aufgeklärt, die Aus- 
gaben, die fie gemacht hat, find in ihren Gewohnheiten 
begründet und nicht auffällig. Die Anfchuldigungen ber 
Bellon find fo in ihr Nichts zufammengebrochen, daß ſogar 
der Staatsanwalt darauf verzichtet hat, fie in feinem 
Plaivoyer zu erwähnen. Er hat fih nur an Joſephine 
Martin gehalten.‘ 

Für die Angeflagte Iofephine Martin läßt fich der 
Bertheidiger Remacle fo aus: 

„Heute, im Laufe des Beweisfahrens, hat einer der 
Herren Gefhworenen verlangt, Joſephine Martin möge 
eine zujammenhängende Darjtellung der Vorgänge am 
Abend des 8. Februar geben. Das ift gejchehen. Joſephine 
Martin hat gefagt: Ich kenne Morand feit vielen Jahren. 
Ich ging oftmals in fein Haus. Im Monat Januar fam 
Morand eines Abends zu mir und fagte mir unter Lachen, 
er umd einer feiner Freunde beabfichtigten dem Vetard 


348 Der Proceß wider der Tagelöhner Morand. 


einen Schabernad zu fpielen. Der alte Knabe fei ein 
Mädchenjäger. Man müfje ihn daher durch einen Brief 
von weiblicher Hand anloden. Er würde ficher kommen, 
aber feine Schürze finden. Diejes Stelldichein wurde ein- 
gefävelt, aber Roſalie Mary fand fich nicht ein. Es 
wurden zwei andere Rendezvous ausgejchrieben; ob Vetard 
hingegangen ift, weiß man nicht, und wirb es auch nie 
mehr erfahren. Der $. Februar naht heran. Joſephine 
Martin begegnet Morand, der ihr einen Brief für Vetarb 
übergibt, fie trägt ihn hin. Joſephine Martin ahnte nichts 
Böſes, jonjt würde fie das Dpfer nicht durch ganz Joigny 
begleitet haben, jodaß fie von Jedermann gefehen werden 
fonnte. Sie führt ihn zu Morand, diefer ijt im Begriff 
in ihrem Hauſe eine Säge abzuholen, die fie ihm zu leihen 
verjprochen hat. Morand geht die Treppe hinauf und 
zündet eine Kerze an. Sofephine Martin folgt ihm. Vetard 
bleibt noch einen Augenblid auf ver Straße zurüd. Bald 
jedoch fommt er nad. Er ftolpert an den untern fchlecht 
beleuchteten Stufen. Morand empfängt Vetard cordial: 
«Da bift du endlich, alter Kameradn!» Man unterhält 
ſich über alferlei gewöhnliche Dinge. Aber Iofephine wird 
bei ihrer Mutter erwartet, fie entfernt fih. Als fie um 
10 Uhr heimfehrt, ift das Entſetzliche bereits gefchehen. 
Und wen findet fie mit der Zerftüdelung der Leiche be- 
ihäftigt? Morand und Bacher. — Hat fie gelogen, als 
fie diefe Einzelheiten angab? Gewiß nicht.‘ 
Bertheidiger Nemacle erörtert nun eingehend die innere 
Wahrjcheinlichfeit diefer Darftellung. Sein weiteres Plai- 
doyer wird zu einer fulminanten Anklage Morand’s, weit 
heftiger im Zone ald jene des Staatsanwalts, und mehr 
geeignet auf Die Gefchworenen einzumirfen, obgleich feine 
neuen Beweiſe vorgebracht werden. Die Ausfagen der 
Frau Droin und der Frau Madeleine Salmon find für 


Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 349 


ihn die Angelpunfte der ganzen Verhandlung. Um bieje 
allein dreht fich nach jeiner Auffaffung pas Beweisverfahren. 

Zur Bertheidigung ver Iofephine Martin fügt er noch 
bei: „Es ift wahr, ihre erjte Regung ging dahin, alles 
abzuleugnen, jogar die Briefe, die fie gejchrieben. Jedoch 
von Neue erfaßt, befennt fie nunmehr um jo aufrichtiger 
ihren Antheil an der That. Man verhaftet alle Mit- 
glieder ihrer Familie und ruft ihr zu: «Geſtehe, wer 
Detard zu dir geführt hat, oder alle deine Verwandten 
Ihmachten im Gefängnif.» Was follte fie thun? Sich 
ſelbſt anflagen, und dazu fehlt ihr der Muth. Da be- 
geht fie die Thorheit, Gabriele Vellon um ein faljches 
Zeugniß zu bitten. Dann bezeichnet fie Pietre als Mit- 
Ihuldigen. Sie hält ihn für einen vertrauten Freund 
Morand's und hofft, daß er fagen joll: «Ich war nicht 
dabei, aber Morand hat mit mir davon gejprochen!» 
‚Um auf Morand’s verhärtetes Gewifjen einzumirfen, be- 
ſchuldigt fie fälfchlich feine Gattin! Ihre Hoffnung, daß 
Morand's Schuld ohne ihr Zeugniß an den Tag fommt, 
‚wird nicht erfüllt, da entjchließt fie fich, die ganze und 
volle Wahrheit zu befennen. 

„Worin bejteht die Schuld der Joſephine Martin? 

„Sit fie eine Mörderin? — Sie hat nicht gemorbet. 
Niemand hat behauptet, fie jelbit habe Hand an BVetard 
gelegt. Hat fie gejtohlen? Wer kann jagen, daß fie es 
war, die den Schlüffel aus Vetard’8 Taſche holte und 
ihn beraubte? Ich frage nochmals, welche Schuld ift 
ihr nachgewiejen ? 

„Hat fie gemordet? — Nein! 

„Hat fie den Hinterhalt vorbereitet? — Nein! 

„Hat fie den Schlüffel entwendet? — Nein! 

„Hat fie die Werthiachen gejtohlen? — Nein! 

„Was bleibt alfo übrig? Sie hat es ſelbſt befannt. 


350 Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 


Man hat ihr 100 France gegeben, damit fie jchweigen 
jolle, und fie hat diefe Summe genommen. Sie hat fich 
daburch ber Hehlerei jchuldig gemacht.“ 

Mit einem pathetifchen Appell an das Mitleid der Ge- 
Ihworenen für das gehette und bebrängte, leichtfinnige und 
leichtgläubige Weib‘, fchließt der Vertheidiger feine Rede: 
„Für die Hehlerei hat fie ganz gebüßt, fprecht fie frei!” 

Bertheidiger Herold erwartet den Freifpruch für 
jeine Clientin, Frau Clergeot, deren Betheiligung an tem 
Verbrechen nicht nachgewiejen jei. 

Die Verhandlung wird unterbrochen. Als der Präfident 
biefelbe wieder aufnimmt und die Angeklagten eben ven 
Saal betreten, ruft eine Stimme aus dem Zuhörerraum: 
„Habt ihr noch nicht genug gehört? Auf das Schafott 
mit Morand!” Diefe unverfchämte rohe Aeuferung wird 
vom Publiftum mit lautem Beifall aufgenommen. 

Der Präfident befragt der Reihe nach die Angeflagten, 
ob fie noch etwas zu jagen haben. 

Morand. Ich bin volllommen unschuldig! 

Bacher. Ich bin unfchuldig. Ich habe nichts gethan. 

Frau Vacher. Ich bin unjchuldig. 

Sofephine Martin. Ich habe nichts mehr zu jagen. 

Frau Elergeot. Ich habe nichts mehr zu fagen. 

Die Gefchworenen ziehen fich zurüd, kehren jedoch 
nach überrafchend kurzer Frift zurüd. Das Verdict lautet: 

Morand: Schuldig in allen Bunften, ohne 
Zulaffung mildernder Umftände. 

Julius und Amalie Bader: Schuldlos der Theil- 
nahme am Morde, jedoch ſchuldig des Gefellichaftspieb- 
ſtahls mit dem erjchwerenden Limftande, daß biejer des 
Nachts in einem bewohnten Haufe verübt worden ift. 

Sofephine Martin: Nicht ſchuldig der Theil- 
nahme an dem Morde und an dem Geſellſchafts— 


Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 351 


diebſtahl, ſchuldig des einfachen Diebftahls ohne 
erfhwerende Umſtände. 

Eugenie Elergeot: Nicht fchuldig. 

Die Schatten des Abends waren tief gejunfen, einzelne 
Gasflammen erleuchteten den Schwurgerichtsfaal, als der 
Gerichtshof fein Urtheil verfündigte. Die Gefchworenen 
hatten Morand die mildernden Umftände, die Wohlthat 
des letten Zweifels verſägt, fein Los war flar. Er 
wurde zum Tode verdammt. Die übrigen Berurtheilten 
erhielten geringfügige Freiheitsftrafen zuerkannt. 

ALS das Urtheil gefprochen war, richtete ſich Morand 
zu feiner vollen Größe auf. Gegen die Gejchworenenbanf 
gewendet, ven Arm drohendemporgehoben, ſchrie er mit lauter 
Stimme: „Mein Blut über euch! Ich bin unſchuldig!“ 

Diefelben Gefchtworenen, welche die mildernden Um— 
ftände ausgeichloffen hatten, traten fofort nah Schluß 
des Gerichtöverfahrens zufammen und verfaßten eine Ein- 
gabe an den Präfidenten ver Republif, in welcher fie 
von jeiner Gnade das Leben des zum Tode verurtheilten 
Morand erbaten. 

Der Bertheidiger Pailler brachte aus zwei rein formalen 
Gründen die Nichtigkeitsbeſchwerde ein. 

Der affationshof verwarf das Rechtsmittel. Der 
Präfident der Republik, Sadi Carnot, verwandelte die 
gegen Morand verhängte Todesjtrafe in zehnjährige 
Zubthausarbeit. 


Ein krankhafter Zug macht fich in der Nechtiprechung 
ber franzöfiichen Gerichte mehr und mehr bemerflih, Die 
Urtheile der Gejchworenen find allerdings nirgends frei 
bon gewiffen Willfürlichkeiten, die fich dadurch erklären, 
daß die „Richter aus dem Volke“ nicht verpflichtet find, 
ihr Verdiet durch Gründe zu rechtfertigen; allein nirgends 


352 Der Brocef wider den Tageldhner Morand. 


treten die Uebelſtände der Gejchworenengerichte fo grell 
zu Tage als gerade in Frankreich. Jedwedes Verbrechen, 
auch das ſcheußlichſte, deſſen Verübung auf „Liebesleiden— 
ſchaft“ zurückgeführt werden kann, genießt nahezu Straf- 
freiheit, ſodaß die franzöſiſche Staatsanwaltſchaft ſchon 
ſeit einigen Jahren vorzieht, auch ſchwere Fälle als Ver— 
gehen zu behandeln und den Verbrecher vor das Zucht— 
polizeigericht zu ſtellen, damit er der verdienten Strafe 
nicht entgeht. Die Schwurgerichte laſſen ſich gar zu 
häufig durch Sympathien, Schlagworte und ſentimentale 
Modethorheiten beſtimmen. Den übelſten Ruf in dieſer 
Beziehung hat ſich aber die Jury im Departement der 
Seine, in Paris erworben, ſie entwickelt eine viel geringere 
Energie, als man bei einzelnen Aſſiſen der Provinz findet. 
Von politiſchen Parteiproceſſen ſehen wir hier natürlich 


Dieſe allgemeine Beobachtung hat auch in dem vor— 
ſtehend berichteten Proceß eine traurige Illuſtration er— 
fahren. Die Hauptangeklagten waren eine leichte Dirne, 
ein: „kleines, zierliches Figürchen, ſchlank, bleich, mit 
großen, glänzenden Augen. Sie iſt brünett, die Züge 
ſtark accentuirt. Ihr Geſichtsausdruck iſt offenherzig, und 
angeredet ſchlägt ſie die Augen nieder. Die Stimme iſt 
von ſeltenem Wohlklang, einſchmeichelnd und gewinnend“. 
Im Gegenſatz zu ihr erſcheint auf der Anklagebank der 
von ihr denuncirte, rauhe und abſtoßende Mann: „ein 
herculiſch gebauter, ruhig blickender Menſch, mit unbe— 
wegten Zügen und düſterm Geſichtsausdruck“. Mit dieſer 
Perſonalbeſchreibung iſt von vornherein der Ausgang des 
Proceſſes, das Urtheil der Geſchworenen beſtimmt: die 
weitgehendſte, das Gerechtigkeitsgefühl empörende Milde 
für das Frauenzimmer, ſchonungsloſe Härte und uner— 
bittliche Grauſamkeit gegen den Mann. 


Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 353 


Ganz abgejehen von den mannichfachen Gebrechen in 
der Vorunterfuhung, von der fonderbaren Einmiſchung 
des eine zweifelhafte Rolle jpielenden Schriftführers La— 
beſſe, deſſen Gebaren der Staatsanwalt in ſchonender 
Weiſe „unüberlegten Uebereifer” nennt, während er, aller- 
dings jehr „unüberlegt“, feinen Uebereifer nur dazu die 
Zügel jchießen läßt, um das Los der Hauptangeflagten 
zu erleichtern, um womöglich „das arme Ding‘, zu der 
er wahrjcheinlich auch in zarten Beziehungen jtand, die 
Unannehmlichkeiten einer Unterfucchungshaft und einer 
Hauptverbandlung zu erjparen; abgejehen von dem Briefe 
des anonymen Liebhabers, deſſen Entjtehung unaufgeflärt 
geblieben ijt, bietet das durchgeführte Beweisverfahren 
des Bedenklichen genug. 

Joſephine Martin hat fich als ein durchaus verderbtes, 
verlogenes Gejchöpf erwiejen. Ihr halbes Geſtändniß 
enthält jo viele Widerfprüche und Ungereimtheiten, daß es 
ichwer begreiflich wird, wie eine Gejchworenenbanf, auch 
wenn fie aus Franzofen zufammengefett ift, demſelben 
Glauben jchenfen konnte. Ihre Mitwirkung an der Vor- 
bereitung zum Morde ift vollfommen klar nachgewiejen. 
Sie hat die That verhehlt, hat höchſt wahrfcheinlich an 
der Plünderung des Ladens activen Antheil genommen 
und, eingejtandenernaßen, Vortheil aus dem Verbrechen 
gezogen. Dennoch ergeht zu ihrem Gunften ein Verbict, 
welches einer Freifprechng gleihfommt! — Morand das 
gegen wird, aufer von ihr, nur durch eine Zeugenausjage, 
jene der Frau Adolfine Droin, und durch ein Indicium, 
die Blutſpuren im Tragforbe, belaftet. Die Zeugenjchaft 
der Frau Droin ift im höchiten Grade fragwürdig. Sie 
ift ihm notoriſch feinpfelig gefinnt geweſen und hat ihrem 
Haffe ſelbſt im Gerichtsfaale unwillkürlichen Ausdruck 
gegeben. Die Blutſpuren im ZTragforbe aber find jo 

XXI 23 


354 Der Brocef wider ben Tagelöhner Moranb. 


gering und fünnen fo verjchiedenartig erklärt werben, daß 
e8 äußerſt mislich erjcheint, darauf hin ein Menjchenleben 
der Guillotine zu opfern. Das cui prodest endlich ent- 
fällt auf ihn angewendet gänzlich. Auf das Zeugniß der 
feilen Dirne hin wird jedoch der Mann ohne weiteres 
ſchuldig geiprochen. Wenn fie gegen diefen und jenen offen- 
bar unbaltbare Denunciationen angebracht, fo hat fie die— 
jelben doch wieder zurüctgezogen; bei Morand aber blieb fie 
feft, — alſo ift er der Mörder. Das ift die Logik ber 
Geſchworenen gewejen. Der Wiberjpruch, der darin liegt, 
daß Bacher, welchen die Martin gleichfall8 als am Morde 
betheiligt angejchuldigt hat, von der Anklage wegen Mordes 
(o8gejprochen worden it, ven weiſen Richtern von Aurerre 
macht diefer Widerſpruch feine Scrupel. Die Eheleute 
Bacher und Frau Clergeot find die Nebenperjonen ver 
Tragödie, ihr Schidjal kümmert die Gejchworenen nicht. 
Die ungleiche Behandlung der beiten Angeklagten Morand 
und Bacher fordert die jchärfite Kritik heraus. Wenn vie 
Geſchworenen das Zeugniß der Joſephine Martin für 
glaubwürdig hielten, mußten fie das Schuldig über Morand 
und Bacher jprechen. Die Losſprechung Vacher's jtempelt 
die Verurtheilung Morand's, da das Belaftungsmaterial 
das gleiche tft, zu einem Juftizmorde. Der Präfident ber 
Repubfif ift vielleicht Durch diefe Erwägung bejtimmt worden, 
die gegen Morand verhängte Todesſtrafe in eine verhältnif- 
mäßig geringe zeitliche Freiheitsſtrafe umzuwandeln. Ueber 
ven leichtfertigen Spruch, welcher zur Folge hatte, daß der 
Joſephine Martin eine faum nennenswerthe Buße auferlegt 
wurde, wollen wir nichts mehr hinzufügen. Der Proce und 
der Spruch der Gefchworenen beweiſt, wie tief bie fittliche 
Fäulniß in die franzöftiche Gejellichaft eingedrungen tit. 


Drud von F. A. Brodhaus in Leipzig. 


Der Neue Pitaval. 


Neue Serie. 


Bierundzwanzigfter Band. 


Inundis Ü 


u 93) 


— 


Der 


Neue Pitaval. 


Eine Sammlung 


der intereſſanteſten Criminalgeſchichten aller Länder aus 
älterer und neuerer Zeit. 


Begründet 
vom 
Criminaldirector Dr. 3. €. Hitzig 
und 


Dr. W. Häring (W. Alexis). 
Fortgefegt von Dr. 9. Vollert. 


0 


Jene Serie. Th 2 


Bierundzwanzigfter Band, 





Leipzig: 
F. A. Brockhaus. 


1890. 


Ar. Hope 14, 1863 


Vorwort. 


Im 22. Bande des „Pitaval“ haben wir den Proceß 
gegen Johann von Weſel veröffentlicht. Er wurde 
wegen Ketzerei, nachdem ihm der Widerruf ſeiner der 
Kirche anſtößigen Lehrſätze abgepreßt worden war, zu 
lebenslänglicher Einſperrung im Kloſter verurtheilt und 
iſt in der Gefangenſchaft geſtorben. 

Im 23. Bande unſers Sammelwerks haben wir 
den Proceß wider Johann Hus folgen laſſen, den 
die römiſche Kirche in majorem dei gloriam auf den 
Scheiterhaufen geſchickt hat. 

Den 24. Band eröffnen wir mit dem von dem 
Herrn Archidiakonus Zuppke in Gera uns zugeſendeten 
Proceß gegen Galileo Galilei vor der Inquiſition in 
Rom. Die Acten dieſes Proceſſes ſind gedruckt, ſie 
beweiſen, daß die katholiſche Kirche zwei Jahrhunderte 
nach Johannes von Weſel und Johannes Hus, als 
es galt, eine ihr feindliche, wiſſenſchaftliche Lehrmeinung 
zu unterdrücken, ganz dieſelben Mittel angewendet bat 


VI Vorwort. 


wie in den Ketzerproceſſen des 15. Jahrhunderts. Der 
Ausgang des Proceſſes Galilei iſt Häglih, weil der 
Angeklagte den Muth nicht bejaß, jeine Ueberzeugung 
perjönlih zu vertreten, jondern auf jede Bedingung 
jeinen Frieden mit der Kirche machte und ſich jogar 
vor der Inquifition erbot, das Gegentheil von dem, 
was er früher gelehrt hatte, wijlenichaftlich zu bemeijen. 

Es ift lehrreich, die drei Proceſſe miteinander zu ver: 
gleihen, und pſychologiſch jehr intereffant, die drei 
Männer Johann von Wejel, Johann Hus und 
Galileo Galilei zu ftudiren. Wie hoch fteht Hus 
über den beiden andern, wie tief fteht Galilei jogar 
unter dem ſchwachen Johann von Wejel! Und mie 
harakteriftiih ijt das Verfahren der Inquiſitoren und 
in Galilei’3 Falle das Verhalten des zmeideutigen 
Papſtes! 

Den Proceß wegen Magie wider den Herzog 
Johann Friedrich von Weimar, der faſt gleichzeitig 
ſpielt, und den im Jahre 1888 verübten Mord an 
Donna Brigida in Merico, die im Rufe der Hexerei 
ſtand, haben wir angeſchloſſen, mweil es fih aud in 
diefen beiden Fällen um ſchwere VBerirrungen der Richter 
und der Rechtspflege handelt. 

Der Mordverfuh des Malers Joſeph Johann 
Kirhner in Wien wird jehr verſchieden beurtheilt 
werden. Wir ftimmen in allen Stüden dem Schluß: 
wort des Herrn Generalconjuls Dr. Meyer bei, welchem 
wir diefen Beitrag verdanken. Er hat den Charafter 
des Angeklagten gewiß richtig beurtheilt, und auch darin 


Borwort. VII 


wird man ihm beitreten müſſen, daß die Strafe in 
feinem richtigen Verhältniß zu dem Verſchulden Kirch: 
ner’3 jtand. | 

Der Proceß Benthien führt einen Mörder vor, 
der aus den unterften Schichten der menſchlichen Ge- 
ſellſchaft ſtammt und fih allmählid zur blutdürftigen 
Beſtie entwidelt hat. 

Die ftraßburger Falihmünzerbande und 
Meineid oder Rechtsirrthum find zwei von einem 
Rechtsanwalt bearbeitete Proceſſe, beide charakterijiren 
die Zuftände im Eljaß. 

Der in der neueften Zeit verhandelte Broceß wegen 
der Ermordung des Dr. med. Caſſan aus der Feder 
des Schon einmal genannten Herrn Generalconjuls 
Dr. Meyer in Wien erinnert an die franzöfiichen 
Proceſſe aus frühern Sahrhunderten, die der alte Ad— 
vocat PBitaval in feiner berühmten Sammlung be: 
arbeitet bat. 

Der Panduren-Oberſt Freiherr von der Trenck 
iſt ohne Zweifel eine merkwürdige Perſönlichkeit. Von 
ſeinem Proceß iſt nicht viel zu ſagen, aber ſein Leben 
in der Gefangenſchaft, ſein Teſtament und ſein Tod 
verdienen auf Grund zuverläſſiger Quellen in Er— 
innerung gebracht zu werden. 

Auch in dem Proceſſe wider die Carbonari in 
Italien, deren Führer der Graf Confalonieri war, 
iſt das Proceßverfahren nicht die Hauptſache, ſondern 
die genaue Schilderung des Spielbergs bei Brünn, 
auf welchem ebenſo wie der Panduren-Oberſt von der 


VIII Vorwort. 


Trenck auch der Graf Confalonieri und ſeine Genoſſen 
ihre Strafe verbüßt haben. Der Schriftſteller Deutſch 
in Brünn, der den Spielberg genau kennt, hat beide 
Proceſſe zu liefern die Güte gehabt. 


Gera, im December 1890. 


Dr. A. Bollert. 


Inhalt. 


Vorwort. 


Die Procefje gegen Galileo Galilei vor der Inquifition 
in Rom. 1615/16. — 16323 . 2... 

Herzog Johann Friedrid von Weimar. Proceß wegen 
Magie. 1627 und 1628. — 

Donna Brigida. Mexico. — Todtſchlag. 1888 

Der Proceß wider den Maler Joſeph Johann Kirchner. 
Mordverſuch am Freunde. — Wien. 1888 . . 

Der Proceß Benthien. Mord. — me 1889. 
1890 . . a er 

Die ftraßburger —— 1889 

Meineid oder Rechtsirrthum? Eine Dorfgeſchichte aus 
dem Elſaß. 1889 . ; 

Die Ermordung des Dr. med. Goffan. Mord. — 
Frankreich. 1889 

Ein Beitrag zu dem Leben — * — des 
Panduren-Oberften Franz Freiherrn von der Trend 
und feine Haft auf dem Spielberg bei Brünn, 
1741—1749 . : 

Ein Beitrag zu den Broceffen wider die Sarbensıi 
in Italien, 1820—1838 


Seite 


106 


173 
216 


225 


237 


272 


301 


Digitized by Google 


Die Procefe gegen 
Galileo Galilei vor der Inguifition in Rom. 


1615/16. — 1632/33. 


Ein großartiges Inftitut mit weifem Organismus und 
von welterrettender Wirkſamkeit — jo hat unlängjt ber 
bonner Profefjor der fatholifchen Theologie, Schröes, die 
Inguifition genannt. Selten hat ein Urtheil jo aller 
Geſchichte Hohn geſprochen. Das Dogma foll die Ge- 
ihichte befiegen. Für den Katholiken ftedt ein Kern von 
Wahrheit in diefem Urtheil, und das ijt der, daß in den 
romanijchen Ländern wenigitend der Katholicismus feinen 
Beftand der Inquifition verdankt. Sie ift mit eiferner 
Strenge wider alle evangeliichen Negungen vorgegangen 
und bat fie in Feuer und Blut erjtidt. Die Kerfer find 
die Gräber der reformatorijchen Bewegung in Italien und 
Spanien geworden. Daß Italien noch Fatholifch ift, ver— 
danft es der Inguifition, — wird als der Ausfpruch eines 
Papjtes überliefert. Alfo eine die katholiſche Kirche ret- 
tende Wirfjamfeit hat die Ingquifition in der That gehabt, 
und daß fie dabei weit ausjchauend verfahren, wird auch 
nicht geleugnet werden fünnen. Ob das aber mit „weiſem 
Drganismus‘ iventijch ift, mag billig bezweifelt werben, 
und eine welterrettende Wirkjamfeit ſchreiben wir nur 

XXIV. 1 


2 Die Brocejje gegen Galileo Galilei 


Einem zu, dem Sohne Gottes, der fie als Haupt feiner 
Kirche im Himmel fort und fort ausübt. Ob ver Pro- 
feffor den Fatholifchen Theologen die Inquifition als Re— 
mebium wider die jocialiftiiche Sturmflut unjerer Tage 
hat empfehlen wollen? Dann gefallen uns ber „weiſe 
Organismus“ und die „welterrettende Wirkſamkeit“, die 
uns in den arbeiterfreundlichen Staatsgejegen entgegen- 
treten, doch beſſer. Es erjcheint aber nothwendig, unfer 
Geſchlecht dann und warn an die Greuel der Inquifition 
zu erinnern, damit diefes Inftitut nicht mit romantiſchem 
Schimmer umgeben und etwa von ihr das Heil in ben 
Wirren der Gegenwart erwartet wird. 

Der Proceß, deſſen Bild die folgenden Blätter zeigen 
werben, weiſt zwar feine bejondern Greuel der Inqui— 
fitton auf, trägt aber, wie nicht unrichtig gejagt worden 
it, den Charakter der Barbarei, trägt venfelben um fo 
mehr, als e8 fich in demjelben nicht blos um die Unter- 
drüdung einer wifjenjchaftlichen Ueberzeugung, fondern auch 
um die Befriedigung perjönlicher Rachſucht handelt. Es 
it uns dieſes letztere beim Studiren dieſes Procefjes 
immer mehr zur Gewißheit geworden. Die Inquifition 
hat anerfanntermaßen ſolcher Rachjucht gedient, hat auf 
anonyme Denunciationen hin Anklagen erhoben unb Ur- 
theile gefällt. Daß auch die Einleitung des Verfahrens 
gegen Galilei und der traurige Ausgang defjelben folcher 
Rachſucht und nicht dem Eifer für die Ehre ver Kirche 
allein entjprungen ift, daß dieſer Eifer vielmehr Vor— 
wand, und daß Galilei felbft von ernfter Liebe zu feiner 
Kirche erfüllt war, wird die nachfolgende Darftellung er— 
geben. 

Galilei war Verfechter der Kopernikanifchen Lehre; er 
hatte neue Stützpunkte für viefelbe gefunden; ihm war es 
zur unwiderleglichen Gewißheit geworden, daß nicht Die 


vor der Inguifition in Rom. 3 


Erde, fondern die Sonne das Centrum der Welt fei. 
Kopernifus hatte diefe Lehre nur hypothetiſch vorgetragen, 
indeß doch nur ſcheinbar. Er hatte nämlich, um jeglichen 
Widerſpruch von firchlicher Seite zu begegnen, in ber 
Borrede feines Hauptwerfes „De revolutionibus orbium 
coelestium“*) feine Anficht nur als Hypotheſe bezeichnet; 
er hatte darin gejagt, er könne fich gewilfe Erjcheinungen 
nicht erflären: wenn die Sonne fi um ihn drehe, je 
wolle er fich einmal um die Sonne drehen und zujehen, ob 
ihm nun die Sache Har würde. E8 war das jo gejchickt 
geſprochen, daß Bapft Paul IIL unbevenflich die Wid— 
mung des Werfes angenommen hatte. Intereſſant aber 
ift, daß nach neuern Forſchungen dieſe Vorrede nicht von 
Kopernifus, dem Fatholifchen Domherrn von Frauenburg, 
jondern von feinem Freunde Andreas Dfiander, dem be- 
fannten nürnberger Iutherifchen Theologen ſtammt. Dieſe 
hypothetifche Form rettete die Kopernifaniiche Lehre vor 
der Verurtheilung durch die Inquifition. Der protejtan- 
tiiche Theologe aber hat dadurch zugleich Beruhigung im 
eigenen Lager bewirken wollen, denn Melanchthon war ein 
jehr energifcher Gegner dieſer Lehre. Auch die Kirche der 
Reformation hat es erft lernen müffen, daß fie weder 
geocentrifch noch heliocentrifch, fondern theocentrifch, noch 
genauer chriftocentrifch zu lehren habe. Weder bie Erbe 
noch die Sonne, fondern Chriftus ift dem proteftantifchen 
Theologen der Mittelpunkt der Welt. Auf diefem Funda- 
mente jtehend kann er ruhig den Forſchungen der Natur- 
wifjenjchaft zujehen. Die Kirche der Reformation fteht 
unbefangen allen wiſſenſchaftlichen Reſultaten gegenüber; 
fie hat den fichern, objectiven Boden, das in Chriftt ge- 
offenbarte Heil unter den Füßen. Die römifche Kirche, 


*) „Bon den Ummwälzungen ber Himmelsförper.‘ 
1* 


4 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


jo oft als die einzig objective Macht gepriefen, iſt in 
Wahrheit viel größerer fubjectiver Willfür verfallen. Das 
infallible Papſtthum ſchlägt in fein Gegentheil um. Auch 
Galilei ift das Dpfer jubjectiver Willfür geworden, Gegen: 
wärtig aber ift fein Shftem, das im Jahre 1633 ver- 
dammt wurde, gejtattet. Schon 1757, unter dem gelehrten 
Benedict XIV., beichloß die Indercongregation: Nach 
Rückſprache mit Sr. Heiligkeit foll das Decret aufge: 
hoben werben, das alle Bücher verbietet, welche die Un— 
beweglichfeit der Sonne und die Beweglichkeit der Erde 
lehren. 

Nichtsdejtoiweniger verweigerte im Jahre 1820 der Ma- 
gister sacri Palatii, P. Philipp Anfoffi, dem Kanonifus 
Joſeph Settele, Profefjor der Optik und Ajtronomie am 
römischen Archigymnafium, das Imprimatur für ein Buch, 
in dem er bie Kopernifanijche Lehre nicht als bloße Hypo— 
theje behandelte. Settele appellirte an den Papſt Pius VII., 
ber die Sache an die Eongregation des heiligen Offictums 
verwies. Dieje erklärte am 16. Augujt 1820, das Buch 
jet nicht zu beanftanden. Der Papft genehmigte biejen 
Beſchluß. Anfoffi machte auf Grund noch älterer De— 
crete weitere Bedenken geltend; die Carbinäle der Con— 
gregation der Inquifition aber erklärten, es jei in Rom 
ber Drud von Werfen, welche über die Bewegung der 
Erde und das GStillftehen der Sonne handeln, nach ber 
allgemeinen Annahme der modernen Ajtronomen gejtattet. 
Diejes Decret wurde am 25. September 1822 vom Papſte 
bejtätigt. Demnach hat Pius VII., der Wieperheriteller 
bes Jeſuitenordens, feine Vorgänger Baul V,, ver ben 
Stifter des Ordens Fanonifirte und Galilei wegen feiner 
Lehre verwarnen ließ, und Urban VIIL, ver ihn ben 
Jeſuiten zu Liebe verurtheilte, corrigirt. Immerhin eine 
glücliche Inconfequenz. 


bor ber Inguifition in Rom. 5 


Das Leben Galilei’8 und fein Proceß find oft der 
Gegenſtand wiffenichaftlicher Forſchung geweſen. Die erfte 
Biographie, von Viviani, einem der treueften Schüler und 
Berehrer Galilei’s, jchon im Jahre 1654 gejchrieben, ift 
erit im Jahre 1718 veröffentlicht worden. Aber wie er- 
jcheint darin Galilei? Er bereut fein Auftreten für 
die verurtheilte Lehre als ein Verbrechen, und er jchreibt 
jeine legten großen Werke, um ver Vorfehung für die Be- 
freiung aus ſchwerem Irrthum feinen frommen Dank abzu- 
tragen. Mehr war eben nicht erlaubt. Erſt 1775 be— 
richtete Frifi in einer Schrift über Galilei wahrheitsgemäß 
über feine Stellung zur Kopernifanifchen Lehre, alſo bald 
nach Aufhebung des Jeſuitenordens. Wenige Jahre darauf 
folgten die Biographien von Brenna und Targioni. Sie 
jtellten eine Folterung Galilei’8 in Abrede und jchlojjen 
das aus den Berichten des toscanischen Gefandten in Rom, 
Niccolint. Allein diefer Schluß tft nicht berechtigt, da 
der Gejandte nichts berichten durfte, und da auch Galilei 
über die Vorgänge jchweigen mußte. In unferm Jahr— 
hundert hat ein anderer italienischer Gelehrter, Giulio 
Libri, in feiner „Geſchichte der mathematischen Wiffen- 
ichaften in Italien” die beftimmte Behauptung aufgeftelli, 
daß Galilei gefoltert worden fei. Er argumentirt nicht 
unwahrjcheinlich aus dem fpätern graufamen Berfahren 
gegen Galilei. Das hatte das Gute, daß man fich in 
Kom entichloß, etwas aus den Procekacten zu veröffent- 
lihen. Dieſe waren im Jahre 1809 von den Franzofen 
nach Paris gebracht worden. Napoleon joll die Abficht 
gehabt haben, fie befannt zu geben. Entweder haben die 
ipätern Kriege oder fein eigenes Autoritätsbebitrfniß bie 
Ausführung verhindert. Sein Bibliothefar hatte fich 
einige Auszüge gemacht; aus dieſen hat Delambre in 
jeiner „Geſchichte der neuern Aſtronomie“ einiges mitge- 


6 Die Proceffe gegen Galileo Galilei 


theilt. Das war im Jahre 1820. Diefe Mittheilungen 
bewirften eine vollftändige Enttäufchung über Galilei. 
Nah der Reitauration hat die päpftliche Regierung 
fih lange vergeblich bei dem franzöfifchen Gabinet um bie 
Herausgabe bemüht. Dem angeftrengteften Bemühungen 
des Grafen Roffi, des franzöfifchen Geſandten beim Vati— 
can, gelang es erjt im Jahre 1846, die Acten für Rom 
zurüdzuerhalten. Pius IX. machte fie ver Vatican-Biblio- 
thef zum Geſchenk; im Jahre 1850 antwortete der Vor- 
jteher jeines Geheimarchivs, Marino Martini, auf Libri’s 
Angriffe mit feiner Schrift „Galileo e l' inquisizione. 
Memoriae’s torico-critich“. Doch war von der hifto- 
rifch-fritiichen Methode nur der Name geborgt; nur einige 
Bruchitüde wurden aus ven Acten wiedergegeben; das 
Ganze war eine ungeſchickte Apologie des Inguifitions- 
verfahrene. Dazu wurden die Acten wieder aus ber 
Bibliothef nah dem Geheimarchiv geſchafft. Erſt P. 
Theiner gejtattete einem klerikalen Sranzofen, Henri de 
l'Epinois, Abichrift von den Acten zu nehmen. Der 
Tranzofe konnte indeß nur flüchtig arbeiten, da er durch 
eine dringende Familienangelegenheit abgerufen wurbe. 
Er publicirte feine Documente in der „Revue des ques- 
tions historiques‘ (Paris 1867) unter der Ueberſchrift 
„Galilee, son proces, sa condemnation d’apres des 
documents inedits‘. Ihm folgte, drei Jahre fpäter, 
wieder ein Italiener, Gherardi, mit einer Schrift „I 
Processo Galilei reveduto sopra documenti di nuova 
fonte” (Florenz 1870). Der BVerfafjer hat wejentlich de 
l'Epinois benukt. Erſt 1876 hat fich ein Italiener, 
Berti, einst italienifcher Unterrichtsminijter, auf dem 
Zimmer des P. Theiner mit den Originalacten be- 
Ihäftigt. Aber auch diefe Ausgabe war unvolljtändig; 
fünf Documente fehlen ganz; von funfzig Echriftftüden 


vor ber Inquifition in Rom. 7 


wird nur furz der Inhalt angegeben. Auch die ganze 
Soliobezeichnung hat Berti weggelaffen. Gleichzeitig mit 
dem Franzofen und dem Italiener haben Deutſche ben 
Proceß behandelt, fo ver heidelberger M. Kantor in ber 
„Zetichrift für Mathematik und Phyſik“, jo Wohlwill im 
Jahre 1870 in einer Arbeit über die rechtliche Grund- 
lage des Procefjes, und im Jahre 1877 in einer umfang- 
reihen, von nicht gewöhnlichem Scharffinn zeugenden 
Monographie über die Frage, „ob Galilei gefoltert wor- 
den”. In demjelben Jahre fette e8 ein öſterreichiſcher 
Gelehrter, K. von Gebler, mit Hülfe der Botjchaft beim 
Cardinal Simeoni, demjelben, mit deſſen Hülfe Fürit 
Bismard feinen Rüdzug im Culturfampf begann, burch, 
daß ihm die volljtändigen Acten zur Dispofition geftellt 
wurden. K. von Gebler wollte ſich nur Gewißheit über 
die Echtheit oder Unechtheit eines für die Beurtheilung 
des Procefjes überaus wichtigen Documentes (e8 iſt das 
Document vom 26. Februar 1616; wir werben jehen, 
wie bedeutſam es ijt) verjchaffen. Da gewahrte er bie 
mannichfachen Abweichungen, Auslaffungen und Incorrect- 
heiten der bisherigen Ausgaben; fo reifte in ihm ber Ge— 
danke, einen Abdruck ſämmtlicher Schriftftüde mit biplo- 
matifcher Genauigkeit zu veranftalten. Sein Werk er- 
ihien unter dem Titel „Galileo Galilei und die Rö— 
mijche Curie” (Stuttgart 1876). Den Eindruck, iwel- 
hen der Proceß im Lichte dieſes Buches machte, hat 
der berliner Philofjoph E. Zeller in der „Deutſchen 
Rundſchau“ (Detoberheft 1876) treffend wiedergegeben; 
wir fönnen es uns nicht verfagen, hieraus einige Sätze 
mitzutheilen. €. Zeller jchreibt: „Die Gefchichte führt 
uns zahliofe Fälle vor Augen, in denen bie freie For— 
ſchung im Namen der Religion unterbrüdt oder beſchränkt 
wurde, einzelne und ganze Schulen wegen ihrer wifjen- 


8 Die Procefie gegen Galileo Galilei 


Ihaftlichen Anfichten oft bis aufs äußerſte verfolgt wur- 
den. Nur ein Glied in diefer langen Reihe wiljen- 
Ichaftliher Martergefchichten bildet ver Proceß Galilei's; 
und er fteht zudem an fchauernden Momenten, an plajti- 
icher Greifbarfeit der Conflicte, an Kraft und Größe ber 
handelnden Perjonen, an erjchütternder Gewaltjamfeit des 
Ausgangs hinter vielen ähnlichen Vorgängen zurüd. Der 
Held diefer Tragödie iſt feiner von jenen groß angelegten 
reformatorifchen Charakteren, die einer weltgefchichtlichen 
Aufgabe in unbedingter Hingebung dienen, die ihren Weg, 
nicht rechts und links blidend, mit rückſichtsloſer Ent- 
ichloffenheit verfolgen, die Hinderniſſe niederwerfen oder 
an ihnen zerjchellen. Bei Galilei finden wir nichts von 
alledem; bei aller feiner wiſſenſchaftlichen Größe liegen 
ihm doch von Anfang an gewiffe Rüdfichten gegen bie 
Macht, die fich feiner Forſchung in den Weg ftellt, im 
Blute; und als fich die Unverträglicheit der beiderjeitigen 
Ansprüche immer Elarer herausftellt, führt ihn dieſe Er- 
fahrung nicht zur energijchen Befreiung von jenen Rüd- 
jichten, fondern er läßt fich einfchüchtern, fucht ſich hinter 
zweibeutige Wendungen zu verfteden und kann fih am 
Ende einer entwürdigenden Verleugnung feiner Ueber— 
zeugung nicht entziehen. Auf der andern Seite haben 
wir aber auch bei feinen VBerfolgern zwar vie volle Bös— 
artigfeit, aber nicht die imponirende Kraft, die ftürmijche 
Leivenschaftlichkeit des religidfen Fanatismus; gerade bie 
mächtigjten unter benjelben machen vielmehr den Ein— 
brud, daß fie ihres eigenen Standpunftes nicht mehr 
ficher feien, daß ihnen ver Glaube an fich felbft und ihre 
Sade, das Einzige, was und mit der Unduldſamkeit des 
Vanatifers einigermaßen verjühnen kann, fehle, daß auch 
fie vem Conflicte, dejfen Gefahr und Schande fie ahnen, 


vor der Inquiſition in Rom. 9 


gern aus dem Wege gingen, wenn ſie es mit ihrer Stel— 
lung und ihrem Intereſſe zu vereinigen wüßten. So 
ſtoßen wir auf Halbheit da wie dort. Auf Galilei's 
Seite ift nur ein halbes Martyrium, auf feiten der 
Kirchengewalt nur ein halber Sieg, eine perfönliche Mis- 
handlung, feine Vernichtung des Gegners.“ So weit der 
Philofoph. Wir fügen dem nur Hinzu, daß die Wiljen- 
ſchaft überhaupt feinen Weberfluß an Märtyrern Rom 
gegenüber hat; fie hat je und je ihren Frieden mit Rom 
geichlofjen. Wir erinnern nur an Erasmus. Aber der 
Glaube, vie fides salvifica, hat die Kraft zum Martyrium 
gegeben und hat das Feld behalten. Die Sage hat Ga- 
filei mit dem Nimbus eines Märtyrer umgeben; als 
ſolchen gedachte ihn Mathilde Raven in einem Roman zu 
feiern. Dei ihren Vorftudien merfte fie, daß das un- 
möglich war; fo hat fie in ihrem zweibändigen Roman 
„Galileo Galilei‘ (Leipzig, F.A.Brodhaus, 1860) ein nicht 
ungetreues Bild von jener Zeit und von den in ihr 
wirkenden Perſonen entworfen. Nur haben wir wenig 
bon einem Roman gejpürt; doch iſt das unter Umjtänden 
ein Rob; hat fie Doch nicht weniger als 1376 Briefe aus 
jener Zeit durchſtudirt, um den nöthigen Stoff für ihren 
„Roman“ zu jammeln. 

Wir gehen nunmehr zur Schilverung des Procefjes 
jeldft über; wir werden die nöthigen Mittheilungen über 
Form und Inhalt der Acten an geeigneter Stelle ein- 
jchieben; vorher aber noch einiges fagen über die Perjon 
Galilei's. Er wurde am 18. Februar 1564 zu Pija ge- 
boren, wo fich feine Aeltern vorübergehend aufhielten. Sein 
Bater war ein florentinifcher Edelmann, in der Mufit 
theoretisch gebildet und ein tüchtiger Mathematiker. In 
Florenz verlebte er feine Sugend. Der Knabe hatte die 


12 Die Proceffe gegen Galileo ©alilei 


Zeit, im Jahre 1624, bedrohte das franzöſiſche Parla- 
ment jede Abweichung von Ariftoteles mit der Todes— 
jtrafe. Die ganze Weltanfchauung ruhte auf Ariftoteles; 
jeine ethifchen, pſychologiſchen, phyſikaliſchen Grundſätze 
waren maßgebend. Sie galten als Stützen des kirch— 
lichen Lehrgebäudes. 

Hier intereſſirt uns nur die Phyſik des Ariſtoteles. 
Die Welt iſt ihm der Inbegriff alles Veränderlichen. 
Dieſes Veränderliche iſt theils unvergänglich wie der im 
ewigen Aether ſchwimmende Firjternhimmel, theils ver— 
gänglich, wie alles, was man auf Erden unter dem Namen 
„Natur“ begreift. Der Himmel iſt das Verbindungs— 
glied zwiſchen dem vergänglichen Naturweſen und dem un— 
veränderlichen Urweſen, alſo dasjenige, wodurch letzteres 
auf die Natur einwirkt. Der Fixſternhimmel kommt 
einem Wejen nach dem Abjolut - Göttlihen am nächiten, 
Die Region der Planeten, zu welchen Sonne und Mond 
gehören, jteht ihm ferner, ijt aber der Wanpelbarfeit und 
dem Leiden entrüdt. Jeder der Planeten hat feinen uns 
bewegten Beweger; zuweilen ſpricht er auch von einer 
Seele der Planeten. Die fugelförmige Erde in ver Mitte 
des Alls fteht ftill; fie bildet das Centrum, ohne welches 
eine Kreisbewegung nicht denkbar ijt. Ihr Mittelpunft 
‚it zugleich Mittelpunkt des Alls. Die Erde mit ihrer 
Atmosphäre ift die Region von Werden und Vergehen. 
Diefer ewige Wechjel geſchieht dadurch, daß die Geftirne, 
namentlich die Sonne, der Erde bald näher, bald ferner 
fommen. Der Zwed der ganzen Natur ijt ver Menjch, 
aus vergänglichem Leib und unjterblicher Seele beſtehend, 
fein Ziel die Glüdfjeligfeit, welche in erjter Reihe darin 
beiteht, daß die Seele das Gute denkt, wenngleich eine 
gewiffe Ausrüftung mit äußern Gütern auch nothwendig 
dazu it. 


vor der Inguifition in Rom. 13 


Dieje Ariſtoteliſche Phyſik hatte in der Kirche faft dog— 
matiſchen Werth. ALS man einem Jeſuitenprovinzial die 
Sonnenfleden zeigen wollte, erwiberte er, er habe zwei- 
mal den ganzen Ariftoteles vurchgelefen und feine Silbe 
gefunden, die auf Sonnenfleden fih auch nur deuten lafje, 
Si non e vero, e ben trovato. Die eudämoniſtiſche 
Theorie des Ariftoteles aber gilt immer noch in der katho— 
lichen Kirche. Das Chriſtenthum ift weſentlich Glück— 
ſeligkeitslehre. Nach der Schrift aber iſt Zweck der 
Schöpfung und Erlöſung das Lob der Herrlichkeit Gottes. 
Man leſe nur das erſte Kapitel im Epheſerbriefe. 

Galilei hatte ſich alſo die Feindſchaft der Ariſtoteliker 
zugezogen; das ganze dogmatiſche Lehrgebäude war durch 
jein Zelejfop ins Wanken gerathen. Nichtsdeſtoweniger 
hätte man nicht gewagt, gegen ihn vorzugehen, wenn man 
nicht die Sache ins Religiöfe hätte hinüberjpielen Fünnen. 
Ihn blos der Verlegung der Ariftotelifchen Philofophie 
anzuflagen — damit wäre man bei dem großen Anjehen, 
deſſen er fich erfreute, nicht durchgefommen. Die Refor— 
mation war doch nicht ſpurlos an der römiſchen Kirche 
porübergegangen. Luther Hatte nicht umfonft wider den 
„alten Heiden‘, den Ariftoteles, gewettert. So verdäch— 
tigte man Galilei, er griffe die Bibel an, er jete feine 
Weisheit an Stelle der geoffenbarten Wahrheit. Und 
merkwürdig — Galilei felbft Tieferte feinen Gegnern dieſe 
Waffe in die Hand; er fuchte nämlich feine Anficht durch 
bie Bibel zu jtärfen, und dies z0g ihm den Vorwurf 
faljcher, traditionsfeindlicher Schriftauslegung zu. Er 
that dies in einem Briefe an feinen Schüler und Freund 
Cajtelli, ein Mitglied des Benedictinerordens, den dieſer 
in vielfachen Abjchriften verbreitete. Auf dieſen Brief 
bin wurde Galilei bei der Inquifition denuncirt. Er be- 
findet jih in den Acten als eins der eriten Documente; 


14 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


er umfaßt bei Gebler acht Drudjeiten. Wir theilen eini- 
ge8 aus dieſem Briefe mit. Zunächſt ſpricht Galilei 
darüber feine Entrüftung aus, daß man die Heilige Schrift 
in eine rein mwifjenjchaftliche Auseinanderfegung verflechte 
und ihr dabei gar das Recht der Enticheivung beimefjen 
wolle. Als guter Katholif erfenne er zwar bereitwillig 
an, daß die Heilige Schrift niemals lügen oder irren könne, 
doch gelte das feiner Meinung nach nicht von jedem ihrer 
Erflärer. Diefe müßten ja doch fonft manchen biblifchen 
Ausprud bildlich nehmen — jo wenn von Gottes Glied- 
maßen oder von jeinem Zorn, von feinem Haß und feiner 
Reue die Rede jet — warum wollten fie das denn nicht 
auch bei den Ausſagen der Schrift über das Verhältniß 
von Sonne und Erde? „Da aljo die Heilige Schrift an 
vielen Stellen eine andere Auslegung, als der Wortlaut 
icheinbar befagt, nicht blos geftattet, jondern geradezu ver- 
langt, fo jcheint e8 mir, es ſei ihr in mathematifchen 
Streitfragen der letzte Plaß einzuräumen. Denn die Heilige 
Schrift und die Natur — beide fommen von Gott her, 
jene als vom Heiligen Geifte eingegeben, dieſe al8 die Ver— 
wirflihung göttlicher Befehle. In der Heiligen Schrift war 
es num nothwendig, daß fie, um fich dem Verſtändniſſe 
ber großen Menge anzubequemen, vieles fage, was den 
eigentlichen Sinn nur bildlich wiedergiebt; die Natur 
hingegen gibt fich, wie fie ift, nur ihren Gefegen folgend, 
mag man fie begreifen oder nicht. Deshalb muß, fo 
icheint mir, fein Werk der Natur, das uns entweder er— 
fahrungsmäßig vor Augen fteht, oder bie nothwendige 
Folge wiffenfchaftlicher Beweisführung ift, wegen dieſes 
oder jenes Satzes der Heiligen Schrift in Zweifel gezogen 
werden.” Weiter heißt es dann in diefem Briefe: „Weil 
zwei Wahrheiten fich offenbar niemals widerfprechen können, 
fo ift e8 die Aufgabe weiſer Ausleger der Heiligen Schrift, 


vor der Inguifition in Rom. 15 


fih zu bemühen, ven wahren Sinn ver Ausſprache dieſer 
letztern herauszufinden in Webereinjtimmung mit jenen 
Schlüffen, die fich enweder vermöge des Augenſcheins oder 
mittels ficherer Beweije ald gewiß ergeben. Da wir nicht 
mit Sicherheit behaupten können, alle Ausfeger jeien von 
Gott injpirirt, jo glaube ich, e8 wäre Flug daran ge- 
than, feinem die Anwendung von Sätzen aus der 
Heiligen Schrift zu geftatten, auf daß man nicht 
gewiſſermaßen verpflichtet wird, Behauptungen über na- 
türlihe Dinge im Glauben für wahr zu halten, von 
denen jpäter bie finnliche Wahrnehmung und durchichla- 
gende Beweife das Gegentheil darthun könnten.“ Galilei 
meint, die kirchliche Obrigkeit thäte am beiten, die Entnahme 
naturwiſſenſchaftlicher Lehrjäte aus der Heiligen Schrift 
zu verbieten, damit nicht die Autorität der legtern felbit 
darunter Schaden leide. Und nun fpricht er fich über die 
Heilige Schrift folgendermaßen aus: „Meiner Meinung nach 
hat die Heilige Schrift den Zwed, ven Menjchen diejenigen 
Wahrheiten mitzutheilen, welche für ihr Seelenheil noth- 
wendig find, und die eben, alle menfchliche Urtheilsfraft 
überjteigend, weder durch Wiſſenſchaft noch jonft, ſondern 
eben nur durch den Heiligen Geift mitteld Offenbarung zu 
gewinnen une darauf hin gläubig anzunehmen find. Daß 
aber diejer jelbe Gott, der uns Sinne, Berftand und Ur- 
theildvermögen gegeben hat, nun wollen jollte, daß wir 
diefe nicht brauchen und die dadurch erreichbaren Kennt- 
nifje auf anderm Wege erlangen jollen — das zu glauben 
halte ich mich nicht für verpflichtet.‘ 

Galilei erläutert feine Meinung an Beifpielen. Er 
fommt infonderheit auf Joſua, Kap. 10 zu reden. Im fieg- 
reichen Kampfe mit den Amoritern bittet Joſua den Herrn 
um die Verlängerung des Tages, um die Feinde ganz ver- 
nichten zu können. ‚Da rebete Yojua mit dem Herrn 


16 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


des Tages, ba der Herr die Amoriter übergab vor den 
Kindern Israel, und ſprach vor gegenwärtigem Israel: 
Sonne, ftehe jtill zu Gibeon, und Mond im Thal Aja— 
Ion! Da ftand die Sonne und Mond ftille, bi8 daß 
fih das Volk an feinen Feinden rächte. Iſt dies nicht 
gefchrieben im Buche des Frommen? Alfo jtand bie 
Sonne mitten am Himmel und verzog unterzugehen, bei— 
nahe einen ganzen Tag, und war fein Tag dieſem gleich, 
weder zuvor noch danach.“ (Sof. 10, 12—14.) alilei 
zeigt nun, daß, wenn die Sonne am Firmamente fejt- 
gehalten wurde, die Zageslänge abgekürzt wurde, alfo 
gerade das Gegentheil von dem erzielt wurde, was Joſua 
beabfichtigte. Ein volljtändiges Durcheinander der Natur 
hätte die Folge fein müffen. Er nimmt an, Gott habe 
vielmehr dem ganzen Weltenſyſteme eine zeitweilige Ruhe 
geboten, nach deren Ablauf dann alle Himmelsförper, fo 
in ihrem gegenfeitigen VBerhältniß nicht im geringjten ge— 
Itört, in alter Ordnung wieder zu Freifen begonnen hätten, 
Das Wunder leugnet demnach Galilei jowenig, daß er 
jogar für eine Steigerung vefjelben eintritt. Das Ber: 
hältniß von Bibel und Naturwifjenichaft aber wird in 
biefem Briefe an Cajtelli in geradezu muftergültiger Weife 
beiprochen. Seine Frömmigkeit ift eine unanfechtbare. 
Gegen das Ende des Jahres 1613 hatte Galilei dieſen 
Drief gejchrieben; die Aufregung war eine ungeheitere. 
Ein Dominicaner, Pater Caccini, polemifirte gegen ben 
Brief von der Kanzel. Am vierten Advent 1614 hielt er 
in der Kirche Santa-Maria Novella zu Florenz eine ge- 
harnijchte Predigt wider Galilei. Er legte feiner Predigt 
eben die Yofuaftelle zum Grunde; al® exordium aber 
wählte er das Wort aus der Himmelfahrtsepiftel (Apoftel- 
geſch. 1, 11): „Ihr Männer von Galiläa, was ftehet ihr 
und jehet gen Himmel?“ Die Anfpielung war mehr alg 


vor der Inguifition in Rom. 17 


deutlich; auch braftifche Gefchiclichfeit wird man dieſem 
exordium nicht abjprechen fünnen. Nur hatte der gute 
Pater vergefen, daß diefe Worte aus dem Munde eines 
Engels jtammen, welcher die ob der Auffahrt ihres Herrn 
trauernden Jünger tröftete. Die Rolle eines tröftenden 
Engels aber hat er nicht gejpielt, vielmehr Del ins Feuer 
gegoffen. Die Mathematik war ihm eine Erfindung des 
Zeufeld. AS ob von dieſem nicht alle Verwirrung auf 
Erden herrührt! Als ob die Schrift nicht Gott einen 
Gott der Ordnung nennt! Der Skandal war da; in ben 
gebildeten Kreifen war man empört; jelbft der Domini» 
canergeneral Maraffi war es in jo hohem Grabe, daß 
er ein Entjchuldigungsichreiben an Galilei ſchickte. Aber 
ber P. Caccini wußte fich zu helfen; er veranlafte einen 
andern Dominicaner, P. Lorini, Galilei bei der Inqui— 
fition zu denunciren. Auch diefe Denunctiation befindet 
fih in den Acten; am Schlufje verfelben wird P. Caccini 
zum Zeugen vorgejchlagen. Dies hatte eine Prüfung der 
Schrift Galilei's: „Geſchichte und Erflärung der Sonnen- 
fleden“, zur Folge. Diefe Schrift, fein Brief an Caſtelli, jo- 
wie ein zweiter Brief an die Großherzogin-Mutter, Chriftine 
von Lothringen, auf deren Bitten er fich noch weiter über 
Bibel und Naturwifjenfchaft ausfprach, bildeten die Grund- 
lagen, auf welchen die Feinde Galilei's die Anklage wegen 
philojophifcher und theologijcher Irrlehre wider ihn er- 
hoben. Die eigentlichen Macher waren wol die Jejuiten; 
die Dominicaner waren zunächſt nur worgejchoben. 

In dem Briefe an Chriftine von Lothringen führt 
Galilei Folgendes aus: Die Theologie nennt fich die Kö— 
nigin der Wifjenjchaften. Dies fönne in einem boppelten 
Sinne gejhehen, entweder weil alles, was die andern 
Wiſſenſchaften lehren, in der Theologie enthalten fei und 

XXIV. 2 


18 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


erflärt würde, over weil der Gegenftand, mit welchem die 
Theologie fich beichäftigt, alle andern Gegenftände des pro- 
fanen Wiſſens an Würde und Wichtigkeit weit überragen. 
Das erjtere würden aber wol ſelbſt folche Theologen, die 
nicht ganz allen weltlichen Wiffens bar feien, gewiß nicht 
behaupten, weil doch niemand fagen fönne, die Geometrie, 
Altronomie, Muſik und Medicin würden in der Heiligen 
Schrift genauer und beſſer vorgetragen als in ben 
Büchern von Archimedes, Ptolemäus, Boccius und Ga- 
lenus. Es bleibe alfo nur die zweite Annahme übrig, und 
ba follte die Theologie, nur der Betrachtung ber göttlichen 
Probleme obliegend und ihrer hohen Würde eingedent, 
auf dem ihr zufommenven Eöniglichen Throne verbleiben 
und die niedern Wiffenfchaften, als die Seligkeit nicht 
betreffend, unbeachtet laffen. Und dann, fährt er fort, 
jollten auch nicht die Profefforen der ‘Theologie fich Die 
Autorität anmaßen, Decrete und Verordnungen in ge- 
lehrten Disciplinen zu erlaffen, deren Studium fie nicht 
obgelegen haben. Dies wäre gerade fo, al8 wenn ein ab- 
joluter Fürft, welcher in dem Bewußtſein, frei befehlen 
und ſich Gehorfam verjchaffen zu können, ohne die Arznei- 
funde oder die Baukunſt ftudirt zu haben, verlangen würde, 
daß man nach feinen Anordnungen fich curiren oder Ge- 
bäude aufführen folle, der größten Lebensgefahr für vie 
betreffenden Kranken und dem offenbaren Ruin für die refp. 
Baulichkeiten zum Troß. Noch bemerkt er, daß der Heilige 
Geift uns habe zeigen wollen, wie man zum Himmel ge- 
lange, nicht aber, wie die Himmel fich bewegten. 

Damit hatte Galilei allerdings in ein Wespenneft ge- 
ſtochen. Seine Gegner ruhten nicht: fie fuchten e8 dahin 
zu bringen, daß er nach Rom citirt wurde. Allerhand 
bebrohliche Gerüchte famen ihm zu Ohren. Da beichloß 
er, feinen Feinden zuvorzuflommen, nach Rom zu gehen 


vor der Inquifition in Rom. 19 


und feine Sache dort zu verfechten. Im December 1615 
reifte er, mit warmen Gmpfehlungsfchreiben des Groß— 
herzogs verjehen, nah Rom ab. Wiederum fand er die 
ehrenvollfte Aufnahme. In den erjten, einflußreichiten 
Familien durfte er feine Lehren entwideln; allgemein 
ftimmte man ihm zu; das machte ihn ganz ficher. Am 
6. Februar 1616 fchrieb er an den erften toscanifchen 
Staatsſecretär Picohena nach Florenz: „Meine Angelegen- 
beit ift, foweit fie meine Perſon betrifft, völlig beendigt; 
jämmtliche damit betraut gewejene Prälaten verficherten 
mir, daß man fich von meiner Chrenhaftigfeit und dem 
böjen Willen meiner Verfolger vollfommen überzeugt habe. 
Was das betrifft, könnte ich alfo nach Haufe zurüdfehren; 
allein mit meiner Rechtsjache hängt eine Frage zufammen, 
bie nicht blos mich, fondern alle jene angeht, welche feit 
achtzig Iahren entweder in Druckwerken, in öffentlichen 
Vorträgen, oder in vertrauten Unterhaltungen einer ge- 
wiſſen, Euer Gnaden nicht unbekannten Lehrmeinung bei- 
getreten find, über die man gegenwärtig ein Urtheil zu 
fällen ſich anſchickt. Ueberzeugt, daß mein Beiftand in 
dieſer jo recht eigentlich mein Forſchungsgebiet betreffenden 
Unterfuhung von Nugen fein dürfte, kann und darf ich 
mich nicht enthalten, daran theilzunehmen, indem ich da- 
bei der Eingebung meines chrijtlichen Gewiffens und 
meinem Eifer für die Fatholifche Sache folge.” Alfo der 
hoffnungsfühne Galilei; vierzehn Tage fpäter wurde das 
Urtheil gefällt. 


Wir geben hier das Gutachten der Confultatoren nach 
den Acten. (Gebler, ©. 47, 48.) 


2* 


20 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


Süße, welche zu begutachten: 


Gutachten, abgegeben im heiligen Officium der Stabt, 
Freitag, den 24. Februar 1616 
in Gegenwart der unterjchriebenen theologischen Väter. 


1. Die Sonne ift das Centrum der Welt und gänz- 
lich unbeweglih von Ort zu Drt. 


Gutachten: Alle fagten, daß der erwähnte Sat thöricht 
und philoſophiſch abſurd und formell ketzeriſch ſei, weil 
er ausbrüdlich den Meinungen ver Heiligen Schrift an 
vielen Stellen wiberfpricht, nach der Wortbebeutung, 
wie nach der allgemeinen Auffaffung, wie nach dem 
Sinne der heiligen Väter und Doctoren der Theologie. 


2. Die Erde ift nicht das Centrum der Welt und 
nicht unbeweglich, ſondern bewegt fich gänzlich 
um fich, auch in täglicher Umdrehung. 

Gutachten: Alle fagten, daß dieſer Sat die gleiche Gel- 
tung empfange in der Philofophie, ſowie rückſichtlich der 
theologiijhen Wahrheit; zum mindeften jei er irrig im 
Glauben, 

Petrus Lombardus Archiepus Armacanus 
fr. Hyacinthus Petronius sac.: Apost. Pal. Mag. :c.; 


e8 folgen die Unterjchriften, im ganzen elf, darunter 
namentlich ein Yejuit, an achter Stelle: 
Bened.° Jus.”“= societatis Jesu. 
Zulett der Commiſſar des heiligen Officiums: 
fr. Jacobus Tintus socius R”i, Pris commissarius I. 
s'ti. Office. 


Dies ift unzweifelhaft ein Driginaldocument, ba 
fämmtliche Unterfchriften vorhanden find. 


vor ber Inquiſition in Rom. 21 


Wie ift man nun auf Grund diefer Gutachten gegen 
Galilei perfönlich vorgegangen? Die Acten enthalten 
hierüber nur unterjchriftslofe Annotationen. Sie folgen 
auch nicht unmittelbar auf das Gutachten, fondern bie 
nächite Foliofeite ift unbejchrieben, die folgende Seite ent- 
hält die erjte Annotation und die erjte Hälfte ver zweiten, 
während die im fpätern Proceffe entſcheidenden Worte auf 
dem nächjten Folio ftehen. 


Die erjte Annotation lautet: 
Donnerstag, den 25. Februar 1616. 


Der durchlauchtigſte Herr Kardinal Millini hat den 
ehrwürbigen Herren, dem Ajjeffor und dem Commiffar 
des heiligen Officiums angezeigt, daß, nachdem die Patres 
Theologen über die Behauptungen Galilei’8, des Mathe- 
matifer8, daß die Sonne das Centrum ver Welt jet 
und ohne Bewegung von Ort zu Ort, die Erde da— 
gegen fich bewege und auch in täglichen Umdrehungen 
um fich jelbft, ihr Gutachten abgegeben haben, Se. 
Heiligkeit dem Herrn Kardinal Bellarmin befohlen habe, 
den genannten Herrn Galilei vor fich zu rufen und 
benfelben zu ermahnen, die erwähnte Meinung aufzu— 
geben, und falls er ſich weigern würde zu ge— 
horchen, jolle ihm der Pater Commiffar in Gegenwart 
von Notar und Zeugen den Befehl ertheilen, ganz und 
gar von diejer Lehre abzuftehen und diefe Meinung zu 
lehren oder zu vertheidigen oder zu bejprechen; wenn 
er fich aber dabei nicht beruhige, jo fei er einzuferfern. 

Diefe Annotation entipricht den wirklichen Vorgängen. 
Galilei ift von Bellarmin, dem großen Bekämpfer bes 
Proteftantismus, dem gelehrteften Theologen aus dem 
Jeſuitenorden, aus deſſen Hauptwerk „Disputationen über 
die Streitpunfte des chriftlichen Glaubens gegen die Ketzer 


22 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


biejes Zeitalter8‘ noch immer bie römijche Polemik jchöpft, 
verwarnt worden und hat ſich dabei beruhigt, ſodaß 
bie weitern Drohungen ansgejchloffen waren. Es mag 
dies auch in der liebenswürdigſten Weiſe gejchehen jein, 
da Bellarmin für feine Perjon und jeiner Gemüthsart 
nach nicht verfolgungsfüchtig war. Ließ er doch einft feinem 
Teinde Sarpi, dem venetianifchen Staatsmanne, ber die 
Republif mit Glück gegen die päpftlichen Anſprüche ver- 
theidigte, Warnungen vor Nachftellungen gegen fein Le— 
ben zufommen. Zudem war Bellarmin damals bereits 
74 Sahre alt und lebte, gebeugt von den Schwächen des 
Alters, in frommen Andachtsübungen nur ber Vorbe- 
reitung auf feinen Tod. Apoſtoliſche Schlichtheit und 
Uneigennügigfeit rühmte man ihm nad. So wird Ga- 
lilei, äußerlich betrachtet, ſehr glimpflich weggefommen fein. 
An welchem Tage der Carbinal den Befehl ausgeführt, 
wilfen wir nicht. Welche Bewandtniß e8 mit ber ben 
folgenden Tag angebenden zweiten Annotation hat, wer- 
den wir unten fehen. Galilei berubigte ſich, und damit 
ſchien die Sache erledigt, foweit feine Perjon in Frage 
fam. So hat Galilei fpäter die Vorgänge jelbit darge- 
jtellt, und fo werben fie zum Ueberfluß noch durch eine 
im Jahre 1870 von Gherarbi in ber florenzer „Rivista 
Europea” veröffentlichte8 Geheimprotofoll aus den De— 
creten des römiſchen Inquifitionsoffictums bejtätigt. Das 
Protokoll Tautet: „Am 3. März 1616. Vom durchlauch— 
tigften Herrn Cardinal Bellarmin wurde zuerft berichtet, 
daß der Mathematiker Galileo Galilei ermahnt worden 
fei, die bis dahin von ihm feitgehaltene Meinung, vie 
Sonne jet das Centrum der Himmelsfugel und unbeweg- 
lich, die Erde hingegen beweglich, aufzugeben, und daß er 
jich dabei beruhigt habe; dann wurde das Decret der 
Congregation des Inder mitgetheilt, inwiefern die Schrif- 


vor der Inguifition in Rom. 23 


ten des Nikolaus Kopernitus, des Diego de Stunica, des 
Paulus Antonius Foscarini verboten, rejp. juspenbirt 
werben; Se. Heiligkeit ordnete hierauf die Durch ven Ma- 
gister sacri Palatii zu veranftaltende Veröffentlichung 
biejes Verbots⸗ reſp. Suspenfationsurtheild an.‘ 

Aus dem zweiten Theile dieſes Protokolls erfieht man, 
daß die Gegner Galilei’8 ein jachliches Berdammungs- 
urtheil erreicht haben. Ehe wir dieſes, mit dem ber erfte 
Theil des Procefjes fchließt, mittheilen, müſſen wir noch 
die dazwiſchenſtehende Annotation, die im zweiten Pro- 
ceffe jo verhängnißvoll werben follte, hierherjegen. Sie 
folgt unmittelbar auf die Annotation vom 25. Yebruar: 


Vreitag, am 26. defjelben. 


In dem vom burchlauchtigften Herrn Cardinal ber 
wohnten Palaft, und zwar in deſſen Privatgemächern, 
hat derſelbe Herr Kardinal, nachdem vorgenannter Ga- 
lilei erichienen war, in Gegenwart des hochwürbigen Bru⸗ 
ders Michel Angelo Segnitius de Lauda vom Prediger- 
orden, des Generalcommifjars des heiligen Offictums, 
ben mehrgenannten Galilei ermahnt, daß er von dem 
Irrthum vorgedadhter Meinung ablafje, und gleich 
barauf und ohne Unterbrehung in meiner und 
ber Zeugen Gegenwart, im Beifein deſſelben vurchlauch- 
tigften Herrn Cardinals, hat der obengenannte Pater 
Commiſſar dem mehrgevachten, noch dort anweſenden 
und vorgeladenen Galilei im Namen Sr. Heiligkeit des 
Papſtes und der ganzen Congregation des heiligen Offi- 
ciums vorgejchrieben und befohlen, die obenerwähnte 
Meinung: daß die Sonne das Centrum der Welt und un- 
beweglich jei, die Erde hingegen fich bewege, ganz und gar 
aufzugeben und biejelbe fernerhin in feiner Weife feſt— 
zuhalten, noch zulehren, noch zu vertheidigen, 


24 Die Proceffe gegen Galileo Galilei 


in Wort oder Schrift, wibrigenfall® werde gegen ihn 
im heiligen Officium vorgegangen werben, bei welchem 
Befehle bejagter Galilei fich beruhigt und zu gehorchen 
veriprochen hat. Worüber verhandelt zu Rom wie oben, 
in Gegenwart berjelben Perjonen, Babino, Nores aus 
Nicofia im Königreich Chpern und Auguftin Mongredo 
aus einem Drte der Abtei Roſa im Bisthum Monte- 
Pulciano, Hausgenoffen des genannten burchlauchtigften 
Herrn Cardinals, als Zeugen. 

Diefe Annotation hätte nur einen Sinn, wenn Ga— 
(tlet fich geweigert hätte, auf die Ermahnung Bellarmin’s 
einzugehen. Nach dem Zeugniß des Cardinals hat er das 
aber nicht gethan; fo ift der Verdacht fpäterer Fälſchung 
nicht ausgeſchloſſen. Mit den thatfächlichen Vorgängen 
kann fie fchlechterdings nicht in Einklang gebracht werben. 
Sie wird uns indeß noch weiter bejchäftigen. 

Am 5. März erfchien das Decret, welches die Koper- 
nifanifche Lehre verdammte; ihm follte überall Geltung 
verfchafft werden. Ubique publicandum — heißt e8 in 
ber Ueberſchrift. Es befindet fich in einem gebrudten 
Eremplar bei den Acten; e8 wurde aljo an alle Inqui— 
ſitionsbehörden gefandt. Im feiner Hauptftelle heißt es: 
„Und weil es auch zur Kenntniß der genannten Congre- 
gation gekommen ift, daß jene falfche, der Heiligen Schrift 
geradezu wiberjprechende Pythagoräiſche Lehre von der 
Beweglichkeit der Erde und der Unbeweglichfeit der Sonne, 
welche Nikolaus Kopernifus in feinem Werfe «Bon den 
Umwälzungen ver Himmelsförper» und Diego von Stunica 
in der Erklärung zum Buche Hiob vorgetragen haben, 
ſchon fich verbreite und von vielen angenommen werde, 
wie man aus dem geprudten Briefe eines Karmeliterpaters 
jehen kann, welcher ven Titel führt: «Sendſchreiben des 
ehrwürdigen Bater-Magifter Paolo Antonio Foscarint über 


vor der Inguifition in Rom. 25 


die Meinung der Pothagoräer und des Kopernifus von 
der Bewegung der Erde und dem Stilljtande der Sonne 
und das Neupythagoräiſche Weltſyſtem, gedruckt zu Neapel 
von Lezzaro Scoriggio 1615», und worin bejagter Karıne- 
literpater zu zeigen jucht, daß die erwähnte Lehre von der 
Unbeweglichfeit ver Sonne im Centrum der Welt wahr 
jet und der Heiligen Schrift nicht widerfprechel — jo 
glaubt die Congregation, damit eine derartige Meinung 
nicht zum Schaden ver katholiſchen Wahrheit weiter um 
fich greife, das Buch tes Nikolaus Kopernifus «Von der 
Ummälzung der Himmelsförper» und jenes Diego von 
Stunica zum Buch Job, jolange juspendiren zu müſſen, 
bis fie corrigirt werden, die Schrift des Karmeliterpaters 
Paolo Antonio Foscarini aber gänzlich zu verbieten und 
zu verbammen, und ebenjo alle andern Bücher, die dafjelbe 
lehren, zu verbieten, wie fie denn durch Gegenmwärtiges 
alle verbietet und verdammt, beziehungsweije fuspendirt.‘ 

(Bon den Büchern des Kopernifus und des Diego 
heißt es im Original „suspendendos esse, donec corTi- 
gantur“. Diego hatte in Hiob 9, 7 eine Beltätigung 
für das Kopernifanifche Syſtem gefehen; die Stelle jchil- 
dert die unbedingte Allmacht Gottes, ſodaß Luther's Ueber- 
jegung das Rechte trifft. Er fpricht zur Sonne, jo gehet 
fie nicht auf, und verfiegelt die Sterne. Diego hatte das 
abjolut gefaßt, fie gehet nicht auf, d. h. fie jtehet im Gen- 
trum des Als still. Von Foscarint heißt e8: omnino pro- 
hibendum utque damnandum; dann weiter: aliusque 
omnes libros pariter idem docentes prohibendos. Prout 
praesenti Decreto omnes respective prohibet, damnat, 
utque suspendit.) 

Das war das Ende des eriten Proceffes. Man be- 
achte, daß das Kopernifanifche Hauptwerk nur — bis zu 
feiner Correctur — fuspendirt wurde. Mit diejer Eor- 


26 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


rectur wurde der Cardinal Gaëtani betraut, und das Res 
jultat derjelben war, daß das Kopernifanifche Syitem nad 
wie vor als Hypotheſe gelehrt werben dürfe. Als mathe 
matifche Unterftellung, deren Nützlichkeit evident, ſollte es 
ungehindert fortbeſtehen dürfen. Das iſt nach vier Jahren 
in einem Decret vom 15. Mai 1620 ausdrücklich ausge⸗ 
ſprochen. Damit find die Verpflichtungen, die Galilei 
perjönlich übernommen, klar bezeichnet. 

Bald nah Erlaß des DecretS vom 5. März hatte 
Galilei eine Audienz bei Paul V., und dieſer überjchüttete 
ihn mit Sreumdlichkeiten. Wiederum ſtiegen faljche Hoff- 
nungen in ihm auf. Er jchmeichelte fich mit dem Ge— 
banken, vielleicht eine Zurüctnahme des Decrets bewirken 
zu fönnen; er verfocht noch immer eifrig feine Lehre, jo- 
daß der toscaniſche Geſandte an feine Regierung berichtete: 
„Galilei befindet fih in der Stimmung, mit ven Mönchen 
an Halsjtarrigfeit zu wetteifern und gegen Perjönlichkeiten 
zu fämpfen, die man nicht angreifen kann, ohne fich zu 
verderben; auch wird man in Florenz demnächft die Kunde 
vernehmen, daß er toller Weife in irgendeinen Abgrund 
gejtürzt iſt.“ Da berief ihn der Großherzog in ſehr ener- 
giſcher Weife zurüd. Er ließ ihm fchreiben, er folle den 
ihlafenden Hund nicht weiter reizen und biffigen Hunden 
am liebſten aus dem Wege gehen. Es gingen Gerüchte 
um, die ihm nicht gefielen, und die Mönche wären all- 
. mächtig. 

Bon folhen Gerüchten mag auch Galilei manches zu 
Ohren gefommrn fein. Darum ließ er fich von Bellar- 
min vor feiner Abreife ein Zeugniß über den Ausgang 
des Procefjes ausftellen. Es war das jehr vorfichtig und 
für die fpätere Zeit wichtig. Freilich hat es ihm nichts 
genügt. Es befindet fich in einer doppelten Geftalt in 
den Acten, einmal in einer Abfchrift von Galilei, ſodann 


vor der Inguifition in Rom. 27 


in der Originalhandſchrift Bellarmin’s. Behufs feiner 
Bertheidigung im zweiten Proceffe hat e8 Galilei beide— 
mal ber Unterjuchung führenden Commiffion eingereicht. 
Es jteht bei Gebler ©. 87 und 89; die Abfchrift hat nur 
einige unmejentliche Abkürzungen angewendet. Das Zeug- 
niß lautet: 


Wir Robert Carbinal Bellarmin, da wir vernom- 
men, daß dem Herrn Galileo Galilei verleumderiſch 
angebichtet worden jei, in Unjere Hand Abſchwörung 
haben leiften zu müſſen und mit einer beilfamen Buße 
belegt worden zu fein, erklären, um Beftätigung bes 
wahren Sachverhalts erfucht, hiermit was folgt: vor- 
genannter Herr Galilei hat weber in Unfere noch in 
eines andern Hand, weder zu Rom, noch Unfers Wiffens 
an einem andern Drt, irgenveine feiner Meinungen 
oder Xehren abgejchworen, noch ift ihm irgendeine 
Buße auferlegt worden; e8 ift ihm nur die von unferm 
Allerheiligften Herrn abgegebene und von der heiligen 
Congregation des Inder zur Danachachtung befannt ge- 
machte Erffärung "mitgetheilt worden, laut welcher die 
dem Kopernifus zugejchriebene Lehre, daß die Erbe fich 
um die Sonne bewege, und die Sonne im Centrum 
der Welt jtehe, ohne von Oſt nach Weit zu rüden, ber 
Heiligen Schrift zuwider jei, und deshalb weder an ihr 
feftgehalten noch fie vertheidigt werben dürfe. Zur De- 
glaubigung deſſen haben Wir Gegenwärtiges eigenhän- 
dig gejchrieben und unterfchrieben am 26. Mai 1616, 


wie oben 
Robert Cardinal Bellarmin. 


Man beachte das non defendere ne tenuere. Alfo 
Galilei follte die Kopernifanifche Lehre nicht vertheidigen 


28 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


und nicht feithalten. Der buypothetifche Vortrag war und 
blieb erlaubt. Anfang Juni endlich fehrte Galilei nach 
Florenz zurüd, um mande Erfahrung und Enttäufchung 
reicher. Dies der erjte Act in dieſem Drama; ber zweite 
begann jechzehn Jahre jpäter. 


——— lo 


Dittern Gram im Herzen z0g fich Galilei ganz auf 
fein Studium zurüd. Auf feiner Villa in Florenz lebte 
er nur feinen wifjenjchaftlichen Beobachtungen und For- 
ichungen. Dieſe aber nur nach einem der Sache felbit 
fremden Mafitabe ver Welt übermitteln zu dürfen, war 
gerade für ihn, den durch und durch aufrichtigen Mann, 
nichts Leichtes. Solange Paul V. lebte, verhielt ſich Ga— 
lilei indeß ruhig. Unter feinem Nachfolger Gregor XV., 
der ganz in ber Reftauration des Katholicismus nach den 
eriten fFriegerifchen Erfolgen im Dreißigjährigen Kriege 
aufging, der in der Stiftung ver Congregatio de pro- 
paganda fide den aufßereuropäiihen Miffionen einen 
Brennpunkt von unberechenbarer Kraft jchuf und der wenig 
Sinn für gelehrte Streitigkeiten hatte, begann ſchon das 
Geplänfel. Doch offen trat Galilei erft unter Urban VIII. 
hervor, der, von der Machtitellung des Hauſes Habsburg 
nicht8 weniger als erbaut, den großen Weltereignifjen ab- 
gewendet, gelehrten Fragen zugänglicher war. Er war in 
erster Linie italienischer Fürft, dabei ein Mann von fehr 
großem Selbftbewußtjein. Es charakterifirt ihn, daß er, 
ald man ihm einen Einwurf aus den alten päpjtlichen 
Conftitutionen machte, erwiderte: „Der Ausspruch eine $ 
lebenden Papftes ift mehr werth als die Satungen von 
hundert verftorbenen.“ Das war ficher nicht im Sinne 
ber päpjtlichen Inftitution geſprochen. Was wunder, 


por der Inguifition in Rom. 29 


wenn von einem folhen Manne Galilei die Aufhebung 
des DecretS vom 5. März 1616 zu hoffen wagte, zumal 
er nicht ohne wiffenfchaftliche und künſtleriſche Interejfen 
war? Zunächſt ließ fich noch alles gut an; die fpätere 
ungünftige Wendung muß darauf zurüdgeführt werben, 
daß ſich der Papſt perfönlich von Galilei verlegt fühlte, 

Galilei Tieß fich, geftütt auf des Papftes Wohlwollen, 
gleich nach feinem Regierungsantritte auf einen Streit 
mit den Jeſuiten ein. Es handelte fich dabei nicht um 
die frühern Streitpunfte, fonvdern um die Entjtehung ver 
Kometen, welche Galilei für bloße atmoſphäriſche Erſchei— 
nungen, für regenbogenartige Materie hielt, während fein 
jefuitiicher Gegner, P. Graffi, Mathematifprofeffor am 
römischen Colleg, in den Kometen wirfliche Himmels- 
förper jah. Der Jeſuit warf Galilei vor, daß feine Lehr— 
meinung auf dem jchlimmen Fundamente des Koperni— 
fanifchen Syſtems, das jeder Gottesfürchtige verabjcheuen 
müffe, beruhe. Der Funke hatte gezündet. Galilei re- 
plicirte mit einer, im jtiliftifcher Hinficht vielbewunderten, 
inhaltlich aber leidenſchaftlichen Streitjchrift — er nannte 
darin P. Graffi einen Scorpione astronomico —, welche 
er Urban VII. widmete und der er den Titel gab: „I 
Saggiatore” — Goldwage. Sie erjchten im Jahre 1623. 
Gleichſam auf einer Goldwage wollte er die Anſchauungen 
feiner Gegner wiegen und danach beurtheilen. Er weit 
auf der Goldwage nach, daß die Kopernifanijche Lehre, 
welche er als frommer Katholif für gänzlich unrichtig er- 
achtet und. vollftändig leugnet, in worzüglicher Ueberein- 
ftimmung mit ben telejfopijchen Entdeckungen jtehe, die 
im Gegentheile mit den andern Weltiyftemen durchaus 
nicht in Einklang zu bringen feiern. Man müſſe aljo, 
da die Kopernifaniiche Theorie verdammt, die Ptolemätjche 
angefichts der neuen Entdeckungen unhaltbar fei, nach einer 


30 Die Procefje gegen Galileo Galile 


andern juchen. Der Papjt hatte die Widmung des Werkes 
angenommen. Dergeblich bemübhten fich die Jeſuiten, ein 
Derbot der Goldwage burchzufegen. Urban urtheilte von 
Galilei: „fein Ruhm glänzt am Himmel, fein Ruf erhellt 
bie Erde, mit dem Verdienſt der Wiſſenſchaft verbindet 
er den Eifer wahrhafter Frömmigkeit“. Mehr kann man 
bocb nicht verlangen, und doch hat diefer ſelbe Urban zehn 
Jahre jpäter Galilei verdammt und aufs graufamjte ver- 
folgt. 

As Galilei von diefen Gunftbezeigungen Urban’s 
hörte, eilte er wieder hoffnungsfreudig nad Rom, um 
auch für jeine Sache etwas zu erreichen, bie ihm jo an 
das Herz gewachſen war. Doc bei aller Auszeichnung, 
die ihm perjönlich widerfuhr, erlangte er nichts. Der 
Papft war ein grundfätlicher Gegner des Kopernikaniſchen 
Syſtems, und in den öftern und längern Aubienzen, bie 
er Galilei gewährte, fuchte er diefen von feiner Meinung 
abzubringen. Und merkwürdig, gerade dieſe Auszeich- 
nungen follten Galilei verderblich werden. Der Papit 
pflegte ihm folgendes Argument entgegenzuhalten:: „Gott 
iſt allmächtig und deshalb jeglich Ding ihm möglich; man 
jolf daher nicht behaupten, er habe etwas auf eine be- 
jtimmte Art eingerichtet, weil e8 nur fo und nicht anders 
zu den anberweiten Welteinrichtungen pafjfe; man barf 
Gott feine Nothwendigkeit auferlegen wollen. Gott kann 
jeine Zwede auf die verfchiedenjten Arten erreichen, und 
ſomit tft e8 ein Zweifel an der Allmacht, aljo Ketzerei, 
wenn man behaupten will, nur in einer bejtimmten 
Weiſe könne dies oder jenes erreicht werben, weil es jo 
gerade zu den mathematifchen Berechnungen paßt.“ Bon 
dieſem Argumente hat Galilei in feinem nächſten Werke 
Gebrauch gemacht; hier festen feine Feinde ein, um ihn 
zu ftürzen. 


vor ber Inquiſition in Rom. 31 


An diefem Werke: „Dialog über die beiden Haupt- 
weltſyſteme, das Ptolemäifche und Kopernifanifche‘‘, jpäter 
oft unter dem Titel „Systema cosmicum“ aufgelegt, hat 
Galilei fünf Jahre feines Lebens gearbeitet (1624—29). 
Gegen das Ende des Jahres 1629 war es im mejent- 
lichen fertig. Der Drud bat fih mehr denn zwei Jahre 
verzögert. Er hat das Manufeript felbjt nach Rom ges 
bracht, um die Druderlaubniß zu empfangen. Sie wurde 
ihm vom Magister sacri Palatii, Riccardi, ertheilt mit 
der Maßgabe, eine Einleitung zu jehreiben, welche als 
Zwed bed Buches die Vertheidigung der Ptotemäifchen 
Lehre angab, und einen der Ptolemäifchen Lehre günftigen 
Schluß hinzuzufügen. Galilei that das, und nach man- 
cherlei Verhandlungen und Abänderungen wurde das Im— 
primatur gegeben. &8 ift nicht unwahrfcheinlich, daß dieſen 
Verhandlungen und Abänderungen der PBapft jelbft nicht 
fern ftand, denn Riccardi hat fich jpäter auf den päpft- 
lichen Privatjecretär berufen, viefer auf den Papft, und 
beide Männer haben ihre Stellen eingebüßt. Genug, das 
Imprimatur war ertheilt; formell war auch die Hhpo- 
theje gewahrt. Der Drud jollte in Rom ftattfinden. Da 
brach bier die Pet aus. Galilei erbat und erhielt auch 
vom Inguifitor in Florenz das Imprimatur. Diefer foll 
es mit den Worten ertheilt haben: „man müffe eigentlich 
den Autor um Veröffentlichung bitten, ftatt ihm Hinder— 
niffe in den Weg zu legen“. So erjchien das Buch mit 
doppeltem Imprimatur im Jahre 1632. 

Der Inhalt ift furz der. Drei Männer beiprechen 
fih über die Haltbarkeit der beiden Weltanfchauungen. 
Zwei tragen die Namen von verftorbenen Freunden Ga- 
lilei's; der eine, Salviati, vertheidigt die Kopernikaniſche 
Lehre, der andere, Sagredo, neigt fich mehr und mehr 
der Kopernikaniſchen Weltanjchauung zu; der vritte aber, der 


32 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


den Namen Simplicius führt und bei dem Galilei nach 
dem ausbrüdlichen Zeugnifß des Werfes an den 
befannten Commentator des Ariftotele8 gedacht hat, ver- 
theidigt das Ptolemäiſche Syſtem und zieht hierbei be- 
jtändig den kürzern. Das Reſultat felbjt bleibt unent- 
ſchieden; Feiner erklärt fich für befiegt. Die drei Männer 
verabreben vielmehr eine neue Zujammenfunft zu weiterer 
Beiprechung. 

Zur Drientirung jegen wir bie Vorrede und ben 
Schluß des Dialogs hierher. Die Vorrede lautet: 

„Sn frühern Jahren wurde in Rom ein heilfames 
Edict befannt gemacht, welches, um gefährliche Nergerniffe 
in der Gegenwart zu vermeiden, der Pythagoräiſchen Mei— 
nung von der Beweglichkeit der Erde fchidliches Still- 
jchweigen auferlegte. Es mangelte nicht an verwegenen 
Behauptungen, dies Decret ſei nicht das Product ver- 
nünftiger Prüfung, fondern fchlecht unterrichteter Leiden— 
ihaften, und es erhoben ſich Protefte, daß in aftrono- 
miſchen Beobachtungen total unwiſſende Rathgeber nicht 
mit plöglichen Verboten ven jpeculativen Geijtern die 
Flügel bejchneiden dürften. Mein Eifer erlaubt mir nicht, 
zu jolchen verwegenen Klagen jtillzufchweigen. Boll- 
fommen unterrichtet von dieſer äußerſt Eugen Beftim- 
mung, entjchied ich mich dafür, als wahrhaftiger, auf- 
richtiger Zeuge öffentlich auf dem Theater der Welt zu 
erjcheinen. Ich war damals in Rom gegenwärtig, ich 
fand nicht allein Gehör, fondern auch Beifall bei den 
hervorragendjten Prälaten diejes Hofes, und nicht ohne 
vorhergehende theilweife Erfundigung bei mir erfolgte 
jpäter die Publication dieſes Decrets. Alles dieſes bewog 
mi, in meiner gegenwärtigen Arbeit den fremden Na— 
tionen zu zeigen, daß man von dieſem Gegenſtande in 
Italien, und bejonvers in Rom, fo viel weiß, wie bie 


vor ber Inquifition in Rom. 33 


Gelehrjamfeit jenjeit der :Alpen ſich wol niemals einge: 
bildet hat. Und indem ich alle das Kopernifanifche Syſtem 
betreffenden Speculationen zufammenfafje, bemerfe ich da— 
bei, daß die römische Cenſur vorher von allem Notiz ge— 
nommen hat, und daß von diefem Himmelsftriche nicht 
allein die Dogmen für das Heil der Seelen ausgehen, 
fondern ebenjo die finnreichen Erfindungen für das Ver— 
grrügen ber Geiſter.“ 

Das paßt nun freilich zu dem Inhalt der ‚Dialoge‘ 
wie die Fauft auf das Auge. Vielleicht wird man auch 
den Schalf nicht ganz abweifen fünnen. Aehnlich ver- 
hält e8 fih mit dem Schluſſe. Er lautet: 

„Salviatt. Jetzt, da e8 Zeit tft, unfere Unterredungen 
zu enbigen, bleibt mir nur noch übrig, euch zu bitten, 
daß, wenn jpäter beim ruhigen Nachdenken über die von 
mir angeregten Fragen ihr Schwierigfeiten oder nicht 
gut gelöften Zweifeln begegnen folltet, ihr diejen Mangel 
entjchuldigen möget, jei’8 wegen ber Neuheit des Gedan— 
fens, der Schwäche meines Verſtandes, der Größe des 
Gegenftandes und endlich deswegen, weil ich von andern 
weder verlange noch verlangt habe, daß fie, was ich felbft 
nicht thue, einer Phantafie zuftimmen, bie man noch befjer 
eine eitle Chimäre oder ein glänzendes Baradoron nennen 
fönnte. Und obgleich Ihr, Signor Sagredo, Euch mehrere- 
mal mit großem Applaus von einigen meiner Gedanken 
befriedigt gezeigt habt, jo jchreibe ich dies doch theils mehr 
der Neuheit ald der Wahrheit diefer Gedanken, vorzüglich 
aber Euerer Höflichkeit zu, welche mir mit Euerem Beifall 
das Vergnügen hat verjchaffen wollen, das wir natür- 
ficherweife empfinden, wenn unſere eigenen Ideen Rob und 
Zuftimmung finden. Und wie Ihr durch Euere Liebens- 
würdigfeit mich verpflichtet habt, jo hat mir die Offenheit 
des Signor Simplicio gefallen. Auch die Standhaftigfeit, 

XXIV. 3 


34 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


mit welcher verjelbe jo Fräftig und unerjchroden die Lehre 
jeines Meifters vertheibigt, hat ihm meine volle Zuneigung 
erworben. Und wie ih Euch, Signor Sagredo, Dan 
jage für Euere Freundlichkeit, jo bitte ich Signor Sim- 
plicio um Verzeihung, wenn ich zuweilen durch übergrofßen 
Eifer und entſchiedene Sprache ihn gereizt haben jolite; 
er fei überzeugt, daß es nicht aus böfer Abficht geſchehen 
ist, jondern nur, um ihm Gelegenheit zu geben, erhabene 
Gedanken vorzutragen, durch welche ich meine Kenntniffe 
bereichern könnte. 

„Simplicio. Es bedarf diefer Entfchuldigung nicht, fie 
iſt überflüffig, namentlich mir gegenüber, da ich, gemöhnt 
an gejellige und öffentliche Disputationen, hundertmal 
gehört habe, daß die Disputanten nicht allein fich erhitten 
und fich gegenfeitig ärgerten, fondern auch in wirkliche In- 
jurien ausbrachen und zuweilen nahe daran waren, zu 
Thätlichkeiten überzugehen. Was nun die ftattgehabten 
Unterhaltungen betrifft, namentlich die lette, über vie 
Urfache der Ebbe und Flut des Meeres, fo habe ich fie 
wirklich nicht ganz aufgefaßt, aber nach ver, wenn auch 
ihwachen Idee, welche ich mir davon gemacht habe, be- 
fenne ich, daß fie mir viel finnreicher erſcheint als fo 
manche andere, die ich über dieſen Gegenftand gehört 
habe. Deshalb halte ich fie aber noch nicht für wahr 
oder entſcheidend; auch halte ich mir immer eine höchſt 
gebdiegene Doctrin, welche ich einjt von einer jehr ge- 
lehrten und hochgeſtellten Perfönlichfeit*) gelernt 
habe, und bei der man fich beruhigen muß, vor die Augen 
des Geiftes; und ich weiß, wenn ihr beide gefragt werbet: 
ob Gott in feiner unendlichen Macht und Weisheit Dem 
Elemente des Wafjers die abwechjelnde Bewegung, welche 


*) Eben Papſt Urban VIIL 


vor der Inguifition in Rom. 35 


wir an demfelben wahrnehmen, auf andere Weije ver- 
leihen fönne als dadurch, daß er das Gefäß bewegt, in 
welchem das Wafjer enthalten ift, jo jage ich, werdet ihr 
antworten, daß er dies gefonnt umd zu machen gewußt 
hätte in vielen, unjerm Verſtande ganz undenklichen Weifen; 
woraus ich unmittelbar fchließe, daß, dies angenommen, 
ed übermäßige Verwegenheit fein würde, wenn einer jeiner 
eigenen phantaftijchen Idee zu Liebe die göttliche Weisheit 
und Macht beichränfen und begrenzen wollte. 

„Salviati. Wunderbar — wahrhaft englifche Doctrin, 
mit welcher jene göttliche vollfommen übereinstimmt, welche, 
indem fie erlaubt, über die Conjtitution der Welt zu dis— 
putiren, binzufügt (wielleicht, vamit wir im Gebrauche ver 
menschlichen Geiftesfräfte nicht ermüden noch ftumpf wer- 
den), wir ſeien nicht da, um das Werf feiner Hände zu 
ergründen. Es dient alfo diefer von Gott erlaubte oder 
befohlene Gebrauch dazu, feine Größe zu erfennen und 
fie deſto mehr zu bewundern, je weniger wir fähig find, 
die tiefen Abgründe feiner unendlichen Weisheit zu durch— 
forjchen. | 

„Sagredo. Und dies jet der letzte Schluß unferer 
piertägigen Unterhaltungen u. ſ. w.“ (Folgt noch der VBor- 
Ichlag einer neuen Zufammenkunft.) 

ALS feinfinnig dialektiſcher Geift offenbart fich Galilei 
in diefem Schluß. Aber ohne Zweifel, ver Bapft konnte 
fich verlegt fühlen. Mag Galilei in gutem Glauben ge- 
handelt haben, politifch Flug war er nicht verfahren, troß 
aller fcheinbaren Correctheit. Die Jeſuiten hatten mit 
dem ihnen eigenen Scharffinn jofort den jchwachen Bunt 
herausgemittert; fie faßten den Papſt bei feiner verlegten 
Eitelfeit, fie juchten ihn zu überzeugen, Galilet habe ihn 
lächerlich machen, habe ihn in der Rolle des Simplicius 
verjpotten wollen, diefer Simplicius ftehe im ganzen Dialog 

3* 


36 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


als Einfaltspinfel da, der Name jet abfichtlich gewählt, 
ihm, dem Papit, fei die Rolle eines einfältigen Menſchen 
zugetheilt. Die Obrenbläferei verfing; mit hohen Herren 
ift nicht gut Kirfchen effen. Der Papit war auf Galilei 
im höchſten Grade aufgebracht; nur dies erflärt ung feine 
Hartherzigfeit gegen den Gelehrten. Man hatte ihm fer- 
ner vorgejpiegelt, das Imprimatur fei erfchlichen; wenig- 
ſtens figurirt dieſe angebliche Erjchleihung unter den 
officiellen Anklagepunften gegen Galilei. Urban beitellte 
zunächit eine eigene Commiffion zur Vorunterfuchung; fie 
jollte wol einen Anflagegrund ausfindig machen. Nach 
vier Wochen war fie mit ihrem Bericht fertig. Dieſer 
Bericht ift das erjte Actenſtück im zweiten Procefje; er 
umfaßt fünf Drudjeiten. Vorſorglich waren alle Freunde 
Galilei's von diefer Commiffion ferngehalten. Ihr Be— 
richt ftellt nun folgende Belaftungsgründe gegen Galilei 
zufammen. Der Berfaffer des „Dialogs“ habe: 


1) Ohne Befehl dazu erhalten und ohne vorherige 
Mittheilung davon gemacht zu haben, das „Imprimatur“ 
auch des römijchen Cenſors neben das des florentinijchen 
auf den Zitel gejekt; 

2) im Werfe jelbjt die Ptolemäifche Lehre in ven 
Mund eines Schwachfopfes gelegt; fie von dem Zuhörer 
der beiden Disputanten, der ihre Vorzüge arg ignorire 
oder ganz überjehe, nur ſchwach billigen laſſen; 


3) oft fich Ueberjchreitungen der Grenze der Hypo— 
thefe erlaubt, theils indem er in bejtimmter Weife bie 
Bewegung der Erde, und den Stillitand der Sonne bes 
hauptet, theil® indem er die Beweije, auf welche Diefe 
Anficht ſich ftüßt, als überzeugend und nothwendig be— 
zeichnet oder die entgegenjtehende Meinung al® gänzlich 
unbaltbar erjcheinen läßt; 


vor der Inguifition in Rom. 37 


4) den Gegenftand als unentſchieden behandelt und 
fih jo angejtellt wie jemand, der fragt, ob er ver 
Veberzeugung ift, daß man um die Antwort verlegen 
ſein werde; 

5) jene Autoren, welche der von ihm vertretenen 
Meinung entgegen find, verachtet, obgleich es gerade 
diejenigen find, deren fich die heilige Kirche am meiften 
bevient; 

6) verberblicherweije behauptet, daß auch für ven 
göttlichen Geift die mathematischen Wahrheiten gewiffer- 
maßen gejegmäßige Wahrheiten jeien wie für den menjch- 
lichen; 

7) für feine Meinung auch den Umftand geltend ge- 
macht, daß fich fortwährend Anhänger der alten Ptole- 
mätjchen Lehre der Kopernifanifchen Theorie zumendeten, 
nicht aber umgefehrt; 

8) die Erjeheinungen der Ebbe und Flut des Meeres 
fälſchlich auf die Stabilität der Sonne und die Be— 
wegung ber Erde, was beides fich nicht jo verhalte, 
zurüdgeführt. 

Eine geſchickte Zufammenftellung von Gründen hatte 
die Commiffion hierin allerdings zu Wege gebracht. Sie 
hatte aber jelbjt eine Ahnung davon, daß diefe acht 
Gründe nicht für ein ordentliches Gerichtsverfahren aus— 
reichen, denn fie jagt in dem Berichte, alles das jeien 
Dinge, welche berichtigt werden fünnten, wenn man fich 
von dem Buche, dem man dieſe Gunſt erweifen wolle, 
Nuten verſpräche. Alfo nach eigenem Geſtändniß der 
Commijfion könnten diefe Gründe nur zur Verwerfung 
des Buches führen, fall® fie der Autor nicht ändern 
wolle. Doch man war um den Hauptgrund nicht ver- 
legen; man hatte ihn nur bis zulett aufgefpart. Der 
letzte Abjchnitt des Berichtes lautet: 


38 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


„Der Autor hat den im Jahre 1616 erhaltenen Be— 
fehl des Heiligen Offictums: daß er die oben bejagte 
Meinung: die Sonne fei das Centrum der Welt und un- 
beweglih, die Erde hingegen bewege fih, ganz und gar 
aufgegeben habe und an berjelben in feiner Weije 
weder fefthalten, noch fie durch Wort oder Schrift lehren 
oder vertheidigen dürfe, widrigenfall® gegen ihn im bei- 
ligen Offictum verfahren werde, bei welchem Befehle der— 
jelbe Galilei, Gehorſam verfprechend, fich berubigte, beim 
Nachſuchen der Druderlaubniß betrügerijcherweije ver- 
ſchwiegen.“ 

Hier haben wir alſo die Berufung auf die Annotation 
von Freitag, den 26. Februar 1616. Auf ſie hat ſich 
die Anklage und ſpäter die — Verurtheilung gegründet. 

Es iſt wol unzweifelhaft, daß nicht Galilei die Be— 
hörde, ſondern dieſe ihn auf einen erhaltenen Befehl auf— 
merkſam zu machen hatte. Wäre das omnino relinquere, 
das quovis modo docere aut defendere verbo aut 
seriptis actenmäßig vorhanden gemwejen, jo hätte man 
ſchon die „Goldwage“ nicht geftatten jollen, jo hätte man 
ihm das Imprimatur omnino verweigern müſſen, fo 
hätte man einen Druck quovis modo nicht geftatten 
bürfen. 

Wie verhält es fich nun mit diefer Annotation? Wir 
haben ſchon oben gejagt, daß fie im Widerjpruche mit 
ber vom vorhergehenden Tage, mit dem Geheimprotofolf 
vom 3. März 1616 und mit dem Zeugniffe Bellarmin’s 
fteht. Im Jahre 1621 war dieſer geftorben, ſodaß er ein 
weiteres Zeugniß nicht ablegen fonnte. Wir werden weiter 
jehen, daß Galilei jelbjt nur von Befehlen weiß, welche 
Bellarmin ihm ertheilte, dagegen nichts von’ einer Ver— 
wendung durch den Pater Commiffarius Segnitius de 
Lauda. Mit unerjchütterlicher Conjequenz ftellt er es in 


vor ber Inquiſition in Rom. 39 


Abrede, irgendeinen andern Befehl erhalten zu haben als 
den des Carbinald. Sodann find in dem Protokolle auf- 
fallend die Worte successive ac in continenti „gleich 
darauf und ohne Unterbrechung‘. Was joll das? Erft 
mußte doch eine Unterbrechung, ein Widerſtand von feiten 
Galilei's ftattgefunden haben, ehe das jtrengere Verbot 
erlajjen werden fonnte. So liegt der Gedanke an eine 
jpätere Fälſchung nahe. 

Wider eine folche macht aber Gebler Folgendes geltend. 
Die Aufichreibung vom 26. Februar beginnt auf derjelben 
Seite, auf welcher fich die vom 25. befindet, und beide 
zeigen genau dieſelbe Schrift und Tinte. Eine gleichzeitige 
nachträgliche Aufzeichnung ift dadurch ausgejchlofjen, daß 
bieje Seiten zweite Blätter zu ſchon vorhandenen Docu- 
menten find. Sodann trägt das Papier ſämmtlicher 
in Rom 1615—16 beim heiligen Officium niedergelegten 
Scriftftüde das gleiche Wafferzeichen, nämlich eine von 
einem Kreife umfchloffene Taube, während fich bafjelbe 
auf feinem Papiere aus jpäterer Zeit wiederfindet. Dieſes 
Zeichen erfcheint aber auf den Folios, worauf die Anno- 
tationen vom 25. und 26. Februar niedergeſchrieben find, 
ganz deutlich fichtbar. Endlich rühren noch andere Anno— 
tationen aus den Acten von 1616 aus berjelben Hand 
her, während dieſe Schrift in feinem Schriftftüde des 
jpätern Procefjes zu finden ift, ſodaß die Annotationen auch 
nicht nachträglich auf zwei leere Seiten hinzugefügt fein 
fönnen. h 

Man wird fich dem Gewicht diefer Gründe nicht ver— 
schließen können. Andererſeits waren die Jeſuiten nicht 
fo plumpe Fälfcher, daß fie nicht für daſſelbe Papier, die— 
ſelbe Tinte, dieſelbe Handſchrift gejorgt hätten. Beltimmt 
von der Hand weijen wird man bie Fälſchung nicht kön— 
nen. Wohlwill und Kantor nehmen fie an. 


40 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


Der altkatholiiche Theologe Reuſch hat einen Mittel- 
weg eingejchlagen. Er hält das fragliche Actenftüd für 
ben Entwurf eines Protokolls, ven der Notar für ven 
Hall, daß Galilei von dem Commiſſar hätte verwarnt 
werben müfjen, im voraus fertig gemacht habe, ber aber 
nicht zur Verwendung fam, weil Galilei fi) ver Mah— 
nung bes Garbinal® Bellarmin fügte und darum jene 
Verwarnung nicht ftattfand. Diejer Entwurf des Pro- 
tofolls, welcher hätte vernichtet werben jollen, wäre 1632 
unter den Acten der Inquifition gefunden worden und 
bona over mala fide als ein wirkliches Protofoll produ— 
cirt worden. In diefem Sinne bat fich Reuſch in feinem 
„zheologijchen Literaturblatt“, Jahrgang 1873, ſowie in 
einem in Sybel's „Hiftorijcher Zeitjchrift‘‘, Jahrgang 1875, 
veröffentlichten Vortrage über den Proceß gegen Galilei 
ausgeiprochen. 

Damit ift aber das successive ac in continenti nicht 
zu reimen. Es bleibt der Verdacht ver Fälſchung be- 
ftehen. Gebler hat ein Uebriges gethan und bat fich an 
den Cardinal Simeont mit der Bitte gewandt, nachforjchen 
zu lafjen, ob etwa im Geheimarchiv ein Originaldocument 
über den Vorgang vom 26. Februar 1616 vorhanden fei. 
Unter dem 20. Juli 1877 hat ihm der Carbinal geant- 
wortet, daß ein jolches ganz und gar nicht exiſtire. Das 
aber ift gewiß, daß dieſe unterfchriftliche Annotation in 
feiner Weije als ein rechtlich gültiges Document verwendet 
werden durfte. Galilei Teugnete auf das bejtimmtejte, 
etwas davon zu willen; die Ausprüde erjcheinen ihm 
gänzlich neu (novissime), nie gehört (inaudite); man 
hätte ihm durch Nachweis feiner Unterjchrift vom Gegen- 
theil überführen fünnen. Man hat es nicht gethan. Ge— 
rade der wefentlichite Theil der Anklage, der auf Unge- 
horjam wider einen geiftlichen Befehl, muß als nichtig 


vor ber Inguifition in Rom. 41 


erjheinen; er ift auf Grund eines juriſtiſch durchaus 
werthlojen Papiers erhoben worden; ebenfo ijt die Ver- 
urtheilung allein auf Grund vefjelben rechtlich völlig nich- 
tigen Schriftſtückes erfolgt. 

Am 22. September 1632 erhielt Galilei ven Befehl, 
nah Rom zu fommen und fich hier vor der Inquifition 
zu rechtfertigen. Er erjchraf und bat den Großherzog, 
fih für ihn zu verwenden. Galilei verfaßte das Schrei- 
ben jelbit; e8 hatte feinen Erfolg, Nun wandte er fich 
an einen Neffen Urban’s, den Cardinal Barberini; er 
bat, man möchte ihn wegen feines Alters (er ftand im 
69. Lebensjahre) diefe peinliche Reife erlaffen, er gab alle 
feine Anfichten preis, er erbot fich, alle feine Manuferipte 
zu verbrennen, er betheuerte jeine Ergebenheit gegen bie 
Kirche, er war bereit, fich vor dem Inquifitor zu Florenz 
zu rechtfertigen. Auch das war vergeblih. Er follte nach 
Rom. Die rajende See wollte ihr Opfer haben. Er 
hätte fich flüchten können. Die Republik Venedig hätte 
ihn gewiß mit offenen Armen aufgenommen. Aber hat 
nicht dieſelbe Republif Giordano Bruno der römijchen In- " 
quifition ausgeliefert? Galilei war deß Zeuge gewejen. 
Das Schidjal dieſes Mannes mag ihm angftvoll vor der 
Seele gejtanden haben. In die norbifchen proteftantifchen 
Staaten zu fliehen, dazu war er zu fehr Italiener, zu 
jehr auch gläubiger Katholif, und dazu war er auch zu 
frank. Er litt an der Gicht; er fchidte ein ärztliches 
Zeugniß nah Rom und bat, man möchte ihm die Reife, 
wenigftens im Winter, erlaffen. Die Antwort war ein 
Befehl des Papftes an den Inquifitor von Florenz, Ga— 
lilei unterfuchen zu laffen und ihn eventuell gefangen 
in Eijen nah Rom zu ſchicken. Die Annotation hier— 
über in den Acten trägt dad Datum vom 30. December 
1632. Sie lautet in der Hauptftelle aljo: „Sit er in 


42 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


dem Zuftande, reifen zu können, foll er ihn gefangen und 
in Eifen gefchlofjen überführen; muß aber aus Rückſicht 
auf die Geſundheit und aus Gefahr für das Leben bie 
Ueberführung aufgefchoben werben, joll er ihn fogleich 
nach der Wiederherftellung der Gejundheit und nach Auf- 
hören ver Gefahr überführen.“ Dieſes Edict ift jedenfalls 
bezeichnend für die Stimmung des Papftes. Ob er darum 
Galilei jpäter vor der Tortur gefchügt haben wird, wie 
e8 M. Cantor ausſpricht, muß mindeftens als fraglich 
ericheinen. Wenn ein Mann auf flehentliche Bitten jo 
antworten kann, wird er jehwerlich jeinen jchütenden Arm 
über einen mishandelten Gegner gebreitet haben. 

Am 20. Januar 1633 trat Galilei feine Reife nach 
Rom an; am 13. Februar traf er in der Ewigen Stadt 
ein. Er hatte zunächit fein Quartier beim toscanifchen 
Geſandten, Niccolint. Diefer rieth ihm, alles zu unter- 
ichreiben, was man nur immer von ihm verlangen würde. 
Galilei war entjchlofjen, dieſen guten Rath zu befolgen. 
Einen andern Rath des päpftlichen Neffen, fich nicht 
öffentlich fehen zu laffen, hatte er jchon befolgt. Zwei 
Monate ließ man ihn in Ruhe. Erſt am 12. April 
hatte er jein erſtes Verhör, nachdem er in ver erften 
Aprilwoche feine Wohnung nach dem Inquifitionspalaft 
hatte verlegen müſſen. Er wurde bier milde behandelt, 
durfte fogar in den weiten Räumen des Officiums pro- 
meniren. Für feinen Tiſch forgte nach wie vor der Ge- 
janbte. 

Galilei hatte ein viermaliges Verhör zu bejtehen. 
Das entjpricht genau der Inftruction der Inquifitions- 
behörde. M. Cantor theilt in feiner Abhandlung über 
Galilei (‚„Zeitfchrift für Mathematif und Phyſik“, Leipzig 
1864, ©. 187) mit, daß er in einem alten Bande ber 
heivelberger Univerfitätsbibliothef folgende Procefordnung 


vor der Inquifition in Rom. 43 


porgejchrieben gefunden habe. Sie ftammt von Pater 
Ludwig de Ameno, etwa 60 Jahre nach dem Proceß 
gegen Galilei: Man foll damit anfangen, daß man den 
Angeichuldigten vorlade, aber nicht etwa als einen An- 
gejchufpigten, fondern in allgemeinen Ausprüden, wie: jein 
Erjcheinen jei in einem gewiſſen NRechtshandel an dieſem 
oder jenem Tage erforberlich, er möge fich daher einfinden. 
Sat der Angeichuldigte fich gejtellt, jo wird ihm der Eid 
aufgetragen, daß er die Wahrheit fagen wolle, und ihm 
dann bie Frage vorgelegt, ob er nicht wiſſe, warum er 
vorgeladen jei. Ueberhaupt foll ver Richter dem Verlangen 
des Angeklagten, der etwa bie Klagefchrift zu jehen wünſcht, 
nicht Folge leiften, jondern darauf dringen, daß er ohne 
Kenntniß der Punkte, auf die e8 anfommt, antworte, denn, 
heißt e8, ‚wenn der Delinquent jchon zum voraus weiß, 
was man wider ihn geklagt oder ausgejagt hat, item 
wie die Beweife lauten, jo kann er ja gar leicht alle Aus- 
fagen und Anzeigen durch feine Antworten vereiteln”. In 
Bezug auf die einzelnen Verhöre oder Conſtitute, wie ber 
Kunſtausdruck lautet, ſchreibt Ludwig de Ameno vor, „im 
erften jolle man nicht über die allgemeinjten Fragen 
hinausgehen. Im zweiten Conftitute fommt der Richter 
auf die Hauptumftände des Verbrechens; im dritten erſt 
macht er dem Angeichuldigten beftimmte Vorhalte und 
droht ihm mit der Folter, wenn er nicht geftehe. Darauf 
findet die peinliche Frage*) in der Folterfammer jtatt. 
Umgeben von den Werkzeugen barbarijcher Erfindungsfraft 
wird der Angeklagte entfleivet und mit zufammengejchlof- 
jenen Händen vernimmt er noch einmal bie Frage, was 
er begangen. Das Formular diejes vierten Verhörs ent- 
hält die Worte: «weil du noch fo hartnädig in Verleug- 


*) Das fog. examen rigorosum. 


44 Die Proceffe gegen Galileo Galilei 


nung der Wahrheit bleibft, jo ermahne ich dich nochmals, 
lege die Hartnädigfeit ab und befenne die Wahrheit, jonft 
wird man dich mit Torturen dazu zwingen.»*) Wiederum 
fagte man ihm: «Miewol du das Verbrechen wegleugneit, 
jo verlange ich von dir die Urfache zu wiſſen wegen bes 
Verbrechens, wegen welches du proceffirt bift.» Gibt auch 
jet der Angeklagte noch nicht die gewünfchten Antworten, 
jo jchreitet man wirklich zur Folter. Geißelung, wobei 
der Richter noch bejonders bejtimmt, ob fie mit einfachen 
Stridlein, oder mit eifernen Kettlein, oder mit Spik- 
gärten, oder Riemen vollzogen werden ſoll, Zuſammen— 
prejjen der Fußfnöchel, in die Höhe ziehen an den Händen, 
welches aber nicht über eine Stunde anhalten foll, Ver- 
jengen der mit Fett eingeriebenen Füße an einem Koblen- 
feuer, das find die freundlichen Mittel, mit denen man 
den Angeklagten zum Gejtehen zu bringen fjucht. Und 
wagt das unglückliche Opfer fpäter, feine vom Schmerz 
erpreßte Ausjage zu widerrufen, dann wird ganz einfach 
bie zeitweije unterbrochene Folter fortgejekt. “ 

Der Proceß gegen Galilei ift ein getrenes Conterfei 
dieſer Vorjchriften, nur daß die allerlegten Stufen an 
ihm nicht vollzogen zu werden brauchten. 

Das erjte Verhör ging am 12. April 1633 vor fic. 
Es umfaßt bei Gebler acht Druckſeiten. Der Inquifitor, 
ein perjönlicher Feind Galilei’8, den er durch Nichtachtung 
jeiner architeftonifchen Kenntniffe arg gefränft hatte, Vin- 
cenzo Mezzolani, jprach lateiniſch, während Galilei italie- 
nich antwortete. Das Protokoll ift von Galilet unter- 
ſchrieben. Zunächſt alfo ver Schwur, genau die Wahr: 
heit zu jagen. Dann die Frage, ob er den Grund feiner 
Vorladung wiffe oder vermuthe. Galilei erwiderte, er 


*) Das jog. examen de intentione. 


vor der Inguifition in Rom. 45 


werbe vorgelaben fein, um über fein letterjchtenenes Buch 
Nechenfchaft zu geben. Den vorgelegten „Dialog“ aner- 
fannte er als fein Werl. Dann ging der Inquifitor auf 
ben Proceß von 1616 ein; ob und aus welchem Anlaffe 
Galilei damals in Rom gewefen fei. Diefer erwiderte, er 
fei aus eigenem Antriebe nach Rom gegangen, weil er 
gehört, man hege Bedenken gegen die Kopernifaniiche 
Lehre, und weil er habe wiffen wollen, was fich gemäß 
dem heiligen fatholifchen Glauben von diefer Materie zu 
halten gebühre. Weiter bringt der Inquifitor die Unter— 
rebungen zur Sprache, die Galilei damals mit mehrern 
Cardinälen der Ingquifitions-Congregation geführt habe. 
Galilei entgegnete, dieje Unterrebungen jeien von ven Car- 
pinälen zu ihrer eigenen Information gewünfcht worden. 
Nun fragte der Inquifitor nach dem Ausgange des da— 
maligen Procefjes, worauf Galilei erklärte, die Index— 
Eongregation habe entjchteden, die Kopernifanifche Lehre, 
als thatjächliche Gewißheit behauptet, widerjtreite der Hei- 
ligen Schrift; fie fei aber als Hhpotheje zuläſſig. Und 
nun jpist fi das Verhör allmählich auf die oben be- 
jchriebene Annotation vom 26. Februar 1616 zu. 

Inquiſitor. Ob ihm damals der in Rebe ftehende 
Beſchluß mitgetheilt worden jei und von wen? 

Galilei. Es wurde mir dieſe Entſchließung der hei- 
ligen Imder-Congregation befannt gegeben und zwar von 
dem Herrn Cardinal Bellarmin. 

Inguifitor. Er möge berichten, was Se. Eminenz 
bezüglich des genannten Bejchluffes mitgetheilt habe, und 
ob diejer ihm noch etwas anderes darüber gejagt und was? 

Galilei. Der Herr Carbinal eröffnete mir, daß die 
bejagte Kopernifanifche Meinung als bloße Unterftellung 
ftatthaft jei, fo in der Art, wie Kopernifus an ihr ge- 
halten habe, und Sr. Eminenz war e8 auch befannt, daß 


46 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


ich gleich Kopernifus jene Lehrmeinung nur fupponire; 
man erſieht das aus einer Antwort deſſelben Herrn Car- 
dinals auf einen Brief des Pater Paolo Antonio Fosca- 
rini, Provinzial® der Karmeliter, von welcher ich eine 
Abſchrift befite, umd in welcher e8 heißt: „Es fcheint 
mir, daß Euer Hochmwürden und ber Herr Galilei Flug 
daran thun, fich zu begnügen, unterjtellungsweije 
und nicht wie von unzweifelhaften Dingen zu ſprechen.“ 
Diefer Brief des Herrn Cardinals ift vom 12. April 
1615 datirt. Im anderer Weije aber, d. h. mit Gewiß— 
heit behauptend, dürfe man jene Meinung weder fejthalten 
noch vertheidigen. (Das ne tenere, ne defendere.) 

Inguifitor. Er möge erzählen, was im Monat 
Februar 1616 bejchloffen und ihm eröffnet worden ei. 

Galilei. Im Monat Februar 1616 fagte mir der 
Herr Cardinal Bellarmin, daß, da die Meinung des 
Kopernifus in der Form bejtimmter Behauptung der Hei- 
ligen Schrift entgegen fei, man weder an ihr fefthalten, 
noch fie vertheidigen dürfe; daß man fie aber als Unter: 
jtellung auffafjen und in dieſem Sinne barüber fchreiben 
fönne. Uebereinftimmend befige ich ein Zeugniß von dem— 
jelben Herren Cardinal Bellarmin, ausgejtellt am 26. Mai 
1616, worin er fagt, daß die Kopernifaniiche Anficht 
weder fejtgehalten noch vertheidigt werben dürfe, daß fie 
ber Heiligen Schrift wiberftreite, von welchem Zeugnifje 
ich hiermit Abfchrift vorlege. 

Inquifitor. Db, als ihm obgemelvdete Mittheilung 
gemacht wurde, noch andere Perfonen zugegen waren 
und wer? 

Galilei. Als der Herr Cardinal mir befannt gab, 
was ich betreſſs der Kopernifaniichen Anficht berichtet 
habe, waren einige Dominicaner-Patres anweſend; aber 
ich Fannte fie nicht, noch jah ich fie je wieder. 


vor der Inquiſition in Rom. 47 


Inguifitor. Ob ihm in Anweſenheit jener Patres 
von diefen oder jemand anderm ein Befehl über ebendiejen 
Gegenjtand ertheilt worden fei und welcher? 

Galilei. Ich erinnere mich, daß die Verhandlung 
in folgender Weife verlief: Der Herr Carbinal ließ 
mich eines Morgens zu fich rufen und machte mir bie 
Eröffnung, man dürfe die Kopernifaniihe Meinung als 
der Heiligen Schrift widerjprechend nicht fejthalten noch 
vertheidigen. Es ift meinem Gebächtniffe entſchwunden, 
ob jene Dominicaner -» Patres früher da waren, oder ob 
fie erft fpäter famen; ebenſo wenig entfinne ich mich, ob 
fie gegenwärtig waren, als der Herr Cardinal mir fagte, 
daß man die bewußte Meinung nicht feithalten bürfe. 
Es fann fein, daß mir ein Befehl ertheilt wurde, ich 
folle die genannte Anficht weder fejthalten noch verthei- 
digen, aber ich erinnere mich nicht daran, denn es iſt 
dies eine Sache von mehrern Jahren. 

Inguifitor. Ob, wenn man ihm vorlefe, was ihm 
damals gejagt und befohlen worden, er fich deſſen ent- 
finnen werde? 

Galilei. Ich erinnere mich nicht, daß mir etwas 
anderes gejagt oder auferlegt worden wäre, noch weiß ich, 
ob ich mich an das, was mir damals gejagt wurbe, er- 
innern werde, jelbjt wern man mir e8 vorlieft. Ich be- 
kenne offen alles, deſſen ich mich erinnere, weil ich mir 
nicht bewußt bin, die mir gegebenen Borjchriften in irgend- 
einer Weife übertreten, d. h. die erwähnte Meinung von 
der Bewegung der Erbe und dem Feſtſtehen der Sonne 
vertheibigt zu haben. 

Der Inquiſitor fängt nun von dem quovis modo 
docere, tenere aut defendere an und fügt hinzu, daß 
diejer Befehl vor Zeugen ertheilt fei. 

Galilei entgegnet: Ich enifinne mich nicht, daR 


48 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


diefer Befehl mir von jemand anderm als mündlich von 
dem Herrn Cardinal Bellarmin eröffnet worden wäre, 
aber ich erinnere mich wohl, daß der Befehl lautete: ich 
bürfe nicht fejthalten und nicht vertheidigen; es kann fein, 
bag noch dabei gewejen iſt „und nicht lehren“. Sch er- 
erinnere mich deſſen nicht, auch nicht, daß die Beſtim— 
mung „in feiner Weiſe“ dabei gewejen wäre, aber e& 
fann fein, daß fie dabei war; denn ich habe darüber nicht 
weiter nachgedacht, nocdy mich bemüht, die Worte meinem 
Gedächtniſſe einzuprägen, da ich wenige Monate jpäter 
jenes hier vorgelegte Zeugniß des genannten Herrn Car 
dinals Bellarmin vom 26. Mai erhielt, in welchem fich 
die mir ertheilte VBorjchrift, jene Meinung nicht feſtzu— 
halten noch zu vertheidigen, ausgebrüdt findet. ‘Die bei- 
den andern Bejtimmungen, der bejagten Borjchrift, welche 
mir eben befannt gemacht wurden, „nicht zu lehren” und 
„in Keiner Weiſe“ habe ich nicht im Gedächtniſſe behalten; 
ich glaube, weil fie in dem bewußten Zeugniffe, auf das 
ich mich verlafjen und das ich zu meiner Erinnerung auf- 
behalten habe, nicht erwähnt find. 

Inguifitor. Ob er, nachdem der bejagte Be- 
fehl ertbeilt worden fei, irgendeine Erlaubniß erhalten 
babe, das von ihm als jein Werf anerkannte Buch, wel- 
ches er auch jpäter habe druden lafjen, jchreiben zu 
bürfen? 

Galilei. Nah Empfang des vorerwähnten Befehls 
habe ich nicht um die Erlaubniß nachgejucht, oben ge— 
nanntes Buch, das ich allerdings als mein Werf aner- 
fenne, jchreiben zu dürfen, weil ich nicht glaube, durch 
Abfafjung deſſelben irgendwie dem Befehl, die bewußte 
Meinung weder fejtzuhalten, noch zu vertheibigen ober 
zu lehren, entgegengehandelt, jondern dieſelbe vielmehr 
widerlegt zu haben. 


vor ber Inguifition in Rom, 49 

Zulegt fommt der Inquiſitor auf die Druderlaub- 
niß zu fprechen und fragt, ob Galilei bei dem Anfuchen 
um biefe Erlaubniß dem P. Magister sacri Palatii 
Mittheilung von dem oben beiprochenen, im Auftrage ber 
heiligen Inder-Congregation ihm ertheilten Befehle ge- 
macht habe. 

Galilei. Bon dem Befehle habe ich dem P. Ma- 
gister sacri Palatii gegenüber nicht8 erwähnt, weil ich es 
nicht für nöthig erachtete; es ftiegen mir eben keinerlei Be- 
benfen auf, da ich durch jenes Buch die Meinung von der 
Bewegung der Erde und dem Stilfftande der Sonne weder 
feitgehalten noch vertheidigt habe, ich vielmehr in dieſer 
Schrift das Gegentheil der Kopernifanifchen Lehre erweife 
und zeige, daß die Gründe des Kopernifus Fraftlos und 
nicht entjcheidend find. 

Daß Galilei gegen das Ende des Verhörd wider 
jeine Ueberzeugung rebet, iſt Har. Entweder that er das 
dem „guten Rathe‘ des Gejandten zu Liebe oder er war 
ihon halb und halb mürbe. Aber ebenjo Klar ift, daß 
der Ingquifitor nicht fichern Rechtsboden unter den Füßen 
hatte. Er fängt von Zeugen an; Galilei weiß nur von 
etlichen Dominicaner-Batres, deren Anwejenheit ihm eine 
zufällige zu fein jchien. Der „Befehl“ vom 26. Februar 
führt ven Pater-Commifjar des heiligen Officiums nament- 
(ih an, alſo eine eminent officielle Perjönlichkeit. Das 
hat man Galilei verheimlicht. So gewiſſenlos aber diefer 
in der Berleugnung feiner Kopernikaniſchen Weltanſchauung 
ericheint, fo gewifjenhaft verführt er darin, daß er zugibt, 
es könne ihm auch der Befehl des quovis modo docere 
ertheilt fein, nur erinnere er fich deffen nicht. Der ge- 
wiffenhafte Menſch thut aber Lieber ein Mehreres, ehe 
er fich der Möglichkeit eines Irrthums ausſetzt. Man 
beachte auch, wie während des Verhörs aus dem monere 

XXIV. 4 


50 Die Broceffe gegen Galileo Galilei 


des Cardinals ein mandare geworben, aus der Verwar- 
nung ein Decret. 

Das zweite Berhör, in dem man hätte veutlicher wer- 
den müſſen, fand am 30. April und zwar auf das eigene 
Verlangen Galilei's ftatt. Dffenbar wollte er feinen 
Feinden durch Fügſamkeit zuvorfommen. Er nahm fogleich 
das Wort und bielt eine Rebe, in welcher er das Be— 
fenntniß feiner Schuld darlegte. Sie ift zu charakteriftiich, 
als daß wir uns mit einer kurzen Inhaltsangabe begnügen 
fonnten. Sie lautet: 

„Nachdem ich jüngft mehrere Tage hindurch über bie 
im Berhöre an mich gerichteten Fragen unausgejegt und 
angelegentlich nachgedacht habe, namentlich über jene: ob 
mir vor 16 Jahren vom heiligen Officium das Verbot 
ertheilt worden fei, die eben damals verdammte Lehre von 
der Bewegung der Erde und dem Stillitehen der Sonne 
in irgendeiner Weife weder feitzuhalten, noch zu verthei- 
digen oder zu lehren, kam mir der Gedanfe, meine ge- 
dructen Dialoge, die ich feit drei Jahren nicht wieder 
angejehen hatte, wieder einmal zu überlejen, um aufmerf- 
jam zu unterfuchen, ob mir vielleicht ganz gegen ven 
Willen aus Unbevachtfamfeit etwas in die Feder gefom- 
men wäre, weshalb der Leſer oder die Dbern mir nicht 
nur Ungehorfam im allgemeinen, jondern auch gewiffe 
Einzelheiten zum Vorwurfe machen könnten, bie zu ber 
Meinung führen müßten, ich hätte die Befehle der hei- 
tigen Kirche misachtet. Da e8 mir infolge der gnädigen 
Erlaubniß der Obern freigeftellt war, meinen Diener 
umberzufchiden, juchte ich mir ein Eremplar meines Wer- 
fes zu verfchaffen und begann, als mir dies gelungen, 
bafjelbe mit der größten Aufmerkjamfeit vurchzulefen und 
eingehend zu prüfen. Es erjchien mir faft, weil ich es 
jo lange nicht in Händen gehabt, als eine neue Schrift 


vor der Inguifition in Rom. 51 


und wie von einem fremden Autor. Und in der That 
hat fie mir an mehrern Stellen den Eindruck gemacht, 
als habe infolge der Faſſung diejer Stellen der mit mei- 
ner Denfungsart nicht vertraute Lefer zu der Meinung 
fommen fönnen, die Beweife für den falfchen Theil, 
den ich zu widerlegen im Sinne gehabt, feien doch faſt 
mit mehr Nachdruck vorgetragen, als der Zwed, fie zu 
widerlegen, gejtatte. Namentlich werben zwei Argumente: 
das eine von ben Sonnenfleden, das andere von der 
Ebbe und Flut des Meeres, dem Leſer als jo beweisfräftig 
und überzeugend vorgeführt, daß es fcheint, als habe ver 
Berfaffer fie für entjcheivend gehalten und nicht für wider— 
legbar, wie es wirklich ver Fall war und noch ift. Ich 
war in einen meiner Abſicht völlig fern gelegenen Irr— 
thum verfallen, aber wie war das gefommen? Freilich 
joll man die Beweisgründe des gegnerifchen Theils, vie 
man wiberlegen will, auf das genauefte darjtellen, be— 
jonderd wenn man fich der Form von Rede und Wiber- 
rede bebient; man foll fie gewiß nicht vorfäßlich ab- 
ihwächen behufs leichterer Ueberwindung des Gegners, 
welchem fie in dem Dialog in den Mund gelegt find; 
allein mit diefer Erwägung war der Fehler, auf dem ich 
mich ertappte, noch nicht genügend erklärt; ver Fehler 
war, wie ich bei gründlicher GSelbftprüfung erkannte, 
baraus entiprungen, daß ich bei der Abfaffung des 
Buches mich ſchwach zeigte, wie jeder andere in gleichem 
Falle, der Behagen daran empfindet, feinen Scharffinn 
ipielen zu laffen und durch das Auffinden geiftreicher und 
plaufibel flingender, wenngleih im Grunde unhaltbarer 
Behauptungen fich gefchiefter zır zeigen al8 andere Men- 
ihen. Obgleich ich num mit Cicero jagen muß, «daR ich 
ruhmbegieriger bin als gut ift», jo würbe ich Dennoch, 
wenn ich die Beweisgründe für das Kopernifanische Syſtem 
4* 


52 Die Procejje gegen Galileo ©alilei 


noch einmal darzuftellen hätte, fie ohne Zweifel derartig 
entfräften, daß fie auch jo Schwach erjcheinen follten, 
wie fie in Wirklichkeit find. Sch habe aljo einen Irr- 
thum begangen und zwar, wie ich eingejtehe, aus eitler 
Ehrbegier, aus reiner Thorheit und Unbevachtjamkeit. 
Das iſt ed, was ich ausjagen wollte und was mir beim 
Durchlefen meine® Buches in den Sinn kam.“ 

Man erſchrickt über dieſe Selbiterniedrigung und bieje 
Unwahrhaftigkeit Galilei's, der ſich hierdurch ſelbſt ver- 
nichtet. Man wird aber dem Individuum, das ſich ſo 
vergißt, weniger Vorwürfe machen dürfen als der Kirche, 
die ſich ſo etwas bieten läßt und die ſo etwas verlangt. 
Galilei glaubte ohne Zweifel, ſeinen Richtern wohlgefällig 
zu handeln. Wie traurig iſt doch dieſe Macht der rö— 
miſchen Kirche! Welch unheilvollen Einfluß übt fie auf 
die Seelen aus! 

Das Verhör wurde gejchloffen. Galilei wurde abge- 
führt. Da drehte er fich noch einmal um und erklärte 
feine Bereitwilligfeit, nunmehr gegen SKopernifus zu 
ichreiben: 

„zur größern Bekräftigung, daß ich die als unzu— 
läffig verdammte Meinung nicht für wahr gehalten habe 
noch fie jegt für wahr halte, bin ich bereit, noch einen 
weitern unzweifelhaften Beweis zu liefern, wenn mir bie 
erwünfchte Zeit und Gelegenheit hierzu vergönnt werben. 
Ein fehr günftiger Anknüpfungspunft bietet fich hierzu 
darin, daß in dem von mir herausgegebenen Buche die 
Perjonen, welche die Dialoge halten, ſich verabredet haben, 
nach einiger Zeit wieder zujammenzutreffen, um fich über 
andere naturwiffenjchaftliche Fragen zu bejprechen. Wenn 
mir bie Gelegenheit gegeben würde, ven Gejprächstagen 
noch einen oder zwei weitere «Tage» Hinzuzufügen, fo 
würde ich verjprechen, die zu Gunften ber bewußten fal- 


vor ber Inguifition in Rom. 53 


ſchen und verpönten Meinung angeführten Gründe noch- 
mals aufnehmen und fie auf die wirkſamſte Weife, welche 
mir der barmberzige Gott fchon eingeben wird, zu wiber- 
legen. Ich bitte deshalb dieſen hohen Gerichtshof, mir 
zur Ausführung diefes guten Vorſatzes behülflich zu fein.‘ 
Hier hat man das laudabiliter se subjecit in bejter 
Form. Es hat Galilei nichts genügt, ein Beweis, daß 
man unter allen Umftänden an ihm Rache nehmen wollte. 
Um fo jchlimmer aber ift das, weil aus Briefen, welche 
ber Bibliothefar der Familie Barberint im Jahre 1875 
herausgegeben bat, erhellt, vaß gerade der die Unterjuchung 
führende Commiffar ihn vor dem Verhöre, am 28. April, 
zu dieſem felbftvernichtenden Befenntniffe veranlaßt hat 
unter der Vorſpiegelung, man würde dann Gnade vor 
Recht ergehen laſſen. Nur zu einer Erleichterung verhalf 
biejer 30. April dem Delinquenten: er durfte in das to8- 
canijche Gefanbtichaftshotel zurüdfehren; vorher mußte er 
jedoch befchwören, vaffelbe nicht zu verlaffen, mit feinem 
andern als mit den Bewohnern des Palaftes zu ver- 
fehren, jtrengites Stillfehweigen zu beobachten und, fo oft 
er vorgeforbert werbe, fi vor dem Tribunal zu jtellen. 
Im dritten Verhör, am 10. Mai, eröffnete ihm P. 
Mezzolani, daß ihm eine Frift von acht Tagen gewährt 
jet zur Einreichung einer Vertheidigungsichrift. Galilei 
hatte diejelbe bereit8 in der Taſche und überreichte fie dem 
Inguifitor. Er hatte Folgendes niedergefchrieben: 
„Befragt, ob ich ven ehrwürbigen P. Magister sacri 
Palatii von dem mir vor beiläufig jechzehn Jahren per: 
fönlich ertheilten Befehle unterrichtet hätte, laut Verord— 
nung des heiligen Offictums die Meinung von der Bewegung 
der Erde und dem GStilfftehen der Sonne weder fejtzu- 
halten noch zu vertheidigen, noch in irgendeiner Weiſe 
zu lehren, erwidere ich: Nein! Da ich dann nicht weiter 


54 Die Broceffe gegen ©alileo Galilei 


um bie Urjache gefragt worden bin, warum ich ihn nicht 
davon in Kenntniß geſetzt habe, jo fehlte mir vie Ge— 
fegenheit, mich näher über diefen Punkt zu erklären. Es 
erjcheint mir aber nöthig, dies nachträglich zu thun, um 
meine gute Abjicht zu erweifen, in der ich bei meinem Thun 
von Trug und Beritellung mich immer fern gehalten habe. 
Ich greife aljo bis zum Jahre 1616 zurüd. Cinige mir 
übelwollende Berfonen hatten das Gerücht verbreittet, ich 
jet von Sr. Eminenz dem Cardinal Bellarmin vorgeladen 
worden, um gewiffe, angeblich von mir gehegte Meinungen 
und Lehren abzuſchwören, hätte dies auch thun müſſen, 
wie mir denn auch noch eine Buße auferlegt worden jet. 
Ich jah mich infolge deſſen genöthigt, Se. Eminenz um 
ein Zeugniß zu bitten, in welchem ber Cardinal erflären 
möge, behufs welchen Zwedes ich vor ihn berufen gewejen 
jet. Sch erhielt das eigenhändig von ihm gejchriebene 
Atteft, deſſen Original ich hiermit überreiche. Aus dem— 
jelben ift Klar zu erjehen, daß mir blos angekündigt wurde: 
man bürfe die dem Kopernifus zugejchriebene Lehre von 
der Bewegung der Erbe und dem Stillftehen der Sonne 
weder fejthalten noch vertheidigen, daß mir aber außer 
biefem für alle gültigen Ausspruch irgendetwas anderes 
im bejondern anbefohlen worden wäre, darüber befindet 
fih in jenem Zeugniffe nicht die geringfte Spur. Da 
ich zu meiner Erinnerung dieſes authentiſche Zeugniß von 
der Hand bejjelben Mannes bejaß, der mir die VBorjchrift 
ertheilt hatte, jo habe ich nicht weiter über die Aus- 
drücke, welche bei der mündlichen Mittheilung des Befehls 
gebraucht wurden, nachgedacht, noch mich bemüht, fie im 
Gedächtnifje zu behalten, ſodaß die andern Beitimmungen 
außer dem «feithalten» und «vertheidigen», nämlich «zu 
lehren» und «in feiner Weife» mir vollftändig wie neu 
hinzugefommen und als nie gehört erfcheinen.” (Das do- 


vor der Inquifition in Rom. 55 


cere und das quovis modo find im Manufeript mit 
großen Buchitaben gejchrieben, das quovis außerdem unter: 
jtrichen.) „Ich denfe, man wird meiner Verficherung Glau— 
ben jchenfen, daß mir im Laufe von 14—16 Jahren jede 
Erinnerung an jene Worte volljtändig entſchwunden ift, 
und dies um jo mehr, da ich, im Beſitze einer fo voll- 
wichtigen jchriftlichen Erinnerung, nicht nöthig hatte, 
fie im Kopfe zu behalten. Wenn man nun die genann- 
ten beiden Beitimmungen wegläßt und nur die beiden in 
bem vorliegenden Zeugnifje angeführten beibehält, jo bleibt 
fein Zweifel, daß die darin enthaltene Anordnung 
piejelbe fei, wie die durch das Decret der heiligen 
Eongregation des Inder erlaſſene Vorſchrift 
(sc. vom 5. März 1616). Dadurch aber fcheint e8 mir 
hinlänglich entjchuldigt zu fein, daß ich ven P. Magister 
sacri Palatii von dem mir perjönlich zugefertigten Befehle 
nicht in Kenntniß gejeßt habe, da ja derſelbe mit dem 
von der Inder-Congregation verlautbarten 
völlig gleich ift. Auch das wird man mir zugeben, 
daß ich, nachdem mein Buch feiner ftrengern Cenſur unter- 
lag, als der von jenem Inder-Decret geforderten, bemüht 
war, ed von jevem Schatten eines Makels zu reinigen, 
indem ich dafjelbe dem oberjten Inquiſitor“ (eben dem P. 
Magister sacri Palatii) „vorlegte, und das gerade in einer 
Zeit, wo viele den nämlichen Gegenſtand behandelnde 
Bücher einzig fraft jenes Decrets verboten wurden. Aus 
dem Gefagten glaube ich die feite Hoffnung jchöpfen zu 
dürfen, daß meine hochwürbigen und weiſen Richter von 
dem Gedanken: als habe ich wiſſentlich und vorjätlich 
die mir ertheilten Befehle überfchritten, ablaffen und viel- 
mehr erfennen werben, die in meinem Buche vorfommen- 
den Verftöße feien feineswegs verjtohlen und mit Hinter- 
liſt darin eingeführt worden, fondern fie jeien mir lediglich 


56 Die Broceffe gegen Galileo Galilei 


aus der Feder gefloffen, weil ich in eitelm Ehrgeiz jcharf- 
finniger habe erjcheinen wollen als andere Schriftiteller. 
Ich habe das bereit8 in meiner vorigen Ausſage befannt 
und bin bereit, dieſen Fehler wieder gut zu machen, wenn 
mir dies von den hochwürdigen Herren anbefohlen over 
geftattet wird. Schlieflich bitte ich um Berüdjichtigung 
des bemitleivenswürdigen förperlichen Zuftandes, in ben 
ih, ein Siebziger, durch den zehmmonatlichen Kummer 
und bie Bejchwerden einer langen mühjamen Reiſe in ver 
ſchlimmſten Jahreszeit gerathen bin, ſodaß ich auf den 
größten Theil der Lebensjahre, welche die frühere Be— 
ihaffenheit meiner Gejundheit in Ausficht jtellte, mol 
werde verzichten müfjen. Mein Vertrauen in die Huld 
und Gnade der hochwürdigſten Herren, meiner Richter, 
gibt mir den Muth zu dieſer Bitte. Mögen fie gütigit, 
angefichts jo vieler Leiden, bei dem hHinfälligen Greife, 
ber fich ihrem Schute unterthänigft empfiehlt, von der 
ganzen Höhe der verbienten Strafe abjehen.“ 

Man athmet bei diefer Vertheivigungsjchrift erleich- 
tert auf; endlich hat fich Galilei ermannt, zwar nicht zu 
einer fühnen, aber doch würdigern Sprache als bisher; 
jeine juridiſchen Motive find Elar und wahr; rechtlich ſtand 
die Sache jo, wie er fie auffaßt und darſtellt. Daß er 
noch eine captatio benevolentiae einfließen läßt, mag 
fih aus dem Gefühl der Furcht erklären, von der er nun 
einmal nicht los konnte. Manches wird auch auf die üb- 
lichen böflichen Formen amtlicher Eingaben zu jegen fein. 
Bon einem „Gewimmer‘ zu reden (wie es Fribolin Hoff- 
mann in jeiner „Gejchichte der Inquifition”, Bonn 1878, 
thut, deſſen Ueberjegung und Anführung der Actenftüde 
wir zum Theil gefolgt find), liegt wenigftens bei dieſer 
Vertheidigungsichrift feine Veranlaſſung vor. 


vor der Inguifition in Rom. 57 


Das erjte Actenjtüd*) ift ein Hiftorifches Referat über 
den Verlauf der beiden Proceſſe bis zu diefem 10. Mai. 
Es wird an der Zeit fein, bier nach Gebler einiges über 
die Acten ſelbſt einzuschalten. Sie bilden heute einen ziem- 
(ih jtarfen Duartband von 22 cm Breite und 30 cm 
Höhe. Das Manufeript hat nicht weniger als 194 un- 
bejchriebene Seiten, theils Rückjeiten, theil® zweite Blätter 
von Documenten. Es läßt fich aber leicht finden, zu 
welchem Actenjtüde jenes weiße Blatt gehört. Im der 
Paginirung des Manuſeripts herrſcht die allergrößte Un- 
ordnung. Es gibt eine dreifache Numerirung. ‘Die alte 
Numerirung umfaßt ſämmtliche Actenftüde, die zum Pro- 
cefje vom Jahre 1616 gehören; fie waren in einem Bande 
des Archivs des heiligen Offictums erhalten, ver die Num- 
mer 1181 trug. Die Nctenjtüde des zweiten Procefjes 
(1632/33) müffen einem andern Bande jenes Archivs an- 
gehört haben, wie aus ihrer PBaginirung hervorgeht, die 
auf dem erften Documente, dem großen Bericht der zur 
Borunterfuhung eingefegten Specialcommiffion an ven 
Papſt, die Ziffer 387 aufweift. Als man nun die Acten 
der beiden Galilei'ſchen Procefje aus den zwei verſchiedenen 
Bänden heraushob und miteinander verband, wurde zur 
Erzielung einer fortlaufenden Pagination die alte Be— 
zifferung bes erjten Procefjes gejtrichen und viefelbe da— 
durch erjegt, daß man vom erften Folio des zweiten Pro- 
cefjes nach rüdwärts zählte und danach paginirte. 

Hierzu fommt aber noch eine dritte Paginirung, die 
auf dem untern Rande des Papiers angebracht iſt, umd 
auf dieſe wird in der hiftorifchen Einleitung wiederholt 
bingewiefen; fie veicht aber nur fo weit als die Acten, 


*) Das ganze Actenftüd enthält nicht weniger al8 131 Num— 
mern. 


58 Die Proceffe gegen Galileo Galilei 


welche von den Greigniffen bis zum 10. Mat handeln. 
Daher mag in biefer Zeit nach dem 10. Mai bis zum 
21. Iuni (dem nächſten Verhöre Galilei’8) die Vereini— 
gung der Acten entjtanden fein, und zwar durch ven Ber- 
faffer der hiſtoriſchen Einleitung, der zugleich Dieje neue 
Paginirung beforgt haben mag. (Wir jegen Hinzu: zu 
ichnellerer Drientirung für ſich. Tinte und Charafter 
der dritten Numerirung jtehen in genauer Webereinftim- 
mung mit der zweiten Pagination. Iſt dieſes richtig, 
dann wird man auch Gebler darin zuftimmen müſſen, 
daß dieſe hiftorifche Einleitung für den Papft und bie 
Congregation abgefaßt fein mag behufs Feititellung bes 
Schlußverfahrens gegen Galilei. Das erklärt vollfommen 
das Tendenziöſe diefer Inhaltsüberficht, in der alles zu 
Ungunften Galilei’ zufammengeftellt iſt. Hier find bie 
Annotationen vom 25. und 26. Februar 1616 in Eins 
verſchmolzen. Schon die erjtere enthält das verfängliche 
quovis modo. Bellarmin ertheilt dem Galilei ven pre- 
cetto di lasciate e non tractare in modo alcuno di 
d® opinione dell immobiliatä del sole, della stabi- 
lità della terra. Das zweite hat nur an Stelle des 
relinquere ein deserere. Das vernichtende Selbjtbefennt- 
niß Galilei's aber vom 30. April hat der Auszug ganz, 
während feine Vertheidigungsichrift abgekürzt wiederge— 
geben ift. Offenbar follte Galilei dadurch doppelt belaftet 
ericheinen; auf der einen Seite fein völliges Geſtändniß, 
auf der andern jeine klare Rechtöverwahrung. In dieſe 
Zeit paßt alfo der Auszug ganz gut hinein. Auffallend 
bleibt aber immerhin, daß er an eriter Stelle in ven 
Ücten fteht. Das hat Wohlwill auf den Gedanfen ge— 
bracht, die Abfaffung dieſes Auszuges in die Zeit der 
Wegführung der Acten nach Paris zu verlegen. Er follte 
gewiſſermaßen die Inquifition vor der Welt rechtfertigen. 


vor ber Inguifition in Rom. 59 


Wohlwill jucht eine Beſtätigung in dem eriten Blatte, 
welches folgende Form hat: 


Florentin: Vol. 1181. 33 
Ex archivo S. Offij. 


L Con (= contra) 


Galileum Galilei Mathematicum. 


Dem ex archivo will und da eine zu große Bedeu— 
tung beigelegt erjcheinen. Wermuthlich tragen boch alle 
Actenjtüde dieſes ex. Ganz unbeachtet wird indeß biefe 
fühne Combination nicht bleiben fünnen, zumal ein an— 
deres hiſtoriſches Referat über ven Proceß, 100 Yahre 
ipäter abgefaßt, als es fich um die Errichtung eines Dent- 
mals für Galilei in der Kirche Santa-Eroce zu Florenz 
handelte, das vorlette des ganzen Actenjtüdes, fih an 
jeiner richtigen Stelle befindet. 

Wir neigen uns alfo der Gebler’ichen Anficht zu. Die 
Situng zur Beitimmung des Schlußverfahrens fand am 
16. Juni ftatt und zwar in Gegenwart des Papjtes als 
geborenen Präfidenten der Congregation ber heiligen römi- 
ichen und allgemeinen Inquifition. In der Zwifchenzeit vom 
10. Mat bis 16. Juni waren noch Gutachten eingeholt 
worden. Auch das war vorjchriftsmäßig. Die juriftifchen 
und theologischen Conjultatoren fpielten bei der Entjchei- 
dung der Ingquifitionsprocefje jogar eine jehr wichtige 
Rolle; Anklage, Beweisaufnahme und Vertheidigung wur- 
den ihnen zur Begutachtung vorgelegt. Die „Kanoniſten“ 
hatten über die Art des Verfahrens und über die Be— 
jtrafung des Angeklagten ihr Votum abzugeben; auch eine 
Anwendung der Zortur wurde nicht befchloffen ohne die 
Confultatoren. Die Anficht der Confultatoren kann durch 
den Befehl des Papites erjegt werden. Eine befondere 


60 Die Procejfe gegen Galileo Galilei 


Willensmeinung des Papftes fteht nicht in den Galilei’ 
ſchen Acten. Alfo müßten die Gutachten der Confultatoren 
in ihnen ftehen. Sie find auch da, aber nur die ber 
Theologen; die der Yuriften fehlen. Entweder hat man 
bie Gutachten der Yuriften beifeitegefchoben, weil fie Ga— 
(tet günjtig waren, oder man hat fie fpäter entfernt, weil 
fie, entgegengejegtenfall®, die Anwendung der Xortur 
empfahlen. Die theologijchen Confultatoren, die über vie 
Ketzerei zu entſcheideu haben, fommen in den Acten voll 
tändig zu Worte. Ihre Namen find: Auguftin Oregius, 
Melchior Inchofer und Zacharias Pasqualigus. Sie 
Iprachen fich ziemlich übereinftimmend aus; die Gutachten 
jelbjt find furz. So lautet das von Inchofer: 

„Meine Meinung ift, daß Galilei das Stilljtehen 
oder die Ruhe ver Sonne als des geſammten Centrums, 
um welches fich jowol die Planeten als auch die Erde 
in ihren eigenen Bewegungen drehen, nicht nur lehrt 
und vertheibigt, jondern daß er auch der feiten An— 
ichliefung an diefe Meinung ſehr verbächtig jei und 
daß er fie daher feithalte.” 

Um fo ausführlicher find die von allen drei zujammen- 
gejtellten Gründe für die Gutachten. (Rationes quibus 
ostenditur Galilaeum docere, defendere, ac tenere 
opinionem de motu terrae.) Dieje rationes füllen bei 
Gebler achtzehn Seiten. Die nächjten vier Folioſeiten aber 
find nach Gebler in den Acten weiße Blätter. Bei ven 
vielen weißen Blättern, welche die Acten enthalten, kann 
daraus in Anjehung der juriftiichen Gutachten nichts ge— 
ichlofjen werben. Jedenfalls ift ihr Fehlen bevenflich. 

Auf Grund diefer Gutachten hatte die Sikung vom 
16. Juni folgendes Rejultat: 

„Hinſichtlich Galilei’, deſſen Sache oben erwähnt, 
befahl Se. Heiligkeit, ihn ſelbſt ob feiner Intention zu 


vor ber Inguifition in Rom. 61 


befragen, und ihn nach Androhung ber Tortur und 
nach, wenn er ausgehalten haben wird, vorhergehender 
Abihwörung (comminata ei tortura, et si susti- 
nuerit previa abjuratione) wirffam (de vehementi) 
in einer Plenarfigung der Congregation, des heiligen 
Officiums mit Gefängniß zu bejtrafen nach dem Gut- 
dünken ber heiligen Congregation. Er, dem auferlegt 
wird, fernerhin in gar feiner Weiſe fchriftlich oder 
mündlich die Bewegung der Erde und das Stillſtehen 
der Sonne und auch das Gegentheil zu behandeln, 
fällt unter Strafe zurüd.‘ 

Se. Heiligkeit befahl alſo das examen de intentione, 
befahl die Androhung der Tortur, befahl eine Abſchwörung 
in einer Plenarfigung der Congregation, befahl die Vers 
urtheilung zu einer Gefängnißitrafe, deren Dauer von dem 
Ermefjen der Eongregation abhängen folle, befahl nun 
das quovis modo tractare, auch die entgegengefegte An— 
fchauung joll nicht behandelt werben, alles bei weiterer 
Strafe wegen Abtrünnigfeit. 

Wir müfjen jedoch bei dieſem Beſchluß noch etwas 
ftehen bleiben. Es ift hier noch Gewicht zu legen auf 
die Worte „et si sustinuerit‘. Einige Herausgeber ber 
Acten haben hier ac si sustinuerit, als wenn er fie 
(sc. torturam) ausgehalten haben würde. Dann würde 
in dem Beſchluß ausprüdlich die Folter ausgefchloffen fein; 
nur die Androhung follte ausgefprochen werben. Allein 
die Lesart et ift die richtige. Gebler hat fie, und ſie 
wird bejtätigt durch das zweite Hiftoriiche Referat der 
Acten in dem vorlegten Actenftüde. In ihm heißt es 
con comminagli la tortura e sostenendo. Dem: 
nach jteht das et si sustinuerit feſt. Wie ift das zu 
überfegen und zu verjtehen? Das Einfachite ift die Er- 
gänzung von eam sc. torturam. „Und wenn er ſie aus— 


62 Die Procefje gegen ®alileo Galilei 


gehalten haben wird.” Der Gevanfenfortichritt des De— 
cretS wäre: Androhung der Tortur, Aushalten verjelben, 
Abſchwörung. Die Anwendung der Tortur wäre da ftill- 
ſchweigende VBorausfegung. Ein ausprüdlicher Befehl zur 
Zortur fehlte. Das hat etwas Misliches. Darum muß 
zugegeben werben, daß das sustinere auf das „Androhen 
der Zortur‘ bezogen werden kann, auf ven eriten Theil 
der Zortur, die fog. territio realis*), während vie ter- 
ritio verbalis**) ver Zortur vorangeht. Es gab eine 
doppelte Art der Bedrohung mit der Tortur; die erjte, 
nur in Worten bejtehenp, mußte der Richter anwenden, 
ehe er zum examen rigorosum und de intentione fchritt; 
bie zweite, welche in Gegenwart der Folterwerkzeuge jtatt- 
fand, wobei der Angeklagte entfleivet, gebunden und in 
die Stellung gebracht wurde, die zur eigentlichen Folte— 
rung erforderlih war, hieß territio realis. Um biefe 
wird es fich hier handeln, denn nur bei ihr kann im 
Ernjt von einem sustinere die Rede fein, nicht aber bei 
der territio verbalis. So viel aljo jcheint gewiß, daß der 
erjte Grad der Tortur gegen Galilei bejchloffen worden 
ift; daß man auch mit der Ausführung nicht gezögert, 
wird die weitere Unterfuchung ergeben. 

Am 18. Juni hat der Papit in einer Aubienz dem 
toscanifchen Gejandten, Niccolini, Mittheilungen von dem 
Beichluffe des 16. Juni gemacht und hat dabei hinzuge- 
fügt, er werde die Strafe in ber mildeſten Weiſe zur 
Ausführung bringen. Nur müſſe verbreitet werben, bie 
Strafverringerung fei auf Fürſprache des Großherzogs 
von Toscana erfolgt. Niccolini möge in biefem Sinne 
an feine Regierung berichten. Dies ift gejchehen. Daraus 


*) Schredung durch Handlungen. 
**) Schredung durch Worte, 


vor der Ingquifition in Rom. 63 


bat M. Cantor den Schluß gezogen, daß des Papftes 
Zorn verflogen war, und daß er, ohne dejjen Einwilligung 
feine Zortur in Rom vollzogen werden durfte, wie denn 
jeder Bifchof zur Anwendung der Tortur innerhalb feines 
Sprengels feine Zuftimmung geben mußte, die Tortur 
jelbft verhindert hat. Man muß aber bei den Bijchöfen 
von Rom vorfichtig fein und feine voreiligen Schlüffe aus 
ihrer Freundlichkeit ziehen. Dan braucht ihnen dabei nicht 
gleich Heuchelei vorzumwerfen, objchon man in Nom ſtets 
Meiſter in der Verſtellungskunſt gewejen ift, und vieles 
durch die feineren, diplomatischen Formen zu verbeden ge- 
wußt hat. 

Drei Tage jpäter, am 21. Juni, fchritt man zum 
vierten, dem letten Verhör, in welchem, wie wir oben 
durch M. Cantor gehört haben, das examen rigoro- 
sum abzuhalten war (während die territio verbalis, von 
der wir aber in biefem Procefje nichts hören, dem dritten 
Verhör vorbehalten war) und in welchem nach dem De— 
cret vom 16. Juni das examen de intentione, das ge- 
jteigerte examen rigorosum, vorgenommen werden follte. 
Dieſes Eramen wurde, wie jchon erwähnt, in Gegenwart 
der Folterwerkfzeuge abgehalten. Wir ergänzen e8 durch 
einige Angaben aus einem Werke, welches ein Repertorium 
der Inquifitionsgebräuche ift. Dieſes Werf heift „Sacro 
Arsenale vero Prattica dell’ officio della Santa In- 
quisitione”. Alfo die Praris der Inquifition wird darin 
mitgetheilt. Pasqualoni hat es herausgegeben; die erjte 
Ausgabe erjchien im Jahre 1625. Demnach haben wir 
in ihm ganz beitimmt die, Gebräuche zur Zeit unfers 
Procejjes. Seine Angaben beruhen auf ven Verordnungen 
der Päpite und der Congregation des heiligen Officiums 
zu Rom. Der erjte Abjchnitt handelt „vom Verhör des 
Angeklagten auf der Folter“ („Del modo d’ interrogare 


64 Die Brocejje gegen Galileo Galilei 


i Rei nella tortura‘). An der Spike dieſes Abjchnittes 
jteht folgender Satz: „Hat der Angeklagte die ihm zur 
Laft gelegten Vergehen geleugnet, und find dieſelben nicht 
vollftändig erwiejen, hat er dann in dem ihm für feine 
Vertheidigung bezeichneten Termine nicht® vorgebracht, 
was ihn rechtfertigt, oder durch feine Vertheidigung ſich 
nicht vollftändig von den Indicien gereinigt, bie fich gegen 
ihn aus dem Proceß ergaben, jo ift e8 nothwendig, zur 
Erlangung der Wahrheit gegen ihn zum examen rigo- 
rosum zu fjchreiten, da die Tortur gerade dazu er- 
funden iſt, den Mangel an Zeugen zu erjegen, wenn 
fie einen vollftändigen Beweis gegen den Angeklagten nicht 
erbringen fönnen. Was erhellt hieraus? examen rigo- 
rosum und Zortur werben ibentificirt. In diefem ganzen 
Abjehnitt werben, wie Wohlwill bezeugt (aus dem wir 
jelbftverftändlich jchöpfen), esamina rigorosa und esamina 
nella tortura gleichbedeutend gebraucht. Ferner macht 
Wohlwill darauf aufmerffam, daß in dem ſehr ausführ- 
lichen Regifter am Ende des Buches, das wol für ven 
praktischen Handgebrauch der Inquifition zuſammengeſtellt, 
das Wort „esamina rigorosa” fehlt, und daß alles, was 
das Buch darüber enthält, unter dem Artifel tortura oder 
examinare in tortura jteht. Auch nach dieſem „Sacro 
Arsenale” joll ver Richter zuvor mit der Tortur bedrohen, 
ehe er zum examen rigorosum ſchreitet. Die territio 
verbalis jteht demnach "außerhalb der Zortur, und es 
kann fich bei Galilei nur um die territio realis handeln. 
Außerdem war es Nechtöregel paria esse torturam et 
terrorem. Demnach werden wir uns das vierte Verhör 
nella tortura vorzustellen haben. Wie verlief e8? Das 
Protokoll in den Acten beträgt faum zwei Seiten. 
Ingquifitor. Ob er daran fefthalte und daran fejt- 
gehalten habe und feit welcher Zeit, daß die Sonne und 


vor ber Inquiſition in Rom. 65 


nicht die Erbe das Centrum der Welt fei und die Erbe 
fih auch in täglicher Umbrehung bewege? 

Galilei. Vor langer Zeit, d. h. vor der Entſcheidung 
ver heiligen Inder-Congregation, und ehe mir jener Be— 
fehl ertheilt worden war, blieb ich unentjchievden und hielt 
beide Meinungen, jene des Ptolemäus und die Koper- 
nifanifche für ftrittig, weil die eine wie die andere mit 
der Wirflichfeit ftimmen fonnte. Nach der oben erwähn- 
ten Entjcheivung aber hielt ich, von ber Weisheit der 
Dbern überzeugt, und alle Ungewißheit abwerfend, vie 
Meinung des Ptolemäus, das ift: Stillitand der Erbe 
und Bewegung der Sonne, für vollftändig wahr und uns 
zweifelhaft. 

Der Inquifitor bemerkt ihm nun mit Recht, daß fich 
aus feinen „Dialogen“ die Vermuthung ergebe, er ſei An— 
hänger der Kopernifanifchen Lehre geblieben auch nad 
jener Zeit; er jolle offen die Wahrheit geftehen, ob er 
daran fejthalte over fejtgehalten habe. 

Galilei. Was die „Dialoge“ anbelangt, jo habe ich 
fie nicht deshalb gefchrieben, weil ich die Kopernikaniſche 
Meinung für wahr hielt; ich habe vielmehr einzig in dem 
Glauben, für das allgemeine Beſte zu handeln, die na- 
türlihen und aſtronomiſchen Beweisgründe dargelegt, bie 
fih für die eine wie für bie andere Anficht vorbringen 
laffen; dabei war ich bemüht, zu zeigen, daß weder bie 
erftern noch die lettern, weder die für das Ptolemäifche 
noch die für das Kopernifanifche Syſtem entjcheidende 
Beweiskraft befigen, und man folglich, wenn man eimas 
Sicheres haben wolle, feine Zuflucht zu der aus höhern 
Lehren gejchöpften Entſcheidung nehmen müſſe; jehr viele 
Stellen der „Dialoge könnten hierfür zum Beweiſe dienen. 
Sch ſchließe alfo vor dem Nichterftuhle meines EEE 

XXIV. 


66 Die Proceffe gegen Galileo Galilei 


daß ich nach der Entjcheivung der Obern die verbammte 
Lehre nicht feitgehalten habe, noch fie feithalte. 

Der Ingquifitor bezweifelt die Nichtigkeit diefer Vor— 
jtellung und fügt hinzu, wenn er fich nicht entjchließe, die 
Wahrheit zu geftehen, werde man mit den geeigneten 
Rechtsmitteln gegen ihn verfahren. Das ift die Tor— 
tur, denn dieſe war nicht Strafe, jondern das anerkannte 
Rechtsmittel, um die Wahrheit zu erforjchen. 

Galilei. Ich halte diefe Meinung des Kopernikus 
weder feft, noch habe ich an ihr feftgehalten, nachdem mir 
befohlen war, fie aufzugeben. Uebrigens habt ihr mich 
ja in Händen; thut mit mir, was euch gut dünkt. 

Es folgt eine wiederholte Mahnung, die Wahrheit zu 
jagen, und es fchließt das Protokoll wie folgt: 

Es wird ihm bebeutet, die Wahrheit zu fagen, font 
wird zur Tortur gejchritten werben (alias devenietur 
ad torturam). 

Er antwortete: Ich bin da, um Gehorfam zu leiften, 
und habe, wie gejagt, diefe Meinung nach der erfolgten 
Entſcheidung nicht feitgehalten. 

Und da in Ausführung des DecretS (in executionem 
decreti sc. vom 16. Juni) nicht anderes erlangt werden 
fonnte, wurde er nach gejchehener Unterfchrift nach feinem 
Plage (ad locum suum) zurüdgejchidt. 

Jo Galileo Galilej ho deposto come di sopra. 

Diefe Unterfchrift Galilei's ift, wie Gebler hervorhebt, 
im Unterſchiede von den andern Unterjchriften, mit auf- 
fallend zitternder Hand gejchrieben. Dies würde fich aus 
ver territio realis erflären. Iſt aber diefe in dem alias 
devenietur ad torturam zu finden? Mean hat darin nur 
die territio verbalis ſehen zu können gemeint und darum 
diefes Protokoll als im Wiberfpruche mit vem Decret vom 
16. Juni ftehend bezeichnet und das, obwol e8 am Schluffe 


vor ber Inguifition in Rom. 67 


heißt „in executionem decreti”. Wohlwill erflärt daher 
den ganzen Schluß für gefälfcht; er bat nicht weniger als 
30 Seiten hierüber gejchrieben; feine Darlegungen können 
überzeugend genannt werden. Wir heben nur das eine 
hervor, daß hier in dem Schluffe das impositum silen- 
tium sub iuramento fehlt, was fonft in allen mit Galilei 
angeftellten Verhören fteht. Diejes Protokoll hat die Aus- 
führung des examen de intentione nicht und doch redet 
nachher auch das Schlußurtheil von der Ausführung 
des examen rigorosum. Wir halten e8 indeß nicht für 
unmöglich, in dem devenietur ad torturam die territio 
realis zu finden. Man befand fich auf der Zortur und 
drohte num, fich unmittelbar zur Anwendung der Tortur 
zu wenven. Auch das „ich bin in euren Händen, macht 
mit mir, was ihr wollt“ läßt fchließen, daß man nella 
tortura war. ‘Das devenire wird bei Cicero z. B. in 
der Verbindung ad potestatem ejus gebracht, aljo in bie 
Gewalt jemandes gerathen. Man könnte darum devenire 
ad torturam überjegen, in die Tortur gerathen, d. h. bie 
fofortige Anwendung der Tortur. Allerdings den Eindrud 
wird man nicht los, daß hier am Schluffe des Protokolls 
nicht alles in Ordnung ift. Dahin gehört auch das „ad 
locum suum“. Man deutet e8 wol richtig auf das Haft- 
Iocal im Inquifitionsgebäupde. Db er aber in die frühern 
Gemächer zurüdgebracht oder ob er in den Kerker des 
Dffictums geworfen wurde, weiß man nicht. Das ad 
carcerem condemnandum in dem Edict vom 16. Juni 
läßt auf das letztere ſchließen. Sicher ift, daß er drei 
Tage im Gebäude der Inquiſition blieb. 

Am 22. Juni wurde Galilei in die Dominicanerfirche 
Santa-Maria jupra Minerva geführt und ihm bier vor 
ven Carbinälen der Inquifition und vielen andern Prä- 
Iaten fein Urtheil verfündet. Der Wortlaut deſſelben ift: 

5* 


68 Die Brocefje gegen Galileo Galilei 


„Bir (folgen bie zehn Namen) durch Gottes Barm- 
herzigfeit Garbinäle der heiligen Römifchen Kirche, 
Special-Inquifitoren des heiligen Apoftoliichen Stuhls 
für die Geſammtkirche. 

„Da du Galilei, Sohn des Vincenzo Galilei aus 
Florenz, 70 Jahre alt, im Jahre 1615 bei dieſem 
heiligen Offictum angezeigt wurbejt, daß du die faljche, 
vielverbreitete Lehre: die Sonne bilde das Centrum 
der Welt und fei unbeweglih, und die Erbe bewege 
fih in täglicher Umdrehung, als eine wahre feithalteit; 
ferner, daß du einige Schüler habejt, welche du in 
diefer Lehre unterrichteft, daß du mit einigen Mathe— 
matifern in Deutjchland über dieſe Lehre eine Corre— 
ſpondeuz unterhalteft; ferner, daß du einige Briefe er- 
ſcheinen ließeft mit vem Zitel «Leber die Sonnenfleden», 
in welchen bu dieſe Lehre als wahr erflärtejt; und 
weil du auf die Einwürfe, die dir zu wieberholten 
malen aus der Heiligen Schrift gemacht wurden, burch 
Erflärung der Heiligen Schrift nah Deinem Sinne 
antwortetejt; und da eine Abjchrift eines in Briefform 
verfaßten Schriftſtückes vorgelegt ward, welches fich als 
ein von dir an einen frühern Schüler (P. Caſtelli) 
gejchriebenes herausitelfte, und du darin der Hypotheſe 
des Kopernifus anhängend, einige Säge gegen ven 
wahren Sinn und die Autorität der Heiligen Schrift 
aufnimmit: 

„Aus allen diefen Gründen wollte das heilige Tri- 
bunal gegen die Ungehörigfeiten und Nachtheile, vie 
daraus entjpringen und zum Schaden bes heiligen 
Glaubens überhandnehmen, Fürjorge treffen, und es 
wurben im Auftrage unjers Herrn, des Papftes, und 
ihrer Eminenzen ber Herren Carbinäle dieſes oberften 
und allgemeinen Inquifitionsgerichtes von ben theolo- 


vor der Inguifition in Rom. 69 


giſchen Sachverftändigen die Behauptung von dem Still- 
jtehen der Sonne und der Bewegung der Erde fol- 
gendermaßen begutachtet: 


„Der Satz: die Sonne fei im Centrum ber Welt 
und ohne Bewegung von Drt zu Ort, ift abfurb und 
philoſophiſch falſch und formell ketzeriſch, weil er aus- 
drücklich der Heiligen Schrift widerfpricht. 

„Der Sat: die Erde ſei nicht das Centrum der 
Welt und nicht unbeweglich, fondern bewege fich, und 
zwar auch in täglicher Umprehung, iſt ebenfalls ab- 
jurd und philofophifch wie theologiich falſch und zum 
mindejten irrig im Glauben. 


„Da e8 uns indeffen gefiel, mit Milde gegen dich 
zu verfahren, fo wurde in der am 25. Februar 1616 
in Gegenwart unfers Herrn, des Papftes, gehaltenen 
Eongregation bejchloffen: Se. Eminenz ver Herr Car⸗ 
binal Bellarmin ſolle dir auftragen, die erwähnte faljche 
Lehre ganz aufzugeben und im Weigerungsfalle follte 
dir vom Commiſſar des heiligen Dfficiums der Be— 
fehl ertheilt werben, diefe Lehre zu verlaffen, weder 
andere darin zu unterrichten noch dieſelbe zu verthei- 
digen oder zu erörtern, und, fall® du dich bei dieſem 
Befehle nicht beruhigen würdeſt, folle man dich ein— 
ferfern. Behufs Ausführung dieſes Decretd wurde dir 
tags zuvor im Palafte Sr. Eminenz, des genannten 
Cardinals Bellarmin, nachdem du von ihm mit Milde 
ermahnt worden warft, von dem damaligen Herrn Com— 
mifjar des Heiligen Offictums in Gegenwart eines No- 
tar8 und vor Zeugen der Befehl ertheilt, daß du von 
der erwähnten falſchen Meinung gänzlich abjtehen mö- 
geft, und daß es bir in Zufunft nicht erlaubt jet, fie 
zu vertheidigen ober im irgendeiner Weile zu lehren, 


70 Die PBroceffe gegen Galileo Galilei 


weder mündlich noch jchriftlich; und al8 du Gehorfam 
verjprochen hatteſt, wurdeſt du entlafjen. 

„And damit eine jo verberbliche Lehre gänzlich aus— 
gerottet werde und nicht weiter zum großen Schaben 
ber fatholiihen Wahrheit um fich greife, erjchien von 
der heiligen Congregation des Inder ein Decret, durch 
welches jene Bücher verboten wurden, die von ber oben 
bezeichneten Lehre handeln, und bieje lettere wurde für 
falſch und der Heiligen, Gottes Wort enthaltenden 
Schrift als völlig widerſprechend erflärt. Und als end— 
lih im leßverfloffenen Iahre zu Florenz dieſes Buch 
erichien, dejjen Titel zeigte, daß du der Verfaſſer des- 
jelben ſeieſt, da zugleich die heilige Congregation er— 
fahren hatte, daß durch den Drud des vorgenannten 
Buches die faljche Lehre von der Bewegung der Erbe 
und dem Stillitehen der Sonne täglid mehr Boden 
gewinne: jo wurde dieſes Buch forgfältig unterjucht 
und in bemjelben offenbar eine Webertretung bes er- 
wähnten DBefehles, welcher dir ertheilt worden war, 
gefunden, weil bu in bdemjelben Buche die erwähnte, 
ſchon verdammte und in beiner Gegenwart als ver- 
dammt erklärte Lehre vertheidigt hatteft, wenngleich du 
in biefem Buche dich bemühteft, durch verjchiedene 
Nedeformen die Meinung zu erweden, fie ſei von bir 
als unentjchieden und nur wahrjcheinlich gelaffen, was 
gleichfalls ein grober Irrthum ift, da eine Lehre gewiß 
nicht wahrjcheinlich fein kann, die bereits als der Hei- 
ligen Schrift wiberfprechend befunden und erflärt wor- 
ben ijt. 

„Deshalb wurdeft du auf unfern Befehl vor biejes 
heilige Officium vorgeladen, wo du im DVerhör eiblich 
befannteft, das Buch fei von bir gefchrieben und in 
Drud gegeben worben. Ferner befannteft du, daß bu 


vor ber Inguifition in Rom. 71 


vor beiläufig zehn oder zwölf Jahren, nachdem dir 
ber mehrerwähnte Befehl ertheilt war, das ge- 
nannte Buch zu fchreiben begonnen habeft; ferner, daß 
du um Erlaubniß nachgefucht, vafjelbe zu veröffent- 
lichen, ohne benjenigen, die dir die Ermächtigung dazu 
gaben, anzuzeigen, daß dir befohlen worben fei, an 
biefer Lehre in Feiner Weiſe feitzuhalten, zu vertheidigen 
noch zu lehren. 

„Du befannteft gleichfalls, der Inhalt des genannten 
Buches fei an vielen Stellen fo verfaßt, daß der Leſer 
bie für die faljche Meinung vorgebrachten Gründe eher 
für beweisfräftig und überzeugend als für wiberlegbar 
halten könne; zu deiner Entfchuldigung machſt du gel- 
tend, bu jeieft dadurch in biefen deiner Abficht ganz 
fern gelegenen Fehler gerathen, weil bu das Bud in 
Form eines Zwiegeſprächs abgefaßt habeft, und auch 
verleitet von dem natürlichen Wohlgefallen, das jeder 
an Icharffinnigen Erfindungen habe und das uns ver- 
führe, finnreiche und probabel klingende Reden jelbjt zu 
Sunften von falſchen Behauptungen zu erbenfen, um 
geiftreicher zu erjcheinen, als e8 die andern Leute find. 

„Nachdem dir ein angemefjener Termin zur Ab- 
fafjung einer Schrift zu deiner Vertheibigung bewilligt 
worden war, brachteft du ein handjchriftliches Zeugniß 
vor, das du dir von Sr. Eminenz, bem Herrn Gar- 
dinal Bellarmin, verjchafft hatteft, um dich, wie bu 
jagteft, gegen die DVerleumdungen deiner Feinde zu 
vertheidigen, welche behaupteten, du habeſt abgejchworen 
und feieft von dem heiligen Officium mit einer Strafe 
belegt worden, In dieſem Zeugniß wird nun gefagt, 
daß du weder abgeſchworen habeft noch beftraft worden 
feieft, fondern man habe dir nur das von unferm Herrn, 
dem Papfte, gegebene und von der Congregation bes 


72 Die Proceffe gegen Salileo Galilei 


Inder veröffentlichte Decret zur Kenntniß gebracht, des 
Inhalts: dag die Lehre von der Bewegung der Erde 
und dem Stilfeftehen der Sonne der Heiligen Schrift 
zumwiberlaufe und deswegen nicht vertheidigt und nicht 
feftgehalten werben dürfe. Weil darin fomit feine Er- 
wähnung der zwei Bejtimmungen bes Befehls gejchteht, 
nämlich: fie auch nicht «zu lehren» und auf «feine 
irgendwelche Weife» zu vertheidigen und feftzuhalten, 
jo müfje man, fagjt du, annehmen, daß fie dir im 
Berlaufe von 14—16 Jahren aus dem Gedächtniß ent- 
fallen ſeien; infolge deſſen habeft du ven Befehl ver- 
ichwiegen, als du um die Druderlaubniß für das Buch 
nachjuchteft. Dies werde aber nicht von dir vorgebracht, 
um deinen Irrthum zu entjehuldigen, fondern damit 
er deinem eiteln Ehrgeiz, nicht deinem böſen Willen 
auf die Rechnung gejchrieben werde. Aber gerade dieſes 
Zeugniß, welches du zu deiner Vertheidigung bei— 
brachteit, hat deine Sache noch verjchlimmert, injofern 
e8 ausdrücklich darin heißt: die mehrerwähnte Lehre ei 
der Heiligen Schrift zuwider, und du trotzdem e8 wag— 
tejt, diejelbe zu erörtern, zu vertheibigen und als wahr- 
icheinlich darzuftellen. Ueberdies fpricht die von Dir 
mit Liften und Künften herausgelodte Erlaubniß Feines- 
wege zu beinen Gunſten, da bir dabei den bir aufer- 
legten Befehl nicht mittheilteft. 

„Beil e8 uns aber fchien, daß du in Betreff deiner 
innerften Willensmeinung, die dur bei der Abfaffung 
des Buches hegteft, nicht die volle Wahrheit gefagt habeft, 
fo erachteten wir e8 für nöthig, zum peinlichen Verhör 
gegen dich zu fchreiten, in welchem bu (ohne irgenb- 
wie den Dingen, welche du bereits befannt haft und 
ben Folgerungen, die fich hieraus ſchon zur Beurthei- 
fung deiner Gefinnung ergaben, Eintrag zu thun), 


vor ber Inquifition in Rom. 713 


fatholifch geantwortet haft. Deshalb find wir nach Ein- 
fihtnahme und reiflicher Erwägung des in deinem Pro- 
cefje Borliegenden und nachdem wir deine oben ange: 
führten Bekenntniſſe fowol wie beine Entjchulpigungen, 
furz alles das, was im Verlaufe des Rechtsganges zu 
unterjuchen war, pflichtmäßig in Betracht gezogen haben, 
zu nachfolgendem Schlußurtheil gelangt: 

„Unter Anrufung des allerheiligften Namens unfers 
Herrn Jeſu Chrifti, fowie der glorreichiten Mutter und 
unbefledten Jungfrau behaupten, verkünden, urtheilen 
und erklären wir durch diefes unfer Schlußurtheil, das 
wir, Recht fprechend, nach dem Rathe und dem Gut- 
achten der ehrwürdigen Lehrer der Theologie und ber 
Doctoren beider Rechte al8 unferer juriftiichen Bei— 
ftände, in biefem Schriftſtück niederlegen bezüglich der 
von uns verhandelten Frage und Fragen zwijchen Sr. 
Magnificenz Karl Sincerus, Dr. utriusque und Fiscal- 
Procurator dieſes heiligen Officiums eimerfeit3, und 
zwijchen dir Galileo Galilei andererſeits, der bu 
wegen bes hier vorliegenden, procefjualiich verhandelten 
Buches angeklagt, unterfucht, verhört und wie oben ge- 
ftändig warft, daß bu, vorgenannter Galilei, wegen 
deſſen, was fich im Procefje ergab und du felbjt wie 
oben gejtandeft, dich bei diefem heiligen Offictum ber 
Härefie jehr verdächtig gemacht habeft, d. h., daß du 
eine Lehre geglaubt und fejtgehalten haft, welche falſch 
und der Heiligen Schrift, vem Worte Gottes, zuwider 
ift, nämlich: die Sonne fei das Centrum des Weltalls 
und biejelbe bewege fich nicht von Oſten nach Weiten; 
dagegen bewege fich die Erde und fer nicht das Gen- 
trum der Welt, und es fünne dieſe Meinung für wahr- 
iheinlich gehalten und vertheidigt werden, nachdem fie 
doch als der Heiligen Schrift zumwiderlaufend befunden 


74 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


und erflärt worten war; daß du infolge deſſen in alle 
firchlichen Cenſuren und Strafen verfallen ſeieſt, welche 
burch die heiligen Kanones und andere allgemeine ober 
befondere päpftliche Decrete über derartige Schuldige 
ausgejprochen und verhängt find. Won biejen wollen 
wir dich freifprechen, fobald du mit aufrichtiger Ge— 
finnung und ungeheucheltem Glauben die vorgenannten 
Irrthümer und Kebereien, jowie jeden andern der ka— 
tholifchen und apoftolifchen Kirche zumwiderlaufenden Irr⸗ 
thum nach der Formel, wie fie dir von und wirb vor- 
gelegt werben, abjchwöreft, verwünfcheft und verfluchſt. 

„Damit aber dein jchiwerer und verberblicher Irrthum 
und Ungehorfam nicht ganz ungeftraft bleibe und bu 
in Zukunft vorfichtiger verfahreft, auch andern zum Bei— 
ſpiel dieneft und fie von vergleichen Vergehen zurüd- 
ſchreckeſt, ſo verordnen wir, daß das Buch «Dialog von 
Galileo Galileiv durch eine öffentliche Verordnung ver- 
boten werde, dich aber verurtheilen wir zu förmlicher 
Kerferhaft bei diefem heiligen Officium für eine nach 
unferm Ermefjen zu beſtimmende Zeitbauer und tragen 
bir als heilfame Buße auf, in den brei folgenven 
Sahren wöchentlich einmal die fieben Bußpfalmen zu 
beten, indem wir uns vorbehalten, die aufgeführten 
Strafen und Bußen zu ermäßigen, umzuändern, ganz 
oder theilweije aufzuheben. 


„So fagen, verfünden und erflären wir bie unter- 
zeichneten Cardinäle.“ 


Es folgen die Unterjchriften; doch haben nicht bie zehn 
in der Ueberſchrift genannten alle unterzeichnet, ſondern 
nur fieben, die drei fehlenden find die von Francesco 
Barberini, dem Neffen des Papftes, von Gaspar Borgia 
und von Laudovico Zacchia. Ehre diefen Männern! 


vor ber Inquifition in Rom. 75 


Daß dieſe Schlußſentenz der Inquifition nicht zum 
Ruhme gereicht, dafür ift der befte Beweis, daß fie fich 
nicht in den Driginalacten befindet. Im dieſen folgt auf 
das Protokoll vom 21. Juni eine Annotation des Papftes 
pom 30. Juni, nach welcher diefe Schlußtenvenz und bie 
(unten folgende) Abſchwörung Galilei's allen päpstlichen 
Nuntiaturen und Inquiſitoren mitgetheilt werden follte. 
(In den Acten finden ſich die Empfangsbejcheinigungen 
von 34 Biſchöfen und Inguifitoren italieniiher Städte, 
ſowie von fünf päpftlihen Nuntien in andern euro- 
päiſchen Ländern.) Diefe Schlußjentenzen pflegten in ber 
Mutterfprache des Angeklagten abgefaßt zu werben; troß 
der vielen Copien ift nur eine in italienischer Sprache 
auf uns gefommen. Ein wiffenfchaftlicher Gegner Gali- 
lei's, mit Namen Polacco, hat fie uns in feinem „Anti- 
copernicus Catholicus seu de terrae statione et de 
solis motu contra Systema Copernicanum catholicae 
assertiones auctore Giorgio Polacco” (Venedig 1644) 
überliefert. Sie gilt als Abdruck eines Originaldocuments. 
Sieben Jahre fpäter hat Riccioli in feinem „Almagestum 
novum” den lateinischen Text der Sentenz publicirt, alſo 
ber an bie nichtitalienifchen Inquifitoren verjandte. Auf 
den Mittheilungen dieſer beiden Männer beruht unfere 
Kenntniß der Schlußfentenz. Man hat demnach in Rom 
ipäter ohne Zweifel das Gefühl des Unrechtd gehabt. 
Sehen wir und das Urtheil noch etwas genauer an. 

Die Richter wiederholen zuerft nur die Anklagen und 
gehen über ven Einwurf des Angeflagten, daß ihm nicht noch 
ein ſpecielles Verbot gegeben, was er durch das Zeug- 
niß Bellarmin's erhärtet, mit Stillſchweigen hinweg, ja, 
ohne weiteres drehen fie das Zeugniß gegen ihn, da es 
ja die Kopernifanifche Lehre als ſchriftwidrig bezeichne und 
da er an biefer jchriftwidrigen Lehre feitgehalten. Das 


76 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


Protofoll vom 26. Februar 1616 wird ohne Gewifjens- 
bedenken als juriftifche Waffe gegen Galilei benutzt. Diefe 
Schlußſentenz entjcheivet aber auch die Torturfrage. Sie 
hebt ganz bejonvers hervor, daß gegen Galilei zum exa- 
men rigorosum gejchritten fei, wie e8 Durch das Decret 
vom 16. Juni angeordnet war, worüber aber das Pro- 
tofoll vom 21. Juli ſchnell Hinwegeilt. Nach den Vor- 
Ihriften des „Sacro Arsenale” muß eine;notarielle Auf- 
zeichnung darüber gemacht werben, in welcher Weije ver 
Angeklagte gefoltert, beziehungsweife geſchreckt, worüber er 
gefragt und wie er geantwortet habe. Das Protokoll 
vom 21. Juni bat darüber nichts; wohl aber die Schluß- 
jentenz. Sie hat das verrätheriiche catholice respondere. 
Galilei hat Fatholifch geantwortet, d. h. er hat jede ketze— 
riihe Gefinnung geleugnet. Werner enthält diefer Pafjus 
der Schlußſentenz eine Claufel, die nur auf die Tortur 
angewandt wurde. Wir jegen den Pafjus hierher: „Cum 
vero nobis videretur non esse a te integram veri- 
tatem pronunciatum circa tuam intentionem, iudi- 
cavimus necesse esse venire ad rigorosum examen 
tui, in quo (absque praeiudicio aliquo eorum quae 
tu confessus es et quae contra te deducta sunt 
supra circa dietam tuam intentionem) respondisti 
catholice.” 

Die Claufel „jedoch ohne irgenpwelches Präjudiz für 
bie von dir über deine befagte Intention befannten oder 
gegen dich bewiejenen Thatjachen‘ wurde nur in dem 
Berhör auf der Tortur angewendet. Das Verhör follte 
nämlich fich nicht auf Dinge erjtreden, deren der Ange- 
Hagte jchon vorher überführt oder deren er geftändig war. 
Der Gegenftand, über den das examen rigorosum ge- 
halten werden jollte, mußte ganz genau bezeichnet werden. 
Jede abjchweifende Befragung mußte daher unterbleiben; 


vor der Inguifition in Rom. 17 


aber auch jede nicht provocirte Neuerung des An- 
geflagten über andere Theile der Anflage als über vie, 
denen das examen rigorosum galt, follte verhindert 
oder in formeller Weiſe unwirfjam gemacht wer- 
den. Diefem Zwecke diente dieſe Claufel, und bie 
Richter orbneten fpeciell an, es jolle diefe Vernehmung 
bei jeder geeigneten Gelegenheit wiederholt reſp. als 
wiederholt betrachtet werden, ganz beſonders aber, wenn 
der Angeklagte entkleivet und angejchirrt unter der Folter- 
winde fteht und unmittelbar, bevor er in bie Höhe ge- 
zogen wird. Im der That, ein weifer Organismus! 
Die Anführung diefer Vernehmungsformel in der Schluf- 
jentenz beweijt zur Evidenz, daß man gegen Galilei zur 
Folter gejchritten ift. 

Hierzu kommt noch, daß die Schlußjentenz auf die 
Gutachten der juriftischen Confultoren Bezug nimmt. 
Diefe find aber nicht in den Acten. Man wird feine 
Gründe gehabt haben, fie zu entfernen. Daraus geht 
hervor, daß es mit der Behauptung Gebler's, daß alle 
weißen Folien zweite Blätter zu vorhandenen Schriftjtüden 
find, feine abfolute Nichtigkeit nicht haben fan. Man 
bat aus den Acten einzelne Stüde entfernt, dieſelben aljo 
gefälfcht. Mit den Gutachten der juriftischen Conſultoren 
hat man e8 unzweifelhaft gethan; es wird bei dieſem 
einen male nicht geblieben jein. 

Bemerkenswerth ift endlich noch die Gleichitellung 
des Herrn Chriftus und der glorreichiten Mutter und 
unbefledten Jungfrau Maria. Aus diefem lettern Prä- 
dicate ergibt fi wol, daß die Verfaſſer der Schluf- 
jentenz Jeſuiten waren, denn die Dominicaner waren 
heftige Gegner der Lehre von der immaculata con- 
ceptio. Erſt Pins IX. hat fie zum Dogma erhoben 


78 Die Brocefje gegen Galileo Galilei 


und damit den Dominicanern die bitterfte Kränfung zu— 
gefügt. 

So viel über dieſe Schlußſentenz. Kniend Hatte fie 
Galilei, ver körperlich und geiftig niedergebrüdte Greis, 
anhören müffen, kniend mußte er feine faljchen, unfinnt- 
gen, der Heiligen Schrift zumiderlaufenden Meinungen 
abſchwören, kniend mußte er ſchwören, nie wieder über 
biefen Gegenftand zu jchreiben. Die Abjehwörung 
lautet: 

„Ich, Galileo Galilei, Sohn des verftorbenen Vincenzo 
Galilei zu Florenz, 70 Jahre alt, perfönlich vor Gericht 
geftellt und Entend vor Ew. Eminenzen, ven hochwürdigſten 
Herren Cardinälen, Generalinquifitoren gegen bie Ketzerei 
in der ganzen chriftlichen Welt, die heiligen Evangelien 
vor Augen habend und mit den Händen fie berührend: 
ih ſchwöre, daß ich immer geglaubt habe, gegenwärtig 
glaube und mit Gottes Hülfe in Zukunft glauben werde 
alles, was vie heilige Fatholifche apoftolifche Römiſche 
Kirche fefthält, zu glauben vorftellt und Iehrt. Aber weil 
mir das heilige Officium von Rechts wegen durch Befehl 
aufgetragen hatte, daß ich jene faljche Meinung vollitändig 
aufgeben jolle, nach welcher die Sonne das Centrum ber 
Welt und unbeweglich, die Erde aber nicht Eentrum jei 
und fich bewege, und daß ich die genannte faljche Lehre 
weder fefthalten noch vertheidigen oder in irgendeiner 
Weiſe fchriftlih oder mündlich lehren dürfe; und weil 
ih, nachdem mir bebeutet worden war, bie genannte 
Lehre ftehe mit der Heiligen Schrift im Widerſpruch, 
ein Werf verfaßte und es druden ließ, in welchem ich 
diefe fchon verdammte Lehre erörtere und Gründe von 
großem Gewichte zu ihren Gunften vorbringe, ohne 
irgendeine abjchließende Löſung hinzuzufügen, jo bin ich 
demnach als der Härefie ſchwer verdächtig erachtet 


vor der Inquifition in Rom. 79 


worden, der Härefie nämlich, fejtgehalten und geglaubt 
zu haben, daß die Sonne das Centrum der Welt und 
unbeweglich, und die Erde nicht Centrum fet und fich 
bewege. 

„Da ih nun Ew. Eminenzen und jedem katholiſchen 
Chriften diefen mit Recht gegen mich gefaßten ftarfen 
Verdacht benehmen möchte, fo jchwöre ich ab, verwünſche 
und verfluche mit aufrichtigem Herzen und ungeheucheltem 
Glauben die genannten Irrthümer und Ketzereien, ſowie 
überhaupt jeden andern Irrthum und jede Sekte, welche 
der genannten heiligen Kirche feindlich ift; auch ſchwöre 
ich fürbderhin, weder mündlich noch jchriftlich ewas zu 
jagen oder zu behaupten, was auf neue einen ähnlichen 
Verdacht gegen mich weden fünnte; im Gegentheil werde 
ich, wenn ich einen Ketzer oder der Ketzerei Verdächtigen 
antreffen jollte, ihn diefem heiligen Officium oder dem 
Inquifitor und dem Bifchofe des Drts, an dem ich mich 
befinde, anzeigen. Außerdem ſchwöre und verfpreche 
ih, alle Bußen zu verrichten, welche mir dieſes hei- 
lige Gericht ſchon auferlegt hat oder noch auferlegen 
wird. Sollte es mir begegnen, daß ich irgendeinem 
diefer meiner Verfprechen, Protefte und Eidſchwüre — 
was Gott verhüten möge! — zuwiderhandle, fo unter- 
werfe ich mich allen Bußen und Strafen, welche durch 
bie heiligen Kanones und andere allgemeine und be— 
jondere kirchliche Verordnungen gegen berartige Uebel- 
thäter beftimmt und verhängt find: fo wahr mir Gott 
helfe und die heiligen Evangelien, die ich mit meinen 
Händen berühre. 

‚Sch, obengenannter Galileo Galilei, habe abgefchworen, 
das mir im Vorftehenden zur Pflicht Gemachte zu halten 
gelobt und zur Beglaubigung deſſen die vorliegende Ur- 
funde meiner Abſchwörung eigenhändig unterjchrieben und 


80 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


fie Wort vor Wort gefprochen zu Rom im Minerva- 
Klojter heute am 22. Juni 1633. 
„Ich, Galileo Galilei, habe dieſe Abſchwörung 
wie oben mit eigener Hand unterzeichnet.‘ 


Auch diefe Abſchwörung befindet fich nicht mehr in 
den Acten; fie ift natürlich durch die Gegner Galilei's 
auf uns gefommen und — durch die Ingquifition felbit. 
Hundert Jahre nach dem Tode Galilei's wurde zu Padua 
eine Gefammtausgabe der Werfe Galilei’8 veranftaltet; 
fie erſchien mit Firchlicher Drucderlaubnig. Den’, Dialogen‘ 
war aber das Urtheil gegen Galilei und jeine Abſchwörung 
porgedrudt. Eine Ausgabe in Bologna vom Jahre 1656 
enthält die „Dialoge überhaupt nicht. 


Schwerlich hat nach diefer Abſchwörung Galilei das 
e pur si muove gemurmelt. Die Sage hat e8 ihm an- 
gebichtet; biefe läßt ihn auch im Kerfer der Inguifition 
geblendet werden. Er wurde aber erjt in feinen aller- 
legten 2ebensjahren infolge eines Augenübels blind. Man 
ijt ficherlich nicht über die territio realis, über den erjten 
Grad der ZTortur, hinausgegangen. Dies wird noch be- 
jtätigt durch einen Brief von Galilei, in welchem er 
einem Freunde mittheilt, daß er am 15. Tage nach dem 
21. Juni vier italienifche Miglien ohne Beſchwer zu Fuß 
zurücgelegt. Das find nun zwar blos anderthalb Weg- 
jtunden, aber doch immerhin für einen in dieſer Weife 
niedergetretenen Greis eine anftänbige Leiſtung. Ueber— 
haupt wurde man unmittelbar nach der Fällung des Ur- 
theil8 etwas milder, beprohte aber fpäter den Gelehrten 
dann umd warn mit der ganzen Strenge der Inquifition, 
ſodaß er, völlig eingejchüchtert, faum wagte, Bejuche an— 
zunehmen. Im Ingquifitionsgebäude blieb er nach ber 
Abſchwörung blos einen Tag. Der Papit verwandelte 


vor ber Inguifition in Rom. 81 


die Gefängnißitrafe in eine freiere Haft in der toscani- 
ſchen Gejandtichaft. Wir halten das indeß für einen 
übermüthigen Zug der päpftlichen Diplomatie. Der Ge- 
jandte wurde fo zum Gefangenwärter des heiligen Offi- 
ciums. Nach dem Willen feines Großherzogs reichte Ga- 
filei ein Gnadengeſuch ein; es wurde ihm gejtattet, ber 
Einladung jeines Freundes, des Erzbiichofs von Siena, 
Ascanio Piccolomini, zu folgen, jedoch nur unter der Be— 
dingung, daß er das Haus feines Gajtfreundes nicht ver- 
laſſe. Hier blieb er vom Juli bi8 December. Auf feine 
erneute Bitte erhielt er die Erlaubnif, in einer von ihm 
gemietheten Villa, im Kirchipiele Arcetri bei Florenz ge- 
legen, fich aufzuhalten, wenn er dort niemand einlade und 
empfange. Weiter aber erftredte ſich die Milde des 
Papjtes nicht. Die legten neum Jahre feines Lebens war 
Galilei ein Halbgefangener, unter der fteten Aufficht des 
Inguifitors von Florenz ftehend. Nur fein Sohn und 
jeine beiden Töchter, die Nonnen im Klofter San-Matteo 
zu Arcetri waren, weshalb er wol hierher wollte, durften 
zu ihm. Leider jtarb die ältefte Tochter, fein Liebling, 
bald darauf. Gern wäre er nun nach Florenz überge- 
jiedelt: er reichte ein Gejuch ein, weil er dort den Arzt 
beffer zur Hand habe. Die Antwort war, er möge der— 
artige Gejuche unterlafjen, jonjt werde man ihn nach 
Rom, in den wirklichen Kerfer des heiligen Officiums, 
zurüdbringen. Jeder, der das Leben und bie menjchliche 
Natur fennt, wird Galilei beipflichten, wenn er im Sabre 
1636 an einen Freund fchreibt: „Sch erhoffe mir Feinerlei 
Erleichterung, und zwar, weil ich Fein Verbrechen be- 
gangen habe. Ich dürfte eriwarten, Verzeihung und Be— 
gnadigung zu erlangen, wenn ich gefehlt hätte; denn 
Fehler find e8, welche ven Fürften zur Ausübung von 
Milde und Gnade Anlaß geben können, während e8 fich 
XXIV, 6 


82 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


gegenüber einem unschuldig Verurtheilten geziemt, bie 
ganze Strenge aufrecht zu erhalten, um zu zeigen, baß 
man dem Rechte gemäß vorgegangen ſei.“ 

Nur zeitweilig durfte Galilei während des Jahres 1638 
in Florenz wohnen, nachdem jein Gefundheitszuftand ein 
derartiger geworden, daß er jteter ärztlicher Hülfe be- 
bürftig war. Berichtete doch der florentiniiche Inquifitor 
nah Rom, er wäre jo heruntergefommen, daß er mehr 
einem Leichnam als einem lebenden Menjchen ähnlich jähe. 
Auch hatte man ed in Kom mit Wohlgefallen bemerft, 
daß er eine Ehrengabe ter Generaljtaaten von Holland, 
eine prächtige goldene Halskette, welche ihm pie deutſchen 
Kaufleute zu Florenz überbrachten, zurüdgewiefen hatte. 
Seine Furcht vor der Inguifition war begründet; ber 
Inguifitor meldete hierüber nah Rom: „Galilei hat fich 
ftandhaft geweigert, die Sachen anzunehmen, jowol ven 
Brief wie die Gejchenfe, — fei e8 aus Angft, dabei 
irgendwelche Gefahr zu laufen, in Anbetracht der War- 
nung, bie ich ihm fofort bei der erjten Nachricht der an— 
geblich bevorjtehenden Ankunft eines Abgejandten ertheilte 
— ſei e8, weil er wirklich feine Methode der geographi- 
ſchen Längenmeſſung auf dem Meere nicht vervollſtändigen 
fonnte und fich auch nicht mehr in ber Lage befinbet, 
dies nachträglich zu thun, da er nun ganz blind und fein 
Kopf bereiter für die Würmer als für mathematische 
Studien iſt.“ Dieſe Nachgiebigfeit verjchaffte ihm einige 
Erleichterung; kaum hatte fich jedoch fein Zuftand etwas 
gebejjert, jo mußte er wieder nach Arcetri zurüd. Doc 
wurde ihm nun ein erweiterterer Umgang geftattet. Hier, 
in Arcetri, hat er feinen größten Schüler, Zonicelli, ge- 
bildet. Es ift jtaunenswerth, wieviel er noch unter dieſen 
unjagbar traurigen Umjtänden gearbeitet hat. Hier hat 
er jeine „Geſpräche über Mechanik’ gejchrieben, indem er 


vor der Inguifition in Rom. 83 


die Geſetze des Falles entwickelte. Nach feinen Anleitungen 
hat Hier fein Sohn das Modell zur erjten Penveluhr 
ausgeführt. 

Der Tod brachte ihm Befreiung aus der Gefangen- 
ſchaft, brachte ihm Erlöfung von feinen entjetzlichen förper- 
lichen Leiden. Galilei ftarb, aufs treuefte von jeiner 
zweiten Tochter gepflegt, am 7. Sanuar 1642. Die In— 
quifition aber führte noch mit dem Todten Krieg. ALS 
ein noch unter ver Zucht des heiligen Officiums jtehender 
Keber durfte er nicht in. geweihter Erde bejtattet werben. 
Darum blieb ihm, dem größten Sohne feiner Familie, 
die Familiengruft verfchloffen; ohne alle Feierlichkeit wurde 
er in einem Nebenraume der Kirche Santa-Eroce zu 
Florenz begraben. Weder Grabmal noch Injchrift wur— 
den geduldet. Das folgende Iahrhundert hat auch Das 
nachgeholt. As man im Jahre 1734 Galilei in Florenz 
ein Grabmal errichten wollte, berichtete der Inquiſitor 
dies nah Rom. Am 16. Juni beſchloß das Heilige Df- 
ficium in feierlicher Sigung die Genehmigung, nachdem 
zuvor die theologifchen Beiräthe gehört worden waren, 
Die Acten im Procefje Galilei jchliegen mit folgender 
Entjcheidung *): 

Die Herren Conjultoren waren der Meinung, e8 
jolle dem Pater Inquifitor gefchrieben werben, er möchte 
der Errichtung eines Galilei-Denkmals fein Hinderniß in 
den Weg legen, möchte aber auch eifrig Sorge tragen, 
daß ihm die Infchrift mitgetheilt werde, welche auf dem 
genannten Denkmal angebracht werden foll, und möchte 
dieje der heiligen Kongregation berichten, damit biefe noch 


*) Die Eminenzen billigten das Botum der Herren Conful- 
toren. 


6* 


84 Die Brocefje gegen Galileo Galilei 


vor der Errichtung die ihr angemefjen erjcheinenden Be— 
fehle ertheilen könne. 

So entbehrt das lange Actenſtück wenigſtens nicht 
des verſöhnenden Abjchluffes. 

Am 12. März 1737 wurden unter Betheiligung aller 
Profefforen der Univerfität und vieler Gelehrten Italiens 
mit großer Feierlichkeit und Firchlicher Pracht die Ueber— 
reſte Galilei’8 aus ihrer bisherigen Ruheſtätte in das 
neue Maufoleum der Kirche Santa-Croce übertragen. 
Urban VIII. bat wahrjcheinlich fein Denkmal früher er- 
halten; fein Name wird wiljenfchaftlichen Forjchern und 
den römischen Klerifern ſtets befannt fein; der Name 
Galilei’8 aber erhellt, nach dem Zeugniffe Urban’s, vie 
Erde. Seine Erfindungen und Entdedungen haben ber 
Naturwiffenichaft ungeahnte Impulfe gegeben. Auf diejen 
beruht fein Ruhm, nicht auf feiner Vertheidigung ver 
Kopernifanishen Weltanjchauung. Dieſe Vertheidigung 
war nichts weniger als muth- und charaktervoll; ebenjo 
gewiß aber ift, daß Bosheit und Rachſucht die Haupt- 
rolle in dem Procefje gegen ihn geipielt haben, denn Ga- 
lilei hing feiner Kirche in treuer Liebe an. Erbat er ſich 
doch in feiner Gefangenschaft die Gnade, wenigjtens an 
den hohen Feiertagen in der benachbarten Kirche die Meffe 
hören zu dürfen! Und ein folder Mann ift bis aufs 
Blut gepeinigt worden! Welch ein Schade baburch ver 
Religion überhaupt zugefügt worden ijt, das entzieht fich 
alter menjchlichen Berechnung. Die „‚‚welterrettende 
Wirkſamkeit der Ingquifition ift in Wahrheit eine welt- 
vernichtende, denn fie hat das Fundament aller Welt: 
ordnung, den Glauben, im Intereffe der Eirchlichen Herr- 
ſchaft zerſtört. Der Atheismus in den romanifchen 
Ländern ift dafür Beweis genug. 

Die Männer der Naturwifjenichaft, ver exacten For— 


vor der Inguifition in Rom. 85 


ſchung, aber mögen nie vergefjen, was fie ber Kirche, der 
Reformation zu verdanken haben. Sie mögen ihr Werk 
treiben und die Geheimniffe der erjchaffenen Welt er- 
gründen; fie mögen fich aber hüten, überzugreifen in bie 
Welt der Erlöfung, ver Gnade; fie möchten fonjt den Aſt 
abjägen, auf dem fie fien. Die theologica regenitorum 
überläßt ihnen willig das Gebiet der Natur, kann es 
ihnen um jo mehr überlaffen, je mehr fie wurzelt in ber 
Dffenbarung, die in Chriſto Jeſu geworben. Die wahre 
Wiffenichaft führt nie von Gott weg, fondern ſtets zu 
ihm hin. 


Herzog Iohann Friedrid von Weimar. 
(Proceß wegen Magie.) 
1627 und 1628. 


Die traurigfte Epoche deutſcher Gefchichte ift die Zeit 
des Dreißigjährigen Krieges, jene Zeit, da die Hand des 
Bruders gegen den Bruder erhoben war und fchonungs- 
(08 in immerfort fich fteigernder rauher und wüſter Weije 
die vorhandene Cultur und ihre fpärlich entwidelten Reime 
zeritört wurden — ad majorem dei gloriam! ... Un 
ſchätzbare Güter wurden vernichtet, der geiftige, fittliche 
und materielle Fortjchritt wurde auf faft zwei Sahrhun- 
derte hinaus gehinvert, die politische Ohnmacht herbei- 
geführt, die Bedeutung der Nation herabgedrückt, ihre 
Kraft zeriplittert, ihr Ehrgefühl abgeftumpft. Auf dem 
eigenen Boden ſah man gleichgültig den Fremden herr- 
ihen, ja man rief ihn fogar herein, um den Stammes- 
genojjen niederzumwerfen. In jener Zeit der Verrohung 
und der Verirrung ber Geifter blühte ver thörichtite Aber- 
glaube. Man nahm an, daß Deren und Zauberer bie 
ihwere Noth der Zeit über die Menjchen gebracht hätten, 
daß man Reichthum, Ehre und Macht, auf dem Wege 


e Magie, ver Aftrologie und Alchemie ficher erreichen 
önne. 


Herzog Johann Friedrih von Weimar. 87 


Nicht nur die gedanfenlofe Menge, auch erlejene Geifter 
verfielen biefem Wahne Man fennt die Studien, die 
ber gelehrte Habsburger auf dem Kaiſerthrone, Rudolf IL, 
machte, al8 er in weltvergeffener Stille mit Tycho de Brahe 
am prager Hradſchin den Stein der Weifen fuchte, man 
weiß, daß der gewaltige Wallenftein das Geſchick aus den 
Sternen lefen und feine Weifungen von ihnen empfangen 
wollte. Ein Opfer diefes finſtern Hanges war auch ein 
reichbegabter Sproß tes herzoglich jachjen- weimarijchen 
Haufes, der einem tragiſchen Schidjale verfiel, weil er 
unvorfichtig mit dem Teuer fpielte. 

Herzog Zohann von Sachſen (1570— 1605), ber 
Stammvater ded neuen weimarifchen Haufes, war in 
jungen Jahren geftorben und hatte feiner Gemahlin, der 
Fürftin Dorothea Maria, der Mutter der Erneftiner, die 
jchwierige Aufgabe Hinterlafjen, die unmündigen Söhne 
zu erziehen. Der äftefte, Johann Ernſt, übernahm, ſelbſt 
noch ein Süngling, 1615 die Verwaltung des Herzogthums 
im eigenen und im Namen jeiner unmündigen Brüder. 
Wenige Jahre danach, 1617, ftarb auch die Mutter, vie 
vermittelnde, ausgleichende Frau, deren liebevoller Zu- 
ſpruch zwijchen den ungleich gearteten, jungen, heigblütigen 
Fürjtenföhnen die Eintracht nothoürftig erhalten hatte. 
Unter den Brüdern entjtanden Mishelligfeiten, die fich 
fteigerten bi8 zu offenem Zerwürfniß. Inſonderheit ber 
fünfte Sohn des Herzogs Yohann, der im Jahre 1600 
zu Altenburg geborene Herzog Johann Friedrich, ein 
mistrauifcher reizbarer junger Herr, fühlte fich zurüd- 
gejegt. Er hielt fich für den geijtig Befähigtiten jeiner 
Brüder, hatte eine ausgejprochene Neigung für die Wiffen- 
Schaft und verbrachte viele Stunden des Tages mit Lek— 
türe. Allein gerade ihm war die claffiiche Bildung, die 
feine ältern Brüder erhalten hatten, nicht zutheil geworben. 


88 Herzog Iohann Friedbrid von Weimar. 


Er erfannte nur zu gut die Lücken feines Wiſſens, Tegte 
aber den Mangel feiner Erziehung einer abfichtlichen Ver— 
nachläffigung von feiten feines älteften Bruders zur Laſt. 
Er entwidelte einen wahren Feuereifer, um durch jelbit- 
jtändiges Studium das Verſäumte nachzuholen. Da aber 
‚bie leitende Hand fehlte, gerieth er bald im eine unge: 
junde myſtiſche Richtung, die fich verhängnißvoll für ihn 
geftalten jollte. Es z0g ihn zur Magie, zur Schwarzen 
Kunft. Ein italienischer Alchemift, der während einiger 
Zeit am Hofe zu Weimar lebte, erwedte bei dem fchon 
vorher zu unfruchtbaren Grübeleien neigenden Prinzen 
die Luft, durch geheimnißvolle Künfte in den Beſitz des 
Steined der Weijen zu gelangen. Wer den Stein ber 
Weiſen befaß, konnte nach dem bamaligen Glauben ver 
Menichen vie Herzen der jchönften, tugendſamſten Frauen 
zu heißer Liebe entzünden. Er ward hieb- und jtichfeit, 
fonnte fich unfichtbar machen, alle Gebrechen und Kranf- 
heiten heilen, fein Leben bis in das Unendliche verlängern 
und e8 in ewiger Jugend verbringen. 

Herzog Johann Friedrich lebte indeß nicht blos feinen 
Studien, er verjtand auch den Degen zu führen und 
hoffte in der wilden, blutigen Zeit fih Ehre und Ruhm 
zu erwerben. Das Vorbild war der eigene Bruder, Her: 
zog Bernhard von Weimar, der jeinen Namen mit dem 
Schwerte in das Buch der Gefchichte in großen, unaus- 
Löfchbaren Zügen eingezeichnet hat. Im Jahre 1621 nahm 
Herzog Johann Friedrich, von einer Reife nach Italien 
heimgefehrt, bei feinem Bruder, dem Herzog Wilhelm, 
Kriegsdienſte. Diefer hatte e8 unternommen, für den 
Markgrafen Georg Trievrih von Baden-Durlach ein 
Heer zu werben. In der Schlacht bei Wimpfen focht 
der junge Prinz mit Auszeichnung. Nach der Verabichie- 
bung ber Truppen begab er fich nach Frankreich und in 


Herzog Iohann Friebrid von Weimar. 89 


die Niederlande, ſodann im Vereine mit dem vor— 
gedachten Herzog Wilhelm zu dem Herzog Chriftian 
pen Braunfchweig und nahm an der Schlacht bet 
Stadtlohn (1623) theil. Dann trat er in bänijche 
Dienfte, zugleich mit feinen Brüdern Johann Ernit, 
bem älteften, ver Generalsrang bekleidete, und Bern 
hard, dem jüngften, ver gleich ihm vie Stelle eines 
Dberften zugewieſen erhielt. 

Die beiden Brüder, Johann Ernjt und Johann Frieb- 
rich, ftanden fich ſchon damals feindjelig gegenüber. Der 
jüngere Elagte ven ältern an, daß er ſchuld fei an fei- 
ner lüdenhaften Ausbildung; biefer aber bejchwerte fich 
mit vollem Rechte über feines Bruders Mangel an Sub- 
orbination und erklärte deſſen Leidenfchaft für die heim— 
liche Kunſt der Magie für eine eined Fürſten unwürdige 
Berirrung. Johann Friedrich fekte auch im Lager das 
Studium der Magie fort. Er ftand infolge deſſen bei 
Dffizieren und Soldaten in dem Rufe eines Herenmeifters 
und Teufelsbeſchwörers. Am 20. September 1625 ent- 
ſpann fich beim Würfelipiele zwifchen dem Herzog Johann 
Sriedrih und dem Pfalzgrafen Chrijtian von Birkenfeld 
im Hauptquartier ver bänifchen Truppen zu Nienburg 
an ber Wefer ein Streit. König Chriftian IV. befahl dem 
Herzog Johann Ernjt, ald dem vorgefegten General ver 
beiven Prinzen, feinem Bruder den Degen abzuforbern. 
Diejer verweigerte ven Gehorfam. Nicht der König, der 
eigene Bruder wolle ihn vemüthigen. Er habe ven Degen 
jtet8 mit Ehre geführt, nur derjenige, der ihm die Schwert- 
band abhaue, jolle ihm den Degen nehmen. Vergeblich 
berief fich Herzog Johann Ernſt auf des Königs Befehl. 
Da fein Bruder trogig Widerftand leiftete, übermwältigte er 
mit Beihülfe zweier Offiziere den Wiperfpenjtigen, nahm 
ihm perjönlich ven Degen ab und brachte ihn in fichern 


90 Herzog Johann Friedrih von Weimar. 


Gewahrjam. Das Kriegsgefek beftraft aber eine folche 
Widerſetzlichkeit als Meuterei. 

Der Dänenkönig verlangte von feinem meuteriſchen 
Dffizier eine Erklärung. Diefer gab an: Bei allem 
ichuldigen NRejpect vor des Könige Majeftät, der er gewiß 
nie zu nahe treten wolle, habe er doch gegen einen Affront, 
wie man ihm angethan, vepreciren müffen. Er ſei nicht 
wie ein Cavalier aus fürftlichem Geblüt, fondern wie ein 
Hund behandelt worden. Nicht gegen Sr. Majeftät Be- 
fehl, nur dagegen habe er fich verbefendirt, fein Edelmann 
dürfe ungeftraft fich Gleiches bieten lajjen. Es ſei um jo 
jchimpflicher, weil ein Bruder fich jo weit gegen ben an— 
bern vergeffen habe, Dies fei doppelte Schmach und 
Schande. Wolle der König feinen Tod, jo möge er ihm 
den Kopf vor die Füße legen lafjen, der Kriegsherr ge- 
biete wol über fein Leben, nicht aber über feine fürftliche 
Ehre und Reputation. 

König Chriftian erkannte aus dieſer Antivort bie 
eigentliche Triebfeder des Widerſtandes. Er entjchied, daß 
der Berhaftete nicht vor das Kriegsgericht geftellt werben 
jolle, venn e8 handle ſich um einen Familienzwiſt, deſſen 
Beurtheilung ausschließlich ver Gefammtheit der ſächſiſchen 
Fürften zujtehe. Den Bericht, den der König anorbnete, 
erjtattete Herzog Johann Ernft in einer für feinen Bru- 
der abfälligen und deſſen Sache abträglichen Art. Er 
forderte zum Einjchreiten wider den unbotmäßigen Herzog 
Sohann Friedvrih auf, deifen Gebaren der Ehre des 
hochfürftlichen Haufes zumwiderlaufe. 

Mittlerweile befand ſich Herzog Johann Friedrich 
unter der Obhut feines Anflägers im Lager zu Nienburg 
in ftrenger Haft. Wiederholte Verhöre wurden mit ihm 
abgehalten. Da der eine Hauptpumft der Anklage: Wider—⸗ 
fetglichfeit gegen den Befehl des Kriegsherrn, durch die 


Herzog Johann Friedrih von Weimar. 91 


Entjcheidung König Chriftian’s hinfällig geworben war, 
juchte man das Procefverfahren auszudehnen und jchon 
damals auf die Anjchuldigung zu erftreden: der Gefangene 
halte e8 mit dem „böjen Feinde”. Er wurde förmlich 
darüber vernommen: ob e8 wahr fei, daß er feine Seele 
dem Zeufel verjchrieben habe? — Zuerſt wies Johann 
Sriedrich diefe Zumuthung mit Entrüftung von fih. Als 
man aber immer wieder darauf zurüdfam, und feine Ber- 
bindung mit dem Satan als öffentliches Geheimniß be- 
zeichnete, das im Lager von Mund zu Mund gegangen 
jei, da lächelte er höhnisch und begann mit feiner Kennt- 
niß der Schwarzen Kunft zu prahlen. Im richtiger Er- 
wägung der Wirkung drehte er ven Spieß um und drohte 
jeinen Brüdern, daß er fich, falls fie ihn nicht Löften, mit 
Hülfe feines hölliſchen Kumpans befreien, dann aber 
fürchterliche Rache an ihnen nehmen werde. 

Das Mittel Half. Nach einigen Verzögerungen wurde 
Herzog Iohann Friedrich aus der Haft entlajfen. Er 
reichte jofort feinen Abfchied ein und ließ feine beiven 
Brüder, die mit ihm gedient hatten, Johann Ernſt und 
Bernhard, zum Zweikampf fordern. Beide lehnten es ab, 
jih ihm zum Kampfe mit tödlichen Waffen zu jtellen. 
Db die Ablehnung des Zweifampfes erfolgte, weil fie ihre 
Degen nicht mit dem eigenen Bruder freuzen wollten 
oder weil fie Furcht hatten vor feinen hölliſchen Praftifen, 
wiffen wir nicht. Herzog Johann Friedrich jah fich jo- 
mit außer Stande, feiner beleidigten Ehre ritterliche Ge- 
nugthuung zu fchaffen. Grollend zog er fich auf feine 
Befitungen im Thüringerwalde zurüd. Es waren dies 
die Herrichaften Ichtershaufen, Tambuchshof, Georgenthal 
und Reinhardsbrunn. Nah Weimar fam er nur zu— 
weilen des Nachts und verließ die Stadt vor Tagesgrauen, 
um mit feinem feiner Brüder perjönlich zufammenzutreffen. 


92 Herzog Johann Friedrid von Weimar. 


In dieſer Abgefchloffenheit reifte in ihm der Vorſatz, ſich 
gänzlih von feiner Sippe loszuſagen. Er ließ feinen 
Brüdern den förmlichen Vorjchlag machen, daß er allen 
Anfprücen auf fein väterliches Erbe entfagen wolle, wenn 
man ihm eine noch zu vereinbarende nicht allzu hoch ge- 
griffene Geldabfindung zufichern wollte. Herzog Johann 
Ernſt griff diefen Antrag mit Freuden auf und legte ihn 
dem Samilienrathe vor. Allein Herzog Wilhelm opponirte. 
Er wollte Frieden ftiften zwijchen ven ftreitenden Brüdern. 
Es gelang ihm dies indeß nur infoweit, als die Herzoge 
Sohann Friedrich und Bernhard fich verfühnten. Johann 
Ernft dagegen blieb allen Vorftellungen gegenüber unzu> 
gänglih. Er ftarb, ohne daß der Bruderzwiſt beigelegt 
worden war. 

Johann Friedrich zog fich mit der Zeit immer mehr 
zurüd von allen Menſchen. Er fuchte die Einjamteit, 
verfehrte mit niemand, ſah ſogar feine Dienerjchaft nur, 
joweit e8 unumgänglich nothwendig war, und jchloß fich 
am liebften tagelang ein, mit feinen Büchern, Retorten 
und Phiolen. Tag und Nacht glühte die Eſſe, Tag und 
Nacht brodelte und fochte in den Schmelztiegeln eine ver- 
dächtige Maſſe. Wenn der Herzog nothgedrungen mit 
jremden Perfonen zuſammenkam, blieb er mismuthig und 
zerjtreut, entweder war er äußerſt wortfarg oder er 
braufte ohne fichtlichen Anlaß auf. Die faum verſtumm— 
ten Gerüchte über die verbammliche Urfache feines ge— 
heimnißvollen Treibens Tebten wieder auf. In immer 
weitere Kreife drang fein Ruf als Geifterbejchwörer, ber 
jeine Scele an Satanas dahingegeben habe, um bafür 
Macht und Reichthum einzutaufchen. Scheu wichen bie 
Bauern, denen er auf jeinen einfamen Ritter begegnete, 
bei jeinem Anbli zur Seite, und in Weimar waren über 


Herzog Johann Friedrid von Weimar. 93 


ihn die unheimlichiten Sagen im Schwange. Man mied 
und fürchtete den jungen Fürften. 

Seine Brüder glaubten nicht länger fchweigen zu 
dürfen. Der Berruf, der ihn, einen Prinzen ihres Haus 
jes, traf, fiel gewiffermaßen auch auf fie zurüd. Sie er- 
wogen, wie fie dem Treiben des verbitterten Sonberlings 
jteuern fönnten, und famen auf den Gedanken, ihm die 
Nachricht von einem fenntnigreichen Adepten in den Nie- 
berlanden zufommen zu laſſen. Kaum hatte Johann 
Friedrich dieſe Botjchaft erhalten, fo verließ er fein jtilles 
thüringifches Aſyl, um den berühmten Mann aufzufuchen 
und perſönlich fennen zu lernen. 

Er zog nidt aus wie ein Fürſt, fondern wie 
ein einfacher Edelmann. Sein Gefolge beftand aus 
etlichen Dienern. Er mußte fich einjchränfen, denn 
feine Einfünfte waren gering. Er bezog 7000 Gold— 
gulden jährlih, und von dieſer bejcheidenen Summe 
verjchlangen die alchemiftifchen Experimente mehr als 
die Hälfte. 

Im Frühling 1626 ritt er durch Weftfalen und mollte 
von dort weiter in die Niederlande. Am 27. April fiel 
er bei LXippftabt in die Hände von fpanifchen Soldaten, 
bie dort im Hinterhalte lagen. Er weigerte fich zuerft, 
jeinen Namen zu nennen. Auf eindringliches Befragen 
gab er an, ein niederländifcher Rittmeiſter zu fein, der 
den Dienjt verlafjen habe und in feine Heimat nad) Har- 
lem zurüd wolle. Dieje unbeſtimmten Angaben erregten 
Verdacht. Die Spanier "hielten ihn für einen Spion 
und richteten demzufolge ihre Behandlung feiner Perſon 
ein. Diefe war begreiflicherweije rejpectlo8 genug. Da 
empörte fich jein fürjtliches Blut, und als ein Diener des 
Commandanten von Lippftabt ihm nicht mit gebührender 
Achtung begegnete, jtieß er ihm feinen Dolch in bie 


94 Herzog Iohann Friedrih von Weimar. 


Rippen. Nun drobten die Spanier kurzen Proceß mit ihm 
zu machen. Er jah fich gemöthigt, Namen und Rang zu 
entbhüllen. Seine Brüder beftätigten feine Angaben und 
er ward freigelaffen, freilich erſt nach breimonatlicher 
Gefangenschaft. Die Reifeluft war ihm vergangen. Er 
fehrte in die Heimat auf fein Schloß in Schtershaufen 
zurüd. 

Mit feinen Brüdern in offenfundigem Zwieſpalt, mit 
aller Welt zerfallen, unzufrieden mit fich jelbft, weil feine 
Erperimente mislangen und weil er ten Stein der Wei- 
jen durchaus nicht zu finden vermochte, laujchte er um jo 
begieriger den Nachrichten, die ab und zu von glüclichern 
Adepten zu ihm gelangten. Die bejchauliche Ruhe daheim 
wurde ihn läſtig. Zu Anfang des Jahres 1627 verlieh er 
jene Burg abermals und wandte fich nach Niederfachien. 
Er erreichte Nordheim, welches von den Truppen des 
Feldmarſchalls Tilly belagert wurde. Dort fiel er den Bor- 
poften in die Hände. Auch diesmal kam es zwifchen ihm 
und den Soldaten der Liga, denen er Auskunft über feine 
Perfon und feinen Reifezwed verweigerte, zu gereizten 
Auseinanderfegungen. Die Soldaten nahmen ihn troß 
tapferer Gegenwehr gefangen und brachten ihn zunächit 
auf die Feſte Erichsburg. Als fein Rang und Stand 
befannt geworben und ver Kurfürft von Sachen als das 
Haupt des Gefammthaufes von dem Vorfalle verftändigt 
worden war, wurde der Herzog nad Oldisleben an der 
Unftrut abgeführt. Dort aber blieb er unter ftrenger 
Bewachung. 

Herzog Wilhelm veranlaßte, daß ſein unruhiger Bru— 
der zu Oldisleben, in den Hallen eines ehemaligen Kloſters, 
welches in den Beſitz der herzoglich ſachſen-erneſtiniſchen 
Linie gelangt war, feſtgehalten werden ſollte. Es ſcheint, 
daß die Brüder nunmehr endgültig von ſeiner Eigenſchaft 


Herzog Johann Friedrig von Weimar. 95 


al® Zauberer und Bejeffener überzeugt waren, denn von 
da an ift ihr ganzes Beſtreben darauf gerichtet, ihn des 
Umganges mit dem Böfen zu überführen. In jenem 
alten Klofter wurde ein förmlicher Kerfer eigens für ihn 
eingerichtet. Die ftrenge Bewachung verwandelte fich in 
enge Haft. Man fchien auzunehmen, daß man ihn da— 
durch vor der Zujammenfunft mit dem Satanas jchügen 
fönnte. Unter dem Commando eines Hauptmannes ftan- 
ven dreißig unerjchrodene, verläßliche und ungewöhnlich 
fräftige Neiterfnechte, die mit berechneter Sorgfalt aus— 
gejucht und für ihren beſondern Dienſt vereidigt wurden. 
Ihre Aufgabe war, den Kerker zu bewachen. Neun weis 
marifche Bürger wurden zur Aufficht über die Perjon 
und zur Bedienung des Gefangenen berufen. Auch 
biefe hatte man eigens in Eid und Pflicht genommen. 
Sie mußten Geheimhaltung alles deſſen geloben, was 
fie Verbächtiges und Gottloje8 in dem Benehmen des 
unglüdlichen Fürften beobachten würden, und waren 
zugleich ermächtigt, im Talle des Widerjtandes mit 
der Anwendung der jchärfjten Zwangsmittel und durch 
Gewalt den ertheilten Anordnungen Gehorfam und Er- 
füllung zu fichern. In der Wand des an das Zimmer 
des Herzogs jtoßenden Gemaches war eine Deffnung 
angebracht, durch die er Tag und Nacht beobachtet 
werden fonnte. 

Dem Gefangenen wurde mitgetheilt, daß ein Beſchluß 
des Geſammthauſes Sachjen vorliege, wonach er wegen 
jeine® unchriftlichen Gebarens und feiner unfürjtlichen 
Gefinnung, die ihn vor Gott und der gefammten ehrbaren 
Welt compromittire, in ftrenger Haft gehalten werben 
ſolle, bis er fich gebefjert habe und reuig zur Erfenntniß 
feiner Sünden gekommen jei. 

Herzog Johann Friedrich tobte in ohnmächtiger Wuth. 


96 Herzog Johann Friedrih von Weimar. 


Da er einſah, daß er ver Gewalt nur gewaltfam begegnen 
fönne, verfuchte er mit Hülfe einiger getreuer Diener, 
mit denen er Verbindungen angefnüpft hatte, aus feinem 
Kerker zu entlommen. Die eigentlichen Leibwächter wur- 
den überwältigt und gefnebelt, aber die Neitersfnechte, 
welche die äußere Wache bildeten, waren auf ihrer Hut. 
Die Diener des Herzogd wurden nievergemacht, er jelbit 
nach verzweifelter Gegenwehr verwundet und fejtgenom- 
men; der Fluchtverfuch war misglüdt. 

Am 30. Mai 1627 wurde der Herzog in Ketten ge- 
fegt und jein fchönes, wallendes, blondes Lodenhaar ab— 
rafirt, weil er „den Teufel in den Haaren habe”. Alle 
jeine Betheuerungen und Borjtellungen blieben fruchtlos. 
Er richtete verjchiedene Eingaben an den Kurfürften von 
Sachſen als das Haupt feines Haufes. Sogar das lo— 
giiche Argument, daß er doch nicht hieb- und ftichfeft jein 
fünne, wie die Verwundung beweife, bie er erjt neuerlich 
Davongetragen, verfing nicht. Die Bitten, zu denen er 
fich fchließlich herbeiließ, waren vergeblich. Auch fein eid— 
fiche8 Verſprechen, in die Fremde ziehen und Fünftig nie 
wieder an feine Brüder irgendwelche Anfprüche machen 
zu wollen, half ihm nichts. Die harte Behandlung, 
welcher er ausgeſetzt blieb, regte den heißblütigen, jugend- 
lichen Fürften auf das äußerſte auf. Er befam fürm- 
liche Wuthanfälle. In einem berjelben zerbrach er mit 
fchter übermenjchlicher Kraft feine Stetten. Vielleicht war 
diefer Vorfall die Urfache, dag man ihm die Haare fchor. 
Wie bei Simfon fuchte man den Sit feiner Kraft in 
jeinen Locken. | 

Herzog Johann Friebrih war deutſcher Neichsfürit. 
Seine Haft und das ganze Verfahren wider ihn war ohne 
Vorwiſſen des Kaifers eingeleitet worben und deshalb 
nad den Geſetzen des Reiches ungültig und unftatthaft. 


Herzog Johann Friedrih von Weimar. 97 


Es erklärt ſich indeß aus ber wilden gejeßlojen Zeit. 
Dem Vorgehen gegen ihn lag nicht etwa Uebelwollen 
oder Feindjchaft zu Grunde. Seine Brüder hielten 
fihb für verpflichtet zu ihren graufamen Mafregeln, 
denn fie glaubten feſt daran, daß er ein vom böfen 
Geifte bejeffener, verlorener Menſch jei. Mit Zuftimmung 
oder gar auf ausbrüdlichen Befehl des Kurfürften von 
Sachſen wurde der Herzog im November 1627 nad) 
Weimar geführt und dort in einen eigens für feine Auf- 
nahme erbauten Kerker gebracht. Der fürmliche Proceß, 
den man nun gegen ihn einleitete, entiprach ven allge- 
meinen Anfchauungen. 

Ein Ärztliches Gutachten holte man nicht ein. Da- 
gegen wurde ber Gefangene ohne Rückſicht auf feine 
wiederholten Betheuerungen, daß er mit dem Teufel 
nichts zu jchaffen habe, mit fortwährenden Befehrungs- 
verjuchen gequält. 

Es iſt aus den Acten nicht erjichtlich, zu welchem 
Endurtheile feine Richter gelangten. Vielleicht fchredte 
man doch im Hinblid auf den fürftlichen Rang des An- 
gejchuldigten vor der äußerjten Confequenz, der Verdam— 
mung zum euertode, zurüd. 

Am 17. Detober 1628 fanden die Bebienjteten, welche 
den Kerfer betraten, den Herzog tobt. Er lag, mit dem 
Geficht zur Erde gefehrt, auf dem Fußboden. Ein Dold- 
ftoß in die Bruft hatte feinem Leben ein Ende gemacht. 
Ein Selbjtmord war ausgeichloffen. Es fand fich auch 
fein Dolchmeffer bei ihm vor. Es blieb unaufgellärt, 
wer fich troß der ftrengen Bewachung zu ihm einzu- 
ichleichen vermocht hatte. Die dffentlihe Stimme war 
rofch, jüber den Thäter einig. Der Teufel ſelbſt hatte 
den Teufelsbeſchwörer umgebracht und die ihm ver- 
fallene Seele geholt. Die Richter waren unmenfchlich 

XXIV. 7 


98 Herzog Johann Friedrid von Weimar. 


oder folgerichtig genug, zu begehren, daß ber Leich— 
nam in einem Winfel in ungeweihter Erde verfcharrt 
werden follte. Dagegen fträubte fich aber ver Familien- 
ftolz feiner Brüvder. Sie liefen die Leiche des Herzogs 
Johann Friedrih in aller Stilfe, jedoch unter Bewah- 
vung des Anftandes begraben. Wo feine Beifegung er- 
folgte, wurde geheimgehalten und ift aus den Acten 
nicht erfichtlich. 

Die Kerker, welche ver unglüdlihe Prinz in Oldis— 
(eben und in Weimar bewohnt hatte, wurden ver Erbe 
gleichgemacht. Für feine Diener forgte man in würdiger 
Weiſe. 


Wir haben dieſe Tragödie aus der Geſchichte eines 
fürſtlichen Hauſes zur Darſtellung gebracht, weil ſie 
die Mittheilung über Hexenproceſſe im 21. Bande des 
„Neuen Pitaval“ in bezeichnender Weiſe ergänzt. Sie 
beweiſt, wie hoch und niedrig in jener traurigen Epoche 
unter demſelben Irrwahn litt, und daß die bedauerns— 
werthen Opfer des entſetzlichſten Aberglaubens in allen 
Ständen, auch den höchſten, anzutreffen waren. Kepler 
mußte den Schmerz erleben, daß gegen ſeine leibliche 
Mutter die Anklage der Hexerei erhoben wurde, und das 
edle ſachſen-erneſtiniſche Haus ſah ſich genöthigt, eins 
ſeiner Glieder dem fürchterlichen Wahne zu opfern. In 
jener Zeit geiſtigen Niederganges war eben niemand, 
mochte er noch ſo hoch ſtehen, gegen Angriffe wüſten 
Aberglaubens gefeit. 

Es war im gegebenen Falle unnütz, längere Auszüge 
aus den Protokollen beizubringen. Sie unterſcheiden ſich 
in Form und Inhalt nur wenig von allen ähnlichen, der— 


Herzog Johann Friedrid von Weimar. 99 


artige Proceffe betreffenden Acten. Der gleiche traurige 
Ernft, mit dem die widerfinnigjten Dinge umſtändlich 
abgehandelt werden, die gleiche bornirte Verſtocktheit und 
auch die gleiche ehrliche Rechtsanſchauung auf jeiten ber 
Richter, die gleiche verzweifelte Unjchulpsbethenerung des 
Angeklagten, der damit niemand zu überzeugen und zu 
rühren vermag. Es iſt ein düſteres Blatt aus ber 
Chronik eines deutſchen Fürftenhaufes; allein wir glauben 
es unjerer Pflicht entjprechend, auch dieſes unſerm Werfe 
einzureihen. 


7* 


Donna Brigide. 
(Mexico. — Todtſchlag.) 
1888. 


Sie war von Heiner Geftalt; wenn fie gebückt und 
verfrümmt an ihrem Krückſtabe heranfchlich, erichien fie 
geradezu zwergenhaft. Wirr hingen die ergrauten, unter 
dem grellrothen Kopftuche wie Schlangen hervorzüngeln- 
den Haare um das verfchrumpfte, welfe Geficht. Den 
zahnlojen Mund umfpielte fortwährend ein häßliches, höh— 
niſches Lächeln. Am auffallenditen an ihr blieben jedoch 
die zwar roth umränderten, aber noch immer feurig auf- 
bligenden Augen, vor deren jtechendem Blid ausnahms- 
[08 alle, der Alcalde nicht minder als der Pfarrherr Don 
Aguftin ſelbſt, ſcheu zurüdwichen. Wenn fie vorbeige 
humpelt war, jeufzte ein jeder erleichtert auf, jchlug fromm 
das Kreuz und lißpelte einen Segensſpruch zu Ehren ber 
Madonna. 

Sie war fi ihrer Macht vollbewußt. Sie brauchte 
fie fhonungslos. Das ganze Dorf San-Joſéẽ de Tel 
huateclen war ihr unterthan. 

Eiinſt ſoll auch fie jung und ſchön und begehrenswerth 
gewejen fein. Lange iſt's her. Donna Brigida war 


Donna Brigida. 101 


das Kind eines Hidalgo, der, fein edles blaues caftilia- 
nifches Blut Hintanfegend, eine „India“, eine Tochter der 
verachteten eingeborenen farbigen Raſſe, geliebt und jie 
als Gattin in fein Haus geführt hatte. Brigida war 
aufgewachjen wie die muntern Kolibris, die fich auf ben 
Zweigen der benachbarten Büfche wiegten. Wie dieje, 
begte ihr Köpfchen feinen andern Gedanken, als fich zu 
pußen und eine Sancioncilla zu trällern. Da war ein— 
mal ein Amerikaner vahergefommen, ein rothblonder, groß- 
gewachjener ſchlanker Burſche. Er bezeichnete fich als 
Ingenieur und gab vor, er wolle ven fürzeften Weg von 
Mexico nach Puebla auffuchen. Ob er den gefunden, 
weiß man nicht. Wohl aber fand er den Weg zu Bri— 
gida's Herzen und in ihr Kämmerlein. Eines Tages 
waren fie beide verſchwunden. In dem alten Haciendado 
erwachte der ſpaniſche Stolz. Er bejchuldigte mit harter 
Rebe feine Frau, daß ihr Blut fein Kind verborben. Er 
joll fie in einem Anfalle blinder Wuth erjchlagen haben. 
Mag fein. Es iſt lange her, und mit der Gerichts- 
barkeit dürfte es dazumal nicht zum beiten bejtellt gewejen 
jein. Vielleicht befchuldigte ihn auch nur ein böswilliges 
Gerücht, das dem alten Manne die letter Lebensjahre, 
bie er vereinfamt und vergrämt verbracht hat, verbitterte. 
Sein Anmwejen verfiel, feine Wirthichaft ging zurüd. Stüd 
um Stüd, ſowol Feld als Rind mußte verfauft werden, 
nur um jeine Bedürfniſſe, jo gering fie auch waren, zu 
deden. Als er ftarb, war nicht viel mehr übriggeblieben 
als jein Haus. Diejes, fich ſelbſt überlafjen, zerfiel nach 
und nach ebenfall8. 

Da war eines Tages, man wußte nicht woher, Bri- 
gida wieder aufgetaucht. Sie war alt und abjtoßend häß— 
lich geworden. Lumpen bevedten ihren Xeib, und nur ber 
Heine, noch immer wohlgeformte Fuß, der unter ben 


102 Donna Brigiba. 


Lappen, die fie al8 Kleider trug, hervorlugte, verrieth 
ihren einftigen Weiz. 

Sie blieb im Dorfe und bezog das Häuschen des 
Vaters, welches nothdürftig ausgebeffert wurde, ſodaß es 
Wind und Wetter abhalten möchte. Dort lebte fie allein, 
nur umgeben von Katen, Eulen und anderm Lichticheuen 
Gethier. Getrodnete Schlangenhäute hingen von der 
Dede herab und jchlugen wol, wenn fie ein Windſtoß 
bewegte, den furchtfam zufammenfnidenden Bejuchern ins 
Gefiht. Es Frabbelte in allen Eden. Unter dem großen 
Keſſel erlojh niemals das Feuer. Was eigentlich darin 
brodelte, Eonnte fein Sterblicher ergründen. Ste war eine 
Here, das war gewiß. 

Sogar Don Aguftin fürchtete fie und ging ihr aus 
dem Wege. Er fonnte ihr nichts anhaben, denn fie that 
äußerlich, als ob fie eine gute Chriftin wäre, ging alljonn- 
täglich zur Mefje und fam vor DOftern fogar um zu 
beichten. Was fie da dem frommen Manne erzählt haben 
mag! Er war ftet8 ganz verftört, als fie den Beichtjtuhl 
verließ, während ein unheimlich farbonifches Lächeln noch 
ihärfer als fonft um ihre Mundwinkel zuckte. 

In kurzer Friſt war das Dorf ihr zinspflichtig ge- 
worden. 

Sie fagte wahr, wußte für alle Gebreften Rath und 
fonnte die böfen Geifter beſchwören. In ihrer Küche fan- 
den fih Mittel für alles Weh. Nicht nur die jungen 
Mäpchen fchlichen zu ihr, wenn fie der Treue ihrer Lieb— 
haber mistrauten, nicht nur die jungen Frauen, deren 
Ehe nicht fofort im erjten Jahre nach Wunjch gejegnet 
war, nicht nur bange Mütter, die ihre leichtfinnigen Söhne 
auf Abwege gerathen jahen, auch die Männer des Dorfes 
famen zu ihr. Für Krankheit, für Dürre und Noth aller 
Art wußte fie Heilung und Hülfe. Sie mußten fommen, 


Donna Brigida. 103 


alle, alle. Ste beftand darauf, daß eine jede der funfzig 
Familien de8 Dorfes ihr Zins gebe. Die Summe der 
Peſetas, die jedes Familienhaupt zu erlegen hatte, wech— 
jelte nach der Kopfzahl feiner Angehörigen, feiner Pferde 
und Rinder. Zahlen mußten fie aber alle, fonit — 
wehe ihnen! 

Den Tribut hatte fie fich erzwungen durch die Drohung, 
wer ihr denſelben weigere, würde „beiprochen”. Dann 
würden jeine Kinder von Nafenbluten befallen, das fein 
Mittel ftillen könnte, fie müßten jterben. 

Des Nachts beftieg die Here regelmäßig den Hügel 
wejtlih vom Dorfe. Im ungewiffen Scheine des Mond— 
Lichts jah man wol ihre Haare wie zudende Flammen 
um ihr Haupt flattern, jah fie mit dem Krückſtock ges 
heimnißvolle Zeichen in die Lüfte jchreiben. Im Angſt— 
gefühl erichauernd vernahmen jene, die pochenden Herzens 
fich neugierig herangefchlichen, daß ſie unverjtändliche Laute 
murmelte, oder in gellendem Aufichrei Flüche und Ver— 
mwünjchungen hervorſtieß. 

Am Tage dagegen ſaß fie oft jtundenlang regungslos, 
ftieren Blickes vor fich hinftarrend, feine Anrede der Ant- 
wort würdigend, jtumm unb verfchloffen vor ihrer Hütte. 
Näherte man fich ihr zu folcher Zeit, dann hob ihr ftän- 
diger Begleiter, der fchwarze Kater, feinen Kopf, blitte 
aus jeinen grünen Augen den Störenfried mwüthend an 
und fauchte, ſodaß ein jeder bejtürzt zurüdwich. 

Es war ein hübjcher Junge, das Pathenfind des Al— 
calden, der Bablo Sanchez. Ein milder Knabe, der, troßs- 
dem er faum fechzehn Jahre zählte, mit jedem Gaucho 
um die Wette reiten und den Laſſo jchleudern fonnte. Der 
Liebling aller, der Führer und Abgott feiner Spielgenoffen. 
Sogar die Mädchen des Dorfes, die doch fonft der un— 
reifen Jugend gern fpotten, bemerften ihn ſchon, und 


104 Donna Brigida. 


gar manch heißer Blick folgte ihm, wenn er ftolz aufge- 
richtet auf feurigem Roſſe durch die Straßen fprengte. 
Er war eines Tages mit einer Schar feiner Iuftigen Ge— 
führten an der Hütte der Donna Brigida vorbeigalopirt 
und hatte fie mit übermüthig fedem Scherzwort aus ihren: 
dumpfen Brüten aufgefchredt. Sie war aus ihrem Grü- 
bein aufgefahren, hatte die Hand wie beſchwörend aus— 
gejtredt und etwas gemurmelt, das niemand verjtand. 
Da ftrauchelte Pablo's Pferd, und er, ber befte Reiter 
des Dorfes, ftürzte fopfüber zur Erde. Blutüberjtrömt 
und bewußtlos trugen ihn die Kameraden im feines Vaters 
Haus. 

Ihm konnte feiner mehr helfen als die Here jelbit. 

Der alte Sanchez fam zu ihr gejchlichen und hob fle- 
hend die Hände. Er bot ihr — wer weiß wieviel? Gie 
aber blieb unerbittlich, und der Knabe ftarb. 

Scheuer denn je mieden die Dorfbewohner die Alte. 

Nur der Alcalvde, Don Ramon Medina, faßte fich ein 
Herz. Der Tod feines Pathenkindes hatte ihn tief er- 
jhüttert. Er begab fich zu Brigida und jtellte fie zur 
Rede. 

‚Barum bat Pablo fterben müſſen?“ frug er fie. 

„Weil Sanchez feine Pflicht nicht erfüllte Weil er 
die Buße nicht entrichtet hat, die ich von ihm geheiſcht.“ 

„Und bift du denn die Herrin über und, daß bu 
gebieteft und wir dir gehorchen müfjen ?’ 

„SH bin es. Und um es bir zur beweijen, jo for- 
dere ih von nun an, daß du mir täglich eine Peſeta 
bringen und an meinem Namensfefte zehn blanfe Duros 
erlegen ſollſt.“ 

„Du rafeft wol? Vergiß nicht, daß ich hier Amtmann 
bin, daß ich dich in Haft nehmen und dich nach Merico 


Donna Brigiba. 105 


vor das ftrenge Gericht führen kann. Und ich werde es 
thun zur Buße für deine verruchte That.‘ 

Die Augen der Alten jchoffen Blike: 

„Verſuche es nur. Und an vemfelben Tage, an dem 
du Hand an mich zu legen wagft, wird dein Erftge- 
borener fi in Krämpfen winden, und wenn mich beine 
Häjcher vor den Richter fchleppen, magſt du, ein Finder- 
lojer Vater, gegen mich zeugen!“ 

Medina pralite entjett zurüd. Er war ein muthiger 
Mann, aber vor dem Heinen Weibe fürchtete er fich. 

Haperfüllt und heimtückiſch jah fie ihn an. 

„Sehe nur heim‘, zijchelte fie, „blide deinen Kindern 
ins Auge und wage e8 ferner, mir zu widerftreben. Sieh, 
ichon ift der erfte Kreis gezogen!’ Ihr Krüdjtod fuhr 
durch die Luft. 

Da ſchnürte unendliche Angſt des Vater Herz zu— 
jammen. Im Geifte jah er feine blühenden Kinder von 
unnennbarem Weh erfaßt in gefpenftifcher Krankheit ver- 
ſchmachten. Dunfelroth quoll e8 vor feinen Augen. 

„Pag die Madonna mir gnädig fein!” jtöhnte er auf. 
Im nächſten Augenblid ftaf fein Meſſer in Brigida's 
Kehle. In weiten Bogen ſchoß das Blut aus der Hald- 
ader, und lautlo8 brach fie zujammen. ... 

Dann ging er nah Merico und ftellte fich dem 
Gericht. 

In Merico richten feine Gefchiworenen über bie ſchweren 
Verbrechen. Man führte den Mörder vor ein rechtöge- 
lehrtes Richtercollegium. Allein auch die Juriſten ſprachen 
ihn frei. 


Der 
Proceß wider den Maler Iofeph Johann Kirchner. 


(Mordverfuh am Freunde — Wien.) 
1888. 


„Schade um ven Kirchner. Er ift ein Talent, zweifel- 
(08, jedoch er zerfplittert feine Arbeitskraft. Siebzehnmal 
für fiebzehn verſchiedene illuftrirte Zeitungen dafjelbe Ding 
abzeichnen, das tödtet die Künſtlerſchaft.“ 

„Du haft recht. Sein eigenes Fünftlerifches Gewiſſen 
bäumt fich auch oft genug gegen dieſe erniedrigende, dem 
Ermwerbsteufel dargebrachte Huldigung.” 

„sa, aber warum thut er e8 denn? Sind feine Ber- 
bältniffe derart verfahren? Er iſt Fein Spieler, er tjt 
fein Trinker, er hat, ſoviel ich weiß, feine große Familie 
zu erhalten. Er follte doch genug verdienen, um fich noch 
höhern Aufgaben widmen zu können.“ 

„Was willft du nur. Er ift fein Spieler — zuge- 
geben. Er ift fein Trinker — gewiß nicht. Selbjt im 
Freundeskreiſe weigert er fich, einen berzhaften Trunk zu 
thun. Er verabfcheut ven Wein, diefe herrlichite Gottes- 
gabe! ... Allein die Löfung des Räthſels ift nicht jchwer 
zu finden. Sie ift in der alten Polizeiregel zu juchen: 


Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 107 


Cherchez la femme! Das «ewig Weibliche» hat es 
ihm angethan. Er jchmachtet ftets in den Banden irgend— 
einer Schönen. Sein gutes Herz und fein jchwacher Wille 
find jeine Feinde. Einer Bitte aus weiblichem Munde, 
den er gefüßt, kann er nicht widerjtehen. Sein fünjtlert- 
ſcher Verfall und fein phyſiſcher Ruin, die beide ganz un— 
ausbleiblich eintreten müffen, fie find die Folgen feines 
nervöſen Temperaments, feines unbezwinglichen finnlichen 
Dranges und des Mangels an fittlichem Halt.’ 

„Armer Kerl!“ ... 

So urtheilten die Colfegen über einen begabten Künſt— 
fer, ven Maler Joſeph Johann Kirchner. Allein ihr 
Achjelzuden, ihre Rathichläge, ihre Warnungen waren 
jtet38 von Sympathie für den Menfchen, ven talentvolfen 
Collegen begleitet. An einem Wintermorgen jtand in 
der Rubrik „Locales“ der Tagesblätter zu lefen: „An 
einem reichen Privatier, Herrn Karl Curio, ift ein 
Mordattentat verfucht worden. Der flüchtige Thäter 
wird verfolgt. Da die Polizei weiß, wen fie zu fuchen 
bat, jo ift es nur eine Frage von Stunden, bis fie 
jich feiner werfichern wird. Der Attentäter ift der «in 
weitern Kreifen befannte» Maler und Zeichner 9. J. 
Kirchner.” 

Es Hang unglaubhaft. Dennoch war die Nachricht 
richtig. Kirchner wurde aufgegriffen und in Haft ge- 
nommen. ine erfledlihe Anzahl der romanbhaftejten 
Geſchichten durchflatterte die Spalten der Zeitungen. Die 
Unterfuhung ging ihren Gang und die Anklage wurde 
erhoben. Seine Freunde bemühten fich darum, ihm einen 
tüchtigen Anwalt zu fichern, und fanden dieſen in der 
Perfon de8 Dr. Edmund Benedikt, eined der ver— 
trauenswertheften und redegewandteſten der jüngern wie— 
ner DVertheidiger. 


108 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirchner. 


Die Hauptverhandlung wurde für den 18. Juni 1888 
anberaumt. 

Borfigender des Gerichtshofs war Landesgerichtsrath 
Guftav Ritter von Scharfen. Die Anflage vertrat 
der Subftitut des Staatsanwalts Robert Hawlath 
und als Vertreter des Privatbetheiligten erjchien Dr. Leo— 
pold Florian Meißner. 

Die Anklage lautet: Joſeph Johann Kirchner, der bie 
Malerjchule für Landichaftsmalerei in Wien befucht hatte 
und für einen begabten Künjtler galt, erwarb fich, 
wenngleich von Haufe aus vermögenslos, als Zeichner 
für ifluftrirte Werfe und Zeitfchriften jährlich 4—6000 FI. 
Er war in Geldjachen von einer geradezu pebantijchen 
Genanigfeit, befand fich aber dennoch fortwährend und 
namentlih in letterer Zeit in Gelpverlegenheiten. Der 
Grund lag nicht jo ſehr in ſpecifiſch künſtleriſchen Paſ— 
jionen, als in feiner Xebensmweije überhaupt. 

Im Yahre 1870 hatte er geheirathet, im Jahre 1876 
fing er ein Verhältnig mit Marianne Röſſel an, im 
Jahre 1878 verließ er feine Frau und zwei Kinder und 
febte mit der Röſſel, die ihm in jüngjter Zeit ebenfalls 
ein Kind gebar, im Concubinat. Da er fih der Ber- 
jorgung feiner vechtmäßigen Familie nicht entjchlagen 
wollte, jevoch auch den Haushalt mit der Röſſel aus jei- 
nem Verdienſte bejtreiten mußte, gerieth ev 1886 in 
Wucherhände. Der Schulvdenftand war zwar nicht be- 
deutend, allein Kirchner fühlte ihn als eine drückende Laſt. 

Seine Lage verjchlechterte fich ganz bejonders im 
Jahre 1887, weil er feine Stelle bei der „Neuen Illu— 
jtrirten Zeitung‘ verlor und infolge der Unftetigfeit jei- 
ner perfönlichen Verhältniſſe jowie des Abganges echt 
künſtleriſchen Schaffenspranges nach und nach alfe Arbeits- 
(ujt einbüßte. 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirdhner. 109 


Im März 1887 trat er in intime Beziehungen zu 
Klara Curio, der Frau feines Freundes Karl Eurio, 

Der letztere, ein reicher Privatier, hatte Kirchner im 
November 1886 fennen gelernt und ihm gern Eintritt 
in jeine Familie gejtattet. Als im Sommer 1887 die 
Familie Curio auf Reifen ging, bezog Kirchner Curio's 
Villa in der Hirfchengaffe Nr. 28 in Ober-Döbling (einem 
Vororte von Wien). Curio lud ihn im September nad) , 
jeiner Rückkehr ein, gänzlich zu ihm zu ziehen; er räumte 
ihm nicht nur zwei Zimmer in einem Nebengebäude der 
Dilla ein, ſondern gewährte ihm auch freien Tiſch. Kirch: 
ner nahm das Anerbieten mit Danf an und bemerfte 
jcherzend, ob Curio denn nicht eiferfüchtig auf ihn werden 
würde, worauf Curio erwiderte: „Er fee voraus, daß 
Kirchner als Ehrenmann die Gaftfreundjchaft nicht mis- 
brauchen werde.” Das hinderte aber Stirchner feines- 
wegs, mit der Frau feines Gaftfreundes in einem zu 
dieſem Behufe gemietheten Abjteigequartier nach wie vor 
heimliche Zufammenfünfte zu pflegen. Außerdem hatte er 
aber auch die Röſſel, welche Curio für jeine rechtmäßige 
Frau hielt, in nächfter Nähe, nämlich in Währing, Haupt: 
jtraße Nr. 19, einquartiert. Die Röſſel wußte von bem 
Berbältniffe zur Curio und hatte fich nur ausbebungen, 
daß Kirchner ihr zwei Abende in der Woche widme! 

Am Samstag, 14. Januar 1887, ereignete fich Fol— 
gendes: Kirchner wollte abends mit Curio einen Masfen- 
ball bejuchen. Er fagte zu Curio, er werde eine Pelz. 
mütze auffegen und ven Claquehut unter dem Ueberrocke 
verwahren. Curio fand dies praftiich, holte fich einen 
Jägerhut, ſteckte aber dieſen in die Taſche und jegte ven 
Claquehut auf. 

Es war 8°/, Uhr abends. Die beiven Männer gin- 
gen nebeneinander in den Garten hinab und wollten 


110 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


den Weg durch die Gartenthüre in die Kreindlgaſſe (eine 
öde, meiſt zwifchen Gärten fich binziehende Straße) ein- 
ichlagen. Sie waren etwa hundert Schritte weit gegangen 
und noch ungefähr funfzig Schritte von der Ausgangsthür 
entfernt, da trat Kirchner an einer Wegenge, wo ber dort 
jtärfer mit Bäumen bepflanzte Theil des Gartens beginnt, 
zurüd und ließ Curio vorausgehen. In demjelben Augen: 
blide, die beiden Männer waren einander noch jo nahe, 
daß fie fich berühren Fonnten, erhielt Curio von rüdwärts 
bligjchnell mehrere Hiebe auf den Kopf, ſodaß ihm das 
Blut über das Geficht ftrömte. Mit dem Rufe: „Kirch: 
ner ermordet mich, zu Hülfe!“ wendete er fich rechts und 
lief gegen feine Billa zurüd. Dort angefommen jchrie er 
jeiner ihm entgegenfommenden Frau zu: „Klara, jchau 
mich an, wie mich Kirchner gefchlagen hat!“ und nad 
jeinem Revolver greifend fügte er hinzu: „Laßt mir den 
Kirchner nicht herauf, ich ſchieße ihn nieder!“ 

Frau Klara Curio brachte Waffer herbei, verließ aber 
dann ihren Mann und eilte in den Garten hinunter, an- 
geblih um Kirchner zu warnen. Zwiſchen beiden fand 
ein Zwiegeſpräch ftatt, höchſt wahrjcheinlich in ber im 
Erdgeſchoß gelegenen Wohnung Kirchner’s. Bald darauf 
jahen die Dienftleute einen Mann zum vorbern Shore 
hinausftürzen und unmittelbar darauf begab fich Frau 
Curio über die Freitreppe hinauf in ihre Wohnung. 

Sie bemühte fich lebhaft, ihrem Manne vorzuftellen, 
dag Kirchner unmöglich der Thäter gewejen fein könne. 
Es wäre ihr faft gelungen, ihn zu überzeugen, denn Curio 
hatte den Attentäter nicht gejehen. Er hielt Kirchner für 
jeinen Freund und ahnte nicht, daß dieſer mit feiner Frau 
in vertrauten Umgange lebte. 

Kirchner verbrachte die Nacht in verjchievenen Kaffee- 
häufern, ſchrieb Abjchiedsbriefe und verjchaffte fich am 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 111 


nächjten Morgen einen Revolver, mit welchem er zuevft 
jeine Geliebte Marianne Röffel, dann deren Kind und 
ſchließlich fich jelbit erjchteßen wollte. Da fich die Röffel 
weigerte, bejchloß er, fie und das Kind im Schlafe zu 
tödten, wurde aber jchon am Nachmittage des 16. Januar 
in der Wohnung der Röffel, wo er fich die ganze Zeit 
über aufgehalten hatte, verhaftet. u 

Er trat vor Gericht mit der fabelhaften Behauptung 
auf, daß nicht er, jondern ein „Unbekannter“, der fich 
zwijchen ihn und Curio „geſchoben habe”, ver Thäter 
gewejen jet. Freilich erklärte Kirchner gleich darauf jelbit, 
er ſei fich wohl bewußt, daß dieje Angabe feinen Glauben 
finden werde. In der That ift erwiefen, daß e8 damals 
im Garten nicht bejonders finjter war und daß Curio 
auf zehn Schritte vor fich genau ſehen konnte, aber nie- 
mand bemerkt hat. Die mäßig diden Bäume des Gar- 
tens bieten fein genügendes Verſteck, und der losgebundene, 
wachjame Hund hätte feinen Fremden unbeanjtandet im 
Garten belajjen. Ueberdies ift Kirchner’s mit einem Blei— 
fnopfe verjehener Stod am Orte der That gefunden wor— 
den. Frau Curio brachte denjelben bald nachher in vie 
Küche und zeigte ihn den Dienjtleuten mit den Worten: 
„An dem Stode ijt fein Blutfleck, es tft alfo ganz un— 
möglich, daß Kirchner meinen Mann gejchlagen bat.“ 

Der erjte Hieb, der gegen Curio geführt wurde, traf 
die Fever des Claquehutes. Er zerbrach dieſelbe und 
ichlug ein rundes Loch in den Hut, verlegte Curio aber 
nicht. Der Hieb war, wie die Spuren am Hute nach— 
weijen, fcharf gegen das Hinterhaupt gezielt. Der zweite 
Hieb jtreifte die rechte Schläfe und fuhr längs des Auges 
herab. Die Wunde hatte einen ziemlich jtarfen Blutver- 
(uft zur Folge, heilte aber in wenigen Tagen vollfommen, 
da weder ein Knochen verlegt war, noch eine Gehirn- 


112 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


erihütterung eintrat. Ein dritter Hieb wurde von Curio, 
der inftinctiv ven rechten Arm erhob, aufgefangen. Die 
Anklage behauptet: der Bleiſtock Kirchner’s ſei ein zur 
That geeignetes Werkzeug. 

Ueber die Motive der That hat die Unterfuchung ges 
nügende Aufflärung gegeben. 

Daß es fich nicht um den Befiß der Geliebten han— 
delte, ijt Far, weil alle Umſtände dafür fprechen, daß 
Kirchner überhaupt feine tiefere Neigung zu Klara Curio 
empfand. Die Eheleute Curio find reich, Frau Curio 
befitt ein noch beveutenderes Bermögen als ihr Mann; 
die Einfünfte fließen aber nicht ihr, ſondern fraft der 
Verfügungen ihrer Aeltern ihrem Manne zu, welcher in 
Geldſachen jehr genau ijt und ihre Ausgaben ftreng über- 
wacht. Frau Curio hat dem Angeklagten nicht blos ihre 
Liebe gejchenft, Sondern ihm auch Geld gegeben: im Au— 
guft 1887 1000 Mark und fpäter einmal 150 Sl. Außer: 
dem bezahlte fie regelmäßig den Miethzins für das Abs 
jteigequartier, in welchem fie fich trafen, und auch klei— 
nere Beträge hat er von ihr erhalten, um dieſelben für 
fich zu verwenden. 

Am 13. Ianuar 1889, einen Tag vor der That, gab 
fie ihm einen Schmud zum Verkaufen. 

Kirchner hat jedenfalls den Plan gefaßt, ven Mann 
zu tödten, um fich zum Herrn über das Vermögen ver 
Frau zu machen. 

Daß ihn derartige Gedanken bejchäftigt haben, beweiſt 
der Umjtand, daß er gerade in den letzten Wochen vor 
ver That nicht nur mehrfache Arbeitsaufträge ablehnte, 
jondern einmal geradezu äußerte: „Er werbe überhaupt 
nicht mehr zeichnen!“ und näheres Eingehen auf dieſe 
Aeuferung mit den Worten abwies: „Das ift meine 
Privatjache!” 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirhner. 113 


Endlich wurde bei ihm gelegentlich der Verhaftung 
ein an Frau Curio gerichteter Abſchiedsbrief vorgefunden, 
in welchem er ihr Gift zur Verfügung ftellte, falls fie 
deſſen bedürfen follte. In diefem Briefe entichlüpft ihm 
gleich nach der Betheuerung, daß er nicht der Thäter jet, 
die bezeichnende Bemerkung: „Es ift das eben wieder 
einmal einer jener unglüdjeligen Zufälle geweſen, welche 
die Hügften Combinationen fcheitern machen.‘ 

Die Anklage geht dahin: „Joſeph Johann Kirch— 
ner bat am 14. Ianuar 1888 gegen 9 Uhr abends im 
Garten des Haufes Nr. 28 in der Hirjchengaffe in Ober- 
Döbling in der Abficht, ven Karl Curio tüdifcherweije zu 
tödten, dadurch eine zur wirklichen Ausübung führende 
Handlung unternommen, daß er demſelben mit einem 
Bleiſtocke mehrere Hiebe verfette; die Vollbringung des 
Verbrechens ift nur durch Zufall unterblieben. Joſeph 
Johann Kirchner hat hierdurch das Verbrechen des ver— 
juhten Meuchelmordes im Sinne des Strafgeſetzes 
begangen.” 

Der Angeklagte wird vorgerufen. Kirchner ift ein 
mittelgroßer, fchlanfer Dann von 41 Jahren. Sein dich 
tes, an den Schläfen leicht ergrantes Haupthaar ift braum, 
fein Schnurrbart blond. Die Gefichtsfarbe ift bleich, 
vermuthlich infolge der über ihn verhängten Unterſuchungs— 
haft. Die Augen von unbeftimmter grau=blauer Farbe 
feuchten häufig auf. Seine Sprechweife ift haftig und 
von lebhaften Geberden begleitet. Er trägt einen brau— 
nen Sammtrod, nach der Art vieler Künftler, und eine 
nachläffigeelegant gebundene Kravatte. 

Präfivdent. Was Haben Sie auf die Anklage zu 
erwidern? 

Angeklagter. Ich glaube, daß es mir ſchwer fallen 
dürfte, eine zuſammenhängende Darſtellung des Sachver— 

XXIV. 8 


114 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


haltes zu geben, ich bitte daher Fragen an mich zu vich- 
ten. Im allgemeinen erkläre ich mich nichtjchulpig. 

Präfident. Was können Ste uns über Ihre Her- 
funft und Ihr Vorleben mittheilen? 

Angeflagter. Mein Vater war ein Möbelhändfer 
und Tapezierer. Im Jahre 1861 zog er fi vom Ge 
ihäft zurüd. Ich abfolvirte nach durchgemachter Volks— 
ſchule zwei Klaſſen der Unterrealfchule und Hierauf eine 
Privathandelsichule.. Die Abficht meines Vaters war, 
daß ich mich dem Kaufmannsſtande widmen follte, aber 
ih hatte feine Neigung für den gefchäftlichen Beruf. 
Dagegen zeichnete ich mit Leibenjchaft, ſeitdem ich einen 
Stift in die Hand nehmen konnte. Ich wollte Künjtler 
werden. Mit jchwerer Mühe erlangte ich die Zuftimmung 
meines Vaters und bejuchte dann 1861 und 1862 bie 
Hiftorienfchule, 1863 die Landſchaftsſchule der Akademie 
ver bildenden Künſte. Mein Talent wies mich auf das 
Landihaftsfah. Nachdem ich das Haus meiner Aeltern 
verlaffen und eine Privatwohnung bezogen hatte, ſchloß 
ich mich innig an die Familie meiner Wirthsleute. Die 
Zochter derjelben war ſehr gut gegen mich. Sch verliebte 
mich in fie, verfprach fie zu heirathen und erfüllte mein 
Verſprechen im October 1873. Nun galt e8 aber, für 
eine Familie zu forgen. Dies war mir als Maler noch 
nicht möglich. Ich verließ die Afademie und bewarb mic 
um eine Anftellung bei einem Banfinftitute. Es gelang 
mir nicht unterzufommen. Ich mußte aber eriwerben, um 
leben zu können, und fo warf ich mich auf die Illuftration. 

Präfident. Wie haben Sie mit Ihrer Frau gelebt? 

Angeflagter. Wie man es nimmt, gut oder auch 
nicht. 

Präfident. Wie ift das zu verftehen? Gab es 
Scenen zwifchen Ihnen? 


Der Procek wider Joſeph Johann Kirchner. 115 


Angeflagter. Scenen nicht. Meine Frau kannte 
mein Temperament. Sie ift älter als id. Sie mochte 
wiffen, daß ein jüngerer Mann und Künftler nicht nach 
per Elfe eines Handwerfers zu mefjen if. Sie war auch 
meinen Neigungen gegenüber ftetS jehr nachfichtig. 

Präfident. Das heißt wol, Sie waren Ihrer Frau 
nicht treu? 

Angeflagter. Es war eine leichtfinnige Ehe, wie 
fie eben ein junger Menjch eingeht. Mean follte nicht fo 
jung heirathen. 

Präfident. Wie hat fih Ihr Verhältnig mit Ma— 
rianne Röſſel entiponnen? 

Angeflagter. Ich Habe fie auf einer Lanbpartie in 
Krems fennen gelernt und faßte eine wahre Leidenjchaft 
für fie. Meine Frau wollte mir dieſen Verkehr nicht 
erlauben und ftellte mir die Alternative: ich müßte ihr 
oder Marianne entjagen. „Wenn du fie nicht aufgibit, 
mußt du vom Haufe weg‘, jagte fie. 

Präfident. Sie entichlofjen fich aber nur jchwer 
zur Trennung von Ihrer Frau? 

Angeflagter. Unter heißen innern Kämpfen. Da 
meine Frau nicht nachgab, zog ih im Jahre 1878 mit 
der Röffel zufammen. Ich arbeitete viel und erwarb 
genng, um den Haushalt meiner Frau und den eigenen 
zu bejtreiten. 

Präfident. Sie beichloffen das Jahr 1886 laut 
Shren eigenen Aufjchreibungen mit einem Schulvdenftand 
von 900 Fl. und haben ein Darlehn von 1500 31. auf- 
genommen. 

Angeflagter. Das ift richtig, Doch weder etwas Er- 
ichredfendes noch Ungewöhnliches. Ich war Zeit meines 
Lebens Geld ſchuldig und habe gezählt, wenn ich gerade 

8* 


116 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


bei Kafje war. Meine Arbeit wurde jtetS gut honorirt 
und ich durfte immer wieder auf jolche rechnen. 

Präfident. Wie haben Sie mit Marianne Röſſel 
gelebt? 

Angeflagter. Ausgezeichnet. 

Präfident. Wie fommt e8 denn, daß Sie die Röffel 
verlaffen haben, um zu Ihrer Frau zurüdzufehren? 

Angeflagter. Es überfam mich zuweilen ein Heim— 
weh. Auch hat es hier und da Streit zwijchen Marianne 
und mir gejett. Dergleichen kommt wol überali vor. 
Trotdem lebten wir im bejten Einvernehmen. Ich muß 
gejtehen, daß mich mitunter ein unwiberftehlicher Drang 
erfaßte, durchzugehen, ich lief dann davon, ohne vecht zu 
wiffen wie und warum. 

Präjident. Iſt Ihnen die Röſſel immer treu ge- 
blieben ? 

Angeflagter. Gewiß nicht. 

Präfivdent. Nun, jo gewiß ift das wol nicht. 

Angeflagter. Doch. Ich habe Kenntnig von ihrer 
Untreue erhalten, war im höchften Grade aufgeregt und 
bin davongelaufen. 

Präjident. Sie find aber zu ihr zurüdgefehrt. 
Ein fonderbares Verhältniß in der That! 

Angeflagter. Ich habe ihr eben ven Fehltritt ver— 
ziehen. 

Der Angeklagte erzählt nun, daß er einmal bei 
einer jolchen Flucht ohne Ziel und Zwed nach Leipzig 
gefahren jet. Ein andermal habe es ihn plößlich über- 
fommen, er müffe fort. Er ſaß gerade mit feiner Ge- 
liebten in einem Kaffeehaufe auf der Landftrafe und ift 
mit Zurüdlaffung feines Hutes und Ueberrodes fort- 
gelaufen. Wohin er »fich gewendet, vefjen weiß er fich 
überhaupt nicht zu entfinnen. 


Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 117 


Präfivdent. Sie waren wol fehr eiferfüchtig auf die 
Röſſel? 

Angeklagter. Ja wohl, Herr Präſident. 

Präſident. Sie haben ſogar einen Balken vor der 
Thüre anbringen laſſen, damit niemand hinein könne. 

Angeklagter. Es war zwar ohnedies eine gute, 
feſte Thür vorhanden, aber beſſer iſt beſſer. 

Präſident. Sie ſind einmal vom Weſtbahnhofe, 
wohin Sie ſich mit der Röſſel begeben hatten, um einen 
Ausflug anzutreten, plötzlich verſchwunden? 

Angeklagter. So haben mir die Herren Gerichts— 
ärzte mitgetheilt. Ich weiß nichts davon. Sch kann mich 
dejfen nicht erinnern. 

Präfivdent. Als Sie aus Heiligenjtadt, wo Sie 
zeitweilig mit der Aöffel wohnten, einmal plößlich ver- 
ſchwanden und über Nacht ausblieben, haben Sie, als Sie 
wiederfamen, Ihre Geliebte um Verzeihung gebeten. Wes- 
halb thaten Sie das, wenn Sie gar nicht wußten, daß 
Sie weggeblieben waren? 

Angeflagter. Ich habe e8 doch durch Marianne 
erfahren. 

Präfident. Sie baten nicht etwa deswegen um 
Verzeihung, weil Sie Ihrer Geliebten untreu geworben 
waren? 

Angeflagter. Nein. 

Präfident. Sie haben fie aber doch betrogen? 

Angellagter. Betrogen? Nein. Herr Präfivdent 
fönnen Doch das nicht betrügen nennen. 

Präſident. Alfo nennen wir e8 Untreue. 

Angeflagter. Wie kann man nur von Untreue 
Sprechen in der Capitale ver Genußfucht! 

Präſident. Die Verhältnifje einer Großftabt jchlie- 
Ben die Treue nicht aus. 


118 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Angeflagter. Aber man kann doch in meinem 
Falle nicht von Betrug, von Untreue fprechen! 

Präfident Nun freilich, wenn man bevenft, daß 
Ihr Verhältniß zur Röffel überhaupt nicht auf morali- 
iher Baſis begründet war. 

Angeflagter. Ich bitte jehr. Auch ſolche Verhält- 
niſſe entbehren der moralifchen Bafis nicht. Ich faſſe es 
in diefem Sinne auf. Nur wird diefe nicht durch das, 
was Sie „Untreue“ nennen, erjchüttert. 

Präfident. Laffen wir diefe Erörterung. — Seit 
wann war Ihr Fünftlerifcher Ruf begründet? 

Angeflagter. Ob, ſchon fehr frühe. Ich erhielt 
bei einer Concurrenz den erjten Preis. 

Präfident. Das ift richtig. Das war 1869 in 
Budapeſt. — Sie haben Herrn Curio am 14. November 
1886 kennen lernen. Wann find Sie zu Frau Curio in 
nähere Beziehungen getreten? 

Angeflagter. Im März hat die Liebeserklärung 
itattgefunden. 

Präfident. Hat Frau Röſſel darum gewußt? 

Angefllagter. Ich habe es ihr lange abgeleugnet. 

Präfident. Wo hielten Sie Ihre Zuſammenkünfte 
mit Fran Curio. 

Angeflagter. In einem Abfteigequartier im Bezirk 
Mariahilf. Ich muß hier noch eine Bemerkung machen. 
Sch gebe zu, daß ich immer weibliche Geſellſchaft 
ſuchte, aber ich habe vorher niemals einer verheiratheten 
Frau nachgeftellt. Frau Curio war die erfte, mit der ich 
in nähere Beziehungen trat. Sie bezauberte mich zwar 
fofort, ich hätte es indeß nie gewagt, mich ihr ernftlich 
zu nähern, wenn fie mir nicht entgegengelommen wäre. 
Ich hätte nie ven Frevel begangen, ein Eheglüd zu zer: 
jtören. Als ich die Familie Curio fernen lernte, da gab 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 119 


es fchon lange fein Eheglüd mehr zwiichen den Gatten. 
Sie gingen ein jedes feinen eigenen Weg. Ich will mich 
nicht beffer machen, als ich bin, doch diefes mußte ich 
conitatiren. 

Präfident. Im December 1887 haben Sie zu 
Herrn Konody gejagt, daß Sie gar nichts mehr arbeiten 
würden. 

Angeflagter. Das ift ein Misverſtändniß der An- 
Hage. Sch habe ihm nur gefagt, ich wolle nicht mehr 
zeichnen, das heißt, das Slluftriren genüge meinem künſt— 
leriſchen Bebürfniß nicht. Ich bitte nur zu bebenfen, 
welche peinliche Tortur es für einen Künftler ift, ſechs— 
undzwanzigmal hintereinander das Rathhaus abzeichnen 
zu müfjen! Das bringt einen zur Verzweiflung, zur 
Raſerei! 

Präſident. Auch Herr Gauſe ſagte aus, daß Sie 
nur gearbeitet hätten, wenn es galt einen Auftrag aus- 
zuführen. 

Angeflagter, Gewiß. Denn Arbeiten wie die er- 
wähnten fertigt man nicht aus Luft zur Sache, jondern 
nur ums Geld. Deshalb eben jagte ich, ich würde das 
Zeichnen ganz aufgeben. 

Präfident. Geben Sie zu, von Frau Curio Geld 
angenommen zu haben? 


Angellagter. Ia wohl. Ohne daß ich e8 verlangt 
habe, jchiefte fie mir 1000 Mark. Ste mußte eben, daß 
ih Schulden hatte. Ich Habe pas Geld als ein Darlehn 
betrachtet. Außerdem empfing ich von ihr ein Spar- 
faffenbuch mit einer Einlage von 157 Fl. und Beträge 
zur Bezahlung gemeinfchaftlicher Auslagen, wie des Ab- 
jteigequartiers, in dem wir zufammenfamen, auch für 
Wagen, die wir gemeinfam benutten u. dal. m. 


120 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Präfident. Wir gelangen nun zu der unter Anklage 
geftellten That. Wann verabredeten Sie mit Curio, den 
Masfenball zu befuchen? 

Angeflagter. Samstag früh fagte mir Curio, er 
habe zwei Karten zum Masfenball in den Sophienjälen 
erhalten und begehrte, ich jolle ihn dahin begleiten. Wir 
jpeiften darum früher als ſonſt zu Abend. Es gejchah 
dies um 81/, Uhr. 

Präfident. Sie fagten zu Curio, er brauche ven 
Revolver nicht, weil Sie ven Stod mitnähmen. Und die— 
jen Stod haben Sie oft als treffliche Waffe gerühmt! 

Angellagter. Im gewöhnlichen Leben wägt man 
die Worte nicht jo ab, wie fie dann einem Angeklagten 
gegenüber ausgelegt werben können. 

Präjident. Warum haben Sie gerade an jenem 
Abende die Pelzmüte aufgejegt und ven Claquehut unter 
den Rod genommen? 

Angeflagter. Ich befürchtete Regen und wollte ven 
Hut jchonen. 

Präfident. Sie gingen zufammen in den Garten 
hinab? 

Angeflagter. Curio ging immer jehr rajch, und jo 
fam es, daß er bald vor mir war. 

Präfident. Erzählen Sie, was num gejchah. 

Angeflagter. Bei der erften Biegung links war 
mir Curio mindejtend anderthalb Meter voraus. Ob 
wir miteinander jprachen, weiß ich mich nicht zu erinnern. 
Dagegen weiß ich bejtimmt, daß es recht dunkel war. 
Plötzlich ſpringt, jchiebt fich oder wird gejchoben eine 
pritte Geftalt zwifchen uns beide. Diefe Geſtalt führt 
mit einem Injtrument einen Hieb auf Curio. Sch weiß 
nicht, woher dieſe Gejtalt fam. Sie war da wie aus 
dem Boden gejtiegen, fie mag neben oder Hinter dem 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 121 


Baume hervorgekommen ſein. Ich ſehe ſie nur einen 
Hieb führen, ſehe wie Curio taumelt, einen Halbkreis be— 
ſchreibt und von der Geſtalt verfolgt wird. Plötzlich ſinkt 
Curio zu Boden, während die Geſtalt nach der entgegen— 
geſetzten Richtung hin verſchwindet. Ich war wie gelähmt. 
Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Hals war wie zu— 
geſchnürt. Ich wollte ſchreien, und brachte keinen Ton 
hervor. Einmal nur, ein einziges mal hatte ich daſſelbe 
Gefühl empfunden. E8 war in Bosnien. Auf dem Hein- 
wege von einem Feſte begriffen hörte ich unvermuthet in 
nächſter Nähe einen Schuß abfeuern. Da gerieth ich in 
einen ähnlichen lethargiſchen Zuftand, in welchem ich das 
Bewußtſein verlor und aus dem ich erweckt werben mußte. 
Als ich nach dem Attentate auf Curio wieder zu mir kam, 
jtürzte ich der Billa zu. Klara Eurio fam gerade her- 
unter und mir entgegen. „Was ijt gejchehen?“ rief fie, 
„mein Mann behauptet, vu hätteft ihn gejchlagen?”’ Da 
verlor ich den Kopf, ließ fie ftehen und eilte aus dem 
Haufe. 

Präfident. Wie jah denn der geifterhafte Dritte aus? 

Angeflagter. Er war Fleiner und fchmächtiger als 
ich, trug eine pie Pelzmüge und kam von links aus ber 
Gegend hinter dem Glashaufe. 

Präſident. Da Sie das Attentat fozujagen ver- 
ichlafen haben, fo ijt Ihre nachherige außerordentliche Auf- 
regung jehr auffallend. 

Angefllagter. Nach den Worten, die Frau Curio 
mir zugerufen hatte, erfannte ich, daß ich des Attentates 
bejchuldigt würde. Die jcheinbaren Gründe wirften er- 
drüdend auf mich, ich ſah ein riefiges Beweismaterial 
fih gegen mich aufthürmen und verlor die Geiftesgegen- 
wart. Wie berechtigt aber dieſes plößliche Angftgefühl 
war, geht doch daraus hervor, daß ich mich hier, auf 


122 Der Brocek wider Jofeph Johann Kirchner. 


biefem Plage befinde und mühſam gegen den Verbacht, 
der auf mir laftet, anfämpfen muß. Mir jchwebte es 
fogleich vor: Unterfuchung, Haft, Gott weiß von ivie 
langer Dauer! Dem befchloß ich zuvorzufommen. Ich 
wollte mich tödten, mich in die Donau ftürzen. Injtinc- 
tin wendete ich mich zur Augartenbrüde Da fiel mir 
ein, ich hätte Weib und Kind. Die durften doch nicht 
ohne Ernährer zurücdhleiben. Auch wußte ich nicht, was 
mit Curio gefchehen, ob er leicht, ob er jchwer verletzt 
war. Ich hoffte dies aus den Zeitungen zu erfahren. 
Die Nacht über irrte ich plan= und ziello8 umher, gegen 
Morgen ging ih in ein Kaffeehaus und nahm bie Früh— 
blätter zur Hand. Da ftand noch nichts darin. Wäre 
ein Mord gejchehen, fagte ich mir, jo wäre e8 doch jchon 
befannt. Aber wieder ftiegen Beforgniffe in mir auf. 
Ih ging zu einem Freunde und borgte mir feinen Re— 
volver. Dann begab ich mich in unfer Abfteigequartier, 
um bort vorhandene Frau Curio compromittirende Briefe 
zu verbrennen, und jchlieglich nach Haufe zu Mariannen. 
Ich ſchlug ihr vor, fie, das Kind und mich zu tödten. 
Sie wollte nicht. Da beichloß ich, e8 gegen ihren Willen 
zu thun. Aber ein fürchterliches Schlafbedürfniß überfiel 
mid. Ich legte mich Hin und fchlief ein. Ich fchlief 
noch, als die Polizei fam, um mich zu verhaften. 

Präfident. Bei Ihrer Verhaftung wurden ſechs 
Briefe vorgefunden. Einer berjelben, an eine Verwandte 
gerichtet, lautet: „Liebe Marie! Ich theile Dir mit, 
bag wir alle, Marianne, ich und fogar die Edith ſchwer 
erkrankt find, ich muß jagen hoffnungslos.” 

Angellagter. Dies follte eine Worbereitung ber 
Todesnachricht fein. 

Präfident. Im zweiten Briefe an Herrn Ludwig 
Finke, Poftverwalter in Prefbaum, heißt es: „Trotzdem 


Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 123 


wir uns jehr lange nicht fahen, und fajt böſe aufeinander 
find, bitte ich Dich, meine Frau in der fchonendften Weife 
barauf vorzubereiten, daß ich Frank, jehr frank, daß ich 
gejtorben bin. Aus Gründen, die Du in den Zeitungen 
finden wirft, denke ich mich zu erfchießen. Sterben muß 
ber Menfch, es ift nur die Frage: wann? Erfülle mir 
die legte Freundespflicht.” Ein dritter Brief war an 
Herrn Eurio gerichtet. In demfelben jchreibt Kirchner: 
„Als fi die Geftalt zwijchen Sie und mich drängte, 
war ich unfähig, auch nur einen Laut von mir zu geben. 
Ich machte einige Schritte gegen Ihr Haus, wo mir Ihre 
Fran entgegenfam und mir zurief: «Mein Mann nennt 
Sie den Thäter'» Da kam mir das Bewußtfein, daß 
ich verloren fei, und deshalb entjchloß ich mich zum frei- 
willigen Ende meines Lebens. Der vorlette Brief war 
an den Gärtner Martin Grubitih: „Lieber Martin! 
Ich bitte Sie, beiliegenden Brief der Frau von Curio zu 
übergeben, jeboch jo, daß Herr von Curio nichts davon 
erfährt.” Eingejchloffen war ein Brief an Frau Klara 
Curio: „Sehr geehrte gnädige Fraul Ich erbitte es 
mir als eine Schickſalshuld, daß dieſer Brief in Ihre 
Hände gelange. Sie kennen meinen Handichar, ben ich 
ans Bosnien mitgebracht Habe. Mit diefem öffnen Sie 
gefälligjt meinen Kaften in Marietta's Wohnung. Dort 
werden Sie in Golpichlagpapier eingewidelt ein Glas- 
flacon finden, welches feit vielen Jahren nicht geöffnet 
wurde. Der Stöpfel wird fich nicht lodern lafjen; das 
Flacon muß alfo zertrüämmert werden. Nun bitte ich Sie, 
diefes Flacon jener Dame zu übergeben, bie ich Ihnen 
jo oft als die fchönfte, die ich fenne und als mein Glück 
bezeichnet habe. Die Hälfte, ja ein Drittel des Flacons 
wird genügen. Ich fage nicht, fie joll das Flacon be- 
nutzen, e8 fol ihr nur ein Mittel fein, wenn fie defjen 


124 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


bedarf. Ebendieſer Dame, der jchönften und wunder— 
bariten Dame, ver ich das Glück meines Lebens danke, 
gehören auch zwei Verſatzſcheine. Diefe Liegen neben an— 
dern, bie mir gehören, neben dem Flacon in einer Mappe 
mit fchwarzen Gummibändern. Gern möchte ich noch 
haben, daß Sie erführen, daß ich wirklich und wahrhaftig 
nicht der Attentäter war. Es ift dies eben wieder ein- 
mal einer jener Zufälle, welcher die glüdlichiten Combina— 
tionen jcheitern macht! ... Weiter befindet fich in mei— 
nem Atelier ein auf Pappenvedel aufgeflebtes kleines 
Porträt. Ich bitte diefes abzureißen, es verbirgt Haare 
jener Dame, die ich über alles liebe. Und nun fage ich 
Ihnen Dank.” — Ein berzlicher Abſchiedsbrief an die 
Röſſel jchließt mit ven Worten: „Nochmals einen Gruß 
an Dich, mit der ich jo glücklich geweſen wie nie zuvor. 
Gruß und Danf für alles, mein herrliches Weib!” 

Der Vertheidiger Dr. Benedikt unterzieht nun— 
mehr den Angeklagten einem längern Verhör in Betreff 
jeines Geifteszuftandes. Kirchner antwortet nur zögernd. 
Es ift als ob er fich der Vorkommniſſe ſchäme. Doc 
muß er zwei Thatfachen zugeben. Erftens, daß er im 
Jahre 1878 aus Eiferfucht in förmliche Raſerei gerieth, 
an der Wahnvorftellung litt, ein gewiſſer Bertolini, ver 
angeblich der Frau Röffel nachftellte, wolle ihn umbringen. 
Diefer Gedanke ängftigte ihn fo, daß er eines Tags ohn- 
mächtig zujammmenjtürzte. Zweitens wurde der Ange- 
Hagte während eines Aufenthalts in Serajewo von ber 
firen Idee ergriffen, er habe einen Milttärarzt erjchoffen. 
Seiner Frau gelang es, wenn auch fchwer, ihn von biejen 
Wahnvorftellungen zu befreien. Jener Militärarzt lebt 
noch heute. 

Bertheidiger. Ihr Vater hat an Delirium tremens 
gelitten, er war dem Trunke ergeben? 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 125 


Angeklagter. Mein Vater hat immer nur mäßig 
getrunfen. Ich weiß es nicht anders. 

Staatsanwalt. Sie haben fich diefes unglüdfeligen 
Beifpield wegen jahrelang des Genufjes aller geijtigen 
Getränfe enthalten? 

Angeflagter. O nein, nicht dieſes Beifpield halber. 
Ich konnte nicht anders. Ich empfand einen Widerwillen 
gegen Alkohol in jeder Form, den ich nicht zu unter- 
brüden vermochte. Ich habe jahrelang an Kopfichmerzen 
gelitten. Zuerft Hatte ich das Gefühl, es ſchlinge fich 
ein eiferner Reifen um meinen Schädel und preffe meine 
Schläfen zufammen, dann war es mir, als müfje das 
Gehirn die Schäbelvede jprengen und hervorquellen, 
ichlieglich, und das war das Xergite, glaubte ich, eine 
fremde eijerne Hand greife mir in ben Kopf und zer- 
malme das Gehirn. Im Yahre 1878 Titt ich am meiften 
an dieſem Kopfweh, ſpäter ift e8 nur fporabifch wieder 
eingetreten. 

Es wird nunmehr zur Zeugenvernehmung gejchritten. 

ALS erjter Zeuge wird Herr Karl Curio. vorgerufen. 
Er ift das Bild eines räftigen bveutfchen Mannes: groß 
und breitjchulterig überragt er den Angellagten, ſodaß 
biefer neben ihm wie ein Knabe ausfieht. Curio erjcheint 
im jchwarzen, bis hinauf zugefnöpften Salonrod und ift 
auch jonft elegant gekleidet. Er fpricht mit lauter ſonorer 
Stimme, das Geficht dem Präfidenten zugewenbet, offen- 
bar vermeidet er es, Kirchner anzufehen. 

Präfident. Wie find Sie mit Kirchner befannt ge- 
worden? 

Zeuge erzählt, daß ein gemeinfchaftlicher Freund bie 
Bekanntſchaft vermittelt habe, und jagt, Kirchner fei ein 
äußerst liebenswürdiger Gejellichafter gewejen, ben er 
möglichft viel um fich haben wollte, 


126 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Präfident. Der Vorfchlag, zu Ihnen zu ziehen, ift 
von Ihnen ausgegangen. Hat Kirchner jofort ange 
nommen? 

Zeuge. Ich kann mich darauf nicht befinnen. 

Präjident. Hat Ihre Frau den Gedanken angeregt, 
Kirchner als Hausgenofjen aufzunehmen? 

Zeuge. Das weiß ich nicht mehr. 

Präfident. Haben Sie eine Ahnung davon gehabt, 
daß Kirchner zu Ihrer Frau in nähere Beziehungen ge- 
treten war? 

Zeuge. Das habe ih für eine Unmöglichkeit ges 
halten. 

Präfident. Hat fih Kirchner angeboten, Sie bei 
Ihren Vergnügungen zu begleiten? 

Zeuge. Im der Kegel ging die Aufforderung bazu 
wol non mir aus. Einmal wollte er mich zu einer 
Gemjenjagd einladen. Dieſe Einladung war aber fo 
jonderbar, daß ich fie ablehnte. Es war im November 
1887. Ich jollte Kirchner verfprechen, niemand zu ver- 
rathen, wohin wir fahren würden. Der Jagdeigenthümer, 
jo jagte er mir, dürfe nichts davon erfahren, daß wir 
bei ihm jagen würben. Dieſes Geheimthun erfchien mir 
bevenflich, und nach einigem Zögern fagte ich Nein, 

Präfivdent (zum Angeklagten). Was fagen Sie 
Dazu? 

Angeflagter (leife lächelnd). Es war ein Scher;.. 
Der plögliche Einfall eines Augenblides guter Laune. 

Präfident. Erzählen Sie die Borgänge des 
14. Januar. 

Zeuge. Ich wollte wie fonft meinen Revolver mit- 
nehmen. Kirchner hielt mich davon ab und fagte, fein 
Bleiſtock genüge vollſtändig. Arm in Arm und feherzend 
gingen wir aus dem Haufe. Als der Pfad enger wurde, 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 1927 


ging ich voraus. Auf einmal erhielt ich einen fürchter- 
fihen Schlag auf das Hinterhaupt. Zum Glüd brach 
fich dejjen Wucht an der Feder des Claquehutes. Dieſe 
bat mir, wie ich glaube, das Leben gerettet. Unwillkür— 
lich wandte ich mich nach rechts und erhielt noch einen 
zweiten furchtbaren Schlag. Das Blut floß über das 
Geficht. Ich konnte den Attentäter nicht erfennen. Ich 
flüchtete nach meinem Haufe zu. Zuvor hatte ich einen 
britten Schlag mit dem Arme aufgefangen. Kirchner ift 
nach meiner Meinung der Thäter gewefen. Meine Frau 
hat e8 mir zwar ausreben wollen, fie hat mich aber nicht 
irregemacht in meinem Glauben. 

Präfident. Hat Ihre Gattin felbftändig über ihr 
Vermögen zu verfügen? 

Zeuge. Wenn meine Frau Geld von mir verlangte, 
habe ich e8 ihr immer gegeben. Sie bezog von ihren 
Aeltern eine Rente von 13500 Mark. 

Präfident. Zwifchen Ihnen und Ihrer Frau beſtand 
ein wechjelfeitige8 Zeftament. Haben Sie über vafjelbe 
einmal mit Kirchner gefprochen? 

Zeuge. Davon weiß ich nichte. 

Präfident. Hat Ihre Frau jemals die felbftändige 
Verwaltung ihres Einkommens verlangt? 

Zeuge. Sa wohl, kurze Zeit vor dem Attentate. Sie 
wollte fich deshalb an ihren Vater wenden. Als Grund 
gab fie an, daß fie in ihren Ausgaben nicht controlirt 
jein wollte. 

Präfident. Was veranlafte Sie, Kirchner für ben 
Attentäter zu halten? 

Zeuge. Weil e8 fein anderer Menfch fein fonnte. 

Präfivdent. Was hat Kirchner nach Ihrer Anficht 
mit dem Attentate beabfichtigt? 

Zeuge. Das weiß ich nicht. 


128 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Präfident. Wollte er Sie nur verlegen oder tödten? 

Zeuge Wer folhe Schläge führt, hat es auf das 
Leben des Bedrohten abgejehen. 

Präfivdent. Glauben Sie, daß Ihre Frau von dem 
Attentate vorher wußte, das heißt, daß fie mit Kirchner 
einverjtanden war? 

Zeuge (feſt). Das Halte ich für ausgefchlojjen. 
Wenn fie ſich von mir hätte ſcheiden laſſen wollen, jo 
hätte e8 ihr nur ein Wort gefoitet. 

Präjident. Wie deuten Ste aber die Stelle in dem 
Briefe Kirchner’8 an Ihre Frau, daß fie ruhig fein könne, 
daß alles, was fie zu compromittiren wermöchte, ver: 
nichtet fei? 

Zeuge. Da wird er wol Liebesbriefe meiner Frau 
darunter verjtanden haben. 

Präſident. Sie halten aljo ein folches Einverjtänd- 
niß für vollkommen ausgefchlojjen? 

Zeuge Für ganz ausgejchloffen. 

Präfident. Haben Sie an Kirchner Zeichen von 
Geiftesftörungen irgendeiner Art bemerft? 

Zeuge. Niemals. Im Gegentheil, er war immer 
ſehr gejcheit. 

Präfident. Waren Ihre DVerletungen ſchwerer 
Natur. 

Zeuge Die Heilung hat 8—10 Tage erfordert. 

Bertheidiger Dr. Benedikt (zum Zeugen). Haben 
Sie mit Ihrer Frau gelebt? 

Zeuge. Sa. 

Vertheidiger Dr. Benedift. Ich meine ehelich- 
intim verkehrt? | 

Zeuge Ich fühle mich nicht verpflichtet, darüber 
Auskunft zu geben. 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 129 


Die Zeugin Gärtnersgattin Katharina Grubitſch 
hat das Stubenmäbchen Anna rufen hören: ‚Der Kirch- 
ner bat unfern Herrn erjchlagen.”” Herr Curio fchrie: 
„Laßt mir den Kirchner nicht herauf, ſonſt erſchieß' ich 
ihn!” Die gnädige Frau hat es ihm ausreden wollen, 
daß es der Kirchner geweſen ift. 

Präfident. Iſt Frau Curio nach dem Attentat in 
ven Garten hinuntergegangen ? 

Zeugin. Freilich. Die Gnädige hat mit dem Herrn 
von Kirchner gefprochen und dann oben den Dienftboten 
gefagt: „Der Kirchner wälzt fich dort beim Baum herum 
wie ein Narr.” 

Staatsanwalt. Hat Frau Curio auch nachher 
über die That geiprochen ? 

Zeugin. Ja. Sie hat gejagt: „Es wär’ beſſer 
gewejen, wenn er ihn ganz erjchlagen hätte.” (Be— 
wegung.) 

Die Zeugin Anna Zöllner, Stubenmäbchen bei 
Frau Curio, wußte von dem intimen Verhältniffe zwifchen 
Kirchner und ihrer Herrſchaft. Befragt über die Be— 
ziehungen ver Eheleute Curio zueinander jagt fie aus: 
Ka, das hat ein jeder merfen müffen, daß die Gnädige 
den Herrn nicht mögen hat. Ich habe e8 auch gehört, 
wie fie nach dem Attentate ausgerufen hat: „Es ift 
ſchad', daß er ihn nicht ganz erfchlagen hat, wenn er ihn 
nur orbentlich getroffen hätte!‘ 

Therefia Grubitfch, die achtzehnjährige Tochter 
des Gärtners, bezeugt: Alle haben gewußt, daß Frau 
Curio eine Liebſchaft mit Herrn Kirchner Hatte. Nach 
dem Attentat brachte die Gnädige den Stod Kirchner's 
in die Küche, zeigte ihn den Dienftleuten und fagte: 
„Kicchner kann meinen Mann nicht gejchlagen haben, 
denn jein Stod ift nicht blutig.“ 

XXIV. 9 


130 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Dr. Karl Kohn, Gemeindearzt in Döbling, ift in 
der Nacht des 14. Januar zu Herrn Curio gerufen wor- 
den und hat denſelben umnterjucht und behandelt. Die 
Wunde war an fich eine leichte, ver Heilungsproceß ver- 
(tief normal, eine Gehirnerjchütterung war nicht eingetreten 
und Herr Curio nah 6—8 Tagen wwieberhergejtellt. 
Er hat pflichtgemäß die Anzeige erjtattet. Der auf dem 
Gerichtstifche Tiegende Stod Kirchner’8 ift nach feiner 
Ueberzeugung geeignet, die fraglichen Verletzungen hervor- 
zurufen. 

Frau Curio ift nicht erfchtenen. An ihrer Statt kam 
ein Brief, München, ven 14. Juni datirt und von einem 
Herrn Janſen, Commerzienrath, unterfchrieben. Derſelbe 
befagt, daß Klara Curio feit ihrem Weggange von Wien 
an hochgradiger Erregung gelitten hat und nun an einer 
Nervenihwäche erkrankt iſt. 

Demgemäß werden die Vernehmungsprotofolle aus 
ber Unterjuchung verlejen. 

Klara Curio hat am 24. Januar ausgejagt: „Es 
ift richtig, daß ich mit Kirchner feit längerer Zeit ein 
intimes Verhältniß gehabt habe und daß wir häufig in 
Abfteigequartieren Zufammenfünfte hatten. Jedoch war 
vie legte Zufammenkunft drei Wochen vor dem At- 
tentate. (I!) Kirchner hat von mir Geld zur Bezahlung 
des Abjteigequartiers erhalten. Sonjt gab ich ihm leih- 
weise 1000 Mark. Am Freitag, 13. Ianuar, ſah ich 
bei Kirchner einen Brief mit der Handſchrift feiner Frau. 
Sch dachte mir, fie jchreibe ihm um Geld, auch war das 
Zimmer in der Waijenhausgaffe am 15. zu bezahlen — 
in diefem Zimmer fanden unfere Zuſammenkünfte jtatt. 
Da erinnerte ich mich eines Schmudes, den ich fchon 
längſt verkaufen wollte; ich habe venfelben Kirchner mit 
der Bitte, ihn zu verkaufen, übergeben. Ich habe von 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 131 


demjenigen, was fich am Abend des 14. Januar abgefpielt 
bat, feine Ahnung gehabt. Mein Dann und Kirchner 
gingen zufammen fort. Bald darauf fam mein Mann 
zurüd, um feinen Filzhut zu holen. Nach einigen Mi- 
nuten hörte ich die Slode des Haufes wieder. Mein 
Mann trat ein und fagte: «Klara, ſchau meinen Kopf 
an, wie mich der Kirchner gejchlagen hat» Er nahm 
feinen Revolver und jchrie: «Laß mir den Kirchner nicht 
herauf, ſonſt fchieße ich ihn nieder!» Ich habe ein Waſch— 
beden genommen und einen Schwamm, um das Blut abzu- 
waſchen. Ich fagte meinem Manne, er folle fo etwas von 
Kirchner nicht behaupten, er könne e8 nicht geweſen fett. 
ALS mein Mann verlangte, daß ich einen Arzt holen follte, 
eilte ich in den Garten und rief: «Gärtner!» «Kirch- 
ner!v Ich ſah eine menschliche Geftalt und erfannte, daß 
es Kirchner war. Was er that, weiß ich nicht. Ich war 
zu aufgeregt. Ich erinnere mich nur, gejagt zu haben, 
mein Mann wolle ihn erjchießen, er möge fich ſchleunigſt 
entfernen oder jo etwas vergleichen. Das Dienjtmädchen 
begegnete mir, fie ging zum Gärtner und ich Tief wieder 
zu meinem Mann.‘ 

Präfident. Zwei Zeuginnen haben geftern ausge- 
jagt, Frau Curio habe ſich nach dem Attentate in einer 
gelinde gejagt recht herzlofen Weife ausgebrüdt. Hieraus 
fönnte man fchließen, daß fie ihren Gatten haßte. 

Angeflagter. Das war auch der Fall. Oft hat 
fie mir gegenüber geflagt: „Ich mag ihn nicht, ich 
fann nicht mit ihm leben!“ 

Der Präfident fchreitet nun zur Vernehmung der 
Gerichtsärzte. 

Der Sachverftändige Dr. Doll gibt an: Der Blei⸗ 
knopf mit der elaſtiſchen Naht an des Angeklagten Stock 
macht dieſen geeignet, im Falle einer gewiſſen Gewalt— 

9* 


132 Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 


anwendung jehr gefährliche Verlegungen herbeizuführen. 
Daß im gegebenen Falle eine außergewöhnliche Gewalt- 
anmendung ftattgefunden hat, läßt fich aus der Beichaffen- 
heit der Wunde nicht jchließen. Es ift anzunehmen, daß 
die Wucht der Hiebe durch äußere Umſtände abgejchwächt 
wurde; aus der Unruhe besjenigen, ber die Hiebe ge- 
führt, läßt fich erklären, daß der zweite Hieb fchief ge- 
fallen iſt. 

Bertheidiger Dr. Benedikt. Konnte Kirchner, 
wenn er bei gefunden Sinnen war, glauben, daß biejer 
Stod geeignet fei, einen Menfchen zu töbten oder ihn 
mit einem Siebe bis zur Kampfunfähigfeit oder Bewußt- 
(ofigfeit zu betäuben ? 

Sachverſtändiger Dr. Doll. Diefer Meinung 
fonnte er jein. 

VBertheidiger Dr. Benedikt. Sind Sie, Herr 
Doctor, der Anfiht, daß ein Mann von der mittlern 
Körperkraft Kirchner’8 mit einem Schlage dieſes Stodes 
einen fräftigen Mann tödten fönnte ? 

Sadpverftändiger Dr. Doll. Die Möglichkeit ift 
nicht ausgejchloffen. Auch ift e8 möglich, einen Mann 
durch einen folchen Dieb zu betäuben. 

Präfident. Iſt mit dieſem Stode eine fchwere 
Körperverlegung ohne beſondere Gewaltanwendung möglich? 

Sachverſtändiger Dr. Doll. Es bevarf jedenfalls 
der Energie und Kaltblütigfeit, um erfolgreich mit einer 
ſolchen Waffe anzugreifen, erjt in zweiter Linie eines 
größern Grades phyſiſcher Kraft. 

Der zweite Sachverftändige Dr. Haſchek ſchließt fich 
in feinen Ausführungen dem Gutachten des früher ver- 
nommenen Dr. Doll an, hebt aber beſonders hervor, daß 
bei größerer Kraftanwendung der Hieb auch eine tödliche 
Wirkung hätte hervorbringen Fönnen. 


Der Procek wider Joſeph Johann Kirchner. 133 


Bertheidiger Dr. Benedikt. Gegenüber biejen 
Behauptungen, die meinem Clienten eine Kraft beimefjen, 
die derjelbe entſchieden nicht beſitzt, ftelle ich ven formellen 
Antrag, die Muskulatur des Angeklagten von den Ge- 
richtsärzten unterfuchen und prüfen zu laffen. 

Präfident. Herr Staatsanwalt, find Sie mit die— 
ſem Antrage einverjtanden? 

Staatsanwalt. Ich muß mich entſchieden dagegen 
ausiprechen. Der Angeklagte ift nunmehr feit fünf Mo— 
naten in Haft und infolge deſſen gewiß weniger kräftig 
als vorher. 

Sachverſtändiger Dr. Doll. Ich muß wieber- 
holen, daß in erjter Linie die Energie des Willens zu 
berücdfichtigen tft, weit mehr als die fräftigere Entwide- 
lung der Muskulatur. 

Präfident. Ich werde einen Gerichtsbejchluß ein- 
Holen. 

Der Gerichtshof bejchließt, die von der Vertheidigung 
beantragte Beweisaufnahme nicht zuzulaffen, weil es für 
die Frage, ob der Verſuch eines Verbrechens vorliege, 
gleichgültig bleibt, ob der Angeklagte in der Lage war, _ 
die That auszuführen; weil die Annahme, daß die förper- 
liche Kraft des Angeklagten während einer fünfmonat- 
lichen Haft gelitten, berechtigt erfcheint, endlich weil die 
ſachverſtändigen Gerichtsärzte erklärt haben, daß jelbit ein 
minder fräftiger Mann bei entjprechenvder Handhabung 
des vorliegenden Stodes als Angriffswaffe durch einen 
Hieb einen Menfchen betäuben kann. Der Gerichtshof 
jtellt e8 jedoch den Gejchworenen anbeim, von ihrem 
Rechte, eine derartige Beweisaufnahme zu begehren, Ge— 
brauch zu machen. 

Die Gefchworenen verzichten auf dieſe Beweisauf- 
nahme. 


134 Der PBrocef wider Joſeph Johann Kirchner. 


Die ald Zeugin geladene Frau Marianne Röffel 
iſt eine Dame von 35 Jahren, Hein, ſchmächtig, mit bligen- 
den jchwarzen Augen und tiefſchwarzem Haar. Sie fieht 
angegriffen und bleich aus, ihre Gefichtszüge find aber, 
wenn fie fich im Gejpräche beleben und eine leichte Röthe 
über ihre Wangen huſcht, einnehmend. Sie muß in 
früherer Zeit jehr hübſch geweſen ſein. Ihr Anzug ver- 
räth Gejchmad und eine gewiſſe Eleganz. 

Frau Röffel fagt aus: Ich Habe Kirchner anläßlich 
einer Landpartie am 5. Juli 1876 kennen gelernt. Ich 
war verwitwet, alleinftehend und felbitändig. Wir fanden 
aneinander Gefallen und liebten uns bald herzlich. Mit- 
mir zufammengezogen ift Kirchner erjt im Jahre 1880. 
Ih wußte, daß er verheirathet war, und feine Frau 
wußte von feiner Liebe zu mir. Er ift wiederholt zu 
jeiner Frau zurücgefehrt und hat erjt dann definitiv mit 
ihr gebrochen, als fie darauf beftand, er müſſe fich zwi— 
ihen uns beiden entjcheiben. 

Präfident. Haben Sie in dem Benehmen Kirch- 
ner's früher etwas Auffälliges bemerkt? 

Zeugin. Das erjte mal ſchon im Jahre 1877. Er 
behauptete, ein Nagel laufe an ver Zimmerwand fpazieren. 
Zuerſt hielt ich e8 für einen fchlechten Spaß, als ich aber 
ſah, daß feine Züge verftört und feine Augen irre waren, 
erfannte ich, daß er Frank fein mußte. Kirchner war jehr 
eiferfüchtig; er bildete fich ein, man wolle gewaltjam in 
unjere Wohnung dringen und ihn ermorden, er hat Leute 
vom Fenſter aus gejehen, während niemand ba war. Im 
Jahre 1878 litt er befonbers an folchen Wahniveen. Er 
war auf einen gewifjen Bertolini eiferfüchtig und wähnte 
jih von dieſem fortwährend verfolgt. Dieje Perjon war 
aber ein Wahngebilve, jemand, der gar nicht erijtirt hat. 
So hat er mir am 9. Ianuar jenes Jahres unter ben 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 135 


Zeichen heftigiten Entſetzens erzählt, Bertolini jet ihm 
nachgegangen und lauere ihm an der Hausthür auf. 
Kurze Zeit darauf ftürzte er in ber Küche ohmmächtig 
zufammen. Als er fich erholt hatte, verficherte er, Ber- 
tolini habe in einem Winfel der Küche geftanden und ein 
Mefjer bereit gehalten, um ihn zu erjtechen. Er habe es 
ihm aber entriffen und in den Leib geftoßen. Ich glaubte 
mich nicht berechtigt, Länger zu jchweigen, und habe da— 
mals Anzeige an die Polizei eritattet. Die Polizei hat 
auch eine ärztliche Unterfuchung veranftaltet, aber e8 wurbe 
feftgejtellt, vaß feine Geiſteskrankheit vorliege. 

Präfident. Können Sie noch über ein auffallendes 
Vorkommniß berichten? 

Zeugin. Kirchner ift einmal ohne irgendwelchen 
Grund aus einem Kaffeehaufe auf der Lanpitraße, wo 
wir beifammenjaßen, weggelaufen und mehrere Tage ver- 
ichollen geblieben. Als er zurüdfam, erzählte er mir, er 
habe fich, ohme zu wifjen wie, auf der Galerie des Carl- 
Theaters bei der Vorftellung einer Operette befunden und 
fich gefragt, wie er dorthin fomme. Dann jet er zu feiner 
Yamilie gegangen, als ob er niemals bort weggegangen 
wäre Ein andermal ijt er vor der Thür meines Schlaf: 
zimmers ohnmächtig umgefallen, weil er bemerft hatte, 
daß mir Briefe unter die Thürfpalte herein zugejchoben 
worden waren. Eines Tages fchrie er plößlich auf: es 
baue jemand mit einem Hammer auf ihn los. Er machte 
mir in wildejter Art die unerhörteiten Vorwürfe und 
Hagte viel über Kopfichmer;. 

Präſident. Wuften Sie von Kirchner’8 Verhältniß 
mit Frau Curio? 

Zeugin. Er hat mir ſelbſt davon gefagt. 

Präjident. Kirchner ift nach dem Attentate zu 
Ihnen gefommen? 


136 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Zeugin. Am Sonntag, den 15. Ianuar, aljo am 
Tage danah, nachmittags zwijchen 2 und Y/,3 Uhr. 

Präfident. In welchem Zuftande war Kirchner, als 
er zu Ihnen kam? 

Zeugin. Er war fehr aufgeregt. Ich fagte: „Du 
fiehft aber derangirt aus!” Er antwortete: „Du wirft 
gleih hören, warum.” Er zog mid und das Kind an, 
fih und brach in heftiges Weinen aus. Dann erzählte 
er mir, er fei mit Curio fortgegangen, da ſei plößlich ein 
Menſch gelommen und habe wie ein Wüthender auf Curio 
[osgejchlagen. Er habe ſich nicht rühren können, es habe 
ihn wie ein Starrframpf überfommen. 

Präfident. Sagte Kirchner, man werde ihn für 
den Thäter halten? 

Zeugin. 9a. Er fagte, er fei allein mit Curio ge— 
wejen und fürchte, daß man ihn für ven Mörder halten 
fünne. Er warf fich angefleivet auf das Bett und lag 
eine Stunde wie todt. Dann erwachte er und jagte: 
„Jetzt bin ich vollfommen beruhigt. Das wüſte Leben, 
das nur dem Vergnügen dient, gebe ih auf. Es 
untergräbt die Geſundheit. Ich will arbeiten und wir 
beide bleiben beifammen.” Darüber war ih ganz 
glücklich. 

Schriftjteller Balduin Groller, Chefredacteur ver 
„Neuen Illuftrirten Zeitung‘, wird als Zeuge vernommen. 
Er jagt aus: Ich kenne Kirchner feit 21 Jahren, ſeit 
jeiner Jünglingszeit. Er hat fich ſtets als vedlicher, 
ehrenhafter und in gejchäftlichen Beziehungen ſehr ge- 
wifjenhafter Mann erwiefen. Was feinen Geifteszuftand 
betrifft, jo muß ich hervorheben, daß er unter feinen Be- 
fannten für einen „Sonderling‘ galt, dem man abnorme 
Streiche zutraute. Ohne einen vernünftigen Grund mie: 
thete er in einem Jahre mehrere Wohnungen. Was 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 137 


Efjen und Trinken anlangt, jo hatte er die wunderlichiten 
Gewohnheiten. Er trank häufig an einem Tage 15 bis 
17 Zaffen ftarfen fchwarzen Kaffee, Fleiſch aß er fait 
gar nicht, und wenn es geſchah, nur Fleisch von großen 
Thieren; Geflügel überhaupt niemals. Er war ein fehr 
warmer Thierfreund. Der Gedanke, daß ein Thier feinet- 
wegen getöbtet werden könnte, quälte ihn förmlich. Ge— 
legentlich jagte er, wie zur Entjchuldigung! „Beim Ochjen 
trifft dies nicht zu.“ Ich Habe auf Grund meiner Be— 
obachtungen ſchon vor dem Unterfuchungsrichter Fein Hehl 
daraus gemacht, daß ich Kirchner nicht für normal und 
nicht für zurechnungsfähig halte. 

Poftverwalter Ludwig Finke in Preßbaum: Kirch- 
ner und ich waren Schulfameraden, ich Fenne ihn genau 
und weiß, daß er nicht im Stande it, ruhigen Blutes 
irgendeiner lebenden Creatur wehezuthun. Aber er litt 
immer an Sonverbarfeiten. Ich kann nicht behaupten, daß 
er von Haus aus „ein Narr” gemejen iſt, aber Schrullen 
hatte er immer. Al junger Menſch von 17 Jahren hat 
er fih in eine Frau verliebt und jahrelang hat er fie 
mit begeijterten Blicken angejehen, aber jich ihr niemals 
genähert. Von Habjucht war er zeitlebens frei. Als Kirch- 
ner's Vater in ziemlich ungeorpneten Verhältniſſen jtarb, 
hat er alles, was vorhanden war, feiner Stiefmutter über- 
laffen und nur einige Andenken an fich genommen, bie 
feine 10 Fl. Werth befaßen. Er war ein wechjelnden 
Stimmungen unteriworfener Gemüthsmenfch und Fonnte 
icheinbar ohne Uebergang von der ſchwärzeſten Nieder- 
gejchlagenheit plöglich in die ausgelafjenjte Heiterfeit um— 
ipringen. Kirchner hat ein weiches Herz gehabt, jelbit 
Thieren gegenüber. Er hat einen auf der Straße von 
einem Streifwagen überfahrenen Hund, einen ganz gar- 
ftigen Köter, aufgehoben, in feinen Armen nach Haufe 


138 Der Proce$ wider Joſeph Johann Kirchner. 


getragen und fo lange gepflegt, bis das Thier wieder- 
bergeftellt war. 

Schriftjteller Mar Konody: Ich kenne Kirchner 
jeit dem Jahre 1873. Ich habe in vemfelben ſtets einen 
verläßlichen Menjchen und Künjtler gefunden, dem ein 
gegebenes Wort heilig war. Im den legten Jahren fam 
etwas Sprunghaftes, Unftetes, ich möchte fast jagen krank— 
haft Erregtes in feinem Wejen zur Geltung, was mir 
früher nicht aufgefallen war. Ein Beweis feines eral- 
tirten Wefens und ber Unruhe, die in ihm gärte, war, 
daß er ohne ernitlichen Anlaß häufig feine Wohnung 
wechjelte, ich wiederholt verhältnifmäßig glänzend ein- 
richtete und die durch mühfame Arbeit bezahlte Einrich- 
tung bald darauf achtlos verfchleuberte. 

Nunmehr wird Frau Friederife Kirchner als 
Zeugin vorgerufen. Es ift eine blaffe, hagere und ab» 
gehärmte Frau von 44 Iahren, ihre hohe Geftalt ift zwar 
ungebeugt, aber ihre Gefichtözüge tragen feine Spuren 
früherer Schönheit. Sie ift höchſt einfach geffeivet und 
macht den Einbrud einer Frau aus dem Fleinen Bürger- 
ſtande. 

Präſident. Wie hat ſich Kirchner gegen Sie be— 
nommen? 

Zeugin (unter hervorbrechenden Thränen). Immer, 
immer gut! Er war ſtets ſehr zartfühlend. Von dem 
Verhältniß zur Röſſel habe ich anfangs nichts gewußt. 
Erſt nachdem daſſelbe etwa drei Monate ſchon gedauert 
hatte, iſt mir durch eine auf dem Schreibtiſche zufällig 
liegen gebliebene Karte Kenntniß davon geworden. Es 
kränkte mich tief. Ich habe meinem Manne Vorſtellungen 
gemacht. Er ſchien bewegt, erklärte mir aber, er könne 
von der Röſſel nicht laſſen. Ich vermochte den Zuſtand 
nicht zu ertragen und verlangte von ihm, er müſſe ſich 


Der Procef wider Joſeph Iohann Kirchner. 139 


zwijchen uns entjcheiven. Da zog er zur Röſſel. Er 
unterließ e8 aber nicht, nach Kräften für mich materiell 
zu forgen. Er gab mir urjprünglic 70 Fl. monatlich 
und bezahlte ven Zins der Wohnung, im legten Jahre 
aber einigemale weniger, nur 50 Fl. und einmal jogar nur 
40 3. Er hatte gewiß felbjt nicht mehr. Die Monats- 
raten hat er pünktlich gezahlt, bis zum legten Tage. Mehr: 
mals kam er, von der Röffel purchgehend, zu mir und ven 
Kindern zurüd. Er jagte mir dann immer, er könne ohne 
mich nicht leben. 

Präfident. Dann fagte er aber auch, er könne ohne 
bie Röſſel nicht leben. 

Zeugin. Sa, das fagte er, und ging wieder zu ihr 
zurück. 

Präſident. Wie iſt Ihnen Kirchner überhaupt vor: 
gefommen ? 

Zeugin. DO, er ift ein außergewöhnlicher Menſch. 

Präfident. Meinen Sie damit, jo gejcheit? 

Zeugin. Auch gefcheit. Aber, er war auch über- 
ipannt. Einmal hat er mir mitgetheilt, er habe in Bos— 
nien einen Menjchen umgebradht. Ich war ganz unglüd- 
lich darüber, und dann jtellte fich heraus, daß fich alles 
nur in jeiner Phantafie ereignet hatte. 

Hierauf wird das Gutachten der Gerichtsärzte Dr. 
Hinterftoißer und Dr. Fritſch verlejen, deſſen Er- 
gebniß dahin geht: 

Herr Joſeph Kirchner ift ein allerdings etwas ercen- 
trifch veranlagtes Individuum, welches in ben Jahren 
1878 und 1879 an Zuftänden pſychiſcher Irritation ge- 
litten bat, mit Ausnahme jener Zeit und feither, jowie 
auch zur Zeit der Verübung des ihm zur Xaft gelegten 
Verbrechens als geiftesgeftört nicht bezeichnet werben 
kann. 


140 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


An das Gutachten anfnüpfend erflärt Dr. Hinter- 
ftoißer: Die Aerzte hatten ihre Aufgabe in breifacher 
Richtung zu fuchen und zu unterjuchen; erftens: Haftet 
dem Angeklagten von Haufe aus eine ererbte Geijtes- 
abnormität an? Zweitens: Sind im Laufe jeines Lebens 
temporäre Geiftesftörungen conftatirt worden? und brit- 
tens: Haben ſich aus der Unterfuchung Anhaltspunfte 
ergeben, daß der Angeflagte zur Zeit der incriminirten 
Thathandlung fi in einem Zuftande der Geijtesver- 
wirrung befand? 

Zur erften Frage konnten die Sachverftändigen raſch 
Stellung nehmen. Weder aus den Angaben der Zeugen, 
noch aus denen des Angeklagten ergaben fich beachten®- 
werthe Momente für die Annahme einer Geiftesfranfheit. 
Die von den Zeugen erhärteten Ercentricitäten Kirchner’s 
— feine zahlreichen Liebjchaften, fein unftetes Wefen, jein 
häufiges Wohnungswechfeln u. ſ. w. — find noch Feines- 
wegs Zeichen von Geiftesftörung. Niemand kann be- 
haupten, daß Kirchner fich feiner jeweiligen Lage nicht 
bewußt gewejen ift. Auch in dem Verkehr der Gerichts- 
ärzte mit dem Angeklagten ift nicht® hervorgetreten, was 
eine erbliche Geiftesftörung annehmen läßt. Kirchner ift 
eine moralifch veranlagte Natur, er hat im Sturme des 
Lebens dieſe moraliiche Empfindungsweife nicht ganz ein- 
gebüßt. In den Jahren 1878 und 1879 vang er mit 
fich felbjt, daher rühren die Erjcheinungen hochgradiger 
pinchiicher Erregung. Die von Frau Kirchner und Frau 
Nöffel mitgetheilten Ereigniffe, das oftmalige Entweichen 
und das darauf folgende Benehmen Kirchner’8 mußten 
bei ven Aerzten zuerft die Annahme hervorrufen, berjelbe 
fei ein Epileptifer. Sch betone, daß dies ber erjte Ein- 
drud war, die Unterfuchung jeboch hat denſelben nicht 
betätigt. Für Laien muß ich bier Hinzufügen, daß die 


Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 141 


Epilepfie in den vielfeitigiten Formen auftritt, nicht nur, 
wie wohl vielfach geglaubt werden mag, in Krämpfen 
und Convulfionen, jondern auch im zeitweiligen Ausfalfe 
des Bewußtjeins, beziehungsweije des Gedächtniffes, mögen 
bei dem erkrankten Individuum diefe Functionen immer 
hin ſonſt regelmäßig jtattfinden. Ich bin nun durch die 
Beobachtung des Angeklagten zu der Anficht gelangt, daß 
die Angaben, die Kirchner der Frau Röſſel über feine 
Bewußtlofigfeitszuftände gemacht hat, nicht auf Wahrheit 
berubten. Er will während biejer Anfälle Skizzen an- 
gefertigt und fich in fremden Gegenden herumgetrieben 
haben, ohne daß fein krankhafter Zuftand aufgefallen 
wäre und ohne daß man ihn angehalten hätte. Ich bin 
überzeugt davon, daß Kirchner wohl wußte, was er that, 
wenn er der Röſſel entwich. Die von ihm vorgefchütte 
Bewuptjeinsitörung war eine leere Ausflucht, um fein 
Entweichen der Röſſel gegenüber zu bejchönigen. Wenn 
aber auch Franke Illuſionen nicht bewiefen find, fo kann 
doch jein auffallendes Gebaren aus einer gewiffen Stö- 
rung des pſychologiſchen Gleichgewichts entfprungen fein. 
Es ijt darum die Möglichkeit nicht auszufchließen, daß 
der Angeklagte in den Jahren 1878 und 1879 piuchiich 
geſtört gewejen ift. Allein feitvem ift fein Anzeichen eines 
wiederholten berartigen Gehirnreizes aufgetreten und con- 
jtatirt worden. Auch im Moment der That, die dem 
Angeklagten zur Zaft gelegt wird, kann feine Bewußtjeins- 
ſtörung ftattgefunden haben, da er jelbft die Umftände 
vor und nach derjelben genau zu berichten weiß, bie That 
felbft aber, das heißt die Ausführung des Attentates durch 
Stodichläge richtig jo angibt, wie diejelbe verlief, und da— 
bei nur die eine Ausflucht vorzubringen im Stande ift, 
bie fich jofort als nicht ftichhaltig für jedermann darſtellt. 
Bon impulfiven Momenten fann bier nicht die Rebe fein. 


142 Der Procek wider Joſeph Johann Kirdner. 


Wenn es auch monftrös Elingt, daß ein fo hochbegabter, 
mit jo vielen ſympathiſchen Eigenjchaften ausgeftatteter 
Menſch ſich mit Mordgedanken getragen haben joll, jo 
muß dies boch angenommen werben. Es erübrigt nur 
bie Frage nach den treibenden Beweggründen, und fie löſt 
jih, wenn man bie höchft verfängliche Stelle in dem 
Driefe an Frau Curio von dem Mislingen der klügſten 
Eombinationen, die finanzielle Lage Kirchner’s, feine Hoff- 
nung auf Verjorgung durch feine Geliebte und die hoch- 
gradige finnliche Leidenschaft erwägt, unter deren Einfluß 
diefe beiden Menjchen ftanden. Dieſe Leidenſchaft bewog 
den Angeklagten fogar, der Frau Curio vorzujchlagen, 
daß fie fich vergiften follte! Mein Gutachten, welches 
dag Ergebniß längerer und eingehender Unterfuchungen 
und Beobachtungen ift, gipfelt in dem Schluffe: Kirchner 
ijt ein etwas excentrifch veranlagter Menjch, von Tebhafter 
beweglicher Phantafie. Urfprünglich moralisch, ift er durch 
übermäßige gejchlechtliche Ausjchweifungen in jeinem Wejen 
gelodert und erfchüttert, unficher und ſchwankend gewor- 
den, jedoch find bei ihm weber in ber Zeit vor 1878 
noch nach 1879 Anzeichen feitgeftellt worden, bie ihn als 
unzurechnungsfähig ericheinen laſſen. Während der Zeit 
von 1878 und 1879 war mwahrjcheinlich eine blos tem— 
poräre pſychiſche Irritation vorhanden. 

Ueber dieſe Ausfage des Sachverftändigen entjpinnt 
fich zwifchen dem Dr. Hinterjtoißer und dem Dr. Bene- 
dikt eine eingehende Debatte, die auf feiten des Verthei- 
digers mit dem Aufwande des größten Scharfjinns und 
weitgehendfter Sachfenntniß geführt wird. Wir bejchrän- 
fen uns darauf, das Weſentlichſte mitzutheilen: 

Dr. Benedikt. Kommt e8 vor, daß bei einer tem- 
porär geiftesfranfen Perſon die Intelligenz, insbeſondere 


Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 143 


die Dialektik, joweit fie fih der Außenwelt gegenüber 

äußert, unberührt bleibt? 

| Dr. Hinterftoißer. In ganz bejondern Ausnahme: 
fällen ift dies wohl vorgefommen, aber im allgemeinen 

iſt die impulfive Irrfinnshandlung nur als Symptom 

eine8® im ganzen abnormen Geifteszuftandes zu be— 

trachten. 

VBertheidiger. Krafft-Ebing fagt, daß an derartigen 
Irrfinnigen nicht nur die Intelligenz erhalten bleibe, fon- 
dern daß jolche Irrfinnige fich gar oft der größten gefell- 
ichaftlichen Beliebtheit erfreuen. Er führt in feinen ein- 
ichlägigen berühmten Unterfuchungen Fälle gerade von 
Künftlern an, bei denen dieſes zutraf. 

Sachverſtändiger. Mir ift e8 wohl befannt, daß 
Krafft-Ebing den Beitand temporären Irrſinns nur bei 
Geiftesfranfen anerkennt. Ich bin auch urjprünglich von 
der Anſchauung ausgegangen, Kirchner ſei ein Irrfinniger, 
und bin erjt allmählich nach Monate dauernden Beobach- 
tungen zu ber Weberzeugung gelangt, daß dieſe Woraus- 
ſetzung unrichtig war. 

Bertheidiger. Geben Sie zu, daß eine zeitweilige 
Geiftesftörung bei Kirchner ftattgefunden hat ? 

Sachverſtändiger. Wenn ich das vorausjeßen 
fönnte, jo müßte ich jagen, daß er geiftig erfranft war. 

Bertheidiger. Sch bitte das zu protofolliren. — 
Was jagen Sie zu dem Einjchlafen Kirchner’8 während 
einer Lection? zu feinem Ohnmachtsanfalle im Theater? 

Sachverftändiger. Wenn man einmal im Burg— 
theater ohnmächtig wird oder während einer Lection ein- 
ichläft, fo ift dies noch fein Zeichen abnormer pſychiſcher 
Zuftände. 

VBertheidiger. Sie geben aber zu, daß zeitweilige 
©innestrübungen bei der epileptiichen Neuroje vorfommen? 


144 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirchner. 


Halten Sie nun eine derartige Störung bei Kirchner für 
ausgejchloffen ? 

Sadverjtändiger. Müßte ich annehmen, daß das 
Attentat von einem Menfchen ausgeführt wurde, ber an 
epileptifcher Neuroje leidet, jo würde ich auch den Schluf 
machen, daß eine Sinnestrübung vorgelegen habe. Allein 
das Benehmen des Angeklagten nach der That wider: 
ipricht der Annahme, daß fich Kirchner bei der Aus- 
führung in einem Zuftande temporärer Sinnesvermwirrung 
befunden hat. 

Bertheidiger. Sie ziehen Ihre Schlüffe, wie ich 
ichon wiederholt bemerfte, aus juriftiichen, nicht aus 
pinchiatrifchen Gründen. — Wie erflären Sie die räthjel- 
hafte Abneigung Kirchner’8 gegen alle geijtigen Ge— 
tränfe? 

Sachverſtändiger. Der conftatirte phyfiiche Wider: 
wille gegen Alkohol ift ein zufälliger, nicht auf Das Geiftes- 
leben des Angeklagten bezüglicher Umjtand. 

Der zweite Sachverftändige, Dr. Fritſch, bejpricht 
ausführlich die Gründe, die ihn veranlafjen, vie volle 
Zurechnungsfähigfeit Kirchner’8 anzunehmen. Er fieht 
in dem Angeflagten einen etwas ercentrifchen, aber feinen 
geiſteskranken Menfchen. Das Benehmen Kirchner’s nad 
dem Attentate liefere dafür den beiten Beweis. 

Auf Befragen des Vertheidigers, welcher auch bie 
Auseinanderjegungen dieſes Sachverftändigen einer ein- 
gehenden Kritif unterwirft, gibt derjelbe zu, daß geijtig 
erfranfte Individuen, welche an vorübergehenden Sinnes- 
trübungen leiden, ihre Gejchäfte fonft in normaler Weije 
zu erledigen im Stande find. Uebrigens können auch 
Epileptiler Handlungen begehen, für welche fie ver- 
nn find. Es gibt feinen Freibrief für folche 

ranke. 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 145 


Bertheidiger. Die Herren Gerichtsirrenärzte haben 
das Gutachten abgegeben, welches verlefen worden ift. 
Daffelbe zeigt meiner Anſchauung zufolge jo wejentliche 
Gebrechen, daß ich e8 als dem Geſetze geradezu wiber- 
Iprechend bezeichnen muß. Die Herren Sachverjtändigen 
haben fich nämlich für berufen erachtet, eine Aufgabe zu 
löſen, die weit über jene hinausgeht, bie ihnen geftelit 
war und ihnen nach dem Geſetze gejtellt werben durfte. 
Sie haben Dinge in den Kreis ihrer Erörterungen ge— 
zogen, über bie zu urtheilen fie nicht berufen find. Die 
Herren Sachverftändigen haben offenbar ihre perjönlichen, 
nicht fachmänniſch begründeten Anfichten über das Handeln 
des Angeklagten vor und nach der That zu einem Bilde 
formulirt und dieſes hinterbrein fich jachlich zu erflären 
geſucht. Die Sachverftändigen find befugt, auf alle Um— 
jtände eines ihrer Beurtheilung unterliegenden Falles 
Rückſicht zu nehmen, es ift jedoch nicht in ihrer Compe— 
tenz gelegen, die Frage der Schuld oder Nichtichuld des 
Angeflagten zu erörtern und zu entjcheiven. Sie jollten 
fi) darüber erflären, ob ber Angeklagte zur Zeit ber 
That geiftesgejtört oder gejund geweſen ift, und ob, ba 
er früher jchon einmal geiftesfrant war, auch diesmal 
eine Sinnestrübung ftattgefunden hat oder ftattgefunden 
haben kann. Im Widerfpruch mit der Strafproceßordnung 
haben fie aber ein Gutachten erftattet, welches der Ab- 
gabe eines Endurtheils durch die Aerzte gleichlommt. Ich 
jehe mich daher veranlaßt, zu verlangen, daß den Sach— 
verftändigen der ganze Fall noch einmal, jedoch nur hypo— 
thetiſch und mit Ausſcheidung aller zweifelhaften Umftände 
zur Begutachtung überwiefen werde. Eventuell beantrage 
ich die Einholung eines Gutachtens der medicinifchen Fa— 
eultät der Univerfität Wien. 

XXIV. 10 


146 Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 


Staatsanwalt. Der Herr Vertheidiger Hat zwei 
Anträge geftellt: erftens auf Ergänzung des Gut— 
achtend; zweitens auf Einholung eines Gutachtend der 
wiener mebicinifchen Facultät. Ich fpreche mich gegen 
beide Anträge aus. Der erfte zielt dahin, daß die Aerzte 
von der Anklage ganz abjehen follen. Diefer Antrag tjt 
vollflommen unbegründet, denn die Sachverftändigen muß— 
ten aus dem Gejammtbilde der Perjönlichkeit des Ange— 
klagten und aus den thatfächlichen Momenten ihre Schlüffe 
ziehen. Der zweite Antrag ift nach der Strafprocekord- 
nung unftatthaft. Das Gejek bejtimmt die Fälle genau, 
in denen ein Obergutachten eingeholt werden foll: wenn 
in den Ausführungen der berufenen zwei Sachverjtändigen 
erhebliche Widerjprüche vorfommen, oder wenn deren 
Schluffolgerungen offenbar unrichtig find. Keiner von 
biejen beiden Fällen liegt vor. Ich bitte den hohen Ge— 
richtshof, die von der Vertheidigung gejtellten Anträge 
abzulehnen. 

Der Gerichtshof bejchließt, die Anträge, gemäß ben 
Ausführungen der Staatsanwaltjchaft, zurüczumeifen. 

Nah dem Schluſſe des Beweisverfahrend beantragt 
ber VBertheidiger die Zufußfrage: „ob der Angeflagte 
die That im Zuftande der Sinnesverwirrung verübt habe“. 
Der Staatsanwalt Spricht fich dagegen aus, Der Gerichts: 
hof jedoch beichließt nach kurzer Berathung, den Geſchwo— 
renen eine Hauptfrage auf verfuchten Mord, eine Zujat- 
frage auf die Tüde bei der Ausführung des Attentates 
und eine zweite Zufaßfrage, ob die That im Zuftande 
der Sinnesverwirrung verübt worden jet, vorzulegen. 

68 folgt das Plaidoher. Staatsanmwalts-Subjftitut 
Hawlath recapitulirt nach einigen einleitenden Bemer— 
fungen die Ereigniffe bi8 zum Abend des 14. Januar und 
jhildert hierauf das Attentat. Nach feiner Ueberzeugung 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 147 


ijt Kirchner der Thäter, er hält es für unmöglich, daß 
eine dritte Perfon fich zwijchen ihn und Curio gejchoben 
hat. Alle ven Mordverfuch begleitenden Umſtände, jein 
Stod mit dem Bleifnopf, den man dort fand, feine un- 
glaubwürdige Fabel von dem Unbefannten, der plößlich 
erjchienen fein foll, feine wunderliche Erzählung, daß er 
ganz plöglich in einen lethargifchen Zuftand verfallen jet, 
endlich fein Benehmen nach der That beweifen unwider- 
feglich die Schuld des Angeklagten. 

Der Staatsanwalt jucht ferner darzuthun, daß Kirch— 
ner das Verbrechen vorbereitet habe, und rechtfertigt ſo— 
dann, weshalb die Anklage nicht auf Frau Curio erjtredt 
worden jei. Er fagt, er habe längere Zeit gejchwanft, 
aber doch endlich die Heberzeugung gewinnen müffen, daß 
jie zwar Mitwifferin, aber nicht Mitthäterin gewejen ſei. 
Sodann führt der Vertreter der Staatsbehörde aus: 
„Es ijt undenkbar, daß Kirchner die That nur aus Ab- 
neigung gegen Curio verübt hat. Mordgedanken waren 
ihm nicht fremd. Er ſelbſt hat angegeben, in Bosnien 
babe ihn die Luft erfaßt, einen Militärarzt, welcher ber 
Marianne Röffel die Cour machte, umzubringen. Er 
malte fich in feiner Phantafie die That mit allen Details 
jo lebhaft aus, daß er fih in den Gedanken hineinlebte 
und zeitweilig einbildete, er habe diefen Mord wirklich 
begangen. Im Jahre 1878 war Kirchner vielleicht geiftig 
irritirt, aber nicht geiftesfranf. Auch damals trug er fich 
mit Mordplänen gegen jenen Herrn Bertolini, über deſſen 
Perfjönlichfeit weiter nichts in Erfahrung gebracht worden 
ift. Nach dem Attentate gegen Curio wollte er jeine 
Geliebte Marianne Röffel und fein eigenes Kind im 
Schlafe ermorden. Das Attentat gegen Herrn Curio iſt 
ein verfuchter Meuchelmord. Es iſt die Frage der Zu- 
rechnungsfähigfeit des Angeklagten aufgeworfen worten. 

10* 


148 Der Procef wider Iofeph Johann Kirchner. 


Dabei ift zu erwägen, baß wir es mit einer boppelten 
Bertheidigung zu thun haben. Der Angeklagte jelbit jagt: 
Ih bin nicht der Thäter, eine dritte Perfon hat das 
Verbrechen begangen. Sein Bertheidiger dagegen be 
hauptet: Kirchner hat die That verübt im Zuftande ver 
Sinnesverwirrung. Hierauf tft zu erwidern: Das Ur- 
theil der Gerichtsärzte muß für und maßgebend fein. 
Diejes Urtheil lautet: Kirchner hat vie That mit vollem 
Bewußtſein begangen. Die Irrenärzte, welche nur zu 
jehr geneigt find, geiftige Störungen anzunehmen, find 
eines Irrthums nach der andern Richtung hin nicht ver- 
dächtig. Wenn fie ein Individuum für geiftig geſund er- 
klären, ift dieje Diagnofe gewiß richtig. Wir müffen uns 
darüber Far werden, wie e8 möglich war, daß ein geijtig 
jo begabter Menſch wie Kirchner jo tief geſunken ift. Die 
Lebensführung des Angeklagten war bis zum Jahre 1878 
tabelfrei, fie hat fih von da ab in abfteigender Linie be- 
wegt. Den erften Anftoß zu jeinem moraliihen Yalle 
erhielt er durch Marianne Röffel. Sie war es, die ihn 
jeiner Gattin und feinen Kindern entfrembete, und ihre 
Schuld wird nicht einmal wejentlich gemildert durch eine 
leivenschaftliche Liebe, denn fie hat Kirchner, mag es hier 
zugejtanden worden fein oder nicht, begründeten Anlaß 
zur Eiferfucht gegeben. Kirchner war ein Mann von 
muftergültiger Sparjamfeit und pebdantijcher Ordnungs⸗ 
liebe. Er zeichnete ſich aus durch eine bei Künftlern jel- 
tene Gewifjenhaftigfeit in Geldſachen und führte genau 
Rechnung über alle Einnahmen und Ausgaben. Als er 
das Verhältniß mit Frau Röffel angefnüpft hatte, bekam 
er jene Anfälle von Ermattung und Arbeitsjcheu, von 
denen wir gehört haben. Seine finnlichen Excefje zer- 
jtörten feine Gefundheit, raubten ihm aber auch den mo- 
raliihen Halt. Am 6. Juli 1878 fjchreibt er in jein 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kigchner. 149 


Tagebuch: «Marianne zieht aufs Land. Ich bin allein.» 
Bon da ab beginnt der dunkle Theil feines Lebens. Die 
materiellen Schwierigfeiten häufen fich, denn es gilt, für 
einen doppelten Haushalt zu ſorgen. Er füngt eine Lieb— 
ſchaft an mit Frau Curio, und dieſe ift für ihn ein ein- 
trägliches Geſchäft. Er fpielt nicht blos die Rolle des 
Liebhabers dieſer Dame, fondern empfängt von ihr auch) 
jehr werthvolle praftiiche Beweife der Anhänglichkeit. Er 
wird in Eurio’8 Haufe vorzüglich verpflegt, noch beſſer 
als der Hausherr; Frau Curio gibt ihm aber auch hinter 
dem Rüden ihres Mannes Geld. Er läßt fich von ihr 
eine ganze Menge von Bebürfniffen bezahlen, ſogar das 
Reinigen der Wäfcheftüde und andere Kleinigkeiten. Eine 
Frau, die von einem Manne ausgehalten wird, ijt wol 
ſchon etwas Schmähliches, ein Mann aber, der fich von 
jeiner Geliebten ernähren und bezahlen läßt, jteht auf dem 
Gipfelpunfte der Schmach. Und auf dieſer Stufe war 
Kirchner angelangt. Er hatte feine Empfindung mehr für 
Ehre und Treue, für Männlichkeit und Selbftachtung. 
Eurio jollte aus dem Wege gejchafft werden, damit jeine 
Frau frei über ihr Geld fchalten und er feiner Luft 
ſchrankenlos fröhnen könnte. 

„Wenn Sie dieſen Angeklagten für ſchuldig erkennen, 
meine Herren Geſchworenen, wird man nicht ſagen können, 
daß Sie eine Exiſtenz zerſtört haben. Wenn er die Strafe 
verbüßt hat, welche ihm kraft Ihres Verdicts auferlegt 
werben joll, wird er überall ein neues Leben der Arbeit 
beginnen können, denn die Kunſt hat überall ihr VBater- 
land, Vorher aber fordere ich von Ihnen, daß Sie der 
Schuld die Sühne folgen laffen, daß Sie die Hauptfrage 
bejahen, die Zufaßfragen jedoch verneinen follen.“ 

Nach einer kurzen Paufe nimmt der Vertheidiger das 
Wort. Dr. Benedikt jagt: 


150 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirdner. 


„Nach der aufregenden Beweisaufnahme und dem hef— 
tigen Meinungsjtreit der Parteien jtehen Sie vor ber 
ihwierigften Aufgabe, welche dem Richter gejtellt werben 
fann: der Enträthjelung einer geheimnißvollen Menjchen- 
jeele, ver Auffindung des tiefverborgenen Urjprungs von 
Wille und Schuld. 

„An dem Tage, an dem die Verhandlung hier begann, 
hatte nur eine Perſon in dieſem Saale fchon zuvor bie 
Möglichkeit und die Gelegenheit gehabt, fich diefem Räth- 
jel zu nähern, wiederholt in langen Gefprächen ven Mann 
zu ſtudiren, der im zweiundvierzigſten Lebensjahre, nach 
zwanzigjähriger ftrebjamer und erfolgreicher künſtleriſcher 
Thätigfeit, unter der Anklage des Mordes vor Ihnen 
fteht. Diefe eine Berfon war der Bertheibiger. Der 
öffentliche Ankfläger ſchöpft das Bild der Perfon, deren 
That er zu verfolgen berufen ift, aus dem Stubium 
todter Acten, er fennt ven Mann, ven er anflagt, nicht 
von Geficht zu Geſicht. Erſt im Verhandlungsfaale tritt 
er ihm gegenüber, zu fpät, um das Bild, welches er fich 
von ihm ſchon zuvor entworfen hat, zu corrigiren. Der 
DVertheidiger fteht dem Angeklagten wejentlich näher. So 
jhwer e8 auch fein mag, in ein fremdes Geelenleben 
einen Einblid zu gewinnen, ſchon die erjte Unterredung 
mit Kirchner war für mich entfcheidend. Ich gefellte mid) 
von da an zu dem Kreife jener Freunde Kirchner’s, die 
mit jeltenev Treue und Innigfeit an ihm hängen, bie 
alle ohne Ausnahme den Gedanken, Kirchner fünne ein 
Verbrecher fein, entrüftet oder mit ungläubigem Lächeln 
zurücweifen. Der Mann, ver fo gut, jo wohlthätig, fe 
warmberzig in jahrelangem vertrauten Umgange fich ge- 
zeigt hatte, ver Mann, der feinen Wurm zertrat und 
einen kranken Hund auf den eigenen Armen nah Haufe 
trug, um ihn zu pflegen, ver um feinetwillen fein Huhn 


Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 151 


abjtechen ließ und fich Lieber mit Pflanzenkoſt begnügte, 
biefer Mann jollte ein Mörder fein! Sie haben eine 
Reihe jener ehrenwerthen Zeugen gehört — feiner von 
ihnen hat auch nur ein Wort gegen den Angeklagten zu 
jagen gewußt! 

„Auch in mir hat fich die Heberzeugung befeitigt, daß 
nicht Kirchner es geweſen ift, der einen Mordverſuch be- 
gangen hat. Mag feine Hand blindlings darauf zuge- 
ichlagen haben — der wirkliche Menjch, der gejunde Kirch- 
ner wußte nichts davon. 

„Man fieht oft in illuftrirten Zeitungen jogenannte 
Verirbilder. Ein mwüjtes Durcheinander von Strichen, in 
denen ber Blid ſich verliert, endlich aber fchließen ich 
die Linien zufammen, ein Bild tritt aus dem Rahmen 
hervor, zu dem bie ganze Zeichnung nur als Einleitung 
und Vorwand gedient hat. Einige Kleine geſchickt einge- 
fügte Striche genügen, um aus dem Gewirre der Linien 
bejtimmte Formen hervorgehen zu lajfen. Nehmen Sie 
dieje weg, fo bleibt nur die Frage übrig. So erjcheint 
mir die Anklage. 

„Wirre Linien laufen durch das Leben aller Menjchen. 
Als man Kirchner’s Vergangenheit prüfte, ba zeigten ſich 
bei ihm die fraufen Linien der Sinnlichkeit, der gejchlecht- 
lichen Exceſſe, die zu vorübergehenver wirthichaftlicher 
Unordnung führten, an fich nur Eleine Fehler, die aber 
geſchickt gruppirt, zu einer grauenhaften Anklage fich zu— 
jammenbellten. So iſt das Verirbild des gemwollten, 
vorbebachten, worbereiteten und bewußten Mordes von 
dem öffentlichen Ankläger gezeichnet worden. Dieſe 
zerjtreuten, kunſtreich gefammelten Indicien fehen jich 
fürdterih an, allein eine genauere Unterjuchung 
zeigt, daß fie nicht zufammenftimmen und ſich wiber- 
Iprechen. 


152 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


„Es ijt meine aufrichtige Ueberzeugung, daß wir einen 
kranken Mann vor uns fehen, daß ein planlofer Act im- 
pulfiven Wahnfinns da vorliegt, wo der Vertreter ber 
Staatsbehörde Abficht, Beweggrund und Vorbevacht ge- 
wittert hat. Zu dem verübten Verbrechen lag fein ver- 
nünftiger Grund vor. Die Momente, die in den Pro— 
ceß verflochten wurden, um Kirchner eines planmäßigen 
Vorgehens zu verbächtigen, find fünftlich hineingetragen. 
Die Ausführung des Attentats ijt eine jo unverjtändige, 
jo jelbjtverrätherijche und geradezu finbifche, daß fie einem 
Menſchen von fünf gejunden Sinnen gar nicht zugetraut 
werben kann, am wenigjten einem Manne von jo hervor» 
ragenber geiftiger Begabung, wie Kirchner e8 war. 

„Zuerſt drängte fich der Verdacht auf, daß Kirchner, 
um Frau Curio von dem ihr läjtig und unerträglich ge- 
worbenen Gatten zu befreien, alſo aus leidenſchaftlicher 
Liebe und aus Mitgefühl zum Verbrecher geworben jet. 
Eine ſolche Auffaffung würde feinem Charakter eher ent- 
ſprochen haben. Allein die Staatsanwaltjchaft ließ dieſe 
Anficht fallen, weil fie fich überzeugte, daß Kirchner für 
Frau Curio nicht jene überwältigende Leidenjchaft empfand, 
bie eine ſolche That erklären würde. Die That aber war 
da. Sie mußte mit dem Thäter nicht nur in einen 
äußern, jondern auch in einen innern urfächlichen Zu- 
jammenhang gebracht werden, damit fie nicht von vorn— 
herein als eine unzurechnungsfähige Handlung erkannt 
wurde. Die Stodhiebe wurden deshalb zu einem Mord— 
attentate gemacht. Es wurden einige jener wirren Linien, 
beren ich früher gedachte, herangezogen; bie Gelvverlegen- 
beiten, in die Kirchner gerathen war, jollen der Beweg— 
grund zu der That gewejen fein. Dieje noch dazu unbe- 
deutenden finanziellen Sorgen wurden benugt, um ben 
Angeklagten zum Mörder aus Habfucht zu ftempeln. 


» Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 153 


„Kirchner, eine immer großmüthige und leichtlebige 
Natur, der jede Verpflichtung pünktlichſt einhielt, ſollte 
einen Mord aus den ſchmuzigſten Motiven vorbereitet 
und verſucht haben. Wenn die Staatsanwaltſchaft der— 
gleichen behauptet, jo ftellt fie eine Hypotheſe auf, die 
im Widerfpruche fteht mit der pſychologiſchen Entwidelung 
des Angeklagten, feinem ganzen Weſen, feinem Qempera- 
ment und jeinen geiftigen Fähigkeiten. 

„Kirchner ftammt aus guter bürgerlicher Familie. 
Seine erjte Jugend hat er in behaglichen materiellen 
Berhältniffen verlebt. Sein Bater beftimmte ihn für den 
faufmänniihen Stand. Der fünftlerifche Trieb in ihm 
empörte fich gegen diejen aufgezwungenen Beruf. Unter 
freiwilligen Entbehrungen bezog er die Akademie der bil- 
denden Künfte und errang ben erften Preis. In den 
Sahren, in welchen er, mit einem jehr geringen Zuſchuß 
vom Xelternhaufe, faft darbend, doch erfüllt von idealem 
Streben, die Hochichule bejuchte, Ternte er die Familie 
des Wirthes nom Lobfowig-Keller kennen und trat zu 
biejer in nähere Beziehungen. Dort nahm er feine Mahl- 
zeiten ein und fand Credit, als diefer ihm am nöthigften 
war. Er ertheilte ven Töchtern Unterricht im Zeichnen, 
und in dem vielfachen ungeftörten Beifammenfein Enüpfte 
er ein intimes Verhältniß an mit der ältejten Tochter 
des Wirthes, einem um mehrere Jahre ältern Mädchen. 
Dem Vater gab er auf dem Sterbebett das Wort, feine 
Tochter zu heirathen. Er hat fein Verfprechen, welches 
ihm zur Feffel werden mußte, in männlicher Ehrenhaftig- 
feit eingelöft. Er ehelichte ein Mädchen, welches gänzlich 
unbemittelt und weber mit geiftigen Vorzügen, noch mit 
förperlichen Reizen ausgejtattet war. Seine Frau ftand 
an Bildung tief unter ihm. Das gegebene Wort war 
ihm aber heilig. Sie haben die Frau in Perjon vor fich 


154 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


gejehen, und ich brauche nichts mehr hinzuzufügen. Kirch- 
ner brachte das größte und ſchwerſte Opfer. Er verzich- 
tete darauf, feinen Fünjtlerifchen Idealen nachzuftreben 
und, wie er es geträumt, ein großer Maler zu werden. 
Die fatale Nothwendigfeit, einen Hausſtand zu ernähren, 
zwang ihn, leichterm Erwerbe nachzugehen, und jo ward 
er Illuſtrationszeichner. Auch das väterliche Erbe hatte 
er feiner Stiefmutter überlafjen, vie ſonſt mittellos ver- 
blieben wäre. Und diefen Mann verbächtigt die Staate- 
anwaltichaft, das fürchterlichite Verbrechen aus Hab- 
jucht begangen zu haben! 

„Es gelang ihm, in dem neuen, felbjtgewählten Berufe 
in kurzer Zeit einen Namen zu erwerben, ver weit über bie 
Grenzen Defterreich8 hinausging. Er war als Landichafts- 
zeichner zu einer Specialität erften Ranges geworben. 

„Im Sahre 1876 lernte Kirchner eine Frau kennen, 
bie ebenjo jchön als Hochbegabt, geiftreich und gebildet 
und dabei tief unglüdlich war. Keine Perjon ift in diefem 
ichredlichen Drama härter getroffen worden als dieſe 
Frau, welche troß mancher fchmerzlichen Erfahrung mit 
unzerjtörbarer Liebe an Kirchner hängt. Die Tochter 
eines Mannes, der ald Staatsbeamter, als Schriftfteller 
und als Dichter in hervorragendem Maße Erfolg auf 
Erfolg gehäuft und ein dauerndes Andenken fich errungen 
bat, ſtand diefe Frau an Talent und Bildung, an Geift 
und Temperament Kirchner nahe, und fo geichah e8, wie mit 
naturgewaltiger Nothiwendigfeit, daß dieje beiden fich fans 
den und fich fo herzlich aneinanderjchloffen, daß ein Bund 
für das Leben daraus werben mußte. Und diejer Bund 
blieb fejt, troß der unfeligen Verirrung, die den Ange 
Hagten in die Arme der Frau Curio trieb. 

„Ehe fich Kirchner entjchloß, feine Gattin zu verlaffen 
und ſich ganz mit feiner geliebten Marianne zu vereinigen, 


Der Procef wider Iofeph Johann Kirchner. 155 


hatte er ſchwere innere Seelenfämpfe durchzumachen. Er- 
ichöpft von Aufregungen und Seelenqualen, ein Spielball 
wiberjftreitender Gefühle und hin- und hergeworfen von 
Zweifeln über die Grenzen von Liebe und Pflicht, verlor 
er die Arbeitsluft und bie Arbeitsfähigfeit. Es ging ihm, 
dem verwöhnten Künftler, fo fchlecht, daß er und feine Ge— 
liebte zeitweilig auf Stroh fchlafen mußten. Dennoch hat er 
jeine pecuniären Verpflichtungen gegen feine Frau und feine 
Kinder pünktlich erfüllt. Die eigenen Entbehrungen achtete 
er nicht, ja er vermochte feine Geliebte zum Aufgeben ver 
gewohnten Behaglichkeit zu veranlaffen; aber die Frau, für 
die zu jorgen ihm die Ehre gebot, ließ er nicht varben. Als 
feine Energie wieder erwachte, änderten fich die VBerhältniffe 
raſch. Er erwarb reichlich, was er bedurfte. Im Kirchner 
lebten zwei Naturen. Er war ein fparfamer, Hleinbürgerlicher, 
ängjtlicher und pedantifcher Rechenmensch, der jeden Kreuzer 
jeiner Ausgaben auffchrieb, und dann wieder faufte er per- 
ſiſche Teppiche. und feltene Waffen, lud freigebig feine Freunde 
zum Abendeſſen, und dabei war folche Ebbe in feiner Kaffe, 
daß Marianne Röffel kaum zwei und drei Gulden zurüd- 
behalten fonnte, um die Ausgaben für den nächften Tag 
zu bejtreiten. Ein folder Dann macht fich feine Sorgen 
um bie Zufunft und wird gewiß nicht zum Raubmörder. 
Marianne Röffel hatte dem Angeklagten eine Häuslichkeit 
gejhaffen, in welcher er fich glücklich fühlte. Sie hatte 
ihm den Weg zur Anerkennung und zum künſtleriſchen 
Erfolge dadurch geebnet. Es hat mich fchmerzlich berührt, 
daß der öffentliche Ankläger für diefe arme Dulperin, 
weil fie in einer außerhalb ver jpießbürgerlichen Moral 
gelegenen Bahn Iebte, fo harte Worte gefunden hat. 
Nicht im Jahre 1878, fondern im Jahre 1886 brach in 
ber Geftalt des Ehepaares Curio das Verhängniß in das 
Leben dieſes Mannes herein. Das Ehepaar Curio — 


156 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirchner. 


Mann und Frau — waren die Dämonen, die Kirchner’s 
Leben zerftörten. Während die neunundzwanzigjührige, 
heigblütige, begehrliche Frau, welche nur neben, nicht mit 
ihrem Manne lebte, aber dennoch von ihm eiferfüchtig 
überwacht und in Eleinlicher Weife gepeinigt wurbe, in 
auflodernder Sinnlichkeit Kirchner ganz für fih in An— 
spruch nahm, zwang ihn dieſes Verhältniß, ven eigenthüm- 
lichen Xiebhabereien des Herrn Curio zu Dienften zu jein, 
das heißt, fein ftändiger Begleiter bei den fchalften und geift- 
lofeften VBergnügungen zu werben. Er mußte Masfenbälle 
bejuchen, auf denen die zweifelhaftefte Gejellichaft verkehrte, 
und bis zur Erichöpfung theilnehmen an dem Leben reicher 
genußfüchtiger Menjchen, die feinen Beruf haben. 

„Herr Curio hatte feinen Hofmeifter verabjchiedet, er 
lud den Angeklagten ein, zu ihm zu ziehen, um fein Haus 
zu überwachen; er wollte ihn als feinen Genofjen nahe 
bei der Hand haben. Einen Wohlihäter Kirchner’s nannte 
ber Vertreter der Staatsbehörde den Herrn Curio. Nichts 
kann unrichtiger fein. Im Banne der neuen Leidenschaft 
opferte Kirchner feine Zeit, feine Arbeitskraft, feine Ein- 
nahmeguellen und feine Geſundheit. Er gerieth infolge 
deſſen in Geldverlegenheiten, und dieſe benugt ber öffent- 
liche Ankläger, um einen todbringenden Schlag zu führen. 
Er holt aus der Rüſtkammer die fchärffte Waffe heraus 
und brandmarft ven Angeflagten, indem er ihm die ver- 
ächtlichfte Bezeichnung zuwirft, die unfere Sprache fennt, 
er nennt ihn einen «ausgehaltenen Mann»! — Wäre 
dies zutreffend, es wäre vernichtend; allein es ijt blos 
eine im Eifer der Rede gebrauchte Phraje. 

„Kirchner hat niemals die Abficht gehabt, fich aus- 
halten zu laſſen. Er hat Herrn Curio vorgejchlagen, 
einen Theil der Hauszinsfteuer für die Villa zu tragen. 
Er befand fich in feiner Nothlage, er hatte Beftellungen 


Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 157 


im Betrage von ungefähr 1000 Fl. und barüber zur 
Ausführung übernommen. Wichtig ift nur, daß er von 
Klara Curio das ihm angebotene Darlehn von 1000 Marf 
und ein Sparkaffenbuch über eine Einlage von 150 Fl. 
angenommen, und daß fie ihm, am Tage vor dem Un— 
glüf, einen alten Schmud übergeben hat, der verkauft 
oder verjegt werben follte. Werthvoll war dieſer Schmud 
nicht. Kirchner hat ihn für 40 Fl. verfegt. 

„Die Anklage geht jo weit, zu behaupten, Kirchner 
habe Herrn Curio aus dem Wege räumen wollen, bamit 
Frau Curio freies Verfügungsrecht über ihr Vermögen 
erlange und deſſen Einfünfte ihm zuwenden könne. Allein 
biejen Punkt, welcher die Habjucht des Angeklagten be- 
weiſen joll, hat die ſonſt jo jorgfältig geführte Unterfuchung 
nicht Far gelegt. Frau Curio befaß fein eigenes Vermögen, 
jondern nur eine Rente, welche fie von ihren eltern für 
die Bebürfniffe des Haushaltes empfing. Der Staate- 
anwalt ijt der Anficht, diefe Rente habe nach dem Ab- 
leben des Gatten zu ihrer unbejchränften Verfügung ge- 
jtanden. Dies ift nicht erweislich. Ihre Aeltern konnten 
die Zahlung der Rente einstellen oder ihre Tochter zurüd- 
rufen. Das Ehepaar Curio lebte auf großem Fuße. 
Sie waren rei. Aber ihre Einkünfte bezogen fie zum 
größten Theil von dem Vermögen des Mannes, nicht 
von dem der Frau. Es mag fein, daß Klara Curio in 
Zukunft eine größere Erbichaft zu erwarten hat, bisher 
aber betrug ihre Rente nur — 4500 Mark jährlich! ... 
Das ijt feine Summe, die einem Manne wie Kirchner 
hätte verlodend erfcheinen fönnen, das wird mir der Herr 
Staatsanwalt wol zugeftehen müſſen. ‘Der Angeklagte 
bat in jchlechten Jahren 5000 FI. verdient, in guten fat 
um die Hälfte mehr, und ihm traut man zu, er habe fich 
entjichlofien, ein Müßiggänger zu werben und mit Frau 


158 Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 


Curio von ihrer Rente zu leben? Dieje Rente von 
4500 Mark hätte ihn und Frau Curio, Frau Röffel und 
ihr Kind, feine Frau und feine Kinder erhalten, Kirchner 
hätte für die halbe Einnahme die doppelte Laſt überneh- 
men jollen, nur um nichts arbeiten zu müfjen? Wer joll 
das für möglich halten? 

„Der Staatsanwalt folgert dies aus dem Umftande, 
daß Kirchner arbeitsunluftig geworben fei, und führt als 
Beweis dafür die flüchtig Hingeworfenen Aeußerungen 
des Angeklagten an, daß er künftig das Zeichnen aufgeben 
und nichts mehr arbeiten werde. 

„Zugegeben, daß dieſe Aeußerungen wirklich gefallen 
find, wann hat je ein Künjftler, ein Dichter gelebt, ver 
nicht zeitweilig aus Enttäufchung, aus Unmuth an fi 
jelbjt gezweifelt, der nicht an einem Tage die Palette, 
den Stift weggeworfen und gelobt hat, nie mehr danad) 
zu greifen, und dennoch am nächiten Tage mit Feuereifer 
weiter an feinem Werfe fchaffte? Das find Stimmungen 
und Geelenzuftände, die jeder Künftler, auch der größte 
und bebeutendfte, durchzumachen verurtheilt iſt. Es liegt 
im Wejen der Kunft, in deren Banne er lebt und athmet, 
daß fie einmal ihren Jüngern als höchſtes Ideal vorjchwebt 
und dann wieder, mit Grillparzer's Worten, wie ein 
Büttel raſtlos durch das Leben peitjcht. 

„Denn dies für ven abſeits vom Getriebe des Alltags- 
febens jchaffenden Künftler gilt, um wie viel mehr von 
jenem, ber im Dienfte des täglichen Brotes arbeitet. 
Sind jolche verzweiflungsvolle Gemüthszuftände bei einem 
Künftler nicht begreiflich, der dazu verdammt ift, das 
Rathhaus fiebenundzwanzigmal nacheinander zu zeichnen? 

„And nun zur That jelbit. Noch heute liegt ein 
Schleier über den Greigniffen jenes Unglücksabends. 
Kirchner erklärt heute wie zuvor mit verjelben ruhigen, 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirhner. 159 


unerjhütterlichen Beftimmtheit, daß nicht er, daß eine 
dritte Perſon zugefchlagen habe.“ 

Der Vertheidiger führt nun aus, die Bejchreibung, 
bie Kirchner von dem Vorgange gibt, laſſe auf eine Hal- 
Iucination des Angeklagten jchließen: „Wäre Kirchner bei 
klarem Verſtande gewejen und hätte er Herrn Curio aus 
bem Wege räumen wollen, jo würde eine unvernünftigere 
Art der Ausführung eines Mordanfalles nicht denkbar 
jein als die, einen Fräftigen Mann um 9 Uhr abends 
unmittelbar unter ven Fenſtern feiner Billa mit einem 
einfachen Bleiſtock nieverzufchlagen! 

„Es war überhaupt nicht anzunehmen, daß ein kräf— 
tiger Mann wie Herr Curio auf den erjten Schlag tobt 
jein würde. Und trat der Tod nicht fofort ein, jo war 
der Angreifer verloren. Ein einziger Hülferuf mußte, 
wie es denn auch thatjächlich gefchehen ift, gehört werben 
und die Folge haben, daß Menjchen herbeieilten. Der 
Mörder mußte wiffen, daß der ihm an Körperfraft über- 
legene Curio fih zur Wehre fegen und daß er jofort er- 
griffen und überführt werden würde, Vor den Augen 
der Hausgenofjen ging Kirchner mit Herrn Curio fort. 
Bor jeinen Fenftern wollte er ihn — nach der Annahme 
des Herrn Staatsanwalts — erſchlagen!“ 

Der VBertheidiger bemüht fich, ven Beweis zu führen, 
daß die That verübt fei infolge eines Anfalls von Irr- 
finn auf epileptijcher Grundlage. Er wendet jich fcharf 
gegen die Gerichtsärzte, welche objectiv wol zugeben, daß 
jolche vorübergehende Störungen möglich find, daß Kirch- 
ner ein Neurotifer und vor Jahren geiftig geftört gewejen 
jet — aber trotzdem behaupten, feine Zurechnungsfähigfeit 
bei dem Anfalle vom 14. Ianuar fei nicht zu bezweifeln. 
Die Aerzte haben als „Richter“ geurtheilt, nicht als 
Sachverſtändige. „Sogar die Fabel von der geplanten 


160 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirchner. 


Gemsjagd ift won ihnen herangezogen worden, um ihre 
Anficht zu begründen. Ein Gejpräh, deſſen Wortlaut 
nicht zu controliven ift, das auf einen jener Scherze 
hinausläuft, wie. er unter Freunden leicht vorfommen 
fan, wenn man dem andern fein Jägerlatein auskramen 
hört, ein Wit, der dem trophäenlüfternen Curio eine ge— 
fahr- und mühevolle Jagd verhieß, eine Nederei ganz 
durchfichtiger Art — fie jollte Stimmung machen, weil 
die Beweife nicht ausreichten. Die Strafproceßordnung 
liebt e8 nicht, daß mit «Uleberrajchungen» gearbeitet wird, 
und fie hat dazu gute Gründe, denn ber arglofe Gerichts- 
irrenarzt ift bier ftarf überrumpelt worden. 

„Für jedermann, der Kirchner und feinen Abjcheu vor 
dem Blutvergießen, feine Weichherzigfeit fannte, liegt ber 
Gedanke nahe, daß wir e8 zu thun haben mit einem 
Act plötlicher Geiftesverwirrung. Kirchner's Borleben 
beweift, wie gegründet dieſe Vermuthung ij. Es liegt 
offenbar ein Fall des periodiſch wiederfehrenden ſoge— 
nannten circulären Wahnjinnd vor. Unfinnig und une 
logifh in der Ausführung, grundlos und im grellen 
Widerſpruche mit Kirchner’8 Art und Wejen läßt jich pie 
That des 14. Januar nur erflären und verjtehen als 
franfhafter Ausbruch eines gejtörten Nervenſyſtems. 

„Ein Moment läßt uns am Schluffe dieſer peinlichen 
Unterfuhung aufathmen. E8 fehlt der blutigrothe Hinter- 
grund. Es iſt fein Opfer gefallen. Fürchterlich laftet der 
Borwurf der Blutihuld auf dem Angeklagten, aber ihn 
verfolgen nicht die Schatten des Erjchlagenen. Nein, wie 
ein Satyripiel nach der Tragödie ift es anzuhören, daß 
faum eine Woche nach dem «Mordverjuch» Herr Eurio 
auf dem Zouriftenfränzchen tanzt und in einer verjchwie- 
genen Nifche des Sophienjaales als Theilnehmer einer 
partie carrde mit Masken koſt. 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 161 


„Durch nichts ift die kühne Hypotheſe ver Anklage von 
einer langjamen Depravation des Charakter des Ange- 
Hagten begründet. 

„Kichner war vielmehr von jeher ein ehrenhafter, 
guter Menſch, der leider der Macht finnlicher Reize nicht 
energijch genug widerſtand. Die entjegliche Prüfung, ver 
er nunmehr unterworfen worden ift, wird ihn läutern, 
bie Schladen von ihm nehmen. Ein fchmeres, tiefes 
Leid bringt den Mann zur Erfenntniß jeines befjern 
Selbit. 

„Geben Sie durch Ihr Verdict den Künftler Kirchner 
feinem Berufe, ven Menjchen Kirchner dem Leben wieder. 
Was er verfchuldet hat, das hat er tauſendfach gebüßt, 
e8 gehört vor feinen menfchlifchen Richterſtuhl. Morb- 
gedanken find feiner Seele jtetS fremd gewejen. Sprechen 
Sie ihn, der das einzige Opfer des Vorfalls am 14. Ja⸗ 
nuar it, von ber furchtbaren Anklage frei, die eine Ver- 
bindung von Krankheit und Zufall auf fein armes Haupt 
gezogen hat, und Sie werben ber Gerechtigkeit zum Siege 
verholfen haben.‘ 

In der Replif hält der Vertreter ver Staatsanwalt- 
Ihaft den Ausführungen des DVertheidigers, den er als 
einen Dilettanten auf dem Gebiete der Piychiatrie be— 
zeichnet, das Urtheil der fachverftändigen Gerichtsirren- 
ärzte entgegen. Er vertheidigt deren Gutachten als ein 
jachliches, wohlerwogenes und in feinen Schlußfolgerungen 
unmwiberlegliches. Der jchranfenlofe Egoismus und bie 
Verachtung aller moralifchen Sittengejege, die ber An— 
geflagte zur Schau getragen, würben durch eine Frei— 
iprechung nicht gebeffert werden. Ein Mordverſuch liege 
vor. Daß die jchredliche That nicht gelang, jei ein Zu- 
fall, der dem Angeklagten injoweit zugute fomme, als 
er nicht wirklich zum Mörder geworden jet. Für ben 

XXIV. 11 


162 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirdner. 


Verſuch aber müfje er zur Verantwortung gezogen und 
beftraft werben. 

Der Bertheidiger Dr. Benedikt entgegnet: ‚Der 
Staatsanwalt hat Ihnen, meine Herren Gejchworenen, 
gejagt, ich jei auf dem Gebiete der Piychiatrie doch nur 
ein Dilettant. Es mag fein, obgleich ich mich feit fünf- 
zehn Jahren eingehend mit den einschlägigen Studien 
befaffe. Aber unzweifelhaft ift, was das Geſetz vorjchreibt. 
Es verlangt, daß der Richter das Urtheil ſpricht. Mögen 
gelehrte Richter oder Geſchworene berufen fein, darüber 
zu entjcheiden, ob ein Angeflagter ver That, der man ihn 
verdächtigt, ſchuldig oder nichtſchuldig ift, ihnen allein 
jteht die Entſcheidung zu und nicht den Aerzten. Das 
Gutachten der Sachverftändigen zu prüfen, anzunehmen 
oder zu verwerfen ift Ihre Sache. Den Geheimnifjen 
des Gehirns gegenüber bleibt auch ver Arzt ewig ein 
Dilettant. Was in der verhängnißvollen Secunde in 
dem Gehirn eines Menjchen vorgegangen ift, in einem 
Gehirn, das unzweifelhaft zuvor fchon erfranft war, 
dieſes Geheimniß erforjcht Fein irdiſcher Geiſt. Die Sach— 
verſtändigen ſagen nur, es ſei nicht nachweisbar, daß der 
Angeklagte damals von einer Seelenſtörung überfallen 
worden ſei. Mehr können ſie nicht behaupten. Sie be— 
gründen aber ihre Vermuthung in einer Weiſe, die ihre 
Competenz überſchreitet, und in der die Aerzte immer 
Dilettanten bleiben werden. 

„Es iſt Ihre Sache, als Richter Ihr Amt gewiffen- 
haft zu erfüllen. Wenn Sie zweifeln, wenn angefichts 
der Unfinnigfeit der That Ihnen Bedenken auffteigen und 
Sie fih an jene Irrfinnsfälle erinnern, von denen Ihnen 
die Gerichtsärzte erzählt Haben, dann begründet Ihr 
Zweifel allein ſchon die Verpflichtung zum Freifpruc. 
Laſſen Sie fich nicht verführen durch die Schlußapoftrophe 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 163 


des DVertreter8 der Staatsbehörde, als folle und werde 
ein Mann wie Kirchner durch die Arbeit im Zuchthaufe 
gebefjert und fein böjer Wille gebrochen werden. Kirch- 
ner ift fein arbeitsfchener Bagabund. Er ift ein Künft- 
ler, deſſen Ruf über die Grenze unfers Vaterlandes ges 
drungen ift, ein Künftler, der weit größere Werfe von 
bleibendem Werthe gejchaffen hätte, wenn ihm nicht ledig- 
lich die Sorge um die Erhaltung von Weib und Kind 
den Zeichenftift in die Hand gedrückt hätte. Kirchner, ein 
Mann, ver bis in die letzte Zeit eine Sahreseinnahme von 
6000 Fl. bezogen hat, die er der eigenen Thätigkeit ver- 
dankte, der in dem Augenblide, als er fich bereit machte, 
in den Tod zu gehen, für die Bezahlung feiner Gläubiger 
bei Heller und Pfennig Sorge trug: dieſer Mann foll 
durch die Zwangsarbeit des Zuchthaufes gebefjert und er- 
zogen werben! Wohl hat er gejündigt und fich mannich- 
fach vergangen. Doch hätte er Aergeres verbrochen, als 
er wirklich gethan, das Fegfeuer dieſer dreitägigen Ver— 
handlung hat ihm Qualen bereitet, doppelt und dreifach 
gräßlich dadurch, dag nicht nur fein vergangenes Leben 
vor aller Augen durchgefiebt und burchgehechelt wurde, 
fondern auch dadurch, daß alles, was ihm lieb und theuer, 
verzerrt und herabgewürbigt worden iſt. Es war dies 
ein fchweres, ein übermenfchliches Leid. Damit ift reich- 
(ich gebüßt, was er gefehlt haben mag. Darum rufe 
ich Ihnen noch einmal zu: «Geben Sie den Künftler 
der Runft, ven Menjchen dem Leben wieder!» Sein ent- 
menſchter Böfewicht fteht vor Ihnen, ſondern ein Mann, 
der gejtrebt, gejtrauchelt und gebüßt hat. Laſſen Sie 
ihn nicht in der Kerfernacht verfommen, Im Zuchthaufe 
beffert man folche Leute nicht. Kirchner ift ein fchwacher, 
er iſt fein jchlechter Menſch. Ueben Sie Gerechtigfeit, 
iprechen Sie ihn frei!” 
11* 


164 Der Brocek wider Joſeph Johann Kirchner. 


(Kirchner bricht in Thränen aus. Starke Bewegung 
im Auditorium.) 

Der Präfident hält nun fein Rejume und übergibt 
den Gefchworenen die Acten. ‘Diefelben ziehen fich in 
ihr Berathungszimmer zurüd. Ihre Berathung währt 
nur breiviertel Stunde. Sie kehren in den Saal zurüd, 
und der Obmann verkündet das Verdict. Es lautet: 

Hauptfrage (verfuchter Mord) einftimmig: Ja. 

Erſte Zufagfrage (Tücke) einftimmig: Ja. 

Zweite Zuſatzfrage (Sinnesverwirrung) zehn Stim— 
men: Nein; zwei Stimmen: Ja. 

Zur Strafbemeſſung nimmt der Staatsanwalt 
das Wort und beantragt auf Grund des Wahrſpruchs 
der Geſchworenen die Anwendung des geſetzlichen Straf— 
ausmaßes von 10—20 Jahren ſchweren Kerkers. Als 
mildernd erkennt er nur das unbeſcholtene Vorleben Kirch- 
ner's an, als erſchwerend dagegen hebt er hervor die be— 
deutende Intelligenz des Angeklagten. „Seine Erziehung 
und ſein Umgang“, jagt wörtlich der Vertreter der Staats⸗ 
anmwaltichaft, ‚hätten ihn einer ſolchen That unfähig 
machen follen, denn er hatte ja zumeijt mit Berfonen 
ber bejjern, alſo auch der moralifchern Stände verfehrt. 
Sehr erjchwerend ift ferner, daß der Angeklagte vie 
Hand gegen den Gaftfreund in deſſen eigenem Haufe er- 
hoben bat.” 

Der Vertheidiger jpricht fein tiefe® Befremden 
über den plößlichen Sinneswechjel des Staatsanwalts 
aus. In feinem Schuloplaidoyer hat derjelbe ven Ges 
ſchworenen „die tröftliche Verficherung‘‘ gegeben, der Ge- 
richtshof werde das Strafausmaß unterhalb des gejeß- 
lihen Strafiates bemeſſen, während der Staatsanwalt, 
nachdem die Verurtheilung wirflich erfolgt fei, nur noch 
erjchwerende Umſtände anerkenne. Die Intelligenz ift 


Der Proceß wiber Zofeph Johann Kirhner. 165 


durchaus Fein Erfchwerungsgrund, denn gebildete Men— 
jhen werben burch die Verbüßung der Freiheitsitrafen 
weit härter betroffen als ungebilvete Verbrecher. Zu be- 
achten ijt bei der Strafbemefjung, daß die Handlung des 
Angeklagten ganz ohne ſchädliche Folgen verlaufen, daß 
Herr Curio ſchon nach wenig Tagen jogar wieder tanz« 
fähig geweſen tjt. 

Der Gerichtshof fpricht Joſeph Johann Kirch— 
ner bes Verbrechens des verfuchten Meuchelmordes 
jhuldig und verurtheilt ihn unter Anwendung bes 
auferorbentlichen Strafmilderungsrecht8 zu ſechs Jah— 
ren jhweren Kerkers. Es wurde fein Erſchwerungs— 
grund angenommen, als mildernd dagegen in Betracht 
gezogen bie Unbejcholtenheit Kirchner’8 und feine excen- 
trifhe Anlage, welche durch die ärztlichen Gutachten be- 
ftätigt wir. 


Der Vertheidiger meldet die Nichtigkeitsbeſchwerde 
an. Eine Berufung gegen das Strafmaß ift nicht zu— 
fäffig, weil der Gerichtshof jelbjtändig unter die Straf- 
grenze des Geſetzes herabgegangen ift. 


Die Verhandlung über die NichtigfeitSbefchwerbe, bei 
welcher wieder Dr. Benedikt den Angeklagten vertrat, 
endete mit der Abweijung ber Beſchwerde. Das oberite 
Geriht als affationshof erklärte: durch die Ver— 
fügungen des Gerichtshofes erjter Inſtanz jet feine 
Beitimmung der Strafproceßordnung verlegt und ben 
Geſchworenen in der Nechtsbelehrung des Präfidenten 
ausdrücklich mitgetheilt worden, es jtehe ihnen die Ent- 
icheivung über die Schuld oder die Nichtichuld des An- 
geflagten zu und fie feien an das Gutachten der Gerichts— 
ärzte nicht gebunden. Sie hätten vemnach ihr Urtheil in 
freier Würdigung der Beweiſe gefällt. 


166 Der Procef wider Joſeph Iohann Kirchner. 


Der Verurtheilte trat feine Strafe an. Er wurde 
in die Strafanftalt Stein an der Donau überführt. 
Doch feine Buße follte dort nicht von langer Dauer jein. 
Am 13. April 1889 ift er gejtorben. 

Bald darauf meldete fich bei dem Oberſtaatsanwalt 
eine Dame. Berfchleiert und in tiefe Trauer gefleivet 
erichien Klara Curio und brachte die Bitte vor, e8 möge 
ihr gejtattet werden, am Grabe Kirchner’s eine ftille 
Andacht verrichten und ihm einen Denkſtein ſetzen zu 
dürfen. Ein menjchlicher, ein fajt verjühnender Zug. 

Für feine Hinterbliebenen haben feine Freunde gejorgt. 


Nicht nur in piychologifcher Hinficht ift dieſer Proceß 
merkwürdig, er iſt lehrreich auch im Hinblid auf die Ge- 
fahren der Judicatur durch Geſchworene. Es iſt ein 
Fall, der in einem jeden Lande, je nach der Nationalität 
ber zur Urtheilsichöpfung berufenen „Volksrichter“, einer 
grundverſchiedenen Auffaffung begegnen würde. Bor 
Tranzojen wäre Madame Curio fofett werjchleiert erjchie- 
nen, in pathetiichen Worten hätte der Vertheidiger von 
der Macht der alles befiegenvden Leidenjchaft der Liebe 
gerebet und ber wildernde Duft des Ehebruchs, ver 
romanhafte Anftrich der Verhältniffe hätten vermuthlich 
zur Freifprehung des Angeklagten geführt. In Italien, 
wo die Anſchauung, daß jeder Verbrecher feine That in 
geftörtem Geifteszuftande vollbringe, übermächtig ift, wäre 
ohne Zweifel der Irrfinn des Angeklagten angenommen 
und ihm die Unzurechnungsfähigfeit für feine Handlungs- 
weije zugejtanden worden. In England, zufolge der gro— 
pen Scheu, die man dort vor der pipchologifchen Zer: 


Der Procek wider Joſeph Johann Kirchner. 167 


gliederung der Motive hegt, hätte fich der gefunde praftijch- 
nüchterne Sinn des DVolfes an die Thatjache gehalten, 
daß eine unbeveutende Fförperliche Verlegung vorlag und 
nicht mehr. Wahrjcheinlich wäre der Fall gar nicht vor 
das Schwurgericht gelangt, der Bolizeirichter hätte fich 
für competent erklärt, aber auch die Geſchworenen wür⸗ 
den nimmermehr einen verjuchten Mord, jchwerlich auch 
nur einen verjuchten Todtichlag angenommen haben. Der 
Angellagte wäre wegen leichter Förperlicher Beſchädigung 
zu einer mäßigen Geldbuße verurtheilt und vielleicht wäre 
ihm vom Gericht befohlen worden, „ſechs Monate bins 
durch den Frieden der Königin nicht zu ſtören“. Nur 
Geſchworene deutſchen Stammes konnten eine Verurthei- 
lung ausjprechen, wie dies in Wien gejchehen ift. Der 
etwas philiftrds angehauchten bürgerlichen Moral war 
ein Menſch von dem Schlage Kirchner’8 von vornherein 
unfympathiih. Ein Mann, der von feiner Geliebten 
Geld annimmt und fich bis zu einem gewifjen Grabe 
von ihr erhalten läßt, ift nach diefer Anfchauung jo tief 
gejunfen und fo verächtlich, daß ihm jede Schanbthat zu— 
zutrauen if. Möge er durch das Zuchthaus gebefjert 
und geläutert werben! 

Wir geftehen offen, daß wir die Anficht der Ge— 
ſchworenen nicht theilen. Für uns ift Kirchner weit 
mehr ein Unglüdlicher als ein Verbrecher. 

Der Staatsanwalt fowol als der Vertheidiger haben 
in der Abficht, auf die Gejchworenen zu wirken, jeder in 
feiner Art weit über das Ziel hinausgefchoffen. “Der 
Staatsanwalt hat ein müßiges Geſpräch, eine launige 
Neckerei, wie e8 die Einladung zur Gemsjagb war, auf- 
gebaufcht, um den Angeklagten als einen hinterliftigen 
Gefellen darzuftellen, ver fich jehen lange vor dem Atten⸗ 
tate mit Mordplänen trug, er hat Einzelheiten, wie dem 


168 Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 


befteliten Telegramm, dem Gefpräche über Revolver und 
Cylinderhut, eine Auslegung gegeben, vie uns gezwungen 
zu fein fcheint. Es war ihm darum zu thun, die Farben 
möglichit did aufzutragen. Der Vertheidiger dagegen hat 
alles auf eine Karte geſetzt. Indem er fich auf ben 
Standpunkt jtellte, der Angeklagte habe in einem Anfalfe 
von Geiftesjtörung gehandelt, verzichtete er auf jede an- 
dere Auslegung der Gefchichte des Attentated. Die Ge- 
jhworenen mußten entweder mit ihm den Angeflagten 
für wahnfinnig erflären oder bie Beweisführung des 
öffentlichen Anklägers gelten laſſen. Seiner mit Bered— 
jamfeit und Scharffinn verfochtenen Auffaffung ſtand in- 
deſſen das ſehr bejtimmte Gutachten der jachverftändigen 
Gerichtsärzte entgegen. Mögen dieſe in ihrer Motivirung 
auch über die Grenzen hinausgegangen fein, welche ihnen 
durch die Regeln ihrer Wifjenfchaft gezogen waren, in 
biefem Punkte waren fie zuftändig und ihr Urtheil maß- 
gebend. 

Wir können in Kirchner weder mit dem Staatsan⸗ 
walt den grunbverberbten, chnifchen Mörder erbliden, 
noch mit dem Bertheidiger einen unzurechnungsfähigen 
Geiftesfranfen. Wir erflären uns feine That rein menfch- 
Gh, auf Grund der BVorgefchichte und der Natur des 
Angeklagten. 

Kirchner war in hervorragendem Sinne, was bie 
ranzofen einen „homme & femmes“ nennen. In ber 
beutjchen Sprache fehlt ver bezeichnende Ausdruck hierfür. 
Sein ganzes Leben warb burch bie Beziehungen zum 
Weibe beftimmt, fein Einfluß auf alle Frauen, mit denen 
er zufammentraf, ſchien magiſch zu wirken. 

Er bat feine Gattin fo jchwer gekränkt, ald man eine 
Frau in ihren beiligften Gefühlen verlegen kann. Er 
bat fie um einer andern willen verlaffen, er hat ihre 


Der Procek wider Joſeph Johann Kirchner. 169 


Liebe verſchmäht und ihr Jahre hindurch bewiejen, daß 
er für fie nur aus Pflicht umb nicht aus Neigung forgte. 
Dennoch hat fie in wahrhaft rührender Einfalt vor Ges 
richt erklärt, fie wolle nur ausfagen, wenn ihre Ausjagen 
ihm nüglich fein könnten! 

Marianme Röffel war eim fchönes, vielumworbenes, 
geiſtvolles und hochgebilvetes Weib. Site jchloß fich ihm 
mit Leidenſchaft an, vergab ihm nicht nur mehrfache flüch- 
tige Untreue, fondern willigte in die Trennung, als er 
zu ihrer Rivalin Klara Curio z0g, wenn er ihr nur — 
zwei Abende der Woche widmen wolle! Bor Gericht 
batte fie blos Worte der Liebe für ihn, jelbit als ihr 
vorgehalten wurde, Kirchner habe fie der Untreue be- 
zichtigt. 

Marie Cziezek iſt ein ſchlichtes, im kleinbürgerlichen 
Lebenskreiſe aufgewachſenes Mädchen. Die Beziehungen 
Kirchner's zu ihr können, nach allem, was die Schluß- 
verhandlung zu Tage geförbert hat, nur flüchtige, vor- 
übergehende geweſen fein. Dennoch zögert fie nicht, da 
fie ihn in Geloverlegenheit weiß, ihr Kleines Erbtheil an— 
zubieten. Sie bejtimmt ihre gejchäftsunfundige Mutter 
dazu, das Häuschen, ihre ganze Habe, zu verſchulden, 
um ihm einen Dienft zu erweilen. Sie hat doch, wenn 
fie e8 früher nicht gewußt, inzwiſchen erfahren, wie bie 
Saden jtehen, mit welchen Frauen Kirchner gelebt hat, 
dennoch gilt im Gerichtsfaale ihr Gruß nur ihm, fie hat 
fein Wort des Bedauerns fir den pecuniären Berluft, 
den fie erleidet, fie befteht darauf, daß ihn auch nicht der 
geringfjte Vorwurf treffe. 

Und Klara Curio ... Der Bertheidiger hat fie 
den Dämon genannt, der Kirchner’s Leben zeritörte, 
Und dieſer Vorwurf, jo hart er Flingt, ift gerechtfertigt. 
Sie iſt im Gerichtsfanle nicht erjchienen, fie hat es nicht 


170 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


gewagt, Zeugniß abzulegen, fie floh vor dem Schredniß 
ber öffentlichen Verhandlung. Aber als die Leiche Kirch- 
ner’s in kühler Erbe gebettet war, da hat fie fich ver- 
ftohlen herangejchlichen und hat an feinem Grabe geweint 
und gebetet. 

Kirchner war eine phantafievolle, excentriſche Perjön- 
lichfeit. Sein Beruf und fein Temperament reizten ihn 
zu Ausfchweifungen, die auf ven nicht Fräftigen, nicht 
musfuldjen Körper zerftörend einwirken mußten. Webers 
dies ftand er nicht mehr in der eriten Yugenbfraft, er 
war über 40 Jahre alt, al8 er zu Frau Curio in 
intime Beziehungen trat. Diejes begehrenvde, heißblütige 
Weib nahm Beſitz von ihm Seele und Leib waren 
ihr verjchrieben. Wer mag ed ergründen, welche er- 
greifenden Scenen in ber verfchiwiegenen Kammer fich 
zwifchen ihnen abipielten. Mit welchen Worten mag 
fie ihm ihr Unglüc geklagt haben, an einen verhaßten 
Mann gebunden zu fein, während er, ber Geliebte 
ihre Herzens, nur heimlich, wie ein Dieb, fih zu 
ihr jchleichen dürfe! Und wenn fie, die Zeugenaus- 
jagen verfichern es übereinftimmend, nach dem Atten- 
tate wiederholt geklagt hat: „Warum bat er nicht 
beſſer zugejchlagen! warum hat er ihm nicht getöbtet!‘ 
jollte man da nicht annehmen dürfen, daß fie ihren 
Liebhaber, wer vermag e8 zu jagen wie oft, im über- 
wallenden Liebesraufch zugerufen hat: „Befreie mich 
doh von dem Menſchen! Gibt e8 denn gar fein 
Mittel, diefen Mann zu befeitigen!” — Wir wollen 
damit nicht behaupten, daß Frau Curio mit folchen 
Nedensarten Kirchner bewußt zum Morde ihres Gat- 
ten aufgefordert habe, allein derartige Aeußerungen, im 


- „Affeet gethban und im Augenblide von feiner Geite 


ernft genommen, fie klingen oft nach und das raſche 


Der Procef wider Joſeph Iohann Kirdhner. 171 


Wort wird umgefeßt in die unbedachte That. Und 
dies, jo glauben wir, ift von feiten Kirchner’® ge— 
ſchehen. Es war ihm läftig und unerträglich, Herrn 
Curio auf feinen nächtlihen Gängen zu begleiten, er 
war müde, phyſiſch abgejpannt und heruntergefommen. 
Die Nachtruhe mußte er dem Manne opfern, dem er 
nur zu Willen ftand, meil er in den Banden ber Frau 
jhmachtete, feine Tage gehörten ihrem Dienfte. Die 
finnlihe Natur Kirchner’s, feine überreizten Nerven 
trieben ihn zu immer neuen Erceffen. Zwei Abende 
der Woche gehörten der Marianne — wie viele Stun- 
den des Tages verbrachte er mit Klara Curio? Daß 
ihre diesbezügliche Angabe vor dem Unterfuchungsrichter 
unwahr ijt, daran zweifelt wohl niemand, doch wird 
jedermann begreifen, daß fie aus weiblihem Scham- 
gefühl die Wahrheit nicht angeben konnte. Kirchner 
hatte gehofft, durch ein Telegramm, das er fich be— 
ftelite, an dem fritifchen Abende fich freizumachen. Es 
mislang. Widerwillig, aufgeregt, erbittert folgte er 
Curio in den Garten. Da überfam es ihn. Sm 
jeinen Ohren klang der Seufzer der Geliebten: „Be— 
freie mich von dem Menschen!“ und in blinder Wuth, 
ohne die Tragweite feiner Handlung zu überlegen, ohne 
zu bebenfen, daß ein fo, finnlofer, mit jo unzureichenten 
Mitteln unternommener Angriff ſcheitern müſſe, bieb 
er auf den Ahnungslojen ein. Unbegreiflih, daß dieſer 
fih nicht zur Wehre fette und den weit jchwächern 
Gegner niederſchlug! Nach dem Attentat Hatte Kirchner 
den Kopf verloren. Sein ganzes Gebaren zeigt, daß 
er ſich anfänglich nicht Mar darüber werben fonnte, was 
er eigentlich gethan hatte. Als er zur Ruhe fam, als 
er in der Wohnung Mariannens in Schlummer ver- 
junfen war, verhafteten ihn die Drgane der öffentlichen 


172 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Sicherheit. Das fchlecht erfonnene Märchen, welches 
er in der erjten Beftürzung vorbrachte und zu feinem 
Schaden fefthielt, Hat ihm vor den Gejchworenen großen 
Nachtheil gebracht. 

Kirchner war unferer Anficht zufolge für feine That, 
wenn er fie auch im Affect beging, verantwortlich. Die 
Strafe aber, die ihm dafür auferlegt wurde, ftand außer 
Verhältnig zu feinem DVerjchulden. Leider vermag unfer 
Strafrecht nicht genügend zu indivibualifiren. ‘Der Leiter 
bed Zuchthaufes, in dem Kirchner jo bald enden follte, 
Gefangenhausdirector Müller, hat den Schreiber diejer 
Zeilen durch die Räume feiner Anftalt geführt und ihm 
werthvolle Aufjchlüffe über die Natur der Verbrecher, 
bie dort büßen, ertheilt. Er machte unter anderm auf- 
merffam auf einige verurtheilte Zigeuner. „Sehen Sie 
biefe armen Menſchen“, fagte er, „te find von ihren 
Richtern zu Freiheitöftrafen verurtheilt, aber in Wahr- 
heit zum Tode verdammt. Kein Zigeuner erträgt bie 
Zuchthausluft länger als einige Monate. Sie fterben 
am Mangel ver Freiheit. Wenn die Gejeßgebung die als 
unmenſchlich verpönte Prügeljtrafe für folche Xeute geftat- 
tete, jo wäre dies für fie einer Begnadigung gleichzuachten.“ 
— Die feinfühlige, zarte Natur des Künftlers war ebenjo 
wenig im Stande, die Kerferluft lange zu ertragen. Er 
verhungerte bei der reichlichen, aber allzu derben Koft. 
Ein Zigeuner der Kunft, ijt er an der entzogenen Trei- 
beit gejtorben. 


Der Proceß Kenthien. 


(Mord. — Hamburg.) 
1889. 1890. 


Es war am 8. April 1889, einem Montage, als mit 
Windesfchnelle das Gerücht einer entjeglichen Blutthat 
Hamburg durchflog. Ein Verbrechen, um jo gramfiger, 
da das Dpfer, ein zehnjähriger Knabe, Emil Steinfatt, 
Sohn eines auf dem Bauerberg zu Horn wohnenden 
Zinnwaarenhändlers, von vem Mörder in geradezu bejtia- 
liſcher Weiſe abgefchlachtet und verjtümmelt worden war. 

Bol kindlichen Frohfinns hatte der Knabe am Nach- 
mittage des 7. April zwijchen 3 und 4 Uhr das Xeltern- 
haus verlaffen, um bei einem Gajtwirthe der Hammer- 
landftraße eine Beftellung zu machen, und bereit8 um 
5%, Uhr fanden die auf einem Spaziergange durch die 
Horner Feldmark begriffenen Gehülfen des Rauhen Haufes, 
Hilsmann, Palm und Hoffmann, den noch warmen Leich- 
nam. Die bi8 auf den linfen Unterarm, welcher noch 
einen Feten des Hembärmels trug, völlig entfleivete Leiche 
lag in einem feichten Graben, welcher ſich unmittelbar 
neben einer kleinen mit Weidengebüjch und Heidekraut 
bewachjenen Anhöhe befindet, zu der von Wandsbeck her 
ein Feldweg führt. 


174 Der Proceß Bentbien. 


Bon Graufen gepadt ftarrten die drei jungen Leute 
das fich ihnen jo unvermuthet darbietende Bild eines 
vollbrachten Mordes an. Endlich ermannten fie fich, 
eilten in die ungefähr 1300 Schritt entfernte Rennbahn 
jtraße und erftatteten dem dort patrouillirenden Conſtabler 
Anders Anzeige von ihrem Funde. Hierauf fehrten fie 
zurüd in das Rauhe Haus. Der Eonftabler fuchte den 
Thatort auf, ihm fchloffen fich vier Knaben an: SHeit- 
mann, Behn, Rau und Biemann. Sie waren in ber 
Richtung vom Kugelfange des Schießplates des in Wands— 
beck garnifonirenden Hannoveriſchen Hufaren- Regiments 
Nr. 15 hergefommen und einem Manne begegnet, welcher 
in befchleunigter Gangart dem Kugelfange zuftrebte. Dies 
mußte der Weg fein, den der Mörder nach vollenbeter 
That eingefchlagen hatte, denn vom Schauplage des Ver— 
brechens führten Fußſpuren — fie deuteten einen zier- 
lichen Stiefel mit befonders fpiten Abſätzen an — ge= 
raden Wegs nach dem Kugelfange. Die Verfolger nahmen 
bie Fährte auf. Sie fahen denn auch bald in einer auf 
etwa 800 Meter geihätten Entfernung einen fie augen- 
Iheinlich gejpannt beobachtenden Menjchen ftehen, ver bei 
ihrer Annäherung fchnellften Laufes nach Jenfeld zu ent- 
floh, jpäter in den Barsbütteler Weg einbog und in ber 
bereinbrechenden “Dunkelheit verjchwand. Der Weg, ben 
der muthmaßliche Mörder nahm, war jumpfig, ſodaß bie 
Verfolger jede Spur verloren. 

Conſtabler Anders veranlaßte die Benachrichtigung 
des Polizeibezirfsbureaus Borgfelde, und noch denjelben 
Abend wurde die Leiche von dem Diftrictsarzte im Beiſein 
des Polizeicommifjarius Sengebufch unterfucht. Die Klei- 
dungsstüde des Ermordeten lagen unter feinem Körper, 
Beinkleid und Unterhofe ftafen ineinander. Der Ober: 
theil des erftern zeigte veichlihe Blutſpuren, während 


Der Proceß Bentbien. 175 


Sade und Hemd in Bruft- und Haldgegend blutdurch— 
tränft waren. Als erwiefen war anzunehmen, daß ber 
Tod des Knaben auf gewaltſame Weife durch fremde 
Hand herbeigeführt worden und daß es fich um einen in 
tbierifcher Roheit verübten Mord handelte. 

Der Verdacht der Thäterjchaft lenkte ſich auf einen 
Menſchen, den mehrere Perjonen kurze Zeit vor Auf- 
findung der Leiche in Gejellichaft des Knaben Steinfatt 
auf dem Wege nach dem Horner Moor gejehen hatten. 
Der Knabe war nachmittags zwifchen 31/, und 4 Uhr 
von feiner Mutter in die Hammerlandftrafe Nr. 180 
belegene David'ſche Gaftwirthichaft gejchidt worden, um 
dort Bier zu beftellen. Als Begleiter nahm der Knabe 
den jechsjährigen Georg Borries mit. Nach der Ausjage 
des noch ſehr Fleinen und daher in feinen Angaben un- 
zuverläjfigen Kindes joll fich ihnen bei ver „Hohlen Rinne‘ 
ein Mann zugefellt haben. Derjelbe war in ihrer Ge- 
jellichaft, als fie um 4 Uhr vor der David’fchen Wirth- 
Schaft anfamen. Die Brüver Lehrer Adolf und Kaufmann 
Heinrich Claſen erwarteten um dieje Zeit ihre Schwägerin 
reip. Frau, welche im Magdalenenftift einen Beſuch ab- 
ftattete, und ftanden vor dem Haufe des David, als der 
von ihnen auf das bejtimmtejte wiedererfannte Kleine 
Borried mit dem Knaben Steinfatt won der horner Seite 
berüberfam. Während die beiden Knaben in das Wirth- 
Ichaftslocal traten, machte fich der in ihrer Begleitung 
befindliche und fie jet erwartende Mann an den Lehrer 
Claſen heran und jagte Plattveutich: „De Jungens könnt 
gern mit mie gahn un en Badet dregen für föftein Penn.“ 
Clafen, der von dem fremden Menjchen einen unheim— 
lichen Eindrud empfing und dem es auffiel, daß der Un- 
befannte gar fein Padet bei fich hatte, lenkte die Auf- 
merkſamkeit feines Bruders auf den fonderbaren Menſchen 


176 Der Proceß Bentbhien. 


und äußerte fein Bedenken, daß die Kinder fi) in ſolcher 
Geſellſchaft befänden. Unterdeſſen famen die Knaben aus 
der David'ſchen Wirthichaft heraus und entfernten fich 
mit dem Manne nach der Horner Landſtraße zu. Der 
Heine Borries trennte fich fpäter von dem Fremden und 
Emil Steinfatt; diefe beiden wurden von der Witwe Koch 
und dem Gaftwirth Triepel nachmittags zwijchen 4 und 
4"), Uhr am Ende des Horner Weges gejehen. Etwa an 
derjelben Stelle begegneten dem Mörder und feinem Opfer 
bie Knaben Hillmer und Eftein, welche ihren Schulgenofjen 
Emil Steinfatt beftimmt erfannten. Die Knaben Wil- 
heim und Emil Schmidt, Behn, Biere, Vorwerf und 
deſſen Bater ſahen Emil Steinfatt um 4!/, Uhr auf dem 
bei der Rennbahn die Verlängerung des Horner Weges 
bildenden Steindamm mit einem Manne um die Wette 
laufen und zwar nach der Richtung des Leichenfundortes. 
Einer der Knaben rief Steinfatt nah: „Wo wullt vu 
denn hen?” worauf der Fremde antwortete: „Wat geiht 
ju dat an?“ Bon da bis zur Stätte des Verbrechens 
beträgt die Entfernung fünf Minuten. Es durfte aljo 
als feftjtehend angenommen werben, daß die That von 
bem bis zulegt in Begleitung des ermordeten Kindes 
gejehenen Manne zwifchen 4, und 51, Uhr verübt 
worden war, denn um 54, Uhr hatten die bereits 
genannten Gehülfen des Rauhen Haufes die Leiche ge- 
funden. 

Faſt alle Zeugen ftimmten in überrafchender Weije in 
der. Bejchreibung des Mörders überein. Er war etwa 
22—25 Jahre alt, von mittlerer Statur, feine Haltung 
nicht ganz gerade, ſondern vornübergebeugt, fein Gang 
ihlotterig. Als befondere Kennzeichen wurden angegeben 
fahle Gefichtsfarbe, dünne Lippen, langgebogene Nafe, 
feiner brauner Schnurrbart, höher jtehende rechte Schulter. 


Der Proceß Bentbien. 177 


Der Mann trug einen bunfelblauen Rod, Iadet oder 
Veberzieher, ſchwarz und weiß geftreifte Beinkleider, einen 
Ihwarzen fteifen Filzhut mit rundem Dedel und Stiefe- 
fetten mit hohen Haden. 

Die von der Staatsanwaltichaft in geigneter Form 
befannt gemachte Perjonalbeichreibung, verbunden mit 
einer ausgeſetzten Belohnung von 1000 Marf hatte 
den Erfolg, daß am 21. April, alfo 14 Tage nach ber 
That, durch den Eonftabler Heinrich ein Mann auf offe— 
ner Straße verhaftet wurde, deſſen Aeußeres fich mit dem 
veröffentlichten Signalement deckte. 

Der Verhaftete war der am 21. Februar 1867 zu 
Bliesdorf, Kreis Lauenburg, geborene Schuhmachergeſelle 
Johann Adolf Chriſtian Benthien, genannt Ahrens, in 
Hamburg und Altona fünfmal wegen Bettelns und ver- 
botswidriger Rückkehr vorbeftraft. 

Die über feine Vergangenheit gepflogenen Ermittelun- 
gen entrollten ein Bild größter fittlicher Verwahrlofung. 
Seine durch ein Krebsleiden im Geficht völlig verunjtal- 
tete Mutter hatte einen gewifjen Benthien als Vater des 
von ihr unehelich geborenen Knaben ausgegeben, doch ließ 
fih ein Verkehr deſſelben mit ihr nicht nachweiſen, viel- 
mehr herrichte im Heimatsdorfe des Verhafteten die all- 
gemeine Meinung, daß er gleich zwei verftorbenen Ge— 
ſchwiſtern das Dafein dem leiblichen Vater jeiner Mutter 
verdanfe. Diefer, ver Anbauer Ahrens, ftand im benf- 
bar fchlechteften Rufe eines arbeitsicheuen Trunkenboldes. 
Als der Knabe vier Jahre alt war, ftarb feine Mutter, 
Der Anbauer Ahrens nahm nun die Erziehung bes Ver— 
waiſten in die Hand, erfüllte indeß feine Pflicht in feiner 
Weile. Der Yunge joll diebifch, verlogen, graufam und 
verjchloffen geweſen jein, jich aber doch fo viel religiöſe 
Kenntnifje erworben haben, daß er jehr wohl Böſes vom 

XXIV. 12 


178 Der Proceß Bentbien. 


Guten unterjcheiden konnte. Er war ber richtige Dorf- 
paria; paflirte irgendein jchlechter Streich, flugs wurbe 
er als Urheber bezeichnet. Sein verfommener jchmuziger 
Zuftand hatte zur Folge, daß ihm feine Altersgenofjen 
mieden. Er war entiweber allein ober er trieb ſich bei 
Kuhhirten umher. Als im Haufe feines Großvaters und 
einige Zeit danach in dem eines gewiſſen Dorenborf 
Feuer ausbrach, deutete das ganze Dorf mit Fingern 
auf ihn als den Branpftifter. Auch fogenannte Knicks 
(lebende, Wiefen nnd Felder abgrenzenb umfchließenpe 
Hecken) foll er angezündet haben. Mehrmals wurbe er 
bei Diebereien auf ber That ertappt und regelmäßig mit 
einer tüchtigen Tracht Hiebe beftraft. Auch als gefühl- 
loſer Thierquäler wird Benthien gejchildert. Er joll 
lebende Fröſche aufgehangen und zerjchnitten und ben 
Schweinen einer Frau Wörs die Ohren abzufchneiden 
verfucht haben. Nach der Confirmation trat der Junge 
in Dienft, hielt aber nirgends lange aus. Als 17jährt- 
ger Burjche fam er zu dem Schuhmacher Heß in Lübeck 
in die Lehre. Auch hier bewies er feine Unzuverläſſigkeit 
und Berlogenheit, zeigte jich ſchwer von Begriff, und fiel 
durch jein fonverbares Weſen auf. Nach beendeter Lehr⸗ 
zeit wendete fich Benthien nad Hamburg, wo er ein un- 
ftetes Leben führte, häufig die Wohnung wechjelte, ben 
Logiswirthen die Miethe ſchuldig blieb, fait nie arbei- 
tete, fondern fich einem echten Vagabundendaſein bingab. 
Nähern Berfehr Hat er in diefer Periode mit niemand 
‚gepflogen. 

Das war das aus dem Vorleben geſchöpfte Material, 
dem ber Unterjuchungsrichter gegenüberitand, als ihm ber 
Berhaftete zum erften Verhör vorgeführt wurde. Daß 
man fich bei der fittlichen Verkommenheit Benthien’s einer 
That wie der des Mordes an dem Knaben Steinfatt 


Der Proceß Benthien. 179 


wohl verſehen konnte, war nicht zu bezweifeln, der Be— 
ſchuldigte leugnete jedoch mit größter Entſchiedenheit und 
einem nicht unbedeutenden Aufwande von Schlauheit, ſo⸗ 
daß der die Unterſuchung leitende Landrichter Dr. Sudeck 
vor einer recht ſchwierigen Aufgabe ſtand. 

Den erſten Erfolg hatte er nach beinahe dreiwöchent— 
licher Arbeit, am 6. Juni, zu verzeichnen. Bis zu die— 
jem Zage hatte Benthien, trogdem ihm fast alle Zeugen 
als den Begleiter des ermordeten Knaben recognofeirten, 
entſchieden in Abrede geftellt, zur Eritiichen Zeit in ber 
Gegend von Horn oder Wandsbeck gewejen zu fein. Er 
behauptete, am 7. April feine Wohnung bei dem Schuh- 
macher Wulff am Billhorner Röhrendamm um 3%/, Uhr 
nachmittags verlafjen, fich nach dem Thurme der Nothen- 
burgsorter Wafjerwerfe, von da nach dem in unmittel- 
barer Nähe Tiegenden Meyer'ſchen Tanzſalon und hierauf 
nach dem Zollihuppen an der Elbe begeben zu haben, 
um mit feinem Logiswirthe zu fiſchen. Diefen habe er 
nicht getroffen, er jei deshalb nah Haufe gegangen und 
bajelbjt in der 10. Abenpftunde angefommen. ALS dieſe 
Angaben durch Zeugen, bejonders die Gebrüder Claſen, 
widerlegt wurden, änderte ver Angeklagte plötlich feine 
Zaftif, räumte ein, daß der von ihm verſuchte Altbibeweis 
der Wahrheit nicht entipreche, und fagte nunmehr aus: er 
jet allerdings am 8. April nach Horn gegangen, bort 
Arbeit zu juchen. Bereit früher habe er mehrmals bei 
Anftreicherarbeiten aushülfsweije mitgewirkt und deshalb 
auch bei einem Maler Koh in Hamm vorgejproden, 
allein nur defjen Ehefrau zu Haufe gefunden. Nun jei 
er noch bei einem zweiten Maler auf der Hammerland- 
ftraße gewejen, von welchem er zwar feine Bejchäftigung, 
wohl aber eine Taſſe Kaffee und einen Groſchen erhalten 
habe. Dann jei er nach Horn zu gewandert. Unterwegs 

12* 


180 Der Proceß Bentbhien. 


habe ein ihm unbekannter Mann ihn aufgefordert, einen 
Koffer vom Hotel Marienthal Hinter Wandsbeck nach 
dem Hamburger Hof am alten Iungfernitieg zu trans 
portiren und fich einen Knaben als Hülfe mitzubringen. 
Auf der Hammerlanditrafe ſeien ihm zwei Knaben be- 
gegnet, die in einer Wirthichaft eine Beitellung ausrichten 
jollten. Er habe fie gefragt, ob fie ihn nach Marienthal 
begleiten und für 50 Pfennige einen Koffer tragen helfen 
wollten. Nachdem fie fich willig gezeigt, ſei er mit ihnen 
weiter gegangen. Nach einiger Zeit habe ver größere Junge 
ven Kleinen zurückgeſchickt. Aber auch der erjtere fei nur 
eine furze Strede mitgegangen, dann habe fich berjelbe 
von ihm getrennt, weil er feine Mutter um Erlaubniß 
fragen müfje. Nach etwa einjtündigem vergeblichen War- 
ten auf die Wieberfehr des Knaben ſei er bei Somnen- 
untergang wieder zu dem Maler Koch gegangen, habe 
jedoch abermals nur die Frau angetroffen, ſich auf den 
Weg nah Marienthal gemacht, port etwa eine halbe Stunde 
umſonſt auf den Unbefannten gewartet und ſei endlich 
nach furzer Einkehr bei einer Frau Zander auf dem Bauer- 
berg in Horn nach Haufe gewanbert. 

Auf Verfügung des Unterfuchungsrichters wurde Ben- 
thien durch den Polizeifergeanten Hanſen herumgeführt, 
um bie betreffenden Leute, bei welchen er gewejen, und 
ven Plak, an dem er fi von dem Knaben GSteinfatt 
getrennt haben wollte, fejtzuftellen. Hierbei ergab fich, 
daß Benthien allerdings zwifchen 3 und 4 Uhr bei dem 
Maler Biedermann auf der Hammerlanditraße vorge- 
ſprochen und Kaffee nebjt Geld empfangen hatte. “Der 
Maler Koch ließ fich nicht ermitteln, jedoch wohnte in 
dem vom Bejchuldigten bezeichneten Haufe ein Maler 
Hanfen, bei dem Benthien möglichenfall8 . gewejen fein 
fann. Frau Zander, die fich übrigens fchon vorher als 


Der Proceß Bentbien. 181 


Zeugin gemeldet hatte, bejtätigte im wefentlichen feine 
Angaben. 

Benthien ſtützte fich jetzt auf dieſe feine theilmeije 
bewiejenen Ausjagen und Teugnete nach wie vor bie 
Zhäterjchaft. 

Bald waren jedoch weitere Indicien gefunven, bie 
ihn jchwer belafteten. Er wollte die dem Unterjuchungs- 
richter vorgebrachten Lügen über feinen Befuch des Wafjer- 
thurmes und im Meyher'ſchen Tanzſalon fowie feine an— 
gebliche Unkenntniß des kritiſchen Terrains damit ent- 
ichuldigen, daß er, wenn er fofort die Wahrheit gejagt 
hätte, den ungerechtfertigten Verdacht der Ermordung des 
Knaben Steinfatt nur noch mehr beftärkt haben mwürbe. 

Das Hang nun- ganz glaubhaft. Ein bejchränfter, 
überdies von dem auf ihm laftenden Verdacht niederge- 
drückter und durch die ſchwebende Unterfuchung einge: 
ihüchterter Menſch Eonnte jehr wohl auf die Idee fom- 
men, jeden Umjtand, der auch nur entfernt mit der That 
in Verbindung zu bringen wäre, beharrlich abzumehren 
und jelbjt zwingenden Zeugenausfagen gegenüber zu leug- 
nen; bad wäre, wie gejagt, möglich geweſen. Nun 
wurde dem Benthien aber durch die Unterfuhung nach- 
gewiejen, daß er jene erjte Erzählung ſchon am Abenve 
des 7. April, als die Kunde von dem Morde noch gar 
nicht in weitere Kreife gebrungen war und fein Verdacht 
auf ihm Taftete, mit mehrern Zufägen feinem Logiswirth 
Wulff aufgetifcht hatte. Offenbar war ihm aljo bereits 
daran gelegen, fein Zufammenfein mit dem Knaben in 
Horn zu verfchweigen. — Auch die erwähnten Zufäge find 
harakteriftiich für das Vertheidigungsſyſtem Benthien’s, 
denn fie betreffen ein weitere8 Indicium gegen ihn. Er 
erzählte Wulff, er ſei vom Meyer'ſchen Zanzjalon nad 
der Elbbrüde gegangen, in beren Nähe habe ein Kater 


182 Der Proceß Benthien. 


geſeſſen, den er aus Erbarmen hatte mitnehmen wollen. 
Das Thier habe ihm jedoch die Hand zerkrallt. Hierbei 
wies er Wulff den rechten Handrücken, der mehrere breite 
und kurze, ganz friſche Kratzwunden zeigte. Wulff wollte 
jofort bemerkt haben, daß dieſe nicht von Katzenklauen, 
jondern von Fingernägeln herrührten. Auch eine bei 
Wulff wohnende Frau Hoffmann hatte die friſchen Ver— 
legungen am Tage nach dem Verbrechen gejehen. Beiver 
Ausjagen juchte Benthien dadurch zu begegnen, daß er 
die Kratzwunden fchon zwei Wochen vorher erhalten und 
den Zeugen gezeigt haben wollte. 

Nach dem Sectionsbefund wurde die Blutthat mittels 
eines jcharfen Inftrumentes vollführt. Der Beſitz eines 
ſolchen am Eritifchen Tage wurde Benthien ebenfalls nach— 
gewiefen. Am 6. April Hatte er von Wulff deſſen Mieffer 
entliehen, um fich eine Glätte, ein Handwerkszeug der 
Schuhmacher, zu fchneiven. Als Wulff am Tage nad 
dem Morde jein Mefjer zurüdverlangte, bat der Bejchul- 
digte ihn dringlich, e8 noch behalten zu dürfen. Wulff 
hatte daffelbe mit Wachs eingejchmiert, um es vor Roſt 
zu jchügen, und nur eine kleine Stelle mittel8 eines Glas- 
ſcherbens von dem UWeberzuge befreit. Als ihm Benthien 
das Mefjer am 10. April zurüdftellte, war es in voll- 
fommen reinem Zuftande und ber Stahl zeigte verfchiedene 
Schrammen, die nach dem unter Eid abgegebenen Gut— 
achten eines Meſſerſchmiedes daher rührten, daß das Meſſer 
auf einem rauhen Steine gewett worden war. 

Zu den rein objectiven Beweifen ift noch die Fußfpur 
zu zählen. Die von vem Mörder hinterlaffenen Fußſpuren 
find am Morgen des 8. April nochmald von dem Com⸗ 
miljarins Sengebujh, den Beamten Hanjen und Buſch, 
und auch bei der gerichtlichen Augenjcheinnahme genau 
gemefjen und Abprüde ſowie Ausfchnitte nach denſelben 


Der Broceß Benthien. 183 


angefertigt worden. Uebereinſtimmend zeigten fie einen 
Heinen, etiva 23 Centimeter langen Stiefel, mit runden, 
unten jpigem, 3 Centimeter hohem Abſatze. Die Stiefel 
des Benthien und namentlich deren Haden deckten fich 
pollftändig mit den Spuren. 

Diefen Ergebniffen find nach der Anklagejchrift noch 
folgende Indicien hinzuzufügen: 

Als die Nachricht von dem Morde auh Wulff zu 
Ohren gelommen war und in beffen Wohnung erörtert 
wurde, ſprach Benthien fich in auffälliger Weile darüber 
aus. Unter anderm foll er bei biefer Gelegenheit ge- 
äußert haben: „Wer dreißig folcher Morbthaten voll» 
bracht Hat, wird unfichtbar; wenn fie dem angeblichen 
Mörder auch auf ganz freiem Felde verfolgt hätten, wäre 
er doch plöglich unfichtbar geworden!“ 

Einer Frau Scherner foll er bei einer ziveiten Ge— 
legenheit mitgetheilt haben, es fei doch nicht fo ſchlimm, 
ein Kind zu ermorden, Dauth (ver, irren wir nicht, im 
November 1888 den Spebiteur Hüljeberg ums Xeben ges 
bracht und beraubt hatte) habe eine viel fchlimmere That 
begangen. Der Mörder fei übrigens nicht nach Jenfeld, 
jondern nad Hinfchenfelde zu entflohen. 

Dem Sohne diefer Frau Scherner foll Benthien am 
9. April den Wunſch zu erfennen gegeben haben, er 
möchte wohl „Sad den Aufſchlitzer“ einmal fehen. 

Am Nachmittage des 10. April endlich ift ver Be— 
ihuldigte in die Krügeret von Krudau gefommen und 
hat daſelbſt einen Schnaps getrunfen, die anweſende 
Wirthin fragend, ob denn der Mörder ſchon entdeckt jei. 
Als diejelbe. dies verneinte, foll er erklärt haben, ven 
Thäter ganz genau zu fennen. Er babe mit ihm zujam- 
men auf Steinwärber gearbeitet, wo ber Mörber zwei 
Heine Mädchen und einen polnifchern Arbeiter unfittlich 


184 Der Proceß Benthien. 


attafirt habe. Er wolle mit der Anzeige aber noch ein 
paar Tage warten. 

Der Termin zur dffentlihen Hauptverhandlung vor 
dem Schwurgerichte wurde auf ben 17., 18. und 19. Oc— 
tober feſtgeſetzt. 

Dank der getroffenen Einrichtung, nur mit Einlaf- 
farten verjehenen Perfonen den Zutritt zu geftatten, waren 
vor dem Juſtizgebäude auf dem Holftenplage nur wenige 
Neugierige zu jehen, und auch einer Ueberfüllung des Zu- 
hörerraumes des großen Schwurgerichtsfanles war vor— 
gebeugt. 

„Da e8 fich um eine Anklage wegen Mordes und ein 
zu erwartendes Todesurtheil handelt“, wir reprobuciren 
hier wörtlich den Bericht des Referenten der „Hamburger 
Reform‘, „bildet natürlich das jchöne und fogenannte 
ſchwache Gefchlecht mit der ihm angeborenen Schücdhtern- 
‚beit und Sanftnuth die Mehrzahl des Publikums.” 

Den Vorſitz ver Verhandlung führte Landgerichts- 
director Engel, die Anklagebehörde vertrat Oberſtaats— 
anwalt Dr. Hirsch, die Vertheidigung lag in den Hän— 
den des Dr. C. Augujt Schröder. 

Der Angeklagte ift ein fchlanfer, mittelgroßer Menſch, 
mit jchmalem, bleichem Geficht, deſſen niedrige, im jchar- 
fen Winkel zurücipringende Stirn ſich unter dichten 
Ihwarzen Haar verliert, während ein kleiner hellerer 
Schnurrbart zwiſchen der ftarf gebogenen, das Antlig ge- 
wifjermaßen beherrſchenden Naſe und aufgeiworfenen Lip- 
pen fit. 

Der auffallend hinkende Angeklagte blickt ziemlich kühl 
in den Saal. Die Frage des Präfidenten, ob er fich 
ſchuldig befenne, beantwortet er mit fefter Stimme: ‚Nein, 
mein geehrter Herr, was ich nicht gethan habe, habe ich 
nicht gethan, jo wahr ein Gott im Himmel iſt!“ Bei 


Der Proceß Bentbien. 185 


feiner Vernehmung macht er über feine Kindheit die be- 
reit8 früher erwähnten Angaben. Seinen angeblichen 
unehelihen Vater habe er nie gekannt, feiner Mutter 
fönne er fich nur ſchwach erinnern. Die ihm zur Lat 
gelegten Bergehen feiner Iugendzeit, die ihm zum Vor⸗ 
wurf gemachten Branpftiftungen bejtreitet er energiich. 
Die Heinen ihm vorgehaltenen Unregelmäßigfeiten gibt er 
unumwunden zu, doch will er niemals Thiere gequält 
haben. Bis zum 14. Jahre habe er die Dorfſchule be- 
jucht und gelernt, daß man nichts Böſes ausüben dürfe. 
Nach feiner Confirmation habe er auf verjchiedenen Stel- 
len gevient, ohne dem Leben eines Landmanns bejondern 
Geſchmack abgewinnen zu können. Er fei vom Pferde 
geftürzt und hinke feitvem, deshalb ſei er nach Lübeck 
gewandert, habe dort das Schuhmacherhandwerf erlernt 
und ſich 1885 nah Hamburg gewenbet. Schließlich ſei 
er Frank und fchwachfinnig geworben, da habe man ihn in 
jeinen Heimatsort gejchafft. Dort habe es ihm jedoch 
nicht lange behagt, er ſei wieder nach Hamburg zurüd- 
gekehrt. Im März 1889 fei er zu dem Schuhmacher 
Wulff auf dem Billhorner Röhrendamm, im April zu 
einem gewiſſen Wichter in der Reginenftraße gezogen. 
Letteres Logis habe er bis zu jeiner Verhaftung;bewohnt. 
Ueber jeinen Aufenthalt und jein Thun am 7. April 
wiederholt er die vor dem Unterfuchungsrichter abgegebene 
Ausjage, gefteht aber, während der Vorunterfuchung viel 
gelogen zu haben. Er fucht die vorgebrachten Unmwahr- 
heiten mit feiner Furcht, daß er noch mehr in Verdacht 
gerathen könnte, zu entjchuldigen. Auf Vorhalt des Prä- 
fidenten, daß er erft am 21. April verhaftet worden jet, 
jeine eingeftandenermaßen erfundene Gejchichte aber be- 
reit3 am Abend des 7. April dem Wulff erzählt habe, 
erklärt Benthien: er habe died „in der Dummheit‘ ge- 


186 Der Proceß Bentbien. 


than. Die Gejchichte von dem Kater und ven Kratzwun⸗ 
den habe er dem Wulff nicht an demſelben Tage, ſondern 
ſchon 14 Tage früher erzählt. Diefer müſſe fich irren, 
wenn er etwas anderes behaupte. Daß er immer ges 
leugnet, in der Wirthichaft ver Frau Zander gewefen zu 
jein, ſucht Benthien damit zu entkräften, daß er ven Ver—⸗ 
dacht gegen fich nicht habe beftärfen wollen. 

Die Frage des Präfidenten, warum er den Aufenthalt 
bei der Frau Zander verjchwieg, als noch gar Fein Ver— 
dacht gegen ihn vorlag, beantwortete er, wie bereits früher, 
dahin: „das ſei in der Dummheit” gejchehen. Das Mefjer 
des Wulff habe er fchon drei bis vier Tage vor dem 
7. April geliehen, um eine Schufterglätte zu ſchneiden, 
aber das dazu pafjende Holz nicht gefunden. Er habe das 
Meſſer gar nicht gebraucht und unbenugt in ber Hofentafche 
herumgetragen. Ueber die auf ber. Klinge vorgefundenen 
Schrammen vermöge er feine Erklärung zu geben. Die 
Kragwunden an feiner Hand feien zwei Wochen älter 
als der Mord. Der Angeflagte führt jie wieder auf ven 
Kater an der Elbbrücke zurücd, während vier weitere ganz 
gleiche Kratzwunden an feinem Leibe, deren Narben bei 
der förperlichen PVifitation am 29. April entdeckt wurden, 
durch den bejchädigten Hafen feines Hoſenriemens ver- 
urſacht worden feien. Sein auffälliges Hinfen rühre von 
dem Sturze mit einem Pferde ber. 

Damit jchloß die VBernehmung des Angellagten und 
ver Gerichtshof trat in die eigentliche Beweisaufnahme 
ein. Außer ven Sachverftändigen waren 88 Belaftungs- 
und 19 Entlaftungszeugen gelaven. 

Der erfte Zeuge, Eonftabler Anders, berichtete zu⸗ 
nächit die bereits befannten Einzelheiten bei Auffindung 
der Leiche. Er hat mit zwei Knaben und einem Arbeiter 
nebjt dejjen Sohn ven flüchtigen Menfchen verfolgt, ber 


Der Proceß Bentbhien. 187 


jehr gut zu Fuß war und nicht hinkte. Er ift demjelben 
etwa 150—200 Schritte nahegeflommen und hat ihn jehr 
gehett, ſodaß er, der Flüchtling, ganz erſchöpft fein mußte. 
Auf Befragen des Vertheidigers befundete Anders, daß 
der von dem Entflohenen eingejchlagene Weg allerdings 
ein jehr ſchmuziger und jumpfiger geweſen fei. 

Dr. Mingramm, Bolizeidiftrictsarzt, jchilderte den 
Leichenbefund. Als Zeuge am Thatorte anlangte, war 
es bereits dunkel und er mußte bei Katernenlicht operiren. 
Der Leichnam war durch Mefferjtiche völlig zerfleiicht. 
Die Verlegungen lieferten dem Zeugen ven klarſten Be- 
weis, daß das Verbrechen aus Luft am Morden vollbracht 
worden iſt. Eine anatomijche Kenntniß des menfchlichen 
Körpers ift nicht erforderlich, um die Gelenke jo zu treffen, 
wie fie durchichnitten waren. Die That muß mit einem 
ſcharfen Inftrumente ausgeführt worden fein. Ein Tafchen- 
meffer hält er nicht für geeignet. Auch das ihm vor— 
gelegte Wulff’jhe Meſſer fcheint dem Zeugen nicht 
groß und ſcharf genug zu fein, aber er will die Mög- 
lichkeit nicht beftreiten, daß dieſes Meſſer verwendet 
worden ijt. 

Während der Zeuge bie VBerftümmelungen des Stein- 
fatt'ſchen Körpers bejchrieb, warf Benthien rajche jcheue 
Blicke in den Zufchauerraum. 

Förster Otte, Polizeiverwalter in Bliesdorf, hat den 
Angeklagten ſtets für einen verfommenen Menſchen ge- 
halten, ver einer böfen That wohl fähig ift. 

Lehrer emeritus Döpfe hat früher die Dorfichule zu 
Bliesdorf geleitet und den Angeklagten unterrichtet. Dieſer 
ift fein fchlechter Schüler gemwejen, aber verlogen, gegen 
Zureden abgeftumpft und verftellungsfähig. Zeuge hat 
ihm oft prophezeit: „Junge, Iunge, du nimmft ein jchlechtes 
Ende und ftirbft noch mal am Galgen!‘ 


188 Der Proceß Bentbien. 


Der neunzehnjährige Landmann Otte hat ſelbſt gejehen, 
daß der Angeklagte lebende Fröſche zerſchnitt. 

Der Hufner Körner hatte Benthien ein halbes Jahr 
als Yungen im Dienft, freute fich aber, als er ihn wieder 
[08 war. Der Angeklagte hat fich bei ihm einmal einen 
ihlimmen Fuß zugezogen, ſodaß er eine Zeit lang hinkte 
boch hat fich das jpäter wieder gegeben. 

Der Yandmann Rethwiſch bat den Angeflagten ein 
Sahr als Kuhhirte bejchäftigt und ihn oftmals geprügelt; 
er hatte vom Großvater deſſelben Auftrag, ftrenge Zucht 
zu üben. 

Der Holländer Greßmann ſchilderte ven Angeklagten 
als arbeitsjcheuen, lügenhaften und graufamen Menſchen, 
der eine Freude daran empfand, Thiere zu quälen. Er 
bat Benthien einjt ertappt, als diejer die Schweine in 
ihrem Kober mit einer Miftgabel blutig ftach. 

Schuhmacher Heß aus Lübeck, der einftige Lehrherr 
Benthien’s, erzählt, wie dieſer ihn freiwillig aufgefucht 
und gebeten habe, ihn das Handwerk zu lehren. Zeuge 
hat von dem Angeklagten den Eindruck eine „dumm— 
ſchlauen“ Menfchen gewonnen. Beim Gehen fchleppte er 
das rechte Bein in hinfender Weile nad. Auf Befehl 
des Vorſitzenden mußte der Angeklagte mehrmals im Saale 
auf- und abgehen, was er in jehr flinfer Weiſe bejorgte. 

Frau Sander, bei ver Benthien furze Zeit gewohnt 
hatte, charakterifirt ihn als „ungeheuern“ Lügner, den 
fie aber trogdem für dumm, ja öfters für geiftesjchwach 
gehalten habe. 

Frau Müdenheim, bei der Benthien ebenfalls lo— 
girt hat, war nicht fehr erbaut von ihrem Einwohner, 
ber ihr unflug vorfam und allerlei Unfinn machte. 

Ebenſo fprechen fich die Frauen Hanfen und Ilſen 
aus. Lestere namentlich betonte, daß Alles, was er ge- 


Der Proceß Bentbien. 189 


jagt, unwahr gewejen jei. Auch ihr wurde Benthien in 
Bewegung gezeigt; fie meint, daß er einen ähnlichen Gang 
immer gehabt habe. 

Schuhmacher Reife, der Benthien drei Monate be- 
herbergte, jagt aus: er ſei ein unzuverläffiger Arbeiter 
gewejen, ver meift durch „Fechten“ feinen Unterhalt betritt. 

Einer Frau Fride, aus deren Wohnung er ver- 
ihwunden war, ohne Miethe zu bezahlen, hat der An— 
geflagte, als fie ihn auf der Straße traf und zur Rebe 
jtellte, einfach erklärt, er fenne fie nicht und heiße nicht 
Benthien, fondern führe ven Namen Ahrens. 

Bei der 74 Jahre alten Frau des Schuhmachers 
Martens, in deſſen Gejchäft er thätig war, beſchwerte fich 
der Angeklagte einmal darüber, daß er Hunger leiven 
müffe. Sie erwiberte ihm: wer efjen will, muß auch 
arbeiten. Da padte er die alte Frau an der Bruſt, 
warf fie zu Boden, ſteckte ihr das Halstuch als Knebel 
in den Mund und mwürgte fie, dann lief er davon. Der 
Vorgang ift damals der Polizei angezeigt worben, hat 
aber feine weitern Folgen gehabt. 

Dr. Sthamer gibt einen Bericht über die Section 
ber Yeiche des Knaben Steinfatt. Es fanden fich folgende 
Berwundungen: 

Horizontal über die Vorberfläche des Haljes eine acht 
Gentimeter lange Schnittwunde, durch welche das Unter- 
hautbindegewebe, die Fascie und ber linfe Kopfrüdenmugfel 
burchichnitten war. 

In der Nähe des linken Schultergelenfes waren bie 
Weichtheile auf der Vorderſeite von der hintern Achſel— 
linie bi8 zum Schlüffelbein vollſtändig durchſchnitten, ebenfo 
die große Schlagaber und die große Blutader des Armes, 
Durch diefe Verwundung war der Arm fait ganz vom 
Körper getrennt. 


190 Der Proceß Bentbien. 


Eine vom Schwertfortiag bis zwei Finger breit ober- 
halb des Nabels vertikal verlaufende elf Gentimeter lange 
und drei Gentimeter breite, Elaffende Wunde. Im der 
Mitte verfelben war das Bauchfell in drei Centimeter 
Länge aufgejchlikt. 

. Eine in der Mitte zwifchen dem Nabel und ver 
Schambeinfuge von rechts nach links gehende Wunde, durch 
welche ebenfalls das Bauchfell burchichnitten war. 

Ein jehr tiefer Schnitt über dem rechten Hüftgelenf, 
ber ſämmtliche Weichtheile trennte und das Gelenf hinten 
und vorn geöffnet hatte. Durch diefe Verlegung war der 
rechte Dberjchenkel faſt ganz losgetrennt. 

Cine oberflächliche, über die rechte Hälfte des Hoden- 
jades verlaufende Wunde. 

Eine acht Gentimeter lange Wunde in derrechten Kniehöhle. 

Vier Centimeter unterhalb der leßtern eine nach der 
Innenfläche des Unterſchenkels zu verlaufende vier Cen— 
timeter lange, zweieinhalb Centimeter breite, durch Haut- 
und Unterhautbindegewebe gehende Wunde. 

Eine oberflächlihe Wunde auf ber Innenſeite bes 
rechten Oberſchenkels. 

Eine in die Fascie dringende Wunde des rechten Unter: 
ichenfels. 

Der Schnitt über den Hals ift im Leben, bie übrigen 
Wunden find im Tode beigebracht worden, ver Top ift 
zum größten Theil durch Verblutung, theilmeije aber auch 
durch Eritidung eingetreten. Bei der Yeichenöffnung 
haben fich überdies biutunterlaufene Stellen im Halje 
gefunden, bie auf gewaltjame Eingriffe mit der Hand 
hindeuten. Der Mörder muß noch nach der That mit 
unbegreiflihem Behagen in ven Wunden gewühlt haben, 
deshalb Liegt nach feiner, des Sachverftändigen, Ueber: 
zeugung ein Luftmord vor. Aus der Mehrzahl der Wunden 


Der Proceß Bentbien. 191 


ift das Blut mehr gequollen wie gejpritt, ſodaß ber Thäter 
bei einiger Borficht Blutfpuren an feiner Kleidung ver- 
meiden fonnte. Der Sachverjtändige hält es nicht für 
unmöglih, daß die aufgezählten Berlegungen von dem 
Wulff'ſchen Meſſer herrühren. 

Der Gefängnißarzt Dr. Meyer hatte im Jahre 1885 
Gelegenheit, ven Angeklagten zu beobachten, und kam da— 
mals zu der Ueberzeugung, derſelbe ſei ſchwachſinnig, 
nicht eigentlich unzurechnungsfähig, aber in der intellec— 
tuellen Entwidelung zurüdgeblieben, weshalb er ihn aus 
der Correctionshaft in feine Heimat ſchickte. Das auf 
feine damaligen Beobachtungen gegründete Gutachten ijt 
dahin zufammenzufaflen: Benthien ift criminalvechtlich 
für das verübte Verbrechen nicht verantwortlich zu machen, 
dba er einem unwiderſtehlichen Zwange aus jich heraus 
gefolgt iſt, deſſen Urſache in einem aus feiner organijchen 
Veranlagung, nicht aus der mangelhaften und vernach- 
läffigten Erziehung, entipringenden moralijchen Defect zu 
juchen if. Trotzdem hat er jo viel durch die Erziehung 
geivonnene Erfenntniß, bei Begehung eines Verbrechens, 
wie des vorliegenden, jehr wohl zu willen, daß unb was 
er für ein Verbrechen vollführe, aber er war jeiner orga- 
nischen Veranlagung nach nicht ftark genug, feinen Trieben 
zu wiberjtehen. 

Es wurde fejtgeftellt, daß Sonnabend den 6. April, 
gegen 5 Uhr nachmittags, ein Mann, dejjen Beichreibung 
auf das Aeußere Benthien’s paßt, den in ver Rennbahn- 
ftraße fpielenden Knaben Steinfamp aufgefordert hat, ihm 
den Weg nach Jenfeld zu zeigen. Die binzulommenbe 
Mutter des Knaben unterjagte vemjelben jedoch, ven Fremden 
zu begleiten. Sie meint auch jegt, dieſen Mann in 
Benthien zu erkennen, nur habe verjelbe nicht jo jehr ge- 
hinkt. Der fleine Steinfamp erkannte den Angeklagten 


192 Der Broceh Bentbien. 


nicht wieder. Auch der zehnjährige Karl Jurs hat ven 
Angeklagten bereitd in den Nachmittagsjtunden des 5, 
und 6. April in der Gegend des Rauhen Haufes gejehen. 
Am lettern Tage hat Benthien verjucht, ihn an fich zu 
locken. 

Am 7. April haben die zwölfjährige Johanna Söhrs, 
die gleichalte Emma Bethmann, der elfjährige Johannes 
Jurs und die beiden in demſelben Alter ſtehenden Knaben 
Heinrich Bethmann und Johannes Weſtermann, als ſie 
an der Hohlen Rinne und am Hohlen Wege in Horn 
ſpielten, einen unheimlichen Menſchen erblickt, der ſie be— 
obachtete und ſich an ſie heranmachen wollte. Sie alle 
bezeichneten Benthien als dieſen Mann. 

Der Angeklagte beſtritt ganz entſchieden, jener Mann 
geweſen zu ſein, und behauptete nach wie vor ſeine völlige 
Unkenntniß der in Frage kommenden Gegend. 

Der Polizeiagent Hanſen erhielt die Sache am Morgen 
des 8. Aprils zugewieſen und ſchilderte eingangs ſeiner 
Vernehmung die Augenſcheinnahme, nach der die That 
nicht am Fundorte der Leiche, ſondern auf der von uns 
bei Beſchreibung der Oertlichkeit erwähnten Anhöhe ge— 
ſchehen iſt, von welcher man einen ziemlich freien Anblick 
über die Heide hat. Blutſpuren führen von dort nach 
dem kleinen Graben. Die Perſonalbeſchreibungen des 
vermuthlichen Mörders haben merkwürdig übereingeſtimmt; 
es iſt nach ihnen der officielle Steckbrief entworfen worden. 
Als Benthien verhaftet und nach der Polizeiwache 19 ge— 
bracht wurde, hat der herbeigeholte Gaſtwirth Triepel den 
Angeklagten ſofort recognoſcier.. Der Zeuge Hanſen 
beſchrieb die Mühe, die er ſich gegeben hat, das von dem 
Angeklagten behauptete Alibi zu widerlegen, und die An— 
ſtrengungen Benthien's, ſich rein zu waſchen. Als er den 
Angeklagten einmal hinter ver Droſchke, mit der fie nach 


Der Proceß Bentbien. 193 


dem Thatorte fuhren, herlaufen ließ, äußerte Benthien, 
es fomme auf das Laufen an, und fing plößlich an zu 
binfen, während er dies vorher nie gethan hatte. Auch 
die von dem Polizeibeamten genommenen Fußabdrücke 
wurden im Laufe der Vernehmung dieſes Zeugen mit 
den von dem Angeklagten getragenen Stiefeletten ver- 
glichen. Nach der Vergleichung dedten ſich namentlich 
deren Abfäte genau mit ven Hadenabvrüden. Auf Wunſch 
des Vertheidigers wurde conjtatirt, daß allerdings bie 
Stiefel eines andern in dieſer Affaire VBerhafteten ebenfo 
genau in bie Fußſpuren gepaßt hatten. Nach der Anficht 
des Zeugen Hanſen ift ver Mord in der Weiſe vollbracht 
worden, daß der Angeklagte den Knaben von rüdwärts 
umfaßt, an fich gepreßt und in diefer Lage ihm den Hals 
durchichnitten hat, wobei das Blut nach vorn fprigte und 
den Thäter nicht beſudeln fonnte, während ver Knabe 
im frampfhaften Bemühen, fich aus der tobbringenden 
Umarmung zu befreien, vem Angeklagten die Kratzwunden 
auf der Hand beibrachte. Sergeant Hanfen tft der un- 
erichütterlichen Meinung, daß die Kraßwunden von ben 
Tingernägeln des ermordeten Kindes herrühren, trotzdem 
er dem DVertheidiger bejtätigen mußte, daß bei Perjonen, 
welche viel in Herbergen verfehren, fich oft Kratzwunden 
an den Händen finden. Abends 81/, Uhr wurde die Ver— 
handlung abgebrochen und am andern Morgen 10 Uhr 
fortgejegt. 

Benthien hinfte in gleicher Weile auf feinen Platz 
und folgte der Verhandlung mit derjelben Ruhe, wie er 
fie tag8 zuvor gezeigt, ab und zu feinem Vertheidiger 
eine Bemerkung zuflüjternd, oder an einzelne Zeugen 
Fragen richtend, die auf eine nicht unbedeutende Dofis 
Schlauheit ſchließen ließen. 

Als erfter Zeuge wurde der Knabe Ziemann ver- 

XXIV. 13 


194 Der Proceß Bentbien. 


nommen, ber fih am 7. April mit anderen Knaben bei 
dem Kugelfange der wanbsbeder Hufaren aufgehalten 
hatte. Beim Nachhaufegehen hörten die Knaben durch 
einen Bruder des Rauhen Hauſes von bem verübten 
Verbrechen und eilten darauf ver Mordſtelle zu. Unter- 
wegs begegneten fie einem mittelgroßen, hagern Menfchen, 
der ihnen auffiel, weil er ſehr raſch Tief und augenjchein- 
lich abfichtlich das Antlitz abwendete. Derfelbe trug einen 
langen, dunklen Baletot. ALS er fpäter den verbächtigen 
Mann gemeinfchaftlich mit feinen Gefpielen und dem Con— 
ftabler Anders verfolgte, ſah er unter dem Node bes 
Tliehenven etwas Weißes, ohne jedoch unterfcheiden zu 
fönnen, ob dies das Futter ober vielleicht das Hemd war 
An jeine frühere Ausſage erinnert, daß er das helle Futter 
des Rockes erfannt habe, erwiderte der Knabe, er habe 
das Weiße für das Rodfutter gehalten. Den ihm in der 
Vorunterfuchung gezeigten Benthien’jchen Ueberzieher fonnte 
er nicht mit Beftimmtheit recognofeiren. Nach Haltung 
und Figur des Angeklagten glaubte er in demſelben eine 
Aehnlichfeit mit dem Berfolgten zu finden, viejer habe 
indeß einen anderen Hut getragen. 

Die Knaben Barg, Heitmann und Behn fagten in 
ähnlicher Weije aus, nur wollte erjterer den vom An- 
geflagten getragenen Hut al8 den des Verdächtigen erkennen, 
und letterer behauptete, das Rockfutter fei hell gewejen, 
während der Baletot, mit dem Benthien bet feiner Ver— 
baftung befleivet war, mit dunklem Stoffe gefüttert ift. 
Sie find dem Berfolgten bis auf etwa Hundert Schritte 
nahe gefommen, haben aber nicht bemerkt, daß berjelbe 
hinfte oder eine jchiefe Schulter hatte. 

Steinfatt, der Bater des ermordeten Knaben, be- 
fundete, daß fein Sohn etwa um 4 Uhr nachmittags zu dem 
Gaſtwirthe David gefandt worden jei. Der kleine Borries 


Der Proceß Bentbien. 195 


müffe fi auf dem Wege zu ihm gefunden haben. Bereits 
einige Wochen vor der Blutthat ift fein Sohn mit einem 
Fünfpfennigftüd nach Haufe gefommen, das er von feinem 
Lehrer erhalten haben wollte. Damals ift dem Knaben 
eingefchärft worden, von fremden Leuten auf der Straße 
fein Geld zu nehmen und fie nicht zu begleiten; leider 
ohne Erfolg. 

Der ſechs Jahre alte Borried hat fi dem Knaben 
Steinfatt bei der Hohlen Rinne in Horn angejchlofjen. 
Später haben fie einen Mann getroffen, der mit ihnen 
ging, fie vor der David'ſchen Wirthichaft erwartete und 
ihn fchlieflih auf dem Rückwege fortſchickte. In dem 
Angeklagten erkennt er jenen Mann nicht wieder. 

Der Kaufmann Heinrich Elafen fohildert die ſchon 
erzählten Vorgänge während des Wartens auf feine Frau 
in der Nähe des David'ſchen Wirthichaftslocale. Das 
Geſammtbild des Fremden war für ihn ein fo eigen- 
artiges, unangenehmes, daß er e8 nicht vergeffen Eonnte 
und fih am nächiten Morgen, als er dur ein Ertra- 
blatt von dem Morde unterrichtet wurde, fofort ber 
Polizeibehörde zur Verfügung ftelltee Er hat Benthien 
augenblidlich erfannt, als diefer ihm bei vem Unterjuchungs- 
richter unter einer Reihe anderer Häftlinge vorgeführt 
wurde. Allerdings mußte er auf Befragen des Ver— 
theibigers zugeben, daß ein anderer der Thäterſchaft ver- 
dächtig geweſener Mann ebenfalls große Aehnlichfeit mit 
dem von ihm am 7. April beobachteten Menjchen befefjen 
babe, jedoch erfennt er auch heute mit unumftöhlicher 
Gewißheit in Benthien jenen Fremden. 

Die Zeugin Frau Koch hat einen Mann in Gejell- 
ichaft eines Knaben zur Eritifchen Zeit nach dem Horner 
Moor gehen jehen. Ihrer Meinung nach ift jener Mann 
unbedingt Benthien. 

13* 


196. Der Proceß Bentbien. 


Der Knabe Eftein hat ven ermordeten Steinfatt kurze 
Zeit vor der That mit einem Marne jehr fchnell über 
den Horner Steindamm wandern fehen. Der Fremde hat 
eine hohe Schulter gehabt und iſt ganz anders wie Ben- 
thien gefleivet gewejen, dennoch glaube er, diejer und 
jener jeien eine Perjon. 

Der neunjährige Franz hat am 4. April mit feiner 
Heinen Schwefter und mehrern andern Kindern in der 
Rennbahnftraße geipielt und ift von einem hinfenven 
Manne mit einer hohen Schulter aufgefordert worden, 
gegen ein Entgelt von fünf Grojchen mit nad) Marien- 
thal zu gehen. Er und die andern Kinder haben fich 
jedoch geweigert. Der fremde Menjch ijt eiligft fort- 
gegangen, al8 ihre Mutter in die Nähe fam. Er wollte 
den Angeklagten wiebererfennen, dieſer aber bejtritt an 
dem betreffenden Tage in der Rennbahnſtraße geweſen zu 
fein. Ueber feinen Aufenthalt am 4. April wußte Ben— 
thien feine Auskunft zu geben. Im Laufe der Bor- 
unterfuchung behauptete er, diefen Tag bei dem Schuh: 
macher Starf verlebt zu haben, der, als folgender Zeuge 
vernommen, nur bejtätigen fonnte, daß Benthien vom 
10. bi8 21. April bei ihm in Arbeit geftanden, und daß er 
ihn früher nicht kennen gelernt hatte. Schuhmacher 
Sunfe, über den gleichen Punft befragt, fonnte die An 
gaben des Angeklagten ebenfalls nicht bezeugen. Der 
Knabe Gierſe hat am Nachmittage des 7. April in ver 
Rennbahngegend mit mehrern Altersgenofjen gejpielt und 
gleichfall® Steinfatt mit dem fremden Manne gejehen, 
als beide dem Horner Moor zugingen. Er meint Benthien 
jei der Fremde geweſen, trage aber jett andere Kleider. 

Gierſe's Gejpielen machten vdiefelben Angaben. 

Der zur Zeit der Blutthat am Horner Wege wohnhafte 
Wirth Triepel fagte aus, er habe den ermordeten Stein- 


Der Proceß Bentbien. 197 


fatt am 7. April auf dem Wege von der Fijcherjtraße 
nach dem Rauhen Haufe getroffen. Der Knabe fei von 
einem Manne begleitet gemwejen, ven er auch heute zweifel- 
[08 als Benthien bezeichnen könne, da er biejem bei jener 
Gelegenheit feſt ins Geficht geblidt habe. ALS ver 
Angeklagte ihm am Tage der Verhaftung gegenüber- 
geftellt worden, ſei erſterer vor Beftürzung faft ohn— 
mächtig geworben. 

Auch der Zeuge Vorwerk und deſſen Sohn haben 
das Opfer des Verbrechens und den muthmaßlichen 
Mörder am jelben Tage etwa fünf Minuten vom That: 
orte entfernt gefehen, und erkennen den Angeklagten wieder. 

Diefer behauptet dagegen wiederholt feft und entſchieden, 
mit dem gemorbeten Knaben überhaupt nicht an jener 
Stelle gewejen zu fein. Es müſſe eine VBermwechjelung 
vorliegen. 

Die in Horn am Bauerberg wohnende Frau Zander 
bat von dem Verbrechen noch am felben Abend um 7 Uhr 
Kenntniß erhalten. Gegen 10 Uhr betrat ein Mann 
völlig außer Athem ihre Wirthichaft und bat um etwas 
Eſſen. Da er jehr elend und berangirt ausjah, ver- 
abreichte fie ihm eine Taſſe Kaffee und Falte Kartoffeln, 
die er mit großer Gier verzehrt. Er machte ihr dabei 
die Mittheilung, daß er lange typhuskrank gelegen und 
erit aus dem Kranfenhaufe entlaffen je. Der Mann 
erzählte ferner, er jet Schuhmacher und wohne in ber 
Nähe des Wafjerthurmes. Die Zeugin, welche Erbarmen 
mit dem angeblichen Reconvalefcenten hatte, jchenfte ihm 
noch ein Stüd Sped und gab ihm den Kath, fich nicht 
in der Horner Gegend herumzutreiben; es jet eben ein 
Knabe über den Hals gejchnitten worden, da könne er 
leicht al8 ver That verdächtig arretirt werben, der Fremde 
wurde womöglich noch bläffer, eriwiderte aber nichts und 


198 Der Proceß Bentbien. 


entfernte fich. Als fie jpäter im ‚‚General-Anzeiger‘ las, 
daß ein Schuhmacher als des Mordes verdächtig inhaftirt 
worden fei, fiel ihr jener Gaft wieder ein. Sie meldete 
fich bei der Polizeibehörde und erkennt den ihr vorgeführten 
Benthien fofort und beftimmt wieder. Er hat an jenem 
Abende über einem Jacket einen Ueberzieher getragen und 
ſtark gehumpelt. 

Der Angeklagte hatte bis zum 6. Juni lebhaft beftritten, 
jemal8 bei der Zeugin gewejen zu fein, und bei Gott dem 
Allmächtigen geſchworen, er habe Frau Zander nie gefehen. 

Befragt, warum er diefen Beſuch fo hartnädig ges 
leugnet, gab Benthien zur Antwort, das müfje er rein 
vergeſſen haben. 

Holzhändler Warnfe ift am 21. April auf dem 
Nachhaufewege dem Angeklagten begegnet. Da das Sig— 
nalement des vermuthlichen Thäters auf denjelben genau 
paßte, hat er ihn angeredet und gefragt, ob er ſchon 
von dem Morde in Horn gehört hätte. Benthien 
erblaßte und fing an zu zittern. Dieſe Wahrnehmungen 
bejtimmten den Zeugen, die Verhaftung des Verdächtigen 
zu veranlaſſen. 

Der mit der Unterfuchung betraut geweſene Landrichter 
Dr. Suded fchilderte das Lügengewebe, in das fich der 
Angeklagte verjtridt hatte. Faſt bis zum Schluffe ver 
Unterjuchung ift er bei feinen unwahren Behauptungen 
bezüglich des Verweilens am fritifchen Tage geblieben. 
Er hat Benthien mit Angeftellten der Rothenburgsorter 
Wafferwerfe und Leuten aus Meyer's Tanzſalon confron- 
tirt, ohne daß auch nur einer von ihnen fich des An— 
geflagten zu erinnern vermochte, troßdem dieſer einen 
Aufjeher des Thurmes mit voller Beitimmtheit als den— 
jenigen bezeichnete, mit dem er fpeciell gefprochen habe. 
Weber die Gegenüberftellung mit ven Zeugen Claſen noch 


Der Proceß Bentbien. 199. 


jene mit der Frau Zander und dem Zeugen Triepel 
haben einen beſondern Eindrud auf den Angeklagten 
gemacht. Er leugnete ſtets ftarr. Erſt am 6. Juni 
räumte er ein, mit dem Knaben Steinfatt in Berührung 
gekommen zu fein, fügte aber fofort hinzu: „Den Mord 
habe ich nicht begangen!” Dann hat er die Erzählung 
von dem Unbekannten vorgebracht, der ihn mit dem 
Koffertransport beauftragt haben fol. Benthien hat auf 
ihn den Eindrud eines nicht völlig normalen, eigenthüm- 
[ih veranlagten Menfchen gemacht, deſſen mangelhafte 
Erziehung die geiftigen Fähigkeiten möglichenfall® nicht 
voll ausgebildet habe; allein unzurechnungsfähig ift er 
ihm nicht erjchienen. 

Der Schuhmacher Wulff, bei dem der Angeflagte 
etwa vier Wochen logirt hatte, theilte mit, daß biefer im 
Logis ſtets ein ruhiger, orventlicher Menfch gewejen jet, 
der allerdings wenig gearbeitet habe, weil ihm eine gründ- 
fiche Kenntniß des Handwerkes mangelte. Gelogen habe 
er jehr viel und oft, ſodaß der Zeuge ihn ſchließlich für 
ein verfommenes Subject hielt, das geiftig nicht fo ſei 
wie andere Menjchen. Wulff bezeugte dann bie früher 
erwähnten Thatſachen bezüglich des geliehenen Meſſers 
und der Kratzwunden. 

Als er von dem Morde erfuhr, hegte er Verbacht 
gegen feinen Einwohner, unterjuchte feine Kleider, entdeckte 
aber feine Blutfpuren, und da Benthien überdies ſtets 
ruhig und kalt blieb, beruhigte er fich wieder. Der Ans 
geflagte habe ſtets den Fuß etwas nachgejchleppt, jeine 
jeßige Gangart jet indeffen eitel Verftellung. 

Benthien antwortete auf die Frage des Präfibenten, 
wann er zuerft von ber Blutthat gehört, am Montag 
Abend durch Frau Hoffmann; als ihm vorgehalten wurde, 
ihon am Sonntag Abend duch Frau Zander von dem 


200 Der Proceß Bentbten. 


Verbrechen unterrichtet worden zu fein, entjchuldigte er 
fih mit Gedächtnißſchwäche. 

Der Sacwverftändige, Meſſerſchmied Tauber, con- 
Itatirte als Reſultat feiner Prüfung des von dem An— 
geflagten geliehenen Wulff'ſchen Meſſers, daſſelbe müſſe 
auf einem groben Schleifſteine gewetzt worden ſein. 

Dieſem Befunde gegenüber blieb Benthien bei ſeiner 
Ausſage, das Meſſer nur zum Zweckenputzen verwendet 
zu haben; über die Schrammen auf der Klinge konnte 
er eine Erklärung nicht geben. | 

Frau Hoffmann befundet, daß der Angeklagte beim 
DBerlafjen feines Logis am 7. April einen Winterpaletot, 
graue Hojen, jpite Stiefel und einen runden Hut getragen 
habe. Kratzwunden an der Hand hat fie damals beftimmt 
nicht gejehen, wohl aber am nächiten Tage und als friiche 
erfannt. 

Dem Fleinen Sohne der Frau Scherner hat Benthien 
gelegentlich erzählt, ev möchte wol einmal Jack den Auf- 
ichliger jehen. 

Phyſikus Dr. Reinhard hat ven Angeklagten körper— 
lich unterfucht und die Narben an Hand und Leib con- 
ftatirt. Daß legtere von einer Riemenſchnalle herrührten, 
hält er für unmwahrfcheinlich, weil fie nach verjchiedenen 
Richtungen verlaufen und das Hemd zwifchen Hofe und 
Leib eine Schutzwand darftellt. Ob die Kratzwunden an 
der Hand von Menichennägeln oder einer Kate beigebracht 
worben find, hat er an den Narben wegen ber inzwiſchen 
verjtrichenen Zeit nicht genau beftimmen können, doch 
hinterlafjen Katzenkrallen tiefere, jchwerer heilende Wunden 
als Meenjchennägel, und er glaubt — auch dem Alter ver 
Narben nah —, Benthien müfje die DVerlegungen von 
Menichennägeln erhalten haben. — Dr. Reinhard erklärt 
ferner, das Hinken Benthien’s ift durch deſſen Körper- 


Der Proceß Bentbien. 201 


conftitution nicht bedingt, er hat aber die eine Hüftjeite 
höher als die andere gefunden, aus diefem Umſtande ift 
der jchlottrige Gang des Angeklagten herzuleiten, allein 
nicht das fimulirte Hinken, da Benthien bei demjelben 
das Gewicht auf den rechten Fußballen legt, während er 
gerade in dieſem den ihn zum Hinken veranlaffenven 
Schmerz verjpüren will. Er hat jett wieder das mehr- 
fache Hinken Benthien’8 durch den Gerichtsfaal genau 
beobachtet und bemerkt, daß der rechte Abfat des Benthien’- 
jchen Stiefels höher ift wie der linke. 

Der Angeflagte meint, dann müſſe er wol den einen 
Abjag mehr als den andern abgelaufen haben. Ver— 
ſchiedene Haden an feinen Stiefeln jeien von ihm nicht 
angefertigt worden. 

Frau Jürgens, deren Mann ein kleines Schneiver- 
geichäft betreibt, gab zu Protokoll, daß der Angeklagte am 
9. April in ihren Laden gefommen und nach dem Preife 
einer Sommerhoje gefragt hat. Er ift aber vom Kaufe 
derjelben abgejtanden und hat fich mit ihr über ven Mord 
unterhalten, dabei äußernd, Menjchen, die fo etwas ver- 
üben fönnten, jeien gar feine Menjchen, ſondern mit 
Menſchenhaut überzogene Beſtien. Er hat auch über die 
ausgejegte Belohnung und davon geiprocden, daß fein 
Bruder altonaer Polizist jei, der jchon mehrfach Mörder 
enttedt habe. Auch über das Zeugniß des Heinen Borries 
hat er feine Meinung geäußert und vermuthet, derjelbe 
wäre unzuverläffig und man werde auf jeine Ausjage nicht 
viel geben. Schlieflich hat Benthien derart mwunperliche 
Reden geführt, daß fie angjt und bange geworben und 
ihrem Schöpfer gedankt hat, als fie von ihrem Manne 
abgelöjt wurde. Diefem hat Benthien dann vorgelogen, 
er müſſe behufs Anftellung im Zoologiſchen Garten neue 
Garderobe anichaffen. 


202 Der Proceß Bentbien. 


Arbeiter Fink hat den Angeklagten einmal bei ber 
horner Kirche getroffen. Derjelbe hat damals nicht gehinkt, 
nach dem Luiſenwege gefragt und unaufgefordert erzählt, 
er jet Schuhmacher und am NRöhrendamme wohnhaft. 

Benthien war nicht im Stande, die Frage des Präfi- 
denten, was er am Luiſenwege gewollt habe, zu beantworten. 

Die Wirthin Krudan erkannte im Angeklagten mit 
volliter Bejtimmtheit jenen Mann wieder, der am 9. April 
in ihre Wirthichaft gefommen und gejagt hat, ver Mörder 
jet ein ihm befannter Arbeiter bei Blohm und Voß, trage 
braune Schuhe und jei ein unfittliches Subject. ALS die 
Zeugin darauf erwiderte, davon müfje er Anzeige eritatten, 
jagte er, das wolle er fich einige Tage überlegen. Er 
hat erzählt, er habe ven Thatort mit einem wandsbecker 
Polizijten bejucht, und fich über die Zeitungsberichte ab- 
fällig ausgefprochen. 

Der Angeklagte bejtritt auch jebt, jemal® bei ver 
Zeugin gewefen zu fein. 

Zeuge Maler Biedermann beftätigte die Angaben 
BDenthien’s, am 7. April, nachmittags zwifchen 3 und 4 Uhr, 
bei ihm vorgefprochen zu haben. 

Die Zeugen Körner, Müller und Frau Witte 
wollen den Angeklagten die Tage vor der Blutthat in ver 
Hammerlanditraße gejehen haben, jedoch hat fich damals 
noch ein anderer Mann mit Schlapphut durch Umher— 
jtreifen in berjelben Gegend verdächtig gemacht. 

Der nach ihnen vernommene Zeuge Küders erklärt, 
Denthien habe einmal 24 Stunden bei ihm gearbeitet, 
aber jo mijerabel, daß die Arbeit nicht zu verwenden war. 
Er hat ihn darauf hin weggeſchickt und iſt von ihm bei 
dem gewerblichen Schiedsgerichte verklagt worden. Er 
bat Termin gehabt, und zwar zu einer Zeit, in welcher, 
wie der BVertheidiger conftatirte, der Zeuge Körner den 


Der Proceß Bentbien. 203 


Angeklagten auf der Hammerlandftraße gejehen haben 
wollte. 

Dennoch hielt Körner feine Ausfage aufrecht, daß er 
den Angeklagten gerade zu jener Zeit, am 5. April zwijchen 
10 und 2 Uhr, in der Nähe des Rauhen Haufes ge- 
ſehen habe. 

Nach Beendigung diefer Zeugenvernehmung ftellte fich 
heraus, daß der vorgelabene Knabe Lundt zur Verhand- 
lung nicht erjchienen, jondern am Tage vorher aus ber 
Wohnung feiner Mutter verſchwunden war. 

Der VBertheidiger beantragte, die Situng zu ver- 
tagen, bis der Knabe wieder aufgefunden fei. 

Der Präfident bevauerte, fich darauf nicht einlaffen 
zu können. Wenn e8 verlangt werde, wolle er die Sigung 
bis nächſten Mittag aufheben und inzwijchen verjuchen, 
den Knaben polizeilich zu ermitteln. 

Der Bertheidiger ftellte ven Antrag, eine Pauſe von 
zwei Stunden eintreten zu laffen, während welcher fich 
vielleicht conjtatiren ließe, ob der Knabe aufzufinden jet 
oder nicht. 

Der Erflärung des Präfidenten zufolge war dies 
unmöglih, weil man fich erjt mit der Polizeibehörde 
Wandsbek in Verbindung fegen müffe, woſelbſt der Knabe 
wohne. 

Nunmehr beantragte der Bertheidiger, die Lundt'ſche 
Ausfage aus den Acten der Vorunterfuchung zu verlefen. 

Der Oberſtaatsanwalt widerfprach dieſem Antrage, 
dem der Gerichtshof indeß ſchließlich beipflichtete, 

Den Acten nach find am 4. April Lundt und ein 
anderer Knabe in der Brauerftraße zu Wandsbek von 
einem fremden Menfchen aufgefordert worben, gegen eine 
Belohnung von fünf Grojchen einen Koffer von Marien- 
thal nah Hamburg zu tragen. Auf die Frage, wo der 


204 Der Proceß Bentbien. 


Koffer fich befinde, hat der Fremde erwidert: „Im Gebüjch!“ 
Die beiden Jungen haben fich dann geweigert, mitzugehen. 
Der mit dem Angeklagten confrontirte Yundt hat ganz 
fejt und entjchieven behauptet, dieſer fei der fragliche Mann 
feinesfalls gewefen. 

Der als Zeuge vernommene Ortsvorjtand von Volks— 
borf, Maad, bemerkte am Tage nach der Blutthat mehr: 
fach einen verbächtigen, etiwa vierzigjährigen Mann, ver, 
wie er jpäter hörte, daſelbſt jeine Kleider gereinigt hatte. 

Der Zeuge Möller aus demfelben Orte befundete, 
er wiſſe vom Hörenjagen, daß ein verbächtiger Menjch in 
einer dortigen Wirthichaft genächtigt und feine angeblich 
mit Blut befledten Kleider bei dieſer Gelegenheit ge- 
wafchen habe. 

Dem Gaftwirthe Wendt aus Volfsporf war davon 
nicht8 Pofitives befannt. Der Verdächtige ſei bei ihm 
eingefehrt; mit Benthien ſei er bejtimmt nicht identijch. 

Einem vom Vertheidiger geftellten Antrage gemäß 
wurde nunmehr der Fuß des Angeklagten nochmals einer 
Mefjung unterworfen. 

Phyſikus Dr. Reinhard vervollitändigte jetzt fein 
im Yaufe der Verhandlung gegebenes Gutachten. Danach 
ift Benthien troß feines etwas jchiefen Beines befähigt, 
raſch laufen zu können. Hinfichtlich des geiftigen Zus 
ftandes Benthien's ift er der Anficht, daß eine pathologijche 
Geiftesjtörung nicht vorliege. Er hat ſich bemüht, eine 
geheime Geiſtesſchwäche zu entdeden, ohne daß ihm dies 
gelungen tft. Symptome, wie das Vorfichhiniprechen, das 
man bei dem Angeklagten wahrgenommen, find vielen 
durchaus normalen Menjchen eigen und involviren feine 
geiftige Schwäche. Auch Anzeichen einer erblichen Ver— 
anlagung zur Geiftesftörung find bei Benthien nicht zu 
Zage getreten, jedoch ift ihm eine einfeitige Bejchränftheit 


Der Proceß Benthien. 205 


nicht abzufprechen, die ſich z. B. darin fundgegeben hat, 
daß er oftmals Infeften peinigte, was bei einem Menjchen 
in dem Alter Benthien’s nicht vorkommen follte. Er ift 
auch fein Trinfer geweſen, ſodaß die Annahme, der An- 
geflagte jei durch den Genuß von Alkoholismen momen- 
tanen Geiftesumnachtungen unterworfen, von ſelbſt weg- 
fällt. Der Schädel und die Gefichtsform Benthien’s zeigen 
zwar einigermaßen den Typus der Geiftesfchwäche, allein 
die Difformationen find nicht bedeutend genug, um feine 
Unzurechnungsfähigfeit zu conftatiren. Bei dem Angeklagten 
find Spuren von Geiftesftumpfheit vorhanden, aber er 
hat andererfeits, 3.3. während ver Gerichtsverhandlung, eine 
große Schlauheit und Pfiffigfeit bewiefen. Der Angeklagte 
befigt eine für feinen Stand feineswegs unbeträchtliche Bils 
dung und fann jehr wohl Elar unterjcheiden, was recht oder 
unrecht ift. Er ift im Vollbefite genügender Willenskraft 
und für feine Handlungen criminalrechtlich verantwortlich. 

Gegenüber diefer Anficht erfärt der Gefängnißarzt 
Dr. Meyer, auf feinem bereits geftern vertretenen Stand- 
punkt verharren zu müſſen. 

Damit war bie Beweiserhebung beendet; den Ge- 
jhworenen wurden die folgenden Fragen vorgelegt: 

I. Hauptfrage: Iſt ver Angeklagte fchuldig, den Knaben 
Steinfatt am 7. April 1889 vorfäglich und mit Weber: 
legung getöbtet zu haben? 

II. Hülfsfrage: Iſt der Angeklagte jchuldig, ven Knaben 
Steinfatt am 7. April 1889 vorfäßlich getödtet zu haben? 

Es ergriff nunmehr der Oberftaatsanmwalt 
Dr. Hirsch das Wort zur Anklagebegründung und betonte 
zunächft, daß derjenige, welcher berufen fei, an der Verhand⸗ 
fung über ein Verbrechen wie das vorliegende teilzunehmen, 
anders über daſſelbe urtheilen müffe als ein Mann, ver 
die That aus der Ferne oder gar vielleicht nur aus 


206 Der Proceß Bentbien. 


graufig gefärbten Zeitungsreferaten fenne. Es ijt faum 
faßbar und das menfchliche Gefühl fträubt fich dagegen, 
an die Möglichkeit eines Mordes an einem wehrlojen, 
unfchuldigen Kinde zu glauben; iſt unbegreiflich, wie ein 
bislang ziemlich unbefcholtener Menſch zur Werübung 
eines jo abjcheulichern Verbrechens gelangen fonnte. Allein 
die Thatjache Liegt nun einmal vor und die Gefchworenen 
haben fich daher nur mit der Frage zu befchäftigen: ift 
die bier vorgeführte Perfon der Thäter? — Der Ans 
geflagte hat ein verwahrloftes Leben Hinter fich, er wurde 
ſchon in feiner Jugend verborben und tft jegt ein Strolch. 
Aber damit ift noch nicht ausgefprochen, daß er auch ein 
Mörder werden mußte. Jeder Schritt auf der Bahn des 
Verbrechens kann der erjte fein. Niemand vermag in 
eine Andern Seele zu lejen, wie lange ber Keim bes 
Verbrechens in derjelben gelegen hat. Der Angellagte hat 
jest den erjten Schritt gethan, und dieſer ift ein recht 
ichwerer und verberblicher geweſen. Was in den letten 
Tagen vor der blutigen That vorgegangen iſt, deutet 
darauf hin, daß der Angeklagte ſich mit dem Plane des 
Verbrechens, wie er ed am 7. April vollbracht, ſchon 
lange herumgetragen hat. Der Redner will nicht darauf 
eingehen, daß DBenthien ſich oft und mit Vorliebe in 
jener Gegend herumgetrieben habe, das iſt ven Anwejenden 
befannt und durch Zeugenausfagen genügend erhärtet 
worden, jelbjt wenn man den Angaben ver verjchievenen 
Kinder nicht unbedingten Glauben fchenfen mag. Es 
genügt die Feititellung der Borgänge am 7. April an jich, 
um die Ueberzeugung zu gewinnen, daß ber Angeklagte 
und fein anderer der Mörder des Knaben Steinfatt ift. 
Denthien hat am kritiſchen Tage fi von 4 Uhr an in 
Geſellſchaft der Knaben Borries und Steinfatt befunden, 
er ift von Zeugen um 44, Uhr mit Ießterm allein in 


Der Proceß Bentbien. 207 


ver Nähe des Horner Moors gejehen worden, er ijt ferner 
nach Entdedung des Verbrechens von andern Zeugen 
als Thäter verfolgt und fpäter von faſt allen Zeugen auf 
das unwiderleglichſte vecognofeirt worden, und läßt fich 
feinen Spuren folgen bis weit über die That hinaus. 
Allerdings iſt niemand bei Ausübung der That zugegen 
gewejen, die Fußſpuren aber, die bei der Leiche gefunden 
und auf dem vom DBerfolgten eingefchlagenen Wege . be- 
obachtet worden find, entjprechen genau den Dimenfionen 
der Stiefel, die der Angeklagte noch heute trägt. Dieſe 
Identität der Fußfpuren ift mehr als Zufall, fie iſt ein 
höchſt wichtiges Glied in der Beweiskette. Wenn der 
Angeklagte leugnet, thut er dies in derſelben unberechtigten 
Weife, wie er früher jo manche Thatſache beharrlich in 
Abrede gejtellt hat, die er jpäter doch als richtig zugeben 
mußte. Er hat überhaupt nur in dem einen Punkte der 
Wahrheit die Ehre gegeben, daß er jet einräumt, er 
habe viel, jehr viel gelogen. Im allerhöchiten Grabe 
belaftet ven Angeklagten aber, daß er bereit8 zu einer 
Zeit, in der er noch gar Feine Veranlaſſung dazu hatte, 
jeinem Wirthe unwahre Angaben über jein Berbleiben 
gemacht, fich aljo gewilfermaßen ein Alibi zurechtgelegt 
hat. Er, der das Wulffiche Haus am Nachmittage wohl 
und munter verlaffen hat, iſt abends mit zerfratten 
Händen zurüdgefehrt, zu deren Erklärung er neue Lügen 
erfinden mußte. Diefe DVerlegungen erflären ich leicht, 
wenn man fich vor Augen führt, wie der Angeflagte bie 
That begangen haben dürfte. Die Schilderung des in 
folhen Dingen erfahrenen Polizeifergeanten Hanfen hat 
bier jedenfalls das Richtige getroffen. Aeußerſt verdächtig 
ift auch des Angeklagten Treiben nach dem Bekanntwerden 
des Mordes. Seine verjchiedenen Redereien über die 
That befundeten ein gewiſſes Bedürfniß, fich über diejelbe 


208 Der Proceß Bentbien. 


mitzutheilen. Was die Frage der Zurechnungsfähigfeit 
Benthien’s anlangt, in welcher die beiden Sachverftändigen 
verjchievener Meinung geweſen find, ift e8 nicht Sache 
der Staatsanwaltichaft, die Anficht des einen höher als 
bie des andern zu ftellen; die Geſchworenen müffer aber 
darauf aufmerkſam gemacht werden, daß fie in dieſer Be— 
ziehung nur auf ihre eigenen Wahrnehmungen angewiejen 
find. Diefe müffen mit zwingender Gewalt zu bem 
Refultate führen, dag Benthien fih im vollen Beſitze 
jeiner Willensfreiheit befand und befindet. „Und“, fuhr 
ber Oberjtantsanwalt fort, „das, meine Herren Ge 
ihworenen, bitte ich zu bebenfen: erflären Ste biejen 
Angeklagten für unzurechnungsfähig, jo verläßt er nad) 
Schluß der Verhandlung frei und ungehindert den Gerichts- 
jaal. Dann lafjen Sie die Beſtie wieder los und bringen 
— wenn Sie jelbjt Väter find, werden Sie empfinden, 
was das heißt, — Ihre und andere Kinder in Gefahr. 
Sie geben dem Angeklagten Gelegenheit, feine Verbrechen 
fortzufegen, denen die Kinder ſchutzlos preisgegeben jein 
werben!‘ Der Redner fommt zum Schluffe noch auf 
die Trage der Ueberlegung zu fprechen und betont, daß 
fie zu bejahen fein werde. Er richtet die Bitte an die 
Gefhworenen, die Hauptfrage mit Ja zu beantworten, 
dann falle die Hülfsfrage von jelbjt, dann werde das 
Verbrechen, welches tagelang die ganze Stadt in Auf- 
regung verjett habe, dem Gejege gemäß gejühnt werden. 

„Es ift ein weitverbreiteter Irrthum“, begann Dr. Schrö- 
der jeine Vertheidigungsrede, „daß der Vertheidiger eine 
Art Mohrenwäiche zu Gunften feines Clienten zu voll- 
bringen und alles gutzuheißen habe, was derſelbe ge- 
than. Dies ift nicht Aufgabe der Vertheidigung, fie joll 
nur das Ihre thun, um alle während der Verhandlung 
befundeten Momente in das richtige Licht zu ftellen; 


Der Procef Benthien. 209 


alles den Angeklagten Belaſtende zugeben, aber auch in 
geeigneter Weile das Entlaftende zur Geltung bringen. 
Dieſe Pflicht ift in den Fällen um fo ernfter zu nehmen, in 
denen der Bertheidiger mit ven Richtern und Gejchworenen, 
mit der ganzen Bevölferung den Abjcheu gegen die That 
und den Thäter theilt.” Der Sache ſelbſt näher tretend, 
weiſt Dr. Schröder zunächſt hin auf die trübe, in jeder 
Hinfiht vernachläffigte Vergangenheit des Angeklagten, 
der unter den denkbar traurigiten Verhältniffen auf- 
gewachien ijt, wie das Thier des Feldes, ohne daß ein 
Menſch fih um ihn gekümmert, und ſtets als Sündenbod 
des gejammten Dorfes gegolten hat. „Trotz minutiöfejter 
Nachforſchung hat man indeß dem Angeklagten aus jener 
Zeit beftimmt nur nachweifen fönnen, daß er einmal Fröjche 
gequält hat. Wohin aber würde es führen, wollte man 
alle, die als Kind einmal einen Frojch getödtet haben, 
des Mordes verbächtigen? Der Angeklagte ift verlogen, 
träge und betrügerifch gewejen, eigentliche Gewaltthaten 
hat er nicht begangen. Den Indicien, die ihn belajten, 
ftehen eine ftattliche Reihe Momente gegenüber, welche 
unbedingt entlaftend wirken. Perfönlich glaube ich ven An- 
gaben der Zeugen Claſen und Zriepel abjolut, ich will 
auch noch die Ausfage des Zeugen Vorwerk gelten laſſen; 
damit bin ich aber auch am Ende mit den Angaben, welche 
mit Bejtimmtheit gegen Benthien zeugen. Sämmtliche 
Perſonen, welche den Angeklagten nach dem Morde ver- 
folgt haben wollen, find nicht in ber Lage gewejen, in 
der Dämmerung und der ihr folgenden Dunkelheit ven 
Mann genau zu erkennen. Sie haben nicht einmal das 
Gefiht des Fliehenden gejehen. Sie fünnen nicht als 
Recognofcirungszeugen gebraucht werben, um jo weniger, 
weil es fih um einen Menjchen handle, den man nur 
im flüchtigen Vorbeilaufen beobachtet hat. Die Ale 
XIV. 


210 Der Proceß Bentbien. 


fönnten allerdings gegen den Angeklagten ins Feld ge- 
führt werben, wenn in Wirklichkeit diefe Spuren genau 
feftgeftellt worden wären und ſich mit den Stiefeln des 
Angeklagten dedten. Dies ift nicht der Fall. Die Länge 
der Fußipuren ift 27 Centimeter. Die Fußlänge Benthien’s 
beträgt nach der im Laufe der Sitzung vorgenommenen 
Meffung 24 Gentimeter. Sie könne aljo unmöglich über- 
zeugenb gegen ben Angeklagten angewendet werden. Was 
bie Zügen betrifft, die mein Client am Abende des 7. April 
Wulff gegenüber vorgebracht hat, fo kann man aus ihnen 
nicht die Conjequenzen des Dberftaatsanwaltes ziehen, wenn 
man bedenkt, daß fie dem Gehirne eines geiftig ſchwachen 
Menjchen entiprungen find. Daß Benthien einen geiftigen 
Defect befitt, läßt fich nach dem Befunde des Sachver- 
jtändigen Dr. Meyer nicht bezweifeln. Der Phyſikus 
Dr. Reinhard hat ven Angeklagten gleichfalls als normal 
bezeichnet. Hatte er aber Wulff gegenüber die unwahren 
Angaben über den Aufenthalt am Eritifchen Tage gemacht, 
jo mußte er fie auch vor dem Unterfuchungsrichter auf- 
recht zu erhalten verfuchen, wollte er fich nicht fofort im 
höchſten Grade verdächtig machen. Da der Angeklagte 
an dem einen Beine leidet, wie auch Dr. Reinhard con- 
jtatirt hat, hätten die gefundenen Spuren eine ver: 
jchiedene Länge haben, das eine Bein hätte einen kräf— 
tigern Abdruck hinterlaffen müſſen ald das andere. 
Daß dies bei den aufgenommenen Spuren der Fall ge- 
wejen, ift nirgends dargethan. Viele Zeugen haben an- 
gegeben, daß der Angeklagte nie eigentlich gehinft habe, alle 
aber jtimmten darin überein, daß er jchlottrig ging und 
den einen Fuß nachichleppte. Jemand, dem ein folcher 
Vehler anhaftet, fonnte nicht fo ausdauernd laufen, wie 
der jeinerzeit verfolgte Mann gelaufen ift. Seine Schritte, 
jeine Sprünge hätten nicht von gleichmäßiger Kraft und 


Der Proceß Benthien. 211 


Länge ſein können. Der Schuhmacher Heß aus Lübeck 
hat erklärt, ſo wie der Angeklagte heute hinke, ſei er 
immer zu Fuß geweſen. Dieſer Zeuge hat doch jedenfalls 
Gelegenheit genug gehabt, die Gehweiſe Benthien's wäh— 
rend der ganzen Lehrzeit zu beobachten. Iſt es denn aber 
denkbar, daß ein hinkender Menſch mit einer Schnelligkeit 
und Ausdauer laufen kann, die alle Verfolger hinter ſich 
läßt? Die Frage, ob es möglich geweſen, mit dem vor- 
gelegten Mefjer die Verwundungen des Ermorbeten zu 
verurjachen, ſoll nur aufgeworfen werben, wichtiger ijt bie 
Thatjache, daß Feiner der Zeugen, welche ven Angeklagten 
noch am Abende der That fahen, erhebliche Schmuzſpuren 
an feiner Bekleidung bemerkte, obgleich er über mooriges, 
fumpfige8 Terrain gerannt fein follte. Berner ift der 
Umjtand von großer Bedeutung, daß fich an der Kleidung 
Benthien's nicht der kleinſte Blutfled gefunden hat. Die 
Sachverſtändigen haben erklärt, bei einiger Vorſicht fei 
es dem Thäter leicht möglich gewejen, fich von Blutfleden 
rein zu halten. Der mit kaltem Blute am Operations» 
oder Secirtiſche feines Amtes waltende Arzt mag das 
fünnen, aber nicht derjenige, der diefe That beging und 
fih gewiß in der furchtbarften förperlichen und feelijchen 
Aufregung befand, In einem folchen Zuftande foll ein 
Mörder fih in Acht nehmen, ja feine Ader zu durch 
fchneiden, aus welcher das Blut ſpritzen fünnte? Da der 
Angeklagte fich bei der Ausführung des Verbrechens nicht 
ausgefleivet haben kann und feine Kleider rein find von 
Blut, fo bleibt Feine andere Annahme übrig als die, es 
muß doch ein anderer Thäter vorhanden fein. Dafür 
fprechen auch die Differenzen in der Beſchreibung ver 
Kleider des angeblichen Mörders, und die Ausfagen der 
Zeugen, welche ven Angeklagten zu gleicher Zeit an ver— 
ſchiedenen Drten gejeben haben wollen. Das verlejene 
14* 


212 Der Proceß Bentbien. 


Zeugniß des Knaben Lundt, dem am 5. April in Wands- 
bef ein mit der zwei Tage jpäter in berjelben Gegend 
geichehenen That jehr wohl in Verbindung zu bringender. 
Borfall pajfirt, entlaftet den Angeklagten und gibt zu 
venfen, denn der Mann, der ihn aufforverte, einen 
Koffer nach Hamburg zu tragen, ift Benthien nicht geweſen.“ 
Der Bertheidiger jpricht die Hoffnung aus, die Gefchworenen 
würden ſich davon überzeugt haben, daß viele Momente 
gegen die Schuld des Angeklagten ſprächen. Sollten fie 
fih dennoch zu einem Schuldig entjchliegen, jo möchten 
fie die Frage ber Ueberlegung in ernſtliche Erwägung 
ziehen. Don einer Ueberlegung könne der ganzen Art 
der Ausführung des DBerbrechens zufolge nicht wohl die 
Rede fein. Seiner Anficht nach müffe man jedoch jchließ- 
(ih zu dem Reſultate gelangen, beive Schuldfragen zu 
verneinen, weil der Angeklagte, habe er die That begangen, 
fih zur Zeit derjelben in einem Zuſtande Franfhafter 
Störung der Geijtesthätigfeit befunden habe, welche feine 
freie Willensthätigfeit ausſchließe. Das jet durch bie 
Aussagen aller Zeugen bewiejen, die mit dem Angeklagten 
längere Zeit in Verkehr gejtanden hätten, das habe in 
beftimmtejter Weife Dr. Meyer und in bedingter Weije 
auch Dr. Reinhard ausgefprochen. Der Bertheidiger 
bittet, zu bevenfen, fo jchlimm es auch fein würde, durch 
bie Freifprechung event. eine „Beſtie“ wieder loszu— 
lafjen, fo wäre es doch gewiß noch jchlimmer, einen Uns 
ihuldigen hinzurichten, nur damit die zur Beurtheilung 
vorliegende Blutthat gejühnt werde. 

Nach einer kurzen Replik des Oberſtaatsanwaltes und 
Duplik des Vertheidigers, und nachdem der Präſident des 
Gerichtshofes die vorgeſchriebene Rechtsbelehrung in ein- 
gehendſter Weije ertheilt hatte, zogen fich die Gejchworenen 
in ihr Berathungszimmer zurüd, 


Der Proceß Bentbien. 213 


Nach einftündiger Berathung traten fie wieder in ben 
Saal und gaben durch ihren gewählten Obmann ben 
folgenden Spruch ab: 

St der Angeklagte ſchuldig, den Knaben Steinfatt 
am 7. April 1889 vorfätlic und mit Ueberlegung ge= 
tödtet zu haben? 

„sa mit mehr als fieben Stimmen.” 

Der Oberjtaatsanwalt beantragte, gegen ben Ange: 
klagten die Todesſtrafe und dauernden Ehrverluft zu er- 
fennen. 

Der Gerichtshof verurtheilte Benthien diefem Antrage 
gemäß und ſchloß damit die Verhandlung bereits am 
zweiten Tage, abends 10!/, Uhr. 

Benthien hatte fowol den Epruch der Gejchworenen 
als auch das Todesurtheil äußerlich kalt und mit größter 
Ruhe vernommen, ebenfo wenig zeigte er, in feine Zelle 
zurüdgefehrt, bejondere Gefühlserregung, er jchlief bie 
ganze Nacht hindurch feit und tief. 

Sein Vertheidiger legte unter dem 25. October Revifion 
ein, auf die jedoch im December vom Neichsgericht ein 
verwerfender Beſcheid erfolgte. Der Berurtheilte fette 
num bie legte Hoffnung auf ein Gnadengeſuch, das fein 
Bertreter dem hamburger Senat umterbreitet hatte. 
Allein der Senat beſchloß, daffelbe abzulehnen und der 
Gerechtigkeit freien Pauf zu laſſen. 

In der Zwifchenzeit hatte Benthien wiederholt feine 
Unſchuld betheuert und auch am 15. Januar 1890, ale 
der Oberftaatsanwalt Dr. Hirſch im Beifein des Ver— 
theidiger8 Dr. Schröder, des Gefängnißgeiftlichen Paftor 
Ebert und des Oberinfpectors Kaempe dem Verurtheilten 
die DVerwerfung des Gnadengeſuches und ver für ven 
nächſten Tag angefetten Hinrichtung eröffnete, brach er 
in jcheinbar höchiter Verzweiflung in die Klage aus: 


214 Der Proceß Benthien. 


„Aber ih bin doch unschuldig! Ich habe es ja nicht 
gethan!“ 

Durch kein Zureden ſeitens des Oberſtaatsanwalts 
war er zu einem Geſtändniſſe zu bewegen. 

In die ſogenannte Armenſünderzelle überführt, empfing 
er den Beſuch des Gefängnißgeiſtlichen, der ihn in ge— 
waltiger Erregung traf. Paſtor Ebert ſpendete dem 
Delinquenten geiſtlichen Troſt und knüpfte ein Geſpräch 
an, in deſſen Verlaufe Benthien um das heilige Abend— 
mahl bat. Der Paſtor Ebert erklärte ſich bereit, ihm 
das Sakrament zu ſpenden, wies ihn aber ernſt darauf 
hin, das Sakrament könne einem Menſchen mit einer 
Lüge auf dem Herzen nicht zum Segen gereichen. Er 
ſprach ihm als Seelſorger in das Gewiſſen und ermahnte 
ihn zu aufrichtiger Buße. Endlich ging er in ſich und 
erklärte: „Ich will es geſtehen, ich bin es geweſen!“ 

Als der überraſchte Gefängnißgeiſtliche ihn nach dem 
Beweggrund des Mordes fragte, erwiderte Benthien, er 
habe ſich ſtets unglücklich und von den Menſchen verſtoßen 
gefühlt und ſchon lange die Abſicht gehegt, ſeinem Daſein 
ein gewaltſames Ziel zu ſtecken. Schließlich habe ihn 
jedoch ein Rachegefühl gegen die geſammte Menſchheit 
erfaßt, und dieſem Gefühle ſei der kleine Steinfatt zum 
Opfer gefallen. Auf die weitere Frage Paſtor Ebert's, 
ob Benthien nicht auch zugeſtehen wolle, daß Wolluſt 
ebenfalls eine Triebfeder zur Blutthat geweſen ſei, gab 
der Delinquent nach einigem Zaudern eine bejahende Ant— 
wort. Die Ausführung der That ſchilderte er in der von 
dem Sergeanten Hanſen vermutheten Weiſe, nur habe er 
den Knaben nicht an ſich gedrückt, ſondern mit der Hand 
im Genicke von ſich gehalten und dann ſeinen Hals mittels 
des Wulff'ſchen Meſſers durchſchnitten. Die früher ge— 
machten Angaben bezüglich der an ſeiner Hand und am 


Der Proceß Bentbien. 215 


Leibe gefundenen Kratzwunden hielt Benthien dagegen 
aufrecht und hat fie nie widerufen. 

Im Laufe des Tages bewahrte Benthien eine ziem- 
lihe Ruhe, er genoß von den gebotenen Speijen fajt 
nicht8 und jchien tiefe Reue zu empfinden, die fich be- 
jonders nach dem Empfang des heiligen Abenpmahls Bahn 
brach. Mehrfach ließ er den Wunfch vernehmen, bie 
eltern ſeines Opfers um Verzeihung bitten zu können, 
ein Berlangen, auf welches er indeß jchließlich verzichten 
mußte. 

Er beichäftigte fich dann lange — bis gegen 3 Uhr 
nachts — mit Briefejchreiben an mehrere feiner Ber- 
wandten, dann legte er jich nieder und jchlief drei Stunden, 
aber in fichtlicher Unruhe. Die folgenden Stunden bis 
zur Erecution verbrachte er in Gejellichaft des Paſtors 
Ebert mit Bibellefen und Gebet. 

Neun Minuten nach 8 Uhr morgens am 16. Januar 
1890 betrat Benthien, der bei einer frühern Gelegenheit 
die Aeußerung gethan hatte, er habe während der zwei- 
tägigen Schwurgerichtsfigung nur gezittert, nicht verurtheift 
zu werden —, gejtütt von Dberinjpector Kaempe und 
Paſtor Ebert, völlig gebrochen und halb bewußtlos den 
als Richtplatz benutzten Hof des Strafjuftizgebäudes vor 
dem Holjtenthbor. Genau 10 Minuten nad 8 Uhr fiel 
das Beil der Guillotine. Der irdifchen Gerechtigkeit 
war genügt. 


Die ſtraßburger Falſchmünzerbande. 
1889. 


Die Falfhmünzer Haben von jeher in bie Kategorie 
der „intereffanten‘ Verbrecher gehört und find als folche 
fowol im Bolfe wie von der Gejetgebung aller Zeiten 
befonder8 ausgezeichnet worden. Die Römer hatten in 
ihrer berühmten „Lex Cornelia de falsis“ ein Special- 
gejeg entworfen, in welchem feinem Namen nach vor allem 
bie Fälſchung als charafteriftifches Merkmal des Ber: 
brechen betont wurde. Das Mittelalter ftempelte das 
unbefugte Schlagen von Münzen zum „WMlajejtätsver- 
brechen“, indem es dabei vor allem die Münzhoheit 
des Kaijers, des Reiches und der Fürften im Auge hatte. 
Die „Carolina“, des Kaiſers Karl V. Peinliche Haldgerichts- 
ordnung, beftrafte die Falſchmünzer mit dem „Feuertode 
nah Gewohnheit und Satzung“, wie fich der Art. 111 
dieſes Gejetbuches ausdrückt, und fügte hinzu: „die 
ihre Heuſer darzu wiffentlich Teihen, die felben Heuſer 
follen fie da mit verwürft haben.‘ 

Sp graufam find wir heutzutage nicht mehr. Auch ift 
es nicht mehr jo jehr das Vergehen gegen die Münzhoheit 
des Staates, welches der eigentlichen „Münzfälſchung“ 
im Sinne des modernen Strafrechts ihr befonderes Ge- 
präge gibt, als vielmehr das Untergraben ver Grundlagen 


Die ftraßburger Falfhmünzerbande, 917 


des Geldverfehrs, das Vergehen gegen ben öffentlichen Ere- 
dit und bie bem Gelde und ven öffentlichen Creditpapieren 
wefentlihen Formen. Das ift die herrichende Theorie. 
Ein weiteres, mehr für die Praris des täglichen Lebens 
in Betracht fommendes Moment ift der Umftand, daß 
dieſe Verbrecher jelten als Einzelne operiren, fondern in 
der Regel in Gemeinjchaft, in der criminaliftisch früher 
fo bebeutjamen Form der „Bande“. An ver Spite einer 
ſolchen Faljchmünzerbande fteht in der Kegel ein intelli- 
genter, geiftig mehr oder weniger hervorragender Menfch, 
ber feine Helfershelfer in ven verfchiedenften Klaffen der 
bürgerlichen Gejellichaft hat. Wenn er gejchieft und vor— 
fichtig iſt, macht er nicht jelbft alle die faljhen Münzen, 
Banknoten, Briefmarken, welche plöglich im Verkehr auf- 
tauchen, fondern bevient fi dazu wie auch zur Ver— 
breitung im Publikum in der Regel untergeorpneter Kräfte, 
welche ihn und den Meijter, felten im Stich lafjen oder 
verrathen. Es bebarf der ganzen Energie und eines nicht 
geringen Aufwandes von Scharffinn ſeitens der Polizei 
und der unterfucchenden Behörven, um ein jolches Falich- 
münzernejt auszuheben. Werben bie Thäter und ihre 
Gehülfen nur theilweife entvedt, fo bleibt die Gefahr für 
den Verkehr und ven Credit beitehen. 

Ende der achtziger Jahre war in der Umgebung von 
Straßburg ti. E. eine Falfchmünzerbande in Thätigkeit, 
der auf die Spur zu kommen ber ftädtifchen Polizei und 
Landgensparmerie unendlich fchwer wurde. Bald hier, 
bald dort, bald dieffeit, bald jenjeit des Rheins tauchten 
zahlreiche falfche, in ver Regel ziemlich gut nachgemachte 
Fünf- und Zweimarkſtücke jowie Thalerftüde auf, ohne 
daß es gelang, ihre Entitehung zu ermitteln. Am 
24. Februar 1889 wurde in Karlsruhe ein Mann feit- 
genommen, als er eine Wurft mit einem faljchen Thaler 


218 Die ftraßburger Falfhmünzerbanbe. 


bezahlen wollte. Diefer Mann war ein gewifjer Fried— 
rich Sutter aus Neudorf bei Straßburg. Nach anfäng- 
(ihem Leugnen gab er zu, falfche Thalerſtücke in Verkehr 
gebracht zu haben. Er wollte pas Geld von einem ihm 
dem Namen nach unbefannten Mann in Straßburg er- 
halten haben. ALS diefer „große Unbekannte“ entpuppte 
fih nach und nach ein gewiſſer Mijchfe, welcher bereits 
im Jahre 1885 wegen Fälſchung von Briefmarken zu 
1, Sahren Gefängnig verurtheilt worden war. Damals 
hatte er ſich als Dffizier verkleidet in den Kafernen 
berumgetrieben, um vermöge feiner großen Gewanbtheit 
und feiner gefälligen Umgangsformen ohne erhebliche 
Schwierigkeiten die falfhen Marken an ven Mann zu 
bringen. 

Wie er fpäter angab, fam er im Gefängniß auf bie 
Idee, nach feiner Freilaffung ſich auf das einträgliche 
Gewerbe der Falfchmünzerei zu legen und faljches Metall- 
geld anzufertigen; dieſen Gedanken begann er im Herbſt 
1888 zur Ausführung zu bringen. Er faufte zu dieſem 
Zwede in einem 50-Pfennig-Bazar zu Straßburg Löffel 
aus jogenanntem Britanniametall, das Dugend zu 1 und 
2 Mark, verichaffte jih Gips, machte davon einen Teig 
und ftellte durch Abdrücken echter Fünfmark-, Thaler-, und 
Zweimarkjtüde Formen her. Im diefe goß er das über 
einer Spirituslampe gejchmolzene Metall der gefauften 
Löffel. Die Infchriften und Verzierungen am Rande ver 
Sünfmarkjtüde und Thaler gravirte er zuerjt mit einer 
Nähnadel ein, fpäter ſchlug er fie mit Meffinglettern 
hinein, die er zu biefem Zwede angefertigt und bei feiner 
Feſtnahme noch im Befit hatte. Auf diefe Weife hat er 
in ber Zeit vom Detober 1888 bis zum März 1889 
zahlreiche Fünfmarf-, Thaler-, und Zweimarfjtüde nach 
gemacht im Minimalwerthe von mindeftens 400 Mark, 


Die ftraßburger Falſchmünzerbande. 219 


und zwar etwa 50—60 Fünfmarfjtüde, 13 Thalerſtücke 
und eine unbejtimmte Zahl von Zweimarfjtüden. Hiervon 
gab er verjchievene Stüde im Betrage von etwa 120 Mark 
an Sutter, dieſer übernahm e8 das faliche Geld in Ber- 
fehr zu jegen, und verfprach die Hälfte des Gemwinnes an 
ihn abzuliefern. Ebenfo erhielt die Ehefrau Knebler von 
ihm Stüde im Betrage von etwa 20 Mark; 39 Fünf- 
marfftüde find in feinem Beſitz gefunden worden, und 
1 Fünfmarkſtück hat er zu Stuttgart in Verkehr gebracht. 
Was aus den übrigen faljchen Stüden geworben ift, 
fonnte nicht ermittelt werden. Die von ihm zur Faljch- 
münzerei gebrauchten Werkzeuge find zum Theil in ber 
Wohnung des Sutter und eines gewifjen Belling gefunden 
worden. Mifchke und feine Leute hatten ihre Thätigfeit 
über das halbe Elſaß und das benachbarte Baden aus- 
gedehnt. Die faljchen Stüde trugen das Bildniß des 
Deutſchen Kaiſers, das Münzzeichen A. und die Jahres— 
zahlen 1874 und 1876. Die lebtern Stüde waren im 
Allgemeinen bejjer nachgemacht als die erjtern. Die 
Miſchung beftand aus Kupfer und Wismuth und nur 
wenig Zinn und Blei. Aus 5 der oben bejchriebenen 
Löffel find 14 Stüd falſche Fünfmarkjtüde hergeftellt 
worden, die den echten ungemein täufchend ähnlich jehen. 
Sie fühlen fich nicht fett an und der Klang unterſcheidet 
fih nicht von den echten Stüden. Das einzige Unter- 
ſcheidungsmerkmal zwifchen ven echten und unechten Stüden 
beftand darin, daß der Rand bei den faljchen Münzen 
fichtlich abgebreht oder gefeilt ift, einen bläulichen Schein 
und einige mangelhafte Prägungen zeigt. Der Guß auf 
den platten Seiten, auf den RER war vorzüglich 
gelungen, 

Miſchke war ftolz auf feine gefälfchen Kunſtwerke. Er 
bielt e8 nach feiner Verhaftung unter feiner Würde zu 


220 Die ſtraßburger Falſchmünzerbande. 


leugnen und geſtand dem Unterſuchungsrichter ſchon im 
erſten Verhör Folgendes ein: „Ich bin der Falſchmünzerei 
ſchuldig. Ich habe falſche Fünfmarkſtücke, Thalerſtücke 
und Zweimarkſtücke gemacht. Einmarkſtücke, Zehnpfennig- 
ftüde und Zwanzigpfennigftüce nicht, auch Goldſtücke nicht. 
Nur in Straßburg in meiner Wohnung Ludwigsgaſſe 24 
habe ich faljches Geld gemacht und zwar feit October vorigen 
Jahres, als ich ohne Stelle war. Als ich bei Schwarz be- 
Ihäftigt wurde, hörte ich auf, fing aber im Januar dieſes 
Sahres, als ich dieſe Stelle verloren hatte, wieder an. Ge— 
holfen hat mir niemand. Sutter hat auf meine Beranlaffung 
faljches Geld, welches er von mir erhielt, verausgabt und 
bie Hälfte des Erlöfes bezogen. Andere Mitglieder ber 
Familie Sutter habe ich nicht direct beauftragt. Sonſt 
ift niemand mitſchuldig. Der Frau Knebler, welche mir 
Geld geliehen hatte, habe ich den Betrag, im ganzen 
etwa 20—30 Mark, in falſchen Münzen zurüdgegeben, 
ohne ihr dies zu fagen. Wenn fie bie Stüde ausgegeben 
bat, wird fie nicht gewußt haben, daß fie faljch waren. 
Sch jelbft Habe in Straßburg und Umgegend fein faljches 
Geld ausgegeben, auch auf der Neife nicht; erft in Stutt- 
gart habe ich den Verſuch gemacht, durch DVermittelung 
des Hausburjchen, welcher mich verrathen hat, faljches Geld 
anzubringen. Ich bleibe dabei, daß ich außer Sutter, ven 
Bater, Feine Mitjchuldigen habe. Die übrigen Familien- 
mitglieder Sutter, außer der Elife und der preizehnjährigen 
Zochter, wußten um die Falfchmünzere. Die Ehefrau 
Sutter hat alles gethan, um ihren Mann abzuhalten. 
Meine Frau ift ganz unfchuldig, fie hat mich beftändig 
gewarnt und gebeten, mich nicht in das Unglüd zu ftürzen. 
Ich will jett auch zugeben, das ich verfucht habe, zwei 
falſche Zehnmarkſtücke zu machen, mehr wie zwei habe ich 
nicht gegoffen, die Färbung gelang nicht.“ 


Die fraßburger Falſchmünzerbande. 221 


Die übrigen Angefchuldigten: Sutter, Vater und 
Sohn, und die Eheleute Knebler, ein gewijjer Robert 
Belling und deſſen Geliebte Amalie Elifabeth Gieler 
leugneten ihre Betheiligung an ver Falfchmünzerei. ALS 
aber der Unterjuchungsrichter die Sutter'ſche Wohnung, 
einen elenden Kellerverjchlag, einer eingehenden Befichtigung 
unterzogen und dabei einige jehr verbächtige zum Faljch- 
münzergewerbe dienende Werkzeuge gefunden hatte, bequemte 
auch Sutter fich zu folgendem Geſtändniß: „Ich geftehe 
jegt ein, daß ich von Mifchfe das von mir verausgabte 
faljche Geld erhalten habe. Miſchke hat es gemacht und 
zwar in feiner Wohnung. Nicht lange vor meiner Ver— 
haftung gab er mir ein Padet, welches anjcheinend eiferne 
Gegenftände enthielt, zur Aufbewahrung. Ich habe das— 
jelbe im Keller in meiner Wohnung vergraben. Ich 
fann den Ort nicht genau bejchreiben, werde ihn aber 
finden, fall8 Sie mich hinführen lafjen. Zweis bis drei- 
mal war ich zugegen, als Mifchke in feiner Wohnung 
Münzen goß. Er gebrauchte damals Gipsformen. 

„Ich bin durch Geißer mit Mifchke befannt geworben, 
Ob dieje beiden miteinander gearbeitet haben, und ob 
Geißer überhaupt davon weiß, vermag ich nicht zu jagen. 
Meine Bekanntſchaft mit Mifchke erfolgte in folgender 
Weiſe: 

„Geißer, der früher bei mir logirt hatte, führte mich 
eines Abends in die in dem von Mifchke bewohnten Haufe 
befindliche Wirthichaft. Dort erjchien Miſchke. Irgend— 
eine DBerabredung zwifchen Geißer und mir, mich mit 
Miſchke zufammenzubringen, hat nicht ftattgefunden. In 
der Folge traf ich noch ungefähr zwei- oder dreimal] mit 
Miſchke in derjelben Wirthichaft zufammen; erſt, bei einer 
ſpätern zufälligen Zufammenfunft in der «Kanone» war 
aber von falfchem Gelde die Rede. Wir famen überein, 


222 Die firaßburger Falſchmünzerbande. 


daß ich gegen Betheiligung am Gewinn von ihm Waljch- 
jtüde zur Verausgabung erhalten jollte. 

„Miſchke hat das Metall in einem alten eifernen Eß— 
töffel auf einer Spirituslampe gejchmolzen. Er jtedte 
den Stiel des Löffels in ein kleines Loch an der 
Wand, das anjcheinend durch eine Stuhllehne Hinein- 
gedvrüdt war. Die Spirituslampe, von der Größe ver 
innern Handfläche und aus Weißblech angefertigt, jtellte 
er unter den Löffel auf ven Tiſch. Dies vollzog fich in 
der erften Stube der Mifchke’fchen Wohnung. Die Frau 
habe ich dabei nicht gejehen.“ 

Bezüglich der übrigen Angeklagten wurde Folgendes 
feſtgeſtellt: 

Als Miſchke in der Knebler'ſchen Wohnung falſches 
Geld nachmachte, ſah ihm die Ehefrau Knebler genau zu, 
ſodaß ſie bald im Stande war, ſelbſt falſche Geldſtücke 
anzufertigen. Sie that dies im Januar 1889, indem ſie 
auf dieſelbe Weiſe wie Miſchke mindeſtens 30 Zweimark— 
ſtücke herſtellte. Da ihr die Herſtellung von Fünfmark— 
ſtücken nicht gelingen wollte, fertigte Miſchke im Februar 
1889 19 ſolcher Stücke für ſie an. Die ſo gewonnenen 
Falſificate gab ſie aus, ebenſo wie Zweimarkſtücke, welche 
Miſchke ihr ſchon vor Weihnachten gegeben hatte und von 
denen ſie wußte, daß ſie falſch waren. Sie hat ihre 
Schuld eingeſtanden, ihr Ehemann dagegen hat alles be— 
ſtritten. 

Sutter erhielt, wie oben bemerkt, im letzten Viertel— 
jahr 1889 von Miſchke eine Anzahl Fünfmark-, Thaler— 
und Zweimarkſtücke, von denen er wußte, daß ſie falſch 
waren, und gab die meiſten dieſer Stücke in Straßburg 
und Umgegend bei Geſchäftsleuten aus. So iſt er bei— 
ſpielsweiſe am 16. December in den badiſchen Dörfern 
Neumühl und Legelshurſt in etwa neun Wirthſchaften umber- 


Die ſtraßburger Falſchmünzerbande. 223 


gezogen, hat jedesmal eine Kleinigkeit verzehrt und einen 
falſchen Thaler in Zahlung gegeben, das herausgegebene 
echte Geld aber an ſich genommen. 

Am 13. Februar 1889 begab ſich Sutter mit ſeinem 
Sohne Karl nach Grafenſtaden, um daſelbſt falſches Geld 
in Verkehr zu bringen. Während erſterer auf der Straße 
wartete, ging letzterer in zwei Geſchäfte, kaufte Kleinig— 
keiten und gab zur Bezahlung je ein ſalſches Fünfmark— 
ſtück hin; das herausgegebene echte Geld nahm er in 
Empfang. Hierdurch hat ſich nach der Anklage Karl Sutter 
der Beihülfe zu der von ſeinem Vater begangenen Ver— 
ausgabung falſchen Geldes ſchuldig gemacht. Er iſt geſtändig. 

Am 8. März kam Miſchke, mit welchem Belling von 
früher bekannt war, in deſſen gemeinſchaftlich mit ſeiner 
Zuhälterin, der Angeklagten Gieler, bewohnte Behauſung 
und theilte demſelben ſowie der anweſenden Gieler die von 
ihm betriebene Falſchmünzerei mit, zeigte ihnen auch 
falſche Zweimarkſtücke. Miſchke hatte ſein Werkzeug bei 
ſich und bat den Belling und die Gieler, ihm in ihrer 
Wohnung die Herſtellung falſcher Münzen zu geſtatten. 
Sie waren damit einverſtanden. Hierauf hat Miſchke 
unter Benutzung einer von Belling und der Gieler zur 
Verfügung geſtellten Spirituslampe zwei falſche Fünfmark— 
ſtücke hergeſtellt, wobei beide zugegen waren. Dieſelben 
haben ſich hiernach einer thätlichen Beihülfe des Miſchke 
beit Ausführung der Falſchmünzerei ſchuldig gemacht. 
Sie find im Wejentlichen gejtändig. Bei einer in ihrer 
Wohnung vorgenommenen Hausfuhung wurden vor— 
gefunden: eine Kigarrenfifte mit Gips, ein eiferner Löffel 
mit Reften von Gipsteig, zwei Zinkſtückchen, das eine mit 
Gipsteig bejchmiert, und zwei Feilen. Miſchke feinerjeits 
gibt an, in der Belling’ihen Wohnung zwei Fünfmarkſtücke 
nachgemacht zu haben. 


224 Die ftraßburger Falſchmünzerbande. 


Dem Belling fällt außerdem zur Laft, daß er dem 
Miſchke, als derſelbe fih in Straßburg nicht mehr ficher 
fühlte und zu flüchten beabfichtigte, behufs befjern Fort— 
fommens einen Rod, eine Hofe und eine Arbeitsjchürze 
gab, auch denfelben während der Nacht vor dem Tage 
der Flucht (23. März 1889) in feiner Wohnung beher- 
bergte. Hierdurch hat er fich einer ftrafbaren Begünftigung 
ihuldig gemacht. Er ift auch in dieſem Punkte geftändig. 

Bei der jchwurgerichtlichen Verhandlung, bei welcher 
namentlich der Hauptangeflagte Miſchke durch eine form⸗ 
gewanbte Selbjtvertheidigung den Eindruck eines fähigen 
und intelligenten, aber durchaus verfommenen Menfchen 
machte, waren die Richter nicht lange über die Schuld 
ber einzelnen Angeklagten im Zweifel. Mit Ausnahme 
des jungen Sutter und des Knebler wurden fie ſämmt— 
lich zu längern Freiheitsftrafen verurtheilt. 


Meineid oder Redtsirrthum? 
(Eine Dorfgefhihte aus dem Elſaß.) 
1889. 


Es ijt feine Geltenheit, daß fich der Parteihader in 
einem Dorfe jo zufpigt, daß er jchließlich vor dem Straf- 
gericht feinen Austrag erhält. Die alte Gejchichte ver 
Montecchi und Eapuleti wiederholt fich alljährlich in kleinerm 
Rahmen in unjern Dorfgemeinden. Stehen das geiftliche 
und bürgerliche Oberhaupt des Dorfes, Pfarrer und 
Bürgermeifter, an der Spitze folcher Parteien, jo ift es 
fein Wunder, wenn fich die ſämmtlichen Eingefeffenen in 
zwei fcharf gejchievene Lager. jpalten. Drohungen und 
Beihimpfungen auf beiden Seiten find an ber Tages— 
ordnung, die gejchäftige Zunge gewerbsmäßiger Chrab- 
ſchneider findet ein reiches Feld ihrer verberblichen Thätig- 
feit und ſcheut jelbft nicht vor Lügenhaften Berichten an 
vorgejette Behörden und erweislic unwahre Behaup- 
tungen vor Gericht. Diejenigen, welche in den Strudel 
der Parteiwuth hineingeriffen werben, folgen blindlings 
dem „mot d’ordre“ ihrer Führer und erfahren meijt, 
wenn es zu fpät iſt, durch Schädigung an Ehre, Freiheit 
und Vermögen, daß fie nur Werkzeuge gewejen find. 

XXIV, 15 


226 Meineid oder Rechtsirrthum? 


Aehnliche Zuftände herrſchten jchon feit etwa einem 
Sahrzehnt in dem Dorfe B., einer weder an Zahl ver 
Einwohner noch Reichthum bejonders hervorragenden Ge- 
meinde. Um jo üppiger wucherten vie alljährlich fich 
wiederholenden Fehden zwifchen der Partei ded Bürger: 
meiſters und der des Pfarrers. Ein Anhänger der eritern 
Partei, ver Gemeinderath R., war im Jahre 1889 durch 
ichöffengerichtliche8 Urtheil wegen Hausfriedensbruch und 
Deleidigung des Pfarrers zu einer Woche Gefängnif 
verurtheilt worden. Der Pfarrer hatte ven Sohn des 
Gemeinderathes nicht in den Kirchenchor aufnehmen wollen 
und ihn eines Tages während des Gottesvienjtes von der 
Drgelbühne entfernen laſſen — aus Interefje für bie 
Kirchenordnung meinten die Anhänger des Pfarrers —; 
aus politiichem Parteihaß, der fi) vom Vater auf den 
Sohn vererbt, nach Anficht der Leute des Bürgermeijters 
und feiner Anhänger. Der Gemeinderat) R. hatte den 
Pfarrer wegen dieſes Vorgehens in dem Pfarrhaufe jelbit 
zur Rede geftellt, war dabei grob nach Bauernart aus- 
gefallen und hatte fich auf wiederholte Aufforderung des 
Pfarrers nicht entfernt. Deshalb feine Verurtheilung. 
Dem Beleidigten war die Befugniß zugefprochen worden, 
das Urtheil innerhalb 10. Tagen nach Rechtskraft auf 
Koſten des Angeklagten durch Anheftung an dem Gemeinde— 
haufe in B. zu veröffentlichen. In beiden Yagern in B. 
war davon die Rede, daß das Urtheil abgerifjen 
werden würde, wenn es ausgehängt werden folltee Am 
Abend des 18. Mai wurde durch den Gemeinbediener 
die Anheftung an einem unvergitterten Brete des Gemeinde— 
haufes vollzogen. Der Auftrag hierzu war ihm durch 
den Bürgermeifter 9. in feiner Wohnung gegeben worden. 
Dabei war auch der verurtheilte Gemeinderath zugegen. 
Ihm gegenüber machte der Gemeindediener, welcher jelbit- 


Meineid ober Rechtsirrthum? 227 


verjtändlich Anhänger des Bürgermeifter und Gegner 
des Pfarrerd war, die Bemerkung: „Sch würde es nicht 
hängen laſſen.“ 

Nach der Anheftung des Urtheils hatten zwei eifrige 
Anhänger des Pfarrers ſpät am Abend bei dem Schein 
einer Laterne den Inhalt gelefen. Bon oben foll dabei 
auf fie geipucdt worden fein; man wollte den Bürgermeifter 
al8 den Thäter erfannt haben. Um zu jehen, ob fich 
jemand während der Nacht an dem Urtheil vergreifen 
würde, ftellten fich die beiden Männer hinter das Thor 
des Ackerbürgers W. in einer Entfernung von etwa 
12 Meter, dem Gemeindehaufe gegenüber, auf. Eine 
Spalte des Thores hielten fie zur bejfern Beobachtung 
offen. 

Gegen 10%, Uhr fchlih fih ein Mann vorfichtig 
auf Soden an das Plafat und verfchmierte vaffelbe 
mit der Hand. Als fich einer der Aufpaffer durch ein 
Geräufch bemerkbar machte, verfchwand der Thäter eiligit. 
Die beiden Anhänger des Pfarrers verfolgten ihn eine 
furze Strede. Sie wollten troß der dunfeln Nacht den 
Gemeinderath R. erfannt haben, der anfcheinend allein 
Intereſſe an ver Ausführung diejes Streiches haben Fonnte. 
Allein Schon am andern Morgen theilte der Gemeinde- 
diener dem Bürgermeifter vertraulich mit, das Plakat 
habe er verjchmiert. Er ſei darüber ärgerlich gewejen, 
daß die Parteigenofjen des Pfarrer e8 noch am Abend 
mit Hülfe einer Laterne gelejen hätten. 

Auf Grund der Erzählungen der beiden Anhänger 
des Pfarrers, welche am folgenden Tage gefliffentlich aus 
der Stube des Dorfbarbiers im ganzen ‘Dorfe verbreitet 
wurden, erftattete ein dem Bürgermeifter und bem Ge— 
meinderathe R. aufjäffiger Wirth, dem die Wirthichafts- 
conceſſion entzogen werben follte, durch ein vom frühern 

15* 


228 Meineid oder Rechtsirrthum? 


Bürgermeifter verfaßtes Schriftſtück Anzeige gegen R. 
bei der Staatsanmwaltichaft. Beide, der Wirth und der 
ehemalige Bürgermeifter, waren Anhänger und intime 
Freunde des Pfarrers, jener aber bei der letten Gemeinde— 
rathswahl durch die Anhänger des jegigen Bürgermeifters 
geftürzt worden. Es iſt daher begreiflich, daß fich die 
befiegte Partei die willfommene Gelegenheit nicht entgehen 
laffen wollte, den Gegnern etwas am Zeuge zu fliden. 
Um zum Ziele zu gelangen, wurde fein Mittel gejcheut 
und die ganze Scala der Verleumdungen bis zum offen- 
fundigen Faljcheid durchlaufen, damit der Parteileidenſchaft 
Genüge gejchehe. Wir geben dieje Vorgefchichte des fpätern 
Meineidsproceſſes deshalb jo ausführlich, weil fich darin 
das Feinliche Intriguenſpiel widerfpiegelt, wie e8 leider 
oft auf unfern Dörfern an der Tagesordnung it. 

Die erſte Verhandlung fand am 2. Juli 1889 vor dem 
Schöffengericht in Br. ftatt. Angeflagt war ver Gemeinde— 
rath R. auf Grund des $. 134 des Strafgeſetzbuchs, am 
18. Mai 1889 zu B. eine öffentlich angefchlagene Be- 
fanntmachung (den Auszug aus jenem Urtbeile wegen 
Beleidigung des Pfarrers) böswillig verunftaltet zu haben. 
Als Belaftungszeugen erjchtenen die beiden oben erwähnten 
Anhänger des Pfarrers, als Entlaftungszeuge der Ge— 
meindediener M. Auch der Bürgermeifter war in ver 
Situng zugegen und felbftverftändlich mit ihm die halbe 
Einwohnerfchaft des Dorfes B. ald Zuhörer und Partei 
für und wider in diefer „cause celebre‘ ihres Heimat- 
ortes. 

Nach voraufgegangener Vereidigung und wiederholter 
Ermahnung, ſich ſtreng an die Wahrheit zu halten, be— 
kundeten jene beiden, daß ſie in der fraglichen Nacht den 
R. ganz genau erkannt hätten und ihn auf ihren Eid 
als den Thäter bezeichnen müßten. Der Gemeindediener 


Meineid oder Rechtsirrthum? 229 


hingegen bezeugte gleichfall® auf feinen Eid, er habe von 
jeinem offenen Fenjter beobachtet, ob etwa in jener Nacht 
an der Gemeindetafel etwas Ungehöriges vorgenommen 
würde; er habe aber den Angeklagten nicht gefehen, ob- 
ſchon er ihn von feinem Poſten hätte jehen müffen. Außer- 
dem fagte die unvereibigt vernommene Ehefrau des N. 
aus, daß ihr Dann in jener Nacht um 10 Uhr zu Bett 
gegangen und nicht von ihrer Seite gefommen ſei. In 
Folge des Widerſpruches diefer Ausfagen erachtete das 
Schöffengericht ven Thatbeftand für nicht hinreichend auf- 
geflärt und fprach den Angeklagten frei. - 

Die Staatsanwaltichaft legte gegen dieſes Urtheil 
Berufung ein, und in der Verhandlung vor der Straf- 
fammer des Landgerichts, zu welcher von beiden Geiten 
zahlreiche Zeugen geladen waren, erflärten bie beiden 
erjtgenannten wiederholt und aufs neue vereidigt, daß R. 
der Thäter fei, beftritten auch jeve Möglichkeit, daß fie 
jih in der Perjon deſſelben geirrt haben könnten. Der 
Gemeindediener gab zum Erftaunen des Gerichts die Er- 
färung ab: „Nun, meine Herren! um Ihnen die Wahr- 
heit zu fagen: ich bin e8 geweſen.“ Der Vorfigende rief 
ihm zu: „Dann find Sie ein ganz gewöhnlicher Lump.“ 
Die von der Staatsanwaltjchaft eingelegte Berufung wurde 
verworfen und gegen die beiden Belajtungszeugen jowol 
als den Gemeindediener Vorunterfuhung wegen Mein- 
eids eingeleitet: ihre Verhaftung erfolgte. 

Der Fall war ein ganz abnormer. Auf der einen 
Seite die offenfundige und hartnädige Belundung einer 
falihen Thatſache unter Eid, auf der andern die nicht 
häufig vorkommende Selbftvenumnciation eines Zeugen. 
Waren beide Fälle als Meineid oder fahrläffiger Falſcheid 
zu behandeln? Bei der Hauptverhandlung, welche in der 
Situng der Straflammer vom 30. October 1889 jtatt- 


230 Meineid oder Rechtsirrthum? 


fand und zu welcher nicht weniger al8 29 Zeugen aus dem 
Dorfe B., darunter auch der Pfarrer und der Bürger- 
meifter, erjchienen waren, geriethen die Parteien beftig 
aneinander. Don Interefje für die juriftiiche Conftruction 
des Falles find die Ausführungen der Vertheibigung be= 
züglich des Angeklagten, Gemeindedieners M. Es wird 
darzuthun verjucht, Daß weder ein Meineid noch ein fahr- 
läffiger Falſcheid in biefem Falle vorliege, und Folgendes 
ausgeführt: Ein faljcher Eid fünnte nach zwiefacher Rich— 
tung conftruirt werden. Entweder nimmt man an, daß 
der Angeklagte in der zweiten Inftanz als Zeuge etwas be- 
eidigt hat, was nicht wahr ift, indem er fich fälfchlich des 
dem Schöffengerichte zur Aburtheilung vorgelegenen Ber: 
gehens ſelbſt bezichtigte, oder daß der Meineib in ber 
ersten Inſtanz dadurch geleiftet worden ijt, daß er eine That- 
jache, welche für die Beurtheilung jenes Straffalfes 
wejentlich war, wifjentlich verjchwiegen hat. 

Der erjten Annahme fteht der Umſtand entgegen, daß 
M. bereit unmittelbar nach der Berunftaltung des Schrift- 
jtücfes, jedenfall® bevor deswegen eine Unterfuchung gegen 
R. eingeleitet war, ſelbſt erflärt hat, er fei der Thäter 
gewejen. Es ijt deshalb nicht anzunehmen, daß er dem 
R. zu Liebe fich ſelbſt diejer für ihn folgenjchweren Straf- 
that bezichtigt und dieſelbe fäljchlich vurch einen Eid be- 
fräftigt hat. 

Der Annahme aber, daß M. ſich in ber erften Inftanz 
durch Berjehweigung eines wejentlichen Umjtandes eines 
Meineives fchuldig gemacht hat, jteht die Vorjchrift des 
Gejetes in $. 54 der Strafprocefordnung*) entgegen. Der 


*) 8, 54 ber Strafproceforbnung lantet: „Jeder Zeuge Kann 
die Auskunft auf ſolche Fragen verweigern, beren Beantwortung 
ihm ſelbſt die Gefahr ftrafgerichtlicher Verfolgung zuziehen würde.“ 


Meineid oder Rechtsirrthum? 231 


Geſetzgeber hat durch den Schuß dieſes Paragraphen Zeugen, 
welche fich nicht ſelbſt einer ftrafbaren Handlung bezichtigen, 
vor den Strafen des Meineids fichern wollen. Diejer Para- 
graph würde feinen Sinn haben und der von bem 
Geſetzgeber gewollte Schuß würde nicht vorhanden fein, 
wenn lediglich durch die Nichtausübung des Fragerechts 
feitens des vorfigenden Richters eine Verfolgung wegen 
Meineids in den feltenen Fällen, wo ein Zeuge fich nach- 
träglich ſelbſt denuncirt, eintreten könnte. Es iſt nach» 
gewieſen, daß bei der erſten Vernehmung des M. in der 
Sitzung des Schöffengerichts zu Br. vom 2. Juli 1889 
die Frage, wer das angeheftete Urtheil verunſtaltet habe 
bezw. ob er ſelbſt der Thäter ſei, nicht an den Zeugen 
gerichtet worden iſt. Es lag auch, wie der vorſitzende 
Richter amtlich berichtete, keine Veranlaſſung zu einer 
ſolchen Frageſtellung vor. Denn durch die Ausſage des 
Zeugen und jetzigen Angeklagten M. war die Thäterſchaft 
des Gemeinderaths R. durchaus in Frage geſtellt, jeden— 
falls in ſo hohem Grade zweifelhaft geworden, daß der— 
ſelbe auf Grund dieſes Zeugniſſes freigeſprochen wurde. 

Weſentlich anders würde der Sachverhalt ſein, wenn 
durch die Ausſage des Zeugen vor dem Schöffengericht 
der Angeklagte belaſtet und nun auf Grund dieſer Aus— 
ſage verurtheilt worden wäre. Der Umſtand, daß ber 
Zeuge durch Verſchweigung der Thatjache, dag er jelbit 
ber Urheber war, aus einem unverbächtigen ein ver— 
dächtiger Zeuge geworben ift, würde nur in dieſem Falle 
von Bedeutung fein. Denn wenn bie Freifprechung er— 
folgen mußte, weil der Zeuge unverbächtig war, jo hätte 
fie um jo mehr erfolgen müffen, wenn diefer Zeuge auf die 
Frage, ob er jelbft ver Thäter fei, die Auskunft verweigert 
und ſich dadurch ver That felbjt dringend ge= 
macht hätte. 


232 Meineid oder Rechtsirrthum? 


Wenn der Sat richtig ift, daß niemand fich jelbit 
einer ftrafbaren Handlung zu bezichtigen braucht, jo muß 
dies insbefondere in dem Falle Anwendung finden, wenn 
jemand wegen einer Strafthat ald Zeuge vernommen 
wird. Wenn der Zeuge auf eine Frage, deren Be- 
antwortung ihm jelbjt die Gefahr jtrafrechtlicher Verfolgung 
zuziehen fann, die Ausfunft verweigern darf, jo muß Dies 
nach befannten logischen Grundfägen um jo mehr gelten, 
wenn eine jolche Frage überhaupt nicht gejtellt wird. Die 
Folge würde jonft die fein, daß in allen Fällen ver ab- 
fichtlich oder zufällig unterlafjenen Frageftellung das Geſetz 
umgangen werben fönnte. Man nehme nur den Fall, 
daß bei einer Anklage wegen Ehebruchs an die Concubine 
des präfumtiven Ehebrechers als Zeugin die Frage nicht 
geftellt wird, ob fie den Beifchlaf mit demſelben vollzogen 
habe. Würde in dieſem Falle das Verjchweigen und nach- 
trägliche Zugeſtändniß diejes Umſtandes der Zeugin nach— 
träglich eine Anklage wegen Meineids zuziehen Fönnen ? 

Die umgekehrte Schlußfolgerung, daß aus dem Wort- 
laute der Eidesformel: „nichts zu verſchweigen“, in Straf: 
jachen die Pflicht für den Zeugen hervorgehe, jelbjt wenn 
er nicht gefragt wird, oder gerade weil er nicht gefragt 
wird, auch ſolche Thatjachen zu befunden, welche ihm ſelbſt 
die Gefahr einer ftrafrechtlihen Verfolgung zuziehen 
fönnen, fteht mit den angegebenen Baragraphen im Wider: 
ſpruch. Es iſt auch nicht ohne weiteres anzunehmen, 
daß dem Zeugen die Erheblichfeit des Verſchweigens feiner 
Thäterſchaft für die Beurtheilung des Straffalles um- 
mittelbar bei feiner Bernehmung zum Bewußtjein gefommen 
ift und daß er wifjentlich die Unmwahrheit gejagt bezw. 
bie Wahrheit verfchwiegen hat. 

Sollte es ſelbſt einem Zweifel nicht unterliegen, daß 
ber Zeuge die Erheblichkeit dieſer Thatjache erkannt Habe, 


Meineidb oder Rechtsirrthum? 233 


jo konnte er fich bei feiner Vernehmung immerhin fagen, 
baß er, weil er nicht varüber befragt worden war, darüber 
feine Auskunft zu geben brauchte, und wenn er darüber 
befragt worden wäre, die Ausfunft hätte verweigern bürfen. 

Da alfo Lediglich durch die Unterlaffung der Frage- 
jtellung ver angebliche Meineid überhaupt zur Eriftenz 
gefommen ift und der Zeuge in der zweiten Inftanz, in der 
fichern Ueberzeugung, daß er fich dadurch der Strafe bes 
Meineivs nicht ausfegen würde, die ihn belaftende Aus» 
funft zur Aufklärung der Sache gegeben hat, fo ift eine 
nachträgliche Verfolgung deſſelben nicht gerechtfertigt. 

Das Urtheil ftellte fich entjprechend den Ausführungen 
der Staatsanmwaltichaft auf den entgegengejeßten recht- 
lihen Standpunkt. Dies hatte die eigenthümliche Folge, 
daß der Gemeindebiener faljchen Eides wegen nach 88. 154 
und 163 des Strafgefegbuchs werurtheilt, die beiven andern 
Angeklagten aber freigefprochen wurden. 

Es heißt im Urtheil: „Auf Grund des Geftändnifjfes 
des M. und feines bald nach dem Vorfall andern Perjonen, 
insbeſondere auch dem Bürgermeijter gemachten Befennt- 
nifjes fteht objectiv feft, daß der Gemeindediener M. und 
nicht der zuerjt angeflagte Gemeinverath R. das öffentlich 
angejchlagene amtliche Schriftſtück verunftaltet, d. i. mit 
Ruß verfehmiert bat. Das eidliche Zeugniß der beiden 
erjten Angeklagten ift demnach unter alfen Umftänden ein 
falichee. Bei Ablegung dieſes wiederholten faljchen Zeug- 
nifjes haben dieſe Angeflagten jedoch das Bewußtſein und 
die Ueberzeugung gehabt, daß der von ihnen beobachtete 
Thäter eben jener Gemeinverath geweſen fei. Während 
ihnen bei ihrer erften zeugeneiblichen Vernehmung ver 
Gedanfe an die Möglichfeit eines andern Thäters über- 
haupt nicht gefommen ift, hat fie das Bekenntniß des 
M. bei der in der Berufungsinftanz wiederholten Ab- 


234 Meineid oder Rechtsirrthum? 


legung ihres Zeugniffes in ihrer Ueberzeugung nicht er- 
jchüttert, weil fie annahmen, M. fage die Unwahrheit, 
um dem R. zur Freifprechung zu verhelfen. Ihre Ueber⸗ 
zeugung ift, wenn auch eine irrthümliche, doch eine that- 
fächliche geweien. Eine ftrafbare Fahrläffigfeit kann darin 
nicht gefunden werden. Anders dagegen liegt die Sache 
beit dem dritten Angeklagten. Diejer iſt mehr wie jever 
andere Zeuge über ven Gegenjtand jeiner Vernehmung 
unterrichtet gewejen. Die Tragweite jeiner Wifjenjchaft 
zur Sache ift ihm nicht entgangen, fie hat ihn vielmehr 
gerade bejtimmt, fich als Zeuge anzubieten. Er iſt auch 
nach jeiner Beeidigung und inhaltlich der Eidesformel 
verpflichtet gewejen, die reine Wahrheit zu jagen, nichts 
zu verjchweigen, alfo hier, ven ihm bewußten Thäter zu 
nennen. Nur injoweit ift ihm durch den $. 54 der Straf- 
proceßorbnnung in ber legtern Richtung eine Vergünftigung 
gewährt, als er im gegebenen Falle die Nennung des Thäters 
mit Rüdficht auf die ihm felbft dadurch erwachjende Gefahr 
der Strafverfolgung verjchweigen durfte. Wie aus ber 
Beitimmung des 8. 55 1. c. hervorgeht, konnte die Aus- 
kunftsverweigerung auch birect, d. h. ohne daß bejonberes 
Befragen erfolgte, gejchehen. Allein feine Weigerung 
durfte feine jtilffchweigende, fondern mußte eine aus— 
prüdliche fein. Sein Zeugniß verpflichtete ihn, wenigitens 
anzugeben, daß er etwas zur Sache Gehöriges 
verſchweige, indem er zugleich die Gründe feiner Weige- 
rung mitzutheilen und eventuell (nach $. 55 der Straf— 
proceßordnung) glaubhaft zu machen hatte. Nur ein folches 
Zeugniß hätte die ganze, bie reine Wahrheit enthalten 
und wäre auch allein geeignet gewefen, dem urtheilenven 
Gerichte in dem wahren Lichte zu erfcheinen. 

„Dem Angeklagten kann voller Glaube beigemeffen 
werden, wenn er verfichert, angenommen zu haben, daß 


Meineid oder Rechtsirrthum? 235 


er eine ihn jelbft belaftende Thatjache verſchweigen dürfe. 
wenn er nicht fpeciell danach gefragt werde. ‘Diejer ® 
Irrthum ift jedoch ein ftrafbar fahrläfjiger. Der Ans 
geklagte ift freiwillig al8 Zeuge erjchienen, um Aufklärung 
zu geben; er hat gejchworen die reine Wahrheit zu jagen 
und nichts zu verfchweigen. Bei eingehendem Nachdenken 
und genügender Umficht hatten ihm doch Zweifel über 
fein Verhalten aufiteigen müſſen. Es wäre feine Pflicht 
gewejen, bei Ablegung feines beeibigten Zeugniffes nicht 
nach eigenem Gutdünken zu handeln, ſondern bei britten, 
insbefondere auch bei dem DVorfitenden des Gerichts, 
Erfundigungen über das beabfichtigte abmweijende Ver— 
halten als Zeuge einzuziehen. M. ijt demnach, da er 
bei der gebotenen Vor- und Umficht den eingetretenen 
Erfolg wohl hätte vorausſehen können, fchuldig, am 
2. Juli 1889 vor dem Schöffengeriht zu Br., einer 
zur Abnahme von Eiden zuftändigen Behörde, aus Fahr- 
läffigfeit den vor feiner Vernehmung geleijteten Eid durch 
ein falfches Zeugniß verlett zu haben: DBergehen gegen 
8. 163 des Strafgejeßbuch®. 

„Bei Ausmeffung der Strafe find die erregten Partei- 
verhältniffe in B., die eigenthümliche Yage des M. bei 
Ablegung feines Zeugniffes und weiter ber Umſtand 
mildernd in Betracht gefommen, daß er wenigftens in zweiter 
Inftanz den wahren Sachverhalt freimüthig angegeben 
bat; auf der andern Seite müfjen bie DBorjtrafen des 
Angeklagten und die Thatſache berücfichtigt werden, daß 
er fich al8 Zeuge geradezu aufgebrängt hat.“ 

In Erwägung diefer Umftände wurde der Gemeinde- 
diener unter Anrechnung eines Theiles der Unterfuchungs- 
haft zu einer breimonatlichen Gefängnißftrafe und durch 
ein weiteres Urtheil vom 1. Februar 1890 wegen ver 
Berunftaltung des öffentlich am Gemeindehaufe angehefteten 


236 Meineidb und Rechtsirrthum? 


Urtheils nach $. 134 des Strafgefeßbuchs zu einer brei- 
* wöchentlichen Gefängnißftrafe und ſämmtlichen Koften ver- 
urtheilt. So gerecht auch die zulegt erwähnte Verurthei- 
fung fein mag, fo muß man doch ganz und gar Juriſt fein, 
um ben fcharffinnigen Deductionen und logiſchen Unterjchei- 
dungen bes erjten Urtheils folgen und biefelben durchaus 
als triftig erachten zu können. Sollte da nicht doch ben 
Unfchuldigen die Strafe getroffen und die des Meineids 
wahrhaft Schuldigen zu Unrecht freigefprochen worden 
jein? Wir überlaffen vem unparteiifchen Leſer nach Kennt- 
niß des Falles die Entſcheidung. 


Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 


(Mord. — Franfreid.) 
1889. 


Dr. Caſſan zählte 75 Jahre. Seit feiner Jugend in 
Aldi (Departement Haute-Garonne) anfäffig, Chefarzt 
des dortigen Hospital und ber Irrenanftalt, hatte er im 
Laufe langer Jahre für feine Thätigkeit mehr Anerkennung 
als Elingenden Lohn geerntet. Der alte Landarzt behielt 
bie Zare einer vergangenen Zeitepoche bei und machte 
Kranfenbefuche für einen Franc. Sein Einfommen, noch 
überdies beeinträchtigt durch die Unpünftlichfeit feiner 
Clientel, die, wie e8 auf dem flachen Lande oft üblich 
ift, fih zur Bezahlung Arztlichen Honorare nur wiber- 
willig verjtand, beruhte daher in den letzten Jahren zu— 
meift auf ven feſten Gehältern, die er auf Grund feiner 
vorgenannten amtlichen Stellungen bezog. Dr. Caſſan 
war wol auch Grunpbefiger; allein feine Grundftüde ge- 
währten nur einen geringen Ertrag. Seine Beſitzungen 
beftanvden aus einem Stabthaufe in Albi, welches er jelbit 
bewohnte, und einigen Weingärten „La Grave’, die jedoch 
jeit der Heimfuchung durch die Phylloxera arg vermüftet 
und ziemlich werthlos geworden waren. Ein Proceß 


238 Die Ermordung bes Dr. med. Eaffan. 


wegen einer ihm zugebachten Erbichaft im Betrage von 
ungefähr 20000 Frs. jchien fein Ende nehmen zu wollen. 
Sein Einfommen belief fih daher auf nur 6—7000 Fre. 
jährlich. 

Seitven Dr. Caſſan verwitwet war, nahm feine Ge- 
mütheftimmung eine mehr und mehr hypochondriſche 
Richtung an. Sein Hausmwejen bejtand aus ihm jelbit, 
einer Haushälterin Philippine Siccard, ein Dienjtmädchen 
vom alten Schlage, welches mit energijcher Hand bie 
Wirthichaft führte, und einem Diener, der zugleich bie 
Geſchäfte des Kutſchers und Stallfnechts zu beforgen hatte. 
In der legten Zeit bekleidete Juſtin Durand dieſen Poſten, 
ein junger, hübſcher Burfche von fünfundzwanzig Jahren. 
Suftin vertrug fich nicht immer mit der alten Haushälterin, 
weil fie das Haus nach den Kegeln ſtrengſter Sparſam— 
feit regierte. Der alte Herr prüfte alle Rechnungen per— 
ſönlich auf das genauefte und rüdte mit dem für ven 
Haushalt nöthigen Gelde nur widerwillig heraus. Juſtin 
mochte fich nicht ganz mit Unrecht beflagen, daß ihm die 
Alte gar zu viele Faſttage auferlegte. Uebrigens galt er für 
anhänglich und treu und ſoll feinen Herrn, als diefer an den 
Dlattern erkrankte, aufopfernd und geſchickt gepflegt haben. 

Dr. Caſſan hatte einen einzigen Sohn: Guftav. Diefer 
war in den Staatöbienft igetreten, zum Unterpräfecten 
von Argelies und Sainte-Affrique emporgeftiegen, erfranfte 
aber fchwer an der Lungenſchwindſucht und mußte infolge 
defjen ven Dienft aufgeben. In das väterlide Haus 
zurücgefehrt, nahm fein Leiden den vorausgejehenen töd— 
lichen Berlauf. Im Monat December 1887 ſchied er 
aus biefem Leben. 

Die BVerlafjenichaft des Herrn Guſtav Caſſan bejtand 
in einer jungen Witwe, vier Kindern und aus Schulden, 
bie eine anfehnliche Höhe erreichten. 


Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 239 


Die Witwe, ein geborenes Fräulein Emilie Peyronnet 
de Berre, verlebte harte, traurige Zeiten. Sie und ihre 
Kinder aßen mit an dem fargbejegten Tiſche des Schwieger- 
und Großvater und waren fchußlos der üblen Laune des 
verbitterten Greiſes und der fich überhebenven, feifenven 
Haushälterin preisgegeben. Die junge Frau empfand es 
täglich, daß man ihr nur widerwillig das Gnadenbrot reichte. 

Es kränkte fie tief, daß fie nicht als Herrin bes 
Haufes anerkannt wurde, jondern fich den Anordnungen der 
alten Wirthichafterin fügen mußte. Es war eine bittere 
Leidensſchule für die lebensluftige, hübiche Frau von faum 
fiebenundzwanzig Jahren, bie ſich nach den Freuden ber 
Gefelligfeit jehnte, gern pußte und ihre Toilette in ver 
reizendjten Weije zur Geltung zu bringen verftand. Die 
Abhängigkeit von dem vergrämten mistrauifchen, despotifch 
auftretenden Schwiegervater, welcher ihr jeden Pfennig 
porwarf, den er zu ihrem Lebensunterhalte verwenden 
mußte, wurde ihr immer unerträglicher. 

Zuweilen, wenn der Drud gar zu arg wurde, ſetzte e8 
heftige Scenen, die indeß regelmäßig damit endigten, daß 
die mittellofe junge Frau nachgeben mußte. Anfang 
April 1889 Fam es endlich doch zum Bruce. Der Doctor 
beichuldigte feine Schwiegertochter in harten Worten eines 
leichtfertigen Xebenswandeld. Er warf ihr vor, fie ver- 
lafje des Abends allein das Haus und unterhalte Be- 
ziehungen zu einem Offizier. Eine8 Tages war Frau 
Caſſan wieder ausgegangen und erjt nachts nach 12 Uhr heim- 
gefommen. Ihr Schwiegervater war aufgeblieben. Er em- 
pfing die junge Frau fehr barſch. Seine Frage, wo fie ge- 
wejen jet, beantwortete fie dahin, daß fie ven Abend in ver 
ihr befreundeten Familie eines verheiratheten Offiziers ver- 
bracht habe. Der Doctor zieh fie der Lüge. Es entjtand 
ein heftiger Wortwechfel, Frau Cafjan erklärte, fie könne 


240 Die Ermorbung bes Dr. med. Caffan. 


dieſes Reben nicht mehr ertragen, fie wolle lieber das Haus 
verlaffen und zu ihrer Mutter, ver verwitweten und ver- 
mögenslojen Mme. Peyronnet, nach Toulouſe zurückkehren. 

Diefer Vorfag wurde am nächjten Morgen zur That. 
Gegen ven Willen des Großvaters, der feine beiden älteften 
Enfeljöhne zu behalten wünfchte, nahm feine Schwieger- 
tochter alle vier Kinder mit fih. Es folgten peinliche 
Auseinanderjegungen. Dr. Caffan fonnte ſich anfänglich 
nicht dazu entjchließen, feiner Schwiegertochter eine Rente 
auszufegen. Da fie aber ohne alle Mittel war und ihm 
die Erhaltung feiner Enkel gejetlich oblag, verjtand er 
jih endlich dazu, ihr jährlih 1500 Tre. zu gewähren, 
machte aber zur Bedingung, daß ihre beiden ältejten 
Söhne bei ihm bleiben müßten. Er drohte, daß er ihre 
die Vormundjchaft über die Kinder gerichtlich entziehen 
laffen und eine Forberung von 200C0 Frs., die ihm 
gegen ihre Mutter, Frau Peyronnet, zuftand, fchonungs- 
[08 eintreiben würde. 

AS Frau Caffan dennoch zögerte, erflärte er: wenn 
fie nicht nachgebe, werde er feinen Grundbeſitz verfaufen, 
jein gefanmtes Vermögen in eine Leibrente verwandeln 
und jein Teftament jo abfaffen, daß ihr fein Pfennig 
vom Kapital zufalle. 

Die Stimmung des alten Herrn verbüfterte fich immer 
mehr. Er klagte: „Ich habe meinen einzigen Sohn ver- 
loren; jett fehlt nichts mehr, als daß man mich felber 
umbringt.” „Dieſe Landſtreicherin“, fette er mit Be: 
ziehung auf feine Schwiegertochter hinzu, „wäre im Stante 
mich zu vergiften.“ 

Der Superiorin ber Schweitern, denen im SKranfen- 
hauſe und der Irrenheilanſtalt die Pflege oblag, gegenüber 
äußerte er wiederholt: er fürchte von den Händen feiner 
eigenen Schwiegertochter den Todesftreich zu empfangen. 


Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 241 


Um fich gegen einen plößlichen Angriff zu ſchützen, Tief 
er die Thür feines Schlafzimmersd von innen mit jchmiebe- 
eifernen Beſchlägen verjehen und außer dem Riegel auch) 
noch eine Sperrfette anbringen. In feinem Zimmer be- 
fanden fich mehrere jcharfgeladene Slinten. Alle Schlöfjer 
feines Haufes ließ er umändbern. Er gab als Grund an, 
daß feine Schwiegertochter mit einem zurüdbehaltenen 
Hauptichlüffel in das Haus dringen Fönnte. 

Am Morgen des 1. Mai trat ein Ereigniß ein, welches 
den alten Mann tief erjchütterte und ihm fat die Be— 
finnung raubte. 

Seine Haushälterin Philippine Siccard jtarb ganz 
plößlich, | 

Am Tage zuvor hatte fie fih von Juſtin begleitet 
nach La Grave, dem kleinen Weingute in der Nähe von 
Aldi, begeben, welches dem Doctor gehörte. Nach dem 
aus einer Knoblauchjuppe, Eiern und Kartoffeljalat be- 
jtehenden Abendeſſen wurde die Alte von Krämpfen und 
Erbrechen befallen. Juſtin verbrachte die Nacht bei ihr 
als Kranfenwärter, er bereitete ihr Thee und leiftete ihr 
die erforderlichen Dienjte. Aber ihr Zuftand verjchlechterte 
fih immer mehr, und als der Morgen graute, war 
Philippine Siccard eine Leiche. Dr. Caſſan fagte: „Nun 
fommt die Reihe an mich! Sch jehe es wohl. Aber fie 
jollen e8 nur wagen! Ich werde fie zu empfangen wiſſen. 
Ich habe drei geladene Gewehre in meinem Schlafzimmer 
bereit. Sie werben ſchon fehen, mit wem fie e8 zu thun 
haben!“ 

Acht Tage fpäter wurde Dr. Caſſan ermorbet.... 

In der verhängnißvollen Nacht vom 8. auf den 9. Mai 
1889, um 1,2 Uhr nah Mitternacht, erjchien Yuftin 
Durand mit bleihen und verftörten Zügen, barhaupt, 
bloßfüßig, nur mit Hemd und Hofe befleivet, im Polizei- 

XXIV. 16 


242 Die Ermordung des Dr. med. Cajjan. 


commiffariate von Albi und berichtete mit thränenerftickter 
Stimme: „Man bat meinen guten Herrn ermorbet! 
Das Bellen des Hundes hat mich gewedt. Erſchreckt 
fuhr ich in die Unterfleiver, al meine Thür unter einem 
fürchterlichen Schlag erbebte. Es war der Mörder, ver 
bei mir einzubringen fuchte, nachdem er meinen guten 
Herrn getöbtet hatte. Ich habe mich mit aller Wucht 
gegen die Thür gejtemmt; allein ſchließlich gab fie doch 
nach, und da hat mir der Uebelthäter mit feinem Mefjer 
einen argen Stich verſetzt.“ Juſtin Durand wies feine 
linke Hand vor, und man fah am Daumen eine ziemlich 
tiefe Schnittwunde. „Ich ſchrie laut nach Hilfe“, fuhr 
er fort, „va ließ der Mörder von mir ab und ergriff vie 
Flucht. Er verlor ſich alsbald in der menfchenleeren 
dunflen Straße. Es war Nacht, Fein Licht brannte, ich 
Tann feine Züge nicht genau ſchildern. Nur fo viel kann 
ich jagen, daß er einen Stoppelbart hatte. Sch habe bie 
furzen, harten Haare deutlich gejpürt, als ich um ihn 
abzuwehren in fein Geficht griff.“ 

Die Bolizei jowie die alarmirte Nachbarichaft begab 
fih auf der Stelle in das Wohnhaus des Dr. Caſſan, 
geleitet von Juſtin Durand, der an allen Gliedern zitterte 
und alle Augenblide zufammenzufinten drohte. 

Man fand ven Greis tobt, fchon erfaltet, er lag auf 
dem Fußboden feines Schlafzimmers ausgejtredt, mit 
einem alten loſen Schlafrod befleivet. Die Schädeldecke 
war zertrümmert, die Kehle durch einen fürchterlichen 
Dolchſtoß durchichnitten, der rechte Daumen durch einen 
Schnitt faft ganz von der Hand abgetrennt. 

Die Ermordung mußte nach dem Befunde nahe bei 
dem Bett ftattgefunden haben. An der Thür konnte 
man feine Spur eines Einbruchverfuches entveden. Die 
Sicherheitsfette war angehakt, nicht abgeriffen, der Riegel 


Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 243 


zurüdgezogen, nicht abgebrochen. Die geladenen Gewehre 
befanden fih auf ihren Plägen. Man nahm an, daß 
eine ihm befannte Stimme Einlaß begehrte, während ber 
Mörder im Vorzimmer wartete, und daß er fich, ſobald 
der alte Dann öffnete, auf ihn geftürzt und ihn mit 
Meſſer und Beil umgebracht habe. 

Der Mörder Fannte offenbar die Hausgelegenheit. Der 
Schreibtiſch und ein Kaften, in welchem Dr. Caffan Geld 
aufzubewahren pflegte, waren durchwühlt. Man ſah ganz 
deutlich die Spuren einer blutigen Hand. Auch die Papiere, 
die auf dem Schreibtifche lagen, waren burcheinanderge- 
worfen. Auf dem Schreibtijche fand man einen Dietrich, den 
der Mörder aus Verſehen Liegen gelafien haben mußte. 
Die Läden der Tenfter waren regelmäßig verfperrt. Man 
hatte feinen Verſuch gemacht, fie gewaltfam zu öffnen. 

Hatte man e8 mit Einbrechern zu thun, fo mußten 
e8 Leute von befonderm Schlage fein, denn bie golvene 
Uhr des Arztes fammt der fchweren goldenen Kette, und 
die Familienjuwelen, die er verwahrte, waren unberührt 
geblieben. Ja, noch mehr. In der Schreibtifchlade lagen 
offen vier Banknoten zu je 100 Irs. und ein geringerer 
Betrag in Münzen. 

Der erjte Eindrud war, bier ift nichts von greif- 
barem Werthe geraubt worden. Was wurde aber ge- 
juht? Papiere? Ein Teftament....? 

Die fpätern Erhebungen jchwächten indeß biefen Ein- 
drud ab und ließen vermuthen, ver oder die Raubmörder 
hätten mit Vorbedacht, um die Polizei und das Gericht 
irrezuführen, jene Werthgegenjtände abſichtlich zurüd- 
gelafjen. Die Hundert-Francsnoten waren unberührt ge- 
blieben, fehlten vielleicht Taufend-Francsnoten? Dr. Caſſan 
hatte wenige Tage vorher feinen Proceß gewonnen und 
ungefähr 21000 Frs. ausgezahlt erhalten. 

16* 


244 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 


Wohlverjtanden: der Attentäter mochte von dieſem Um— 
jtande unterrichtet fein. Aber er täufchte fich, wenn er 
glaubte, daß er diefe Summe ald Preis für den Mord 
erbeuten würde. Dr. Cafjan hatte dem Notar Frenouls 
erklärt: er wolle fein Geld im Haufe behalten, er werbe 
8000 Frs. bei dem öffentlichen Steueramte auf Staat$- 
rentenobligationen anlegen und 12000 Frs. zur Dedung 
der legten Schulden feines Sohnes verwenden. Aber 
war denn diejer Entjchluß vor der Ermordung auch zur 
Ausführung gelangt? 

Die Unterfuhung führte zunächſt nicht zu pofitiven 
Ergebniffen. Unzweifelhaft war nur, daß ein gewaltfamer 
Einbruch nicht vorlag. Die Thüren, die Fenſter, die feit 
furzem umgeänderten Schlöffer, alles war unverlegt. 
Der Mörder mußte entweder ein Hausbewohner fein oder 
ein Hausbewohner mußte ihn eingelaffen haben. 

Wer war der Mörder ? 

Die allgemeine Stimme war darüber einig, der Name 
ichwebte auf aller Lippen. Jedermann Elagte Srau Emilie 
Caſſan, die Schwiegertochter des Ermordeten, an, 
die That begangen zu haben, und alle Welt war befriedigt, 
als ſchon zwei Tage nach der That die junge Frau in 
Zoulouje verhaftet wurde. 

Der Unterfuchungsrichter hatte dem Drängen ber 
öffentlichen Meinung nachgegeben; aber er wußte recht 
gut, daß der Berbacht gegen Frau Caſſan fich auf jchwache 
Gründe ftüßte. Auf der Schwelle des Fußbodens des 
Schlafzimmers waren Abdrücke einer blutigen Fußſohle 
fejtgejtellt worden, aber fie deuteten auf den nadten Fuß 
eined Mannes. Die Zehen waren beutlich erfennbar. 
Im Stalle unter der Streu verjtedt wurbe ein großes, 
mit Menfchenblut beflecdtes Beil, im Schlauche des An- 
Itandsorts ein Langer antiker Dolch mit elfenbeinernem 


Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 245 


Griffe gefunden. Der Dolch zeigte ebenfalls Blutflede. 
Dr. Caſſan war der Eigenthümer dieſes Dolches. Er 
hatte fich dejjelben als Papiermeffer bedient. 

Noch ein anderer überzeugender Umftand bewies, daß 
der Thäter im Haufe frei verfehren konnte. Es ift bereits 
erwähnt worden, daß Dr. Caſſan in feinem Schlafzimmer 
orei geladene Flinten bewahrte und daß diefe an Ort 
und Stelle aufgefunden wurden. Die Gewehre waren 
wirklich fcharf geladen, jedoch der Zünbftoff der Zünd— 
hütchen war entfernt, beziehungsweije die richtigen Zünd— 
hütchen durch taube erjett, Feins diefer Gewehre konnte 
in biefem Zuftande abgefeuert werden. Der Mörder 
hatte ſomit dafür geforgt, daß die Schußwaffen ungefähr- 
lich für ihn waren, und jein Verbrechen mit klugem Vor— 
bedacht vorbereitet. 

Die Polizei hatte den Diener des Verftorbenen, Juſtin 
Durand, fofort in Haft genommen. Die Wunde an feiner 
linken Hand, die ihm der Mörder beigebracht haben jollte, 
machte ihn verdächtig. Auch Dr. Eafjan war an der 
Hand verlegt. Hatte der alte Mann vielleicht, um fich 
zu retten, in das Meffer des Mörders gegriffen, es feit- 
zuhalten gejucht und der Mörder ſich im Ringen um bie 
Waffe die Verlegung zugezogen ? 

Man erinnerte jich des plößlichen Todes der alten 
Haushälterin. War fie auch ermordet worden, ftanden 
die beiden Todesfälle etwa in Zujammenhang? 

Der Leichnam der Philippine Siccard wurde aus— 
gegraben und eine chemifche Unterjuchung der Eingeweide 
angeoronet. Die Sacverjtändigen fanden eine große 
Menge Arſenik. Sie war an Gift geftorben. Dr. Caſſan 
bewahrte in 2a Grave mehrere Padete auf, die eine 
arjenifhaltige Mifchung enthielten. Er gebrauchte fie bei 
jeinem Weinbau. Selbftverftänplich hielt er das Gift 


246 Die Ermorbung des Dr. med. Caſſan. 


beftändig unter Verſchluß, er allein bejaß den Schlüffel 
zu dem Kaſten, in welchen bie Padete lagen. Diejes 
Schloß war aufgefprengt. Wer hatte e8 erbrohen? Man 
erinnerte fih daran, daß Yuftin Durand den Abend vor 
dem Tode ber alten Haushälterin ganz allein bei ihr war. 
Er hatte fie gepflegt, fie war geftorben, ohne daß er einen 
Arzt berbeigerufen Hatte. ALS das Gericht den Ange— 
jchuldigten die fchweren gegen ihn vorliegenden VBerbachts- 
gründe vorhielt, entjchloß er fich nach längerer Ueber- 
legung zu einem erjten Geſtändniß. Er gab an: 

„Der in meinem erjten Verhör bezeichnete Thäter, der 
unbefannte Mann mit dem Stoppelbart, ift ein Phantafie- 
gebilde. Ich felbit, Yuftin Durand, habe ven Mord— 
anfchlag durchgeführt. Jedoch nicht allein, ich hatte einen 
Helfer, einen Mitjchuldigen, oder richtiger eine Mit- 
ſchuldige — Madame Caſſan! 

„Seit vielen Monaten ſchon ist des Doctors Schwieger- 
tochter meine Maitrefje gewejen. Die gebrüdte und um- 
erträgliche Stellung, die fie im Haufe des alten Herrn 
einnahm, die nimmer endenvden Vorwürfe ihres Schwieger- 
vaters, die herrifchen Manieren der Haushälterin brachten 
fie außer ſich. Es mußte ein Ende gemacht, ver alte 
Knaufer, der Quälgeiſt mußte befeitigt werden. Sie 
brauchte einen verläßlichen, ftarfen Arm, um ihre Rach— 
jucht zu befriedigen, und mich, ihren Geliebten hatte fie 
dazu auserfehen. Mit allen Künften weiblicher Koketterie 
wußte fie mich zu umgarnen, burch die Gewalt ihrer 
Reize machte fie mich zu ihrem Sklaven. Sie war eine 
lodende Sirene, ein hübjches junges Weib, eine Dame 
von Welt, und ich ein armer Bedienter! Ich bin in 
ihrer Hand ein willenlojes Werkzeug geworden. Mit ihren 
Liebfofungen hat fie mich um Verftand und Ehre gebracht. 

„An dem Tage, da Frau Caſſan das Haus ihres 


Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 247 


Schwiegervater verlaffen mußte, ift der Morbplan ent» 
ftanden. Ich zögerte indeß, denn ich ſchreckte zurüd vor 
der blutigen That. Frau Caſſan verfprach, fie werde 
mir bei der Ausführung zur Seite ftehen. Wir ver- 
abredeten, daß das Verbrechen in der Nacht vom 8. auf 
den 9. Mai vollbracht werben ſollte. Frau Caſſan traf 
rechtzeitig ein in Aldi. Als Mann verkleidet hatte fie 
fih in der Mitternachtsftunde durch die ftillen verlaffenen 
Straßen der Stadt zum Haufe gejchlichen. Ich erwartete 
fie jchweigend am halbgedffneten Thore. 

„Sie trat ein. Geräufchlos ftiegen wir beide hinauf. 
An der Thür des Schlafgemaches klopfte ich und rief: 
«Stehen Sie auf, Herr Doctor! Ein fehr dringender Fall! 
Es ift um Sie gejchieft worden!» Der Greis, der meine 
Stimme hörte, riegelte die Thür auf. Kaum war er 
auf die Schwelle getreten, da ftürzte feine Schwiegertochter 
mit dem gezüdten Dolchmefjer, welches fie von feinem 
Schreibtiiche an fich genommen hatte, auf ihn los und 
ftieß zu. Der Stoß war fo heftig, daß die Kehle des 
alten Mannes förmlich durchſchnitten war. Ich ſchauderte 
und rief: «Um Gottesbarmherzigfeit willen halte ein, 
halte ein!» — Es war zu jpät. Erſchrocken wandte ich 
mich zur Flucht und ließ die Mörderin mit ihrem Opfer 
allein.’ 

Sp unmwahrjcheinlich dieſes Lügengewebe war, es 
fanden fich doch Leute, welche daran glaubten. Allein 
bald darauf ftellte die Unterfuchung feft, daß Frau Caſſan 
am 8. und 9. Mai in Toulouſe gewejen war. Um 2 Uhr 
nachmittags am 8. Mai conferirte fie mit dem Pfarrer 
der Kirche Saint-Corpin dafelbft, um 39, Uhr verpfändete 
fie im Leihhaufe ihre goldene Uhr, um 5 Uhr war fie bei 
ihrem Rechtsanwalt Mercadier und traf dafelbft mit dem 
Adoocaten Pajol zujammen. Um 6 Uhr verlieh fie ge- 


248 Die Ermorbung des Dr. med. Caſſan. 


meinjchaftlih mit Herrn Mercadier deſſen Kanzlei und 
machte einen Spaziergang, fie begegneten dem Kaufmann 
Dubedoul und plauderten mit ihm. Um 7 Uhr fpeifte 
Frau Caſſan in ihrer Wohnung und wurde hierbei von 
ihrem: Dienftmädchen Elodie NRieunier bedient. Nach ver 
Mahlzeit jpielte fie Klavier, einer ihrer Nachbarn hat das 
Spielen noch um 9 Uhr gehört. Hierauf ging fie zur 
Ruhe Am 9. Mai des Morgens um 6 Uhr ftand fie 
auf. Elodie Nieunier bezeugt, daß fie ihre Herrin ge- 
wet und ihr die Morgenchocolade gebracht habe. Um 
10 Uhr vormittags bat Frau Caffan eine Nachbarin um 
den Schlüffel zum gemeinfchaftlichen Keller. Um 11 Uhr 
vormittags wechjelte fie in einer Mufifalienleihanftalt 
Notenhefte um. Am Nachmittage begab fie fich wieder 
zu Heren Mercadier und am Abend fpielte fie abermals 
zu Haufe Klavier. Erſt am 10. Mai vormittags erhielt 
fie, zunächft durch die Mittheilungen der Zeitungsblätter, 
Kenntnif von der Ermordung ihres Schwiegervaters. 

Der Beweis des Alibi war glänzend geliefert. Frau 
Caſſan wurde in Freiheit geſetzt. Nun jchritt Yuftin 
Durand zu einer britten Erzählung: 

Es ift wahr, er hat den Todesſtreich geführt. Er 
allein. Er hat feinen Dienſtherrn mit der Meldung ge- 
wet, daß um ein Recept geſchickt worden ſei. Als ver 
Greis öffnete, hat er ſich mit dem gezüdten Dolchmefjer 
auf ihn geworfen. Aber dies gejchah auf Befehl ver 
Frau Caſſan. Sie hat ihm Tag und Stunde des Ver— 
brechens genau vorgefchrieben, um ihr Alibi ficher nach— 
weijen zu fönnen, er hat ihre, ihm von Toulouſe aus 
zugegangenen Weifungen vollitredt. 

Hätte Durand diefe Angaben zuerjt vorgebracht, fie 
hätten bei der aufgeregten, Frau Caſſan jo feindlichen 
Volfsftimmung für dieſe vielleicht verhängnißvoll werben 


Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 249 


können. Seine vorhergehenden Lügen aber machten auch 
diefe Ausfagen ſehr verdächtig. Er follte Beweife für 
jeine Behauptungen bringen und vermochte e8 nicht. 
Niemals ift irgendein vertraulicher Verkehr zwijchen 
Frau Caffan und ihm beobachtet worden. Sie behandelte 
ihn als Diener, war mit ihm nicht mehr. und nicht 
weniger freundlich, als in folchen Verhältniſſen landes- 
üblih if. Zu jener Zeit, da fie beide nad Durand's 
Darftellung über den Mordanſchlag verhandelt haben 
jollten, konnte fie, wie die Zeugen bejtätigten, mit ihm 
feine geheimen Zufammenfünfte abgehalten haben. Sie 
war damals in ZTouloufe. 

Als Juſtin Durand merkte, daß feine Behauptungen 
eine nach der andern widerlegt wurden, entjchloß er fich 
zu einem neuen Geftänpniß, einem neuen Märchen. 
Diesmal iſt er unschuldig. Frau Caſſan allein hat das 
Verbrechen geplant und ihr Helfershelfer war — Meifter 
Mercadier, der ehemalige Notar in Touloufe, ihr Ver— 
trauter, ihr Geliebter, der Mann, der ihr Alibi nach— 
gewiefen hatte. Mercadier hat fogar verjucht Yuftin 
Durand zu verführen. Es ift ihm mislungen. Darum 
hat er einen Dritten, eine Art Bravo gedungen, ber 
Mann mit dem rauhen Furzgeftugten Bart, der nachts 
eingedrungen ift — fiehe die erjte Verfion. Und biefer 
Morpgejelle war e8 auch, der nach der Ermordung des 
alten Arztes es verjuchte, fich des Dieners zu entledigen, 
weil biefer zu viel von ver Sache wußte. 

Aber wer hatte diefem Unbefannten das Hausthor 
. geöffnet? Die Thüren waren doch wie gewöhnlich ver- 
jperrt und Spuren von Gewalt an den Schlöffern nicht 
vorhanden. Der Dr. Caſſan hatte fich in feinem Schlaf- 
zimmer eingeriegelt und würde einem Unbefannten nicht 
geöffnet haben. — Die Erzählung war unbaltbar. 


250 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


Yuftin begriff e8 raſch und gab — eine fünfte zum 
beiten: 

„Der Mörder ift nicht mit Gewalt in das Haus ge— 
brungen. Ich war benachrichtigt. Der Dämon in Weiber- 
geftalt hatte meinen Willen gebeugt. Ich habe ihm ge- 
öffnet. Wir find zufammen hinaufgegangen. An der Schlaf- 
thür habe ich gerufen unb mein Herr, ber meine Stimme 
erfannte, hat aufgemacht. Der Mann ſtand hinter mir im 
Dunkeln. Er jchlug zu und hat meinen Herrn gemorbet.‘ 

Nah dem Schluffe der Vorunterfuhung wurde gegen 
Suftin Durand Anklage erhoben, daß er den Dr. Caſſan 
und die Haushälterin Siccard ermordet und den erjtern 
beitohlen habe. Am 11. November 1889 fand in Albi 
die Schwurgerichtsverhandlung ftatt, den Vorſitz führte 
ber Gerichtsratb Garas. Die Anklage wird von dem 
Staatsanwalt von Zouloufe, Yaroche, perjönlich ver- 
treten. Die VBertheidigung hat ver Anwalt Ferrand von 
Zouloufe übernommen. 

Frau Caffan Hat ſich als Civilpartei dem Strafver- 
fahren angefchloffen. Sie will Rechenfchaft für die Ver- 
leumdungen fordern, deren Opfer fie gewefen ift. ALS 
ihr Vertreter fungirt Mr. Bosredon. 

Juſtin Durand ift ein hübfcher Burfche von 25 Jahren, 
gefchniegelt und pomabifirt. Die Haare trägt er in ber 
Mitte des Kopfes gejcheitelt. Der Schnurbart ift ge- 
pflegt, die blaue, mweißgetupfte Kravatte elegant gefaltet, 
der Hemdfragen umgejchlagen und gleich den Manfchetten 
von tabellojer Weiße. Seine Gefichtsfarbe ift eher bleich 
und fein Blid unjtet. Er fieht nicht wie ein Bedienter, 
weit eher wie ein Commis aus. Seine ganze ftußerhafte 
Erjheinung ift die eines vorortlichen Don Juan. 

Das Auditorium ift überfüllt. Der Hintergrund des 
Schwurgerichtsjanles, der amphithentralifch anſteigt und 


Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 251 


durch eine Art weitmafchigen Gitter8 von dem eigentlichen 
Zubörerraume getrennt ift, wird durchwegs von Damen 
eingenommen. 

Unter den 150 vorgeladenen Zeugen erregt die größte 
Aufmerkſamkeit begreiflicherweife die „Dame in Schwarz‘, 
Frau Caſſan. 

Nah Verlefung der Anklagefchrift eröffnet der Präfi- 
dent die Verhandlung mit der Vernehmung des Ange— 
flagten. | 

Präfident. Yuftin Durand, Sie find befchuldigt 
des Meuchelmorbes, begangen an Ihrem Dienftherrn, dem 
Dr. Caſſan, des Giftmordes an der Haushälterin Philippine 
Siccard und des Hausdiebſtahls. Sie haben fich in der 
Borunterfuhung vielfältige Widerfprühe zu Schulden 
fommen laffen.. Was werben Sie heute behaupten? 
Haben Sie ven Meuchelmorb allein verübt? Haben Sie 
der Haushälterin das Gift, an dem fie ftarb, beigebracht? 

Der Angeklagte hebt mit theatralifcher Geberve eine 
Hand gegen das oberhalb des Gerichtähofes angebrachte 
Erucifir und fpricht mit pathetifchen Accenten: 

„Ich ſchwöre vor Gott, den Richtern und allen Zu- 
hörern, ich bin unschuldig! Wenn ich im Laufe der Unter- 
juhung allerlei voneinander abweichende Erzählungen 
zum beiten gegeben habe, fo gejchah es, weil man mich 
während der Saft von allen Seiten gequält hat. Man 
hat mir fortwährend wiederholt, daß man mich, wenn 
ich die That nicht eingeftände, als verftocdten Sünder ficher 
auf das Schaffot ſchicken würde; ein Geftänpniß aber 
werde mein Leben retten. Ich wurde ängftlich und glaubte 
ed. Alle gegen mich erhobene Anklagen find unbegründet. 
Ich bin nicht der Menfch, ver falten Blutes einen Mord 
begeht, ich bin nicht der Undankbare, der feinen guten 
Herrn hätte tödten können.“ 


252 Die Ermordung bes Dr. med. Cajjan. 


Präfident. Alfo Sie haben die That nicht begangen? 

Angeflagter. Nein, Herr Präfident. Wohl hat mid) 
Frau Caſſan gedrängt und befchworen, ihren Schwieger- 
vater aus dem Wege zu räumen — aber ich habe e8 
ſtandhaft abgelehnt, ihr zu Willen zu fein, und fie hat 
darum einen gedungenen Mörder abgejandt, Dr. Caſſan 
zu töbten. 

Präfident. Sie haben im Laufe der Unterfuchung 
jogar Herrn Notar Mercadier ald den Mitjchuldigen ber 
Frau Caffan bezeichnet. Halten Sie dieſe Angabe noch 
aufrecht ? 

Angefllagter. Ich Habe damit nur die Wahrheit 
gejagt. 

Präfident. Dr. Caffan hat gegen Ende des Jahres 
1887 feinen einzigen Sohn Guſtav verloren. Geine 
Witwe und vier Kinder blieben nach dieſem Todesfalle 
bet Dr. Caſſan wohnen. Wie war das Verhältniß zwijchen 
Schwiegervater und Schwiegertochter? 

Angeflagter. Das denkbar fchlechtefte.e Es gab 
fortwährend Zerwürfniſſe und Streitigkeiten, auch vor 
ben Kindern und Dienern, bei Tiſche und überall. Der 
Doctor warf feiner Schwiegertochter ihren Tiederlichen 
Lebenswandel vor und daR fie des Nachts heimlich das 
Haus verlaffe. Eines Tages fchimpfte er fie geradezu 
eine feile Dirne. Sie fchleuderte ihm eine Wafferflajche 
an den Kopf. Sie war überhaupt jeit jeher eigenfüichtig 
und hartherzig. Ihr Mann ift infolge ihrer nachläffigen 
Pflege geftorben. 

Präſident. Mit diefen Behauptungen ſetzen Sie 
fih in Widerſpruch mit allen Zeugenausfagen, welche 
gerade die unermüdliche Opferwilligfeit der Frau in ber 
Pflege ihres Gatten betonten. 

Angeklagter. Ich kümmere mich nicht um das, was 


Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 253 


die Zeugen angeben. Ich jage, was ich weiß. Dr. Eafjan 
glaubte, als er feinen Sohn mit ihr verheirathete, fie fei 
reih. As es fich herausftellte, daß er fich in dieſer 
Vorausjegung getäufcht hatte, war er gegen fie jehr auf- 
gebracht und ward es noch mehr, als er fich überzeugte, 
daß fie eine fchlechte Gattin war. Nach dem Tode des 
Herrn Guftav Caffan wurden die Beziehungen immer 
ichlechter. Frau Caſſan wurde im Haufe ärger behandelt 
als ein Dienftbote, ver Doctor richtete das Wort an fie 
nur um zu ſchmähen. Sie durfte den Salon nicht be- 
treten, und der alte Herr verweigerte ihr die wenigen 
Pfennige um Briefmarken zu faufen. In die Haus— 
haltung vollends durfte fie fich gar nicht mifchen. Er 
warf ihr jeden Ausgang vor. Die Beichuldigung, daß 
fie die Nächte außer dem Haufe verbringe, führte den 
Bruch herbei. 

Präfident. Berichten Sie nur, was Sie jelbjt mit 
angehört haben. 

Angeflagter. E8 war Anfang April. Der Doctor 
vertrat jeiner Schwiegertochter, als fie ausgehen wollte, 
den Weg. Ein lebhaftes Zwiegefpräch entipann ſich. Ich 
jtand unten an ber Treppe und hörte jedes Wort. „Sie 
werben mich nicht abhalten, auszugehen, wenn ich es will”, 
rief die junge Frau erregt, „ich bin feine Gefangene!” — 
„Das mag fein‘, verjette der alte Herr, „aber dann 
werden Sie morgen auch fortgehen, um nicht wieberzus- 
fommen.” Dabei verjette er ihr einen Fauſtſchlag. 

Präjident. Die in der Unterfuchung vernommenen 
Zeugen jagen über das Berhältnig zwijchen Frau Caſſan 
und ihrem Schwiegervater doch, wejentlic anders aus. 
Nach dem Tode ihres Gatten verblieben die Beziehungen 
zwijchen beiden roch lange recht herzliche. Erjt ſpäter find 
Zerwürfniffe entjtanden, die fich etwa einen Monat vor 


254 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 


dem Verbrechen jo weit zufpikten, daß ein Bruch erfolgte. 
Diefer Bruch erwies fich als unheilvoll für die junge Frau. 
Der Doctor, grämlich und verbittert, hat Reden über fie 
geführt, welche eine Zeit lang die Beichuldigungen, welche 
Sie wider die Dame erhoben, glaubhaft erjcheinen ließen, 
Dr. Caſſan erzählte, feine Schwiegertochter habe ihn fäljch- 
lich bejchuldigt, fie gejchlagen zu haben, und fügte hinzu: 
„Ein Frauenzimmer, das derartige Lügen verbreitet, ift zu 
allem fähig. Sie ift im Stande mich umzubringen, mich 
zu vergiften.‘ 

„Angeflagter. Der Doctor hat behauptet, daß Frau 
Caſſan verfucht hat, fich vom Apotheker Gift zu verjchaffen. 

Präfident, Die Haushälterin ift am 30. April 
vergiftet, der alte Herr am 8. Mai erjchlagen worden. 

Angeflagter. Ich bin unfchuldig daran. Sch wäre 
nicht fähig dergleichen zu thun. 

Präfident. Um wie viel Uhr haben Sie fich in der 
fritiichen Nacht niedergelegt? 

Angeflagter. Ungefähr um halb 10 Uhr. 

Präfident. Dr. Caſſan ift gegen Mitternacht er- 
morbet worden. Er hat feine Thür nur infolge ver 
Aufforderung einer ihm vertrauten Stimme geöffnet. Er 
bat es ſelbſt gethan, venn die Thür trug feine Spuren 
von Gewalt. Sie haben in der Unterjuchung, als Sie 
Ihren perjünlichen Antheil am Morde nicht Teugneten, 
die Angabe gemacht: „Sch habe dem Doctor zugerufen, 
daß man ein Necept eingefchicft habe, welches er prüfen 
ſolle.“ Einem andern, als feinem eigenen Diener, hätte 
er nicht geöffnet, denn er Dan: fich vor einem mörberifchen 
Ueberfalfe. 

Angeflagter. Ema um 11 Uhr weckte mich das 
Bellen des Hundes. Ich ſtand auf, um nachzuſehen, was 
es denn gebe. Ich habe meine Thür aufgemacht und 


Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 255 


im Dunfel einen Dolchſtich in die Hand befommen. Ich 
ſchrie: „Zu Hülfe! zu Hülfe! man bringt mich um!“ Der 
Mörder wollte ein zweites mal wider mich ausholen, aber 
er ftolperte auf der Stiege und ſtürzte. Dann erhob er 
fih raſch und flüchtete. Ich zog das Nothdürftigſte an, 
verfügte mich zu meinem Herrn und fand ihn tobt. 

Präſident. Die Gerichtsärzte haben fetgeftelit, daß 
die Wunde an Ihrer linken Hand von bemfelben fchnei- 
venden Imftrumente herrührt, mit dem der alte Herr er- 
ftochen worden tft. Er hat offenbar abwehrend nach ver 
Waffe gegriffen. Dadurch wurde er an ber Hand ver- 
wundet. Sie haben fich verlegt, als Sie fich wieder in 
ven Befit des Dolches ſetzen wollten. 

Angeflagter. Das ijt nicht wahr. 

Präfident. Ihre Kleider waren voll Blut. 

Angeflagter. Ya wohl! Es war mein eigenes, aus 
der mir zugefügten Wunde fließendes Blut. Che ich 
wußte, daß mein Herr tobt war, wollte ich ihm aufhelfen, 
und habe mich auch hierbei mit Blut befledt. 

Präfident. Das Blut rings um den Leichnam war 
geronnen. Die Leiche ift nicht bewegt worben, das haben 
die Gerichtsärzte feitgeftellt. Das Blut auf Ihren Kleidern 
ftammt aus einer Arterie und erklärt fich ganz gut durch 
den Blutftrom, der aus der zerichnittenen Halspulsader 
des Doctor hervorbrach. Ihr Linker Arm wies eine 
Narbe von jungem Datum, der Eindrud eines frampf- 
haft eingepreßten Daumennageld. Es war als ob Gottes 
Finger die Bezeichnung „Mörder! daraufgefchrieben hätte, 
Woher ftammt diefe Narbe? 

Angeflagter. Ich Habe biefelbe gar nicht einmal 
bemerkt. Es war irgendeine unbeveutende, zufällige 
Beſchädigung. 

Präſident. Sie haben früher behauptet, die Narbe 


256 Die Ermordung bes Dr. med. Eaffan. 


rühre von einem Bifje des Pferdes her. Das Thier iſt 
aber äußerſt gutmiüthig und hat niemals zuvor gebifjen. 
Sie haben e8 während der Unterfuhung fogar unter: 
nommen, das Pferd zu einem folchen Biß zu reizen. Es 
it Ihnen nicht gelungen. Sie haben das Thier nicht als 
Entlaftungszeugen benuten fönnen. 

Sodann conjtatirt der Präfident, daß zwijchen ber 
Ermordung des Dr. Caſſan und der Anzeige Durand's 
bei der Polizei fajt zwei Stunden verftrichen find. 

Angeflagter. Ich mußte die Nachbarn alarmiren 
und mich anfleiden, darüber vergeht die Zeit. 

Präjident. Was hatten Sie an, als der „unbekannte 
Mörder” Sie in Ihrem Schlafzimmer überfiel? 

Angeflagter. Nur die Unterhojfe. 

Präjident. Aber auf Ihrer Hofe find Blutfleden 
constatirt worden. 

Angeflagter. Dieſe habe ich mir geholt, als ich 
meinen Herrn aufheben wollte. Ich habe die Hofe an- 
gezogen, ehe ich in fein Zimmer hinaufging. 

Präfident. Der Doctor hatte in feinem Zimmer 
geladene Flinten. Es waren Vorderlader mit Zünd- 
ſchlöſſern. Aus den aufgeſetzten Zünpdhütchen aber war 
der Zündftoff forgfältig entfernt, ſodaß man mit diejen 
tauben Kapfeln nicht Feuer geben fonnte. Geſtehen 
Sie zu, daß Sie die Yadung entfernten? 

Angeflagter. Ob nein. Der Doctor jelbjt hatte 
diefe tauben Zündhütchen aufgejegt, damit die Kinder 
nicht zufällig ein Unglück anfteliten. 

Der Bräfident fordert ven Angeklagten auf, er möge 
ven Tag bezeichnen, an welchem Frau Caſſan ihn auf- 
geforvert habe, ihren Schwiegervater zu ermorden. 

Angellagter.. Es war am 28. April. Sie kam 
um die Sachen abzuholen, die fie bei ihrer überftürzten 


Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 257 


unfreiwilligen Abreife zurüdgelaffen Hatte. Sie über- 
bäufte mich mit Liebfofungen und beſchwor mich, fie von 
dem Alten zu befreien. „Meiſter Mercadier hat es mir 
. al8 die beſte Löſung angerathen”‘, jagte fie wiederholt. 
Präſident. Urfprüngli haben Sie fi wol ber 
Hoffnung hingegeben, daß Sie dadurch, dag Sie eine 
Unfchuldige Hineinzögen, Ihren Kopf retten würden. Setzt 
wollen Sie glauben machen, daß Frau Caſſan das Ver— 
brechen angeftiftet habe. Sie beharren aljo dabei, daß 
Sie zu verſchiedenen malen von Frau Caſſan aufgefordert 
worden find, ihren Schwiegervater zu bejeitigen? 

Angellagter. 9a, denn es ift die Wahrheit. Nur 
weil ich e8 ablehnte, hat fie einen andern mit der Aus- 
führung der That betraut. 

Präfident. Bleiben Sie dabei, daß Frau Caſſan 
Ihre Geliebte geweſen ijt? 

Angeflagter. Ja wohl, und das Jahre hindurd). 
Sch weiß wohl, daß ich nur ein Bedienter bin und fie 
eine „Dame“ ijt, aber für folhe mannstolle Weiber gibt 
e8 den Unterjchied zwijchen Herrjchaft und Dienerjchaft 
nicht. 

Präfident. Ob Frau Caſſan andern Perfonen 
gegenüber weibliche Schwäche gezeigt hat, weiß ich nicht, 
es gehört dies nicht vor dieſes Tribunal; daß fie aber 
in vertrauten Beziehungen zu Ihnen geftanden hat, ift 
ganz unglaubhaft. Alle Zeugen bejtreiten es. 

Angellagter. Ach was, fie ift eine ganz liederliche 
Perjon. Wer fie wollte, konnte fie haben. (Bewegung 
im Auditorium.) Die Zeugen waren eben nicht babei, 
wenn jie mit mir allein war. 

Der Präfident geht nun dazu über, den Angeklagten 
wegen ber Vergiftung ver Philippine Siccard zu ver- 
hören. 

XIV. 17 


258 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


Angeflagter. Ich wußte gar nicht, daß fie an Gift 
gejtorben fein fol. Ich glaubte fie fei einem Krampfe 
erlegen. 

Präſident. Die Haushälterin hat den ganzen 
30. April allein mit Ihnen zugebracht und zwar auf 
dem Gute La Grave, welches dem Doctor gehörte. Sie 
ftavb am folgenden Morgen, und die Section der Leiche 
hat Arfenifvergiftung nachgewiefen. Dr. Augier hat aus- 
gejagt, daß die Dofis eine ganz ungeheuere geweſen ift 
und einen faſt augenblidlichen Tod nach fich ziehen mußte. 

Angeflagter. Das fann richtig fein, aber ich bin 
unjchuldig daran. Sch habe niemals Arſenik gefehen und 
weiß kaum, was e8 ift. 

Präfident.e Dr. Caſſan bewahrte Arfenif auf in 
La Grave zur Behandlung feiner Weinftöde. Es waren 
zwei Padete dort. Er hat in Ihrer Gegenwart davon in 
Heine Kügelchen gethan, um Ratten zu vergiften. 

Angeflagter. Das war nicht Arſenik, ſondern 
Strychnin. 

(Eine jehr fachliche Bemerkung von feiten einer Perfon, 
die Arjenik nie gejehen hat!) 

Präftident. Der Reſt des vorhandenen Giftes be- 
fand fich unter Verfchluß auf dem Dachboden des Haufes 
in La Grave. Nach dem Tode der Siccard fand man 
das Vorhängefchloß abgeriffen und ven Kaften aufgebrochen. 

Bertheidiger Ferrand. Die Section hat ergeben, 
daß die Siccard herzleidend war und jederzeit eines plöß- 
fihen Todes fterben konnte. 

Präfident. Warum hat man fie nicht dieſes natür- 
lichen Todes fterben laffen! 

Damit ift das Verhör des Angeklagten beendigt. 
Durand hat mit überrafchender Schlagfertigfeit geantwortet: 
Abwechjelnd frech und chnijch, wenn er von Frau Caſſan 


Die Ermorbung des Dr. med. Caffan. 259 


ſprach; höhnifch, wenn ihm die Frage unmwejentlich fchien ; 
ſehr entjchieden, wenn er ableugnen wollte; aber worfichtig 
und zögernd, wenn ihm die Frage verfänglich vorkam. 
Mit jcheinbarer Indignation und dann wieder weinerlich 
jentimental wehrte er die Anjchuldigungen ab. „Es ift 
entjeglich”‘, rief er, „daß man fich ſolche Sache fagen 
lajfen muß!‘ | 

Der zweite Verhandlungstag beginnt mit der DVer- 
nehmung der Zeugen. 

Emilie Caſſan, geborene Peyronnet de Berre, wird 
aufgerufen. Sie ift 27 Yahre alt, brunett, eher klein als 
groß, von fchlanfen, eleganten Glieverbau und voller 
Büſte. Ohne gerade biftinguirt auszujehen, hat fie doch 
regelmäßige Züge und eine einnehmende Phyfiognomie. 
Sie ift vielleicht Feine jchöne, aber jedenfalls eine hübjche 
Frau. Die Zeugin erfcheint vor dem erichtshofe in 
tiefer Trauer, langem Grepejchleier und jchwarzer 
Kaſchmirrobe. Sie gibt ihre Ausfagen mit klarer Stimme 
und nachbrüdlicher Betonung, doc anjcheinend ohne be- 
fondere Erregung ab. 

Präfident. Durand hat behauptet, daß Sie vier 
Jahre lang feine Geliebte gewejen feien und daß Sie ihn 
zum Morde Ihres Schwiegervaters angeftiftet hätten. 

Zeugin. Die Behauptungen diefes Menjchen find 
nieberträchtige Verleumdungen. Ich habe niemals mit 
ihm in vertrauten Beziehungen gejtanden. 

Angeflagter. Das Weib Lüge! 

Präfivdent. Schweigen Sie! Laſſen Sie die Zeugin 
ruhig ausreden. 

Zeugin. Es iſt eine abjcheuliche Verleumdung! 
Niemals habe ich mich mit ihm eingelaffen, niemals! Sch 
habe ihn immer als Diener betrachtet und behandelt. Er 

17* 


260 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 


kann e8 gar nicht wagen, mir ind Geficht zu jehen. (Sie 
wendet jich gegen ben Angeklagten.) 

Durand (mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit). 
Dh doc, mein Schätchen. 

Zeugin (erregt). Ich ſchwöre bei dem, was mir das 
Höchfte ift, bei dem Leben meiner Kinder, daß ich niemals 
bie Geliebte dieſes Menſchen geweſen bin. Es ijt eine 
abjcheuliche Verleumbung, daß ich ihn veranlaßt hätte, 
meinen Schwiegervater zu ermorden. Welches Intereffe 
jollte ich an dem Tode des armen alten Mannes gehabt 
haben? 

Präſident. Durand gibt an, Sie jeien am 28. April 
nah Albi gefommen, hätten mit ihm eine lange Unter: 
redung gepflogen und ihm den Antrag geftellt, Ihren 
Schwiegervater zu bejeitigen. Er habe fich geweigert, und 
darum hätten Sie einen Fremden, Unbekannten gebungen. 

Zeugin. Aber ich lebte doch mit ſammt meinen 
Kindern nur von dem Einkommen, das ich von meinem 
Schwiegervater erhielt. Ich ſchwöre, daß ich am 28. April 
mit Durand nicht allein geiprochen habe. 

Präfident. Sind nah dem Tode Ihres Mannes 
Ihre Beziehungen zu Ihrem Schwiegervater getrübt ge— 
weſen? 

Zeugin. Der Tod ſeines einzigen Sohnes hatte 
ihn tief erſchüttert. Er wußte wol auch, daß unſere Ver— 
hältniſſe ungeordnet waren, aber die Höhe des Schulden— 
ſtandes überraſchte und bekümmerte ihn. Er mochte 
glauben, die Schulden wären um meinetwillen gemacht 
worden. Wir hatten veshalb allerdings Mishelligfeiten, 
fie waren indeß nicht ernitlicher Natur. Ich verbrachte 
in der Regel die Abende mit meinem Schwiegervater, 
ichrieb nach feinem Dictat und copirte feine medicinijchen 
Berichte. 


Die Ermordung des Dr. med. Eaffan. 261 


Präfident. Anfang April aber hat Ihnen der 
Doctor eine Scene gemacht, weil Sie ſpät abends allein 
ausgingen? 

Zeugin. Mein Schwiegervater war zu der Anficht 
gelangt, daß es ihn zu viel fofte, mich und die Kinder zu 
erhalten, und verlangte, daß meine Mutter hierzu beitragen 
folle. Ich habe Albi deshalb am 13. April verlaffen. 

Präfident. Haben Sie Ihren Schwiegervater be- 
Ihuldigt, daß er Sie gejchlagen habe? 

Zeugin. Niemals. Ich habe ihn jogar gebeten, mich 
wieder aufzunehmen; allein infolge von Zwijchenträgereien 
wollte er es nicht thun. 

Angeflagter. Diejes verfluchte Weib lügt! Das 
DBerbrechen ift von ihr ausgegangen. Sie hat den alten 
Mann getödtet oder tödten laſſen. Jedes Wort, das fie 
fpricht, ift eine Xüge. Der Doctor hat fie fortgejagt, 
weil fie wie eine liederliche Dirne lebte. Er hat ihr 
einen Fauftichlag ins Geficht gegeben und fie eine 9... 
gejcholten. Er hat feine Schwiegertochter, fowie dieſe ihn 
nicht ausjtehen können. 

Bertheidiger Ferrand. Sind Sie, Frau Caſſan, 
in der Zwijchenzeit vom 28. April bis zum 8. Mai nie- 
mals in Albi gewejen? 

Zeugin. Doch, mein Her. Am 1. Mai. Ich 
fam ein zweites mal, um allerlei vergeſſene Sachen ab- 
zuholen und mit meinem Schwiegervater einige Geldfragen 
zu beſprechen. Es war der Tag nach dem Tode ver 
Bhilippine Siccard. 

Präfident. Haben Sie geäußert. Wenn die Alte 
früher geftorben wäre, jo hätte fich alles anders geftalten 
fönnnen? 

Zeugin. ch erinnere mich nicht, Dies gejagt zu 
haben, aber es entipräche meiner Anjchauung. Ich habe 


262 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


es immer ſehr bedauert, daß mein Schwiegervater mich 
nicht wieder zu fich nehmen wollte. 

Bertheidiger Ferrand. Sind Frau Zeugin nie- 
mals des Nachts Arm in Arm mit Durand jpazieren 
gegangen? 

Zeugin. Niemals. Ganz entjchieden niemals. 

Bertheidiger Ferrand. Aber Frau Zeugin wer— 
den dagegen wol nicht in Abrede ftellen, daß Sie einen 
nächtlichen Bejuch bei dem Lieutenant Pradines abgeftattet 
haben ? 

Zeugin. Das ift eine müßige Frage. Auf folche 
antworte ich nicht. 

Vertheidiger Ferrand. Es gibt hier feine müßigen 
Fragen. Sch weiß, was ich ſpreche. E8 handelt fi um 
den Kopf eines Menfchen, ver Sie befchuldigt und ver 
behauptet, um Ihretwillen auf der Anklagebank zu figen. 
Iſt es denn nicht gerade wegen dieſes Beſuches, daß 
Dr. Caſſan Sie aus ſeinem Hauſe gewieſen hat? 

Zeugin. Nein. 

Vertheidiger Ferrand. Alſo Sie haben nicht 
als Ausflucht angegeben, daß Sie den Abend bei dem 
Hauptmann Robert, einem verheiratheten Offizier und 
Freund Ihrer Familie, zugebracht hätten? 

Zeugin. Ja, das habe ich geſagt. 

Vertheidiger Ferrand. Es war aber thatſächlich 
unrichtig. 

Zeugin. Darüber habe ich Ihnen keine Rechenſchaft 
zu geben. 

Verthe idiger Ferrand. Mit wem Haben Sie 
alſo den Abend zugebracht? 

Zeugin. Darüber brauche ich nicht Rede zu ſtehen. 
Ich bin nicht als Angeklagte hier. 

Vertheidiger Ferrand. Sie haben als Zeugin 


Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 263 


die Verpflichtung, hier die ganze Wahrheit auszufagen, 
auch wenn e8 Ihnen peinlich ift. Reden Sie alſo auf- 
rihtig. Sit e8 nicht wegen Ihrer Beziehungen zu dem 
Lientenant Pradines, daß Ste aus dem Haufe gejagt 
worden? 

Zeugin. Nein, mein Herr. Uebrigens iſt Lieutenant 
Pradines ein alter Bekannter. Wir ſind aus demſelben 
Orte. Seine Schweſter und ich waren Schulfreundinnen. 

Staatsanwalt. Iſt es richtig, daß Ihnen Lieutenant 
Pradines 1000 Frs. geliehen hat? 

Zeugin. Ja. Ich bedurfte des Geldes zur Zahlung 
einer dringenden Schuld meines verſtorbenen Gatten. 

Vertheidiger Ferrand. Und Ihre Beziehungen 
zu dem Herrn Lieutenant befchränften fich auf dieſe Geld» 
angelegenheiten ? 

Zeugin. Ja wohl, mein Herr. 

Vertheidiger Ferrand. Sie haben ihm alſo 
feine Xiebesbriefe durch das offene Fenfter in fein Schlaf- 
zimmer geworfen ? 

Zeugin. Nein, niemals. 

Hierauf wird der Gerichtsarzt Dr. Camil Bouffac 
vernommen. Er erjtattet Bericht über die Section ber 
Leiche des Dr. Caſſan und ſchildert fodann in dramatifcher 
Weije, wie das Attentat nach feiner Weife verlaufen jein 
muß, indem er einen Gensdarmen veranlafßte, die Rolle 
des Opfers zu übernehmen, und felbjt den Mörder fpielt. 

Der zweite GerichtSarzt, Dr. Guyh, beftätigt die Schluß- 
folgerungen jeines Collegen. Im feinem Eifer hat er fich 
jogar zu einem merfwürdigen Experiment herbeigelafjen. 
Es ijt bereits erwähnt worden, daß Durand eine Haut- 
Ihürfung am linken Arme hatte. Die Anklage folgert, 
biefelbe jtamme daher, daß der Angegriffene im verzweifel- 
ten Rampfe um fein Leben durch einen heftigen Drud 


264 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 


mit dem Daumennagel fie verurjacht habe. Dr. Gun 
bat num von einem fräftigen Collegen einen nachhaltigen 
Drud an feinem Arme verjuchen lafjen, und die jolcher- 
geitalt von dem Daumennagel berrührende Verletzung 
entjprach jener, welche ver Angeklagte davongetragen hatte. 
Diefe Beweisführung iſt wahrhaft vernichtend für ben 
Angeklagten. 

Die Verhandlung wird zur Vornahme des Local- 
augenjcheines unterbrochen. Der Gerichtshof jammt den 
Proceßparteien begibt fih, unter Zuziehung von Ber: 
trauensmännern aus dem Publikum, an die Stätte des 
Attentats. Dieſer in Albi noch unerhörte Vorgang 
erregt das ganze Städtchen. Die gefammte Bevölkerung 
it auf den Beinen. Es iſt nothwendig, die Juftizwachen 
zu verjtärfen, um Frau Gaffan, welche nach der Anficht 
der Menge die Schuldige ift und mit Schmähungen be- 
grüßt wird, vor thätlichen Angriffen zu jchügen. 

Der Gerichtshof durchſchreitet mit feierlichem Ernit 
alle in Frage fommenvden Räumlichkeiten, das DVeftibule, 
das Arbeitscabinet und das Schlafzimmer des Dr. Caſſan. 
Durand, der zwifchen zwei Gensdarmen geführt wird, 
erflärt mit fefter Stimme, wo ver „unbefannte Mörder’ 
eingedrungen fein müffe und welchen Weg er genommen habe. 

Es werden jodann verjchievene Zeugen über das Ver: 
hältniß zwijchen vem Dr. Caſſan und feiner Schwieger- 
tochter vernommen. Die Ausfagen jtimmen nicht überein. 
Etliche bezeugen, daß beide in feinplichen Beziehungen 
gejtanden haben, andere befunden, Dr. Caſſan habe fich 
bitter über bie junge Frau und ihren Lebenswandel aus- 
gejprochen, fich vor ihr gefürchtet und geäußert, daß fie 
ihn noch vergiften werde. Wichtiger ift als Zeugin 
Elodie Rieunier, das Stubenmädchen ver Frau Caſſan. 
Sie ijt eine hübſche Brünette von 19 Jahren, mit einem 


Die Ermordung bes Dr. med. Eajfan. 265 


allerliebjten Stumpfnäschen und bligenden jchwarzen 
Augen. 

Präfident. Sind Sie die Geliebte des Yujtin 
Durand gewefen? 

Zeugin (verihämt erröthend). Ja wohl, Herr Präfi- 
dent, ich geitehe e8. 

Präfident. Glauben Sie, daß Frau Caffan gleich: 
falls jeine Geliebte gewejen ift. 

Zeugin. Oh nein, das it nicht wahr. Sch hätte 
es ficher bemerfen müfjen, wenn etwas zwijchen ven beiven 
vorgegangen wäre. Mein Schlafzimmer jtieß an das ver 
Gnädigen. Ich hörte alles, was daneben gejchah. 

Präjident. Lebte ver Doctor in gutem Einvernehmen 
mit Ihrer Herrichaft? 

Zeugin. Nein, e8 gab öfters Streit. 

Präfident. Wo hat Frau Eaffan ven 8. Mai, den 
Vorabend des Attentats, zugebracht? 

Zeugin. Im Toulouſe. Ich Habe ihr jelbit das 
Abendefjen fervirt, war ihr um 10 Uhr beim Entkleiven 
behülflich und habe ihr am nächjten Morgen die Choco- 
lade gebracht, die fie im Bette zu fich nahm. 

Präfident. Haben Sie jemals von Ihrer Herrin 
eine Aeußerung gehört, welche Sie darauf jchließen ließ, 
fie plane die Ermordung ihres Schwiegervater8 oder 
billige dieſelbe? 

Zeugin. Niemals, ganz gewiß niemals. 

Präjident. Iſt Durand ohne anzuflopfen in das 
Zimmer Ihrer Herrichaft gefommen? 

Zeugin. Einmal ift er jo eingetreten. Frau Caffan 
hat ihn darüber fcharf zur Rede geftellt, und er hat e8 
nicht wieder gethan. 

Präfident. Glauben Sie wirklich nicht, daß er zu 
ihr in intimen Beziehungen ſtand? 


266 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


Zeugin. Oh! Er hätte es gar nicht gewagt, bie 
Augen zu ihr zu erheben. 

Präfident Iſt er nicht einmal längere Zeit im 
Schlafzimmer Ihrer Herrin geblieben? 

Zeugin. Die Gnädige war an biefem Tage un- 
päßlic und blieb zu Bette. Er brachte ihr das Diner 
hinauf. Das ift überhaupt das einzige mal, daß er mit 
ihr allein in ihrem Zimmer war. 

Prüfident. Er behauptet aber, daß er vier Jahre 
lang ihr Geliebter gewejen ift. 

Zeugin. Das wäre das erſte Wort, das ich davon 
erführe. (Sie wendet fich mit einer zornigen Geberde 
gegen den Angeklagten. Dieſer lächelt.) 

Auguft Mercadier, ehemaliger Notar, ein behäbiger, 
rundlicher, älterer Herr mit felbjtgefälligem, zufriedenem 
Geficht und einem dünnen, Fed aufgewichiten Schnurr- 
bärtchen, fagt aus: 

„Ich bin der gejchäftliche Nathgeber und Anwalt ver 
Frau Andoque, einer Tante der Frau Caſſan. Die 
letztere kam demzufolge, als fie ihres Schwiegerpaters 
Haus verlaffen hatte, gleichfall8 zu mir, um fich meines 
Rathes zu vergewiffern.“ 

Präjident. Wiſſen Sie, wo Frau Caſſan den Abend 
des 8. Mat zugebracht hat? 

Zeuge Sie war in Touloufe. Gegen 5 Uhr nad: 
mittags fam fie in meine Kanzlei, wojelbft wir eine Be- 
Iprehung mit dem Advocaten Pajol hatten. Von dort 
find wir miteinander weggegangen. Wir haben gemein 
ichaftliche Freunde begegnet und begrüßt. Die Anklagen, 
die Durand gegen meine Perſon erhoben hat, find lächer- 
lich, ich brauche fie wol nicht zu beantworten. 

Angeflagter. Frau Caſſan hat mir doch ſelbſt ge— 


Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 267 


ftanden, daß der Notar Mercadier ihr derzeitiger Xieb- 
haber und der geiftige Urheber des Verbrechens ift. 

Präfident. Das ift doch eine beifpiellofe Infamie. 
Was in aller Welt berechtigt Ste zu der Annahme, daß. 
der Zeuge der Geliebte der Frau Caſſan geweſen ift? 

Vertheidiger Ferrand Es iſt dies eine Ver— 
muthung, für die gewichtige Gründe ftreiten. Sie find 
wie vertraute Freunde miteinander jpazieren gegangen. 
Wir haben das von Herrn Mercadier ſelbſt gehört. Bit 
e8 denn ein Verbrechen, ver Liebhaber einer hübfchen 
jungen Frau zu fein? (Heiterfeit.) 

Frau Andoque beftätigt, daß Durand von Frau 
Caſſan ſtets als Bedienter behandelt worden fei. Die 
Zeugin hat niemals etwas von vertrauten Beziehungen 
zwifchen ihnen bemerkt. „Und ich habe doch fcharfe Augen 
für folhe Sachen!” fügt fie hinzu. (SHeiterfeit.) 

Angeflagter. Ich Lüge nicht. Das letzte Schäfer- 
ftündlein, das ich mit Frau Caſſan verbrachte, war am 
28. April, an dem Tage, an dem fie nach Albi Fam, um 
ihre Effecten abzuholen. 

Präfident. Sie bleiben aljo dabei, daß Frau Caſſan 
Sie an jenem Tage aufforverte, ihren Schwiegervater zu 
tödten, und um Sie hierzu zu bewegen, fich in Beweijen 
der Zärtlichkeit überbot ? 

Angeflagter. Ich Habe e8 gejagt. Es ijt die 
Wahrheit. 

Zeugin. Das nenne ich eine eiferne Stirn! 

Zeuge Frenouls, Notar des Dr. Caſſan, beziffert 
den Werth des Vermögens des Arztes auf 70000 Fre. 

Bertheidiger Ferrand. Wieviel Geld dürfte in 
der Nacht des Verbrechens im Haufe gewejen fein? 

Zeuge. Oh, nur wenig. Ganz wenig. 

Präfident. Er hatte aber doch nahezu 21000 Fre. 


268 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


erhalten, und nach ven Angaben über die Verwendung des 
Geldes fehlt ver Nachweis über etwa 3000 Fre. 

Zeuge. Bon ven behobenen 21000 Frs. hat er 
12000 Frs. Schulden feines Sohnes bezahlt und 
8000 Fr8. bei dem Steueramte für Rententitel hinter: 
legt. Er wollte fein Geld im Haufe haben. Sch glaube 
nicht, daß 1000 Fre. baare Münze vorhanden ge- 
wejen find. 

Bertheidiger Ferrand. Ueber 400 Fre. find vor— 
gefunden worden. 

Staatsanwalt. Durand hat vermuthlich nicht ges 
wußt, daß die 21000 Frs. nicht im Haufe waren, von 
der Behebung der Summe dagegen hatte er Kenntniß. 
Es war Stabdtgefpräch, daß Dr. Caſſan eine große Summe 
Geld empfangen hatte. 

Zeuge. Das lektere ift ficher. 

Die Sacverjtändigen, welche die chemijche Unter— 
juhung der Eingeweide der Pyilippine Siccard vorge- 
nommen haben, die Herin Franz Julius Augier und 
Dr. Eugen Ceſtan de Gaillac, erklären, daß diefe an 
Arjenikvergiftung geftorben ift. 

Melanie NRoumegour, das Hausmädchen des 
Dr. Caſſan, fagt aus: 

„In der Nacht des Attentates ift Iuftin Durand in 
Unterhofen und bloßfüßig mich zu weden gefommen. Er 
theilte mir mit, unfer Herr ſei ermordet und er felbit 
durch einen Mefferftich verwundet worden. Dann fiel er 
erichöpft, wie ohnmächtig, vor mir zujammen. Ich hatte 
zuvor nichts Verdächtiges gehört, auch der Hund hatte 
nicht gebellt. Ich bin vor das Thor gelaufen und habe 
Hülfe! Mörder! gerufen. Die Nachbarn find an die 
Fenſter gekommen. Durand wollte wegeilen, um vie 
Polizei zu holen, und zog an der Hausthür feine Hofe 


Der Ermordung des Dr. med. Caſſan. 269 


an. Ich Hatte ſolche Angſt und fürchtete mich fo ſehr, 
allein zu bleiben, daß ich ihn fefthalten wollte, als er 
fortging.“ 

Nah dem Schluß des Beweisverfahrens beginnt das 
Plaidoyer. 

Die bemerfenswertheite Rede, die fich zumeilen zu 
wirflich rhetoriſchem Schwung erhebt, ift die des Ver— 
treterd der Civilpartei, Bosredon. Derfelbe jagt im 
MWejentlichen: 

Es handelt fich für uns um feinen materiellen Schaden— 
erſatz. Es handelt fih um die Reinhaltung der Ehre 
einer jonjt fchutlofen Frau, um den ehrlichen Namen von 
vier unmünbigen Kindern, der befledt werden joll. Elende 
Berleumdungen haben Frau Caffan fchwer an Ehre und 
Freiheit bedroht, und nur der energijchen Führung ber 
Unterfuchung iſt e8 zu danken, daß dies dunkle Gewebe 
jo rajch zerriffen ward. 

Der Anwalt erörtert die Gründe, die Juftin Durand 
und ihn allein al8 Mörder fennzeichnen. Er befchuldigt 
ihn des Diebſtahls oder doch des Diebitahlverfuchs, 
„weil er den erhofften Lohn für feine graufe That nicht 
gefunden habe”. Er wendet fich gegen die ſchnöde Be— 
bauptung, daß Frau Caffan die Maitreffe ihres Bedienten 
gewejen ſei, und daß fie ihn zum Morde verleitet habe. 
Er brandmarft die Verlogenheit des Angeklagten, feine 
wechjelnden und ſchwankenden Geſtändniſſe. Wie aber 
ift der Angeklagte auf den verruchten Gedanken verfallen, 
die Schwiegertochter feines Opfers anzufchwärzen? Das 
müßige Gejchwäß, ver leere Klatſch, der bis zu ihm in 
die Zelle gebrungen ift, hat ihm den fchlauen Plan ein- 
gegeben, durch Verleumdung einer dritten Perſon das 
eigene foftbare Leben zu retten. Einundvierzig Tage hat 
Frau Caſſan in der Unterjuchungshaft zugebracht, man 


270 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 


bat ihre vertrautejten Angelegenheiten peinlich durchforſcht: 
aber ihre Unjchuld ift klar zu Tage getreten. Sie hatte 
feinerlei Intereffe am Tode ihres Schwiegervaters, ver 
fie und ihre Kinder erhielt. Sie bezog ein Einfommen, 
das zum großen Theile von den Ergebnifjen feiner Praris 
abhing. Nun da er tobt ift, bleibt fie faft mittellos 
zurüd. Die Habjucht allein hat Durand zum Mörder 
gemacht, er hat wahrfcheinlich 2300 Frs., deren Ber: 
bleib nicht anders zu erflären ift, am fich gebracht und 
an einem fichern Drt verborgen. Dazu hat er die zwei 
Stunden verwendet, die zwijchen der That und ber Ber- 
ftändigung an die Polizei verfloffen find. Es gibt für 
ihn feinerlei mildernde Umſtände, erjchwerend aber find 
jeine abjcheulichen Berleumdungen. Seine cynijche Haltung 
an biefer Stelle beweijt jeine abjolute Verworfenheit. 

Der Staatsanwalt Laroche erörtert nüchtern und 
klar alle zwingenden VBerdachtsgründe und fordert bie 
Todesſtrafe, denn der Angeklagte verdiene fein Mitleid. 

Der Vertheidiger Ferrand fucht in gejchidter Weife, 
ohne Frau Caſſan direct zu beſchuldigen, darzuthun, daß 
noch neue Zweifel in Bezug auf die Verübung des Ver- 
brechen bejtänden. Der Beweis, daß Dr. Caſſan be- 
jtohlen worden, jei mislungen, ein Beweggrund zu dem 
Morde fei nicht erbracht, e8 bleibe unficher, ob ein oder 
mehrere Thäter am Morde mitgewirkt hätten, und jeder 
Zweifel müfjfe dem Beichuldigten zugute fommen, eine 
Derurtheilung fei deshalb nicht gerechtfertigt. 

Die Gejchworenen haben fich nach einftündiger Be— 
rathung über ihren Spruch geeinigt. Sie verneinen 
die Schuld des Angeklagten an dem Tode ver Philippine 
Siccard, bejahen fie jedoch in Betreff der Ermordung 
des Dr. Caſſan und des qualificirten Diebſtahls. Mil— 
dernde Umftände werben dem Verurtheilten nicht zuerkannt. 


Die Ermorbung des Dr. med. Eaffan. 271 


Durand bricht in Thränen aus und ‚ruft: „Mich 
Unjchuldigen verdammt man und die Schuldige läßt man 
laufen!‘ 

Der Präfivdent Garas verfündigt das Urtheil: Die 
Zodesitrafe. 


Bei diefem Proceffe tritt wieder wie in Frankreich 
jo häufig ein angebliches Liebesverhältnig in den Vorber- 
grund. Hätte der Angeklagte neben feinem Cynismus 
und feiner Frechheit eine größere Erfindungsfraft be— 
jeffen, vielleicht wäre e8 ihm doch gelungen, fich durch 
die Verleumdung der an der That unfchuldigen jungen 
Frau zu retten. Aber feine Fabel war zu unglaub- 
würdig, feine Angaben wurden zu gründlich widerlegt. 
Er fing fih in ven Mafchen des Netes, welches er gar 
zu plump gejponnen hatte. Die Stimmung der Be— 
völferung wendete ſich urjprünglich ganz entjchieden wider 
Frau Caſſan, und es iſt ein wirkliches Verdienſt ber 
Unterfuhung, die Wahrheit an den Tag gebracht zu haben. 
Wir halten das Urtheil für ein gerechtes. 


Ein Beitrag zu dem Leben und dem Procefe des 
Panduren-Oberftien Franz Freiheren von der Trenck 
und feine Haft auf dem Spielberg bei Brünn. 


1741 — 1149, 


Franz Freiherr von der Trend ift 1714 zu Reggio 
in Galabrien geboren. Sein Bater jtand damals dort 
als Faiferlich Föniglicher Oberftlieutenant in Garnifon, 
wurde aber fpäter nach Ungarn verjett. Der junge Trend 
beſuchte die Lateiniſche Schule der Jeſuiten in Dedenburg, 
und ſchon damals zeigten fich feine glänzenden Talente, 
aber auch feine böjen Anlagen und Eigenjchaften. Im 
17. Lebensjahre trat er als Fräftiger, in allen Leibes— 
übungen geübter Jüngling in die öjterreichifche Armee ein. 
Aber nach Furzer Zeit quittirte er und nahm Kriegspdienfte 
in Rußland. Er war ein wilder Gefell, feine zügellojen 
Streiche zogen ihm eine Unterjuchung zu, er wurde des 
Landes verwiejen. Nach einer andern Mittheilung hatte 
er fich an feinem Oberſten thätlich vergriffen und wurde 
deshalb vom Kriegsgericht zum Tode verurtheilt. Es 
gelang ihm aber zu entfliehen und die öfterreichifche Grenze 
zu erreichen. Er ging nach Slawonien auf die ihm ge— 
hörende Herrichaft Pakracz und vertrieb fich die Zeit mit 
Reiten und Jagen und wüſten Drgien, die in dem Herren— 
haufe gefeiert wurden. Als der Defterreichiiche Erbfolge: 
frieg ausbrach, ftellte er der Kaiferin feinen Degen zur 


Der Panduren-Oberft Frhr. v. d. Trend. 273 


Verfügung. Maria Therefia war von Feinden umringt, 
fie nahm Hülfe an, wo fie ihr geboten wurbe, denn es 
handelte fih um den Beſtand der alten Habsburgiichen 
Monarchie. Trend erhielt die Erlaubniß, ein Freicorps 
in der Stärfe von 1000 Mann zu errichten. Die Leute 
drängten fich zu ihm, fobald er die Werbetrommel rühren 
ließ. Wählerifch war er nicht bei der Aufnahme; muthige, 
trogige Männer ließ er ohne weiteres Treue ſchwören, 
auch wenn fie mit der Yuftiz die bedenklichſten Conflicte 
gehabt hatten. So mancher Grenzräuber, dem es jchon 
an Hals und Kragen gegangen war, fand unter der von 
ihm enifalteten Fahne einen fichern Zufluchtsort. Es 
währte nicht lange, bis er die erforderliche Zahl von 
1000 Dann beifammen hatte. Er marjchirte mit feinen 
Zruppen nah Wien und führte viefelben am 27. Mai 
1741 der Raiferin vor. Sie hatte fich zu dieſem Behufe 
im Wagen vor die Fanoriten-Linie begeben und nahm 
eine Art von Parade ab. Das Corps war eingetheilt in 
20 Freicompagnten, jede zu 50 Mann, nach jerbijcher 
Art trugen fie weite Ueberwürfe und rothe Kapuzen, 
fie jtarrten von Waffen aller Gattungen. Die Panduren 
begrüßten die Kaijerin mit den raufchenden Klängen ihrer 
Muſik, gaben Proben ihrer Gefchiclichfeit und Kampfes— 
weiſe und zogen dann in guter Ordnung vor dem Faifer- 
lihen Wagen vorüber. Maria Therefia verfolgte das 
jeltene und intereffante Schaufpiel aufmerkſam, befchenfte 
die Panduren reichlich und ließ einige derſelben ihrer 
Mutter, der verwitweten Kaiferin Eliſabeth Chriftine, 
vorjtellen. Am folgenden Tage z0g die ganze Schar, von 
Tauſenden ummwogt und angejtaunt, am Klofter der Sale- 
fianerinnen vorüber, um von ber Kaijerin Amalie Wilhel- 
mine, der Witwe Joſeph's J., ebenfalls befichtigt zu werben. 
ALS dies gejchehen war, lagerten fich die Banduren einige 
XXIV. 18 


274 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceije 


Stunden in der Vorſtadt Landſtraße, nahe dem St. Jo— 
bannis-Hospital. Am Abend fetten fie über die Donau 
und traten ven Mari nach Schlefien an. Dort gaben 
fie glänzende Beweife ihrer Eriegerifchen Tüchtigfeit. Viele 
Meilen weit jchwärmten fie im Rüden des Feindes, jie 
verbrannten die Magazine, fingen die Kuriere auf, be- 
unruhigten alle Transporte und verbreiteten überall Ver— 
wirrung. Nicht jelten haben fie Vorpoften überrumpelt, 
preußijche Offiziere aufgehoben und mweggeführt, während 
die Schilowache ruhig vor der Thür jtand, und ganze 
Hauptquartiere überfallen und zeriprengt. ‘Die Panduren 
pflegten jtet8 die Avantgarde zu bilden. Sie ftürmten 
unmiberjtehlich vorwärts und warfen nieder, was fich 
ihnen entgegenitellte. 

Der Oberbefehlshaber der Armee, Graf Neipperg, 
erfannte die vortrefflichen Leiftungen diefer Truppen an, 
aber der Banduren-Dberft war dem ftrengen, methodijchen 
Manne durchaus unfympathiih. Trenck befaß eine Hohe, 
imponirende Geftalt und ein einnehmendes Weſen, auch 
eine gewiffe Bildung fonnte man ihm nicht abjprechen; 
aber die vorherrjchenden Züge feines Charafters waren 
unbändige Wilpheit, Grauſamkeit und Unbotmäßigfeit, die 
er auch jeinem Corps aufprägte. Trend hatte jtrengen 
Defehl, auf allen feinen Streifzügen nur gegen bewaffnete 
Feinde vorzugehen und nie an wehrlofen Menfchen Gewalt: 
thätigfeiten zu verüben. Aber der Dberjt gehorchte nie- 
mals. Reiſende Kaufleute wurden beraubt, Dörfer und 
Städte angezündet und geplündert. Die Banduren fannten 
weder Schonung noh Mannszucht und ihr Oberſt ging 
ihnen mit dem jchlechteften Beiſpiele voran. 

Graf Neipperg überzeugte fih davon, daß Trend 
unverbejjerlich, und daß feine Art, den Krieg zu führen, 
mit der Ehre der Kaiferin nicht vereinbar war. Er nahm 


des Banduren-Oberften Franz Frhrn.v. d. Trend, 275 


ihm das Commando ab und übertrug bafjelbe einem 
fächfiichen Major Namens Menzel, welcher früher eben- 
falls in Rußland gedient hatte und der flawifchen Sprachen 
mächtig war. Als Trend fich weigerte, unter Menzel zu 
dienen, wurde er verhaftet und vor ein Kriegsgericht 
gejtellt; jevoch bald darauf aus dem Arreft entlafjen und 
in fein Commando wieder eingejekt. 

Im Jahre 1742 focht Trend in der Armee des Feld— 
marſchalls Grafen Khevenhüller in Baiern. Durch 
einen fühnen Handftreich nahm er mit feinen Panduren 
das Schloß Diefenjtein an der Grenze von Baiern und 
Böhmen. Zufällig entzündete ſich ein Sad Pulver. Trend 
jtand in unmittelbarer Nähe, erlitt jehr jchmerzliche Brand— 
wunden und wurde zur Heilung berjelben nah Paſſau 
gebracht. Der Feldmarſchall benutzte dieſe Gelegenheit, 
über die Verdienſte des verwundeten Offiziers Bericht zu 
erſtatten und ſeine Beförderung zum Oberſtlieutenant von 
der Kaiſerin zu erbitten. Er zählte alle Waffenthaten 
Trenck's auf bis zu der Einnahme von Dieſenſtein und 
rühmte ſeine hohe militäriſche Begabung und ſeine außer— 
ordentliche Tapferkeit. Er verſchwieg dabei nicht, daß 
Trenck mit großer Härte verfahren ſei, ſo oft es ſich um 
Beute gehandelt, und daß er mehr als einmal eine über— 
mäßige Habſucht an den Tag gelegt habe, fügte aber hinzu, 
Trenck habe verſprochen, ſich in dieſem Punkte zu beſſern, 
und werde dieſes Verſprechen wohl auch halten, denn ſein 
Vermögen habe bereits eine beträchtliche Höhe erreicht. 
Er werde ſich doch endlich mit dem begnügen, was er 
beſitze, die Kaiſerin möge daher die beantragte Beförde— 
rung bewilligen, um ihn dadurch in ſeinem Unglück zu 
tröſten und ſeine Schmerzen zu lindern. Maria Thereſia 
erkannte zwar Trenck's Tapferkeit an, aber ſein groß— 
ſprecheriſches, rohes Weſen und ſein ausſchweifendes Leben 

18* 


276 Ein Beitrag zu dem Leben und bem Proceffe 


waren ihr in hohem Grade zuwider. Sie wollte die Bitte 
bes Feldmarſchalls abſchlagen; aber mit Rückſicht auf den 
Unfall, den Trend erlitten hatte, entjchloß fe fich endlich 
doch, ven Wunsch Khevenhülfer’8 zu erfüllen, und bewilligte 
das Avancement. 

Im Jahre 1745 leiftete Trend abermals gute Dienfte 
in dem Feldzuge gegen Preußen; aber jchon im folgenden 
Jahre endete jeine militärische Laufbahn. Er hatte fo viele 
und fo grobe Excefje begangen, daß er feftgenommen, vor 
ein Kriegsgericht geftellt und zu Tebenslänglicher Haft auf 
dem Spielberge verurtheilt wurde. 

Gleich Hier jei bemerkt, daß die Panduren auch unter 
ihrem, neuen Commandeur die alte Tapferkeit bewiejen. 
Im Siebenjährigen Kriege bewährten fie den unter Trend 
erworbenen Ruhm und galten für die befte Truppe unter | 
der leichten öfterreichiichen Reiterei. 

Der Proceß gegen Trend ift, ſoviel wir wifjen, 
actenmäßig bis jetst nicht veröffentlicht. Auch uns ftehen 
die Acten nicht zu Gebote, wir müſſen uns deshalb be- 
gnügen, die fich entgegengejegten Urtheile zu referiren. 
Die Gegner des Panduren-Oberjten behaupten: Bei dem 
Abſchluß des Friedens zu Füffen, der nach dem Tode 
Kaiſer Karl's VII., eigentlich aber nach dem bei Pfaffen- 
hofen erfochtenen Siege mit Maximilian Joſeph, dem Sohne 
Karls VII. erfolgte, fei das graufame und pflichtwidrige 
Benehmen Trend’8 zur Sprache gefommen und infolge 
deſſen das peinliche Verfahren wider ihm eingeleitet worden. 
Er habe zwar feine Unfchuld betheuert, aber mehrere todes— 
würbige Berbrechen ſeien bewieſen. Zweimal fei ver 
Procek nievergefchlagen und erwogen worden, daß er jeine 
Unthaten nicht in ruhigen, geordneten Zeiten, ſondern im 
Kriege, wo alle Leidenjchaften entfeffelt gewejen, verübt 
babe. Allein der rajende Menjch habe e8 durch jeine 


des Banduren-Oberften Franz Frhrn. v.d. Trend. 977 


eigene Schuld unmöglich gemacht, ihn zu fchonen, troßig 
feine Feinde herausgefordert, feinen beſten Dffizieren vie 
ihnen zufommenven Gelder ohne weiteres vorenthalten, 
mehrere derjelben in feiner Wuth meutchlerifch überfallen, 
ja jogar den nachher jo berühmt gemworbenen General 
Zaudon im Wiener Theater jo brüsfirt, daß eine heftige 
Scene entjtanden und das gefammte Publiftum alarmirt 
worden fei. Bor dem Sriegsgerichte, in den Verhören 
babe er fich jehr unwürdig betragen, fich durch ein ganzes 
Net von Angebereien retten wollen und andere Offiziere, 
insbejondere Laudon, in die Sache zu verwideln gefucht 
und dabei fo fchlau operirt, daß dieſe fich nur mit Mühe 
der gegen fie erhobenen Beichuldigungen zu erwehren ver- 
mocht hätten. Die Kaiſerin habe große Rüdjicht auf feine 
Dienjte und Tapferfeit genommen, nur aus diefem Grunde 
jet er nicht mit dem Tode bejtraft worden. 

Trend felbft hat zu feiner Rechtfertigung eine Lebens— 
bejchreibung veröffentliht. Er prahlt in derjelben mit 
feinen Thaten und legt ein ftarfes Selbjtgefühl an ven 
Zag. Nach feiner Darftellung ift ihm bitteres Unrecht 
gejchehen. Er führt feinen Proceß zurüd auf Intrigue 
und Verfolgung feiner perjönlichen Feinde und Flagt über 
die ihm widerfahrene graufame Behandlung Er jagt: 
„Mein Kriegsrecht fing den 28. April 1746 an, nachdem 
ich den Tag zuvor von einem meiner Anfläger (Laudon) 
in dem Komöpdienhaufe angefallen worden war, ven ich aber, 
da ich gegen folche Leute den Degen zu ziehen nicht ge- 
wohnt bin, bei der Gurgel ergriffen und erwürgt haben 
würde, wenn nicht der Herr General von... . mich davon 
abgehalten hätte, Diefe Paſſage haben alle im Komödien— 
hauſe Anwejenvden, bei 400 Perjonen, angejehen, welches 
ich nicht wenig bedauere. Ich wurde gleich zu Anfang 
des Kriegsrechtes mit Arrejt belegt, wurde bei ven Händen 


278 Ein Beitrag zu dem Leben und dem PBrocejfe 


und Füßen kreuzweiſe gejchloffen und befam ven zweiten 
Zag darauf einen Lieutenant mit zwei Schildwachen und 
aufgepflanzten Bajonetten in mein Zimmer.” 

Er erzählt weiter: „Man hat mich 12 Uhr nachts 
aus meiner in einem Wirthshaufe in der Kärnthner 
Straße befindlichen Wohnung in das Arfenal und von 
da in das Stodhaus gebracht und den linfen, von einer 
Kanonenfugel bleffirten Fuß, der damals noch nicht voll- 
jtändig geheilt, fondern geſchwollen war, in Eijen gelegt. 
Daburch ftieg die Gejchwulft fo, daß der wachthabende 
Offizier Mitleid empfand und Anzeige machte. Durch 
meine Freunde wurde die Kaiſerin von dieſer Behandlung 
in Kenntniß gefeßt, darauf nahm man mir die Feſſeln 
von dem Franken Fuße und der einen Hand ab. Nach 
18 Tagen wurde ich in das Arjenal zurüdtransportirt 
und mir wegen Verfchlimmerung meines Franfhaften Zu— 
Itandes die fämmtlichen Eifen abgenommen. Die Kaiferin 
befahl die Reviſion tes Urtheils und ertheilte mir vie 
Erlaubnif, einen Advocaten anzunehmen.’ 

Am Schluffe heißt e8: „Zu bedauern bin ich, daß 
ih nicht alle excunable und nie erhörte Umftände, jo in 
meinem langwierigen Proceffe mit untergelaufen, aus 
erheblichen Urjachen dem geneigten Xejer fo vorlegen darf, 
wie ich e8 wünjchte. Sch fage nur, daß mich diefer Proceß 
bei 80000 Gulden gefoftet hat; meine Feinde haben ihr 
intentum erreiht. Sie haben mich zum Bettler und bei 
ber ehrlichen Welt fufpect gemacht, da doch die ganze ver- 
nünftige Welt und jeber, fo von mir gehört oder in 
Decaffionen gejehen, das unverfälichte Zeugniß werben 
geben müſſen, daß ich meiner allergnädigiten Souveränin 
als ein treuer Vaſall und Soldat jederzeit gedient, welches 
mir auch der geringfte Musfetier, ja fogar die Feinde 
jelbjt, gegen welche ich gefochten, mit befräftigen werben.” 


bes Bandburen-Oberften Franz Frhrn.v.d. Trend. 279 


Eine wejentliche Stüge fand der Pandur während des 
Procefjes an jeinem Vetter Friedrich von der Trend, 
welcher gerade um dieſe Zeit in Wien angefommen war 
und mit Hülfe des Dr. Gerhauer in der Angelegenheit fo 
fräftig intervenirte, daß das ganze Kriegsgericht und der 
damals allmächtige Hoffriegsrath hätten caffirt werben 
müffen. Die Gegner Trenck's geriethen durch diefe Wen- 
dung in die Ärgjte Verlegenheit. Sie hatten von feinem 
Vermögen bereit8 über 80000 Gulden vertheilt und hielten 
infolge der verfügten Sequeftration feine ganze Habe in 
ihren Händen. Sie hatten ihn tief verlegt und kannten 
ihn gut genug. Sie fürchteten feine Rache, wenn er bie 
Freiheit wiedererlangen follte. Um diefer ihnen drohenden 
Gefahr vorzubeugen, mußten alle Hebel in Bewegung 
gejett werben, und fie blieben auch jchlieflich die Sieger. 

Charakteriftiich für den Proceß ift der Umftand, daß 
Trend feines Verbrechens wider ven Staat angeflagt und 
überwiejen und folglich auch die Gonfiscation feiner Güter 
im Urtheil nicht ausgefprochen werben fonnte. Es hie 
vielmehr ausbrüdlich darin: „daß feine Güter in ber 
Berwaltung des von ihm gewählten Hofrathes von Kämpf 
und jeines Freundes Baron Pejacherich bleiben und ihm 
alle Jahre die Rechnung von feinen Beamten zugeſendet 
werben ſollte“. 

Wer unparteiifch urtheilt, wird freilich nicht in Ab- 
rede ftellen fünnen, daß Wolluft und Geiz zwei Grund- 
züge in Trenck's Charakter waren. Dieje böſen Leiden— 
ichaften haben ihn zu fehr schlechten und jchmutigen 
Handlungen getrieben. Es fteht feit, daß er mehr als 
2 Millionen Gulden durch feine Requifitionen, richtiger 
gejagt durch feine Plünderungen erpreßt hat und unerjätt- 
lich immer größere Summen an fich bringen wollte. 
Dazu war. ihm jedes Mittel recht. Aber auf der andern 


— 


280 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Procefie 


Seite darf man nicht vergefjen, daß er durch die brutale 
Art feiner Kriegführung ein Schreden der Feinde geworden 
it und große Erfolge für Defterreich errungen hat. Die 
Dberjten Trips, Menzel und Bärenklau haben da— 
mals auch nicht fanfter gewirthichaftet; aber fein Menſch 
hat fie zur Nechenfchaft gezogen, und Trend war ihnen 
an ruhelojer Thätigfeit bei Tag und bei Nacht, an Talent 
und an unglaublicher Kühnheit und Erfindungsgeijt weit 
überlegen. 

AS Trend auf dem Spielberge anfam, war verjelbe 
für die Gefangenen in der That ein furchtbarer Ort. 
Die Sträflinge waren in unterirdiichen Kaſematten unter: 
gebracht, welche in der Tiefe die ganze ſüdweſtliche und 
norböjtliche Seite in doppelten Reihen untereinander ein- 
nahmen. Im den unterften Gängen, die von feinem 
Strahl des Tagesfichtes beleuchtet wurden, befanden fich 
die jogenannten Arrefte, von denen einer noch jegt zum 
Andenken erhalten ift. Es waren dies Zellen von Balfen 
und Pfoiten, die Höhe betrug acht, die Länge fieben, die 
Breite vier Schuh, die Eingangsthür hatte eine Höhe von 
nur drei Schuh. Im dieſe Kerfer wurden bie ſchwerſten 
Berbrecher geworfen und dort mit Ketten angejchloffen ; 
ihre Nahrung beitand aus Brot und Waffer. Erſt Kaiſer 
Leopold II. milderte im Jahre 1791 dieſe ſchaudervolle 
Strafe, indem er einen menjchlichern Kerkergrad für alle 
Gefangenen einführte. 

Der Oberjt von der Trend hat mit diefen Räumen 
des Gpielbergs feine Bekanntſchaft gemacht. Die ihm 
angewiefene Zelle, die noch heute den Fremden gezeigt 
wird, beweift, daß die Regierung gegen den Panduren 
jehr rückſichtsvoll und Human verfahren iſt. Die Zelle ift 
für eime Perfon geräumig genug, fie bat einen guten 
Fußboden aus Holzbretern, einen ziemlich großen Kachel- 


bes Banduren-Oberften Franz Frhrn. v. d. Trend. 281 


ofen und genügendes Licht; die Wände waren gemeißt. 
Ein eigenthümliches Spiel des Zufalls fügte e8, Daß 
ungefähr drei Jahrzehnte zuvor der Durch feine jonderbaren 
Schickſale bekannte Barteigänger Graf Claude Aleran- 
der Bonneval viejelbe Zelle bewohnt hatte. Das Leben 
der beiden Soldaten war in vielen Stüden das gleiche; 
das eine wie das andere zeichnete fich aus Durch verwegene 
Abenteuer und graufame Streiche, aber ihr Lebensende 
war auffallend verſchieden. Bonneval ftarb als Paſcha 
in einem Pajchalif am Schwarzen Meere und Trend als 
Kapıziner. Wer Trend gekannt hatte und ihn dann auf 
dem Spielberge wieberfah, wo er feine Leidenschaften, ins— 
bejondere jeinen furchtbaren Zorn beherrfchen gelernt hatte, 
geitand voll Verwunderung, er habe geglaubt, einen ent- 
jeglihen Wütherich anzutreffen, und ftatt deſſen einen 
Mann von heiterm Anftande, vielfeitiger Bildung, ftolzer 
Würde und jchlagendem Wit gefunden. Trend fprach 
fieben Sprachen mit vollfommener Tertigfeit, er bejaß 
eine unglaubliche Xeibesitärfe, war abgehärtet gegen alle 
Strapazen und kannte feine Müpigfeit im Dienfte, die 
Kraft verfagte ihm niemals. Dazu zeichnete er fich aus 
durch einen hohen Wuchs und regelmäßige, jchöne Züge. 
Für alle militärifchen Dinge hatte er eine natürliche 
Anlage, man fonnte ihn einen geborenen Reiteroberften 
nennen, aber er hatte fich auch umfafjende Kenntniffe 
erworben und war in allen Kriegswilfenichaften zu Haufe. 
Seine löwenartige Tapferkeit wurde anerkannt von Freund 
und Feind. Er wäre ein Held geweſen, hätte er fich nicht 
bon feinen niedern Leidenſchaften beherrichen laſſen. 

In der Gefangenſchaft bejchäftigte er fich mit Lektüre 
und ſchrieb die Gefchichte feines Lebens nieder, die im 
Jahre 1788 in Frankfurt und Leipzig im Drud erjchienen 
ift, aber das Ende feines Proceſſes und das Urtheil nicht 


282 Ein Beitrag zu bem Leben und dem Proceſſe 


enthält. Die Gefellichaft, die er auf dem Spielberg hatte, 
beitand Hauptfächlih aus Kapuzinern, fie nannten ihn 
einen Mann „in vivis nobis perquam addictus” und 
in ihrer Hauschronif rühmen fie ihn als einen „vir valde 
versatus ac singulari dexteritate”. Trend, den das 
monotone Leben und die Beraubung der Freiheit ſchwer 
brüdte, war jehr dankbar für jeden Zuſpruch und ſchloß 
fih gern an die Mönche an. Der noch immer junge 
Mann, der vormals die Religion .verachtet und verfpottet 
und in den bairifchen Feldzügen jo manches Klofter an— 
gezündet und geplündert hatte, bejchäftigte fich jest mit 
religiöfen Studien, er ging in fich, bereute feine Sünden 
und fuchte den Troſt der Kirche und Verſöhnung mit 
Gott. Man hat gemeint, ver Pandur habe fich verftelft 
und durch feine angebliche Umwandlung zeitliche VBortheile 
erringen wollen. Wir glauben dies nicht. Es ift pſycho— 
logiſch erflärlih, daß von der Trend in der Stille und 
Einſamkeit erichroden ift vor feinem eigenen befledten Xeben, 
und daß fein Gewiffen ihm Feine Ruhe gelaffen hat. Auf 
jeden Fall war er weicher, milder und zugänglicher ge- 
worden. Er erbaute an ber Kirche, die am Spielberge 
lag, eine Kapelle. Sie ijt zwar fpäter wieder zu welt— 
lichen Zweden benutt und die Wohnung des Mauthners 
geworben; aber im Volfsmunde heißt fie noch jet bie 
Trend - Kapelle. Kurze Zeit vor feinem Tode ließ er 
alle Offiziere der Feltungsgarnifon zu fich bitten und be- 
fannte in ihrer Gegenwart feine Fehler und die Verbrechen, 
für welche er gerechte Strafe leide und in feine jeßige 
traurige Lage gefommen jei. Er warnte die Kameraden 
unter Thränen vor ähnlichen Fehltritten und bat fie, feiner 
auch nach dem Tode zu gevenfen und für ihn zu beten. 
Es war ihm Ernft mit feiner Buße, er ftand am Rande 
bes Grabes und hatte von der Welt nichts mehr zu hoffen 


bes Banduren-Oberften Franz Frhru. v. d. Trend. 283 


und nichts mehr zu fürchten, zu welchem Zwecke hätte er 
ein leeres Gaufelfpiel, wie man e8 genannt hat, aufführen 
follen ? 

Das Teftament des Panduren-Oberſten darf wol auch 
als ein urfundlicher Beweis feiner Umkehr und Sin- 
nesänderung angefehen werden. Der Gejchichtichreiber 
Dr. Dudik jagt hierüber: „Man kann annehmen, daß fich 
das menfchliche Gemüth wahr und offen zeigt, wenn ber 
Menih dem letzten Pulsichlage entgegenhorcht, daß er, 
durchdrungen von ber Ewigfeit, mit der Welt abjchließend 
Worte fpricht, die den Stempel der Wahrheit tragen. 
Dies ift um fo gewiffer, wenn Schidfalsichläge dem 
Menſchen Zeit gelaffen haben zu dem Befenntniß, daß 
proben ein höheres Weſen waltet, deffen Auge über Welten 
und Völker, aber auch über den Pfaden jedes einzelnen 
geöffnet ift. Dies alles gilt von dem unglücklichen Pan— 
buren- Häuptling, daher Liegt feine Urfache vor, in bie 
Worte, bie wir in feinem Teſtamente lefen, Zweifel zu ſetzen.“ 

Die entgegengejette Auffaffung fpricht fein durch das 
Teftament freilich getäufchter und benachtheiligter Vetter 
Friedrich von der Trend fo aus: „Sein Proceß hatte 
ſchon viel gefoftet, fein Geiz, die verlorene Hoffnung, ven 
Verluſt zu erjeen oder noch reicher zu werben, brachten 
jeine habfüchtige Seele bis zur Verzweiflung. Seine 
Ruhmſucht kannte feine Grenzen und fonnte nicht beſſer 
befriedigt werben als dadurch, daß er als Heiliger jtarb 
und nach feinem Tode noch Wunder wirkte. Dahin ging 
jein Plan, denn er war einer der gefährlichiten Atheiften, 
er glaubte an fein Jenſeits und geftattete fich alles, weil 
er ein verborbenes Herz im Buſen nährte.“ 

Trend würde wahrjcheinlich jeine Freiheit erhalten 
haben, wenn er um Gnade gebeten hätte. Zu einem 
ſolchen Schritte war er jedoch zu ftolz und zu unbeugjam. 


284 Ein Beitrag zu bem Leben und dem Procefje 


Er behauptete feine Unſchuld und forberte nichts weiter 
als fein Recht. Diefe Hartnädigfeit Fam feinen mächtigen 
Feinden jehr gelegen, denn fie fürchteten fich vor feiner 
Rache. 

Uebrigens ſollte ſeine Haft auf dem Spielberge nicht 
lange dauern. Nach ven Aufzeichnungen eines alten Kapu—⸗ 
ziners, welcher während feines ganzen Lebens von feinem 
Soldaten jo erbaut worden ift und feinen einen jo glüd- 
lichen Tod fterben ſah, wie den von der Trend, hörte 
der Pandur am 21. Februar 1749 in der Nacht eine 
wohlbefannte Stimme feinen Namen rufen. Gleich darauf 
wurde Trend vom Fieber befallen. Er erfuchte ven Pater- 
Guardian der Kapuziner, zu geftatten, daß nach feinem 
Tode jein Leichnam mit einem alten Habit befleivet und 
mit einem Steine unter dem Kopfe, ohne alles Ceremoniell 
in ber Kloftergruft beigefeßt würde. 

Hierauf ſchickte er zwei Stafetten nah Wien zu 
jeinem Advocaten Dr. Perger und erfuchte ihn, ev möchte 
an allerhöchſter Stelle die Erlaubnig zur Grrichtung 
eines Zeftaments auswirken. Die Bewilligung hierzu 
wurde vor Ablauf von 24 Stunden ertheilt mit dem 
Bemerken, „daß Trend über fein Vermögen nad) Belieben 
bisponiren Fönne, weil Ihre Majeftät fich nicht das 
Geringſte vorbehalte”. Auch wurde ihm eröffnet, er könne 
fih eine Wohnung auf dem Spielberge ausfuchen. Erſt 
am 24. September machte Trend fein Zejtament in 
Gegenwart von fieben Zeugen. Es wurde an den Hof 
gejendet. Die Kaiferin Maria Therefia nahm Kenntniß 
bon dem Inhalte und wurde namentlich purch die Beſtim— 
mung überrafcht, daß einem von Trenck's Feinden ein 
Erbtheil zufallen ſollte. Das Tejtament erhielt die kaiſer— 
liche Beftätigung und Trend die Vergünftigung, fih in 
der Stadt Brünn eine Wohnung nehmen zu dürfen. Er 


des Banduren-Oberften Franz Frhru. v. d. Trend. 285 


wollte hiervon Gebrauch machen und in das Kapuziner⸗ 
flofter ziehen, aber am 4. Detober, dem Namenstage des 
heiligen Franciscus, ſchied er aus dieſem Leben. 

Mährend der lebten vier Tage und Nächte waren bie 
Kapuzinerpatres Adjutus und Turibius bei ihm geblieben. 
„A. nostris dispositus pie moritur” fteht in der Haus- 
hronif. Seinem Wunfche gemäß wurde fein Leichnam 
mit der Kutte des Kapuzinerordens befleidet, am 7. October 
1749 abends Halb acht Uhr von etlichen Gefangenen an 
das Brünner Thor getragen, hier auf einen Wagen gelegt 
und in Begleitung von vielen Offizieren und Soldaten 
zu dem Kapuzinerklofter geführt. Der Convent ver Mönche 
eriwartete ven Sarg vor der Pforte, die Laienbrüder trugen 
benfelben in die Gruft, und dort wurde er mitten unter 
den daſelbſt ruhenden Mönchen beigejet. 

Eine ganz andere Schilderung von dem Ende des 
Pandurenführers gibt fein Neffe Friedrich von der Trend. 
Er berichtet: „Drei Tage vor feinem Tode, da er voll- 
fommen gejund war, ließ er dem Commandanten des 
Spielbergs melden, er wolle feinen Beichtvater nach Wien 
ichiden, denn der heilige Franciscus habe ihm geoffenbart, 
daß er ihn an feinem Namenstage um zwölf Uhr in vie 
Ewigkeit abholen würde. Man lachte und ſchickte ihm den 
Kapuziner, welchen er nach Wien abfertigte. 

„Am Tage nach der Abreife des Beichtvaters fagte der 
Pandur: Nun ift meine Reife auch gewiß; mein Beicht- 
vater ift tobt und mir bereits erjchienen. Der Todesfall 
betätigte fich am nächjten Tage. Der Pater war wirklich 
gejtorben. Nun ließ er die Offiziere der Feitungsgarnifon 
zufammenftommen und fich als Kapuziner tonfuriren, in 
die Kutte einkleiden, legte feine öffentliche Beichte ab und 
hielt eine ftundenlange Rede, in welcher er alle aufforderte, 
heilig zu werben. Er jpielte den größten, aufrichtigiten 


286 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceſſe 


Büßer. Dann umarmte er jeden einzeln, ſprach lächelnd 
von der Nichtigkeit ver Erbengüter, nahm feierlich Abſchied 
und fniete nieder zum Gebet. Eine Zeit lang jchlief er 
rubig, nachher ftand er auf und betete wiederum kniend. 
Um 11 Uhr mittags am 4. October nahın er die Uhr 
in die Hand und fagte: Gott Lob! die lette Stunde 
naht. Jedermann lachte darüber, denn man hielt e8 für 
eine Komödie. Plötlich bemerkte man, daß fein Geficht 
auf der linken Seite ganz weiß wurde. Er jekte ſich an 
den Tiſch, ftüßte die Arme auf, betete und jchloß bie 
Augen. Es jchlug 12 Uhr, er blieb unbeweglich fiten. 
Man redete ihn an, aber er antwortete nicht, er war tobt. 

„Sm ganzen Yande verbreitete fich die Kunde von dem 
Wunder, daß der heilige Franciscus den Panburen in den 
Himmel geholt habe. 

„Die Auflöfung des Räthjels ift aber folgende und nur 
mir allein gründlich befannt: 

„Trenck war eingeweiht in das Geheimniß der joge- 
nannten Aqua Toffana und hatte beſchloſſen, feinem Leben 
ein Ende zu machen. Seinen Beichtvater ſchickte er nach 
Wien und gab ihm viele Koftbarfeiten und Wechjel mit, 
die er beifeitefchaffen follte. Damit ihn der Kapuziner 
nicht verrathen fünnte, mußte er in feinem Leibe eine Dofis 
Gift mitnehmen, und Trend, der die Wirkung defjelben 
genau kannte, wußte, wann fein Tod eintreten mußte. 
Er nahm hierauf ſelbſt Aqua Toffana und jpielte vie 
Rolle des Heiligen, um vereint dem St.-Crispin oder 
St.-Florian den Rang ftreitig zu machen. Da er auf 
Erden nicht mehr Reichthum und Macht erlangen fonnte, 
wollte er im Grabe angebetet werden. Er war gewiß, 
daß am feiner Gruft noch Wunder gefchehen würden, denn 
er hatte eine Kapelle erbaut, eine Mefje geftiftet und ven 
Kapuzinern 4000 Gulden vermacht. 


des Banduren-Dberftien Franz Frhrn.v.d. Trend. 287 


„So ftarb dieſer ganz beſondere Mann im 35. Lebens- 
jahre, welchem bie Natur feine Gabe, fein Talent verjagt 
hatte. Er war die Geißel der Baiern, der Schreden ber 
Franzoſen und hatte mit feinen verachteten PBanduren 
6000 preußifche Gefangene gemacht. Er lebte ald Tyrann 
und Menjchenfeind und ftarb al8 ein heiliger Schurke.” 

Das Teſtament des Banduren-Oberften, eine in vielen 
Richtungen intereffante Urfunde, wollen wir mittheilen. 
Es lautet wörtlich fo: 


„Spielberg zu Brünn, 24. September 1749. 
Teſtament. 

Im Namen der allerheiligſten und ungetheilten Drei— 
faltigkeit, Gottes, Vaters, Sohnes und des Heiligen Geiſtes. 
Amen. 

Demnach ich nunmehro gar wohl erkenne, daß das 
Ende meines mühſamen Lebens nahe, die Stunde meines 
Todes aber ungewiß fei, aljo habe ich, nachdem ich meine 
arme fündige Seele mit ihrem Schöpfer vereinigt und 
zur Abreife aus dieſer Zeitlichkeit auf das möglichite zu- 
bereitet, auch von Allerhöchſtihrer Majeſtät meiner Aller- 
gnädigjten Yandesfürftin und Frau zur Verfaſſung eines 
Teſtaments die Allerhöchite Erlaubniß erhalten habe, 
anmit über das von meinen Eltern und auch von mir 
jelbft mit biutiger Arbeit und fteter Xebensgefahr erworbene 
Dermögen nachfolgend lettwillige Dispofitionen verfaffen 
und errichten lafjen und zwar: 

8. 1. Da Gott der Allmächtige meine arme Seele 
bon meinem jterblichen Leibe abfordern wird, befehle ich 
biefelbe in die gnadenreichen Hände Jeſu Chrifti, ihres 
Erlöfers, in die Fürbitte der allerheiligften Jungfrau und 
Mutter Gottes Maria und des allerheiligiten Geiftes. 
Mein todter Körper aber foll, wenn Ihro Majeſtät bie 


288 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Procejje 


Erlaubniß, um welche ich Allerhöchſtdieſelbe fußfällig bitte, 
allermildeſt ertheilen wird, zu ven W. W. F. F. Kapuzinern 
allhier in Brünn in ihrer eigenen Gruft, wo fie, die ver— 
ftorbenen Kapuziner, ruhen, ohne allem Gepränge, ganz 
fchlecht, wie eines andern armen Arreftanten Körper, bei— 
gefegt und zur Erbe beftattet, meine Leiche nur von ben 
allhier im Spielberg befindlichen armen Arreftanten be- 
gleitet und jedem derſelben gleich nach dem Leichenbegängniß 
ein Siebenzehner gereicht werden. Ingleichen 

8. 2. Sollen unter die übrigen Armen vorberhand 
200 Gulden vertheilt werben. 

$. 3. Sollen zum Trofte meiner armen Seele gleich 
nach meinem Hinjcheiden und weiters, jobald es möglich 
ist, 600 heilige Meffen gelefen werden, wozu ich 300 Gul- 
ben vermache. 

$. 4. Verordne ich allmöchentlich eine ewige Stift- 
mefje, welche bei ven W. W. F. F. Kapuzinern zu Brünn, 
woſelbſt ich begraben fein werde, alle Freitag von einem 
Priefter bemeldten Kapuzinerordens ewig geleſen und ge— 
halten werden joll, und follen von meinem Vermögen 
4000 Gulden ficher und unaufheblich auf Verzinfung ans 
gelegt werden, wovon ich die abfallenden Intereffen jedes— 
mal den Kapuzinern zu Brünn als ein Almojen für ihre 
Quchmacherei, bejonders aber ein Almofen von 150 Gul- 
ven gleich nach meinem Tode abzureichen vermache. 

8. 5. Vermache ich in die Feitungsfapelle allhier auf 
dem Spielberg zur Erbauung eines neuen Altars und 
jonften zur Ehre Gottes 3000 Gulden zu wenden. 

8. 6. Legire ich 4000 Gulden und verorbne, daß 
hiermit in einem anjtändigen, von meinem unten ernann- 
ten Teſtamentsexecutor auszufuchenden Eleinen Stäbtlein 
oder Marktfleden in dem Erzherzogthume Dejterreich ein 
Spitalhaus für 30 Perfonen erbauet oder erfaufet und 


bes Banduren-Oberften Franz Frhr. v.d. Trend, 289 


mit den Erfordernifjen eingerichtet werden foll. In dieſem 
Spital und Haufe follen bejtändig verarmte und bes 
Almoſens würdige und bedürftige Perſonen beiderlei Ge- 
ichlehts, nach von meinem Herrn ZTeftamentserecutor 
fünftig weiters zu machender Einrichtung und von mir 
mündlich erhaltenen Information verpflegt und unterhalten 
werben. Bor allem aber vorzüglich jollen diejenigen armen 
und bebürftigen Perjonen in dieſe meine Stiftung und 
Spital aufgenommen werben, welche fich legitimiren werben 
und fünnen, daß fie in der Stadt Cham oder im Sier- 
winfel oder an dem Fluß Iſer in Baiern, von dem lekten 
Kriege her, verunglüdt oder verarmt feiern. Die An- und 
Einnehmung diefer PBerjonen in das Spital foll jederzeit 
nach Gutbefinden meines verordneten Tejtamentserecutorg 
und wen er hierzu nach jeiner benennen wird, gefchehen. 
Zu ewiger Unterhaltung diejer meiner Stiftung aber ver- 
mache ich 30000 Gulden und bis dieſes Fundations- 
quantum unaufheblich ficher angelegt werben kann, joll 
der Betrag der hiervon abfallenden Intereſſen jährlich 
1500 Gulden von den Einfünften meiner Güter hiezu 
angewendet und gereichet werben. 

8. 7. Bermache ver Catharina Rotherin, einem armen 
Mägplein, ungefähr ein Jahr alt, um veswillen, weil ihr 
Vater in meinem jegigen Arrejt getreu und fleißig gedient 
und die Ungemac, meines Arreſtes mit mir übertragen 
hat, vergeftalten 4000 Gulden, daß die hievon abfallenden 
Intereffen ihrer Mutter infolange, als dieſes Mägplein 
von ihr chriftlich und gut erzogen wird, und fie ihr das 
Nothwendige erlernen läßt, abgereicht werden follen. Sollte 
aber mein ZTejtamentserecutor bei ihrer Mutter eine Ver- 
nachläffigung dieſes Kindes vermerken, fo mag berjelbe 
biefes auch anderwärts zur DVerforgung geben und bie 
abfallenden Intereffen dahin verabreichen. Wenn aber 

XXIV. 19 


290 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceife 


diefes Kind erwachien wird und dann eine anjtänbige 
Heirath oder geiftliche Standesveränderung mit Conjens 
meines Teftamentserecutord oder defjen, welchen dieſer an- 
jtatt feiner biezu verorbnen wird, überfömmt, jollen ihm, 
diefem Mägplein, auch das Kapital der 4000 Gulden 
verabfolget werben. 

$. 8. Vermache ich des Herrn Baron Kotulinsky, 
k. £. Oberftlieutenant und Vicecommandanten am Spiel- 
berg, feinen it lebenden fech8 Kindern, wie auch bem- 
jenigen, welches feine Frau Gemalin noch unter ihrem 
Herzen trägt, zu einem Angedenken jedem 200 Dufaten, 
zufammen 1400 Dufaten. 

8. 9. Vermache ich meinem beftellten Herren Doctor 
Perger für die mir getreulich und eifrig geleifteten Dienfte 
6000 Gulden zu einer befondern Erfenntlichkeit und jollen 
auch diefe gleich nach meinem Tode ihm abgeführt werben. 
Seinen zween Schreibern, weil fie in meinen Angelegen- 
beiten viele Miühewaltungen gehabt haben, vermache jedem 
300 Gulden, zufammen 600 Gulven, ebenfalls gleich zu 
bezahlen. 

$. 10. Vermache ich dem Herrn Anton Beyer, welt- 
lichen Priefter und VBeneficianten auf dem Spielberge, 
daß er meiner in feinem heiligen Meßopfer und Gebete 
eingevenf jei, 100 Dukaten. 

8. 11. Bermache ich dem Herrn Prodetzky, Platz— 
lieutnant am Spielberg, zu einem Andenken 100 Dufaten. 

8. 12. Vermache ich dem Jakob Nodinger, Wacht- 
meifter-Lieutnant am Spielberg, 200 Gulben. 

8. 13. Vermache ich dem Quirin Bonnes, Margue- 
ender am Spielberg, 600 Gulden, damit er mit den 
Seinigen meiner im Gebete eingevenf jet. 

8. 14. Vermache ich dem geweſenen Hautboiften auf 
dem Spielberge, Peter Proller, und feinem Cheweibe zu- 


des Banduren-Oberften Franz Frhru. v.d. Trend. 291 


jammen 600 Gulden. Item dem gewejenen Gefreiten auf 
dem Spielberge, Peter Gruſchka, 100 Gulpen. 

$. 15. Vermache ich meinem jegigen Bebienten Franz 
Ignitz 1000 Gulden und 

8. 16. Dem ehemalig bei mir in Dienften geftandenen 
Jungen, Franzel genannt, der ist in Wien das Weißgerber- 
handwerk lernt, 500 Gulden. 

8. 17. Bermache ich dem Franz Schmid, Profofen 
am Spielberge, 200 Gulden, und dem Franz Wejely, 
auch Profoſen allda, 100 Gulden. 

$. 18. Erfläre und verordne ich, daß ich oder meine 
Erben von dem Herrn Oberjten Niklas von Lopreti nichts 
zu fordern haben, ſondern es follen vemfelben, nach Ins 
halt der von mir in Händen habenven Obligation, die 
annoch rüdjtändigen 6000 Gulden baldmöglichſt aus meinen 
Mitteln bezahlt werden, wie denn auch dem Herrn Doctor 
Gerhauer die ihm rechtmäßig annoch fchuldigen 1300 Gul- 
den bezahlt werben follen. 

8. 19. Vermache ich dem Herrn Hoffammerrath 
von Kämpf zu einem Anvenfen mein fpanifches Rohr mit 
dem goldenen Knopfe, der ein Meerfräulein vorjtellt. 
Item dem Herrn Frauenberger, der E. k. Hoffriegsbuch- 
halterei Xeitofficier, vermache ich gleichfalls zu einem 
Andenken von meinem Gejchmude jo viel, als beiläufig 
600 Gulden an Wert ift. Und weil 

$. 20. Die Grundfefte eines jeden Teſtamentes bie 
Einjegung der Univerfalerben ift, aljo benenne und jete 
ich zu meinem Univerjalerben meines Vaters Bruder erft- 
geborenen Sohn, welcher vor zwei Jahren bei mir in 
Wien gewejen, jedoch dergeftalten und unter den aus- 
drüdlichen Bebingniffen, wenn diefer mein Better ben 
fatholijchen Glauben annehmen, fich in den öfterreichifchen 
Landen ſeßhaft machen und von einer fremden Potenz 

19* 


292 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Procejfe 


nicht Dienft nehmen over behalten wird. Im dieſem Falle 
jollen alle meine rechtmäßigen Paffivfchulden, wie auch 
bie in dieſem meinen Teſtamente verorbnieten Stiftungen 
und VBermächtniffe ohne die Falcidia oder andern Abzug 
richtig abgeführt werden. Und was über die Abführung 
berfelben annoch übrig bleibt, foll ver vierte Theil ihm, 
meinem vorbenannten Univerjalerben, zur freien Dispofition 
jein, die übrigen drei Viertheile der verbleibenden Ber- 
laſſenſchaft jollen ihm, meinem Erben, nur quoad usum- 
fructum zufommen, und ein ewiges Fidei commissum 
jein, folglich jedesmal auf des Erben und Beſitzers erit- 
geborenen Dejcendenten allein zum Genuß anheimfallen; 
doch daß jeder, fo ver Fatholifhen Religion nicht bei- 
gethan, oder in einer fremden Potenz Civil- oder Militär- 
bienften ſteht, dieſes Fidei commissums ganz unfähig, 
jein ſolle. Im Falle aber diefer mein Better unter vor— 
gejegten Bedingungen mein Erbe nicht fein wollte, oder 
nicht jein könnte, fo folle fein Bruder, der zweitgeborene 
Sohn meines Vatersbruders, mit feiner männlichen De— 
jcendenz, jedoch unter allen obigen Bebingniffen und 
Claufeln, mein Erbe und Fidei commissarius fein. Und 
wenn auch diefer mein Better obige Bedingniſſe nicht 
erfüllen, und auf obbejchriebene Art mein Erbe nicht fein 
wollte, jo ſubſtituire ich in ſolchem Falle zu meinem wahren 
Univerjalerben die oben gemachte Stiftung und Spital. 
Und follen ihnen beiden meinen DVettern und eingejetten 
eriten Erben von der ihnen gemachten Intimation meines 
und Dispofitivo zu Deliberirung nur ein Jahr ertheilet 
fein, nach deſſen Erfpirirung diefelben pro repudiantibus, 
meine gemachte Fundation aber als mein Erbe unabänder- 
lich gehalten werden follen. 

8. 21. See und habe ich in meinen beftellten Herrn 
Doctor Perger allenthalben mein vollfommenes und fejtes 


des BPanduren-Oberften Franz Frhrn. v. d. Trend. 293 


Vertrauen, und dahero verorbne ich denfelben zu meinem 
Zeftamentserecutor, mit dem Erfuchen, daß er, Herr Doctor 
Perger, nach feiner mir befannten Redlichkeit, Eifer und 
Fleiß dieſen meinen legten Willen in allen Punkten auf 
das genauejte auszurichten beforgt fein ſolle. 

8.22. Schließlich bitte ich Ihre k. k. Majeftät aller- 
unterthänigft, gehorfamft, fupfällig um Allerhöchſt Dero 
Schutz, Protection und Manutenirung diejes meines leßten 
Willens, und daß zur Habhaftwerbung der hierzu erforber- 
lichen Geldmittel meine Güter in Slawonien nad Thun- 
lichkeit zu verkaufen, bis dahin aber die Nutungen einzu- 
nehmen Allergnädigft geftattet werden möge. Wie ich denn 
auch beiden k. k. Majejtäten für die mir in meinem 
Leben großmüthig erwiejenen, überhäufigen Gnaben aller- 
unterthänigen, fußfälligen Danf erftatte, und in jener 
Welt meinen gnädigjten Gott, zu welchem ich zu gelangen 
hoffe, um ftete Aufnahme und Erhaltung der allerhöchiten 
faiferlihen Familie und des allerdurchlauchtigften Haufes 
von Defterreich unabläffig anruffen und bitten werde. 

Mit diefem will ich gegenwärtig mein ZTeftament im 
Namen Gottes, gleichwie ich ſolches angefangen, auch be- 
ichloffen haben. Zu wahrer Urkunde habe ich dieje bei 
meiner vollfommen gejunden Vernunft nach meinem ganzen 
freien Willen gemachte leßtliche Dispofition mir von ben 
bierunter Gezeugten, jedoch denjelben und ihren Erben 
ap Nachtheil, zur Mitfertigung alles Fleißes erbeten, 

Franz Iofeph Kotulinsky, Freiherr von Kollium, 
Dberjtlieutnant; Johann von Amadi, Oberftwacht 
meiſter und Platzmajor; H. von Wappenhofen, 
Hauptmann von Wolfenbuttel; Johann Konrad von 
Hagerer, Oberlieutnant von Wolfenbuttel; Mathias 
Kaſchi, Oberlieutnant von Wolfenbuttel; Karl Ema— 
nuel de Soldi, Oberlieutnant von Wolfenbuttel.“ 


294 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Brocefie 


Nach einer vidimirten und dem Teftamente angehängten 
Abſchrift ertheilte Trend feinem Freunde, dem Doctor 
PVerger, folgenden Auftrag: „Mein lieber Herr Doctor 
Perger! Ich bitte und beſchwöre Sie, daß, wenn ich ge— 
jtorben fein werde, Sie bei Ihro Majeftät Audienz nehmen 
und vorftellen jollen, daß ich mit demjenigen, was Gott 
und meine allergnädigfte Landesfürſtin über mich ver- 
hängt haben, gar wohl zufrieden fei, ja, ich erftatte der— 
jelben für dieſes gnädige Urtheil, gleichwie für alle übrigen, 
während meiner Dienftleiftung häufig erwiejenen k. k. 
Gnaden unterthänigften Dank; denn hierdurch bin ich zur 
Erfenntniß Gottes und Wirfung meines ewigen Heils 
wunderlich gezogen worben. Und ich habe durch meine 
vielen und fchweren wider Gott begangenen Sünden all 
dieſes und noch ein mehres verdient. Jedoch zur letzten 
Gnade bitte ich von Ihro Majeftät, meiner grogmüthigen 
Monarchin, daß, wenn bei Hochberofelben angebracht 
iworben fein fjollte, als ob ich gegen Hochverojelbe eine 
ZTreulofigfeit begangen, oder zu begehen im Sinne gehabt 
hätte, Hochdieſelben folches als eine pure, unwahrhafte 
Erfindung halten möchten. Denn ich rufe ven gefreuzigten 
Gott, der in die Herzen der Menjchheit fieht und vor 
deſſen Nichterfturhle ich gar bald auch von meinen Gedanken 
werde Nechenjichaft geben müffen, zum Zeugen an, daß 
mir weder in meinem Glücke zur Zeit meiner Dienft- 
feiftung, noch auch in meinem Elende während dem Arreſte 
ein treulofer Gedanfe gefommen fei; fondern ich habe mir 
vorgeſetzt, wenn ich meines Arreftes annoch erledigt werben, 
und von allen meinen Vermögen nichts als einen Degen 
übrig behalten follte, ich folchen niemals anders als zu 
Dienften des Erzhauſes Defterreich gebrauchen würde. 
Deswegen will ich auch, daß jeder aus meiner Familie 


des Banduren-OÖberften Franz Frhrn. v. d. Trend, 295 


und fünftigen Erben dieſes Willens, oder meiner Erb- 
ſchaft unwürdig jein ſollte.“ 


Die Publicirung des Teſtaments fand am 13. October 
1749 in Gegenwart des Doctor Perger ſtatt; allein die 
Durchführung der Beſtimmungen deſſelben ſtieß auf große 
Schwierigkeiten. Der Haupterbe Friedrich von der Trenck 
war ſehr unwillig und erklärte: „Mein Vetter hat ſeinen 
letzten Willen in hinterliſtiger Weiſe errichten laſſen. Er 
wußte, daß ich nach ſeinem Tode die Verlaſſenſchaft ſeines 
Vaters fordern und auch ſicher erhalten würde. Dieſer 
hatte bereits im Jahre 1723 die Herrſchaften Preſtowacz 
und Pleternitz in Slawonien aus ſeinem Vermögen erkauft, 
und noch bei ſeinen Lebzeiten brachte ſein Sohn die Herr— 
ſchaft Bafracz mit des Vaters Gelde an ſich. Dieſe drei 
Herrſchaften hatten daher direct überzugehen und der 
Pandur konnte hierüber ebenſo wenig verfügen, wie über 
die übrigen von ſeinem Vater ererbten Güter, Häuſer 
und Mobilien. 

„Alles Vermögen, welches er ſelbſt erworben hatte, 
wurde adminiſtrirt; über 100000 Gulden waren ſchon 
im Proceſſe verloren gegangen, und weitere 63 Proceſſe 
und Forderungen waren gegen ihn bei Gericht anhängig. 

„Nun wollte er aber auch Legate in der Höhe von 
80000 Gulden machen. Wenn ich daher nach Wien 
gekommen wäre, meine avitiſchen Güter von ſeinem Ver— 
mögen weggenommen und mich um die gegen ſeine Maſſe 
eingeleiteten Proceſſe nicht gekümmert hätte, ſo wäre für 
die Legatare nichts übriggeblieben. 

„Um dies zu vereiteln und mich noch nach feinem Ab⸗ 
leben unglücklich zu machen, errichtete er ein doloſes Tefta- 
ment, ernannte mich zu feinem Univerfalerben, that von 
dem Zeftamente feines Waters, welches ihm die Hände 


296 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceſſe 


gebunden hätte, gar feine Erwähnung, machte Legate und 
Stiftungen, welche beinahe die Summe von 80000 Gulden 
erreichten, und fuchte fowol durch feinen bußfertigen Tod 
wie auch die Aufnahme folgender Beftimmungen: 
1) daß ich die Fatholiiche Religion annehmen; 
2) feinem andern Herrn al8 dem Haufe Dejter- 
reich dienen follte; 3) daß die ganze Verlaffenichaft, 
ohne das väterliche Bermögen auszunehmen, zu 
einem Fideicommiß gemacht wurde, 
den Schuß der Monarchin für das Teftament zu erlangen. 

„Hieraus erwuchs mein ganzes Unglüd, und mich in 
daffelbe zu ftürzen, war feine eigentliche Abjicht; denn 
furz vor feinem Tode fagte er dem Baron Kotulinsfy, 
Dicecommandanten des Spielbergs: «Setzt jterbe ich mit 
dem Vergnügen, daß ich meinen Better noch nach meinem 
Zode hicaniren und unglüclich machen kann.»“ 

Zur Ordnung der Verlaſſenſchaft des Panduren hatte 
die Kaiferin Maria Therefia ein eigenes Handbillet er- 
lafjen, welches lautete: „Man foll des Trends legten 
Willen auf das allergenauefte vollziehen, die Abhandlung 
bejchleunigen, und den Erben in allen feinen Rechten 
Ihügen.” Die Angelegenheit wurde einer eigenen Come 
miſſion übertragen, bejtehend aus dem Fürften Trautjon 
als Präfidenten; vem Grafen Hardegg und den Hofräthen 
von Hüttner ind Schwandtner von ber Yandes- 
regierung ; den Hofräthen von Koller und Nagy von 
der ungarischen Kammer; ven Hofräthen von der Mard 
und Stadler vom Hoffriegsrath und Kriegscommiffariat ; 
dem Hofratd von Kämpf von der Rechnungsfammer; 
legterer hatte mit dem Actuar Frauenberg die Abmini- 
jtrationsrechnung zu führen. 

Im Jahre 1750 fam Friedrich von der Trend wegen 
der Erbſchaft nah Wien. Nach Prüfung der Sachlage 


des BPanduren-Oberften Franz Frhrn. v. d. Trend. 297 


beichloß er, die Erbichaft abzulehnen und auf das jpiel- 
berger Teſtament zu verzichten. Er verfchaffte fich eine 
bidimirte Copie des Teſtaments, welches der Vater des 
Panduren, der ihm Jahre 1743 als Commandant und 
Dberft zu Leutſchau in Ungarn geftorben war, in feiner 
Eigenihaft als ungarifcher Cavalier und Gutsbefiter 
errichtet hatte und worin er den Sohn feines Bruders 
jeinem eigenen Sohne jubjtituirte, fall8 diefer ohne männ- 
lihe Erben mit Tode abgehen jollte. Dieſes Tejtament 
war von dem Domkapitel der Zips verfaßt, von fieben 
Domberren unterjchrieben und von dem Balatin Grafen 
Palffy ratificirt. Mit diefem Documente erfchien Friedrich 
von ber Trend perjönlich vor dem Judicium Delegatum, 
welchem die Regulirung der Berlafjenichaft übertragen 
worden war, und erklärte, daß er den Nachlaß des Ban- 
buren nicht verlange, die Procefje und Legate nicht über- 
nehme, und nur das Vermögen feines Oheims, beftehend 
aus den drei Herrichaften Pafracz, Prejtowacz und Pleter- 
nis, Kapitalien und Mobilien auf Grund des vorgelegten 
Zejtamentes fordere. Bor allem wurde verlangt, daß er 
den Bedingungen des legten Willens zufolge zum Katholi- 
cismus übertrete. Dieſer Schritt machte ihm nicht viel 
Serupel, er jagte in feiner chnifchen Weile: „Es war ein- 
mal bejchloffen, ich ſollte römijch-Fatholifch werden. Was 
war zu thun? Ich war fchug- und hülflos. Durch ein 
Geſchenk erhielt ich von einem Pfaffen ein Atteftatum, daß 
ich mich befehrt und dem verfluchten Lutherthum abge- 
ihworen habe. Ich blieb aber, was ich war, und fonnte 
mich auch für Millionen nicht entjchließen, zu glauben, was 
der Bapft will, daß ich glauben fol. Für Geld und Fürften- 
gunft mache ich auch fein Heuchler- noch Gaukelſpiel.“ 
Friedrich von der Trend fam trotzdem nicht weiter. 
Das Judicium Delegatum erkannte zwar feine Ansprüche 


298 Ein Beitrag zu dem Leben und bem Proceffe 


auf die drei jlawonifchen Herrichaften als vollfommen 
gerechtfertigt an, und referirte auch in diefem Sinne an 
die Raiferin Maria Thereſia; aber die Monarchin fchrieb 
eigenhändig zurüd: ‚Der Kammerpräfident Graf Graffal- 
fovich nimmt e8 auf fein Gewiſſen, daß dem Trend bie 
Güter in Slawonien nicht in natura gebühren. Mean 
jolle ihm alfo die Summam emtitiam und inscriptitiam 
baar herauszahlen, auch alle erweisliche Meliorationes gut 
machen, und die Güter bleiben der Kammer.’ 

Mit diefer Faiferlichen Entjcheivung war die Angelegen- 
heit beendet und alle Hoffnung Friedrich’8 von der Trend 
zu Grabe getragen. Die ihm zugewiejene Erbichaft belief 
fih auf 76000 Gulden, womit er die Herrichaft Zwern- 
bach in Defterreich faufte. 

Um Friedrich von der Trend einigermaßen zu ent- 
ihädigen, ernannte ihn die Kaiſerin um die Mitte des 
Sahres 1752 zum überzähligen Rittmeister im Regimente. 
Nachdem er auf einer Reife in preußiiche Gefangenjchaft 
gerathen war und auf Befehl Friedrich's II. in Magdeburg 
eine vieljährige harte Gefangenfchaft auszuftehen hatte, 
verjchaffte ihm im Jahre 1763 die dfterreichiiche Regierung 
nicht nur die Freiheit, jondern überhäufte ihn auch mit 
Wohlthaten. Der unruhige Kopf endete fein Dafein im 
Jahre 1794 in Paris, wo ihn Robespierre als einen 
angeblichen Gejchäftsträger fremder Mächte guillotiniren 
ließ. 

Aber nicht blos dem Univerjalerben wurden die an— 
geführten Schwierigfeiten in den Weg gelegt, auch bie 
Auszahlung der Heinen Legate erfolgte nicht jogleih. Wie 
erwähnt, hatte der Panduren-Oberft den brünner Kapu— 
zinern ein Kapital von A000 Gulden zur Anfchaffung 
von Wolle für Ordenskleider und zur Anfertigung der 
Kleider gejchenkt; allein diefe Schenkung wurde vom Fiscus 


des Banduren-Oberften Franz Frhrn.v.d. Trend. 299 


angefochten, und erſt durch eine Entſchließung der Kaiferin 
Maria Therefia vom 8. Februar 1753 der Bezug ber 
jährlichen Intereffen von 200 Gulden erlaubt. Auch die 
Widmung eines Kapitals von 3000 Gulden zum Bau 
eines Altars in der fpielberger Kapelle wurde angefochten, 
und erjt im Jahre 1753 befahl die Kaiferin Maria The- 
refia, daß von biefem Kapitale 500 Gulden nebit brei- 
jährigen Intereffen auf den Altar, der Reſt aber auf 
eine Mepitiftung für ven Verftorbenen veriwendet werben 
follten. 

Unter den hinterlafjenen Aufzeichnungen des Panduren— 
Oberſten fand man die Grabjchrift, welche er wenige Tage 
vor feinem Ende für fich jelbft gemacht hatte. Sie lautet: 


Hier unter diefem Stein 

Liegt Trendens Aſche und Bein 
Begraben und bebedt 

Seynd einige, die dies leſen, 
Der euer Freund geweſen 

Hat feinen Fall ermwegt. 

Die Kunft, recht treu zu fterben 
Rumb und Ehr zu erwerben 
So ſage nur, der da will, 
Daß Trendens Aiche und Bein 
Ruht unter diefem Stein 

Ganz milde fanft und ftill. 


Stehet ftill, ihr Sterbliche, bier ruhet euersgleichen, 

Der mit euch allen ift aus einem Zeug gemacht; 

Eucd geht es ebenfo, den Armen wie den Reichen, 

Dieweil ihr felbft die Straf mit auf die Welt gebradt. 

Lift, Neid, Berleumbung, Haß und Begierd zu meinen Sachen 
Hat diefes Grabimahl mi in Elend ftiften machen, 

Doch könnt der Ajchen mein dies Recht noch mwiberfahren, 
Daß e8 wie Sofrates feine Unfchuld derfft verwahren; 

Ah, derfft nah meinem Tod nur meine Unſchuld jagen: 
„Hier liegt der treue Trend, wie Sofrates, begraben.“ 


300 Der Banduren-Oberfi Franz Frhr. v.d. Trend, 


So würd' mein’ Kaiferin aus meinem Tod einjehen, 
Daß Unrecht, fo mir ift von meinen Feinden g'ſchehen. 
Da liegt, der reden muß, was er zubor gemwefen; 

Du aber, Wanderer, ſäumb' nicht an dieſer Stell, 
Hüt' dich vor Menſchen Lift und bet’ für meine Seel. 


Der Kapuziner-Convent machte zu biefer Grabjchrift 
folgenden Zufag: 


Hoc sibi in fine relicto monumento obiit 
in suis tristissimis miseriis Fran. Seraph. 
L. B. de la Trenk 
Deus det illi suam sanctam pacem 

Et lux perpetua luceat ei. 


Ein Beitrag zu den Proceſſen wider die 
Carbonari in Italien. 


1820 — 1858. 


Nach dem Sturze des Kaifers Napoleon I. wurde auch 
in Italien die Reftauration durchgeführt. Der greife Papit 
Pius VII. fehrte nah Rom zurüd und ftellte das geijt- 
liche Regiment wieder her. König Ferdinand IV. 309 
unter dem Schuße öfterreichifcher Truppen in Neapel ein, 
und der alte König von Sardinien, Victor Emanuel, ein 
geiftig befchränfter Mann, verließ die Inſel Sarbinien, 
auf welche er fich zurückgezogen hatte, und fette in Pie- 
mont und Savoyhen, ähnlich wie der Kurfürft von Heſſen, 
alles wieder auf den alten Fuß, als wenn feine Regierung 
niemal® unterbrochen worden wäre. 

Schon früher hatten fi namentlich im Königreich 
beider Sicilien geheime Gefellfchaften gebildet, die fich 
Carbonari, Köhler, nannten und das Land vom Joche 
der Franzofen unter dem König Murat befreien wollten. 
Sie waren ftraff organifirt, befaßen Statuten, verjchtedene 
Grade und einflußreiche Leute, namentlich aber niebere 
Geiftliche und Soldaten drängten fich zur Mitgliepfchaft. 

Nach der Rejtauration wurde das Programm geändert. 
Die Sarbonari waren Gegner der reactionären Regierung. 


302 Ein Beitrag zu ben Proceſſen 


Die Einführung freier conftitutioneller Formen, die Auf- 
bebung der Privilegien des Adels und der hohen Geiftlich- 
fett und in jpäterer Zeit die Herftellung eines einigen 
Italiens waren die Ziele, die fie erreichen wollten. 

Im Jahre 1820 erhob fich in Spanien das Volk und 
zwang den abjoluten König, die Conftitution vom Jahre 
1812 zu proclamiren und damit in die Reihe der conjti- 
tutionellen Staaten wieder einzutreten. Auch dort war 
ein geheimer politiicher Bund, der fich die Freimaurer 
nannte, die treibende Kraft gewejen. Ihr Erfolg jpornte 
die Carbonari in Italien zur Nachfolge. Ein Lieutenant 
rief am 1. Juni 1820 an der Spike einer Schwadron 
die „Eonjtitution” aus. Der Brand verbreitete fich durch 
das ganze Land; ber geängjtigte König, der nicht einmal 
feinen Generafen trauen fonnte, gab den Miniftern den 
Abſchied, erfette fie durch freifinnige Männer und ver- 
fündigte die ſpaniſche Conftitution von 1812 als das 
Grundgejeß des Landes. Dieſe Verfaſſung paßte freilich 
nicht für die Zuftände und das Volk Neapels, aber fie 
war damals das Panier, um welches ſich die Carbonari 
jammelten. Die Armee und das Volk und auch der Hof 
nahmen die Tarben des bis dahin jtreng verbotenen 
Geheimbundes: fchwarz, roſa und himmelblau, an, und am 
1. Detober wurde vom Könige das Carbonari-Parlament 
in Neapel feierlich eröffnet. 

Es ift befannt, daß auf Metternich’8 Betrieb die Grof- 
mächte Dejterreih, Preußen und Rußland auf den Eon- 
greffen in Troppau und Laibach befchloffen, die Revolution 
in Neapel mit Gewalt zu unterbrüden. General Frimont 
marjchirte mit 60000 Mann Dejterreicher über die Grenze 
des Königreichd. Die Neapolitaner leifteten faum Wider- 
ftand, die Truppen liefen faft regelmäßig auseinander, 
ehe es zum Kampfe kam, die Häupter der Carbonari 


wider die Carbonari in Italien. 303 


ergriffen die Flucht; am 24. März 1821 zog der General 
in Neapel ein, und nun begann eine maßloſe Reaction. 
„Das Volk wurde entwaffnet, jeder Verdächtige verhaftet. 
Hinrichtungen und Güterconfiscationen richteten graujame 
Berheerungen in den wohlhabenden und gebildeten Klaffen 
an, Jetzt holte König Ferdinand die Rache nach, die er 
bei feiner erften Wievereinjegung in Neapel geſpart hatte“, 
berichtet ein zuverläffiger conſervativer Gejchichtichreiber. 
AS Defterreich feine Streitkräfte aus der Lombardei 
nach Neapel geſchickt Hatte, brach in Piemont eine mili- 
täriſche Revolution aus. Auch hier waren die Carbonari 
thätig gewefen. Ein Oberſt brachte am 9. März 1821 
in der Feſtung Aleffandria auf die ſpaniſche Eonftitution 
von 1812 ein Hoch aus, und Soldaten und Volk fielen 
ihm zu. Der König trat die Regierung an feinen Bruder 
Karl Felix ab, der in Modena lebte, und die Regentjchaft 
an einen entfernten Verwandten, Karl Albert, Prinz von 
Carignan. Diefer erjchten mit der breifarbigen Fahne 
auf dem Balfon des Schlofjes in Zurin, war aber vor- 
fichtig genug, fich nicht weiter mit der Revolution zu 
engagiren, ertheilte vielmehr einer Deputation, die zu dem 
neuen König Karl Felix gefchidt wurde, den Auftrag, 
dort zu melden, daß er die Bewegung entſchieden mis- 
billige. Als der Pöbel den öſterreichiſchen Gejandten aus 
der Stadt jagte, verließ der Prinz von Garignan das 
Land. Die Armee fpaltete fih, ein Theil derſelben trat 
auf die Seite der Defterreicher, und fo hatte General Bubna 
leichtes Spiel. Als er mit einem anfehnlichen Zruppen- 
corps heranzog, hatten die Rebellen nicht ven Muth, eine 
Schlacht anzunehmen. Sie Löften fih auf und Zurin 
wurde von dem General ohne Widerſtand befegt. Der 
König wollte nichts mehr wiffen von der Regierung, fein 
Bruder Karl Felix, ebenfalls ein ſchwacher, Finderlofer 


304 Ein Beitrag zu den Procejjen 


Greis, ergriff die Zügel des Regiments und behielt bis 
zum Jahre 1823 eine öfterreichifche Befatung im Lande. 

In der Lombardei hatten fi) die Carbonari troß der 
wachſamen dfterreichifchen Polizei ebenfall® ausgebreitet, 
und auch ein zweiter Geheimbund, die Adelfia, der aus 
Tranfreih ftanmte und den Königemorb prebigte, juchte 
Anhänger und Boden zu gewinnen. Schon im Jahre 1819 
waren verſchiedene Perfonen wegen hochverrätheriicher 
Umtriebe verhaftet, proceffirt und zum Tode verurtheilt 
worden. Aber der Kaiſer von Defterreich ließ Gnade 
walten und verwandelte die Todesftrafe in mehr oder 
minder lange Kerferitrafen. 

Am 29. Auguft 1820 erfchien auf Faiferlichen Befehl 
eine Bekanntmachung, in welcher auf die Zwede ver ge— 
heimen Gejellichaften hingewiejen und vor der Mitglied- 
ſchaft ernftlich gewarnt wurde. Es war umjonft, noch in 
bemfelben Jahre wurde eine Verſchwörung in Mailand 
entdeckt, an deren Spite ber Graf Luigi Porro Lamber— 
tenghi ftand. Es gelang ihm, fich der Verhaftung durch 
rechtzeitige Flucht zu entziehen, aber er wurde in contu- 
maciam fchuldig gejprochen und mit der ZTobesitrafe 
belegt. Seine Genofjen, etiva dreißig an der Zahl, wur- 
den theils zum Tode, theils zu Arreititrafen verurtheilt. 
Der Kaifer fette auch in diefem Falle an die Stelle ver 
Todesſtrafe jchweren Kerker in der Dauer von ſechs bis 
zu zwanzig Sahren. 

Trotz dieſer abjchredenden Erempel bejtanden die 
Geheimbünde in der Lombardei weiter, die Zahl ihrer 
Mitglieder vermehrte fich jogar, namentlich dic‘ «mont 
organifirte ich fejter und befjer al8 vorher. S zrenze 
den Namen „Gejellichaft der erhabenen, vollkommenen 
Meiſter“ (Societa de sublimi maestri perfetti) an. 
Die oberfte Leitung des Bundes hatte ihren Sit in Genf 





wider die Carbonari in Stalien. 305 


und nannte ſich das „Große Firmament“; unter ihr ftanden 
die „Synoden“ und die „Kirchen“, die Vereinigungen des 
Bundes in einzelnen Städten und Provinzen Italiens. 

Das anerfannte Haupt der Carbonari in ber Lom— 
bardei, die nicht iventifch waren mit den Angehörigen ver 
Adelfia, aber doch in gleicher Weiſe wie dieſe eine Revo— 
lution herbeiführen wollten, war im Jahre 1821 der Graf 
Confalonieri. 

Schon etliche Jahre zuvor hatte die Umſturzpartei in 
Mailand einen revolutionären Straßentumult angejtiftet, 
defjen Opfer der damalige Finanzminijter Prina wurde. 
Der Graf hatte jeine Hand dabei im Spiele, man maß 
ihm die Schuld an dem vergoffenen Blute bei. Er fand 
ſich deshalb veranlaßt, eine längere Reiſe anzutreten. Er 
begab fich nach England und Franfreich, befreundete fich 
dort mit den Führern der Oppofition und fehrte erſt 
nach einem Jahre nach Mailand zurüd. Die Erinnerung 
an die Ermordung des Minifters Prina war indeß noch 
immer lebendig, man machte ihn von neuem bafür ver- 
antwortlid. Er veröffentlichte nun eine im Ausland 
gedruckte Schrift, in welcher er die Theilnahme an jenem 
Verbrechen entjchieden zurückwies, aber feine politischen 
Grundfäge ziemlich offen ausſprach. Er befannte, daß 
bie Unabhängigkeit Italiens das höchite Ziel feiner Wünſche, 
und rühmte fich, daß er niemals ein ergebener Diener 
ber Regierung geweſen jei und auch in Zukunft feine 
Unabhängigkeit fich bewahren werde. Sein Haus wurde 
ber Mittelpunkt der unzufrienenen Elemente, und er jelbit 

corp8 . rbindungen an mit den gleichgefinnten Männern 
Schlai : heilen Italiens. Im November 1820 kam er 

im ernem piemontefiichen Freunde in VBigerano zufammen, 

um zu bejprechen, wie man die Herrichaft Defterreiche 

brechen fönne, im December deſſelben Jahres reijte er 
XXIV. 20 


306 Ein Beitrag zu den PBrocefjen 


nach Florenz zu gleichem Zwecke. Es wurbe ausgemacht, 
daß der Marſch des üfterreichifchen Heeres gegen bie 
Rebellen in Neapel das Signal fein follte zu ber allge- 
meinen Revolution in Italien. 

Im Januar 1821 erhielt er eine Einladung nad Zurin, 
fonnte derſelben jedoch Feine Folge geben, weil er krank 
wurde. Er fchidte al8 Stellvertreter feinen vertrauten 
Freund Joſeph Pecchio dorthin und diefer berichtete ihm 
nah jeiner Rückkehr: Alle Parteigenoffen in Piemont 
hätten fich für die ſpaniſche Conftitution ausgejprochen. 
Die geheimen Gefellichaften breiteten fich immer weiter 
aus und ftänden untereinander in der engjten Verbindung. 
Die Truppen in Piemont würden zur feſtgeſetzten Zeit 
ſich empören und den alten König zwingen, bie ſpaniſche 
Eonftitution anzunehmen. Für den Fall feiner Weigerung 
jeten bereit Vorkehrungen getroffen. Gleich nach dem 
Ausbruch der Revolution folle ein bedeutendes Truppen— 
corp8 in die Rombarbei geworfen werden. In Norbitalien 
müffe aus Piemont und ven öfterreichiichen Provinzen 
ein neuer, nach dem Mufter Spaniens conjtitutioneller 
Staat gebildet werben. Pecchio überbrachte die Statuten 
des Bundes und den in lateinifcher Sprache abgefaßten 
Aufruf, durch welchen die in der Lombardei ftehenden 
ungarifhen Zruppen für die DVerjchworenen gewonnen 
werben follten. 

Der Graf EConfalonieri berieth nun eifrig mit jeinen 
Genofjen in Mailand. Er händigte einem gewifjen Phi- 
lipp Ugoni 4000 Livre ein, um mit dieſem Gelbe an 
einem noch zu beftimmenben Termine einen Volksaufſtand 
in Mailand in Scene zu fegen. Einem thätigen piemon- 
tefifchen Emifjfar, welcher zu ihm Fam, gab er genauen 
Aufihluß darüber, was in der Lombardei zu Gunften ver 
gemeinjchaftlichen Sache gejchehen fei und noch gejchehen 


wider die Carbonari in Italien. 307 


werde. Einem Abgejandten aus Parma ertheilte er In— 
ftructionen, wie man fi dort verhalten folle. Er be- 
theiligte fich an einem Complot gegen ben commandiren- 
den öſterreichiſchen General in der Lombardei, den man 
ermorden wollte, weil man feine Tapferfeit und Energie 
fürchtete. 

Mit jeinem Freunde Pecchio, der mit Geld verjehen 
im März 1821 wieder nach Piemont gefchieft wurde, und 
mit dem Marcheje Beningno Bofft aus Turin unter: 
hielt Confalonieri eine regelmäßige Eorrefpondenz, um in 
allen Stüden Hand in Hand zu arbeiten. 

Der jehon genannte Philipp Ugoni ging nach Brescia, 
um daſelbſt einen Aufftand vorzubereiten, und fehrte im 
März 1821 mit feinem Freunde Tonelli nah Mailand 
zurüd. Beide referirten über den Stand der Dinge und 
empfingen mündlich von Confalonieri Anweifungen wegen 
des Vorgehens in Brescia. Er entwidelte ihnen ven 
Plan und die Organifation der Italienischen Conföperation, 
las ihnen eine Schrift darüber vor und forderte fie auf, 
ſich hiernach zu richten. 

Confalonieri war e8, der neue Mitglieder in das 
Complot aufnahm. Er traf Vorbereitungen zur Organi- 
firung einer Nationalgarde und forgte für genügende 
Waffen. Ya e8 wurde fogar die Einführung einer pro- 
viforiichen Regierung berathen und feftgejegt: ‘Die Junta 
in Mailand follte eine Hülfsjunta für diejenige fein, welche 
mit dem Ausbruch der Revolution in Turin in das Leben 
treten würde, und Pecchio follte beiden Junten angehören, 
damit ihre Wirkſamkeit eine einheitliche bleibe. Die oberfte 
Behörde wurde in fieben Sectionen eingetheilt: für bie 
auswärtigen Angelegenheiten, das Innere, den Krieg, bie 
Suftiz und Gefetgebung, die Finanzen, die öffentliche 
Sicherheit und ven Cultus. Man wählte die zur Xeitung 

20* 


308 Ein Beitrag zu ben Procefjen 


diefer Sectionen bejtimmten Perſonen und die Secretäre. 
Der Vorfig in diefer Junta wurde ohne Widerfpruch dem 
Grafen Confalonieri eingeräumt. Im Augenblide des 
Einrüdens piemontefiiher Truppen jollte ſich die Junta 
der höchiten Gewalt bemächtigen und ganz Italien revo— 
Iutioniren. 

Die Ereigniffe gingen zu langjam für Confaloniert’s 
Wünſche. Er verabrevete deshalb mit dem Marcheje 
Pallapvicini, einem Mitverfchworenen, daß dieſer fich 
nach) Piemont begeben und vafelbft den Ausbruch der 
Bewegung bejchleunigen folle. Bet näherer Ueberlegung 
wechjelte jedoch Confalonieri feine Meinung. Er über: 
zeugte fich davon, daß eine mit jchwachen Kräften unter- 
nommene Expedition die Pläne gänzlich vereiteln mußte. 
Er warnte daher bald nach der Abreiſe Pallavicini's 
Ichriftlich vor Uebereilung und rieth, da bie öſterreichiſchen 
Truppen foeben zufanmengezogen würden, mit einer jtarfen 
Armee in der Lombardei aufzutreten. Er werde für gute 
Aufnahme und Verpflegung Sorge tragen. 

Auch mit den italienischen Flüchtlingen in Genf und 
in Sranfreih knüpfte Confalonieri Beziehungen an, — 
fur; er war unermüdlich thätig, um den Boden zu unter- 
wühlen, und al® er von dem Ausbruch der Revolution 
in Piemont Runde erhielt, traf er mit dem verabjchiebeten 
General de Meefter, der ſchon früher einmal in eine 
Verſchwörung verwidelt gewejen, aber vom Kaifer be- 
gnadigt worden war, alle Veranjtaltungen zu einem Auf- 
Itande in Mailand. 

Allein die Polizei hatte jchon feit geraumer Zeit ein 
wachſames Auge auf ihn und feine Partei gerichtet. Sekt 
ihritt fie ein. Der Graf Confalonieri, ver Marcheje 
Pallavicini und viele Genoffen wurden gefänglich ein— 


wider die Carbonari in Italien. 309 


gezogen. Der Exrgeneral de Meeſter, Pecchio und andere 
hatten fich durch eilige Flucht gerettet. 

Einige Zeit nachher machte die Polizei noch einen 
wichtigen Bang. Alerander Philipp Andryane von 
Paris diente in den Hundert Tagen ald Adjutant des 
Generals Merlin, welcher ein Schwager feines Bruders 
war. Nachdem die Bourbonen ven Thron beftiegen hatten, 
fehrte er in das Privatleben zurüd, Er gerieth in 
Schulden, follte deshalb in Arreſt gejett werben, verließ 
Paris und begab fih nach Genf. Hier lernte er den 
toscanischen Flüchtling Buonarotti fennen. Sie jchloffen 
Freundſchaft. Buonarotti unterrichtete den Franzofen in 
Mufif und italienischer Sprache und warb ihn an für 
die revolutionäre Bartet. 

Andryane hielt fich drei Jahre in Genf und der Um— 
gegend auf, machte mitunter geheimnißvolle Reifen nach 
Paris, die politiiche Zwecke verfolgten, und ging dann nach 
Stalien, um auch hier ven Boden zu unterwühlen. Er 
hatte Inftructionen, welche ihm vorjchrieben, welche Orte 
er befuchen jollte, und Briefe an bejtimmte Perfonen, mit 
denen er jich in Verbindung zu ſetzen hatte. In Bellin- 
zona und in Lugano hatte er Beiprechungen mit bort 
lebenden piemontefifchen Flüchtlingen, und auch in Mai— 
fand verhandelte er mit etlichen gleichgefinnten Männern. 
Die dortige Polizei fand fich veranlaßt, jeine Papiere zu 
unterfuchen, und ftellte dadurch feft, daß er ein Emiffar 
des unter dem Namen „Erhabene, vollflommene Meiſter“ 
befannten Geheimbundes war. Das Große Firmament in 
Genf Hatte ihn beauftragt, den Bund in Italien auszu- 
breiten, dajelbjt neue „Kirchen“ und neue „Synoden“ zu 
ftiften und diefe an das Centrum in Genf anzufchließen. 
Don dort jollten fie dann weitere Befehle erhalten, um 
neue Ummwälzungen in Italien und den Sturz ber Re— 


310 Ein Beitrag zu den Brocejjen 


gierungen zu erreihen. Man hatte ihm den Grad eines 
„außerordentlichen Diafons‘ beigelegt, um ihn mit einer 
größern Autorität anszurüften. Aus den in Beichlag 
genommenen Papieren ergab fich, daß die Mitglieder des 
Bundes die Religion abſchwören und fich eiblich ver- 
pflichten mußten, alle phyſiſchen, intellectuellen und pecu— 
niären Kräfte der Verbreitung des Bundes zu widmen, 
und den bern pünftlichen und blinden Gehorſam zu 
leijten. 

In den höhern Graden feierte man vier Feſte, die fich 
an Gevenktage der franzöfiihen Revolution anjchloffen, 
und in dem Programm hieß e8: Dem Volke ſei Unwillen 
und Haß gegen die Fürften und die Geiftlichfeit einzu- 
flögen, e8 müſſe zur beftigften Erbitterung gegen die 
Geiftlichfeit gereizt werden. Beim Ausbruch einer Revo- 
Iution ſolle man das Volk plündern und feine Hände in 
das Blut der Adeligen und der Priefter tauchen laſſen, 
damit e8 dadurch feit an die revolutionäre Partei gebunden 
werde. Die Errichtung der conjtitutionellen Monarchie 
jei nicht der wahre, fondern nur der nächte Zwed, bie 
gänzliche Zerjtörung aller Monarchien und die Einführung 
der Republik jei das eigentliche Ziel. 

Die Unterjuchung gegen den Grafen Eonfalonieri aus 
Mailand und Genofjen und gegen Mlerander Philipp 
Andryane aus Paris wurden getrennt geführt. Eine 
Specialcommiffion in Mailand war damit betraut. 

Am 27. Auguft und am 9. October 1827 fällte der 
Iombarbijch-venetianijche Senat des oberſten Gerichtshofs 
in Verona das Urtheil: Friedrih Graf Eonfalonieri, 
Peter Borjieri, Georg Marcheſe Pallapicini, 
Cajetan Eaftillia, Franz Freiherr von Areſe, 
ſämmtlich aus Mailand, Andreas Tonelli aus Coccaglio 
in der Provinz Brescia und Alerander Philipp An- 


wider die Carbonari in Italien, 311 


dryane aus Paris wurden des Hochverraths für ſchuldig 
erflärt und zum Tode durch den Strang verurtheilt, gegen 
neun Angeklagte, unter ihnen Joſeph Pechio und Jakob 
Philipp de Meefter aus Mailand, die flüchtig geworben 
waren, erfannte das Gericht in contumaciam ebenfalls 
auf Todesſtrafe, acht Angeklagte wurden von der Inftanz 
entbunden, aber ſolidariſch als haftpflichtig für den Erjak 
der Proceffoften erklärt, ein Angeflagter wurbe frei- 
geiprochen. 

Der Kaiſer befahl kraft höchſter Entjchliegungen vom 
19. December 1823 und 8. Januar 1824, e8 follten die 
Todesſtrafen wider die in Haft befinplichen Inculpaten 
nicht vollſtreckt, ſondern in fchwere, auf dem Spielberge 
bei Brünn zu verbüßende Kerferftrafen verwandelt werben. 
Die Kerferjtrafe ward für Confalonieri und Andryane auf 
Lebengzeit, für Borfieri, Pallavicini und Caſtillia auf 20, 
für Zonelli auf 10, für Areſe auf 6 Jahre feſtgeſetzt. 

Der Gnabenact wurde fo motivirt: „Wenn Seine 
Kaiferlich Königliche Apoftoliiche Meajeftät ſich bewogen 
gefunden haben, die gegen überwiejene DBerbrecher aus- 
gefprochene, nur allzu gerechten Urtheile ſelbſt hinfichtlich 
jener Verurtheilten, welche die Strafe am meijten ver- 
dient hatten, zu mildern, jo war dieſer Entſchluß des 
Monarchen auf das Gefühl feiner eigenen Kraft und 
der Feſtigkeit des Staatsgebäudes gegründet. Bei ber 
Treue der Völker, welche fie gerade an den Orten, wo 
die Verſchwörung wirken follte, in der entjchiedenften 
Weije an den Tag gelegt hatten, konnte das Unternehmen 
nur mit dem Verderben ver Schuldigen enden; unerjchütter- 
ih find aber die Regierungen, welche auf folcher Gewähr: 
leiftung ruhen.” 

Der Graf Eonfalonieri und feine ſechs Leidensgefährten 
wurden auf den Spielberg gebracht und daſelbſt eingeferfert. 


312 Ein Beitrag zu den Procefjen 


Wir fennen bereits die Gefängniffe aus dem Proceffe wider 
den Freiherrn von der Trend, aber e8 ift doch von Inter⸗ 
effe, das Urtheil eines Franzofens Namens Remacle zu 
hören, welcher im Auftrage feiner Regierung im Jahre 
1838 den Spielberg befuchte. Er berichtet: „Wir betraten 
nicht ohne Erjchütterung die Zellen der Gefangenen. Die 
Heinfte hat nur 4 Fuß 50 Zoll in der Breite und 6 Fuß 
50 Zoll in der Tiefe. Ein Feldbett mit einem dünnen 
Strohfad und einer wollenen Dede für jeden Gefangenen 
nimmt einen großen Theil des Raumes ein. Das Fenſter 
beginnt 6 Fuß über dem Boden und hat eine Deffnung 
von 2 Fuß. Alle Kerfer werden fieben Monate im Jahre 
mit Defen geheizt. Die Kerfer im Erdgeſchoß haben bie 
bejondere Eigenfchaft, daß eine eiferne Stange mit einer 
daran hängenden 3 Fuß langen Kette an der Mauer 
befeftigt if. Bor dem Erlaß ver Ffaiferlichen Verord— 
nung, welche ven jchwerjten Kerfergrad abjchaffte, wurden 
die zu biefer Strafe verurtheilten Unglüclichen am Abend 
mittel ihres eifernen Gürtels an dieſe Kette gejchloffen, 
ſodaß fie ſich kaum auf ihrem harten Lager ausitreden 
fonnten, Wenn die Marter ihnen ein ftarfe8 Gefchrei 
auspreßte, ftopfte man ihnen eine fogenannte Mund— 
birne, d. h. eine burchlächerte, mit Pfeffer angefüllte 
eiferne Hohlfugel in den Mund, welche ihre Pein auf 
das äußerſte fteigerte. Es befanden fich im Jahre 1838 
auf dem Spielberge noch zwei Gefangene, welche ben 
ichwerjten Kerfer ausgeftanden hatten: einer 18, ber andere 
20 Sahre lang. Der erftere war ftarf und gefund, ver 
zweite dagegen an allen Gliedern lahm. Setzt ift die Strafe 
diefelbe für alle Gefangenen, nämlich der fchwere Kerfer, 
die Dauer aber iſt verjchieven. 

„Die Sträflinge müffen im Sommer um Y,5 Uhr, im 
Winter um 6 Uhr aufftehen. Nach dem Gebet wird zur 


wider die Carbonari in Italien. 313 


Unterfuchung ihrer Feſſeln gejchritten, hernach werben fie 
in die Werfftätten geführt, dort wird jeder einzelne vor 
Beginn der Arbeit noch einmal unterfucht. Der Gefangene 
erhält jeden Tag 1'/, Pfund Brot. Um halb 11 Uhr wird 
bie Mittagsmahlzeit gehalten, fie bejteht aus 2 Seibeln 
Suppe und 2 Seideln Gemüfe fir den Mann. Nach 
ber Mahlzeit ruhen fich die Leute in den Höfen eine Stunde 
lang aus, Die Arbeit wird jedem nach feinen Kräften 
zugemefjen. Wer viefelbe nicht vollbringt, wird beitraft. 
Am Sonntag ruht die Arbeit, aber auch die Erholung in 
den Höfen fällt weg. Nach dem Gottesbienfte, an welchem 
alle teilzunehmen haben, bleiben die Gefangenen müßig 
in ihren Zellen. 

„Die Aufficht ift jehr ftreng. Diejenigen, welche fich 
gut führen und das Vertrauen der Beamten erivorben, 
werden Zimmerväter und Zimmermütter. Obgleich mehr 
als zwanzig jugendliche Gefangene, die das 20. Xebens- 
jahr noch nicht erreicht haben, vorhanden find, fehlt es 
an einer Schule. 

„Der Spielberg ift jetzt fein ftrengeres Gefängniß für 
jchwere Verbrecher als andere gleichartige Anftalten. Für 
Leute von Bildung, für politische Verbrecher, für einen 
Silvio Pellico und einen Maroncelli freilich ift dieſer 
Aufenthalt ſchrecklich. Unterhalb der Kerker, die jekt 
benußt werben, gibt e8 noch eine zweite und unter dieſer 
noch eine dritte Reihe, an welche man nicht ohne Grauen 
benfen fan. Ein unterirdifcher Gang führt zu der zweiten 
Reihe, je vier Zellen, von denen jede Raum hat für 
15 bis 20 Mann. Bor etwa fünf Jahren fchloß man 
hier noch Räuber und Mörder ein, jet werben fie nur 
noch jelten auf kurze Zeit belegt, als außerordentliche 
Strafe für Vergehen gegen die Hausordnung. Früher 
haben mehreremale Sträflinge ſich in die Tiefe hinein- 


314 Ein Beitrag zu den Proceffen 


zuwühlen und zu entkommen verfucht. Von dreißig bis 
vierzig Verjuchen find indes nur drei geglüdt, und ein 
Sträfling wurde wieder ergriffen, ehe er unten am — 
angelangt war. 

„Im Jahre 1794 ſaß ein Franzoſe Namens Drouet 
aus Varennes, Mitglied des Nationalconvents, auf dem 
Spielberge. Er machte aus den Beſtandtheilen ſeines 
Bettes ein Seil und ließ ſich durch das Fenſter in die 
Tiefe, fiel aber und brach ein Bein. Man ergriff ihn 
und brachte ihn zurück in die kaum verlaſſene Zelle. 
Zwei Jahre ſpäter erhielt er die Freiheit, er wurde gegen 
die Tochter Ludwig's XVI., die Herzogin von Angouleme, 
ausgewechielt. 

„Beſagte Kerker tragen ven Namen «Franz I». Der 
Gang unter der Erbe fällt jäh ab und führt dann zu 
dem jchredlichiten Theile des Spielbergd, der unterjten 
Stufe der Kerfer, 34 an der Zahl, welche fich 60 Fuß 
tief in der Erde befinden und «Maria Therefia» genannt 
werden. Nur ein einziger iſt übriggeblieben, gleichfam 
al8 Andenken an die Unmenfchlichfeit früherer Zeiten. 
Es ift ein aus Balken beftehendes enges Behältniß mit 
einer Heinen verjchloffenen Deffnung zum Einfchieben ber 
Nahrung. Unten befindet fich eine größere verſchloſſene 
Deffnung, durch welche der DVerurtheilte hineingebracht 
wurde. Kein Tageslicht, Feine frijche Luft kann eindringen. 
Der bevauernswürdige Bewohner ſaß oder jtand in jeinem 
Käfig und war mit einer jchweren Kette angejchlofjen. 
Das fürchterliche Koch war dunfel und feucht. Dreimal 
in der Woche erjchien ein Gefangenwärter und brachte 
das zur Friftung des Lebens nothwendige Brot und 
Waſſer. Die Gefangenen wurden in der Regel jchnell 
erlöft von ihrer Bein, denn länger als ſechs Monate hielt 
es jelten ein Menſch aus.“ 


wider die Carbonart in Italien. 315 


Remacle knüpft an feine Schilderung folgende Bemer- 
tungen: „Frankreich bat ſchon im 16, Jahrhundert dieſe 
hölliſchen Gefängniffe, welche man ben Stalienern und 
Engländern nachgemacht hatte, abgeſchafft. Deutjchland 
hat fie bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts beibehalten. 
Seit funfzig Iahren ift die Strafgefeßgebung in Frank— 
reich jo gemilvert worden, daß fie faft einen Theil ihrer 
Wirkſamkeit verloren hat. Defterreich hatte noch vor fünf 
Jahren feine unterirdifchen Kerfer. Ein edler, gefühlvoller 
Italiener, Silvio Bellico, welcher das Dpfer feines 
heißen Patriotismus geworben ift, hat bie fchredlichen 
Leiden des Spielbergs ſelbſt erdulden müffen. Er hat 
diefelben mit einer gewandten Feder und im Tone eines 
gemäßigten Unwillens in chriftlicher Ergebenheit vor der 
Welt aufgedeckt, um die Regierung zu größerer Milde zu 
bewegen, beſonders gegen diejenigen Gefangenen, denen 
man nur politiiche Vergehen, Ueberjpanntheit, voreilige 
Aenferungen ihrer Gedanfen vorzuwerfen hat. Man be- 
geht eine tyrannijche Graufamfeit, wenn man diefe Menſchen 
den gemeinen Verbrechern gleichjtellt und fie wie dieſe 
behandelt. 

„Wahrſcheinlich hat man die Verbeſſerung der Lage der 
Gefangenen auf dem Spielberg den edeln und doch ſo 
energiſchen Klagen des berühmten Italieners zu danken. 
Nun wird ihnen ein wenig Stroh nicht verſagt, ſie er— 
halten täglich ein halbes Pfund Brot mehr. Am Sonn— 
tage können fie ein wenig Fleiſch und in der Woche mit- 
unter eine Mehlipeife genießen. Der Spielberg tft jekt 
den Sträflingen nicht Tebensgefährlicher als andere öjter- 
reichiſche Gefängniſſe. Ja er ift fogar, wie es fcheint, 
ein recht gefunder Aufenthalt. Das beweijen die mir 
vorgelegten Sterblichkeitsfiften, welche ich als richtig und 
wahrheitögemäß vorausjegen muß.“ 


316 Die Brocefie der Carbonari in Italien. 


Wir fügen hinzu: Die Hausorbnnungen ber Strafe 
anftalten in Defterreich machten allerdings in jener Zeit, 
da Silvio Pellico und der Graf Eonfalonieri ihre Strafe 
verbüßten, feinen Unterjchied zwijchen politifchen und ge= 
meinen VBerbrechern. Die Behandlung war vielmehr nach 
dem Gefeß die gleiche. Aber die verurtheilten Carbonari 
haben fich über ihre Haft auf dem Spielberge nicht zu 
beffagen gehabt. Unter dem damaligen Gouverneur von 
Mähren und Schlefien, vem Grafen Anton Friedrich 
Mittrowsfy, der ein großmüthiger Förderer der Yite- 
ratur und Kunſt war, mwurbe die größte Humanität ge— 
übt. Den Gefangenen, von denen wir jett reden, wurde 
zum Beiſpiel Lektüre geftattet, ja man beitellte ihnen 
jogar der italienifchen Sprache mächtige Priefter für 
Gottesdienst und Seelſorge. Erft als fie die ihnen ge- 
währten Bergünftigungen misbrauchten, um nach außen 
Verbindungen anzufnüpfen, wurde wieder ftrenge Zucht 
und Aufficht eingeführt. KB | 

Ein einziger von den gefangenen Carbonari ftarb auf 
dem Spielberge, die übrigen wurden nach längerer oder 
fürzerer Strafdauer begnadigt. Im Jahre 1836 wurden 
die leßten der in die Verſchwörung von 1821 verwidelten 
alten Berbrecher auf Befehl des Kaifers in Freiheit gejegt. 


* , — 5 / 
Ge 5 — 


Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig. 





. 
fi ® 
— 
A 
, 
« 


u BE