Die
literarischen
vorlagen der
Kinder- und
hausmärchen ..
Hermann Hamann
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PALAESTRA.
Untersuchungen und Texte aus der deutschen
und englischen Philologie.
Herausgegeben
von
Alois Brandl, Gustav Koethe und Erich Schmidt.
XL VIT.
Die literarischen Vorlagen der Kinder- und Hausmärchen
und ihre Bearbeitung durch die Brüder Grimm.
Von Hermann Hamann.
BERLIN.
MAYER * MÜLLER.
1906.
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PALAESTR A XLVII
^
Die literarischen Vorlagen der Kinder-
und Hausmärchen und ihre Bearbeitung
durch die Brüder Grimm.
Von
Dr. Hermann Hamann.
i >
BERLIN,
MAYER X, MÜLLER
1906.
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• » • ....... .
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Vorwort.
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit, die den
Urinimpreis erhalten hat, erschien 1905 als Berliner
Dissertation. Angeregt wurde sie von meinem Lehrer
Herrn Geheimrat Prof. Dr. Erich Schmidt, dem ich für
alle freundliche Unterstützung, die er mir bei der Ab-
fassung hat angedeihen lassen, auch an dieser Stelle
meinen ergebensten Dank ausspreche.
H. Hamann.
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Einleitung.
Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
sind trotz der hohen Stellung, die sie in der Geschichte
der deutschen Litteratur einnehmen, noch nicht zum Gegen-
stand einer wissenschaftlichen Untersuchung gemacht
worden. Zwar hat die Forschung reiche Nachweise Uher
die Verbreitung des internationalen Märchenstoffes geliefert
und indirekt dadurch auch die Grimmsche Sammlung in
eine hellere Beleuchtung gerückt, aber es fehlt an einer
Arbeit über das Zustandekommen des Werkes selbst.
Auch Stil und Sprache blieben bisher noch ungeprüft,
obgleich sie doch eigenartig genug vom Herkömmlichen
abweichen und schon durch die Neuheit zu näherer Be-
trachtung einladen müssten. — Der Poesie der Erzählungen
hat sich niemand entziehen können: „Die Märchen haben
uns bei aller Welt bekannt gemacht", schreibt Wilhelm
Grimm schon 1815 an seinen Bruder Jakob'), und heute
ist das Buch in ungezählten Exemplaren verbreitet. Ein
Abglanz dichterischen Ruhmes fällt auf die Herausgeber.
Es war aber auch eine Art poetischer Tätigkeit, welche
<He Sammlung entstehen Hess; denn obwohl die Geschichten
meist getreu der Überlieferung nacherzählt wurden, und
der Titel des Buches bescheiden nur von der Arbeit des
Sammeins spricht, so besteht doch kein Zweifel, dass die
Brüder Grimm in Stil und Ausdruck vielfach bessernd und
ergänzend nachgeholfen haben. Das gestehen sie auch
selbst ein: „Es ist natürlich", schreibt Wilhelm an Achim
') Briefwechsel zw. J. u. \V. Grimm S. 475.
Palaesua XIAII. 1
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von Arnim 1 ), „dass, wenn wir etwas selbst empfunden,
diese Empfindung auch sichtbar werden muss und ihren
besonderen Ausdruck haben. Darum hab ich mir in den
Worten, der Anordnung, in Gleichnissen und dergleichen
gar keine Schwierigkeit gemacht und so gesprochen, wie
ich in dem Augenblick Lust hatte." Aber er wusste auch,
wie man ein Märchen zu erzählen habe; wie rein hat er
z. B. in einigen seiner Briefe an die Haxthausensche Familie
den einfachen Kinderton getroffen! 2 ) Die Form der Er-
zählungen geht also im wesentlichen auf die Brüder zurück,
sei es, dass sie mündliche Überlieferung wiedererzählten
oder älteren, schriftlichen Bearbeitungen die Gestalt gaben,
die sie für die rechte hielten. Nur mit den litterarischen
Quellen will und kann sich die nachfolgende Arbeit be-
schäftigen; sie macht als ein Beitrag zur Stilgeschichte
des Grimmschen Märchens auf dieümbildungen aufmerksam,
die ältere Vorlagen unter der Hand der Brüder Grimm
bei der Aufnahme in die Sammlung erfuhren.
Obwohl die Veränderungen fast nur äusserlicher Natur
sind, und die Erzählungen in den meisten Fällen bloss
durch schmückende Zusätze bereichert wurden, so lässt
doch die Wiederkehr derselben stilistischen Umformungen
deutlich erkennen, worauf es den Brüdern bei ihrer Dar-
stellung ankam. Freilich wird das Material nicht erschöpft,
da die Märchen nach mündlicher Überlieferung für uns
wegfallen, aber man kann schon aus der Betrachtung des
kleineren Teils der Sammlung Rückschlüsse auf die Stili-
sierung des Ganzen machen. Denn es ist ein eigentüm-
licher Vorzug dieser Märchen, dass trotz der Verschieden-
artigkeit der einzelnen Stücke die ganze Sammlung von
einem gleichmässigen Vortrag beherrscht wird.
Die Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen
versetzt uns in eine treibende, starke Zeit zurück; die
schaffensfreudigen Tage der jüngeren, Heidelberger Romantik
') Steig, Achim v. Arnim und die ihm nahe standen 111,207.
2 Freundesbriefe v. W. u. -J. Grimm, S. 8 f.
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tauchen vor uns auf. Nicht mit Unrecht werden gerade
„des Knaben Wunderhorn" und die „Kinder- und Haus-
märchen" als die charakteristischen Denkmäler dieser
Periode in einem Atem genannt; die beiden Werke sind
gleichen oder doch ähnlichen Verhältnissen entsprungen,
und ihre Verfasser standen auch persönlich in innigen
Beziehungen zu einander. Im Wunderhorn hatte sich die
begeisterte Liebe tür altdeutsches Leben und Volkspoesie
•ein schönes Denkmal errichtet. Absterbende und zerstreute
Blüten deutscher Volkslyrik waren hier, freilich manchmal
künstlich zurechtgestutzt, in einem grossen Werke ver-
einigt. Auch eine umfassende Zusammenstellung germa-
nischer Altertümer wurde von Arnim geplant. Seine Er-
klärung in Beckers Reichsanzeiger vom 17. Dez. 1805
spricht unter anderm auch von „mündlich überlieferten
Sagen und Märchen", die in der Sammlung Platz finden
sollten'). Aber nicht alles kam zu stände, was er in
Aussicht gestellt hatte; vorläufig galt es, das Wunderhorn
zum Abschluss zu bringen. Während Brentano und Arnim
an den weiteren Bänden tätig waren, rüsteten die Brüder
Grimm in Cassel zu ihren späteren Publikationen. — In
grösserem Umfange beginnt ihr Sammeln und Aufzeichnen
seit etwa 1806. Ihre Schätze müssen rasch an Ausdehnung
und Bedeutung gewonnen haben; Brentano, der 1807 in
Cassel mit den Grimms zusammentraf, staunt über ihren
Reichtum, den er für den 2. Teil des Wunderhorns zu
benutzen gedenkt.
Um diese Zeit ist zwischen den Brüdern und den
Herausgebern des Wunderhorns auch über den Plan ver-
handelt worden, ein öffentliches Organ für altdeutsche
Poesie und Volkskunde zu schaffen 2 ). Neujahr 1811 taucht
der Gedanke von neuem auf. „Der altdeutsche Sammler",
wie die Zeitschrift heissen sollte, war zur Aufnahme aller
Sagen, Märchen, Lieder, Volksscherze usw. namentlich
') Steig, Achim v. Arnim I, 150.
2) Steig, Zs. d. Vereins f. Volkskunde 1902, 129 ff.
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mündlicher Überlieferung bestimmt. Als Herausgeber
waren die Brüder Grimm gedacht. Das Unternehmen
scheiterte aber an persönlichen Differenzen, die sich bald
zwischen Jakob Grimm und Brentano über die Art der
Redaktion herausstellten.
Während Grimm streng wissenschaftlich alles in der
Form zum Abdruck bringen wollte, die die mündliche
Überlieferung geprägt hatte, glaubte Brentano sich dem
Stoff gegenüber dieselben Freiheiten sichern zu müssen,
von denen er bei der Zusammenstellung des Wunderhorns
Gebrauch gemacht hatte, und so unterblieb das Werk.
Auch standen äussere Schwierigkeiten im Wege. Auf
eigene Faust arbeiteten die Brüder Grimm währenddessen
weiter; 1812, als Arnim einige Tage als Gast bei den
Brüdern in Cassel weilte, konnte er an Brentano berichten,
dass ihre Sammlungen Riesenschritte gemacht hätten und
bald in ein Dutzend tüchtiger Werke zusammenwachsen
würden ')• Einige Monate später wurde der 1. Band der
Märchen herausgegeben.
Die ganze Art der Anlage bewies von vornherein ein
ernstes, wissenschaftliches Interesse. Allerdings war es
die Absicht der Bearbeiter, dass die Poesie der Märchen
selbst wirken und erfreuen sollte, aber als Gelehrte waren
sie nicht minder darauf bedacht, die Bedeutung der Er-
zählungen durch umfassende Vergleiche ins rechte Licht
zu stellen und die Ergebnisse der Forschungen für eine
Geschichte der altdeutschen Poesie und Mythologie nutz-
bar zu machen 2 ). Sie erblickten in den Märchen Über-
reste der altgermanischen Mythologie und Heldenpoesie.
So wie die Mundarten altes Sprachgut festhalten, sollten
auch in den Volkserzählungen uralte Vorstellungen fort-
dauern und sich weiter bilden. Mögen sie auch im Ein-
zelnen geirrt haben, sie traten jedenfalls mit ganz anderen,
tiefer gegründeten Voraussetzungen an ihre Aufgabe
>) Steig:, Achini v. Arnim I, 21)8.
Steig-, Achim v. Arnim III, 4.
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heran als die meisten Märebenschreiber des 18. Jahrhunderts,
denen das phantastische Gewand der Erzählungen ein will-
kommenes Mittel war, persönliche Absichten verschiedenster
Art auf eine bequeme Weise einzukleiden. — Das Jahr-
hundert der Aufklärung hatte im allgemeinen für die
schlichte Poesie des deutschen Volksmärchens keinen Sinn:
vor allem fehlte das geschichtliche Verständnis für die Er-
zählungen. In Spinn- und Kinderstuben lebten sie zwar
ununterbrochen fort, aber niemand dachte daran, sie als
litterarische Gabe dem ganzen Volke wiederzuschenken.
Die Märchen waren vielfach als unwahre, kindische Er-
zeugnisse verachtet und galten nur etwas durch künstliche,
poetisierende Bearbeitung. „Ammenmärchen, im Ammen-
ton erzählt, mögen sich durch mündliche Überlieferung
fortpflanzen, aber gedruckt müssen sie nicht werden,"
schreibt noch Wieland '), der in seinen Werken doch oft
Bearbeitungen märchenhafter Stoffe geliefert hat. Aber
er sowohl wie die eigentlichen Märchensammlungeu des
Jahrhunderts waren stark beeinflusst von französischer
Fabulierkunst. Viel später als in Italien, wo schon Giovan
Francesco Straparola mit den Tredeci piacevoli notti (1550)
und nachher Giovan Baptista Basile mit dem Pentamerone
den Höhepunkt der heimischen Märchenlitteratur erreichten,
begann in Frankreich die Märchenpoesie zu erblühen. Ihr
erster Vertreter, Charles Perrault (1643 — 1703), nimmt als
Stilist zugleich den höchsten Rang ein. Am Ende des
17. Jahrhunderts (1697) gab er in seinen „Contes de ma
mere l'Oye" volkstümliche Märchen heraus, ohne wesent-
liche Zusätze, im Kinderton dargestellt. Hier finden wir
z. B. die bekannten Erzählungen vom Blaubart (Barbe
bleue), Rotkäppchen (Chaperon rouge), vom kleinen Däum-
ling (Petit Poucet), vom Aschenputtel (Cendrillon), dem
Dornröschen (La belle au bois dormant). Seine Nach-
ahmerin, die Gräfin d'Aulnoy (1650—1705), hält sich zwar
i) Werke 35, 327. Vgl. R. Köhler, Aufsätze ed. Bolte urul
E. Schmidt S. 17.
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wie Perrault an echte Tradition, formt den Stoff aber be-
reits willkürlicher. Ihre feine und vornehme Darstellung
unterdrückt dasderbe, drastische, bürgerlichcElement; es sind
Märchen für die vornehme Welt im Zeitalter Ludwigs XIV.
Einige sind unmittelbar aus Straparola geschöpft. Mit
der heimatlichen Wunderwelt verbanden sich dann die
orientalischen Märchengebilde, seitdem Galland (1704 — 8)
die arabische Sammlung „1001 Nacht" ins Französische
übersetzt hatte. Die zahlreichen späteren Bearbeitungen,
z. B. der Gräfin Murat, d'Auneuil, stehen auf tieferer
Stufe. Neben pädagogischen Absichten und orientalischem
Zauber macht sich der Einfluss modern-schäferlicher Liebes-
geschichten geltend. Das galante Märchen tritt an die
Stelle des volksmässigen; das Phantasiespiel wurde leere
Phantasterei. Feen und Geister beherrschten die Märchen-
welt wie in den Zaubergeschichten des Grafen Caylus.
Dieses Kennzeichen der französischen Erzählungen trug
ihnen den Namen „Feenmärchen" ein. Im „Cabinet des
fees" (1785 ff.) sind eine grosse Anzahl von ihnen ge-
sammelt. Die Deutschen lasen sie teils in der Ursprache,
teils in Übersetzungen. Seit 1765 stellte Heinrich Raspe
in Nürnberg eine Auswahl der Feenmärchen zusammen ').
Den fremden Erzeugnissen schenkte man also grosse Be-
achtung, die heimischen Schätze blieben ungehoben.
Wieland, der zuerst in seinem Don Sylvio von Rosalva
über die Feenmärchen gespottet hatte, griff später selbst
Märchenstoffc auf, die sich ihm entweder in der Ritter-
dichtung des Mittelalters oder der Märchenpoesie des
Morgenlandes darboten; einige erfand er auch selbst.
Seine Hauptquellen waren die Auszüge altfranzösischer
Rittergedichte, die Conteset fabliaux in Tressans Bibliotheque
universelle des Romans (1775 ff.) und die „Mille et unc
nuits". Daraus schon geht hervor, dass es sich bei ihm
um eigentliche Volksmärchen nicht handelt. Auf die hohe
i)K.H.M. 111,300-312; O. Meyer-, Vierteljahrschr. f. Litt,
riesch. V, 374 ff.
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geschichtliche Bedeutung des deutschen Märchen* wies
zuerst Herder (1777) mit nachdrücklichen Worten hin •).
Mit Bedauern muss er bekennen, dass man bisher so gut
wie nichts getan habe, das Dunkel über der Sagen- und
Mythengeschichte des deutschen Volkes aufzuhellen. Er
forderte bereits einen geschichtlichen Nachweis für Ursprung
und Entwickelung der Volkssagen und Märchen, die ihm
ähnlich wie später den Grimms als „Resultate des Volks-
glaubens und seiner sinnlichen Vorstellungskräfte" er-
schienen. — Die „Volksmärchen der Deutschen" von
Musäus (1782 ff.) entsprachen nur wenig den Forderungen
Herders. Es waren trotz des Titels eigentlich Volks-
sagen, denen der Verfasser bisweilen eine märchenhafte
Einkleidung zu geben wusste, Märchen im Sinne Grimms
sind von seinen 14 Erzählungen wenige. Die „Chronika
der drei Schwestern" nahmen die Brüder selbst in die
1. Auflage ihrer Sammlung auf. Die Erzählung von
,, Rolands Knappen" ist verwandt mit dem Märchen vom
,.Tischlein deck dich" (aß), ..Richilde" mit „Schneewitchen"
(53), in der „Nymphe des Brunnens" sind Teile des Märchens
vom Aschenputtel (21 ), der Frau Holle (24) und Allerleirauh (05)
verwebt. In reiner, unveränderter Gestalt wird uns der
Stoff bei Musäus eben niemals geboten; ausserdem sind
seine Erzählungen in einem ironisch -witzelnden Stil ge-
halten und mit persönlichen Anspielungen auf Zeit und
Zeitgenossen durchsetzt. Manche seiner Andeutungen
waren den Mitlebenden sogar nicht recht verständlich.
Das volkstümliche Element, der schlichte, einfache Ton
der Darstellung ist bei ihm mehr ein äusserer Schmuck
der künstlichen und oft verwickelten Novellen als ein
Grundcharakter. Freilich sammelte auch er „Ammen-
märchen" aus Volksmund und benutzte sie für seine Er-
zählungen, aber er machte „die alten Geschichten noch
zehnmal wunderbarer als sie ursprünglich waren", wie er
') In seinem Aufsatz: Über die Ähnlichkeit der mittleren
engl. u. deutschen Dichtkunst. Suphansche Ausg. 25, (*J ff.
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selbst wohlgefällig bekennt. 1 ) Und dennoch sind die
Mängel des Buches im Vergleich zu seinen Vorzügen nur
gering. Es hat das Interesse an heimischen Sagen er-
weckt, und seine Darstellung, die Composition und der
abgerundete Stil finden noch heute Beifall. Dass Musäus in
freier, dichterischer Weise die Überlieferungen behandelte,
kann ihm eben nicht zum grossen Vorwurf gemacht werden ;
es wäre pedantisch, sein Verdienst herabzusetzen, nachdem
die Brüder Grimm auf einem anderen Wege mehr erreicht
haben, ausserdem haben diese selbst der dichterischen
Behandlung des Märchenstoffes keine Grenzen abstecken
wollen.
Mit besonderer Vorliebe wurde das Märchen von den
Romantikern gepflegt; vieles in ihren Dichtungen ist
märchenhaft. Die lose, phantastische Verknüpfung der
Begebenheiten, das Hineingreifen des Zufalls und über-
irdischer Gewalten entsprach ganz ihren Forderungen
von der Dichtkunst Uberhaupt. „Das Märchen ist gleichsam
der Canon der Poesie, alles Poetische muss märchenhaft
sein ; der Dichter betet den Zufall an u , heisst es bei Novalis 2 ) :
Das Wunderbare sollte nicht nur ein belebender, reiz-
voller Schmuck der dichterischen Schöpfung sein, sondern
der Boden, aus dem alle Poesie ihre Nahrung sauge. Die
Verwirrung, das Chaos der Gefühle und Ereignisse galt
ihnen als die Wurzel des Poetischen. Die gegenseitige
Durchdringung des Sinnlichen und Übersinnlichen, der
Wirklichkeit und des Ideals, die in der Ästhetikder Romantiker
so stark betont wird, konnte nirgends bequemer als in
der Märchendichtung dargestellt werden. Sehr nahe lag
es, selbst Märchen zu dichten. Schon Goethe hatte in
dem „Märchen", in den Unterhaltungen deutscher Aus-
gewanderten (1795) ein bewundertes, rätselvolles Muster
geliefert. In dunkeln, symbolischen Bildern und Gleichnissen,
') Andrae, Studien z. d. Volksmärchen d. Musäus. Warb.
Diss. 1807. S. 1?.
2) Schriften III, lfi;>.
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deren Bedeutung dem Erklärer Schwierigkeiten verursacht,
spricht der Dichter zugleich ewige Wahrheiten aus, sie
mit dem Zauber reinster Poesie verklärend. Es ist durchweg
ein blosses Kunstprodukt. ..Die neue Melusine" (1807)
in Wilhelm Meisters Wanderjahren und „der neue Paris"
(1811) in Dichtung und Wahrheit sind zwar gleichfalls
der Hauptsache nach eigene Dichtungen Goethes, in denen
mancherlei persönliche Beziehungen in rätselhafter Ver-
hüllung angedeutet werden, geben aber bereits durch den
Zusatz zu verstehen, dass wir in ihnen gewisse alt-
überlieferte Motive verwertet finden. Aber der Dichter
hat ganz frei mit ihnen geschaltet. Im „neuen Paris"
sind antike Elemente mit mittelalterlich -romantischen in
buntem Wechsel verwebt, in der „Melusine" tritt neben
dem märchenhaften Gehalt die Tendenz stärker hervor.
Alle drei aber bringen, wie es beim Kunstmärchen kaum
anders sein kann, mehr oder weniger dunkle Allegorien
neben der Symbolik, die, im Volksmärchen bereits abgestreift,
hier den Leser umfängt Auch das liebliche Märchen von
„Hyacinth und Rosenblüte", das Novalis in den „Lehrlingen
zu Sais" erzählt, ist nicht ganz frei davon. Spuren echter
Volksmärchen finden sich dagegen im Faust, wo Margaretens
Kerkerlied auf das Märchen vom Machandclboom anspielt,
und im „Werther" macht Goethe eine kurze Andeutung
auf den sagenhaften Magnetberg und ein Märchen von der
Prinzessin, die durch Hände bedient wird.
Unter den älteren Romantikern beschäftigte sich nament-
lich Ludwig Tieck mit der Bearbeitung volkstümlicher
Stoffe. In den „Volksmärchen von Peter Leberecht" (1797)
erschienen neben Bearbeitungen von älteren Volksbüchern,
wie den Schildbürgern, den 4 Haymonskindern, der Mage-
lone u. a. auch Volksmärchen. Aber ebensowenig wie
Musäus erstrebte Tieck geschichtliche Treue in der Dar-
stellung. In der versificierten, dramatischen Form muteten
die alten Erzählungen von Blaubart (1796), dem gestiefelten
Kater (1797), Rotkäppchen (1800) und dem Däumchen (181 1 )
wie etwas völlig Neues an. Und die Modernisierung macht
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sich aucli auf Schritt und Tritt bemerkbar. Nicht nur,
tlass die Personen viel zu individuell aufgefasst waren,
Tieck tlocht auch persönliche Elemente in die Darstellung
ein; possenhafte Scenen, Scherz, philosophischer Tiefsinn und
litterarische Satirc auf die Rührstücke Ifflands und Kotze-
bues (wie im gestiefelten Kater und den sieben Weibern
des Blaubart) wechseln mit den märchenhaften Bestand-
teilen der Erzählung ab. Wie altklug und gescheit spricht
beispielsweise das Tiecksche Rotkäppchen! Schlichter und
volksmässiger ist er in der Bearbeitung der Volksbücher;
auch die von ihm selbst gedichteten Märchen, wie der
blonde Eckbert, der Runenberg, die Elfen, die mit früheren
Bearbeitungen 1812 im „Phantasus" erschienen, ahmen
sichtlieh die einfachere Natur des Volksmärchens nach,
unterscheiden sich aber davon namentlich durch die Her-
vorhebung der düsteren, spukhaften und dämonischen Züge.
Während das Volksmärchen im allgemeinen einen fröh-
lichen, befriedigenden Ausgang liebt, treten uns in den
Tieckschen Erzählungen die Nachtseiten der Natur mit
allen Schauern und geheimnisvollen Schrecken entgegen.
So auch mitunter in den Bearbeitungen. Wie weiss
er z. B. im Blaubart das Entsetzen, die herzbeklemmende
Angst in Mechthildcns Erzählung zu steigern! — Dagegen
traf das von Kerner gedichtete Märchen vom „Goldener"
in den „Heimatlosen" den Ton des echten Volksmärchens
so natürlich, dass es Friedrich Gottschalk aus dem Deutschen
Dichterwald, wo es zuerst erschienen war, in seine Märchcri-
sammlung aufnahm 1 ).
Aber nicht diesen dichterischen Bearbeitungen von
Märchen gedachten die Brüder Grimm durch ihre Samm-
lung in den Weg zu treten, sondern den landläufigen Märchen-
büchern, die vielfach noch vom französischen Geiste be-
einllusst waren. Echte Überlieferung fand sich zwar seit
Musäus* Vorgang häufiger, wie in den Kindermärchen
aus mündlichen Erzählungen gesammelt (Erfurt 1787), den
») Sa^en u. Volksmärchen der Deutschen (1814) 1,230.
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Ammenmärchen von Vulpius (1791), dem Märleinbuch für
meine lieben Nachbarsleute (1799) und den Feenmärchen
(1801), sie waren aber meist dürftig und schlecht erzählt,
das Typische der echten Märchenerzählung sucht man
darin vergebens. Auch war der Inhalt im Vergleich zur
Grimmschen Sammlung ganz geringfügig. Niemand hatte
vor Grimm über die Märchenlitteratur weite Umschau ge-
halten: in den meisten Fällen hatten sich die Verfasser
mit dürftigen Bruchstücken begnügt, die sie dann aus
eigenen Mitteln zu ergänzen und zu bereichern suchten.
Daneben kommen noch oft Entlehnungen aus fremdlän-
dischen Quellen vor. Die Kindermärchen von Eschke
(1804) sind trockene, moralische Fabeln ohne jeden mär-
chenhaften Gehalt; auch über die Sammlung ihres Namens-
vetters Albert Ludwig Grimm (Heidelberg 1809) konnten
die Brüder kein günstiges Urteil abgeben 1 ). Job. Gustav
Büschings Sammlung, die in demselben Jahr wie die
Grimmsche erschien, enthält grösstenteils Sagen, die aus
Chroniken und Länderbeschreibungen zusammengetragen
waren; bloss 5 Märchen sind darin enthalten, bei denen
freilich der Kinderton der Darstellung oft vermisst wird.
Nur zwei heben sich als literarische Kleinodien aus ihrer
Umgebung heraus, die von Runge stammenden Aufzeich-
nungen der Märchen vom „Fischer" und „Machandelboom".
Runge hatte in diesen beiden Erzählungen zum ersten Mal
Musterstücke kunstvoller Darstellung geliefert. Ohne den
Stoff mit subjektiven Elementen zu belasten, hatte er es
verstanden, durch Vertiefung und Steigerung der Motive,
reiche, detaillierte Beschreibung, durch genaue Beobachtung
der Rhythmik gesprochener Prosa die Erzählungen für alle
folgenden Märchenschreiber vorbildlich zu machen. Der
Kungischen Kunst ist die der Brüder Grimm nahe ver-
wandt. Anfangs noch zaghaft in der reicheren Ausge-
staltung der Märchen, haben sie später von Auflage
i) Briefw. zw. .). u. \Y. Urimni S. 12a.
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zu Auflage das künstlerische Prinzip mehr hervortreten
lassen.
Zum 1. Bande der Märchen wurde 6 Jahre gesammelt.
Den grössten Teil der Erzählungen zeichneten die Brüder
selbst nach mündlicher Uberlieferung ihres Heimatlandes
auf; Hessen, die Grafschaft Hanau, die Main- und Kinzig-
gegenden lieferten die meisten Beiträge. Daneben wurden
auch Fassungen benutzt, die von Freunden und Bekannten
herrührten. Seit seinem Aufenthalt in Halle (1809) war
Wilhelm Grimm mit dem westfälischen Edelmann Werner
von Haxthausen bekannt; ihm und seinen Schwestern
verdankt die Sammlung eine Reihe der schönsten Er-
zählungen. Mit grosser Genugtuung erwähnt Wilhelm,
dass ihm gerade die Beiträge aus dem Westfälischen
(Paderborn und Münster) wegen der zutraulichen Mundart
und der inneren Vollständigkeit wertvoll seien: er freut
sich, dass sie gerade so aufgefasst werden, wie ihm am
liebsten ist, nämlich treu und genau mit aller Eigentüm-
lichkeit selbst des Dialekts oline Zusatz und sogenannte
Verschönerung 1 ). Das gleiche Lob erhält Werners Bruder
'August: „An der Art, wie Sie aufschreiben, weiss ich
nichts auszusetzen, es ist treu und einfach, wie ich es
wünsche, und wenn Sie so fortfahren, werden Sie keinen
kleinen Teil an der Fortsetzung des Buches haben" 2 ).
Auch zu den späteren Auflagen steuerte die befreundete
Familie reichlich bei. Nach der 3. Auflage stammen die
Märchen No. 7. 10. 27. 60. 68. 70. 72. 86. 91. 99. 101. 112.
113. 121. 123. 126. 129. 131—34. 137—143 (138?) aus
Beiträgen der Familie Haxthausen. Die Märchen No. 14.
16. 24. 45. 48. 52. 64. 65. 71. 97. 110. 133. 135. 136 sind
z. Teil daher entnommen. Im 3. Bande finden sich Vari-
anten von ihnen unter No. 1. 4. 6. 21. 48. 57. 71. 73. 82.
106. 112. 143. 158. Ausserdem sind die Kinderlegenden
No. 1—7 vollständig nach ihren Aufzeichnungen erzählt.
') Freundesbriefe S. 1.
2 ) Freundesbriefe S. 5.
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— 13 —
Der plattdeutsche Dialekt mancher Märchen wurde unver-
ändert beibehalten, um die Frische und Ursprünglich-
keit des Tons zu wahren. Von Bedeutung für das Zu-
standekommen des 2. Bandes war namentlich die zufällige
Bekanntschaft der Brüder mit der „Märchenfrau" Vieh-
männin in Zwehrn bei Kassel. Ihren Erzählungen folgen
No. 6. 22. 29. 34. 61. 63. 71. 76. 89. 94. 98. 100. 102. L06.
108. 111. 115. 118. 125. 127. 128. Ergänzungen lieferte
sie zu No. 9. 21. 31. 58. 59. 120. Varianten befinden sich
unter No. 4. 27. 90. 92. 122.
Die Brüder Grimm hatten mit der Veröffentlichung
gezögert, um die Sammlung in möglichster Vollständigkeit
darbieten zu können. Arnim nötigte sie zu rascherem
Vorgehen. Noch nach 25 Jahren haben die Brüder in
dankbarer Anerkennung seiner fördernden Teilnahme ge-
dacht 1 ). Er vermittelte auch die Verbindung mit dem
Verleger Reimer in Berlin. Obwohl dieser erst nach Ab-
setzung einer bestimmten Anzahl von Exemplaren Honorar
bewilligen wollte, waren die Brüder doch mit den Bedin-
gungen einverstanden; es kam ihnen nun darauf an, zu
ähnlichen Unternehmungen Lust zu machen 2 ). Am Schluss
des Jahres 1812 erschien der 1. Band im Handel.
Der Stil der Erzählungen, der schlicht und natürlich
sich in den einfachsten Formen bewegte, wurde zunächst
nüchtern gefunden. Die rohe Gestalt mancher Märchen,
die eine ältere Quelle nicht verleugneten, stiess ab; einige
dürftige Fragmente, die mit gewissenhafter Treue ohne
Ergänzungen abgedruckt waren, hätte man lieber ganz
weggewünscht. Sehr ungehalten spricht sich Brentano
über die Sammlung aus, auf die ihn Arnim aufmerksam ge-
macht hatte 3 ). Die treue Nacherzählung findet er äusserst
liederlich und versudelt 44 . Trotz ihrer Kürze seien die
meisten Märchen langweilig; wolle man ein Kinderkleid
') In der Zuschrift der 3. Auflage an Bettina.
*) Steig, Achim v. Arnim III, 195.
3 ) Steig, Achim v. Arnim I, 309.
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— 14 —
herausholen, so könne man es mit aller Treue tun, „ohne
eines vorzuzeigen, an dem alle Knöpfe heruntergerissen
seien". Auch die gelehrten Noten im Anhang stören ihn.
Er vertritt den Standpunkt, den er später bei seinen eigenen
Märchen festgehalten hat. Als gelehriger Schüler Basiles
konnte er freilich uur schwer an der „Milchspeise" der
Grimmschen Märchen Geschmack finden, hier fehlte der
sprudelnde Witz und die capriziöse, kecke Darstellung,
die den Pentamerone auszeichnet. Die Brüder Grimm
gingen ihren eigenen Weg; was sie für die Kunstform des
Märchens hielten, stand der Auffassung Brentanos scharf
entgegen. Man vergleiche mit Brentanos Urteil das W 7 ider-
spiel bei W. Grimm: „In Brentanos Buch habe ich ge-
blättert — es ist mehr Stil in den Märchen wie in den
unserigcn, lesen sich dagegen zu wiederholten Malen
schlechter, weil man dann den Witz weg hat oder aus-
wendig weiss, daher eine solche Art nur aufkommen d. h.
absichtlich gewählt werden kann, wenn man, wie jetzt,
etwas nur einmal liest" ')• Ruhiger als Brentano äussert
sich Arnim; er sucht zwischen beiden Parteien zu ver-
mitteln, verschliesst sich nicht herb gegen das Neue und
Schöne in Brentanos Märchen und macht anderseits die
Freunde auf manche Übelstände ihrer eigenen Sammlung
aufmerksam. Für seine Beurteilung der Grimmschen Mär-
chen ist seine prinzipielle Stellung zur Volks- und Kunst-
poesie wichtig. Über das Verhältnis dieser beiden grossen
liauptgattungen zu einander hatte sich zwischen ihm
und den Brüdern eine lebhafte Auseinandersetzung ent-
wickelt 5 '). Während Arnim die Weiterbildung und Ver-
tiefung des überlieferten Stoffes als das gute Recht des
modernen Dichters verteidigte, überhaupt die Grenzen
zwischen Volks- und Kunstpoesie nicht so scharf bestimmen
wollte, betrachtete Jakob jede der beiden Hauptformen als
ein besonderes Gebiet und erkannte nur in der Volksdichtung
1) Briefw. zw. J. u. W. Grimm S. 381.
2) Steig, Achim v. Arnim 111,115-145.
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den ewigen Bestand dichterischer Kraft an. Nicht nur be-
grifflich und inhaltlich, auch in der Zeit seien beide von
einander getrennt, hatte er schon in einem Aufsatz der
Einsiedlerzeitung (No. 19/20) behauptet, Und die willkür-
liche Vermengung beider Gattungen erschien ihm „geradezu
sündhaft". Diese Gegensätze mussten sich natürlich auch
bei der Beurteilung der Märchen zeigen. Arnim lässt in
seinen Äusserungen über das Buch mehr praktische Rück-
sichten gelten. Er tadelt mit Recht den wörtlichen Ab-
druck von Vorlagen aus dem IG. Jahrhundort, deren
Sprache für Kinder ebenso unverständlich sei, wie für Er-
wachsene, die kein Studium daraus gemacht hätten, das
Nibelungenlied. Die Roheit einiger Märchen, z. B. das
Schlachtspiel, schien ihm für ein Kinderbuch bedenklich;
schon der „Machandelboonr 1 hatte ihm einst wegen einer
darin wohnenden Grausamkeit widerstrebt. Er berührte
sich in seinem Urteil mit Friedrich Schlegel, der zwar im
allgemeinen eine günstige Kritik über das Buch aussprach
und den Stil lobte, aber eine Reduktion der Märchen von
den vorhandenen 80 Nummern auf 60 für eine Verbesserung
der Sammlung hielt '). Den Arnimschen Ausführungen
gegenüber nahmen die Brüder die Märchen eifrig in Schutz.
Den Einwurf, dass manche es ihren Kindern nicht rück-
haltlos in die Hände geben könnten, hätten sie voraus-
gesehen, der Wahrheit der Überlieferung zu liebe aber
müssten auch Dinge berührt werden, die manche viel-
leicht anstössig däuchten und schwächere Gemüter ver-
letzten. Auch tragische Fälle, wie die Geschichten vom
Schlachten, wären schon durch die tatsächliche Existenz
entschuldigt und stellten ausserdem eine wichtige Seite der
Volkspoesie dar. In allen Mitteilungen der Brüder ver-
nehmen wir den einen Grundton: treues Festhalten an der
Überlieferung. „Hätten wir verändert, zugesetzt, so wären
wir verantwortlich", schreibt Wilhelm an Arnim 2 ). Die Streit-
frage dreht sich hier einfach um ein mehr oder minder. Die
») Briefw. zw. J. u. W. Grimm S. 356.
2) Steiff, Achim v. Arnim 111,207.
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Brüder Grimm leugneten durchaus nicht, dass der Stoff
dadurch, dass sie ihn erzählten, gewisse Umbildungen er-
fahren müsse, doch sei davon das absichtliche Zusammen-
setzen und Ummodeln weit verschieden, und nur dieses
wollten sie bekämpfen. Nicht auf pünktliche Treue kam
es ihnen an, sondern was neben der Achtung vor dem
geschichtlich Gewordenen „dennoch wie von einer nicht zu
bezwingenden Gewalt neu herausgetrieben würde", das
mache den eigentlichen Fortschritt aus ')• Was die Form
mancher Erzählungen betreffe, so könne man die unver-
ständlichen, wie die plattdeutschen oder die Abdrücke
älterer Vorlagen, überschlagen, „und sich sogar freuen,
darum noch etwas für die Zukunft zu behalten" 2 ). Wü-
schen: die erste Auflage hebt den Zweck der Sammlung
als ein Kinderbuch noch weniger hervor. Der wissen-
schaftliche und geschichtliche Wert der Erzählungen gilt
den Brüdern noch ebensoviel wie die künstlerische Form,
sie sind sogar geneigt, diese der Treue in der Überlieferung
aufzuopfern. Jakob spricht es unverhohlen aus, wie er
die Sammlung beurteilt wissen wolle: „Das Märchenbuch
ist mir garnicht für Kinder geschrieben, aber es kommt
ihnen recht erwünscht und das freut mich sehr, sondern
ich hätte nicht mit Lust daran gearbeitet, wenn ich nicht
Glaubens wäre, dass es den ernstesten und ältesten Leuten
so gut wie mir für Poesie, Mythologie und Geschichte
wichtig werden und erscheinen könnte" 3 ). Trotz der ab-
lehnenden Haltung, die hier Jakob gegenüber Arnims
bessernden Vorschlägen zeigt, sind dessen Ausstellungen
an dem Märchenbande für die 2. Ausgabe fast sämtlich
berücksichtigt worden. "Wilhelm, der die Redaktion der
folgenden Auflagen übernahm, war geneigter, das Urteil
der Freunde zu beachten. Uneingeschränktes Lob aber
spendete der Sammlung Joseph Görres in Heidelberg. Ihn ?
der mit Enthusiasmus die Poesie der „teutschen Volks-
>) Steig, Achim v. Arnim 111,207.
2 ) Steig, Achim v. Arnim 111,271.
3) Steig, Achim v. Arnim IIT, 271.
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— 17 —
bücher" verkündigt hatte, mussten die schlichten Erzählungen
aus dem Volke besonders angenehm überraschen. Schon
in der Ankündigung der Sammlung hatten die Brüder ver-
sprochen, dass die Märchen „ohne Schnüre und Goldborten
als ein ordentliches Volksbuch" schlecht und recht ge-
druckt werden sollten. „Meine Hoffnung ist", schreibt
Wilhelm an Görres *), „dass das Buch, wo man es nur
versucht, gleich seine Kraft bewähren wird." Wie be-
geistert es sogleich von der Kinderwelt aufgenommen
wurde, darüber gibt die lobende Anerkennung von Görres 2 )
und der Dankbrief Bettinens 3 ) an die Brüder reiche Aus-
kunft. Seltsam kontrastiert damit Brentanos Mitteilung,
dass es in Österreich verboten war, die Märchen nach-
zudrucken, da sie wegen ihres „abergläubischen" Inhalts
eine Gefahr für die Volksbildung bedeuten sollten 4 ). Auch
von ßüsching kam eine missgünstige Rezension, die den
Grimms den Vorwurf machte, die Märchenwelt verdüstert
zu haben s ). Das schärfste Verdammungsurteil sprach
Heinrich Voss aus. Er stand wie sein Vater der ganzen
Romantik feindlich gegenüber; darum kann seine böse
Kritik nicht schwer ins Gewicht fallen. „Einige Märchen
sind schön", schreibt er an seinen Freund Truchsess, „voll
tiefen Sinnes und einfach und gut erzählt, die meisten aber
sind wahrer Schund, oder wenn auch im Keim gesund, doch
in der Form durchaus verwahrlost. Ich fordere auch hier
das Ideal eines Erzählers, und findet sich der in Wirklichkeit
nicht, so muss der Schriftsteller seinen Platz vertreten" 6 ).
Wie vor dem Schwulst der Lohensteinschen Periode wird
vor der „affektierten Kindlichkeit" der Romantiker gewarnt.
Die Brüder Grimm waren sich des Wertes ihrer
Sammlung wohl bewusst. Dass die Form zuerst auffallen
würde, verhehlten sie sich nicht: „Man wird es leicht
«) am 31. Dez. 1812.
2 ) Brief an Grimm vom 27. I. 1813.
3 ) Steig-, Achim v. Arnim 111,265.
4 ) Steig-, Achim v. Arnim III, 302.
6 ) Steig, Achim v. Arnim 111,297.
e ) Briefe v. Heinrich Voss an Christian v. Truchsess S. 37.
Palast ra XLV1I. 2
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bemerken", schreibt Wilhelm an Görres 1 ), „dass es keine
Hände gearbeitet haben, die sich in poetischen, zierlichen
Darstellungen geübt, dergleichen in unserer Zeit nicht
selten sind; es ist im Gegenteil lieber jeder zarte, süsse
und holde Ausdruck vermieden, der verweichlicht und
verallgemeinert, und der Gedanke so viel als möglich an
der Wurzel gefasst worden". Obwohl noch eine „ge-
wisse Ungeschicktheit in poetischen Arbeiten" 2 ) darin
walte, ist er überzeugt, dass wegen des reichen Inhalts
kaum ein anderes Buch damit verglichen werden könne. —
Die Hoffnungen, die sie auf die Ausgabe der Märchen
gesetzt hatten, erfüllten sich in reichstem Masse. Der
1. Band hatte trotz mancher Mängel als ein gutes Muster
einer Kindermärchensammlung Nacheiferung erweckt. Sie
empfingen von anderer Seite reiche Beiträge, mehr als
sie erwartet hatten, so dass der 2. Band bereits 1814
(mit der Jahreszahl 1815) erscheinen konnte. Die Arbeit
daran lag wesentlich in Wilhelms Händen, da Jakob sich
als Gesandtschaftssecretär in Frankreich befand. Neben
ernsterer wissenschaftlicher Tätigkeit war dem Heraus-
geber das Zusammenstellen der Märchen eine Erheiterung
in den verschiedenen Stimmungen des Jahres 3 ). Jakob
begleitete die Fortschritte des Werkes mit Teilnahme und
Freude 4 ). An Einheitlichkeit der Stilisierung zeigt dieser
Band vor dem ersten bereits einen bemerkenswerten
Vorzug. Die schlichte, treu nacherzählende Art wurde
beibehalten. Arnim übersah nicht die grössere Sicherheit
in der Kunst der Erzählung; nur wünschte er noch ein
stärkeres Hervortreten des Schriftstellers, damit manches
Märchen einen befriedigenderen Abschluss linde 5 ).
In beiden Bänden war eine Reihe von Erzählungen
schriftlichen Vorlagen entnommen; wir wenden uns im
folgenden ihrer Betrachtung zu.
») am 31. Dez. 1812. vg-1. auch Steig 1 , A. v. Arnim 111,252.
2) Steig, A. v. Arnim III, 207.
3 ) Brief an Corres v. 30. I. 1815.
4 ) Briefw. zw. J. u. W. (trimm S. 2(W.
r ) Sleip, A v. Arnim 111,319.
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Die Vorlagen and ihre Bearbeitung.
1.6. Von der Nachtigall und der Blindschleiche 1 ).
Es ist ein französisches Tiermärchen, das erzählt, wie
Nachtigall und Blindschleiche ursprünglich nur je ein Auge
hatten und zusammen lebten, bis die Nachtigall von ihrer
Freundin für eine Hochzeit das eine entlieh, es ihr aber
nachher nicht wieder zurückgab, und wie nun ewige Feind-
schaft zwischen ihnen besteht. — Die Brüder Grimm ent-
nahmen das Märchen dem 2. Bande der M£moires de
l'Acadfrnie celtique (Paris 1808), wo es sicli in der Ab-
handlung: Traditions et usages de la Sologne 2 ) par M. Legier
nahezu vollständig vorfindet 3 ). Es schliesst hier: „L'opinion
des Solognots est que non loin du nid d'un rossignol,
souvent sous l'arbuste oü il est, on peut chercher, on y
trouvera certainement un anvot; j'ai cherche et n'ai rien
trouve*". Im Deutschen steht anstatt dieser kritischen
Bemerkung, die als solche den Ton der einfachen Märchen-
erzählung verlässt, ein anderer Schluss, der die Geschichte
besser abrundet, indem er die stete Feindschaft der beiden
ehemaligen Freunde zum Ausdruck bringt: „und sie trachtet
immer hinaufzukriechen, Löcher in die Eier ihrer Feindin
zu bohren oder sie auszusaufen." Dies ist die wörtliche
Übersetzung einer Anmerkung im 4. Bande der Mcmioires.
Dort heisst es in einem Aufsatz über den Volksglauben
in der Sologne und inBerri: „La fable druidique relative
ä Tanvot et au rossignol y (i. e. en Berri) est aecredit^e
») vgl. R. Köhler, Zs. d. Ver. f. Volkskunde I, 53 ff.
2 ) In Mittelfrankreich, Departement Loire-Cher.
») S. 204 f.
2*
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comme ä Sologne et cit£e m£me comme proverbe, sans
doute parce qu'elle tient ä la fois aux all^gories du drui-
disme et ä la morale. Par ce double rapport, nous avons
cru, M. Johanneau et moi (Legier), qu'elle meritait d'etre
versinke et nous l'avons mis en vers." Der Schluss der
nun folgenden, gereimten Fassung (S. 100—102) lautet:
„Aveugie et nialheureux par trop de complaisance,
Depuis ce temps l'anvot cache son existence
Sous le nid de l'ingrat; attend dans le sileuce
L'instant de se venger de l'u'il qu'il a perdu,
En mangeant Wvuf que le trattre a pondu."
Eine Note zu „l'ingrat 11 erklärt: „On dit qu'il se trouve
toujours un anvot sous le nid du rossignol et qu'il en
perce et mange les (eufs. il
Die Übersetzung schliesst sich eng an den französischen
Text an. Einige Eigentümlichkeiten des Stils fallen jedoch
sofort ins Auge: Grimm legt Wert auf die Beseelung der
Tierwelt. Wie in der Volkspoesie Uberhaupt — am aus-
gedehntesten im Tierepos — werden menschliche Ver-
hältnisse auf die Tiere übertragen, und diese dadurch in
die Mensehenähnlichkeit erhoben. Die knappen An-
deutungen der Vorlage sucht die Bearbeitung möglichst
zu bereichern und dadurch das Ganze poetischer zu ge-
stalten. Aus diesem Grunde erklären sich Ausdrücke wie:
da „wohnt" eine Blindschleiche (on trouvera un anvot) —
Wie die Nachtigall nach Haus gekommen war (le rossignol
de retour) — die Blindschleiche tat es „aus Gefälligkeit*'
(Fanvot le lui preta).
Der volkstümlichen Ausdrucksweise entspricht der
synonyme Parallelismus in den Wendungen: Sie lebten
zusammen in einem Haus „in Frieden und Einigkeit"' (ils
vivaient dans une bonne intelligence) — sie wollte sich
„an ihren Kindern und Kindeskindern 1 ' rächen (venger
sur sa progeniture). Und ähnlich wird im folgenden durch
die Wiederholung eine behagliche Breite zu Gunsten des
volkstümlichen Stils vorgezogen: „Ks gefiel ihr so wohl,
das* sie zwei Augen im Kopf trug und zu beiden Seiten
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— 21 —
sehen konnte, dass sie der armen Blindschleiche ihr ge-
liehenes Aug' nicht wieder zurückgeben wollte" (le rossignol
refusa de rendre Pceil, qu'il lui avait prete*). — „Seit der
Zeit haben alle Nachtigallen zwei Augen und alle Blind-
schleichen keine Augen' 4 (et voilä pourquoi Tanvot ne voit
pas clair). — Die Stelle: „II pria Tanvot de lui prcter son
oeil" lautet bei Grimm erweitert und der Umgangssprache
angeähnelt: ..ich bin da auf eine Hochzeit ge.beten und
möchte nicht gern so mit einem Aug hingehen, sei doch
so gut und leih mir deins dazu, ich bring dir's morgen
wieder/'
Die Lautmalerei freilich in dem Vers der singenden
Nachtigall:
„Je ferai mon nid si haut! si haut! si haut! si bas!
Que tu ne le trouveras pas, a
die an das: .,ziküth kl in dem Märchen von Jorinde und
Joringel (1, 69) anklingt, konnte im Deutschen nicht so
glücklich nachgeahmt werden:
„Ich bau mein Nest auf jene Linden,
So hoch, so hoch, so hoch, so hoch;
da magst du's nimmermehr finden.*
Dafür aber ist der Hinweis auf die Linde als den
Baum der Volkspoesie als glücklicher Zusatz zu bezeichnen:
der Reim auf „finden" macht allerdings die Beifügung sehr
leicht erklärlich.
Einige dialektische Fassungen des Märchens 1 ) sind,
wie R. Köhler zuerst ausgesprochen hat. 2 ) nicht boden-
ständig, sondern gehen unmittelbar auf die Grimmsche
Übersetzung aus dem Französischen zurück. In Frank-
reich lebt die Erzählung noch jetzt vielfach im Volks-
munde fort. 9 )
') vgl. Firmenioh, Gennaniens Völkerstimmen I, 283. H. F.
W. Raabe, Allgem. plattdeutsches Volksbuch 1854, pag. 234.
2 ) a. a. O. S. 63.
*\ ib'd. S. 55 f.
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00
1,8. Die Hand mit dem Messer.
Das Märchen geht ursprünglich auf ein schottisches
Kinder- oder Volkslied zurück, dessen Inhalt die Schrift-
stellerin Mrs. Anne Grant of Laggan (1755—1838) in ihren
Essays 1 ) mitteilt. Sie kannte das Lied aus mündlicher
Überlieferung: „One of these (stories)", schreibt sie, „which
I have heard children at a very early age sing, and which
is just to'them the Babes in the Wood, I can never forget.
The affecting simplicity of the tune, the stränge wild
imagery and the marks of remote antiquity in the little
narrative gavc it the greatest interest to nie. who delight
in tracing back poetry to its infancy." Die nun folgende
Inhaltsangabe bildete die Vorlage für das Grimmsche
Märchen. Bei der Seltenheit des englischen Werkes mag
es erlaubt sein, die betreffende Stelle hier einzurücken;
sie wurde mir gütigst durch die Verwaltung der Bibliothek
des British Museum übermittelt:
„A little girl had beert innocently beloved by a fairy, who
dwelt in a tomban near her mother's habitation. She had
three brothers who were the favourites of her niother. She
herseif was treated harshly and tasked beyond her strength:
Her employment was to go every morning and ent a certain
quantity of turf from dry heathy ground for immediate fuol
and this with somo uncouth and primitive implement. — As
she past the hillock, which contained her lover, he regularly
put out bis band with a very sharp knife of such power, that
it quiekly and readily cut tbrough all impodiraenls. She re-
turned chearfully* and early with her load of turf; and as she
past by the hillock, she Struck on it twice and the fairy stret-
ched out his hand tbrough the surface and reeeived the knife.
The mother, however, told the brothers, that her daughter
must certainly have liad sonie aid to perform the allotted task.
They watched her, saw her receive the enehanted knife and
forced it from her. They returned, Struck the hillock, as she
was wont to do, and when the fairy put out bis band, they
cut it off with his own knife. He drew in the bleeding arm in
despair and supposing this cruelty was the result of treachery
on the part of his beloved, never saw her nioro."
l ) Essays on the superstitions of the highlanders of Scotland.
London 1811. I, 285-8(5.
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— 23 —
Die Bearbeitung folgt fast wörtlich der Vorlage; nur
hin und wieder wurde ein Ausdruck in einer etwas volks^
tümlicheren Färbung wiedergegeben, z. B.: „Sie musste
tagtäglich' morgens früh ausgehen 4 ' (her employment was
to go every morning). Der Zusatz : „ein altes und stumpfes
Gerät, womit es die ,sauere Arbeit' verrichten sollte",
scheint nicht ohne Absicht beigefügt zu sein; Grimm liebt
die volkstümliche Redensart: „es sich sauer werden lassen"
und hat sie verschiedentlich variiert häufiger in den
Märchen angewandt. Obwohl nur die oben mitgeteilte
Inhaltsangabe des Liedes von Grimm benutzt wurde, seien
auch einige Strophen der Originalfassung hier angegeben,
damit das Verhältnis der Prosaauflösung zum ursprüng-
lichen Licde deutlich wird. Anne Grants Versuch der
Übertragung des Textes ins Englische enthält die Worte
dos jungen Mädchens:
„1 behold yonder the tomhan covered with rowan'Jand holly.
Dear to mc is tho troasure whieh it contains.
Sweet and deep was my sluinber
On the brink of the lake of niany salmon.
I awoke, and half of my bed remained not.
I see yonder tbe tonihan, etc.
I see my brother.s afar yonder
Mounted on sleek swift jßrrey steeds:
They ride, but my heart goes not with them.
I see yonder tho tomhan, etc.
I see the hotise of my mother afar off;
Not as it were a house, but a place de.serted.
While sweet slumber falls on others,
Green flames shall encompass her feet.
I see yonder the tomhan, etc. u
Schon diese Strophen lassen erkennen, dass das Ge-
dicht viel breiter angelegt war, als die Grimmsche Vor-
lage, die sehr straff zusammenfasst und nur die Hauptpunkte
der Erzählung berührt. Vollständig ist das Lied auch in
!) Rowan, the mountain Ash.
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— 24 —
der englischen Fassung nicht erhalten. — Das Märchen
wurde als undeutsch in der 2. Auflage überhaupt aus-
geschieden.
1,20. Von einem tapfern Schneider.
Das weitverbreitete 1 ) Märchen vom tapferen Schneider-
lein steht in der l. Auflage in 2 Fassungen unverbunden
nebeneinander. Die erste stammt aus Martin Montanus
(Wegkürzer, cap. 5) und wurde wörtlich daraus abgedruckt.
Auch der Druckfehler in der Vorlage: „das ihm so sehr
grossen Schaden an Fisch (= Vieh) und Leut thet", ging
unverbessert in die Bearbeitung über.
Die zweite Rezension, ein Fragment, erzählt nach einer
mündlichen Überlieferung aus Hessen. Diese hat einen
anschaulicheren Eingang, berichtet ausführlich, wie der
Schneider sich von der Bauerfrau das Mus erhandelt und
29 Fliegen auf einen Streich erlegt. Er näht sich dann
den Gürtel mit der prahlerischen Aufschrift, zieht in die
Welt und erlebt die Abenteuer mit dem Riesen. Mit der
Kraftprobe an dem Kirschbaum, an dem der Riese und
der Schneider ihre Stärke messen, endigt die Geschichte.
Bei Montanus, der wahrscheinlich aus mündlicher Über-
lieferung schöpfte 2 ), ist dieser Teil viel kürzer. In einer
Stadt Romandia, erzählt er, habe ein Schneider 7 Fliegen
auf einem Apfel erschlagen und sei, nachdem er die Helden-
tat auf den Harnisch geschrieben, an des Königs Hof ge-
zogen. Im folgenden wird nun das Leben des Schneiders
in königlichen Diensten mit grosser Ausführlichkeit ge-
schildert.
Erst in der 2. Auflage wurde das Märchen umge-
schrieben und ergänzt (s. u.), ohne jedoch den ursprüng-
lichen Charakter und die Geschlossenheit der Darstellung
zu verlieren. Wie willkürlich war dem gegenüber Brentanos
Verfahren! Sein Märchen vom Schneider Siebentot ist in
>) vgl. ausser Grimm 111,3 29 R. Köhler, Kleinere Schriften
I, 5C3 f.
-) vgl. Monianus. Schwankhücher ed. Bolte S. XVI.
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— 25 —
bunter Ordnung mit der Erzählung vom Däumchen ver-
knüpft. Lächerliche Bezeichnungen, scherzhafte Lieder
und Angriffe auf Juden und Schneider machen das Ganze
zu einem launigen Gemisch halb märchenhafter, halb
satirischer Dichtung.
I, 22. Wie Kinder Sehl achtens mit einander gespielt
haben.
Die uralte Sage „von einem Kinde, das kindlicher
Weise ein anderes Kind umbringt" entnahmen die Brüder
H. von Kleists Berliner Abendblättern, wo es in Nr. 38
vom 13. November 1810 abgedruckt war. Der anonyme
Einsender war Achim von Arnim '), der die Erzählung
„aus einem alten Buche", nämlich aus Georg Wickrains
Rollwagenbüchlein 2 ) mit ganz geringen sprachlichen Mo-
dernisierungen zum Abdruck brachte. Die Veranlassung
dazu gab offenbar Zacharias Werners 1809 gedichtetes
Trauerspiel: Der 24. Februar. Arnim verweist in seiner
Zuschrift, die eine Aufführung des Dramas in Berlin an-
regen wollte, auf das ähnliche Motiv, das in Werners
Spiel zu Grunde liege; ein wichtiger Teil der Vorgeschichte
des Stücks ist mit Anlehnung an eine ähnliche Mord-
geschichte gedichtet worden.') Der kleine Kurt Kuruth
hat in kindlicher Naivetät seine Schwester im Spiel ge-
schlachtet, nachdem er die Mutter hatte ein Huhu ab-
stechen sehen. Wahrscheinlich schwebte Werner hierbei
eine mündliche Überlieferung der weitverbreiteten Sage
vor. — Einen ergiebigen Gebrauch davon machte später
Arnim im 2. Teil der Kronen Wächter. 4 ) Er gestaltete die
Erzählung romanhaft aus und spitzte sie ähnlich wie
Werner zu einem Geschwistermorde zu. Oswald, das
nachgebliebene Söhnchen Bertholds, wird von dem Sohne
Antons, seinem Stiefbruder, unter gleichen Umständen,
1) R. Steig, II. v. Kleists Berliner Kämpfe S. 202.
2 ) Georg Wickram, Werke III, S. 97 f.
8 ) vgl. E. Schmidt, Vicrteljahrschr. f. Litterat.-Gosch. I, .jt'3.
*) Steig, H. v. Kleists Berliner Kämpfe S. 203.
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— 26 —
wie die Sage erzählt, im Spiel hingemordet; der Mörder
trinkt das Blut seines Opfers. Hineingeflochten aber wird
von Arnim ein mystischer Zug, als ob eine geheimnissvolle
Macht des Blutes die grausige Tat veranlasst habe. Bert-
holds „zweites Leben 1 ', dem Oswald entstammte, war erst
durch eine künstliche, von Dr. Faust vorgenommene Blut-
übertragung möglich geworden; es war Antons Blut, das
in dem Kinde floss. Der Mörder tat nach Arnims Dar-
stellung nur den Willen des Schicksals, wenn er das Blut,
das ihm eigentlich gehörte, zurückforderte. Beim Morde
kam dasselbe Messer zur Verwendung, das beim Aderlass
des Vaters einst gebraucht worden war. — Ähnlich ist
die Durchführung einiger Gedanken bei Werner. Auch
hier spielt das Mordmesser eine grosse Rolle, so dass man
behaupten kann, dass nicht nur der Abdruck in den Abend-
blättern, sondern auch die poetische Umgestaltung der
Sage in den Kronenwächtern von dem virtuosen Schicksals-
drama angeregt und beeinflusst worden ist, um so mehr,
als es sich auch liier um einen Geschwistermord handelt,
der in der von Arnim benutzten Fabel ursprünglich nicht
vorhanden war. — - Die Grimmsche Bearbeitung hat nicht
versucht, eine andere Stilisierung des Märchens vorzu-
nehmen.
Verwandt mit der eben behandelten Erzählung ist eine
andere Fassung (22 b ), die nur noch das Grausige der Er-
eignisse häuft: Ein Kind ersticht seinen Bruder, ertrinkt
selbst im Badezuber, die Mutter erhängt sich aus Ver-
zweiflung, und der Mann, der bei der Bückkehr vom Felde
das Unglück wahrnimmt, stirbt vor Gram. Der Grimmsche
Text ist, abgesehen von geringfügigen Wortveränderungen,
ein getreuer Abdruck der Vorlage: Martin Zeillers
Miscellanea (Nürnberg 1G61, S. 388). Zeiller übersetzte
aus J. Wolfs Lectiones memorabiles (1600). Schon in
der Zimmerischen Chronik wird die Geschichte erzählt 1 ).
! ) vgl. Holte, Anmerkung zu Wickram 111,3«"); Goodeke,
Schwanke S. 40.
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- 27 -
Die Vorlage bringt noch einen sagenhaften Bericht Uber
das Zustandekommen des Distichons:
„Sus, pueri bini, puer unus, nupta, maritus
cultello, lympha, fune, dolore cadunt*
das in wenigen Worten den Inhalt der entsetzlichen Tra-
gödie wiedergibt. Mit Recht fand Arnim die beiden Er-
zählungen wegen der rohen Grausamkeit, die darin zum
Ausdruck kommt, als Kindermärchen unpassend 1 ); in der
2. Auflage blieben sie weg.
1,23. Mäuschen, Vögelchen und Bratwurst.
Das Märchen ist ein nahezu wörtlicher Abdruck der
Vorlage: Moscherosch, Gesichte Philanders von Sitte waldt,
II. Teil, Schluss des 7. Gesichts. Infolgedessen blieb auch
der altertümliche Stil bestehen und wurde auch in den
späteren Auflagen nur wenig verändert. Der Inhalt ist
kurz dieser: Eine Maus, eine Bratwurst und ein Vogel
leben eine Zeitlang in glücklicher Gemeinschaft; jedes
übt seine besondere Tätigkeit in der Wirtschaft aus. Der
Vogel aber wird seiner Arbeit bald überdrüssig, und die
W r urst muss sein Amt Ubernehmen, nämlich Holz im W T alde
zusammen zu suchen. Eines Tags aber wird sie von einem
Hund angetroffen und als freie Beute verzehrt. Er habe
falsche Briefe bei ihr gefunden, erwidert er dem Vogel auf
dessen Beschwerde. Die Maus übernimmt nun die Rolle
der Bratwurst und schlingt sich durch das Gemüse, um
es zu schmälzen, kommt aber dabei um; bei dem Versuch,
eine entstandene Feuersbrunst zu löschen, muss auch der
Vogel sein Leben lassen.
Die Vorlage unterscheidet sich von der Bearbeitung
wesentlich nur durch die Tendenz. Moscherosch überträgt
die im Märchen geschilderten Verhältnisse auf die politischen
Zustände seiner Zeit; die Figuren der Erzählung vertreten
ihm die drei Stände. Aus dem Verlauf ergibt sich für ihn
wie aus einer Fabel die Lehre, dass der Staat nur solange
i) Steig, Achim von Arnim III, 2G3.
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— 28 -
bestehen könne, wie die Stände sich freiwillig einander
unterordneten, „da es je und allewege ein Zeichen Unter-
ganges gewest, wann sich einer in seinem Stande nicht
mehr benügen lassen". Bei Grimm ist von Beziehungen
auf die Zeitgeschichte keine Spur mehr vorhanden. Der
tendenziöse Charakter ist vollständig abgestreift, und wir
haben das blosse Tiermärchen vor uns. Die dem Märchen-
stil eignenden Koseformen: „Mäuschen", „Vögelchen",
„(Brat-) Würstlein" stehen in der Vorlage ohne Ver-
kleinerungssilben. Die Verwendung der Deminutiva ver-
leiht dem Vortrag eine gewisse Zierlichkeit.
1,27. Der Tod und der Gänshirt.
Der wörtliche Abdruck einer Erzählung aus Ph. Hars-
dörfers Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichten. 5 ) —
Ein armer, lebensmüder Hirt bittet den Tod, ihn über ein
grosses Gewässer ins Jenseits mit hinüberzunehmen. Nach-
dem dieser einen Geizhals abgeholt und ertränkt hat, führt
er den Hirten mit seiner Gänseherde wohlbehalten in den
Himmel. Hier verwandeln sich die Gänse in Schafe, und
die drei Erzväter geleiten den Hirten in ein schönes Schloss
und krönen ihn. — Harsdörfer erzählt die Geschichte als
ein allegorisches Lehrgedicht, das „der Gottlosen und
Frommen jetzigen und künftigen Zustand bedeute. 4 '
Wegen seines dürftigen Inhalts fiel das Märchen in
der 2. Auflage fort; an seine Stelle trat das schon bei
Rollenhagen im Fröschmäuseler 2 ) bearbeitete Märchen von
den Bremer Stadtmusikanten nach mündlicher Tradition
aus dem Paderbörnischen.
1,35. Der Sperling und seine vier Kinder.
Die vier Jungen eines Sperlings werden durch einen
Sturm aus dem Nest geschleudert, kommen aber alle mit
>) Ausg. v. 1063, S. G51 f.
2) ed. Goetieke, III, 9.
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— 29 —
dem Leben davon. Nach einem Jahr treffen sie mit ihrem
Vater wieder zusammen und berichten über ihre Erlebnisse.
Jeder hat während der Zeit so viel gelernt, dass er der
Hülfe des Alten nicht mehr bedarf. — Das Märchen ist
dem ,.Fabulhans" Joh. Balthasar Schupps entnommen, 1 )
einem Tractat, der mit grossem Eifer die Verwendung
volkstümlicher Erzählungen auf der Kanzel verteidigt.
Schupps Quelle waren die Predigten des Lutherbiographen
Johannes Mathesius. — Die Grimmsche Bearbeitung be-
hält die ursprüngliche Fassung nahezu unverändert bei.
Einige Ausdrücke wurden modernisiert: warnen vor (für),
die hohl sind (sein), sehet euch vor (für). Manche Ab-
weichungen sind wenigstens für die 1. Auflage als unfrei-
willig zu bezeichnen, da das Märchen sonst durchgehends
die archaischen Formen festhält; auch die späteren Auf-
lagen überlieferten den Text in der Sprach form des
17. Jahrhunderts und haben nur hier und da einen alter-
tümlichen Ausdruck ersetzt.
Arnim erzählt das Märchen unter der Überschrift:
„Die Schule der Erfahrung u in der Gräfin Dolores. 2 ) Der
Text ist hier genauer, als in der von ihm 1817 zum An-
denken an die Reformation herausgegebenen Auswahl der
Predigten des Mathesius. Die Fassung in der Sprich-
wörtersammlung des Chytreus (1571), mit der bei Mathesius
übereinstimmend, bildete die Vorlage für die Darstellung
in Rollenhagens Froschmäuseier*), wo das Märchen viel-
fache Erweiterungen im einzelnen erfahren hat. Betitelt
ist es: Doktor Sperlings Rat. Sowohl Rollenhagen wie
Arnim machen schon durch die Überschrift auf den
lehrhaften Grundgedanken aufmerksam; bei Grimm fällt
wiederum die Vermenschlichung der Tierwelt ins Auge;
hier ist das Märchen „Der Sperling und seine vier Kinder"
überschrieben.
') A.isjr. v. 1700, S. 780.
2) Werke M, 190 !f.
3) Hitch, 2,2, VII.
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Drei Märchen wurden aus Heinr. Jung-Stillings Lebens-
geschichte (1777) entlehnt: Jorinde undJoringel (1,69),
der Grossvatcr und der Enkel (1, 78) und die alte
Bettel fr au (11,64). Die in einfacher Sprache gehaltene
Biographie des frommen Mannes erinnert zuweilen selbst
durch die wunderbare Entwickelung der Begebenheiten an
eine märchenhafte Erzählung. Von Jugend auf mit dem
Leben des Volkes vertraut, hatte Stilling für Volkspoesie
lebhaftes Interesse; mit grossem Geschick weiss er die
Märchen in den Verlauf der Lebensbeschreibung einzu-
schalten. „Jorinde und Joringel" ') wurde wörtlich von
Grimm abgedruckt und gibt zu stilistischen Bemerkungen
keinen Anlass. Die Verwandlung der Hexe in einen Hasen,
die bei Grimm fehlt, ist wohl nur durch Flüchtigkeit zu
erklären, da der Text sonst die Vorlage genau wiedergibt.
Eine mündliche Erzählung aus der Schwalmgegend in
Hessen, die die Brüder anmerkungsweise zitieren, weicht
von der Stillingschen Fassung nur in Nebenzügen ab und
ist für die Grimmsche Bearbeitung nicht weiter von Be-
deutung gewesen.
2. Das bekannte Märchen vom Grossvater und Enkel 2 )
hat Stilling in die Lebensgeschichte eingeflochten und es
infolgedessen mit einigen Zusätzen belastet. Er versetzt
es in die unmittelbare Gegenwart und legt es einem
Knaben in den Mund, der es als neuestes Erlebnis seinen
Kameraden beim Spiel erzählt. Aus dieser Voraussetzung
erklären sich Hinweise wie: „Neben uns wohnt der alte
Frühling, ihr wisst wie er dahergeht" oder: „ich habe itin
wohl sehen essen" — „nun hat er ehegestern sein irdenes
Schüsselchen zerbrochen" — „da musste er gestern Mittag
aus essen". Diese Zusätze, wie auch den willkürlich ge-
wählten Eigennamen, liess die Bearbeitung fort, hielt sich
aber sonst eng an die Vorlage. Nur ein paar Ausdrücke
sind bei Grimm anschaulicher: „Wenn er nun bei Tisch
') Jung Stilling, Red. S. 63 f.
'■0 a. a. O. S. 78.
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31 —
sass und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe
auf das Tischtuch". (Wenn er dann so am Tisch sass und
zitterte, so verschüttete er immer vieles.) Das altertümliche
Wort: „Schnur" (Schwiegertochter) ist bei Grimm moderni-
siert: „Sein Sohn und dessen Frau".
3. Die alte Bettelfrau ').
Es ist ein Fragment: Eine alte Frau tritt ins Haus,
um sich zu wärmen; aus Versehen kommt sie dem Feuer
zu nahe, und ihre Kleider fangen an zu brennen, ohne
dass sie's gewahr wird. Ein Knabe steht dabei, bemüht
sich aber nicht zu retten: „Wenn er kein Wasser gehabt
hätte, dann hätte er alles Wasser in seinem Leibe zu den
Augen herausweinen sollen, das hätte so zwei hübsche
Bächlein gegeben zu löschen." Damit bricht die Erzählung
ab. Stilling fügt das Märchen an einer wichtigen Stelle
seiner Lebensgeschichte ein. Zwei junge Mädchen sind in
ihn verliebt. In einem seltsam verzückten Zustand
schwärmerischer Leidenschaft gesteht die eine ihm durch
bedeutungsvolle. Verse aus einem Volkslicde und durch
das Märchen ihre Neigung. Sie selbst ist die Bettelfrau,
der „freundliche Schelm von Jungen" ist Stilling. Ihr Herz
hat von ihm Feuer gefangen und nun wolle er's nicht
löschen, da er sich von ihr zurückziehe. Der Schluss fehlt.
Hierzu macht Grimm die Anmerkung: „Vermutlich rächt
sich das Bettelweib durch eine Verwünschung, wie man
mehr Sagen von eintretenden pilgernden Bettlerinnen hat,
die man nicht ungestraft beleidigt". Vielleicht kannte
Stilling das Märchen selbst nicht vollständig, wahr-
scheinlich aber unterdrückte er den Schluss absichtlich.
Dadurch, dass Stilling und seine Geliebte die Personen
des Märchens darstellten, war es unmöglich, dass das
Mädchen in der Rolle der Bettlerin einen Fluch über ihn
aussprechen konnte. Sie ist mehr traurig als erzürnt über
den kalten Liebhaber. Und durch die Zwischenfrage
Stillings: „Aber wenn er nun kein Wasser hatte, nicht
») a. a. O. S. 118.
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— 32 —
löschen konnte?" wodurch er seine Zurückhaltung ent-
schuldigen und verteidigen will, wird in dem leidenschaft-
lichen Mädchen das bittere Gefühl verschmähter Liebe auf
den Höhepunkt getrieben, und sie bricht in Tränen aus.
Unmöglich konnte jetzt eine Verwünschung nachfolgen.
Wie berechtigt aber die Brüder Grimm zu ihrer Hypothese
waren, wird durch den Zusatz der 2. Auflage bestätigt;
hier verweisen sie auf Heinrich von Kleists Bettelweib von
Locarno, wo das Märchen in allen Teilen vertieft und ins
Gespensterhaft -furchtbare vergrössert worden ist. Viel-
leicht geht Kleists Novelle ebenfalls auf Stilling zurück 1 ),
doch kann es sich hierbei nur um eine Anregung handeln.
Die Grimmsche Bemerkung, dass die vortragende Amme
oder Mutter den zuhörenden Kindern vielleicht auch den
Gang der krummen, gebückten Alten mit dem Stock in der
wackelnden Hand vormacht, stützt sich auf die Darstellung
in ihrer Vorlage. — An dem eigentlichen Märchen haben
die Brüder nichts geändert; nur die verschiedenen Zwischen-
bemerkungen und Fragen, die bei Stilling durch die Ein-
tlechtung des Märchens in den Zusammenhang des Romans
nötig geworden waren, üelcn fort.
1,32. Der gescheite Hans.
An die aus mündlicher Überlieferung (Maingegenden)
geschöpfte Erzählung vom gescheiten Hans reiht die
1. Auflage eine Parallele aus J. Freys Gartengesellschaft,
Kap. 1, an. Bebels Schwank: De fatuo rustico (Opus-
cula 1514) bildet den Ausgangspunkt. Freys Übersetzung
schliesst sich eng der lateinischen Vorlage an, die Grimmsche
Bearbeitung ist der wörtliche Abdruck aus der Garten-
gesellschaft. — Die Streiche des dummen Hans sind hier
in reicher Vollständigkeit beisammen. Er besudelt die
von der Braut geschenkten Handschuhe, erwürgt den
Habicht, trägt die Egge auf den Händen und lässt den
Speck vom Pferde heimschleifen. will dann zu Hause den
ij Steife-, Kloisls Berliner Kämpfe, S. 524.
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verschütteten Wein mit Mehl auftrocknen, tötet die
schreiende Gans, die ihn seiner Meinung nach verraten
will, setzt sich nun mit Honig beschmiert auf ihre Eier,
um sie auszubrüten, und wirft dann nach Eulenspiegels
Art seiner Braut ausgestochene Schafaugen ins Gesicht.
JedeseinerAlbernheitenhatin der mittelalterlichen Schwank-
litteratur die mannigfaltigsten Variationen.') In Grimms
Sammlung steht es nur in der 1. Auflage; es wurde nach-
her wegen der altertümlichen Sprache in die Anmerkungen
aufgenommen. — Dass der Grimmsche Ausdruck: ,.Löffel-
bitz" auf einem Lesefehler beruht: „und trug sie wie ein
anderer Löffel bis heim", ist bereits von Bolte bemerkt
worden 1 ).
1,82. Die drei Schwestern.
Zu Grunde liegt die Chronika der drei Schwestern
von Musäus. Der Inhalt des Märchens ist kurz folgender:
Ein Graf verprasst sein Gut und verkauft, um sein Leben
zu erhalten, seine drei Töchter Wulfhild, Adelheid und
Bertha an einen Bären, einen Aar und einen Delphin, drei
verzauberte Prinzen. Diese sind gut und schön in Menschen-
gestalt, die jeder nach einer bestimmten Frist (7 Tagen —
7 Wochen — 7 Monaten) einmal annehmen kann; wenn
sie aber wieder Tiere geworden sind, darf ihnen kein Mensch
ungestraft nahen. Ein spätgeborener Sohn des Grafen.
Eeinald, macht sich auf, um die Schwestern zu suchen
und zu erlösen. Jeder Schwager ist eine Gefahr für ihn;
verwandelt aber nehmen sie ihn gastfreundlich auf, und
jeder schenkt ihm beim Abschied ein Mittel, womit Reinald
die Entfernten zu Hilfe rufen könne, wenn er sich in Not
befinde; der Bär drei Haare, der Adler drei Federn und
der Delphin drei Schuppen. Er macht von diesen Geschenken
in Lebensgefahr Gebrauch; es gelingt ihm, den Zauberer
Zornebock, einen Sorbenfürsten, zu erschlagen, und damit
wird nicht nur den verwandelten Prinzen ihre rechte Ge-
') Anmerkung zu Frey, Gartenges. Kap. I.
Palaestra XLVII. 3
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— 34 —
stalt wiedergegeben, sondern noch dazu eine schöne Prin-
zessin, Hildegard, die Tochter Radbods von Pommern, aus
der Gefangenschaft des Zauberers erlöst und von Reinald
heimgeführt. Die Darstellung bei Musäus weist die Vorzüge
und Mängel seiner sonstigen Schreibweise auf. Den knappen
Inhalt hat er sehr reich ausgestattet und mit den Arabesken
seines Witzes umrankt. Freilich hat dadurch die Erzählung
den märchenhaften Charakter beinahe verloren, und nur
selten hört man die schlichte Volkssprache. Die Schilderung
ist im einzelnen sehr ausführlich und die Beschreibung der
Situationen breit angelegt. Vor allem drängt sich das
komische Element hervor. Nicht ohne ein wenig Frivo-
lität wird erzählt, dass bei der alternden Gräfin der Segen
des frommen Eremiten in der Klause so wirksam war, dass
die Geburt Reinalds bald erfolgte, und als dieser später
vor der schlafenden Jungfrau im Banne ihrer Schön-
heit ohne sich zu regen dasteht, bemerkt der Erzähler
ironisch, dass das erleuchtete, über die Naivetät der
Märchenwelt weit erhabene 18. Jahrhundert dergleichen
Situationen ganz anders benutzt hätte. Treuherzige, ein-
fache Darstellung wechselt mit satirischen Auslassungen
über menschliche Zustände und Sitten: der verzauberte
Prinz steht auch als Bär „unter dem Pantoffel seiner Dame",
verallgemeinernd wird bisweilen der leichtfertige Charakter
der Frauen angegriffen. Ehrwürdige Gestalten macht er
gern durch Zusätze lächerlich: Graf und Gräfin sind bei
ihm „Papa" und „Mama", der verzauberte Prinz „Signor
Albert". Es fehlt nicht an spöttischen Anspielungen auf
die Zeitgeschichte: „Zephyre" wehen „bei einer empfind-
samen Abendpromenade". Wenn vom Delphin gesagt wird,
er habe so viel „physiognomisches Gefühl" besessen, Unheil
zu wittern, so deutet der Verfasser der „Physiognomischen
Reisen" auf Lavaters Bemühungen hin. „Die Morgenröthe
philanthropistischer Methode" spielt auf Basedow an, und
wenn Bertha „glänzt wie der Silbermond den empfindsamen
Wanderern in der Sommernacht", hören wir deutlich die
bekannte Klopstocksche Ode anklingen. „Freund Hain"
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darf natürlich in dieser Umgebung nicht fehlen. Ferner
liegen die Hinweise auf die Siebenschläfer und einige un-
bekannte Namen. Störend wirkt die Menge der Fremd-
wörter, die bisweilen gleichfalls zu komischen Effekten be-
nutzt werden: „veramort", „ein unbefangenes Air zu
affektieren". Vor allem aber treten sie bei der Schilderung
des gesellschaftlichen Lebens stark hervor. Hier ist der
ganze Zuschnitt modern-französisch; Worte wie: Livröe,
Juwelen, Dublonen, Toilette, Carosse, Cavalcade, Agraffe,
credenzen, Bai pare\ Plafond, Bankett, Föten usw. um-
schwirren das Ohr. Wie wenig er die Vorstellung des
Märchenzeitalters erwecken will, ergibt sich auch daraus,
dass Bertha „im reizenden Morgenn6gligee ihre Chocolade"
trinkt, wie das vornehme Fräulein des 18. Jahrhunderts,
Modern berührt schon die willkürliche Benennung der
Personen: Adelheid hat ihren Namen mit bewusster An-
lehnung an ihren Gemahl, den Adler, erhalten. Zum
Schluss lässt er die drei verzauberten Prinzen Gründer
von Reichen und Städten werden: Albrecht der Bär gründet
Bernburg in der Herrschaft Askanien, Edgar der Aar die
Stadt Aarburg in der Schweiz, Ufo der Delphin bemächtigt
sich im Burgunderreich des nach ihm benannten Delphinats.
Das Symbol ihrer Wappen erinnert an ihren früheren, ver-
zauberten Zustand.
In der Grimmschen Bearbeitung ist nur der Gedanken-
gang der Musäusschen Erzählung beibehalten; alle Aus-
führungen im einzelnen fehlen, die Brüder begnügen sich
mit einem Auszug. Die Schlussepisode vom Zauberer
Zornebock wurde von ihnen mit Unrecht für eine Erfindung
des Musäus gehalten und fortgelassen; sie gehört indessen
notwendig zur Entwickelung des Ganzen und bringt die
Geschichte Reinalds zu gefälligem Abschluss. Auch in
den drei Tierbrüdern (Li tre Rri Anemale), einem Märchen
von Basile, Pentam. IV, 3 löst der Bruder der Prinzessinnen,
Tittone, den Zauber dadurch, dass er eine Königstochter
von einem Drachen befreit: beide Märchen stimmen auch
im übrigen zusammen. Die verzauberten Fürsten sind hier
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ein Hirsch, ein Falke und ein Delphin, und rauben ihre
Bräute durch Verheerung des Landes. Es ist aber fraglich,
ob Musäus den Pentaincrone benutzt hat; wahrscheinlich
stützte er sich auf ältere volkstümliche Überlieferungen.
Von den Namen blieb in der Bearbeitung nur Reinald,
der den Grimms am meisten volkstümlich erschien; aus
gleichem Grunde einige formelhafte Wendungen wie: „So
gings über Stock und Stein, Berg auf, Berg ab, durch
Wüsten und Wälder, Horst und Hecke, ohne Ruh und
Rast". Hinzugefügt wurden die Reimworte: „da lag ein
Centner Gold darin und glimmerte und flimmerte" — „da
lebte er in Saus und Braus". Edgars Ruf an die Braut:
„Ich sehe dich, ich suche dich, fein Liebchen, ach« verbirg
dich nicht. Rasch schwing dich hinter mich aufs Ross,
du schöne Adlerbraut!" zeigt auch bei Musäus rhythmische
Gliederung gemäss der „Lenore"; bei Grimm lautet er
einfacher und gereimt: „Schwing dich auf, schwing dich auf,
du Fräulein traut, komm mit, du schöne Adlerbraut".
Ebenso reimt Grimm: Ade, du Fräulein traut, Fahr hin
du Bärenbraut! (Ade mein Töchterlein, fahr hin, du Bären-
braut), fügt auch des Parallelismus wegen beim Raub der
dritten Tochter den Vers ein:
„Ado, du Fräulein traut.
Fahr hin, du Walfischbraut!*
der bei Musäus nicht angedeutet war.
An den Schluss setzt Grimm einen lustigen Kinder-
reim: „Da war Freude und Lust in allen Ecken, und die
Katz läuft nach Haus, mein Märchen ist aus". Er er-
innert an den Ausgang des Märchens von Hansel und
Gretel (15): „Mein Märchen ist aus, dort läuft eine Maus,
und wer sie fängt, darf sich eine grosse, grosse Pelzkappe
daraus machen".
Die wenigen schmückenden Zusätze, die Grimm dem
Auszug beifügt, haben der Darstellung die lebendige Frische
und Anschaulichkeit, die uns in der Vorlage trotz mancher
unliebsamen Eigentümlichkeiten ihres Stils anmutig berührt,
nicht verleihen können. Aber es ist nach Ausscheidung
"V.
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— 37 —
aller satirischen und witzigen Anspielungen einfach und
schlicht, und als Kindernlärchen der Musäusschen Fassung
vorzuziehen: das Interesse beschränkt sich allein auf die
Geschichte des Grafen und seiner drei Töchter. Die aus-
führliche Darstellung ist auf ein Fünftel zusammengezogen,,
und der kunstvolle Periodenbau der Vorlage in kurze Sätze
aufgelöst. Wenn man auch nicht soweit gehen wird wie
Heinrich Voss, der die Grimmsche Bearbeitung im Ver-
hältnis zu Musäus mit einem Skelet gegenüber dem
Danneckerschen Schiller verglich '), so hat doch unzweifel-
haft die Erzählung trotz der Mannigfaltigkeit des Inhalts
etwas Eintöniges und Nüchternes. Jakob selbst bezeichnete
es als das schlechteste Märchen der ganzen Sammlung, da
ihm der frische Klang der mündlichen Erzählung mangle 2 ).
11,24. Der Jud* im Dorn.
Das Grimmsche Märchen ist in der Hauptsache eine
Bearbeitung des dramatischen Spiels, betitelt: „Historia von
einem Bawrenknecht und Mönchen, welcher in der Dorn-
hccke hat müssen tanzen", von Albrecht Dietrich 1618.
Die Erzählung liegt jedoch schon in einigen früheren Auf-
zeichnungen vor. Den Ausgangspunkt für die verschiedenen
Darstellungen bietet 1. ein englisches, anonymes Gedicht:
„The Friar and the Boy" nach einer Cambridger Hand-
schrift des 15. Jahrhunderts (gedruckt vor 1535), und 2.
eine deutsche Erzählung in dramatischer Form von Dietrich
Albrecht: „Eine kurzweilige Historia, welche sich zuge-
tragen mit einem Bawrenknecht und einem Mönche etc."
Anno 1599 1 ). Über das Abhängigkeitsverhältnis der beiden
Gedichte lässt sich nichts Bestimmtes ausmachen, doch
spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die deutsche
Fassung an das englische Original oder an dessen 152S
gedruckte niederländische Übersetzung angelehnt ist. Die
») Briefe an Truchsess S. 42.
2 ) Steig, A. v. Arnim 111,255. — W. CJrimm, s. u. Beilagen.
3 ) Bolte, Festschrift zur Begrüssung' d. 5. Neuphilol.-Tap'w
1892 S. 1 ff., wo sich auch der Abdruck befindet.
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Gruppe, die das englische Gedicht eröffnet, erzählt von
dem kleinen Jack, der von seiner Stiefmutter schlecht be-
handelt wird. Mit Hilfe eines alten Mannes, der ihm drei
Wünsche gewährt, weiss er sich aber an ihr zu rächen.
Wie die erzürnte Alte ihm den Mönch Tobias nachsendet,
um ihn zu bestrafen, muss sich dieser von den Dornen
zerkratzen lassen. Ein Nachspiel vor Gericht endigt zu
Gunsten des Angeklagten. — Die deutschen Bearbeitungen
weichen nur in Nebendingen ab. Das ältere Reimspiel von
1599 hat mit Albrecht. Dietrichs dramatischer Fassung
(1618) ungefähr gleichen Inhalt, auch formal stimmen beide
überein, nur ist letztere, die Grimmsche Vorlage, etwas
roher und polternder im Ton. Der tölpelhafte Knecht
Dulla wird von dem Nachbar seines Brotherrn, namens
„Säumagen", aufgestachelt, seinen Dienst zu verlassen. Er
gibt dessen Reden schliesslich Gehör, fordert seinen Lohn,
und der geizige Bauer zahlt ihm für drei Jahre Dienst
drei Pfennige. Aus Freude darüber singt Dulla ein Dank-
lied. Er begegnet einem Geist, dem er auf dessen Bitte
seine Barschaft übergibt; als Gegengeschenk erhält er
drei Wünsche gewährt. Das Folgende entspricht der
Grimmschen Bearbeitung, nur tritt hier statt des Mönchs
ein Jude auf.
Jakob Ayrers Fastnachtspiel von Fritz Dölla mit der
gewünschten Geigen 1 ) hat manches mit Dietrichs Reim-
spiel gemeinsam. Wahrscheinlich kannte Ayrer, der bereits
1605 starb, eine ältere Fassung des Stücks, da er docli
wieder von Albrechts Spiel 1599 in Einzelheiten stärker
abweicht. Für das Grimmsche Märchen kommt seine Dar-
stellung nicht in Betracht, dagegen wurde die Verwandlung
des Mönchs in einen Juden nach einer mündlichen pader-
börnischen Überlieferung vorgenommen. Auf diese wird
auch die einfachere Entwickelung am Anfang zurückgehen.
Der Nachbar, der den Knecht zum Verlassen des Dienstes
antreibt, fehlt; der Geist wurde in ein kleines Männchen
verwandelt, das auch sonst in den Märchen als Ver-
') Opus theatricum Bl. 07 ff. Keller S. 2829 ff.
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— 39 —
körperung eines hülfreichen Wesens erscheint. — Die
beiden ersten Auflagen bringen das Märchen nahezu in
derselben Gestalt. Die Darstellung zeigt nur wenige be-
sonders charakteristische Züge. Vereinzelt finden sich
in den schlichten Sätzen formelhafte Verbindungen wie:
,.er wanderte fröhlich über Berg und Tal;" „wie er auf ein
Feld kam, singend und springend." Volkstümlich ist auch
die Wiederholung in dem Satze: „obendrauf sass eine
kleine Lerche und sang und sang", ebenso die Art, be-
liebte Personen durch das anteilnehmende Pronomen
possessivum auszuzeichnen: Mein Knecht aber dünkte sich
noch zehnmal froher — Wie mein Knecht das viele Geld
sah — der Richter verurteilte meinen Knecht zum Tode
am Galgen. Der Monolog steht einmal mit dem volks-
tümlichen Personenwechsel 1 ): der Knecht dachte, was
willst du dir's länger sauer werden lassen, du kannst dich
nun pflegen. . . . Erst die dritte Auflage änderte das
Märchen wesentlich um. Es wurde namentlich durch volks-
tümliche Ausdrücke und sprichwörtliche Redensarten be-
reichert, z. B.: der Knecht ist stets willig, wenn es „eine
sauere Arbeit" gibt; sein Herr meint, er würde „hübsch"
im Dienst bleiben, aber er will fort, „um sich weiter in
der Welt umzusehen". Er glaubt mit drei Pfennigen
„vollauf in der Tasche zu haben" und gibt auf die Frage
des Männleins, wieviel er besitze, die stolze Antwort:
„Drei bare Heller, richtig gezählt!" (I. Aufl.: Drei ganzer
Pfennig). Deutlich treten die folgenden aus dem Zusammen-
hang heraus: „Du bist einer, der blau pfeifen kann; wer
ihm doch Salz auf den Schwanz streuen könnte; ich will
dich jagen, dass du die Schuhsohlen verlieren sollst; du
Lump steck einen Groschen ins Maul, dass du sechs Heller
wert bist; ein Stein auf dem Erdboden möchte sich er-
barmen; Gott bewahre, er greift die Lügen wie Fliegen
an der Wand. Das muss ich dir sagen, du machst
deinen Tanz noch mit, dass es eine Art hat." Statt: „er
*) vgl. hierüber .1. Crimnis Aufsatz: Über den Personen-
wechsel in der Hede (Kl. Schritten IIT).
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— 40 —
fragte ihn seiner Lustigkeit wegen" (1. u. 2. Aufl.), heisst
es jetzt mit Beziehung auf das bekannte Märchen (81):
„Wo hinaus, Bruder Lustig?" Mit besserer Allitteration, zu-
gleich archaisierend, zeigt sich der Ausdruck: „fing alles
an zu wabern und zu wanken" (da wankte alles und be-
wegte sich). Auch die Verbindung: „du bist jung und
kannst dir dein Brot leicht verdienen", hat wegen des
prägnanten Gebrauchs der Redensart: „sich sein Brot
verdienen" volkstümlichen Klang. Der naiven Kinder-
sprache gehört an, wenn Grimm schreibt: „Das Männlein
griff in den Busch und denk einer! da lag schon Fidel
und Vogelrohr in Bereitschaft, als wenn sie bestellt wären/
Die ältere Bearbeitung verzichtet darauf, die Überraschung
vorzubereiten (das Männchen stellte ihm Fidel und Vogel-
rohr zu). Der Jude bricht in die Aposiopese aus: „Mein!
lasst den Bub weg! — Mein! was soll mir das Geigen!"
Überhaupt tritt dieser durch seine Sprache deutlich aus
seiner Umgebung heraus. Nicht nur die mehrmaligen
Ausrufe: „Au weih geschrieen!" sondern auch die dein
Jüdisch-Deutschen eigentümliche Inversion der Rede: „Au
weih geschrieen! geb ich doch dem Herrn, was er ver-
langt, wenn er nur das Geigen lässt, einen ganzen Beutel
mit Gold", charakterisieren ihn als Israeliten vortrefflich.
Und ebenso der Ausruf: ..Gottes Wunder! So ein kleines
Tier hat eine so .grausam mächtige' Stimme". Trotz seines
Übeln Geschicks spielt er eine komische Rolle. Auf die
Mahnung des Knechts: „Geh Spitzbub und hol dir den
Vogel heraus", macht er sogleich den Wortwitz: „Mein!
lasst den Bub weg, so kommt der Hund (Spitz) gelaufen."
Berechnet ist der Zug, dass dem Juden ein Wort in den
Mund gelegt wird, das ihn als geizigen Geldmenschen
hinstellt: „Du Lump, steck dir einen Groschen ins Maul,
dass du sechs Heller wert bist!" Überhaupt wird nach-
drücklich der Wert des Geldes für den Juden hervor-
gehoben: „der Leib zerstochen und zerkratzt. Das Gold
mit dem Beutel genommen (wofür die 6. Aufl. die noch
treffendere, volkstümliche Ironie setzt: mein Bisschen Ar-
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— 41 -
mut mir genommen), lauter Dukaten, ein Stück schöner
als das andere, um Gottes Willen, lasst den Menschen
ins Gefängnis setzen." Seine Wutausbrüche sind volks-
tümlich-derb: „Du Hierfiedler! Du Bärenhäuter! Du
Hundemusikant!"
In der Form, wie die Ii. Aullage uns das Märchen
bietet, hat das Ganze einen übermütigeren, scherzhafteren
Ton. Statt der Wendung: „Die Leute hast du genug ge-
schunden, so geschieht dir kein Unrecht", heisst es jetzt
witziger: Du hast die Leute genug geschunden, nun soll
dirs die Dornhecke nicht hesser machen", wo das Wort
„schinden" einmal im übertragenen, dann im eigentlichen
Sinne gebraucht ist. Auch der Ausdruck: „Die Dornen
„kämmten" ihm den Ziegenbart" wirkt durch die Ver-
bindung der Gegensätze humoristisch. Und als der Knecht
behauptet, der Jude habe ihm das Geld freiwillig gegeben,
findet er keinen Glauben: sogar der Richter ist anderer
Ansicht und meint ironisch: „Das ist eine schlechte Ent-
schuldigung! das tut kein Jude".
Durch Einflechtung der erwähnten Zusätze hatte das
Märchen schon sehr gewonnen. Was sonst noch angebracht
wurde, um die Anschaulichkeit zu heben, ist geringfügig.
Im Eingang wird deutlicher gezeigt, wie sich der einfältige
Knecht von Jahr zu Jahr hinhalten lässt, im Dienst zu
bleiben. Bestimmter wird der Jude auch in seinem Äussern
umschrieben: ein Jude „mit einem langen Ziegenbart", „mit
einem schäbigen Rock" bekleidet. Die Schilderung des
Tanzes auf dem Richtplatz geht mehr ins Einzelne und
führt vor allem den kindlichen Zug an, dass sogar „die
Hunde sich auf die Hinterfüsse setzen" und am Tanze
teilnehmen.
Der abstrus-gelehrte Johann Praetorius, der durch
seine Schriften auch für die deutschen Sagen der Brüdor
Grimm eine wichtige Fundgrube bildete, erzählt in einem
recht trockenen und hölzernen Stil das Märchen von den
Kindern in Hungers not (II, 57) ■). Bei ihm ist die sagen-
>) Abenteuerlicher Gliickstopf S. 191 f.
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— 42 —
hafte Geschichte, die er mündlicher Überlieferung verdankt,
an den Ort Gräfelitz bei Eger angeknüpft. Der Inhalt ist
kurz folgender: Eine Mutter kann sich mit ihren beiden
Töchtern nicht mehr vor dem Hungertode retten, zwei
Versuche der beiden Mädchen, sich bei mildtätigen Leuten
etwas Brot zu verschaffen, können nicht die Not der Zu-
kunft abwehren, sie fallen mit ihrer Mutter in einen tiefen
Schlaf, und die Alte, die in der Verzweiflung schon Hand
an ihre Töchter legen wollte, verschwindet auf Nimmer-
wiedersehen. Ob dies eine „Geschichte oder ein Gedichte
sei", sagt Praetorius unsicher, „lasse ich dahingestellt".
Unter den geringen stilistischen Änderungen, die die
Brüder vornahmen, um die Erzählung besser abzurunden,
ist der Parallelismus in den Antworten der Töchter be-
merkenswert. Beide entgegnen auf das grausige Ansinnen
der Mutter regelmässig: „Ach, liebe Mutter, schont
meiner, ich will ausgehen" usw. Ebenso wiederholt
Grimm im Gegensatz zur Vorlage an geeigneter Stelle:
„da assen sie mit einander, es war aber zu wenig, um den
Hunger zu stillen". Ein Vorzug ist auch der Gebrauch
der Figura etymologica: „Da legten sie sich hin und
schliefen einen tiefen Schlaf". Die dürftige Erzählung wurde
in der 2. Ausgabe gestrichen ').
') Als Beispiel der oft pedantischen und verschrobenen Art,
wie Praetorius volkstümliche Überlieferungen wiedererzählt, sei
hier seine Fassung 1 des Märchens von den „drei Spinnerinnen"
(KHM. 14) angeführt (Abent. Glückstopf S. 403 f.).
Höret wunder! Vor Zeiten soll eine Frau oder Mutter ge-
wesen seyn, dessen Tochter sich durchauss zum Spinnen nicht
verstehen wollen, forsan cpaia Lilia non nent, secundum Evan-
gelium Symboluni Reipubl. Anglianae: Da sie auch dergleichen
Susannae immer oder gerne sein wollen. Druem hatte sie von
ihrer Mutter viel Schläge bekommen; welches einsmals ein Cavallier
verwunderns halben doch ohngefähr mit angesehen und gefraget,
was das bedeuten solte, dass sie ihre schöne Tochter so marterte
(Nemlich weil sie von der Frauen vielgeliebten martyris, das ist
dem Plachse, Vide ex Uiccij herbario in fine centur. 3. Acerr.
Kfllol. Laurenberg: nicht viel gehalten: per quod quis peccat etc.
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— 43 -
Aus „Schimpf und Ernst", der Anekdotensammlung des
elsässischen Franziskaners Job. Pauli (1522) entstammen
die beiden Märchen: Der undankbare Sohn (IT, 50) und:
R. contrarium: Sie konto das un massige Thier nicht vom Spinnen
bringen, so verpichtet wehre es drauil und spönne mehr Flachs
auff, als sie erlangen könte. (Sehet solch mendacium officiosum
hat notwendig die gute Mutter machen müssen, damit sie ihre
eigene Schande nicht entdecketen; welche da alle am grossesten
gewesen solchem Menschen, der nicht gesponnen hat.) Was ge-
schieht? Der Cavallier saget, das ist ja gut; Gebet sie mir nur
zum Weibe ich will gar wohl mit ihrem unverdrossenen und un-
aufhörlichen Fleisse zufrieden und vergnüget soyn, ob sie sonsten
gleich nichts zu mir bringet. Nun die Mutter kan dem Menschen
seine eingelegte Bitte nicht abschlagen oder die begehrte Tochter
versagen: (Übt ihm derentwegen das faule Muster. Drau ff sie
der Bräutigam mit ihm und zum Versuche ein zimlich pensuni
oder knocken Flachs zu verspinnen auffgiebt. Drüber sie zwar
innerlich erschrickt, doch hat sie es angenommen und für die
lange Weilo in ihr Zimmer getragen und in Verzweifflung nieder-
geworffen. Drüber waren aber (etwan tres furiao seu larvae in-
fernales) drei Weiber vors Fenster gekommen; eine mit einem
grossen breiten Arse, damit sie kaum zur Stuben Thüre hernach
herein zu kommen vermögt; die andere mit einem grossen Dampff-
horne, einem Rhinoceroti nicht unchnlich, die dritte mit einem
grossen, breiten Daume; solche bieten ihre Dienste dar; sagende
dass sie alle Tage unvermerkt kommen wollen, und das auffge-
gebene Werk auffspinnen, sofern sie (die faule Braut) an ihrem
künftigen Hochzeitstage sagen wolle, dass sie ihre Basen oder
Muhmen wehren, und sich nicht schämen würden, sie an ihre
Tafel zu setzen etc. Sic verspricht solches: Jene halten auch ihr
Wort und stellen sich alle Tage lleissig ein zur Arbeit, damit die
Braut auch wacker bestehet und zur Belohnung von ihrem Bräu-
tigam erhält, dass er sio mit ehestem ehelichte. Wie also die
Hochzeit angegangen, stellen sich die abscheulige Monstra alle
ein, und werden auch von der Braut wohl respectiert und für
Wesen tituliert, dass dem Bräuligamb missgefallen. Darumb er
von seiner Liebsten erfraget, wie sie zu solcher garstigen Freund-
schaft gekommen währe? R. Sie sind also ungeheuer von vielen
geworden: Eine als die Dick- und Breit-Arsigte hat sich an un-
mässigem Sitzen also verwahrloset, die andere hat ihren Daum
nicht minder verschorn, in deme sie so häuffig den Faden mit
gedrehet, die dritte hat ihr Maul gar weggelecket, drüber die Xase
so hervorraget. Hierauft* soll der Bräutigam betrübt geworden
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— 44 —
Die drei Faulen (65) r ). Der undankbare Sohn hält vor
dem Vater das Essen versteckt, da ers ihm missgönnt
und muss dafür eine Kröte im Gesicht mit seinem eigenen
Fleisch füttern. Jn der Bearbeitung fehlt am Schluss die
Moral: ..da lernen andere Kind! il und der Zug, dass die
Strafe des Sohnes später durch die Fürbitte eines frommen
Mannes gesühnt wird. Volkstümlich ist die Tautologie in
dem Satze: „die sass da und ging nicht wieder weg" (die
mocht ihm niemand hinweg tuon). Die Wendung: „Die
Kröte sah ihn giftig an", ist schon durch den entsprechenden
Ausdruck der Vorlage: „die sah ihn krumb an", genügend
vorbereitet. —
Die schwankhafte Erzählung von den drei Faulen ist
mit mannigfachen Abänderungen, die sich teils auf die
Trägheitsproben selbst, teils auf ihre Eeihenfolge beziehen,
sehr häutig erzählt worden 2 ). Grimm folgt fast wörtlich
der Vorlage, lässt aber den Schluss fallen, der gleichnis-
weise die körperliche Faulheit auf geistiges Gebiet über-
trägt und eine lange Moralpredigt gegen unbussfcrtige
Sünder anschliesst. Die Sprache wurde modernisiert; am
Anfang fügt Grimm noch die Bemerkung hinzu, dass der
König in Verlegenheit ist, welchem seiner drei faulen
Söhne er die Krone geben solle, „da er sie alle gleich lieb
hatte", eine Begründung, die sich öfter in den Märchen
vorfindet, z. B. in Nr. 124, 179 usw. (vgl. auch die Ring-
parabel in Lessings Nathan.)
Heyn und gesaget haben: „Nun so sollet ihr euer Lebetage keinen
Faden mehr spinnen, damit ihr nicht solches Ungetüm werdet.
Ihr habet doch vorher schon genug gesponnen." — Das wäre ein
Wort für hiesige Jungfern und gut Wasser auf ihre Mühlen, ja
ich halte auch dafür, dass sie solcher Rede und Aussganges sich
anmassen und befahren. . . .
>) Pauli ed. Oesterley Cap. 437 und 2G1.
2 ) vgl. Gesta Komanoruni ed. Oesterley S. 720, wo 30 Varianten
citiert werden.
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— 45 —
II, 58. Das Eselein.
Eine Königin gebiert ein junges Eselein. Dieses ent-
wickelt sich zu einem ausgezeichneten Musikanten und
wird schliesslich trotz seiner Missgestalt Gemahl einer
schönen Prinzessin. Es ist aber in Wahrheit ein Mensch
und trägt die Eselshaut nur infolge eines Zaubers. In
der Hochzeitsnacht wirft er sie von sich, wird aber dabei
belauscht, und der König, sein Schwiegervater, lässt sie
verbrennen. Dadurch ist der Zauber gelöst, und der Prinz
bleibt von jetzt, ab in Menschengestalt. — Vorlage war
das lateinische Gedicht: „Asinarius." Es ist in Distichen
abgefasst und zählt 404 Verse. Die Originalhandschrift,
ein Strassburger Manuscript (MSS. Johann. C. 105). das
nach Grimms Angabe aus der 2. Hälfte des 15. Jahr-
hunderts stammte, ist beim Brande der dortigen Bibliothek
1870 zu Grunde gegangen; wir sind infolgedessen auf eine
andere Fassung angewiesen. Das Gedicht ist noch in
einer Salmansweiler Handschrift überliefert'), die im fol-
genden zu Grunde gelegt wird, da der Unterschied des
Originals von dieser Fassung nach den bei Grimm mit-
geteilten Proben 2 ) nur unbedeutend gewesen sein kann.
Jedenfalls kommt er für eine Beurteilung der Grimmschen
Stilisierung gar nicht in Betracht, Trotz seiner Länge
unterscheidet sich das Gedicht inhaltlich doch nur wenig
von dem Grimmschen Märchen. Zwar ist es breiter und
ausführlicher im Einzelnen als die Bearbeitung, wiederholt
redselig manches ohne Grund nacheinander, aber es ist
frei von grösseren Interpolationen. Wegen der fremden
Sprache und der Technik des Verses musste die Erzählung
auch ohne beabsichtigte Veränderungen eine vom Deutschen
abweichende Stilisierung erhalten. Mit der lateinischen
Sprache war der antike Hintergrund gegeben; Hinweise
auf die alten Götternamen sind nicht verwunderlich. Der
•) abgedruckt bui Fr. Mone, Anzeiger f. Kunde <1. teutseh.
Vorzeit 1S49 S. »51 ff.
-') KHM III,« S. 227 f.
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— 46 —
königliche Vater schwört bei Juppiter und den oberen
Göttern (pono Jovem testem 239; testor ego superos et
cetera numina ruris 251); die Königin wendet sich in
täglichen Gebeten an die numina, ihr einen Erben zu be-
scheren (21), aber „Lucina" ist ungünstig (7). Auch im
übrigen bedient sich das Gedicht metonymisch der bekannten
Götternamen: Phoebus ubi fessos in mare mergit equos;
(124) — dumque redit pulsis rutilans Aurora tenebris,
(325) etc. Auffallend genug ist das Bestreben des unbe-
kannten Verfassers durch rhetorische Pracht zu glänzen,
die allerdings meist in Äusserlichkeiten erstarrt, wie viel-
fach in lateinischen Dichtungen des Mittelalters. Allitera-
tionen erstrecken sich über ganze Zeilen:
tunc polis ornatur tanto nite.scit honoro
\it placeat plane plus polis ipsa polo (21)3); —
ac regina ridens ridente marito (105) ... —
alque regit reguni rex duo rogna duum (404).
Beliebt sind Wortspiele und Antithesen: homo pene-
trat penetralia regis, proderc, quae vidit, prodigiosa volens
(151) — ut doctore suo doctior ipse foret (84) — o res
miranda, plus miseranda tarnen (26) — discumbendo placet
plus concumbendo placebit (223) etc. Die Erzählung ist
also in der Form durchaus nicht ungeschickt und eintönig,
aber von der einfachen Märchensprache von Grund aus
unterschieden. Nur selten hören wir einen volkstümlichen
Klang; bei der Beschreibung der schönen Königstochter
gebraucht der Dichter ein in aller Volkspoesie häufig vor-
kommendes Bild:
Candida delectat faeies permixta rubore
ac si eontemplor lilia mixta rosis (199). —
Von einem bestimmten Einfluss stilistischer Art auf die
Grimmsche Bearbeitung ist nichts zu verspüren; das deutsche
Märchen ist eine kürzere Inhaltsangabe der lateinischen
Vorlage, deren breite Ausführungen schon deswegen sehr
zusammengedrängt wurden, weil man die rhetorischen
Mittel der Darstellung nicht gebrauchen konnte. Bisweilen
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— 47 —
wurden auch grössere Partien unterdrückt. Die lange Klage
des Esels Uber seine Missgestalt (94 — 106) und die aus-
führliche, nicht uninteressante Verlobungsszene des jungen
Paares (275—325) sind bei Grimm in die kurzen An-
deutungen gefasst: „darüber ward es so betrübt" und:
„Also ward eine grosse und prächtige Hochzeit gehalten".
Jeder Hinweis auf das antike Element musstc schwinden,
ebenso auch einige lüsterne Stellen: anstatt der üppigen
Beschreibung der Hochzeitsnacht der jungen Eheleute
(317—24) hören wir bei Grimm nur: „da ward die Braut
froh, küssto ihn und hatte ihn von Herzen lieb". Die
junge Prinzessin ist bei Grimm, wie fast alle Königstöchter
des Märchens, ..wunderschön'*, die Vorlage macht uns ein-
gehender mit ihren körperlichen Reizen bekannt (134 ff.).
Die Bearbeitung aber wollte nicht bloss einen in
schlichter Sprache gehaltenen Auszug liefern, sondern fügte
ihrerseits dem Text schmückende Zusätze bei, in denen
sich namentlich die volkstümliche Ausdrucksweise bemerk-
lieh macht, z. B. Eselcin, was ist dir? Du schaust ja sauer
wie ein Essigkrug? (Die tili, quid obest? cur tristis et
linde doloris Stimulus iste cadat? 243.) Von volkstümlichen
Zwillingsformeln begegnen: „Darüber klagte sie Tag und
Nacht'* (dem Lat. nachgebildet: noete dieque rogat 22), ..es
war auf einmal ganz lustig und guter Dinge* 1 , „es war
voll Trauer und Angst** (multo stimulante dolore), wie die
Mutter das erblickte, ting ihr Jammer und Geschrei erst
recht an (hoc foetu viso mater iam peperisse dolet 28)
und das charakteristische: „Es half aber alles nichts, das
Eselein ,wollt und musste* die Laute schlagen'', wo die
Tautologie echt volkstümlich die Unabänderlichkeit des
Entschlusses ausdrückt. Auch der Monolog, in dem der
Sprechende sich selbst in der 2. Person anredet, im eigent-
lichen Sinne also ein Zwiegespräch mit sich selber führt,
ist eine schon von Jakob Grimm gewürdigte Eigentüm-
lichkeit der einfachen Volkssprache. Hierfür ein Beispiel:
er dachte, was hilft das alles, du nmsst wieder heim
(cogitat ad patrios velle redire lares 230). — Von dem
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— 48 —
Eselein. als der Lieblingsfigur des Märchens, wird immer
mit einer gewissen Zierlichkeit gesprochen; so erscheint
es stets in der Deminutivform, einige Mal im Gegensatz
zur Vorlage: „ich bin kein gemeines Stalleselcin", wo man
sogar das Lateinische begreiflicher findet: non sum vul-
garis asinus, nee sum stabularis (1S1). — ..Also ward
das Eselein aufgezogen, nahm zu und die Ohren wuchsen
ihm auch „fein" hoch und grad hinauf (aures attollit in
altum 41). — Das „edle Tierlein 44 weiss sich „gar fein
und säuberlich 44 zu benehmen (inter coenandum benc servit
asellus eidem 215), und der König will wissen, ob es sich
als Ehemann auch „fein artig und manierlich' 4 betrage
(ut videat quid agant nie asellus et haec domicella 807). —
Ganz dem Märchenstil entsprechend ist die freimütige Art,
wie der Diener vor seinem König auftritt und ihn an-
redet: „Wacht selber die folgende Nacht, ihr werdet's
mit eigenen Augen sehen, und wisst ihr was, Herr König
nehmt ihm die Haut weg. 44
11,60. Die Rübe.
Für das Märchen wurde das lateinische Gedicht
„Raparius" benutzt, das dem eben behandelten in Bezug
anf äussere Form ganz ähnlich ist. so dass man für beide
denselben Verfasser annehmen darf. Das von den Brüdern
benutzte Originalmanuscript, eine Strassburger Handschrift
des 15. Jahrhunderts (MSS. Johann. C. 102) hat das gleiche
Schicksal wie der „Asinarius 44 gehabt, aber auch hier
bietet eine Salmansweiler Handschrift genügenden Ersatz.
Eine andere. Wiener Handschrift weicht nur in Neben-
dingen ab und geht vielleicht in das 13.-14. Jahrhundert
zurück 1 ). Der Inhalt ist kurz folgender: Von zwei Brüdern
ist der eine reich, der andere arm. Der Arme wird Bauer,
und auf seinem Acker wächst eine grosse Rübe, die er
dem Könige zum Geschenk macht, da er nichts mit ihr
anzufangen weiss. Dafür wird er reich mit Schätzen be-
») Fr. Moue, Anzeiger 1830 S. 502 ff.
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lohnt. Aus Neid über das Glück seines Bruders bringt
der Andere dem König kostbare und edle Pferde in der
Hoffnung, noch weit grössere Gnade vor ihm zu finden,
er erhält aber als Dank die grosse Rübe seines Bruders
zurück. Tödlich beleidigt trachtet er diesem nach dem
Leben; sein Mordanschlag jedoch misslingt. Die bestochenen
Banditen vernehmen in der Ferne Hufschlag, stecken den
Gefangenen eiligst in einen Sack und ziehen ihn am Baum
empor. Es kommt ein fahrender Schüler vorbei, dem der
Gefangene mitteilt, er sitze im Sack der Weisheit. Da
der Schüler sehr begierig danach ist, so tauschen sie beide
die Plätze, und der wissensdurstige Student hat Zeit, über
alle weltumfassende Gelehrsamkeit dort oben nachzu-
denken. — Die Vorlage ist in der Beschreibung der Si-
tuationen sehr ausführlich. Eine längere Episode (133—156),
in der der Verfasser gegen die Habsucht zu Felde zieht,
beweist auch, dass dem Gedicht didaktische Zwecke nahe
lagen. Metrum und Stil sind dieselben wie im „Asinarius";
Allitterationen sind nicht selten. Mythologische Namen
tauchen vereinzelt auf; um den Vortrag zu beleben, fügt
der Verfasser Bilder und Vergleiche ein, die aber kein
volkstümliches Gepräge tragen. Den heimtückischen Bruder
vergleicht er mit einem Vogelsteller (277, 293), als Bild
des übermässigen Reichtums kommt der „amnis pluvialibus
guttis abundans" (193) zur Verwendung.
Auch hier hat Grimms Bearbeitung einen kürzeren
Auszug geliefert und mit einfachen Worten erzählt. Es
fehlt der Excurs über die Habsucht, der sich deutlich als
Zusatz erwies, und ebenso alle Rhetorik der Vorlage. Die
Beifügungen haben denselben Charakter wie im „Eselein" ;
sie gehören der volkstümlichen Sprache an, z. B. : „er zog
den Soldatenrock aus und ward ein Bauer (ergo valefaciens
Marti non militat ultra 9), — es wuchs da eine Rübe
gross und stark, dass sie eine Fürstin aller Rüben heissen
konnte (raptila crevit, quae pleno dici nomine rapa po-
test 16), hing den Soldatenrock an den Nagel und baute
das Land (nunc enim aratro rura sero, nunc scindo li-
Palae*tra XLVII. 4
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— 50 —
gone 93), dass ihnen der Schrecken in den Leib fuhr und
sie Hals über Kopf ihren Gefangenen in den Sack steckten
(nec mora captivus in saccum praecipitatur 305), —
ich habe grosse Dinge gelernt, dagegen sind alle Schulen
ein Wind (hic tantum veras noveris esse Scholas — Septem
per partes cognovi quaslibet artes, si foret hic Cato cederet
atque Plato (330) (das letzte ein deutliches Beispiel für
die leoninischen Reimspiele in den Distichen). — Er machte
ihn steinreich (pretiosi massa metalli viro rege iubente
datur 109) — sitze also fein ruhig (iam sedeas 383) —
ich wollt dich wohl hinein lassen für Lohn und gute Worte."
— An die altertümliche (Bibel-)Sprache erinnern Ausdrücke
wie: „Wer ruft mir?" — „Um ein weniges, so werde ich
ausgelernt haben" — „Erhebe deine Augen". Im Gegen-
satz zur lat. Vorlage ist der Monolog in der 2. Person
ausgedrückt: endlich dachte er: verkaufst du sie, was
wirst du grosses dafür bekommen, und willst du sie selber
essen, so tun die kleinen Rüben denselben Dienst; du
willst sie dem König bringen und verehren (vilis erit pretii
si venditur rapula ista . . . hanc regi dabo 43). — Um
der kindlichen Phantasie das Wachstum der Ungeheuern
Rübe recht anschaulich zu machen, häuft Grimm synonyme
Begriffe: Der Same ging auf, und es wuchs da eine Rübe,
die ward gross und stark und zusehends dicker und wollte
gar nicht aufhören zu wachsen, so dass sie eine Fürstin
aller Rüben heissen konnte (rapula crevit et reliquis
enormior una 15).
Es ist möglich, dass das Gedicht im Elsass heimisch
gewesen ist und aus mündlicher Volkssage schöpfte.
.Fischart gedenkt der Rüben zu Strassburg 1 ) in der Redens-
art: Rüben nach Strassburg tragen (= Eulen nach Athen).
Ob die von Grimm aus der nordischen Mythologie an-
geführte Parallele zur Hängescene in notwendiger Be-
ziehung zu dem Märchen steht, dürfte schwer zu entscheiden
sein; dagegen entsprechen zwei von Grimm nicht erwähnte
J ) Einleitung zum Ehezuchtbüchlein (ed. Hauffen) S. 123.
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— 51 —
Erzählungen in Kirchhofs Wendunmuth (II, 39 u. 40) zu-
sammen unserer Geschichte. Sie werden an König Lud-
wig XI. von Frankreich angeknüpft und berichten bis zur
Demütigung des Ehrgeizigen ähnlich wie das Grimmsche
Märchen. Der Mordanschlag auf den Bruder und die
Episode vom fahrenden Schüler fehlt. —
Von den Schwänken des Hans Sachs kommen zwei
als Vorlagen in Betracht: Ursprung der Affen 1 ) — 11,61.
Das junggeglühte Männlein und: Der dewffel hat die
gais erschaffen, hat in dewffel äugen eingeseczt 2 ) 11,62.
Des Herrn und des Teufels Getier. — Hans Sachs
erzählt die erste Geschichte, um die Frage nach dem
Ursprung der Affen zu beantworten; das schwankhafte
Element der Erzählung liegt ihm näher als die märchen-
hafte Verjüngung des alten Mannes. — Der Herr hat
einen alten Bettler im Feuer zu einem jungen Menschen
umgeschmiedet. Der Schmied versucht dasselbe Experiment
an seiner alten Schwiegermutter, es gerät aber höchst
übel. Völlig ungestaltet kommt die Alte aus dem Löschtrog
heraus. Die beiden schwangeren Frauen im Hause sind
über ihren Anblick so entsetzt, dass sie noch in derselben
Nacht zwei Kinder in Affengestalt gebären: die Ureltera
des Affengeschlechts. Der Schluss warnt Schwangere
vor schreckhaften Überraschungen. — Bei Grimm fehlt Ein-
gang und Schluss, alles übrige ist beibehalten. Eine ganze
Reihe von Archaismen wurde von den Brüdern bei ihrer
Vorliebe für altertümliche Sprache in die Bearbeitung
herübergenommen. — Vor Hans Sachs ist der Schwank
bereits von Hans Folz in rohen Knittelversen behandelt
worden 3 ); die Moral, die ähnliche Gedanken wie bei Hans
Sachs enthält, ist noch weit ausführlicher.
Das Märchen „Des Herrn und des Teufels Getier"
handelt von dem Streit zwischen Gott und dem Teufel.
Dieser hatte die Ziegen erschaffen; da sie aber den zarten
*) Schwanke und Fabeln d. H. Sachs ed. Goelze 11,290.
2) Schwanke und Fabeln d. H. Sachs ed. Goetze 1, 172.
») Haupts Zs. VIII, 537 ff.
4*
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— 52 —
Pflanzen grossen Schaden zufügten, so wurden sie von den
Wölfen des Herrn zerrissen. Darüber ergrimmt verlangte
der Teufel Ersatz. Der Herr verspricht ihm Geld zu
zahlen, wenn das Eichenlaub abfällt. Wie die Zeit kam,
und er seinen Lohn forderte, wurde er belehrt, dass noch
in Constantinopel eine belaubte Eiche stehe. Ein halbes
Jahr irrt der Böse umher, aber wo er sich auch befindet,
sind die Bäume belaubt. Aus Zorn darüber sticht er den
Ziegen die Augen aus und setzt ihnen seine eigenen ein.
— Die Bearbeitung bringt inhaltlich dasselbe wie die Vor-
lage, verzichtet aber auf den Schluss, der bei H. Sachs
vor den Verlockungen des Teufels warnt; er verwandle
sich nicht nur in Ziegen, sondern erscheine auch oft in
Bocksgestalt, um ehrbare Männer zu verführen. Die Worte
bei Grimm: „In der Kirche zu Constantinopel steht eine
hohe Eiche, die hat noch alles ihr Laub" beruhen auf
einem Lesefehler; die Vorlage hat: Zu Constantinopel in
Kriechen (Griechenland). Damit stimmt auch das Folgende
gut zusammen, dass der Teufel so lange umherirrt, ehe er
die Eiche findet; überhaupt galt Griechenland im Mittel-
alter als eine wilde, unwirtliche Gegend. Auch die Stelle:
„er hetzte aus Güte und Gnaden seine Wölfe dran" ist
durch eine falsche Verbindung der Sätze in der Vorlage
entstanden. H. Sachs schreibt:
Und sach darzu wie die gaispoeck . . .
Detten den pilanzen grosen schaden.
Das jamert in aus güet und gnaden
Und heischet seine wölf an sie usw.
Hieraus ergibt sich, dass sich das Mitleid Gottes auf
die durch die Ziegenböcke beschädigten Pflanzen bezieht.
Das hat auch allein einen Sinn. — Der Wortlaut ist
vielfach durch die Vorlage beeinflusst und zeigt alter-
tümliche Formen.
11,63. Der Hahnenbalken.
Bearbeitet nach Friedrich Kinds Gedicht gleichen
Namens in Beckers Taschenbuch 1812. Die Vorlage er-
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— 53 —
zählt das Märchen in 15 nicht ehen poesievollen, aber
glatt und leicht dahinfliessenden Versen als schwankhafte
Anekdote. Der märchenhafte Kern der Erzählung, die
Wirkung des glückbringenden, vierblättrigen Kleeblatts,
wird nebenbei behandelt; der Schluss, wo berichtet ist,
dass das Mädchen in ihrer Verblendung ein blühendes
Flachsfeld für Wasser hält und durchwaten will, — eine
uralte Vorstellung, die sich unter anderm auch in der Sage
von Rodulf und Rumetrud findet 1 ) — leicht ins Schwank-
hafte hinübergespielt. Dem ist auch der sprachliche Aus-
druck angcpasst, der absichtlich groteske und lächerliche
Vergleiche bevorzugt:
r Er winkt; der Hahn fliegt von der Wand
Der Bühne auf des Meisters Hand,
Hebt hoch die Krause und begrüsst
Das Volk, läuft dann zum Baugerüst,
Und scheint gar scharf bei muntrem Krähen
Den stärksten Baumstamm zu erspähen.
Geübter als ein Altgesell
Hebt er die stärkste Eiche schnell,
Schwingt dann die Bürde säuberlieh
Mit einer Pfote über sich:
Sie ragt hoch wie der Turm zu Babel
Und kerzengrad auf seinem Schnabel/
„Hans Hagel" sieht mit grosser Verwunderung zu. Das
Mädchen, das vom Zauber frei geblieben ist, klärt die
Menge über ihre Verblendung auf; die Rache des Hexen-
meisters lässt nicht auf sich warten. Bei einem Festzuge,
den der Dichter ausführlich schildert, und der in seiner
Art sehr gut die derbe Lustigkeit des Kleinstädters zum
Ausdruck bringt, wird das Mädchen durch die List des
Zauberers „vorm Schützencorps und Magistrat" im eigent-
lichen Sinne des Worts biossgestellt. Den Schluss bildet
eine Lehre, die er humoristisch mit Beziehung auf die
ebenerwähnte Strafe des Mädchens folgendermassen for-
muliert:
») Grimm, Sagen II, 395.
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— 54 —
„Lass du dem Gaukler seinen Salm,
Dem Volk den Balken für den Halm,
Nicht stets wird Klarheit dich umhellen,
Der Gaukler weiss dich blosszuslellen."
Die Bearbeitung beschränkt sich auf die Erwähnung der
Hauptpunkte, die sie schlicht aneinander reiht. Der spass-
hafte Ton, der die Vorlage beherrscht, ist völlig ver-
schwunden, wie denn Grimm bezeichnenderweise den
drastischen Vorfall sich auf dem Hochzeitsgange der
Braut abspielen lässt. Der Schauplatz (in der Vorlage
Schwaben) wird nicht erwähnt. —
Volkstümlich ist die sprichwörtliche Redensart: und
jagten den Hexenmeister mit Schimpf und Schande fort
(Hans Hagel griff zu Stein und Kot Und wählt des Gauklers
Kopf zum Ziele; doch der entkam im Volksgewühle.) Auch
der Parallelismus in der Wendung: „Da gingen ihr die
Augen auf und sie sah, dass sie mitten in einem blau-
blühenden Flachsfeld stand" ist nicht etwa eine leere
Wiederholung, sondern eine Eigentümlichkeit volksmässig-
archaisierenden Sprachgebrauchs 1 ). (Vorl.: erblickt sie
nur ein Feld mit Flachs); — „den Balken balancieren"
heisst bei Grimm anschaulicher und mit Umgehung des
Fremdworts: „und trug ihn, als wär er federleicht". —
Eine Erzählung aus dem Paderbörnischen und in
Fr. Mones Anzeiger 1835 (p. 408) stimmen in der Haupt-
sache mit unserem Märchen zusammen; in ersterer fehlt
die Rache des Zauberers 2 ).
11,67. Das Märchen vom Schlauraffenland.
Zu Grunde liegt das mhd. Gedicht unter dem Titel:
SO ist diz von lügenen 3 ). Die Anklänge an das weit-
! ) W. Grimm erklärt es für einfacher und kindlicher zu sagen:
„meine Ohren hören" statt: ich höre. Erstere Wendung könne
nur Unverständigen ein Pleonasmus sein (Sendschreiben an
Gräter S. 29).
2) KHM. III 3 S. 149.
a ) C. H. Jl iiilers Samml. deutsch. Ged. a. d. 12.— 14. Jhrd.
III, 14. vgl. Haupt und Hoffmann, Altd. Bl. 1, 163.
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— 55 -
verbreitete') Märchen vom glücklichen Lande der Schlaraffen
treten aber fast ganz zurück; bloss die Linde mit heissen
Fladen und der Honigfluss könnten darauf hinweisen. Da
aber die Erzählung sonst sich in den Formen des Lügen-
märchens bewegt, und auch die Überschrift auf die folgende
Anhäufung von unerhörten und unmöglichen Dingen auf-
merksam macht, so ergibt sich daraus, dass das Märchen
mit Unrecht als eine Beschreibung des Schlaraffenlandes
angesehen wird 2 ). Von Schlaraffen als faulen Schlemmern
oder Phantasten ist nirgends die Rede. Das Gedicht be-
ginnt: „Ich sach eins males in der äffen zit" usw., wofür
Grimm ohne weiteres „In der Schlaurafifenzeit" einsetzt.
Die Angabe „in der äffen zit 4i , die im 15. Jahrhundert
öfter ohne jeden Gedanken an die „slüraflen" vorkommt,
ist zu vergleichen mit solchen in andern Lügenmärchen,
wie z. B. zu Weihnachten im Sommer, zu Pfingsten auf
dem Eise usw.
Die Vorlage ist ein kunstloses Produkt aus dem 14. Jahr-
hundert mit vielen unreinen Reimen. Die Darstellung
bemüht sich nicht, abzuwechseln, sondern reiht die einzelnen
Sätze meist mit den einleitenden Worten: Dö sach ich ...
an einander. Der Mangel stilistischer Ausdrucksmittel ist
auch auf die Bearbeitung von übelm Einfluss gewesen, ob-
gleich sich diese hütet, der Vorlage mechanisch zu folgen.
Einzelnes wurde mehr hervorgehoben: da kam eine Schnecke
gerennt (dö sach ich einen snecken) eine alte Schindmähre
(ein bnesez pfert), ein bitterscharfes Schwert (vil bcesez
swert), von einem tiefen Tal auf einen hohen Berg (von
eime tal üf einen berc). Für „ern" setzt die Bearbeitung
dasmundartliche „zackern", statt des allgemeinen Ausdrucks:
du sach ich ein röte kuo
daz hröt in den oven tuon
die Wendung aus der Handwerkssprache „eine rote Kuh
schoss das Brot in den Ofen""). Die unsaubere Schlusspointe:
») vgl. E. Schmidt. Charakteristiken II, 51 ff.
2) Beiträge von Paul u. Braune V, 419.
3) Grimm, Deutsch. W.-B. 9,40.
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— 56 —
dö sprach ein huon:
est üz geseit,
ein ungefuoc scheiz uf die bruoch,
est uz geseit
heisst bei Grimm zierlich: „Da krähte ein Huhn: Kickeriki!
Das Märchen ist ausverzählt. Kickeriki!"
Die Bearbeitung ist nicht ohne Irrtümer. Der Text
der Vorlage:
dö sach ich zwei rinder
zwo geize bringen
wurde infolge eines Versehens (Gr. las ,Kinder 4 statt ,Rinder 4 )
umgeformt: „Zwei Kinder, die würfen zwei Zicklein". Ein
gleicher Fehler steckt in der Wendung: „Und im Hof
standen vier Rosse, die droschen Korn aus allen Kräften",
wofür die Vorlage bietet:
dö sach ich vier rösser
üz howe korn dreschen.
(= aus Heu Korn dreschen). Erst hierdurch wird der
Gegensatz der mit einander verbundenen Begriffe herge-
stellt, wie er für das Lügenmärchen notwendig ist. — Be-
deutung und Zusammenhang erfordern für den Ausdruck:
dC sach ich ein vil bu^sez swert
houwen eine sIegebrucke enzwei
das Gegenteil der Grimmschen Übersetzung, also nicht
ein „bitterscharfes" Schwert, sondern ein sehr stumpfes,
denn es soll ja gerade das Unmögliche mit der Redensart
ausgedrückt werden. —
Die beiden folgenden Märchen unterscheiden sich wenig
von ihrer Vorlage. Das dithmarsisch e Lügenmärchen
(II, 68) ist die Prosaumschrift eines Tanzliedes 1 ). Der im
Zusammenhang etwas unklare Satz: „de Wahrheit kommt
by groten hupen und blief doch nicht verschwegen", worin
man keinen Widerspruch entdecken kann, blieb in der
Bearbeitung weg. Die Worte: „se segelten by groten
>) Anton Vieths dithmars. Chronik 1733, 111 = Unland, Volks-
lieder, 240.
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— 57 —
hupen" sind irrtümlich als „über grosse Hufen 44 verstanden
und demgemäss Ubersetzt worden: „und schifften über
grosse Acker hin 44 ; „by groten hupen' 4 heisst aber „haufen-
weise 44 . — Allitterierend heisst es einmal: fein langsam
und leise (de schwammen also lise). Die 6. Auflage fügte
den hübschen Schluss hinzu: Macht das Fenster auf,
damit die Lügen hinausfliegen. —
Das Rätsel märchen (IT, 69) ist aus einem Volksbuch
aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts abgedruckt '). Das
Märchenhafte der Erzählung liegt in der Verwandlung dor
Frau in eine Blume; ähnliche Verzauberungen kommen
häufiger vor z. B. im Liebsten Roland (56) und im Funde-
vogel (51). Die Sprache zeigt geringe Modernisierung.
11,66. Die heilige Frau Kummerniss.
Die Legende erzählt von dem Märtyrertod einer portu-
giesischen Königstochter Wilgefortis, die als Christin sich
nicht mit einem heidnischen Prinzen vermählen w T ollte und
deshalb Gott anflehte, ihre Schönheit zu zerstören und ihr
einen Männerbart wachsen zu lassen. Das Wunder geschah,
und sie wurde von ihrem grausamen Vater, der sie zu der
verhassten Heirat hatte zwingen wollen, zum Kreuzestode
verurteilt. — Vor ihrem Heiligenbilde kniete einst ein
Geiger und spielte ein schönes Lied. Zum Dank dafür
Hess das Bild einen goldenen Pantoffel niederfallen. Das
Fehlen des Schuhes wurde bald bemerkt, es geschah Um-
frage, und der Spielmann, bei dem er gefunden wurde, sollte
wegen Kirchenraubes gehängt w r erden. Auf seinem letzten
Gange bat er sich die Gnade aus, noch einmal vor der
Heiligen spielen zu dürfen; es wird ihm erlaubt, und wie
er einen Bogenstrich tut, lässt das Bild auch den zweiten
Schuh fallen, und der Geiger wird freigelassen. — Die Bear-
beitung folgt fast wörtlich der Fassung im Andreas Strobls:
Ovum paschale (Salzburg 1700) p. 216 f. Der Bericht des
Wunders wurde etwas abgeschwächt, im übrigen aber lässt
i) vgl. Haupts Zs. ILI.34.
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— 58 —
sich eine abweichende Stilisierung nicht erkennen. Zwar
ist die Sprache etwas modernisiert, doch blickt der alter-
tümliche Grund noch überall hervor. Der lateinische Name
der Jungfrau Wilgefortis wurde unterdrückt, ebenso dir
Wendung: das Valete nehmen mit: „zu guter Letzt Abschied
nehmen" übersetzt. Die Gewährung der letzten Bitte
erinnert an die Episode des Märchens vom Juden im Dorn.
Im „Geiger zu Gmünd" hat Justinus Kerner die Legende
poetisch bearbeitet Mit gutem Recht ist hier statt der
Wilgefortis die Schutzpatronin der Musik, die „sanges-
reiche Cäcilie" als Heilige eingeführt worden.
Der Ursprung der Legende ist dunkel. Man bringt
sie in Zusammenhang mit den bekleideten Christusstatuen
des Mittelalters 2 ), andere knüpfen sie an germanisches
Heidentum an 3 ). Der Kultus der Heiligen blühte haupt-
sächlich im Westen Deutschlands, von wo er sich weiter
ausbreitete. Die Namen werden vielfach variiert; Strobl
nennt sie noch: Liberata. Daneben bestehen Bezeich-
nungen wie: St. Gehülfe, St. Hilfe, das vlämische Ontcom-
mena ( Liberata), aus dem sich vielleicht durch Volks-
etymologie die Benennung: „heilige Frau Kümmernis" ent-
wickelt hat. Bisweilen wird auch ein männlicher Heiliger
darunter verstanden: St. Kummerus. —
Eigenartig ist die Entwicklungsgeschichte der beiden
schönen Märchen: Von den Fischer und sine Fru (1,19)
und Von den Machandel boom (1,47). Sie stammen
aus der Feder des Malers Philipp Otto Runge, der sie
im Januar 1806 in vorpommerscher Mundart niederschrieb.
Noch am 7. Januar teilt er seinem Bruder Gustav in
Wolgast, woher er selbst stammte, mit, dass er ihm
gelegentlich zwei „Löögschen" (= Kindermärchen) zusenden
wolle, die ausserordentlich schön und vollständig seien,
wenn er nur Zeit zum Aufschreiben fände 4 ). Am 24. Januar
«) Gedichte, 1826, S. U7.
2 ) Weinhold, Zs. d. Ver. f. Volkskunde 9, 322 ff.
3) Germania 82,461 ff.
4 ) ßunges Hinterlassene Schriften 1,62.
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— 59 —
1806 schickte er sie an seinen Freund Jon. Georg Zimmer,
den Verleger der Romantiker in Heidelberg, als Dank für
den 1. Hand des Wunderhoras, das Zimmer als erstes Werk
in Heidelberg herausgab. Er schreibt Uber seine Märchen
folgendes: ..Ich sende Ihnen hierbei zwei plattdeutsche
Döhnchen, wie sie die Kinderfrauen wohl erzählen, man
findet sie selten so vollständig und ich habe mich bemüht,
sie so aufzuschreiben, wie sie sich anhören .... Ich
glaube, wenn es jemand übernähme, dergleichen recht zu
sammeln, und hätte das Zeug um das Eigentliche zu packen,
dass es schon der Mühe verlohnen würde; vorzüglich wäre
nie zu vergessen, dass die Sachen nicht gelesen, sondern
erzählt werden sollten ')". Hieraus geht deutlich hervor,
dass er selber mit bewusster Technik der Darstellung an
den Märchen gearbeitet hat. Mit feinem Empfinden betont
er das musikalisch -rhythmische Moment der Märchen-
sprache, die sich der mündlichen Ausdrucksweise anzu-
passen habe. Von Zimmer erhielt Arnim (1808) das
Rungische Manuscript ausgehändigt; eine Anfrage Arnims
beim Verfasser, ob er mit dem Abdruck der Erzählungen
in der Zeitung für Einsiedler einverstanden sei, hatte den
gewünschten Erfolg. In allzugrosser Bescheidenheit spricht
sich Runge nur ein geringes Verdienst an der Wieder-
gabe der Märchen zu, da es bloss Zufall sei, dass er sie
so vollständig zu hören bekommen habe 2 ). Er stellt noch
ein drittes Märchen vom starken Hans (dem plattdeutschen
Herkules) in Aussicht, über den wir aber nichts Bestimmtes
erfahren. Am 9. u. 12. Juli 1808 kam der „Machandel-
boom 1 ' zum Abdruck; der „Fischer" wurde nicht mehr
aufgenommen, da Arnim die Erzählung nicht für ein eigent-
liches Kindermärchen hielt. „Die Fabel vom Fischer
schien mir damals, als ich den Machandelboom abdrucken
Hess", schreibt er an die Brüder Grimm 3 ), „kein eigent-
liches Kindermärchen, und darum nahm ich es nicht auf,
*) Ruoges Schriften 1, 64.
2) Runge* Schriften 1,185.
8 ) Steijr, A. v. Arnim 111,202.
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— 60 —
weil ich in dem Kreise der bald zu schliessenden Zeitung
nur recht charakteristische Sagen wünschte. Selbst der
Machandelboom war mir w r egen einer gewissen, darin
wohnenden Grausamkeit nicht ganz recht, aber die Berüh-
rung mit Goethe auf der einen, mit der nordischen Romanze,
die ich damals von Wilhelm übersetzt erhielt und mit dem
Cid in Hinsicht des Aufrichtens toter Leiber (auf der
anderen Seite) bestimmte den Abdruck".
In einer Anmerkung seiner Zeitung machte der „Ein-
siodler" Arnim darauf aufmerksam, dass die Verse, die
der schöne Vogel singt:
Mein Mutter, der mich sehlact't
Mein Vater, der mich ass . . .
in Gretchens irrem Liede in der Kerkerscene des Faust
wiederklingen. (Arnim schreibt statt Gretchen irrtümlich
Klärchen). Das Folgende deutet auf die von W. Grimm aus
dem Dänischen übersetzte Romanze: „Des Riesen Lang-
bein und Wittich Wielands Sohn Kampf 4 , wo die Auf-
stellung eines toten Leichnams eine ähnliche Rolle spielt
wie im Cid '). — Die beiden Manuscripte Rungcs nahm
Arnim mit nach Kassel und überliess sie 1809 den Grimms
zur Abschrift. Später empfing sie auch Friedr. Heinr.
von der Hagen, von dem sie dann dessen Freund Büsching
für seine 1812 erschienene Sagensammlung entlehnte. Ein
Vergleich der beiden Abdrücke bei Grimm und Büsching
lüsst deutlich orthographische und ganz geringfügige
stilistische Abweichungen erkennen. Die Varianten des
Grimmschen Textes kommen auf Rechnung des Verlegers
Georg Andreas Reimer in Berlin 2 ). Dieser, eingeborener
Grcifswalder, hatte ohne Erlaubnis Grimms den Wortlaut
der plattdeutschen Märchen nach eigenem Sprachgebrauch
und nach Joh. Carl Dähnerts plattdeutschem Wörterbuch
(1781) umgeändert, da er ihm der pommerschen Mundart
») Ztg. f. Einsiedler No. 30. Altdän. Heldenlieder S. 17.
2) Nachgewiesen von Steig, Archiv f. d. Stud. d. neueren
Sprachen u. Litt. 107, 277 ff.
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nicht genau zu entsprechen schien. Stärkere Eingriffe
zeigt der Text des „Fischers", aber auch das Märchen
vom Machandelboom erlitt Veränderungen, obgleich sie
weniger zahlreich und unbedeutender waren, „da die
Abschrift viel correkter und den Regeln des Plattdeutschen
zusagender war als beim Fischer". Da aber die Anmer-
kungen am Schluss besagten, dass es wörtlich nach Runges
Mitteilungen abgedruckt sei, so geriet Reimer, der bei der
Drucklegung des Märchentextes noch nichts davon gewusst
hatte, in Verlegenheit. Er schrieb deshalb am 1. Dezember
1812, um sein Verfahren zu entschuldigen, dass schon die
Ungleichheit der Schreibart einen ganz wörtlichen Abdruck
nicht gestattet hätte, und führt als Entlastungsgrund für
sich an. dass ihm Tieck zu seiner Beruhigung mitgeteilt
habe, „die Erzählung sei gar nicht so abgefasst, wie er
sie selbst häufig aus Runges eigenem Munde gehört habe,
selbst in einigen Wendungen und Momenten der Entwick-
lung verschieden *)". Reimer wusste selbst, dass die Mit-
teilung Tiecks seine Eingriffe in die Gestalt der Märchen
nicht entschuldigte und war deshalb zu einem nachträg-
lichen wortgetreuen Abdruck bereit. Da aber die Aus-
gabe des Buches nicht verzögert werden sollte, so unter-
blieb die weitere Änderung, und auf Reimers Veranlassung
lautete die Anmerkung zum Machandelboom: „Dieses
wunderschöne Märchen ist uns von Runge mitgeteilt
worden". Über das Verhältnis des Abdrucks zum ursprüng-
lichen Text wird nichts gesagt.
Steig vermutet mit Unrecht, dass Reimer auch die
Fassung des „Fischers" bei Büsching als fehlerhaften
Abdruck des Rungischen Märchens bezeichnet habe 4 ).
Schwerlich hatte er trotz seiner Änderungen an dem
Grimmschen Text ein derartiges persönliches Interesse
an dem Wortlaut bei Büsching, dass er ihn sogar zu einer
genauen Vergleichung herangezogen hätte: denn ohne
1) Archiv a. a. O. S. 293.
2 ) Archiv Hd. 107, 290.
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dieses Verfahren würde er den Unterschied gar nicht
bemerkt haben; auch bezeichnete er ihn nicht deshalb
als fehlerhaft, weil er den Grimmschen Text für unvoll-
kommen hielt und Verbesserungen anbrachte. Vor allem
aber spricht dagegen, dass schon in einem Brief der
Brüder an Arnim vom 2G. Sept. 1812 Büsching der
Vorwurf gemacht wird, er habe das Märchen vom Fischer
ungenau wiedergegeben 1 ). Mit diesem Briefe aber ging erst
das Druckmanuscript der Märchen nach Berlin ab 2 ); es kann
sich also bei dem Tadel, den sich Büsching von den Grimms
gefallen lassen muss, nur um die (wohl durch Druckfehler ent-
standenen) Abweichungen gehandelt haben, die seine Fassung
von ihrer — wie man sicher annehmen darf — ganz wortge-
treuen Abschrift des Rungischen Manuscripts unterschieden.
Da diese nun aber durch Reimers Schuld entstellt ist, so
sind wir nicht im Stande, solange nicht jede Änderung
Reimers als solche nachgewiesen ist, anzugeben, wieweit
Grimms Vorwurf Büsching gegenüber berechtigt war.
Der von Reimer veränderte Text blieb auch in der
2. Auflage bestehen. Die Note zu No. 19 im 3. Bande
zeigt jedoch, dass den Brüdern die Erinnerung an Reimers
Verfahren noch nicht verloren gegangen war. Da der
Text in ihrer eigenen Sammlung nun noch viel weniger
als der Büschingsche der ursprünglichen Handschrift
Runges entsprach, so fehlt hier der ganze Passus über
von der Hagen und Büsching. Der Machandelboom trägt
den Vermerk: „Von Runge nach der Volkserzählung auf-
geschrieben," weiter nichts. — Von ganz geringen Ände-
rungen abgesehen- 1 ) überlieforten auch die folgenden Auf-
lagen den Text in der alten Form bis zur 5. Auflage der
kleinen Ausgabe der Märchen, die man seit 1825 einge-
richtet hatte 4 ). Dann aber erscheinen die Märchen plötzlich
1) Steig, Achim y. Arnim IH,21ß.
2) Steig, Achim v. Arnim 111,213.
3) Archiv, S. 297.
4 ) Steig, Achim v. Arnim 111,548.
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— 63 —
in ganz neuer Gestalt. Inzwischen (1840 — 41) waren
nämlich die hinterlassenen Schriften Otto Runges er-
schienen, in denen die Texte von Daniel Runge, dem
Herausgeber, in Hamburgischen Dialekt umgeschrieben
waren. 1812 schrieb er bereits an Arnim und erbat sich
von ihm das Manuscript der beiden Märchen. Das befand
sich aber in Clemens Brentanos Händen. Ob dieser es
zurücksandte, bleibt bei dem Mangel an Nachrichten darüber
unsicher. Die Umschrift der Märchen zeigt aber eine so
weitgehende Übereinstimmung mit der ursprünglichen
Fassung, dass man notwendig eine ältere Vorlage an-
nehmen muss 1 ). Es ist möglich, dass Daniel Runge die
Abdrücke in Grimms oder Büschings Sammlung benutzte,
aber da er mit keinem Worte die Zugrundelegung einer
fremden Fassung erwähnt, so scheint er das Original-
manuscript der Märchen samt den Briefen seines Bruders
von Brentano zurückerhalten zu haben.
Wenig verändert wurde das Märchen vom Machandel-
boom; hier handelt es sich bei den Abweichungen fast
nur um Sprachforraen. Beim Fischer dagegen zeigen sich
bedeutendere Eingriffe. Der Einschub neuer Sätze ver-
ändert auch die alten: am auffälligsten tritt das Bestreben
hervor, Detailschilderungen zu geben und den äusseren
Glanz der Situationen mehr hervorzuheben. Aber trotz
aller Änderungen ist auch hier die Übereinstimmung mit
dem Früheren ganz evident.
Die neue Form der Märchen wurde von der 5. Auf-
lage (1847) ab von W. Grimm trotz einiger Bedenken
angenommen. Damit stimmt nun aber nicht die An-
merkung des 3. Bandes (1856): dort steht noch wie früher
bei No. 19, dass das Märchen in pommerscher Mundart
aufgeschrieben sei; Grimm vergass. dass er inzwischen
die Märchen nach Daniel Runges Vorgang in Ham-
burgischem Dialekt aufgenommen hatte. In dieser letzten
i) Anders Steig, Archiv a. a. O. 298.
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— 64 —
Form stehen die Märchen noch heute in unsern Aus-
gaben.
Der Erzählung vom Fischer, die den schwindelnden
Aufstieg und jähen Sturz eines ehrgeizigen Menschen in
märchenhafter Einkleidung zur Darstellung bringt, konnte
mit leichter litterarischer Nachhilfe eine auf den Geist
der Zeit gerichtete Wendung gegeben werden. Schon
Reimer bemerkte 1808, dass das Märchen Personen
und Ereignisse der Zeit vortrefflich charakterisiere 1 ).
Am nächsten lag der Gedanke an das Parvenu-Schick-
sal Napoleons. Am 29. April 1814 schreibt Savigny
an W. Grimm, dass ein Sonderdruck des „Fischers" aus
der Grimmschen Sammlung als Biographie des französischen
Kaisers stark gekauft und gelesen werde 2 ). Wichtiger
aber ist, dass Arnim in freier, dichterischer Weise das
Märchen vom Fischer, das er zuerst als Kindermärchen
befehdet hatte, in seiner „Päpstin Johanna'' in gereimter
und prosaischer Fassung bearbeitet und es symbolisch
mit den Schicksalen des weiblichen Papstes verllochten
hat 3 ). Brentano gedachte die beiden Rungischen Er-
zählungen für seine Märchensammlung zu benutzen 4 ):
die viel später von Guido Görres besorgte Ausgabe der
Märchen enthält sie aber nicht. Sicher hätte auch
Brentano die Fassung Runges geändert.
Für die beiden Märchen haben wir endlich ein merk-
würdiges Zeugnis zu berücksichtigen, das die Frage nach
der Form des ursprünglichen Manuscripts Runges noch
einmal berührt. Es ist anzunehmen, dass der am 24. Jan.
1806 an Zimmer abgesandte Text zum Abdruck gelangt
ist. Bedenken erregt nur eine Nachricht Brentanos 5 ).
Dieser hatte die Rungischen Märchen in der Hand-
1) Zimmer und (1. Romantiker S. 277.
2) Steig, Archiv Hd. 110,».
3) Steig, Archiv Hd. 110, 13 IT.
4) Brentano, (Jos. Schriften VIII, 101.
5 ) Steig 1 , Achim v. Arnim I, 151.
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— 65 —
schrift gelesen und erkannte zwar ihre ausgezeichnete
Darstellung an, wunderte sich aber darüber, dass das
Märchen vom Machandelbooni von der Fassung, die er
aus mündlicher Überlieferung wusste, in einigen Punkten
abweiche: ..Der Unterschied ist," schreibt er. .,dass in
meinem Exemplar eine goldene Kette an einen Vater und
ein paar rote Schuhe an die Tochter, in seinem aber ein -
paar Hosen und ein Weck verschenkt werden." In dein
Märchen, wie es uns vorliegt, ist aber von einem solchen
Geschenk gar nicht die Rede, vielmehr werden ebenso
eine ..goldene Kette" und ein „paar rote Schuhe" ver-
teilt, wie Brentano es in der von ihm gehörten Rezension
gefunden hat. Man kann das Brentanosche Zeugnis nicht
anders verstehen, als wenn man annimmt, dass der ur-
sprüngliche Text l?unges von dem uns erhaltenen
mindestens in den von Brentano angeführten Punkten
abgewichen sei: denn dessen Mitteilung sieht durch die
bestimmte Gegenüberstellung der fraglichen Varianten
ritiem Citat sehr ähnlich. Innerhalb der zwei Jahre -
vom .Januar 1S0(> bis Januar 1808 — müsste dann Runge
eine veränderte Fassung eingesandt haben: vielleicht hat
ihn Brentano selber auf die Abweichungen aufmerksam
gemacht. Vermutlich hatte Reimer, der die beiden Märchen
im Januar 1808 in der Handschrift las 1 ), schon die end-
gültige Fassung vor sich, wie sie bald darauf in der
Zeitung für Einsiedler erschien, sonst hätte er bei seiner
späteren Verteidigung den Grimms gegenüber sicher auf
diese Punkte aufmerksam gemacht, denn er hätte ja dann
einen augenscheinlichen Beweis für die Meinung Tiecks
ins Feld führen können, dass der Text von Runge selbst
mit Varianten erzählt wurde.
Die Stufenfolge der Entwicklung des Textes in beiden
Erzählungen ist also diese:
1. Das ursprüngliche Manuscript Ranges enthielt die
von Brentano gerügten Abweichungen.
') Zimmer, Z. u. d. Romantiker S. 277.
I'alaostra XI.V11. *»
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2. Der Abdruck des „Machandelbooms" in der Zeitung
für Einsiedler und des „Fischers" bei Büsching
stehen dem (veränderten) Rungischen Text am
nächsten.
3. Bedeutendere Eingriffe von fremder Hand zeigt
der Abdruck der beiden Märchen bei Grimm 1812.
In einem andern Dialekt erscheinen sie
4. in Ruriges Hinterlassenen Schriften, denen sich
5. Wilhelm Grimm nachher anschloss.
Das Originalmanuscript ist nicht wieder aufgetaucht.
Die zweite Auflage der Märchen (1819) brachte
nicht nur eine Reihe neuer Erzählungen, sondern änderte
auch vielfach an der ersten Fassung. Auf manche Mängel
der Sammlung war von den Freunden hingewiesen worden,
namentlich hatte Arnims verständnisvolles Urteil, worauf
die Brüder besonderes Gewicht legten, bestimmte Nach-
teile gerügt. Obwohl die Herausgeber bei ihrer eigen-
artigen Auffassung des deutschen Volksmärchens nicht
alle Einwürfe berücksichtigen wollten und konnten, so
zeigt doch die neue Bearbeitung deutlich, dass sie einzelnen
Besserungsvorschlägen Gehör gegeben hatten. Auch ihnen
selbst genügte der frühere Zustand des Buches nicht mehr.
Zwar hatte Jakob zuerst Arnim gegenüber jedes Märchen
in Schutz genommen, aber schliesslich fand auch er den
1. Band unvollkommen: ,.Ich denke nicht", schreibt er an
Wilhelm '), „dass er ebenso darf wieder gedruckt werden,
sondern vieles ist zu bessern und zu vermehren." Tn der
neuen Ausgabe, die für die folgenden im grossen und
ganzen textlich massgebend gewesen ist, trat der Charakter
einer blossen Sammlung mehr zurück, und die Form ge-
wann an durchgebildeter Feinheit. Die grössten Änderungen
erfuhr aber nur der erste Band. Fragmente, lückenhafte
Erzählungen und einige Märchen in altertümlicher Sprache
wurden teils durch vollständigere Überlieferungen ersetzt,
') Am 11. Mai 181.5.
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— 67 —
teils ergänzt, und so erhielt das Buch ein ganz anderes
Aussehen. Auch im Kleinen ist die bessernde Hand der
Brüder oft zu spüren. Es seien die äusseren Veränderungen
durch Zahlenangaben deutlich gemacht. Ausgeschieden
wurden No. 6, 8, 22, 27, 33, 54, 62. 71, 72. 77, 82, 85. Eine
ganze Reihe brachte man im 3. Bande unter, der 1822
selbständig mit den Varianten und Anmerkungen erschien,
die man in der 1. Auflage „wegen ihrer angenehmen und
eigentümlichen Abweichungen" noch in den Text auf-
genommen hatte. In der folgenden Aufzählung der aus-
geschalteten Märchen bezeichnet die eingeklammerte Zahl
den Platz, wo sie im 3. Bande erwähnt werden: es sind
No. 16 (62), 32 ( 32). 64 T (57), 34 (34). 59, 66 (127), 60. 61
(60. 61), 68 (88). 70 (56). 73 (46), 74 (60), 75 (29), 81 (82),
84 (Fragm. 5). Im 2. Bande wurden gestrichen No. 33,
•13, 44, die Jakob als das schlechteste Stück der Abteilung
bezeichnete 1 ). 57, 66. No. 13 findet sich als Variante zu 1,
36 zu 122. No. 35 erhielt einen besseren Platz unter den
fvinderlegenden (9). Im übrigen handelt es sich hier um
kleinere Formverbesserungen. Es kamen ausser den Va-
rianten neu hinzu No. 6—8, 16, 22, 27, 33, 35, 37, 59, 66, 68,
70—75, 77, 82-84, 95. 119, 121, 129, 130, 143, 152, 155.
156. Einige sind Redaktionen älterer Aufzeichnungen.
Die Vorzüge der neuen Ausgabe waren unverkennbar.
Rühmend hebtüörres „die ansprechende Harmonie zwischen
Inhalt und Form* 1 der Märchen hervor; er bewundert den
sicheren Takt, womit die Brüder den Ton der Darstellung
getroffen hätten, und versichert, das Ganze sei so, dass
keine Literatur etwas in dieser Vollkommenheit dagegen zu
stellen habe 2 ).
35. Der Schneider im Himmel 3 ).
Schon der schwäbische Humanist Heinrich Bebel er-
zählt den bekannten Schwank in seinen Facetien unter
') Briefwechsel zwischen Jakob u. Wilhelm CJrinini S. 440.
2 ) Brief an (irinini vom 10. Dez. 1*2*2.
3) Vjrl. R. Kühler, Aufsiit'/.e ed. Bolte u. K. Schmidt S. 4.S ff.
:>•
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— (58 —
der Überschritt: „De sarcinatore fabula" Aus ihm
schöpften Frey (Gartengesellschaft. Cap. 109) und Kirchhof
(Wendunmuth 1,230). Jeder von ihnen fügte Kleinigkeiten
hinzu. Freys Darstellung zeigt im Gegensatz zu seiner
Vorlage einen derben Humor, ist anschaulich und dramatisch
belebt und bringt zuerst den trefflichen Schluss, wonach
der aus dem Himmel vertriebene Schneider das Dorf Wart-
einweil aufsucht, um dort mit den Landsknechten zu zechen.
Kirchhof beginnt spöttisch: „Ach leider, was habe ich ver-
gessen? Der Schneider sollte ich oben bei der Fürsten
und des Adels Historien Meldung getan haben, sintemal
wann dieselbigen all gestorben, sie die ersten sein, die
Fdelleute werden mögen", und fährt dann nach Art des
Lügenmärchens fort: „Ein Stumm hat mir gesagt, dass
eine blinde Frau auch gesehen, es hab ein hinckender
Schneider vor Zeiten auf seinem Handwerk umher-
gewandert" usw. Das Folgende schliesst sich enger als
bei Frey an die Vorlage an. Der Schluss lautet echt
märchenhaft: ..Wer so fürwitzig ist und gern wissen wollte,
wie es dem Sehneider fürder gangen, mag vorm Himmel
danach fragen. 1 * Die Moral bedient sich des Ovidischen
Distichons nach Bebel:
„Si (juotio.s peeeant honiines sua fulmina mittat
.Juppiter exiguo tomporo inerniis oril.~
Kirchhofs Übersetzung gibt denselben Gedanken in christ-
lichem Sinne wieder.
Die Brüder Grimm benutzten im wesentlichen die Dar-
stellung bei Frey, milderten aber einige anstössige Stellen.
Am Anfang fügten sie das Zwiegespräch zwischen Petrus
und dem bittenden Schneider ein, wobei uns die volksmässige
Ausdrucksweise interessiert: „Petrus fragte: Wer klopft?
Kin armer, ehrlicher Schneider bittet um Finlass! — Ja,
ehrlich wie der Dieb am Galgen, du hast lange Finger
gemacht und den Leuten das Tuch abgezwickt". Die Vor-
lage berichtet einfach: ..Der Schneider war gern hinein
>) Opuseulii 1j14. Ausyaho von i;>~>0, .S. <>.
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— <>9 —
gewesen, Petrus aber wollt ihn nicht hineinlassen, darum
dass er so unbillig in seinem Leben den Leuten das Tuch
gestohlen hält." Wie auch sonst wird der Schneider als
ein kleines, spindeldürres Männehen vorgestellt. Die
späteren Auflagen heben seine Winzigkeit noch mehr her-
vor: er bittet „mit einer feinen Stimme" um Einlass und
springt ..mit seinem dürren Leibe*' behende durch die offene
Himmelstür. — Von der 4. Auflage ab folgten die Brüder
mit geringen Abweichungen der Wiedergabe in Jörg
Wiekrams Kollwagenbüchlein (Gap. 110». Ausführlicher
ist hier die Beschreibung des Wunderstuhls Gottes: der
Schluss warnt den Sünder vor Überhebung. In der Be-
arbeitung blieb am Anfang die Unterredung zwischen
Petrus und dem Schneider und der launige Abschluss nach
Frey. Einmal ist absichtlich ein volkstümlicher Ausdruck
gewählt: ..er tat. als ob er kein Wasser getrübt hätte**
(..er tat, als ob er immer dagewesen wäre").
44. Der Gevatter Tod.
Die erste Auflage brachte das Märchen nach einer
mündlichen Erzählung aus Hessen. Es schloss damit, dass
der Tod seinem vorwitzigen Paten, der ihn um die Kranken
betrog, in einer unterirdischen Höhle die Lebenslichter der
Menschen zeigte und ihn mit einer Warnung entliess. Für
diezweite Ausgabe wurde der Schluss nach einer Erzählung
in Friedrich Gust. Sehillings ...Neuen Abendgenossen'* ')
umgearbeitet: der listige Tod stellt sich, als wolle er seinem
Paten durch Untersetzen eines neuen Lichtes lange Jahre
schenken, er versiehfs aber absichtlich, das Lichtstümpfchen •
fällt um, und der Arzt bricht leblos vor dem gestrengen
Gevatter zusammen. Schilling benutzte das Märchen, das
er wohl aus mündlicher Überlieferung kannte, als Grund-
lage für einen weit ausgesponnenen Unterhaltungsroman.
Für das Grimmsche Märchen kommt nur der letzte Teil
in Betracht, auch dieser stark gekürzt und auf die Haupt-
') Friedrich ("Just. Schilling Sämtl. Schriften C0,0 IT.
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— 70 —
punkte zusammengedrängt. Abgesehen vom Schluss wurde
auch die erste Fassung stilistisch verändert. Der ur-
sprüngliche Text berichtete, wie sich dorn armen Mann
nach dem lieben Gott unmittelbar der Tod als Pate an-
geboten habe: die 2. Auflage schaltet die Begegnung mit
dem Teufel Sm. Hierfür waren ältere Bearbeitungen des
Märchens massgebend. In Jakob Ayrers Fastnachtspiel:
..Der Baur mit seim Gevatter Tod' 1 ') treten Jesus, der
Teufel und der Tod als Gevattern auf. Der Vater erhält
das glückbringende Patengeschenk und wird dadurch ein
berühmter Wunderarzt. Auch Praetorius hat die Dreizahl
der Paten: Teufel, Gott und Tod-). Nach der 1. Fassung
sollte die Kunst des Arztes vergeblich sein, wenn der Tod
zu Füssen des Kranken stände, dagegen könne man, wenn
er sich ihm zu Häupten aufgestellt habe, auf Genesung
hoffen. Die zweite Auflage drehte den Fall um: später
(:$. Aufl.) kam aber die erste Auffassung doch wieder zur
Geltung. Die verschiedenen Bearbeitungen des Märchens
wechseln in diesem Punkt. So wie Schilling erzählen es
z. B. Praetorius und Hans Sachs in dem Schwank „Der
Bauer mit dem Tod" 3 ). Dagegen stimmt Ayrer mit der
endgültigen Grimmschen Fassung überein. Hier bekommt
dein natürlichen Zusammenhang entsprechend der Sohn
das Geschenk, wie es auch Prätorius erzählt, aus dem das
..Kraut" als Heilmittel entnommen ist. Die 1. Auflage
hatte weniger poetisch die „Wunderflasche"'. Auch sonst
ist die neue Bearbeitung wegen ihrer anschaulichen und
populären Spruche der früheren vorzuziehen: es seien
die wesentlichsten Verbesserungen angeführt. Der Arme
läuft ..auf die grosse Landstrasse", um dort wenigstens
einen Paten für sein Kind zu finden. Der ,.dürrbcinige"
Tod packt den Paten ..hart mit der eiskalten Hand" (l. Aufl.:
'i Opus thealricum Xo. 0.
-I Abenteuerlicher Olüekstopf S. 117; v«rl. Zs. <1. Vereins f.
Volkskunde 4.47.
■ ! ) Sdiwiinko ed Goelzc Xo. 1)4. Vjrl. auch H. Sachs* Meister-
lied gleichen Inhalts. Zs. d. Vereins f. Volkskunde 4,37 f.
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er packt ihn\ An dem Dialog zwischen dem Vater und
den ihm begegnenden Personen ist die Wiederkehr der-
selben Worte bemerkenswert. Die Frage des Mannes: ..Wer
bist du?" wird regelmässig drei Mal gestellt. Die schroffe
Antwort des Armen auf das freundliche Anerbieten Gottes:
..Du giebst dem Reichen und lässt die Armen hungern"
wird entschuldigt: ,.So sprach der Mann, weil er nicht
wusste. wie weislich Gott Reichtum und Armut verteilt."
Einige Ausdrücke machen die Erzählung volksmässiger.
z. B. die Euphemismen: ..und da war für ihn kein Kraut
mehr gewachsen": ..unterstehst du dich, mich noch einmal
zu betrügen, so geht dirs selbst an den Hals 11 i(>. Aull.
..an den Kragen"). ..es ist aus mit dir. die .Reihe kommt
an dich", ausserdem die folgenden Wendungen: „das war
der liebe Gott, der wusste schon, was er auf dem Herzen
hatte", ..er würde es so übel nicht nehmen, wenn er ihn
einmal hinters Licht führte": ..so drückt er wohl ein Aug' 1
zu"; ..dass er alle Gedanken in den Wind schlug", und die
Reimworte: „weit und breit kamen die Leute"; „ich will
ihm Gold die Hülle und Fülle geben". Der Zusatz: „Der
alte König weinte Tag und Nacht, dass ihm die Augen
erblindeten" entspricht gleichfalls einer in der Volkspoesie
häutig vorkommenden Hyperbel. Der Kindersprache ge-
hört die Wiederholung eines Wortes an, z. B. ..viel tausend
und tausend Lichter". Der Monolog steht einmal mit
Personenwechsel: ..Der Arzt dachte, vielleicht kannst du
den Tod überlisten, weifs dein Herr Pate ist, wird er s
so übel nicht nehmen 1 *. Die Fremdwörter wurden ver-
deutscht: „Arzt" (Doktor), „vom Tod erretten" (kurieren).
..das Kraut gebrauchen" (eine Kur anfangen).
Das Märchen ist über ganz Europa verbreitet. ') In
allen Darstellungen sind die Motive wesentlich dieselben:
wunderbare Krankenheilungen durch ausserordentliche
Mittel, die man einem höheren Wesen verdankt. Die
') (»ustav Meyer, Essays 1.152 IT. u. Holte. Zs. <l. Vereins f.
Volkskunde IT.
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— 72 —
Überlistung dos Todes kann wie in Grimms Märchen durch
Umdrehen des Bettes bewirkt werden: daneben findet
sicli auch die Form, dass der Kranke noch um die Frist
bittet, ein Vaterunser zu sprechen; er beginnt dann damit,
ohne es zu Ende zu beten. Gewöhnlich aber überlistet
der Tod den Kranken. Dieser Zug findet sich schon in
einer isländischen Erzählung: „Der Königssohn und der
Tod" aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts. \) Das älteste
Zeugnis in deutscher Sprache bietet Hugo von Trimberg
im Renner (V. 2306(5 ff.).
77. Das kluge G retel.
Das kluge Gretel ist eine naschhafte Köchin, die die
beiden Hühner, die ihr Herr für einen Gast bestimmt hat.
selber verzehrt und sich durch eine geschickte Ausrede
vor der Strafe zu schlitzen weiss. Wie der Fremde er-
scheint, macht sie ihn darauf aufmerksam, dass der Haus-
herr, der gerade das Messer wetzt, ihm beide Ohren ab-
schneiden wolle, worauf der Gast schleunigst das Weite
sucht. Dem Wirt aber erzählt das Mädchen, dass der
Besuch die Hühner mitgenommen habe. Um doch etwas
zu retten, ruft der Herr dem Gaste nach: Nur eins! Dieser
aber versteht, er solle nur ein Ohr missen, und rennt
weg, ohne sich umzusehen. — Dass das Märchen ur-
sprünglich frivolen Inhalts war. beweist die mittelhoch-
deutsche Fassung: „Der entlaufene Hasenbraten".'-) Hier
teilt die Hausfrau dem eingeladenen Pfarrer mit, dass ihr
Mann, der das Bratenmesser schärft, es auf ihn abgesehen
habe, da er bei ihm in einem bösen Verdacht stehe. Um
der Entmannung zu entgehen, läuft der Pfaffe davon. Die
boshaften Anspielungen sind in dem kurzen und trockenen
Bericht bei Pauli (Cap. 3(54) vollständig getilgt. Hans
Sachs, der diesen als Vorlage für seine beiden Bearbeitungen
des Schwanks benutzte/') erzählt trotz mancher Erwcite-
') Gehring:, Isländische Lebenden, Novellen u. Märrhen 11.14:3.
2) Plagen, Oosamiabenteuer XXX.
3) Schwanke ed. Goctze I1I,«U u. Werke ed. Keller V»,40?.
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— —
rungen das Ganze in einem nüchternen Ton und hebt in
der Moral eindringlich die Warnung vor schlechten Haus-
mägden hervor. Die Brüder Grimm folgten der Dar-
stellung in Andreas Strobls: Ovum paschalc ! Salzburg
1700 S. 25? ff.), wo die Geschichte zu einem launig erzählten
„Ostermärlein" ausgestaltet worden ist. ihre Zusätze
beschränken sich auf einige sprichwörtliche Redensarten:
..die Küchin muss wissen, wie das Kssen schmeckt": ..wo
das eine ist, muss das andere auch sein, die zwei gehören
zusammen": „was dem einen recht ist. das ist dem andern
hillig". Volkstümlich sind auch die Ausdrücke: „er lief,
als wenn das Feuer unter ihm brennte 44 (lief, was er
kunnte): „sie tat einen ehrbaren Trunk" (tet ein Trünklein
darauf) und die Tautologie: „ist aber Jammer und Schade":
..ist ja Sünd und Schund". I)<t Monolog zeigt einmal
Personenwechsel: „sie dachte, du bist doch ein schönes
Mädel* 4 (in der Vorlage: „bin ja ein rundes Diendl"). Die
Fremdwörter ..tranchieren" und „Vesperzeit 44 sind bei
Grimm verdeutscht.
Dem bekannten Märchen von „Hans im Glück" (83)
liegt die Fassung zu Grunde, die A. Wernicke in der
Zeitschrift „Wünschelrute" (ISIS: Xo. !W) nach mündlicher
Überlieferung veröffentlicht hatte. In der Bearbeitung
fehlen die scherzhaften Ortsnamen „Gernefrass" und „Suse-
wedel", und die Ausrufe Hansens: „Bei allen Heiligen",
„ich bitte euch um der sieben Wunden Christi willen",
.die auf einen katholischen Verfasser hindeuten. Hin und
wieder wurden einige Worte hinzugefügt. So ist z. B. die
komische Situation des Kuhmelkens deutlicher als in der
Vorlage beschrieben: Hans hat die Kuh an einen „dürren"
Baum gebunden und lässt die Milch in seine „Lederinütze 44
rinnen, bis er von dem ungeduldigen Tier einen Schlag
bekommt, dass er „zu Boden taumelte und sich eine Zeit-
lang gar nicht besinnen konnte, wo er war". Den Vers
des Scherenschleifers:
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„fiesrlililTen muss beut alles sein
Und glänzen wie ein Kar funk eiste in"
ersetzte man durch das allgemeine Sprichwort: „Handwerk
hat einen goldenen Hoden". Ein paar Sätze sind in volks-
tümlicher Sprache gehalten: „Wie er so dahin ging und
immer ein Hein vor das andere setzte": „Hans suchte
seine Glieder zusammen und machte sich auf den Weg":
„dem Ding ist zu helfen, dachte Hans"; „Herz, was
verlangst du mehr" und alliterierend: „ein Reiter, der
Irisch und fröhlich vorübertrabte", „als er frank und frei
dahinritt". Auch der prägnante Gebrauch des Possessiv-
Pronomens gehört hierher: „Ja, die hat ihr Gewicht"
(-= ihr gutes Ge wicht) und die Euphemismen: „mit eurem
Schwein mag's nicht ganz richtig sein", „es ist ein schlechter
Spass. das Reiten".
84. Hans heiratet.
Vorlage war eine Erzählung in Praetorius' ..Wünschel-
rute" (S. 148 f.). Die Abweichungen der Bearbeitung sind
unbedeutend. Hier erst trägt der Held den populären
Namen „Hans". Volkstümlich ist die Tautologie in dem
Satze: „und bleib da sitzen und geh mir nicht von der
Stelle". Ein Gebot in negativer Form zu wiederholen,
ist eine in der Umgangssprache häufig zu beobachtende
Erscheinung. Die Vorlage hatte indirekt und weniger
eindringlich: „er sollt in solcher Positur bleiben". In
komischem Gegensatz zu der armseligen Wirklichkeit in
Hansens Haushalt stehen die wichtigen Vorbereitungen
zur Hochzeit, die in der Bearbeitung noch deutlicher
hervortreten: der Vetter Hess „gut ,k einheizen, gab ihm
„eine gute Menge Weissbrot" und einen „neugemünzten,
glänzenden Heller" in die Hand. Statt der Moral in der
Vorlage, die vor leichtsinniger Heirat warnt, haben wir
bei Grimm einen lustigen Kinderreim: „Bist du auch aut
der Hochzeit gewesen? Jawohl bin ich darauf gewesen.
Mein Kopfputz war von Butter (?>. Aufl. von Schnee), da
kam die Sonne, und er ist mir abgeschmolzen; mein Kleid
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- 75
war von Spinneweb, da kam ich durch Dornen, die rissen
es mir ab: meine Pantoffeln waren von Glas, da stiess
ich an einen Stein, da sagten sie klink und sprangen
entzwei." Dieser echt märchenhafte Abschluss stammt
aus mündlicher Überlieferung: er stand zuerst in No. TO
(1. Aufl.). Ganz ähnlich endet No. 91 „Dat. Erdmänncken' 1 :
auch in No. (>6 hat Grimm durch einen Zusatz gleicher
Art das Märchen erweitert.
119. Die sieben Schwaben.
Die älteste bekannte Überlieferung, die auf das Vor-
handensein des Schwank* von den sieben Schwaben
schliessen lässt, ist ein Dialog in lateinischer Sprache aus
dem Ende des 15. Jahrhunderts, betitelt: Uomedia de le-
pore et novem Suevis 1 ). Drei Schwaben sind über das
Aussehen eines schlafenden Hasen entsetzt und lassen sich
nur mit Mühe beruhigen. In veränderter Form taucht
das Hasenabenteuer in dem von H. Sachs verfassten
Schwank: ..Die neun Schwaben" auf 2 ), wo erzählt wird,
dass umherwanderndc Sehwaben einen schlafenden Hasen
antreffen, dem sie mit einem langen Spiess zu Leibe gehen.
Nach Überstandenein Kampf kommen sie an ein Wassel',
verstehen das Quaken eines Frosches falsch und ertrinken
einer nach dem andern. Das Gedicht bildete die Vorlage
zu einer Erzählung bei Montanus (Gartengesellschaft II. IS)
und bei Kirchhof (Wendunmuth 1.273). Dieser fügte noch
einen dritten Schwank hinzu, den er ebenfalls einem Meister-
lied des Hans Sachs entnahm: „Der Schwab mit dem
Rechen" -1 ). Ein bewaffneter Schwabe hört auf dem Felde
das Gebrumm einer Hornisse, hält es für einen feindlichen
Kriegsruf und flieht. In der Hast tritt er auf einen Rechen,
empfängt einen Schlag in den Rücken, glaubt sich von den
Feinden ergriffen und gibt sich angstvoll gefangen. Seit
1) Bülte, Schwankbüchcr dos Mcmtaims S. 507 IT.
2) Holte, Zs (I. Vereins f. Volkskunde 4.4*2.
:: ) Schwanke ed. (ioetzo 111.845.
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— 7G —
dem 17. Jahrhundort ist die Sichenzahl der Schwaben ge-
läufig:. Das Grimmsche Märchen ist grösstenteils Kirch-
hofs Wendunmuth nacherzählt. Die groteske Beschreibung'
dos Hasen: ,.da sass oin Hase in der Sonne und schlief,
streckte die Ohren in die Höhe und hatte die grossen,
gläsernen Augen starr aufstehen; da erschraken sie beim
Anblick des grausamen und wilden Tieres insgesamt und
hielten Rat" entspricht den Versen in H. Sachsens Schwank
von den neun Schwaben:
„Sie funden pult Sie hielten rat
liejren einen liasen in dem »ras, sie wollten spat
der da entsehlatTen was eine kiine dal
mit offen ausren hart all neun peweisen schiere
s;iin <rlesren und erstarrt. an diesem grausamen und wilden
Sein oren det er strecken. [diere."
Kin fließendes Blatt '). gedruckt bei Fr. Campe in Nürnberg,
lieferte die Unterredung in Reimen und die Namen. Ver-
sehentlich ist bei Grimm „Marli" für „Marti" (Martin) ge-
schrieben. Nach der Verschmelzung der drei Vorlagen
haben die Bearbeiter nur noch einige volkstümliche Aus-
drücke angebracht: „es war zu besorgen, das Ungeheuer
verschlang sie mit Haut und Haar": frisch gewagt ist
halb gewonnen": „es fuhr ihm der Stiel ins Gesicht und
gab ihm einen ungewaschenen Schlag" (dass ihm der Stiel
auf die Nasen schlug). Auch die flektierten Zahlwörter
haben für uns etwas volksmässiges: ..sie hatten alle siebeue
sich vorgenommen", ,.also dass ein Frosch ihrer sechse ums
Leben brachte." Die Wendungen: ..dass ihm der Angst-
schweiss am ganzen Leibe ausbrach- und: ..dem ich weiss
nicht was für ein Geruch in die Nase kam" sind anständige
Umschreibungen der nackten Derbheiten des l(i. Jahr-
hunderts. Kirchhof verlegt das Abenteuer auf eine Wall-
fahrt nach Trier und Aachen: die genaue Angabe des
Orts ist indes weniger märchenhaft. Der Schlussvers im
Wendunmuth bringt, wie fast immer, eine moralische Nutz-
anwendung; hier lautet sie beschwichtigend:
') V<rl. Z<. d. Vereins f. Volkskunde 4,4:50.
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.,10s sein d'Sehwaben hierdurch nit «reschineht.
In Frühlhhkeil es so hinpdit:
Ein yeder troftllt ilim selln>r bass,
Andere wissen von ihm auc h was."
FW. Einäuglein. Zweiäuglein und Dreiä uglein.
Die älteste bekannte Fassung des Märchens stellt
bei Montanas (Gartengesellschaft. Cap. r») als Erzählung
vom ..Erdkühlein". Die Brüder (Jrimm folgten einer zeit-
genössischen Aufzeichnung aus dem Lausitzisehen von
Theodor Pescheek'). Fortgefallen ist in ihrer Bearbeitung
die gelehrte Ueminiscenz aus der antiken Mythologie, das
Bild des Tantalus, das die Vorlage bei einer entsprechen-
den Stelle des Märchens gebraucht. In Einzelheiten wurde
mehrfach gebessert. Die Brüder verweilen absichtlich in
tler Beschreibung des YYundertisehes Zweiäugleins: ..Kaum
hatten sie die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tisch-
lern, mit einem weissen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller
mit Messer und (Jabel und silbernem Löffel, die schönsten
Speisen standen rund herum, rauchten und waren noch
warm, als wären sie eben aus der Küche gekommen."
Die Vorlage ist knapper: ..so stand da das sauber ge-
deckteste Tischlein zu ihren Füssen und duftete ihr mit
den einladendsten Speisen und (Jetränken gar lieblich und
ge würzig entgegen." Die strömenden Tränen Zweiäugleins
vergleicht Grimm ..mit zwei Büchlein, die aus den Augen
herabtlosseif . In der Vorlage fehlt das Bild. Bevor das
arme Mädchen die köstlichen Speisen des Wundertisches
anrührt, sagt es fromm ..das kürzeste Gebet her, das es
vvusste: Herr Gott, sei unser Gast zu aller Zeit, Amen",
während die Vorlage es ungeniert ..nun weiter auf kein
Nötigen harren, sondern sogleich frisch und wohlgemut
zulangen 1 - lässt. wonach es verlangte. Charakteristisch
durch das Spiel mit Zahlbegriffen ist die Art. wie Grimm
die allmählich sich steigernde Verwunderung der Schwestern
beschreibt, als Zweiäuglein von den übrig gebliebenen
M imsrhiie-s WörhentliclM' XaH, Hebten II, 17-2«.
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— 78 —
Brocken nichts mehr nehmen will: „das erste Mal und
das zweite Mal achteten es die Schwestern nicht, wie es
aber jedesmal geschah, merkten sie auf und sprachen: es
ist nicht richtig mit dem Zweiäuglein u . Am auffallendsten
unterscheidet sich die Umschrift von der Vorlage durch
die Wiederholung gewisser Züge. Beim Versuch Drei-
äugleins, ihre Schwester zu überlisten, hören wir dieselben
Worte wie früher: „Aber Zweiäuglein merkte, was Drei-
äuglein im Sinne hatte und trieb die Ziege hinaus ins hoho
(Jras und sprach: Wir wollen uns dahin setzen, Drei-
äuglein, ich will dir was vorsingen". Die Vorlage ver-
weist kurz auf den früheren Fall: .,Aber auch diese suchte
Zweiäuglein auf die nämliche Art, wie sie bereits gestern
getan, einzuschläfern' 1 . Überhaupt werden alle Vorgänge,
die sich beim Besuch Dreiäugleins auf dem Felde abspielen,
mit ähnlichen Wendungen wie beim Einäuglein wieder-
gegeben. So heisst es zweimal: ..Ich will mitgehen und
sehen, dass die Ziege auch recht gehütet und ins Futter
getrieben wird 44 . Dreiäuglein wird mit denselben Worten
wie Einäuglein aufgefordert, nach Hause zurückzugehen.
Auf die Frage der Fee antwortet Zweiäuglein regelmässig:
..Soll ich nicht weinen?" . . .»und das Folgende: ..weil ich
zwei Augen habe, wie andere Menschen, so können mich
meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stossen
mich herum [später noch volkstümlicher: stossen mich aus
einer Ecke in die andere . . .], werfen mir alte, schlechte
Kleider hin und geben mir nur zu essen, was sie übrig
lassen", entspricht genau einer Parallele kurz vorher.
Wenn die Vorlage berichtet, dass Dreiäuglein alle Erlebnisse
auf dem Felde „haarklein' 4 der Mutter erzählt habe, so
gibt Grimm statt dessen eine ausführliche Schilderung, den
Zauberspruch der weisen Frau zum fünften Mal wieder-
holend. Die Sprache ist einfach und schlicht. Künstliche
Tropen mied man und nannte die Dinge mit ihrem rechten
Namen: „Zweiäuglein merkte gar bald, dass der Baum aus
den Eingeweiden der Ziege aufgeprosst war 44 . Die Vorlage
•anschreibt: „Zweiäuglein gewahrte, wie der wunderschöne
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— 79 —
Baum oben da aus der Erde hervorgesprossen war. wo
sie den wunderbaren Samen der Erde anvertraut hatte".
Der allegorische Ausdruck: „dass sie trauernd herumging,
und die Einsamkeit ihre einzige Freundin war 41, fehlt. Leise
ist die Neigung zu verspüren, Abstraeta zu ersetzen:
Zweiäuglein aber dachte, ich muss gleich einmal versuchen,
ob es wahr ist, was sie gesagt hat* 4 (..Alsbald versuchte
Zweiäuglein die Wahrheit jener Vcrhcissung"), „Einäuglein
konnte der Mutter nicht sagen, warum es nicht essen
wollte 4, („Einäuglein wusste der Mutter den Grund keines-
wegs anzugeben* 4 ). Einzelnes ist in volkstümlicher .Sprache
hinzugefügt: Zweiäuglein weinte ..seine bitteren Tränen *:
..es ist nicht richtig mit dem Zweiäuglein, das muss andere
Wege gefunden haben". Die Bearbeitung nennt die spär-
liche Kost, die man Zweiäuglein zu Hause zukommen lässt,
in volksmassiger Kürze: „die paar Brocken". Die 6. Auf-
lage fügte die sprichwörtliche Redensart hinzu: ,.Wer
weiss, wo unser Weizen noch blüht". „Essen und Trinken-
ist eine populäre Umschreibung für Mahlzeit überhaupt.
Verwandt ist diese Ausdrucksweise, die auf sinnliche Deut-
lichkeit der einzelnen Glieder Wert legt und blasse Kollektiv-
begriffe meidet, mit den volkstümlichen Tautologien, von
denen uns hier eine Anzahl begegnet: „Ach, ich leide
Hunger und Durst, Kummer und Not. vom Morgen bis
zum Abend* 4 . Tm jeden Anklang an die Feenmärchen zu
beseitigen, wurde die „Fee** der Vorlage in eine ..weise
Frau*' verwandelt.
Als Vorlage zu dem Märchen „Die Brautseh au' 4
(155) diente die kurze Notiz, die der schweizerische Volks-
und Jugendschriftsteller Job. Rudolf Wyss zu seiner im
Stil der Vossischen „Luise 44 gehaltenen kleinen Idylle:
„Die Apfelprobe 44 macht. 1 ) Die Umschrift zeigt nur gering-
fügige Änderungen: ein einleitendes Wort war leicht aus
>) Joh. H. \Vys.s, Idyllen, Volkssagen. Legenden S. '.V2i.
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— 80 —
dem Zusammenhang zu ergänzen. Statt: viel „Geniess-
bares" heisst es bei Grimm populärer: viel „Gutes"').
Die Bearbeitungen der gedruckten Vorlagen, die aus
der ersten Auflage in die zweite herübergenommen wurden,
blieben im allgemeinen unverändert. An den kurzen Ge-
schichten war wenig zu bessern. Eine Ausnahme macht
das .Märchen vom tapfern Schneider! ein (20). Die
beiden Erzählungen der 1. Auflage wurden durch eine
dritte, hessische Überlieferung ergänzt, die das Abenteuer
des Schneiders in der Höhle des Kiesen enthielt. Ausser-
dem aber schrieb man. hauptsächlich wohl auf Arnims
Veranlassung, der Stil und Ausdruck für ein Kinderbuch
ungeeignet fand. 2 ) das ganze Märchen um und hob es
künstlerisch durch Zusätze mannigfacher Art. Am meisten
treten die volkstümlichen Kedensarten hervor, z. B.: ..Da
lief dem Schneiderlein die Laus über die Leber" (mein
Schneiderlein ward bös): „die ganze Welt Solls erfahren,
und sein Herz wackelte dabei wie ein Läminerschwänzchen'*:
„nun nahm's den Weg zwischen die Beine und stieg auf
einen hohen Berg hinauf" (das Sehnciderlein stieg auf
einen hohen Berg): und Hess seine Äugelein nach ihm
hin und beigeben" (und lugte von weitein): „da hast du's
schriftlich" (da kannst du sehen): „die Fliegen aber ver-
standen kein Deutsch"; „dem Ding will ich wold steuern"
(er wüsste dieser Sachen wohl zu tum: „da merkte sie.
in welcher Gasse ihr junger Herr Gemahl geboren war";
„da lagen sieben vor ihm tot und streckten die Heine":
„nun ging das Schneiderlein immer seinem spitzigen
Naschen nach'": ..der liess sich das nicht gefallen und gab
ihm gleiche Münze zurück". Der Schneider ist mit sprich-
wörtlichen .Redensarten bei der Hand: ..Gewonnen Spiel!
sprach das Sehnciderlein." ..Habt Ihr gar keine Wunde?
Das hat gute Wege, erwiderte er. kein Haar haben sie mir
gekrümmt!" Die :>>. Aullage brachte noch einige weiten?
') Ayl. No. 11. „Dein wirft sie ilorli nnmchmnl Cnh-s zu."
->> S(.>y a. \ . Arnim m,2i>::.
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— 81
Verbesserungen; sie seien hier gleich erwähnt. Statt des
Ausdrucks: „Der Schneider pfiff allerlei Liederehen" liest
man jetzt bestimmter: ..Er pfiff das Liedchen: Es ritten
drei Schneider zum Tore hinaus. 4 ' Der Umgangssprache
angehörig sind Wendungen wie: „Das ist ein Kinderspiel"
und: ..dem Ding will ich einen Riegel vorschieben".
Einzelnes wird deutlicher beschrieben. Man erfährt z. B.,
dass der Schneider drei Treppen hoch wohnt: sehr vor-
sichtig zeigt er sich beim Einkauf: „er besah alle Töpfe,
hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran und sagte end-
lich" . . . Seine Behendigkeit wird noch mehr als früher
betont: er heisst ..der flüchtige Held-, „der kleine Kerl",
und vergleicht sich selbst mit einem Eichhörnchen. Prahle-
risch erwähnt er bei jeder Gelegenheit, sieben auf einen
Streich erschlagen zu haben.
Jede neue Auflage der Märchen stellte eine höhere
Stufe auf dem Wege der Entwicklung dar. Allerdings war
in der zweiten Ausgabe nach bedeutenderen Umformungen
ein Grundstock geschaffen, der inhaltlich nahezu unver-
ändert bestehen blieb; nur vereinzelt griffen die Brüder
noch ein Stück heraus, das ihnen nicht recht gefiel, um
es durch eine andere Überlieferung zu ersetzen. Aber in
der Form zeigen die späteren Ausgaben noch mancherlei
Verbesserungen. Ihr Wert besteht jedoch vor allem in
der grösseren Reichhaltigkeit. Die dritte Auflage (1837)
brachte allerdings verhältnismässig wenig Neues. Am
Schluss wurden No. 161 — 167 hinzugefügt. No. 43 der
2. Auflage fiel fort, und an ihre Stelle trat eine voll-
ständigere Erzählung nach gedruckter Vorlage. Auch
von den andern neu aufgenommenen Stücken gehen einige
auf ältere Fassungen zurück.
]G2. Der kluge Knecht.
Das Märchen erzählt Luther neben anderen Volks-
schnurren in der Auslegung des 101. Psalms '). Die Be-
>) Vgl. Goedekc, Dichtungen M. Luthers S. 124.
Palaestra XLVII. 0
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— 82 —
arbeitung rundet nur die Sätze hier und da etwas ab.
Der Eingang, der öfter mit einer sentenziös gefärbten
Wendung beginnt, ist auch hier verallgemeinernd in den
Ausruf gekleidet: „Wie glücklich ist der Herr, und wie
wohl steht es mit seinem Hause, wenn er einen klugen
Knecht hat, der auf seine Worte zwar hört, aber nicht
danach tut, und lieber seiner eigenen Weisheit folgt."
Um den Helden schon äusserlieh als einen beschränkten
Oesellen zu charakterisieren, legt ihm Grimm den volks-
tümlichen Vornamen „Hans" bei. Beachtenswert ist, dass
er in der Bearbeitung das Beiwort „klug" regelmässig
dann erhält, wenn er einen augenfälligen Beweis seiner
Dummheit gegeben hat, wie auch die Überschrift „Der
kluge Knecht" in ironischem Sinne gesetzt ist (vgl. Xo. 32
Der gescheite Hans. Xo. 34 Die kluge Else).
103. Der gläserne Sarg.
Das Märchen entstammt einem abenteuerlichen Studenten-
roman: Das verwöhnte Mutter-Söhnchen oder Polidors ganz
besonderer und überaus lustiger Lebenslauf (Frcibcrg 172S).
Es wird hier als selbständige Einlage erzählt, unterscheidet
sich auch in Stil und Sprache von seiner Umgebung.
Inhaltlich ändert die Bearbeitung so gut wie nichts. Der
Anfang: „Sage niemand, dass ein armer Schneider es nicht
weit bringen und nicht zu hohen Ehren gelangen könne;
es ist weiter gar nichts nötig, als dass er an die rechte
Schmiede kommt und, was die Hauptsache ist, dass es
ihm glückt", macht sich in harmloser Weise über den
■Schneider lustig, der ja in der volkstümlichen Literatur oft
als humoristische Figur aufgefasst wird. Grimm macht
mehrfach absichtlich Anspielungen auf seinen fragwürdigen
Mut, der so selten eine ernsthafte Probe besteht; geht er
wirklich entschlossen vor, so wird es im Gegensatz zur
Vorlage betont: „er klopfte mutig an"; „der Schneider,
den ein unerwarteter Mut überkam, sprang auf"; „sein
"Mut war schon so weit gewachsen, dass er dem Befehle
Folge leistete". Das „arme" Schneiderbürschchen ist bei
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— S3
Grimm ein „artiges und behendes". Einzelne Schilderungen
sind in der Bearbeitung feiner ausgeführt: die schlafende
.Schöne wird uns in ruhigem Sehlummer gezeigt: „die
Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichts-
farbe und ein Hand, das der Atem hin und her bewegte,
Messen keinen Zweifel an ihrem Leben". Das lange
blonde Haar umhüllt sie wie ein kostbarer Mantel. Die
Vorlage ist roher im Ton: ,.in welchem er eine über alle
.Massen schöne und wohl gebildete, ganz nackende und
der Länge nach ausgestreckte Weibesperson liegen sähe".
Sehr gekürzt wurde der ausführliche, der Situation wenig
entsprechende Bericht des verzauberten Mädchens beim
Erwachen. Von formelhaften Wendungen blieben aus der
Vorlage: ..ohne Zittern und Zagen", „über Stock und
Stein, Berg und Tal, Wiese und Wald" („über Stock und
Stein, durch Tal und Wald"): die Alliteration: „Herz
und Hand anbieten" fügte man hinzu.
Der Zustand des Mädchens, den es mit den Worten
beschreibt: „ich befand aber, dass eine unbekannte Gewalt
mir die Sprache hemmete", ist bei Grimm dem Volks-
glauben entsprechend ein Alpdrücken. Die gespreizte
Ausdrucksweise, die sich manchmal übel bemerkbar macht,
ersetzte man durch einen schlichten Erzählungston. Die
meisten Abweichungen erklären sich aber aus der Moderni-
sierung der Sprache. Dass hierbei eine Änderung die
andere nach sich zieht, versteht sich von selbst. Die
Fremdwörter wurden regelmässig übersetzt: Lärm (Tumult),
geschliffen (poliert), Zeichen (Charakter), Diener (Page),
ein Lager suchen (campieren). Am Schluss fügt die Be-
arbeitung die zur Vollständigkeit notwendige Entzauberung
des Bruders der Jungfrau hinzu.
164. Der faule Heinz.
Das Märchen beruht auf einer Erzählung in Eucharius
Eyerings Proverbiorum copia 1,70—72. Die dürre Reim-
erzählung bot aber nur das Notdürftigste dar. Die Aus-
führlichkeit des Märchens, namentlich am Anfang, ist freie
u*
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— 84 —
Erfindung Grimms. Der moralisierende Charakter der
Vorlage hat einem humoristischen Plaudcrton Platz ge-
macht. Absichtlich ist der komische Kontrast zwischen
den Klagen Heinzens und der Wirklichkeit, die dazu gar
keinen Anlass gibt, in der Bearbeitung verstärkt worden.
Er will seine Schultern von der Bürde der Arbeit frei
machen, geht lange mit sich zu Bat und findet schliess-
lich den besten Ausweg in der Heirat mit der dicken
Trine. „Er setzt seine milden Glieder in Bewegung",
geht quer über die Strasse — „denn weiter war der Weg
nicht", fügt die Bearbeitung launig hinzu — und wirbt um
die „arbeitsame und tugendreiche Tochter" seines Nach-
bars. In Wahrheit aber gibt ihm diese in der Trägheit
nichts nach. So haben nun beide „gute Tage" und brauchen
sich ..von keiner andern Arbeit zu erholen als von ihrer
eigenen Faulheit". Auch nach der Bestrafung bleiben sie
ihren Grundsätzen getreu und lassen sich nicht aus ihrer
Ruhe bringen. Der humoristische Schluss: ..Weisst du,
die Schnecke war einmal zur Hochzeit geladen, machte
sich auf den Weg, kam aber zur Kindtaufe an. Vor dem
Hause stürzte sie noch über den Zaun und sagte: eilen
tut nicht gut" rundet das Märchen vortrefflich ab. Er
winde in der G. Auf Inge hinzugefügt und stammt aus den
Briefen der Elisabeth Charlotte von Orleans 1 ). Einer Reihe
volkstümlicher Ausdrücke begegnet man auch in diesem
Märchen: „Plötzlich fiers ihm wie Schuppen von den Augen";
,.da muss man die Augen auf haben"; „als er am hellen
Tag in den Federn lag"; „ich will ihm mit ungezählten
Schlägen die Haut gerben". Parallelismus der Glieder
zeigt sich in folgenden Wendungen: „so eine Ziege jahr-
aus jahrein ins Feld zu treiben", „die Bienen flogen vom
frühen Morgen bis zum späten Abend aus und ein", und
gereimt: „er ging nur dann und wann mit ins Feld hin-
aus". 'Seine Trägheit entschuldigt Heinz mit dem Sprich-
i) Brirf«. «lor Elisabeth «'harlott*-. liibl. .1. Lit. Vwins 1843,
VI, 2(58.
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— 85 —
uort: „Wer früh aufsteht, sein Gut verzehrt", und die
Kitern der Braut haben nichts gegen die Heirat ein-
zuwenden, denn: ,.Gleich und gleich gesellt sich gern"
(Zusatz der 4. Aull.). Der volkstümliche Name Heinz
lilieb aus der Vorlage, die vornehmere Benennung „Adel-
heid wurde den Umständen entsprechend von den Brüdern
in das vulgäre ..dicke Trine" verwandelt. In den Worten:
..gerade wie jener Knecht, der die Kuh suchen sollte und
drei Amseln nachjagte" haben wir einen Hinweis auf das
Märchen Xo. 162, das auch in Xo. 174 zitiert wird.
43. Frau Trude.
Für das Märchen: „Die wunderliche Gasterei", das
aus mündliclierÜberlieferung stammt, wurde dicBearbeitung
fines Gedichtes von Meier Teddy, betitelt: „Klein Büschen
und Frau Trude" •) aufgenommen, das die grausenerregende
Wirtschaft im Hause der Hexe vollständiger als die erste
Erzählung schilderte. Der Eingang beginnt, bei Grimm
warnend: „Es war einmal ein kleines Mädchen, das war
eigensinnig und vorwitzig, und wenn ihm seine Eltern
etwas sagten, so gehorchte es nicht, wie konnte es dem
gut gehen?'' Im folgenden ist der Text der Vorlage häufig
mit Beibehaltung des Wortlauts in die Bearbeitung über-
gegangen, nur ist diese knapper und eilt rascher dem
Ende zu.
Die 4. Auflage steht textlich der dritten sehr nahe;
am Schluss wurden Xo. 1138—177 hinzugefügt.
1GS. Die hagere Liese.
Vorlage war Kirchhofs Wendunmuth 1.371: „Ein weih
uird muthwillig geschlagen*'. Die Bearbeitung hat im
wesentlichen nur Ausdrücke der populären Sprache hinzu-
gefügt, z. B.: „sie äscherte sich ab von Morgen bis Abend",
„als sie im Bett lag und vor Müdigkeit kaum ein Glied
U Frauenta.scht'nbuch lS2.'i, S. 300.
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rühren konnte", „und wenn du dich auf den Kopf stellst,
du kriegst keinen Tropfen Milch", ebenso die Reihe der
Scheltworte: „Du langer Lenz, du Nimmersatt, du Strick,
du fauler Heinz". Auch die Bezeichnungen: „Liese" und
„langer Lenz" für den Ehemann (Vorlage: Claus) und der
Parallelismus in der Wendung: „Es half aber alles nichts,
sie hatten nichts und kamen zu nichts" sind volkstümlich.
In der Ausmalung der Prügelszene zwischen den Gatten ist
die Umschrift weniger roh und schliesst humoristisch: „Üb
sie am andern Morgen fortfuhr zu zanken, oder ob sie
ausging, den Gulden zu suchen, den sie finden wollte, das
weiss ich nicht", während die Vorlage moralisiert:
„Sich zanken um das man nicht hat.
Setzt gewisse schmerzen an die statt. ^
170. Lieb und Leid teilen.
Eine Bearbeitung des Wiekramschen Schwankes:
„Einer leidt mit seiner frawen lieb und leidt" '). Die Be-
arbeitung bringt nur formale Änderung*'!]. Wie in andern
Märchen, wird der zänkische Schneider auch hier mit
Humor und Laune gezeichnet: er läuft seiner Frau „mit
der Elle und der Schere" nach und verteidigt sein rohes
Benehmen ihr gegenüber mit den scherzhaften Worten:
..ich habe ihr nur, weil sie so wunderlich aussah, die Haare
mit der Hand kämmen wollen („ich habe sie nur ein wenig
bei dem Haar wollen ziehen") und habe, damit sie zu
ihrer Pflicht zurückkehre, als eine gutgemeinte Erinnerung
nachgeworfen, was mir eben zur Hand war" („do bin
ich ihr nachgeeilt, nach ihr mit benglen und was ich er-
witseht hab, geworfen"). Beabsichtigter Parallclismus ist
deutlich zu erkennen in Wendungen wie: „packen und
raufen" (erwitschen), „mit der Elle und mit der Schere"
lerwitscht er die Scher). ..war mürrisch und zänkisch"
(dass er mit ihr zankt). ..so tobte und wetterteer 1 iso flucht
er) „er brummte, sehalt. raufte und schlug sie" (er sehlug
') Heltes Ausgabe des Kollwagenbüchleins Nu. 17.
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und rauft sie stets). Echt volkstümlich heisst es bei
Grimm: ..er sass eine Zeitlang bei Wasser und Brot" (man
legt ihn ein Zeitlang in gefengnus).
171. Der Zaunkönig.
Das Märchen, das von der Königswahl der Vögel er-
zählt, ist. wie die beiden folgenden, nach Aufzeichnungen
des Pastors Mussäns bearbeitet und stammt aus mecklen-
burgischer, mündlicher Überlieferung '). Eine zweite, hand-
schriftliche Vorlage, die K. Goedeke in Lachendorf im
Hannoverschen aufgenommen und Grimm überlassen hat.
kann nur formale l'ntersehiedeoderinhaltliche Abweichungen
von geringer Bedeutung gehabt haben.
Mussäns hat die Erzählung schlechter komponiert und
bringt die Worte der Tiere z. T. ohne inneren Zusammen-
hang und ohne Beziehung auf die bevorstehende Königs-
wahl: bei Grimm dagegen steht der Zaunkönig von Anfang
an im Mittelpunkt. Die Sprache des Räderwerks der
Mühle ist, wenn man hier nicht einen Einfluss der
Goedekeschen Fassung annehmen will, ein Zusatz Grimms:
von Jakob gibt es ja darüber eine Abhandlung-). Den
Tieren werden menschliche Eigenschaften beigelegt. Di<
Bearbeitung fügt den Beispielen der Vorlage noch einige
charakteristische Züge bei: ..Als es Abend geworden war.
und die Vögel von der Anstrengung beim Fliegen grosse
Müdigkeit empfanden, so gingen sie mit Weib und Kind
zu Bett''. Die grosse Höhe des Fluges wird mit anschau-
lichen Bildern umschrieben: ..Der Adler stieg so hoch,
dass er der Sonne hätte die Augen aushacken können",
der Zaunkönig noch höher. ..dass er Gott auf seinem Stuhle
konnte sitzen sehen", wofür die Vorlage ein mattes: „und
über alle klafterweit sich erhebend" bietet. Durch ein
beabsichtigtes Spiel mit den Ausdrücken zeichnet sieh die
Szene aus, wo der Zaunkönig in seinein Versteck von der
Eule bewacht wird: ..Der kleine Kerl guckte mit dem Kopf
') Schriften des nieekleiilmi'jrischen Vereins V.74 IT.
-) Zs. f. deutsches Alterliilli V, Ml.
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licraus, aber die Eule trat gleich davor, und er zog den
Kopf wieder zurück. Dann tat die Eule das eine Auge
wieder auf und das andere zu und wollte so die ganze
Nacht abwechseln, aber als sie das eine Auge wieder zu
machte, vergass sie das andere aufzutun, und so bald die
beiden Augen zu waren, schlief sie ein". Die Vorlage
verzichtet auf die Wiederholung: „Stundenlang sass sie
vor dein Loche, als aber zur Mittagszeit die helle Sonne
ihr in die grossen Augen schien, schloss sie eins nach
dem andern und schlief ein'*. Der grösseren Anschau-
lichkeit wegen vergleicht Grimm die Menge der Vögel mit
..einer schwarzen, dahinziehenden Wolke" und führt eine
Reihe von ihnen mit Xamen an: „Sie kamen alle zusammen.
Adler und Buchfinke, Eule und Krähe, Lerche und Sper-
ling, was soll ich sie alle nennen, selbst der Kuckuck kam
und der Wiedehopf, sein Küster, der so heisst, weil er
sich immer ein paar Tage früher hören lässt". In Mono-
logen findet sich Personenwechsel: ,.Er dachte, was willst
du noch höher fliegen, du bist doch der König'': ..sie dachte,
ein Auge kannst du wohl zutun, du wachst ja noch mit
dem andern". Erwähnt seien noch der volkstümliche Eu-
phemismus: „Der kleine Vogel fürchtet, es ginge ihm an
den Kragen" und die Keim Verbindungen: „ein gewaltiges
Sausen und Brausen", „aus Wäldern und Feldern''.
Das Märchen von der Scholle (172) handelt von der
Königswahl unter den Fischen. Nur die ausführlichere
Schilderung der Anarchie im Wasserreiche ist ein Ver-
dienst der Bearbeitung. Auch hier die Beseelung der
Tierwelt: wie vernunftbegabte Geschöpfe stellen sich die
Fische am Ufer „in Reihe und Glied 1, auf. — Das Märchen
.Rohrdommel und Wiedehopf" (173) gibt eine Erklärung
des Rufs der beiden Vögel. Unbedeutende Zusätze suchen
der dürftigen Erzählung etwas aufzuhelfen. /
174. Die Eule.
Das Grimmsche Märchen gibt im wesentlichen die
Darstellung in Kirchhofs Wendunmuth 1, 167: „Von der
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eulen zu Pein' 1 wieder, lässt aber die Ortsangabe fort.
Ein paar Zusätze heben die Anschaulichkeit: ..er erschrak
beim Anblick der Eule, die da in einer Ecke sass'" f.. er
wird dieses Vogels gewahr 4 ): .,eine von den grossen Eulen
war aus dem benachbarten Walde bei nächtlicher Weile
in die Scheuer eines Bürgers geraten und wagte sich, als
der Tag anbrach, aus Furcht vor den anderen Vögeln, die,
wenn sie sich sehen lässt, ein furchtbares Geschrei er-
heben, nicht wieder aus dem Schlupfwinkel heraus" („es
war eine Eule kommen und dorft sich vor Furcht der
andern Vögel nicht wieder heraus tun"'). Mit Rücksicht
auf die Bestimmung des Buches wurden einige Derbheiten
der Vorlage gemildert oder überhaupt verschwiegen. Sonst
aber war der Text ausschlaggebend; er ist auch nicht ohne
Vorzüge. So findet man hier bereits die echt märchen-
hafte Wendung am Anfang: „Vor alten .Jahren, als die
Leute nicht wie jetznnd verschmitzt waren" . . ., ferner die
sprichwörtliche Redensart: „Keiner will den Fuchs beissen k \
IMe Bearbeitung fügte noch etliche volkstümliche Ausdrücke
hinzu: ..sollen wir auch unser Leben in die Schanze
schlagen"; „also ward die Scheuer an vier Ecken an-
gezündet": „ein Ungeheuer, wie er Zeit seines Lebens
keins erblickt hätte, süsse in der Scheuer und drehte die
Augen im Kopf herum". Der formelhalte Schlusssatz:
„Wer s nicht glauben will, der gehe hin und frage selbst
nach", beruht auf dem Vers der Vorlage:
„Ist einer keck, zieh er «ren Pein
Und jreh daselbst zum hier und wein,
l'rajr sie, was ihn die eul «jetan,
Warum sie die verbrennet lian" usw.
175. Das Unglück.
Das Märchen steht nur in der 4. Auflage. Vorlage
war Wendunmuth I, 1.78: später ward es durch das Märchen
vom Mond ersetzt. Den Inhalt drückt der allgemeine, von
Grimm an den Anfang gestellte Satz aus: „Wen das Un-
glück aufsucht, der mag sich aus einer Ecke in die andere
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verkriechen, oder ins weite Feld fliehen, es weiss ihn
dennoch zu finden''. Der bemerkenswerteste Unterschied
zwischen der Vorlage und der Bearbeitung liegt in der
Tendenz. Kirchhof betont die moralische Seite stärker:
nicht durcli ein unabwendbares Schicksal, wie bei Grimm,
sondern infolge seiner eigenen Habsucht wird der arme
Tagelöhner unglücklich.
Das Märchen von den Boten des Todes (177) findet
sich schon in Hugos von Trimberg Kenner (v. 2ü 6G6 — 722)
mit dem „Gevatter Tod" (44) verbunden. Pauli erzählt
in kurzen Worten, wie ein Mensch mit dem Tode einen
Vertrag geschlossen habe, ihn nicht zu holen, bevor er ihm
seine Boten gesandt. Grimms Vorlage (Wendunmuth IL 124)
beginnt wie Pauli, ist aber im einzelnen ausführlicher.
Die Bearbeitung fügte die Schilderung des Kampfes zwischen
Tod und Riesen neu hinzu. Gelegentlich finden sich ge-
nauere Detailbeschreibungen, z. B.: ..Da klopfte ihm eines
Tages jemand auf die Schulter, und als er sich umblickte,
stand der Tod hinter ihm" („bald kam der Tod"); „er ging
mitleidig heran, richtete ihn auf, llüsstc ihm aus seiner
Flasche einen stärkenden Trunk ein. und wartete, bis er
wieder zu Kräften kam" („er hat aus Erbarmuuss ihn gc-
labet"): ..kam nicht das Fieber, stiess dich an, rüttelte dich
und warf dich nieder* (..vor etlichen .Jahren plagte dich
ein hartes Fieber"): „indem kam ein junger Mensch des
Wegs, frisch und gesund, sang ein Lied und warf seine
Augen hin und her" (..als ihn ein .Jüngling ersähe"). Auch
die direkte liede findet sich häutiger als in der Vorlage. .
Einige Ausdrücke gehören der Umgangssprache an: ..Weisst
du auch, wer ich bin, und wem du wieder auf die Beine
geholfen hast?" ..Der .Jüngling war lustig und guter Dinge
und lebte in den Tag hinein." Kirchhof gebraucht dafür
derbere Wendungen: „Solcher Zusag halber ward das Ge-
müt des Jünglings in Sicherheit stolz erhaben, frass, soff
und schlemmt ein und alle Tage, dass ihn jetzt dieser,
dann jener Gebrechen plagte'-. Die gereimte Schluss-
nioral. die ein Meniento mori bringt, fehlt bei Grimm.
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Die 5. Auflage (1847) fügte die Nummern 178-193
neu hinzu, die meisten nach gedruckten Vorlagen.
179. Die Gänschirtin am Brunnen.
Nach einer Erzählung in Kletkes Almanach deutscher
Volksmärchen (1840. No. 2). Kletke verdankte das Märchen
seinem Freunde Andreas Schuhmacher in Wien und hat
nur das Verdienst, es aus dem Dialekt ins Hochdeutsche
umgeschrieben zu haben. Merkwürdig ist die Überein-
stimmung der Vorgeschichte des Märchens mit der be-
rühmten Exposition des „König Lear". Die Gänschirtin ist
eine verstossene Prinzessin. Ihr Vater wollte bei der
Teilung des Reiches derjenigen von seinen drei Töchtern
das Beste vermachen, die ihn am meisten liebte. Die
älteste hat ihn lieb wie Zucker, die zweite wie ihr schönstes
Kleid, die jüngste so lieb wie Salz. Der ergrimmte Vater
lässt ihr einen Sack mit Salz auf den Rücken binden und
enterbt sie. Bei Shakespeare ist der Vorgang ganz ähnlich.
Die selbständige Haltung Cordeliens, die ihren Vater liebt,
„wie's ihrer Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder",
reizt den alten Lear zu masslosem Zorn und er sagt sich
von ihr los. Die Erzählung lässt sich bis zu dem
fabulosen Geoffrey of Monmouth zurückverfolgen, der um
11 85 aus mancherlei Überlieferungen eine Urgeschichte
der Briten zusammensetzte.
Die Vorlage ist auf weite Strecken hin fast wörtlich
benutzt worden; gelegentlich wurde gestrichen, wo sieh
die Darstellung etwas redselig in die Breite zog. Pro-
vinzialismen wie: „Anschiebt", ,,gross-hoch-langniächtig\
..feinwinzig", „stoekmüde". „Mütterlc", „Bürschel". „Ge-
spass", „springgiftig" u. a., die sieb auch noch in Kletkes
Umschrift vorfinden, wurden beseitigt; ebenso trat für das
oberdeutsche Perfektum regelmässig das erzählende Im-
perfektum ein. Einige volkstümliche Wendungen fügte
man neu hinzu: „Wenns Ernst wird, so wollen sie sich
aus dem Staube machen": „ich hab dir's sauer genug
gemacht": „ihr werdet ja so rot wie ein Zinshahn". Tauto-
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logisch hcisst es: „Was hilft mir Glanz und Ehre, jeden
Morgen erwache ich mit Sorgen und Kummer". Die
schöne Königstochter beschreibt Grimm nur mit typischen
Wendungen: „Sie war so weiss wie der Schnee, so rot
als Apfelblüte, und ihr Haar so glänzend als Sonnen-
strahlen". Die Vorlage fährt verweichlichend fort: „und
wenn sie durch den Wald oder über die Wiese gegangen
ist, so haben sich die Bäume und die Blümlein gebückt
und gestreckt, dass sie an ihre Händchen anstreifen, und
ihre Füsschen küssen möchten. Die Vögelein sind neu-
gierig zu ihr herabgeflogen und haben gepfiffen, was sie
aus dem Hals gebracht haben, nur dass sie sie anschauen
und freundlich anlachen sollte". Der Schluss, woran das
persönliche Hervortreten des Erzählers beachtenswert ist.
wurde erst von Grimm hinzugefügt: „Die Geschichte geht
noch weiter, aber meiner Grossmutter, die sie mir erzählt
hat, war das Gedächtnis schwach geworden: sie hatte
das Übrige vergessen. Ich glaube immer, die schöne
Königstochter ist mit dem Grafen vermählt worden, und
sie sind zusammen in dem Schloss geblieben, so lange
Gott wollte." Mit scherzhaften Worten fährt er fort: „Üb
die schneeweisen Gänse lauter Mädchen waren (es braucht's
niemand übel zu nehmen), das weiss ich nicht genau, aber
ich vermute es doch" usw.
180. Die ungleichen Kinder Evas.
Zu Grunde liegt der bekannte Hans Sachsische Schwank
von der Einsetzung der menschlichen Stände. Bereits in
einem eddischen Gedicht, dem Liede von Rig, wird der
Unterschied der Berufsarten in mythologischer Weise dar-
gestellt, Die alte Sage trug sich später auf Adam und
Eva über; im Mittelalter bildete sie sich zu der uns ge-
läufigen Form aus: Gott-Vater bestimmt bei einem Besuch
in der Hütte Adams die verschiedenen Söhne Evas für
einen besonderen Stand, den ihre Nachkommen noch jetzt
beibehalten müssen. Die Gründe sind in den einzelnen
Bearbeitungen verschieden. Die älteste bekannte Auf-
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Zeichnung des Märchens bietet der italienische Humanist
Baptista Mantuanus ') (1448—1516) in einer um 1470 ge-
dichteten Ekloge 2 ). In Deutschland ist wahrscheinlich
schon ein geistliches Schauspiel, von Hans Rudolf 151(i
in Freiberg insceniert. auf Mantuanus" Eintluss zurück-
zuführen. Sicher gilt das von der Bearbeitung, die Agricola
unter der Überschrift : „Do Adam reutte und Heva spann,
wer was da ein Eddelmann* 4 in seiner Sprichwörtersammlung
1528 bietet (Ko. 2(i4). Melanchthon, der die Fabel 1531)
seinem offenen Brief an den Grafen .Johann IV. von Wied
eingefügt hat 1 ;, änderte sie wesentlich um. Mantuanus
erzählt, dass Eva einen Teil ihrer Kinder versteckte, da
sie sich schämte, eine so grosse Anzahl geboren zu haben.
Bei Melanchthon werden die Kinder verborgen gehalten,
weil sie hässlich und schmutzig sind. Vor allem aber
macht er die Verschiedenheit, der Stände abhängig von
einem Katechismus- Examcu, das der Herr mit Evas Kindern
anstellt, und legt nachdrücklich so seine pädagogische
Tendenz an den Tag. Der fromme Abel, der sich sein-
beschlagen in protestantischer Dogmatik zeigt, wird reich
gesegnet: Kain dagegen ist störrisch und widerspenstig
und muss sich mit dem Bauernstande begnügen. Die von
Melanchthon geschaffene protestantische Legende be-
arbeitete man im K>. und 17. Jahrhundert ungemein häutig,
und zwar in den verschiedensten literarischen Formen.
Unter den zahlreichen Bearbeitern des 16. Jahrhunderts
steht in der ersten Reihe Hans Sachs, der die Legende
von Melanchthon entlehnte und viermal in Reime gebracht
hat 4 *, als Meistergesang, Fastnachtspiel, Komödie und
1558 als Schwank 5 ). Nur dieser kommt als Grimms Vor-
lage für uns in Betracht. Er ist unter den Bearbeitungen
des Nürnberger Poeten als die gelungenste zu bezeichnen.
•) Nachweis Bültes, Schumanns Xachtbiichloin S. 4<)3.
Z. T. abgedruckt bei Hollo S. 372 f.
:: ) Corpus ret'oi niatorum :1053.
*) Vgl. Michel, Heinrich Ivnaust S. 30.
Schwanke ed. Cioelzc 1, 11)4.
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Auf die lehrhafte Katechismusprüfung wird verzichtet, und
so trägt das Ganze einen einheitlichen Charakter. Vor
allem aber kommt der prächtige Humor der Erzählung
hier am vollkommensten zur Geltung. — Die Bearbeitung
folgt der Vorlage fast bis aufs Wort: nur an zwei Stellen
wurden kurze Sätze interpoliert. Die Wendung am Anfang:
..Adam hackte das Feld und Eva spann Wolle* 4 ist der
Darstellung in Agricolas Sprichwörtern entlehnt, und das
anschauliche Bild, dass der Herr, um Eva zu überraschen,
au die Tür klopft, worauf Adam durch die Spalte lugt,
um zu sehen, wer komme, entstammt der Bearbeitung
von Georg Und. Widmann 1 ): „da ihn nun unser Herr auf
ein Zeit visitieret, war des Adams Hütte und Behausung
beschlossen, der Herr klopfet an, als aber Adam und sein
Weib Heva durch ein Loch den Herrn ersahen, erschraken
sie sehr". Bloss an einer Stelle wurde die Vorlage ge-
kürzt. Bei der Beschreibung der schmutzigen Kinderschar
schwelgt Hans Sachs in der Verwendung von charakte-
ristischen Adjektiven; V. 104 ff.:
„Kin unfletig gestrobelto rott,
Crintig und lausig, zottet und kuesig,
Zerhadert, geschraiitzig und ruesig
Grob, ungeschickt, dolpet und (tötsehet,
Schlüchlig, on zuecht päwrisch und lutschet."
Grimm mildert etwas: „die ganze grobe, schmutzige,
grindige und russige Schar". Die Angabe des Verstecks
der Kinder ist aber in der Umschrift absichtlich in die Länge
gezogen; für jedes der zwölf Kinder weiss er einen Platz
zum Unterschlüpfen zu nennen. Die lange Schlussmoral
der Vorlage (V. 195—222), die sich des weiteren Uber
Gottes segensreiches Regiment auf Erden ausspricht und
vor Überhebung und Unzufriedenheit warnt, blieb weg.
181. Die Nixe im Teich.
Nach einer Erzählung von Moritz Haupt aus der Ober-
lausitz 2 ). Die Grimmschen Änderungen beschränken sich
~») Vgl. Zeitschrift f. deutsches Altertum 11,263.
2) Ebenda 1, 202 ff.
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auf geringfügige Zusätze. Dio Beschreibung der Landschaft
geht mehr ins Besondere; die Wassernixe wird bestimmter
gezeichnet : ..er erblickte ein schönes Weib, das sich lang-
sam aus dem Wasser erhob; ihre langen Ilaare. die sie
über den Schultern mit ihren zarten Händen gefasst hatte.
Üossen an beiden Seiten herab und bedeckten ihren weissen
Leih" („da stieg eine weisse Frau daraus hervor 1 '). Ein-
mal wird auf einen alten Volksaberglauben angespielt:
..Den Knaben selbst Hess er nicht in die Mibe des Wassers.
Hüte dich, sagte er zu ihm, wenn du das Wasser berührst,
so kommt eine Hand heraus, hascht dich und zieht dich
hinab". Die Volkstümlichkeit des Ausdrucks ist z. T. ver-
stärkt durch den Parallelismus einzelner .Redensarten: ..Sie
trieben ihre Herden durch Feld und Wald", oder allite-
rierend: .,es war, als ob Kisten und Kasten von selbst
sich füllten".
Das Märchen vom Riesen und Schneider (183) ent-
hält den Druckfehler: .,sich in dem Wald umzuschauen"
(..si in da Wold [WeltJ umma zu schauen 1 *) und den un-
verständlichen Satz: ..Warum nicht lieber gleich tausend
auf einen Schuss, und die alle hierher?'* (Vorlage: „ . . . und
di dazu? — und dich dazu). Im übrigen ist es eine wört-
liche Übertragung der Vorlage').
Die folgenden 4 Märchen sind nach Ludwig Aurbachers
..Büchlein für die Jugend" (1834) mit geringfügigen Ab-
weichungen erzählt.
Den Inhalt des Märchens vom Nagel (184) bringt
kurz ein altdeutscher Spruch:
„Kin nagel behalt ein isen, ein Isen ein ros, ein ros ein man,
ein man ein bnreh, ein btnch ein laut" 2 ).
Der Eingang: „Wer im Kleinen nicht Sorge trägt, muss
im Grossen Schaden leiden. Das erfuhr auch ein Kauf-
•) Kran-/. Ziska, Österreichische Volksmärchen 1822, S. 0 ff.
2) Miillenhoff-ScheivT Denkm. 1, Nu. 40.5.
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hcrr, der um eines schlechten Nagels willen ein schönes
Ross verlor", fehlt bei Grimm, um die Spannung nicht
gleich am Anfang aufzuheben. Statt der Trope: „wohl-
bepackt mit Geld und Geldsorgen" schreibt die Bearbeitung
volkstümlicher: ..er hatte seine Geldkatze mit Gold und
Silber gespickt" ').
Die Fassung des Märchens Xo. 185 Der arme Junge
im Grab-) unterscheidet sich von der Vorlage nur durch
einige Wortveränderungen. Provinzialismen wie: ..Freit-
hof", „Hafen". „Piphühnchcn" werden mit: ..Kirchhof",
..Topf", ..Küchlein" wiedergegeben, ebenso die Worte:
..Schnaps", „Branntwein oder Kirschwasser" in „Wein"
und ..Ungarwein" verwandelt. Volkstümlicher ist Grimm
in Wendungen wie: ..als er wieder auf den Beinen war"
(..als er wieder gesund geworden war"), ..ich schlage dich
so lange, bis du kein Glied mehr regen kannst* 1 („er drohte
ihm mit Totschlagen'-). Der Ausdruck: ..dem waren seine
Eltern gestorben 11 lautet bei Grimm kindlicher: „Dem war
Vater und Mutter gestorben*' (vgl. No. 78: ich mach ein
Tröglein, daraus sollen Vater und Mutter essen").
188. Spindel, Weberschiffchen und Nadel 1 )
Die Bearbeitung legt Wert auf feinere Ausführung
der Bilder: so sticht z. B. die Beschreibung des Wunder-
teppichs merklich von der Vorlage ab: „Auf der Tür-
schwelle fing es an einen Teppich zu weben, schöner als
man je einen gesehen hat. Auf beiden Seiten blühten
Kosen und Lilien, und in der Mitte auf goldenem Grund
stiegen grüne Ranken auf, darin sprangen Hasen und
Kaninchen. Hirsche und Rehe steckten die Köpfe da-
zwischen, oben in den Zweigen sassen bunte Vögel, es
fehlte nur, dass sie gesungen hätten". Die Vorlage
») Büchlein f. (I. .luvend S. 71 f.
Klmnda S. 107 f.
3) Kbenda S. 1(10 IT.
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verbreitet sich nicht Uber Einzelheiten, sondern begnügt
sich mit der allgemeinen Angabe: „das Gewebe war so
schön und reich an Silber und Gold, dass nichts Kost-
bareres gefunden werden mag in allen Königspalästen".
Rühmenswert ist bei Grimm die Verwendung zahlreicher
Bilder aus der Tier- und Pflanzenwelt, auf die als auf
etwas ganz Bekanntes und der kindlichen Vorstellung
Geläufiges mit gutem Recht hingewiesen wird. Das schöne
Mädchen wird mit grosser Feinheit gezeichnet: wie es
den Königssohn erblickte, „ward es über und über rot,
schlug die Augen nieder und spann weiter 4 *; und um die
Unruhe der Verliebten zu schildern, fügt die Bearbeitung
treffend hinzu: „ob der Faden diesmal ganz gleich ge-
worden ist, weiss ich nicht, aber es spann so lange, bis
der Königssohn wieder weggeritten war. Dann trat es
ans Fenster, öffnete es und sagte: es ist so heiss in der
Stube; aber es blickte ihm nach, so lange es noch die
weissen Federn an seinem Hut erkennen konnte". Die
drei Verse bei Grimm:
„Spindel, Spindel, geh du aus,
Bring den Freier in mein Haus" usw.
weichen von denen der Vorlage etwas ab, um den alter-
tümlichen Reim:
„Spindel fein, Spindel schon,
Kegrüsse mir den Königssohn"
zu vermeiden. Statt: „sich ernähren" heisst es volks-
tümlicher: „sich sein Brot verdienen"; auch kommt die
alliterierende Redensart: „vor Wind und Wetter geschützt
sein' 4 einmal vor.
189. Der Bauer und der Teufel 1 ).
Die Teilung der Ernte zwischen einem dummen Teufel
und einem klugen Bauern, wobei die Hölle zweimal um
das erhoffte Gut betrogen wird, ist auch durch Rückens
Gedicht „Der betrogene Teufel" 2 ) allgemein bekannt gc-
1) Rüehlein f. d. Jugend S. 249; Holte, Zs. d. Vereins f. Volks-
kunde 8,21.
2 ) Rüekert, Werke ed. Klüngel- J,2W3.
Palaestra XLVII. 7
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— OS —
worden. Inhaltlich hat sich die Bearbeitung eng an die
Vorlage angeschlossen, stellt aber die beiden Punkte der
Wette um. Der Bauer sät anfangs Rübsamen, dann Weizen.
Es ist natürlicher, wenn sich der Teufel zuerst den Teil
der Ernte ausbedingt, der sich über der Erde befindet,
Der Schluss der Vorlage, wonach Bauer und Teufel ver-
suchen, wer am meisten Hitze ertragen könne, wurde als
„schlecht erdacht" fortgelassen. Beide setzen sich in
ein stark geheiztes Zimmer, der Bauer weiss sich aber
durch eine geheime Öffnung Kühlung zu verschaffen. Einen
andern Schluss bietet Müllenhoff ! ). Die Bauerfrau zeigt
dem Teufel, als er zu ihr kommt, einen Riss im Tisch mit
den Worten: „Da hat mein Mann mit dem Nagel seines
kleinen Fingers diesen grossen Riss quer in meinen schönen,
eichenen Tisch gemacht". Und als er weiter hört, dass
sich der Bauer beim Schmied die Nägel schärfen lasse,
macht er sich eilig davon. — Über den Stil ist wenig zu
sagen. Ähnlich wie die Vorlage, nur etwas zierlicher,
beginnt auch Grimm: „Es war einmal ein kluges und
verschmitztes Bäuerlein, von dessen Streichen viel zu er-
zählen wäre: die schönste Geschichte ist aber doch, wie
er den Teufel einmal dran gekriegt und zum Narren gehabt
hat". („Den Teufel hat einmal ein Bauer schön dran
gekriegt und zum Narren gehabt: wenn ihr die Geschichte
hören wollt, so will ich sie euch erzählen"). Mit der
sprichwörtlichen Redensart des Bauern: „So muss man
die Füchse prellen" schliesst das Märchen bei Grimm
bündig ab.
186. „Die wahre Braut 1 ' ist ein lausitzisches
Kindermärchen nach Haupts Zeitschrift 11,481—86. Die
Grimmsche Bearbeitung erzählt bisweilen ausführlicher und
bestimmter. So wird z. B. das Wunderschloss, das die
Fee errichtet, sehr eingehend beschrieben. Wertvoll an
der Schilderung ist die poetische Belebung der Sprache
') Sagen, Märchen und T.i<'(]«T austSrlileswi^-Ilolsteiti etc. S.27*.
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und die Kleinmalerei, z. B.: „die Felsen rückten zusammen,
und standen da. als hätten Riesen die Mauer gebaut:
darauf erhob sich das Gebäude, und es war, als ob un-
zählige Hände unsichtbar arbeiteten und Stein auf Stein
legten. Der Boden dröhnte, grosse Säulen stiegen von
selbst in die Höhe und stellten sich neben einander in
Ordnung, auf dem Dach legten sich die Ziegel zurecht 1 ' usw.
Grimm weiss genau mit der Einrichtung der Küche
Bescheid: „Aber das Feuer brannte auf dem Herd, in
den Töpfen kochten die Speisen, Kluft und Schippe waren
angelehnt, und an den Wänden das blanke Geschirr von
Messing aufgestellt. Nichts fehlte, selbst nicht der Kohlen-
kasten und die Wassereimer". Die Pracht des Schlosses
wird auch fernerhin noch stark hervorgehoben, z.B.: „Es
wusste sich in der ersten Zeit gar nicht in seinem Glück
zu finden, schöne Kleider hingen in den Schränken, die
Truhen waren mit Gold und Silber oder mit Perlen und
Edelsteinen angefüllt, und es hatte keinen Wunsch, den
es nicht erfüllen konnte: überall war eine Pracht, als
wenn ein König einziehen sollte; als sie in das Schloss
eintrat, musste sie die Hand vor die Augen halten, so
blendete sie der Glanz." Die Eigennamen „Lassmann"
und „Helene" wurden als Modernisierung gestrichen. Die
„Fee" ist (wie in Xo. lao) in eine alte Frau verwandelt.
Der Schluss der Vorlage erwähnte kurz die Verbindung
des jungen Paares. Bei Grimm nimmt auch die Natur
an dem Glück der Neuvermählten teil: „Als wäre der Wind
vorgespannt", heisst es, „so eilten die Pferde zu dem
Wunderschloss. Als sie an der Linde vorbeifuhren,
schwärmten unzählige Glühwürmer darin, sie schüttelte
ihre Äste und sendete ihre Düfte herab. Auf der Treppe
blühten die Blumen, und aus dem Zimmer schallte der
Gesang der fremden Vögel."
190. Die Brosamen auf dem Tisch ist eine wort-
getreue Wiedergabe der Vorlage (Haupts Zeitschrift für
deutsches Altertum 111,36).
r
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ICH)
191. Der Räuber und seine Söhne.
Das Märchen wurde nur in die 5. und 6. Auflage
aufgenommen; später steht statt dessen die aus münd-
licher (?) Tradition geschöpfte Erzählung vom „Meer-
häschen'' an seiner Stelle. Grimm benutzte den Abdruck
einer Handschrift des 15. Jahrhunderts in Haupts und
Hoffmanns Altdeutschen Blättern (1,119—127). Das Märchen
stimmt grösstenteils mit Odysseus* Abenteuer in der Höhle
Polyphems Uberein ') und wurde so wiedererzählt, wie
die Vorlage es brachte. Auch der Stil zeigt trotz der
Umschrift ins Hochdeutsche keine bemerkenswerten Unter-
schiede. Nur am Anfang zog man die etwas breite Dar-
stellung enger zusammen und fügte die Sprichwörter hinzu:
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm''; „ehrlich währt
am längsten"; „der Krug geht so lange zu Wasser, bis
er bricht". Der moralisierende Schlussvers fiel fort.
192. Der Meisterdieb.
Grimm folgte einer von Georg Fr. Stertzing in Thüringen
aufgefassten Überlieferung 2 ) und besserte nur in einigen
Ausdrücken. Namentlich treten die volkstümlichen Euphe-
mismen hervor: „es geht dir an den Hals" („du imisst
unfehlbar sterben"); „du musst mit des Seilers Tochter
Hochzeit machen und das Gekrächze der Haben soll deine
Musik sein": „du kannst auf deine Erhöhung am Galgen
rechnen"; „für diesmal kommst du mit heiler Haut davon"
(„ich schenke dir das Leben, das du eigentlich verwirkt
hattest"). Ferner: „Was zog der Graf für ein langes
Gesicht.** „Was hast du in dem Fässchen, du alte
Schachtel ?** ..Für Geld und gute Worte geb ich euch
gerne ein Glas." Das Atmen des Knechts vergleicht
Grimm sehr drastisch mit dem „Blasen eines Schmiede-
balgs" und legt dem Meisterdieb, als dieser den Pfarrer
und den Küster in den Taubenschlag gebracht hat, die
1) \V. firimm. KI. SdirinVn IY.42SIT.
2) Zs. f. deutsches Altertum 111,21)2 IT.
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— 101 —
scherzhaften Worte in den Mund: „Hört ihr. wie die Engel
sich freuen und mit den Fittichen schlagen?'* Die beiden
glaubten nämlich im Himmel zu sein.
Die Vorlage für das Märchen „Der Mond" (175) gab
Heinr. Pröhle, Märchen für die Jugend No. 39. Die Be-
arbeitung streicht den Ortsnamen „Schnorrwitz** und hebt
noch mehr als die Vorlage die humoristische Seite der
Erzählung hervor: Die Gesellen denken beim Raub des
Mondes an nichts Arges und sprechen harmlos: „Wir
wollen den Mond wegführen, sie können sich hier einen
andern kaufen.*' Sie halten den Mond für „eine leuchtende
Kugel*' oder „eine Lampe'* und beschneiden ihn in der
Heimat „mit einer Heckenschere' 4 . Wie dunkel es nach
seiner Wegführung in dem wundersamen Lande war, zeigt
uns Grimm an einem anschaulichen Beispiel: „Wenn die
Leute abends ohne Laterne ausgingen, stiessen sie mit
den Köpfen zusammen*' und führt den hübschen Zug an,
dass in der hellen Mondnacht „die Zwerge aus den Felsen-
höhlen hervorkommen, und die kleinen Wichtelmänner in
ihren roten Röckchen auf den Wiesen den Ringeltanz
tanzen."
Die 6. Auflage (1850) ergänzte die Sammlung bis
auf 200 Xummern. Für die „Erbsenprobe u bringt sie
182. Die Geschenke des kleinen Volks.
Die Vorlage ') bietet am Anfang die etwas sentimentale
Stelle: „Bald war es, wenn sie aufhorchten, als rauschte
nur der Wind so sanft in den Linden am Wege, bald als
klängen die Glockenblumen auf der Wiese, wenn sie im
Winde sich neigten. Und der Schneider dachte an seine
liebe Braut, die er daheim gelassen hatte und seufzte, dass
er so arm sei, und die Spielleute wohl noch lange nicht
zu ihrem Hochzeitstanze aufspielen würden." Dies fehlt
') E. Sommer, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Thüringen
S. 82 f.
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102 —
bei Grimm, der den Schneider wie auch sonst mit mehr
Laune und Leichtsinn ausstattet. Für den Ausdruck der
verliebten Sehnsucht finden wir hier eine scherzhafte
Wendung: „Jetzt werde ich Meister, heirate meinen an-
genehmen Gegenstand (wie er seine Liebste nannte) und
bin ein glücklicher Mann 4 ". Gut ist die Grimmsche Ab-
weichung, dass der Goldschmied sich in der Verzweiflung
(Iber den Verlust seines Reichtums vor den Kopf schlägt
und dadurch sein neues Missgeschick, den Mangel des Barts
und der Haare, kennen lernt. In der Vorlage wird es ihm
durch seinen Kameraden mitgeteilt. Man sieht, dass Grimm
sich die Situationen gegenständlicher gemacht hat als die
Vorlage.
194. Die Kornähre.
Die Vorlage 1 ) erzählt nach mündlicher Überlieferung.
Im Eingang gebraucht Grimm das formelhafte: „Vor Zeiten,
als Gott noch selbst auf Erden wandelte" (früher vor langen,
langen Jahren). Einige unbedeutende Zusätze heben die
Anschaulichkeit: „Ihr kleines Kind, das neben ihr sprang,
fiel in eine Pfütze und beschmutzte sein Kleidchen 1, (einst
hatte sich ein Kind verunreinigt); die Mutter reisst „eine
Handvoll" Ähren aus (die reichen, schönen Ähren).
In dem Märchen vom Grabhügel (195) 2 ) hat Grimm
den Anfang sehr erweitert und ausführlich den Reichtum
des geizigen Bauern geschildert. Im folgenden schliesst er
sich enger an, fügt aber volkstümliche Redensarten bei.
So gehören der Soldatensprache an: „Herr mit der roten
Feder, ihr seid mein Hauptmann nicht"; „wir wollen euch
das Feld räumen und abziehen". Der Soldat macht eine
Anspielung auf das bekannte Märchen vom „Gruseln
lernen" (No. 4): „Das Fürchten hab ich noch nicht gelernt;
ich bin wie der Junge, der ausging das Gruseln zu lernen
•) Zs. (1. Vereins für hessische Geschichte IV, 1847, S. 114.
2) Ebenda S. 115.
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— 103 —
und sich vergeblich bemühte, der aber bekam die Königs-
tochter zur Frau und mit ihr grosse Reichtümer". Andere
populäre Redensarten sind: „Ich stehe da wie einer, dem
das Wasser bis an den Kopf geht"; „wo ihr nicht weg-
geht, dreh ich euch die Hälse um"; „der Teufel zog ge-
lindere Saiten auf"; „dem Kohlenbrenner wollen wir schon
eine Nase drehen". Auch kommt im Gegensatz zur Vor-
lage der Monolog mit Personenwechsel vor: „Der Teufel
dachte, mit Gold fängst du die zwei Haderlumpen am besten".
Anschaulich wird der Handel zwischen dem Teufel und
dem Soldaten beschrieben: „Nur eingelullt, rief der Soldat,
aber ich zweifle, dass der Stiefel voll wird. Das Geld
klingelte, als es herabfiel, und der Stiefel blieb leer. Der
Teufel blickte mit seinen glühenden Augen selbst hinein
und überzeugte sich von der Wahrheit. Ihr habt unver-
schämt dicke Waden! rief er und verzog den Mund. Meint
ihr. ich hätte einen Pferdefuss wie ihr? erwiderte der
Soldat*". Auch dass der Teufel das Geld von einem
Wechsler, „seiueni treuen Freunde", holt, ist von Grimm
absichtlich hinzugefügt worden, da nach altem Volksglauben
der Reiche am ehesten den Lockungen des Teufels ver-
fällt. Metaphorische Ausdrucksweise, die sonst nach Mög-
lichkeit vermieden wird, findet sich an zwei Stellen: „Es
klopfte, aber nicht an die Tür seiner Stube, sondern an
die Tür seines Herzens". „Da begann der erste Sonnen-
strahl der Milde einen Tropfen von dem Eis der Habsucht
abzuschmelzen." Statt des populären Fremdwortes: „Halb
Part!" im Munde des alten Soldaten bringt die Bearbeitung
die immerhin steife Umschreibung: „Das wollen wir gemein-
schaftlich tragen".
Das Märchen von Oll Rinkrank (196) ist ein wört-
licher Abdruck der Vorlage (Friesisches Archiv 1, 162 ff).
197. Die Kristallkugel.
Es ist die Bearbeitung eines Märchens bei Friedmund
von Arnim'). Durch eine Reihe von Zusätzen wird die
i) Hundert Märchen S. 92 IT.
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— 104 —
Anschaulichkeit verstärkt, z. ß.: „da verwandelte sie den
ältesten in einen Adler, der musste auf einem Felsengebirge
hausen, und man sah ihn manchmal am Himmel in grossen
Kreisen auf und nieder schweben 41 („den ersten hatte sie
zu einem Adlerkönig verwünscht"); „den zweiten ver-
wandelte sie in einen Walfisch, der lebte im tiefen Meer,
und man sah nur, wie er zuweilen einen mächtigen Wasser-
strahl in die Höhe warf 4 ' („den zweiten hatte sie zu einem
Fischkönig verwünscht 44 ); „aber wie erschrak er, als er sie
anblickte, sie hatto ein aschgraues Gesicht voll Runzeln,
trübe Augen und rote Haare 44 („er schaute die Prinzessin,
die sah aber sehr schlecht aus 44 ). Von ähnlicher Art sind
noch einige andere Erweiterungen. Der Satz: „dass für
den vierundzwanzigsten noch ein Feld übrig sei 44 wird
volksmässiger tautologisch ausgedrückt: „und wäre nur
noch einer übrig, dann dürfte keiner mehr kommen". Die
Änderung, dass der Jüngling „durch alle Zimmer des
Schlosses hindurchging und erst in dem letzten die Königs-
tochter fand" erinnert an die in Märchen beliebte Art, die
Spannung durch Aufschiebung der Pointe zu erregen. Die
Vorlage leitet das Märchen in die Erzählung vom Schloss
der goldenen Sonne (92) über; es entspricht dem Schluss
von Musäus' Chronika der drei Schwestern.
In dem Märchen No. 199 Der Stiefel von Büffel-
led er 1 ) besteht die wesentlichste Verbesserung Grimms
im Gebrauch der Soldatensprache, z. B.: „Wir suchen ein
Nachtquartier und etwas Unterfutter für den Magen, denn
der meinige ist so leer wie der Geldbeutel (wie ein alter
Tornister 4 *, 7. Aufl.); „der Soldat fing an, tapfer in den
Braten einzuhauen 44 ; „nun ist es Zeit, dass wir das Zelt
abbrechen' 4 ; „oho, Bruderherz, das wäre zu früh ab-
marschiert, wir haben den Feind glücklich überrumpelt,
jetzt wollen wir als Nachzügler in aller Ruhe hinterher-
marschieren". Auch sonst tritt die volkstümliche Sprache
') FruHlimuul von Arnim, Hundert Män hon S. 22 ff.
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— 1 05 —
■
kräftig hervor: „die Stiefel . . . gehen durch dick und
dünn, u der Soldat tut einen ..herzhaften Zug" (er trank
einen Schluck), „gieb Acht, Bruder, du sollst dein blaues
Wunder sehen/' ..gleich und gleich gesellt sich gern."
.,ohne auf Weg und Steg zu achten 1 '. „Wartet, ihr sollt
an einem dürren Ast das Fliegen lernen'", und ein ähnlicher
Euphemismus in: „Komm Bruderherz, es wird nicht gleich
an den Kragen gehen". ..Ich habe draussen im Wald ein
Nest voll Galgenvögel gefunden, kommt mit. wir wollen
es ausheben." Das Märchen beginnt, wie einige andere,
mit einer allgemeinen Wendung: „Ein Soldat, der sich
vor nichts fürchtet, kümmert sich auch um nichts''. Der
Soldat wird als ein treuherzig-derber und entschlossener
Charakter gezeichnet: ..Er reichte ihm die Hand. Hess sich
neben ihm auf das Gras nieder und streckte seine Beine
aus"; er „zieht den Pfropfen aus der Flasche, dass es
knallt 44 und „tut einen herzhaften Zug: als ihm der Geruch
von der Speise in die Nase gestiegen war 4 , fing er an. ..in
den Braten einzuhauen" und stand nicht eher vom Tisch
auf, „als bis er wieder für drei Tage gegessen und ge-
trunken hatte 4 '. Die Vorlage ist im Ausdruck matter und
weniger drastisch.
198. Jungfrau Maleen.
Vorlage war die Fassung bei Müllenhoff (Sagen, Märchen
und Lieder aus Schleswig-Holstein etc. S. 391 f.), nach münd-
licher Tradition. In der Grimmschen Bearbeitung treten
die volkstümlichen Doppelformeln deutlich aus ihrer Um-
gebung heraus: „Sie ward eingemauert und also von
Himmel und Erde geschieden 4 *: „sie wussten nicht, wann
Tag oder Nacht anbrach" (..ohne dass sie wussten, wie
weit es an der Zeit sei 4 '); „Speise und Trank' 4 („Speise-
vorrat 44 ); „ich bin die Jungfrau Maleen, die Hunger und
Durst gelitten und solange in Not und Armut gelebt hat.' 4
„Ich kann und will keinen andern zum Gemahl nehmen."
Statt: „es soll dich dein Leben kosten 44 steht der sinnliche
Ausdruck: „dann wird dir der Kopf vor die Füsse gelegt 4 '.
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— 106 —
Sehr anschaulich schildert Grimm die Befreiung der Königs-
tochter: „Nach langer Arbeit gelang es ihnen, einen Stein
heraus zu nehmen, dann einen zweiten und dritten, und
nach drei Tagen fiel der erste Lichtstrahl in ihre Dunkel-
heit, und endlich war die Öffnung so gross, das sie heraus-
schauen konnten' 1 . Der Vorgang wird bis ins kleinste zer-
gliedert und gewinnt noch an Deutlichkeit durch zahlen-
mässige Gruppierung der einzelnen Handlungen. Die Vor-
lage sagt kürzer: ..Drei Tage lang bohrten sie unablässig,
da drang der erste Lichtstrahl in ihre Finsterniss". Statt
„Turm" setzt Grimm das archaische „Turn'*.
Die 7. Auflage brachte als Variante (151 b) zu dem
Märchen von den drei Faulen die Bearbeitung eines Fast-
nachtspiels aus dem 15. Jahrhundert: „Ein spil von den
zwelf pfaffen knechten" '). Nur wenige Erweiterungen sind
zu bemerken; die Brüder heben die Faulheit der Knechte
noch stärker hervor, z. B.: „Ruft der Herr, so tue ich, als
hätte ich es nicht gehört, und ruft er zum zweiten Mal,
so warte ich noch eine Zeit lang, bis ich mich erhebe und
gehe auch dann recht langsam, so lässt sich das Leben
ertragen". Im Spiel heisst es kurz: „Ich kumm nit pald
und lauf nit sehr". Manches klingt volkstümlicher: „ich
Hess es in Gottes Namen fortregnen, dass ich ein Loch in
den Schädel bekam" („dass ich ein Loch am Kopf empfing");
„soll ich eine Arbeit angreifen, so dämmere ich erst eine
Stunde herum" („so geh ich vor ein stund darumb"); ..ich
sehe, dass ich allein ein munterer Kerl bin" („dass ich
gar resch bin allein"); „ich schlief richtig ein". Die Fle-
geleien des achten Knechts wurden sehr gemildert.
Von den Kinderlegenden ist die letzte (No. 10) eine
wörtliche Übertragung aus dem Vorarlbergischen 2 ).
Die gedruckten Vorlagen für die Märchen No. 161
(Karoline Stahl, Fabeln, Märchen und Erzählungen für
Kinder. Nürnberg 1818) und No. 178 (Neueste Kinder-
') Koller, Fastnaehtspiolo aus dem 15. «Jahrhundert JJd. 2, 562.
'■i) Yonbun, Sagvn aus Vorarlberg S. 7.
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— 107 —
bibliothek, Hildburghausen 1827) habe ich leider nicht auf-
treiben können 1 ).
In bunter Mannigfaltigkeit ist eine Reihe der verschieden-
artigsten Vorlagen an uns vorübergezogen, heimische und
ausländische, altdeutsche und zeitgenössische, Prosa und
Verse. Mehrere verrieten deutlich kunstmässige Darstellung
und überlieferten den Stoff in reiner Form, in andern war
der märchenhafte Gehalt vielfach durch willkürliche Zu-
taten entstellt oder verhüllt; einige dehnten sich weit-
schweifig in die Länge, und mitunter stiessen wir auf
dürftige, fragmentarische Reste, wo nur noch das Gerippe
der echten Überlieferung erhalten war. Geht man die
Grimmsche Sammlung durch, so ist die Gleichmässigkeit
des Tons und Stils erstaunlich, die alle Stücke beherrscht.
Es ist kaum noch zu spüren, welches Stück mündlicher,
welches schriftlicher Überlieferung verdankt wurde. Wenn
auch einige Züge die Entlehnung aus fremdem Gebiet
erkennen lassen, so sind sie doch derartig gedämpft und
zurückgehalten, dass sie nicht mehr störend auffallen.
Die Brüder haben die Einheitlichkeit der Form ihrer
Märchen durch Anwendung ganz bestimmter stilistischer
Mittel erreicht. Sie brachten einen neuen Märchenstil auf,
indem sie den mündlichen Erzählungen, wie sie im Volk
umliefen, die charakteristischen und liebenswürdigsten Züge
ablauschten und sie den vorgefundenen Stoffen je nach
Bedürfnis verliehen. Denn bald Hessen die Vorlagen dieses,
bald jenes Moment ausser Acht. Was man als die Kunst-
form der Märchen anzusehen habe, darüber herrschten zur
Zeit, als die Brüder ihre Sammlung veranstalteten, ver-
worrene Meinungen. „Wir finden das Märchen vor; jeder
bearbeitet es auf eigne Weise und denkt sich etwas anderes
dabei", sagt Tieck 2 ). Vielen galt Musäus mit seiner witzig-
ironischen Schreibart als unerreichtes Vorbild, und die
t) Zu No. 178 vgl. Bolte, Zs. f. deutsch»' Philologie 20, 326..
2) Phantasus T, S. 131 (1844;.
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— 108 —
romantischen Märchendichter Brentano und Tieck hatten
jeder seinen besonderen Märchenstil. Alle hielten es für
besser, die schlichten Erzählungen zu modernisieren, als
dass man, um sie ganz zu verstehen, in einen künstlichen
Zustand der Kindlichkeit zurückkehre. Und doch hat die
Grimmsche Auffassung in Wahrheit Recht behalten. Bei
den andern wird das Märchen aus seiner natürlichen
Sphäre herausgehoben, es wird seinem mütterlichen Nähr-
boden entzogen und ein Kunstprodukt, das den Kindern
für das, was es ihnen entriss, keinen Ersatz brachte, und
durch das man, wie etwa bei Goethes Märchen, „an nichts
und an alles erinnert wurde". Dass es in bestimmten
Fällen durch einen genialen Dichter ein glänzenderes
Äussere und sinnschwercren Gehalt empting, soll nicht
geleugnet werden, aber nur treue Überlieferung konnte
den Erzählungen geschichtlichen Wert verleihen, und einen
Beitrag zur deutschen Mythologie und Literaturgeschichte
wollten die Brüder ja in erster Linie liefern. Bewunderns-
wert aber ist, wie sie die Forderung erfüllt haben, grösste
Treue mit kunstvoller Darstellung zu vereinigen. Wie
Herder für die Kunst des Volksliedes, so waren die Brüder
Grimm für die des Märchens mit feinstem Gefühl begabt.
Auf Grund reicher Beobachtungen an mündlichen Er-
zählungen und eines umfassenden Studiums andererMärchen-
literaturen schufen sie die dem deutschen Volksmärchen
gemässe Kunstform. Sie hielten an der Originalität und
Schönheit der lebendigen Volkssprache, fest; sie wollten
nicht selbst poetisieren, sondern Volksdichtung wieder-
erzählen und nicht über das Volk, sondern mit dem Volk
lachen und scherzen. Deshalb suchen wir in den Märchen
vergebens nach persönlichen Motiven der Verfasser: es
wäre verlorene Mühe, daraus Rückschlüsse auf die Denk-
weise und Anschauungen der Brüder zu ziehen — wenn
man sich nicht mit einem ganz allgemeinen Resultat ihrer
reinen Andacht begnügen will — , während es ein Leichtes
ist, wichtiges Material für die Beurteilung der Persönlich-
keit eines Musäus, eines Tieck, eines Brentano aus deren
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109 —
Märchen zu schöpfen. Dagegen zeigen uns die Kinder-
und Hausmärchen ungeschminkt den Charakter des deutschen
Volkes ähnlich wie die Volkslieder. Zwar ist die Lyrik
unmittelbarer und gewährt ein treueres Bild als Prosa-
erzählungen, aber auch deren Gestalten sind nicht will-
kürlich gewählt, sondern Spiegelbilder der Nation, und in
den phantastischen Figuren ist ein gut Stück wirklicher
Volksanschauung niedergelegt. Dadurch sind sie als Quellen
für die Beurteilung des Nationalcharakters wichtig. Hierauf
hatte schon Herder hingewiesen; in seinem Sinne haben
die Brüder Grimm gearbeitet, Auch sie wissen den scharf
zu tadeln, der nationale Dichtung mit eigenen Ideen ver-
mische und dadurch seinem Volke etwas entziehe ').
Alle stilistischen Beobachtungen, die sich aus der
Vergleichung der Vorlagen mit den Bearbeitungen ergeben,
lassen sich in reichem Masse auch bei den mündlicher
Tradition entnommenen Stücken anstellen, woraus um-
gekehrt erhellt, dass diese für die Stilisierung der schrift-
lichen Vorlagen massgebend gewesen sind.
Im folgenden soll durch eine Übersicht die Methode
derGrimmschenBearbeitung in allgemeineren Bestimmungen
klar gelegt werden, als es bei der Einzelbetrachtung der
Vorlagen möglich war. „Hat auch das Märchen seine
Hegel?'' fragt Herder 2 ), und er gibt die Antwort: „Übel,
wenn es solche nicht hätte, da bei seiner tiefen Einwirkung
auf die Seele des Menschen, bei seinem noch tiefern
Grunde in unsrer Natur es ein ungeheures Mittel zu
Bildung oder Missbildung menschlicher Gemüter sein kann."
In den meisten Fällen beziehen sich die Änderungen
der Brüder bloss auf die äussere Form; sie bildeten ge-
gebene Eigentümlichkeiten nur noch weiter aus. Sehr
selten haben sie ein Märchen neu geschaffen oder so tief-
greifend umgestaltet, dass seine Verwandtschaft mit der
') Steig, A. v. Arnim IIl,2«8.
2 ) Früchte aus den sog. goldenen Zeiten dos achtzehnten
.Jahrhunderts, No. 6. Suphan 23,273.
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— 110 —
Vorlage nur schwer erkennbar wäre. Namentlich gilt das
von den Stücken, die für die 1. Auflage benutzt wurden;
hier haben sie sogar manchmal die künstlerische Form
der treuen Überlieferung zuliebe preisgegeben. Erst mit
der 2. Ausgabe beginnt eine stärkere Umarbeitung. Die
Abweichungen in späteren Auflagen sind meist nur gering-
fügig, da die Vorlagen direkt oder indirekt von den Grimms
beeinflusst und also schon auf eine kunstmässige Dar-
stellung gerichtet waren.
Die Brüder kürzten oder erweiterten je nach Bedürfnis,
sie vervollständigten auch die Erzählung, indem sie mehrere
verwandte Überlieferungen mit einander verschmolzen. In
einigen Fällen besteht die Änderung nur in der Weglassung
gewisser Zusätze, die ungeeignet oder störend erschienen.
Dazu gehören vor allem die moralischen Nutz-
anwendungen in Vers und Prosa, an denen besonders
die älteren deutschen Aufzeichnungen leiden, die den
launigen Geschichten recht oft eine lange Schleppe
nüchterner Lehren anhängen. Das Märchen wird hier
noch als Fabel aufgefasst und nur der praktischen An-
wendung wegen erzählt; als selbständiges Literaturprodukt
erkennt man es noch nicht an. Mit dieser beschränkten,
prosaischen Vorstellung räumten die Brüder endgültig auf.
Bei ihnen ist das Märchen nicht Einkleidung eines Er-
fahrungssatzes; sie erkannten richtig, dass seine Phantastik
im Grunde keinen sittlichen Zweck verfolge, daher den
Menschen nicht auf sich zurück, sondern aus sich heraus
ins unbedingte Freie führe. Zwar „alle Poesie soll be-
lehrend sein", heisst es bei Goethe 1 ), „aber unmerklich;
sie soll den Menschen aufmerksam machen, wovon sich
zu belehren wert wäre, er muss die Lehre selbst daraus
ziehen, wie aus dem Leben". Zu einer ähnlichen Auf-
fassung bekannten sich die Brüder: ein Buch mit rohen,
moralischen Kinderexempeln fand Jakob nicht nur lang-
weilig, sondern auch schädlich 2 ); die Moral sollte aus den
') In dein Aufsatz: f'ber das Lflirpedicht.
2 ) Steig, A. v. Arnim 111,270.
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— 111
Märchen hervorgehen „wie eine gute Frucht aus einer
gesunden Blüte ohne Zutun der Menschen" '). Nur ganz
vereinzelt lassen sie die Lehre hervortreten, aber dadurch,
dass sie verallgemeinert in Form einer sprichwörtlichen
Redensart (z.B. 184; 189) auftritt oder humoristisch (187)
gewandt ist, wird ihr die aufdringliche Härte genommen.
Auch für diese Auffassung hätten sie sich auf Herder
berufen können, der es sehr bedauert, dass wir zwar
„Reimgebetlein und Lehrverse genug" hätten, aber kein
Werk, um eine „ganze, jugendliche, kindliche Seele damit
zu füllen, Gesänge in sie zu legen, die lebenslang in ihnen
bleiben" 2 ).
Alle fremden Elemente, die die organische Ent-
wicklung der Erzählungen unterbrachen und das Interesse
davon ablenkten, wurden gestrichen, z. B. alle tendenziösen
Zusätze, Anspielungen auf Zeit und Personen, satirische
Beimischungen« gelehrte Vergleiche. Im einzelnen sind
solche Auslassungen oben erwähnt worden. Um den Märchen
abgeschlossene Selbständigkeit zu geben, mussten manche
Zusätze der Vorlagen, die sich aus der Verbindung mit der
Umgebung erklären, gleichfalls wegbleiben.
Bestimmte Orts- und Zeitangaben fehlen. Die
wenigen Fälle, wo geographische Namen auftauchen:
Rom (33), Göckerliberg in Welschland (95), Bremen (27).
Keuterberg (96), Mosel (119) und einige andere lassen das
Prinzip, das Märchen nicht an einer bestimmten Stelle zu
lokalisieren, unangetastet 1 ). Auch scherzhaft gemeinte,
poetische Ortsnamen werden nicht geduldet, denn „alle
Märchen sind Träume von jener heimatlichen Welt, die
überall und nirgend ist" 4 ); sie sind etwas dem ganzen
«) KHM. I, s. XVI.
2 ) Über Ossian, Suphan 6,201.
s ) Vgl. No. 119, wo man die Namen Trier und Aachen be-
seitigte und die „Mosel" wohl nur deshalb aus der Vorlage bei-
behielt, um sie naeh Volksetymologie für ein „mosiges", stilles und
tiefes Wasser zu erklären.
*) Novalis, Schriften 11,231.
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— 112 —
Vaterlande Gemeinsames und streifen darum alles Indi-
viduelle nach Möglichkeit ab. Dadurch unterscheiden sie
sich von Sagen, die sich gern an bestimmte und historisch
nachweisbare Ereignisse oder Personen anknüpfen, während
das Märchen seine Personen gewöhnlich nur als Typen
einführt. Wenn Tieck im ^Gestiefelten Kater" den König
stets mit Krone und Szepter auftreten lässt, so hat er
damit die Art, wie das Märchen charakterisiert, gut ge-
troffen. In echt poetischer Weise werden nur wenige be-
zeichnende Züge herausgehoben, sonst erzählt man so all-
gemein wie möglich. Görres hatte ganz recht, wenn er
die Stelle: „Es war einmal ein gewisser König'* (1,57)
unmärchenhaft fand da das Märchen dieses bestimmende
Beiwort niemals brauche.
Die weibliche Schönheit wird, wie im Volksliede,
mit sparsamen, typischen Worten beschrieben. Oft genügt
die Bezeichnung „wunderschön"; daneben erscheinen cha-
rakteristische Hyperbeln, wie: „die Tochter war so schön,
wie ihr auf der Welt eine finden könnt", „schöner als noch
jemand auf Erden gewesen war", „dass kein Maler sie
hätte schöner malen können 4 ' oder formelhafte Wendungen
wie: „es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag'\
.,das schönste Kind unter der Sonne 41 usw. Von anschau-
licher, poetischer Kraft sind in der Beschreibung die Bilder
aus der Natur. Mehrfach sind die ausführlichen Schilde-
rungen der Vorlagen beschnitten, dafür aber mit wirkungs-
volleren Farben ausgestattet worden.
Anstössige und frivole Stellen wurden ausgemerzt.
Ohne Prüderie aber nannte man natürliche menschliche
Verhältnisse und Zustände bei dem rechten Namen. Denn
das Kind kennt in seiner Naivetät keine andere Ausdrucks-
weise; seine natürliche Aufrichtigkeit, die jeden Schein
von Falschheit verachtet, setzt sich über alle künstlichen
Bedenken hinweg. Auch hierfür haben die Brüder erst
durch ihre Sammlung Verständnis erwecken müssen bei
') fiörres, Fn'iuuU'sbiiHV III.M.
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— 113 —
manchen, die aus übergrosser Vorsicht Umschreibungen
und decente Verhüllungen lieber gesehen hätten.
Die Sprache des Märchens ist wie die des Volks-
liedes sinnlich, klar, anschaulich, lobendig. Alle blassen,
abstrakten Bilder und Gleichnisse wurden in der Dar-
stellung gemieden; für das sehende Auge, das lauschende
Ohr erzählte man, nicht für den abstrahierenden Verstand.
Allegorische, mit Metaphern ausgeschmückte Prosa ist
in echten Kindermärchen undenkbar. Nur höchst selten
hat Grimm von Tropen Gebrauch gemacht und wählt auch
dann einfacherem Fassungsvermögen dcrKinder angepasste
Bilder. Wie im Volksliede dienen konkrete Dinge zur
Umschreibung von Abstraktionen, denn die Sprache des
Kindes ist wie die des Volks arm an abgezogenen Allgemein-
begriffen. Die Fremdwörter wurden als unverständlich
gestrichen oder verdeutscht, ausser wo sie formelhaft auf-
treten, wie etwa im „Doktor Allwissend" (98). Auch die
Soldatensprache ist mit Recht durch Beibehaltung des
Fremdwortes gekennzeichnet. Wie peinlich man auf Ver-
deutschung drang, ergibt sich auch daraus, dass z. B.
fast jeder Prinz und jede Prinzessin der ersten Auflage
in der zweiten als „Königssohn" und „Königstochter" auf-
treten ').
Gegenüber den Streichungen treten die von Grimm
gemachten Zusätze sehr viel stärker hervor. Kaum ein
Märchen, das nicht durch eine geringe Erweiterung an
künstlerischer Form gewonnen hätte. Begreiflicherweise
überwiegen ganz bedeutend die Beifügungen in populärer
Sprache. Dazu gehören allgemeine Redensarten des
Volks. Die Vorlagen versäumen vielfach das derbe,
bürgerliche Element der Märchensprache. Unter den Rede-
wendungen sind besonders auffallend die zahlreichen
Euphemismen. Üble Dinge mit unschuldigeren Ausdrücken
zu umschreiben, ist ein alter z. T. abergläubischer Volks-
brauch.
') Daneben auch andere Umschreibungen wie Liebster, Bräuti-
gam, Sohn — Jungfrau, Liebste usw.
Palaeatra XL VII. 8
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— 114 —
Oft werden Sprichwörter in die Rede eingeflochten,
denn der Laconismus des gemeinen Mannes führt gern
Urväterweisheit im Munde. Eine passende Sentenz ist
wie ein Machtspruch, der jede lange Beweisführung über-
flüssig macht. Zumeist drücken sich auch bei Grimm nur
Personen niederen Standes in sprichwörtlichen Wendungen
aus. Schlagende, prägnante Kürze ist also in Volks-
märchen ebenso am Platze, wie die weicheren Linien
liebevoller Ausmalung.
Bin echt volkstümliches Gepräge erhält der Vortrag
durch die Verwendung von Tautologieen. Diese sind
teils gereimt, teils alliterierend, haben also sprichwörtlichen
Charakter und eine feste, altüberlieferte Form. Die
Märchensprache liebt musikalische Klangfiguren, wie ja
der mündliche Vortrag gern formelhafte Ausdrücke ge-
braucht, schon um das Gedächtnis zu unterstützen. Ab-
gesehen von Reimzeilen, wie sie nicht selten auch in den
aus mündlicher Tradition entlehnten Stücken auftreten,
sind es die schallnachahmenden Worte, die der Sprache
die natürliche Frische verleihen. Der Ton wird teils
durch Worte umschrieben wie: „trippeln und trappeln" (87),
„was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum" (5),
teils hören wir ihn in Form einer lautmalerischen Inter-
jektion: die Katze schreit: miau! miau! die Gänse schnattern
ihr ga! ga! die Frösche ihr ak! ak! oder quak! usw. Die
Kinder lieben es ja, die Stimmen der Tiere nachzuahmen.
Die Einflechtung zweiteiliger Redefiguren gibt dem
Vortrag poetische Färbung und rhythmische Gliederung
und dem ganzen Satzgefüge dadurch, dass die zweite
Reihe meist einen gleichen oder ähnlichen Gedanken
ausspricht wie die erste, einen gewissen Nachdruck. Nicht
selten steigert sich die schlichte Erzählung zum Halbgesang
einer Deklamation mit Wiederholungen und Reimsprüchen,
wie z. B. in No. 30, 32, 38. Poesie und Prosa sind in
glücklicher Mischung vereinigt. Durch häufigen Gebrauch
synonymerGedankenverbindungen erhält die Darstellung die
ruhige Breite. Herder vergleicht die Synonyma treffend
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mit den goldenen Äpfeln der Atalante; es sind künstlerisch
wirksame Ruhepunkte der Erzählung. Während das Volks-
lied sprunghaft von einem Motiv zum andern, von einer
Situation zur andern eilt, was nicht bloss auf unvollkommene
und zersungene Überlieferung zurückzuführen ist, haftet
das Märchen gern am Ort und geht in der Darstellung
nur schrittweise vor, auch das Wunderbarste behaglich
vermittelnd. Schon der Anfang so vieler Märchen kann
als Beispiel für ihre bequeme Erzählungsweise gelten:
„Es war einmal ein N., der" . . . Statt den Gedanken in
einem Hauptsatz auszudrücken, wird er auf Haupt- und
Relativsatz verteilt, dessen Pronomen den bereits erwähnten
Begriff noch einmal aufnimmt.
Anspielungen auf volkstümliches G emeingut (andere
Märchen, Aberglauben u.dergl.)sind verhältnismässig selten.
Zu billigen ist, wenn z. B. ein Soldat das Märchen vom
„Gruseln lernen" citiert, oder wenn auf den „grossen
Butzenmann" als Schreckgespenst verwiesen wird (90);
anstössiger wohl, wenn zwei unbekanntere Erzählungen
ganz äusserlich auf einander bezogen werden, wie No. 168
auf das Märchen vom faulen Heinz (164). Unmöglich
kann das Märchen in dieser Form wirklich „erzählt"
werden. Der Zusatz in No. 168 erklärt sich zwar leicht
aus der Nachbarschaft der beiden Stücke, schädigt aber
die Selbständigkeit des Märchens. Es ist Literatur.
Dramatischer belebt wird die Erzählung durch häutige
Anwendung der direkten Rede. Die Vorlagen geben
oft nur eine zusammenfassende Inhaltsangabe, wo hier in
anschaulicher Wechselrede die Personen vor uns auftreten.
Man meidet,* wie die einfache Volkssprache, die indirekte
Verschränkung der Sätze und führt schon aus Bequemlich-
keitsgründen lieber die Worte in ursprünglicher Gestalt
an. Ebenso erhöhen zahlreiche Interjektionen die Kraft
des sprachlichen Ausdrucks; auch werden Anreden
gern mit einem Vokativ eingeleitet. Bisweilen wird durch
Einführung des Besonderen die Wirkung gesteigert: so
bedient sich der Soldat der Sprache seines Standes, der
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Schneider gewisser Formeln der Handwerkssprache, und
der Israelit spricht sein Judendeulsch.
Namen sind in Märchen selten, eine individuelle
Namengebung fehlt überhaupt. Nur Vornamen, wie sie in
ländlichen Kreisen üblich sind, z. B. Heinz, Hans, Trine,
Grete, Trudc usw. duldete man oder fügte sie hinzu, wo
sie fehlten. Moderne oder willkürliche Namen wie „Früh-
ling", „Hans Wohlgemut", „Lassmann", „Helene" wurden
gestrichen, der Name eines Prinzen „Benjamin" aus-
drücklich auf die Bibel bezogen (9). Dem Volksbrauch
entspricht die Beifügung eines stehenden Adjektivs, z. B.
der faule Heinz, der lange Lenz, die dicke Trine, Ferenand
getrü, das kluge Gretel. Zur Unterscheidung von andern
Personen gleichen Vornamens dient ein charakterisierendes
Beiwort, nicht etwa der volle Geschlechtsname. Überhaupt
sind ja Bezeichnungen, die vom Ausseren, der Beschäftigung,
dem Temperament der Personen hergeleitet sind, sehr be-
liebt (Drosselbart, Däumling, Rotkäppchen, Bruder Lustig,
Spielhansl, Meister Pfriem usw.). Dazu gehören auch Be-
nennungen wieRotfuchs, Quakfrosch, Pudelhund, Göckelhahn,
Rotkopf, Piephuhn oder scherzhaft umschreibende Namen:
Hautab, Halbaus, Ganzaus (2), Tannendreher, Felsen-
klipperer, Duckmäuser, Kratzbürste (166). Bemerkenswert
sind ironische Benennungen: der gescheite Hans (32), die
kluge Else (34).
Die der Technik der Volkspoesie eigentümliche Art,
Züge und Wendungen zu wiederholen, ist sehr oft
zu finden (vgl. namentlich No. 32 u. 34). Ähnliche Vor-
gänge werden mit denselben Worten erzählt, z. T. schon
aus dem Grunde, weil der einfache Mann bft nur über
einen Ausdruck verfügt. Auch haftet der Gedanke noch
an dem bereits Erzählten, die Worte klingen im inneren
Ohr nach. Die Wiederholungen erweisen deutlich, dass
die Geschichten nicht bloss für das Auge des Lesers ge-
schrieben sind, sondern für das Gehör den Rhythmus und
den natürlichen Tonfall des gesprochenen Worts beobachten,
während die Verfasser der Vorlagen recht oft sich gar
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nicht in die Rolle eines wirklichen Märchenerzählers hinein-
versetzen und nur ein Lesestück liefern. Der kindliche
Sinn aber verlangt, dass ein wiederholter Vorgang ebenso
erzählt werde wie das erste Mal, wie er sich auch ent-
täuscht fühlt, wenn dasselbe Märchen, wiedererzählt, in
einzelnen Punkten abweicht. Es sei hier auf eine charakte-
ristische Stelle in Goethes Werther verwiesen, wo auf
diesen Punkt aufmerksam gemacht wird: „Die Kleinen
verfolgten mich um ein Märchen, ich erzählte ihnen das
Hauptstückchen von der Prinzessin, die von Händen be-
dient wird. Ich lerne viel dabei, und ich bin erstaunt,
was es auf sie für Eindrücke macht. Weil ich manchmal
einen Incidenzpunkt erfinden muss, den ich beim zweiten
Mal vergesse, sagen sie gleich, das vorige Mal war es
anders gewesen, so dass ich mich jetzt übe, sie unver-
änderlich in einem singenden Silbenfall an einem Schnürchen
weg zu rezitieren." Schon bei der Übersetzung der Alt-
dänischen Heldenlieder (Vorrede S. XVI) machte Wilhelm
Grimm auf diese stilistische Eigentümlichkeit aufmerksam,
und im Vorwort zu den Märchen heisst es: „Wieder-
holungen einzelner Sätze, Züge und Einleitungen sind wie
epische Zeilen zu betrachten, die, sobald der Ton sich
rührt, der sie anschlägt, immer wiederkehren und eigent-
lich in einem andern Sinne nicht zu verstehen'' (S. X).
Ebenso wie Prosasätze werden auch Reimworte wieder-
holt. Es sind „geflügelte Worte", die, einmal ausgesprochen,
leicht und bequem über die Lippen eilen und auch so auf-
genommen werden.
Schon die Wiederholung darf als Beleg für das be-
stimmte Symmetriegefühl des Märchens gelten, in dessen
Aufbau die primitivsten, darum aber auch wirksamsten
ästhetischen Gesetze zu finden sind. Besonders tritt das
Spiel mit Zahlen hervor. In der Volkspoesie sind diese
überhaupt von gewissem symbolischem Wert. Heilig ist
die Drei-, Sieben- und Zwölfzahl, die vielleicht schon aus
religiösen Motiven festgehalten wurden. Aber auch rein
äusserlich macht sich die Vorliebe für zahlenmässige
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Gruppierung geltend und hat auch auf die Composition
der Märchen EinÜuss ausgeübt. Sehr häufig treten drei
Personen im Märchen auf, unter denen immer die dritte
den Vorrang vor den andern gewinnt; der jüngste Bruder
ist der klügste und umsichtigste, die jüngste Schwester
die liebenswürdigste und schönste. Aller guten Dinge sind
drei: etwas Grosses wird zweimal vergebens versucht,
das dritte Mal gelingt es. Drei Wünsche werden erlaubt;
Schneewitchen wohnt über den sieben Bergen bei den
sieben Zwergen; sieben Jahre soll die Königin gefangen
sitzen, nach ihrer Befreiung lebt sie noch drei Tage (76).
Im Märchen vom Dornröschen können nur zwölf Feen
eingeladen werden, die dreizehnte (Unglückszahl) bringt
das Unheil. Wie wichtig das Prinzip, zahlenmässig zu
gliedern, für die Technik des Märchenstils ist, erkennt man
auch daraus, dass z. B. ausdrücklich der Akt des Zählens
angegeben wird, z. B.: „am rechten Ufer, da stehen grosse
Ruten, die zähle, und die elfte schneide ab" (88), denn es ist
nötig, dass die rechte Zahl getroffen werde. Besonders
beliebt sind Gruppenaufzählungen (vgl. No. 80). Jede
neue Reihe hat ein Glied mehr als die vorige; der Er-
zähler begnügt sich aber nicht mit der einmaligenErwähnung
des neuen Gliedes, sondern wiederholt, jedesmal von vorn
beginnend, das schon Genannte. Nur in der Verknüpfung
mit dem Vorhergehenden hat das Neue Bestand. Er-
zähler und Hörer werden nicht müde, selbst eine Reihe
von zwölf Ereignissen zahlenmässig an sich vorüberziehen
zu sehen. Ganz ähnliche Figuren finden sich in Abzähl-
versen, in Volks- und Kinderliedern 1 ).
Auch die blosse Wiederholung eines Begriffs durch
eine einfache Cumulatio ist als Zeichen der Kindersprache
anzusehen: die Doppelsetzung des Positivs ist gleich dem
Superlativ („lange, lange Zeit", „grosse, grosse Nuss",
„sie hatten aber so gut, nein so gut geschmeckt", „sass
1) Vgl. Uhland, Volkslieder No. 2,4. Wunderhorn (Reclam)
S. 827 ff.
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da eine bildschöne Jungfrau, nein so schön, dass es nicht
zu sagen ist" u. a.).
Die Verwendung der Koseformen, in der Bearbeitung
häufiger als in den Vorlagen, verleiht dem Vortrag ein-
schmeichelnde Zierlichkeit und Anmut; namentlich werden
Lieblingsfiguren des Märchens gern mit Deminutiven be-
dacht. Manchmal ist diese Art der Bezeichnung durch-
gehends angewandt, z. B. in No. 30.
Der Anfang des Märchens ist, abgesehen von der
bekannten Eingangsformel: „Es war einmal" . . ., womit
z. B. auch Apulejus im 2. Jahrhundert n. Chr. sein Märchen
von Amor und Psyche einleitet, bisweilen verallgemeinert
und nach Art eines Sprichworts abgefasst oder bewegt
sich in formelhaften Ausdrücken wie: „Zur Zeit, da das
Wünschen noch geholfen hat", „als Gott noch selbst auf
Erden wandelte"; „et is woll dusent und meer Jahre her",
was zugleich das Folgende als Märchen charakterisiert.
Damit sind die Zeitangaben so ziemlich erschöpft. Nur
ob es Abend oder Morgen, ob es ein Winter- oder Sommer-
tag war, wird etwa noch verraten: „Zur Winterszeit, als
einmal ein tiefer Schnee lag"; „da es gerade Frühlingszeit
war, und das Kind seine Freude an den bunten Blumen
hatte" (169); „et wöör an enen Sünndagmorgen tor Harvest-
tied, jüst as de Bookweeten bloihde" (187). Auch hier
herrscht der sinnige Zug, die nackte Zeitangabe durch ein
Bild aus der Natur zu umschreiben.
Besondere Bedeutung hat der Märchensehl uss.
Gewöhnlich genügt wie in den Vorlagen ein schlichter
Abschluss der Erzählung ohne rhetorischen Schmuck. Nicht
selten aber wird eine formelhafte Wendung, die gereimt
sein kann, dem Märchen angehängt, wie: „Die Katze läuft
nach Haus, mein Märchen ist aus." Meist ist sie neckischer
Natur: indem der Vortragende über den gläubigen Kinder-
ernst lacht, deutet er zugleich die Unwahrscheinlichkeit
der Geschichte an. In sicherem Vertrauen aber auf ihre
Wirkung darf er den lustigen Abschluss wagen. Zweifelnde
Gemüter warnt der Erzähler launig: „Wer's nicht glaubt,
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bezablt einen Thaler", und nicht alle Kinder werden schon
so gescheit sein wie das kleine Mädchen, von dem Wilhelm
Grimm im Anschluss an diesen Schluss die bekannte
hübsche Geschichte erzählt'). Oft schliessen die Märchen
mit der Hochzeit als dem Gipfel des irdischen Glücks.
Diese wird bisweilen mit fröhlicher Laune geschildert und
der Zuhörer gefragt: „Bist du auch auf der Hochzeit ge-
wesen?" usw. (84). oder der Erzähler wünscht, „er wär
auch dabei gewesen" (134), denn „wer dabei gewesen, der
ist nicht hungrig nach Haus gegangen" (II, 43). Mit frohem
Ausblick in die Zukunft heisst es dann wohl: „Nun lebten
sie vergnügt, und es ging ihnen wohl bis an ihr Ende" (85),
oder frommer: „nun lebten sie froh so lange es Gott gefiel";
„und ob sie noch leben, das steht bei Gott". Humoristisch
klingt: „Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute
noch". Nach der Anschauung des Märchens gehört nun
einmal langes Leben und Reichtum zum glücklichen, irdischen
Dasein. Selten fasst der Inhalt sich in einer (sprich-
wörtlich gehaltenen) Moral zusammen, z.B.: „Eile mit
Weile" (184), „so geht's aber den Hochmütigen" (97); „du
wirfst das Beil so weit, dass du's nicht wieder holen
kannst" (72).
Beliebter ist der persönliche Märchenschluss, in dem
der Erzähler sich unmittelbar an seine Zuhörer wendet.
Auch hierfür bietet unsere Sammlung einige Beispiele.
Besonders bemerkenswert ist die Art, sich auf Gewährs-
männer (Grosseltern) zu berufen, denen man die Geschichte
verdankt (z. B. No. 179). Auch der Anfang leitet ähnlich
ein, z. B.: ,.Disse Geschieht is lügenhaft to verteilen,
Jungens, aver wahr is se doch, denn mien Grotvader, von
den ick se hew, plegg Ummer to seggen" . . . Ganz all-
gemein heisst es: „Un we dat lest verteilt het, den is de Mund
noch wärm" (113) oder: „wer's wüsste, könnte viel davon
erzählen". Bisweilen gesteht der Vortragende am Schluss,
selbst nicht mehr zu wissen: „und ob sie noch da schweben,
») Freundesbriefe S. 189 f.
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das weiss ich nicht" (90), oder er gibt rückblickend Uber
gewisse unaufgeklärte Punkte des Märchens Bescheid.
Frage des Kindes und Antwort des Erzählers sind hübsch
beisammen in folgendem: „Fährt er wohl noch? Was denn?
Es wird ihm niemand die Stange abgenommen haben." —
„Wo ist aber die Ziege hingekommen, die schuld war,
dass der Schneider seine drei Söhne fortjagte? — Das
will ich dir sagen" . . . (36) — „Warum hat aber der
Fuchs die armen Piephühner zu fressen kriegt? — Ei, du
Narr, deinem Vater wird ja wohl sein Kind lieber sein
als die Hühner auf dem Hof" (45).
Gewöhnlich duldet nur der Schluss ein direktes Hervor-
treten des Erzählers; im Verlauf des Märchens selbst wird
die objektive Darstellung festgehalten. Einzelne abweichende
Fälle sind nur als Ausnahmen zu betrachten, z. B.: „da
lebte Allerleirauh lange Zeit recht armselig; ach. du schöne
Königstochter, wie soll's mit dir noch werden". „Nun
weiss ich nicht, ob sie sich so dick gegessen oder ob sie
so übermütig geworden waren" (10), oder man stellt mit-
unter eine rhetorische Frage: „Das Mädchen kehrte den
Schnee weg, und was glaubt ihr wohl, was es gefunden
hat?" (13) „Aber was meineder, wer isch das gsi? D 1
Tochter selber isch es gsi!" Allgemein heisst es: „Es
kann sich jeder denken, wie ihm zu Mut war." Stimmung
zu erzeugen, wird der Geschichte selbst Uberlassen, das
persönliche Empfinden des Vortragenden schwebt unaus-
gesprochen über dem Ganzen.
Die Anschaulichkeit der Sprache wird vielfach
gehoben durch Kleinmalerei: die geringfügigsten und un-
scheinbarsten Züge sind den Brüdern oft die wichtigsten,
und auch das Unbedeutende bekommt durch die gefällige
Anmut, mit der sie es erzählen, einen anziehenden Reiz.
Der sprachliche Ausdruck ist zart bei der Darstellung
kindlicher Dinge, derb in der Schilderung gröberer Ver-
hältnisse. Er legt Wert auf Sachen, die dem Kinde am
meisten ins Auge fallen und seine Verwunderung erregen.
So gleichgültig das Märchen sonst gegen Ortsangaben ist,
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so genau ist doch oft die Beschreibung gewisser Situationen :
Zauberhauten, Landschaften, Schlösser, häusliche Ein-
richtungen werden bis ins einzelne mit plastischer Deutlich-
keit geschildert, denn das Kind hat eine Freude am Bunten
und Schimmernden. Mit Vorliebe verwendet man auch Bilder
aus dem Naturleben; die Tier- und Pflanzenwelt wird gern,
nicht bloss in wirklichen Tiermärchen, in den Anschauungs-
kreis hineingezogen, wodurch die Erzählungen einen frischen,
kräftigen Naturton und das Gepräge des Echten und Un-
gekünstelten erhalten. Aber in den Märchen liegt nicht
eine sentimentale Sehnsucht nach der Natur, diese ist fin-
den einfachen Mann des Volkes noch nicht etwas Fremdes,
sie ist noch der Urboden aller gesunden Verhältnisse. Der
grüne Wald, das blühende Feld, geheimnisvolle Brunnen
und Quellen sind die Plätze, wo sich das Märchen gern
ansiedelt. Wenn die Fabel im allgemeinen nur die Tiere
zu Trägern von Ideen macht, geht das Märchen schranken-
los noch tiefer in das Naturreich hinab, auch die un-
organische Welt naiven Sinnes zu beseelen und mit Vernunft
zu begaben. Denn das Kind glaubt, dass die Dinge,
die es umgeben, gewissermassen seines gleichen sind, die
begehren und handeln wie es selbst.
Das Wunderbare und Unwahrscheinliche ist im
Märchen das Natürliche. Wirkliches und Unmögliches
webt das Spiel der Phantasie launig durcheinander. Damit
steht in Verbindung, dass die Brüder zwar keine neuen
Wunder hinzugedichtet, aber durch poetische Belebung der
Sprache das Märchenhafte der Erzählung bedeutend erhöht
haben. Die tote Natur ist vielfach zum redenden und
handelnden Genossen des Menschen geworden; aber man
mied eine sinnlose Anhäufung von Wundern, wie sie sich
etwa in den Feenmärchen findet. Auch behandelten die
Brüder das Gespensterhafte und Grausige, das Wunder-
bare und Phantastische nicht parodistisch wie einige ihrer
Vorgänger, sondern mit der Andacht eines kindlichen
Gemüts. Anerkennend erwähnt Goethe das Grimmsche
Märchen vom „Gruseln lernen", das „einen Tod- und
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Teufelsspuk als etwas ganz Gemeines bebandele 41 . Der
Gegensatz von „Einbildungskraft und Derbheit, von un-
verwüstlichem, gesundem Sinn und gespenstischem Trug
könne nicht besser dargestellt werden" (Werke 33, 199).
Das ist ja überhaupt eine Eigenschaft des Volksmärchens,
dass es an seine Wunder glaubt, während das Kunst-
märchen die Allegorie nicht vermeiden kann und auf geist-
reiche Verknüpfung der Ereignisse angewiesen ist.
Das komische Element in den Märchen ist ein
launiger, gutmütiger Humor, der sich mit den sonderbarsten
und dümmsten Personen abzufinden weiss, ja gerade bei
der Behandlung dieser Leute und ihrer Albernheiten am
wirksamsten zur Geltung kommt. Und doch wird dadurch
niemals die Stimmung des Ganzen zerstört; es ist ein
Spott, der alle trifft und darum keinen, der in einem er-
träumten Lande mit allerlei wunderlichen Lebens-
verhältnissen spielt und deshalb von der Ironie eines
Musäus oder Tieck von Grund aus verschieden ist. Auch
bei der ironischen Behandlung mancher Märchenfiguren,
z. B. des faulen Heinz, der klugen Else, des dummen
Hans, des tapferen Schneiders hat man immer das Gefühl,
als sei die Erzählung ernst gemeint. Die Brüder verstehen es,
unser Interesse auch für wenig liebenswürdige Personen
rege zu halten. Man lacht Uber die Einfalt, die es noch
nicht versteht, sich zu verstellen, oder ist gerührt durch
die Offenheit der naiven, treuherzigen Gesinnung, die alle
Künstlichkeit beschämt. Im allgemeinen hat die Bearbeitung
die Vorlagen nach dieser Seite hin unverändert gelassen;
nur einige Gestalten, wie der Schneider, der Jude im
Dorn sind mit mehr Humor gezeichnet.
Das Märchen nimmt, wie die Volkspoesie überhaupt,
gern starke Contraste auf: gut und böse, wunderschön
und hässlich wie die Nacht stehen unvermittelt einander
gegenüber; feinere Abstufungen werden nicht gemacht.
Das bestimmt Umrissene ist dem Märchen lieber als der
schillernde Charakter, zu dessen Darstellung auch eine
feinere Kunst gehört als der Märchenerzähler besitzt, der
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sich mit einer psychologischen Begründung und Vertiefung
seiner Charaktere nicht befasst. Auch würde auf Seiten
des Hörers die Empfänglichkeit dafür fehlen. Das un-
verbildete Gerechtigkeitsgefühl des Märchens verhilft dem
Guten zum Siege über das Böse. Die beiden inneren
Gegensätze, die so oft begegnen, sind zugleich Grundlagen
für äussere Unterschiede, beide laufen parallel. Mit Seelen-
reinheit vermählt sich die glückliche körperliche Beschaffen-
heit, und umgekehrt kann man aus einer äusserlich häss-
lichen Märchenfigur schon auf einen schlechten Charakter
schliessen. Der Lohn der Tugend besteht in grösstem
irdischem Glück, die Strafe des Bösen in schrecklichster
Qual.-
Wie im Volksliede sind die syntaktischen Ver-
hältnisse der Sätze höchst einfach. Coordination wird der
Subordination vorgezogen; ein Gedanke reiht sich schlicht
an den andern. Feinere Beziehungen durch Partikeln und
Conjunktionen anzudeuten wird ebensowenigversucht wie ein
kunst voller Periodenbau. Es ist natürliche Prosa desMundes.
Das altertümliche Deutsch mit der einfachen Struktur der
Sätze kam in seiner Schlichtheit der modernen Märchen-
sprache sehr nahe; schon deswegen, abgesehen von Grimms
Vorliebe für archaische Ausdrucksweise, wurden die Vor-
lagen fast unverändert Übernommen. Sie bewahrten dem
Märchen den „angeerbten, wenn auch nach und nach
modificierten Charakter zugleich mit dem einfachen, den
ältesten Zeiten gemässen Vortrag", wie ihn Goethe für das
Volkslied verlangte 1 ). Auch dialektische Ausdrücke wurden
Kunstmittel. Ausser den Märchen, die durchgehends in
einer bestimmten Mundart abgefasst sind, um ihnen den
frischen Erdgeruch zu wahren, begegnen Idiotismen aller-
dings nur selten, z. B.: Haulemännerchen, Frau Gothel
Ellermutter u. a., denn ein Sprachgemenge wurde nicht
geduldet. Auch hielten die ersten beiden Auflagen noch
vielfach die apokopierten und elidierten Wortformen fest.
') In dem Aufsatz: Über Volkspoesie.
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die teils dem mündlichen Vortrag entsprachen, teils aus
älteren Vorlagen übernommen wurden. Erst mit der dritten
Auflage macht sich ein Streben bemerkbar, die Formen
dem schriftgemässen Deutsch anzuähneln. Tiefere Ein-
griffe zeigt die Bearbeitung neueren Vorlagen gegenüber;
lange Perioden wurden aufgelöst, Nebensätze in Hauptsätze
verwandelt. Nicht selten wird die einleitende Partikel im
Satze fortgelassen und eine wirksame Inversion eingeführt,
z. B.: „fragto die weise Frau" — „sprach der Bauer" usw.,
eine Eigenart des archaisierenden Stils, welche die eindring-
liche Kraft der Rede steigert wie in Luthers Bibel. Die
Darstellung wird hierdurch dramatischer. Frage und Ant-
wort schliessen sich eng an einander, und der Zwischensatz
ohne einleitende Partikel ist gleichsam wie eine Parenthese
anzusehen, die flüchtig den Strom der Worte unterbricht.
In einem Brief der Haxthausenschen Correspondenz hat
W. Grimm sich durchweg dieser Form bedient Im Stil
des Volksliedes entspricht ihr die Erscheinung, dass das
Hauptwort am Anfang der Zeile häufig ohne Artikel steht
(vgl. Heidenröslein: „Knabe sprach: Ich breche dich" . . .),
wodurch es „weitmehr poetische Substantialität und Per-
sönlichkeit" erhält, wie Herder betont 2 ).
Vielfach ist der Monolog mit Personenwechsel an-
gewandt, eine anschauliche, echt volksmässige Ausdrucks-
weise. Da „denken" sprechen mit sich selber ist, so kann
der Denkende sowohl erste wie zweite Person sein. Die
Vertauschung der Glieder erhöht die Beweglichkeit und
eindrucksvolle Kraft des Vortrags. Es ist gegenständlicher
und gemütlicher, sich selbst mit „du" anzureden. Jakob
Grimm charakterisiert den Unterschied in seiner Ab-
handlung über den Personenwechsel in der Sprache 3 ) mit
den Worten: „Mit dem ,Ich l redet der Verstand, mit dem
.Du' reden Herz und Empfindung".
!) Freundesb riefe S. 8 f.
2 ) Suphan V, 194.
s) Kl. Schriften in, 299.
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Durch massvolle und geschickte Anwendung der
stilistischen Feinheiten haben die Brüder Grimm — das
Hauptverdienst gehört Wilhelm — den Vorlagen neue und
reiche Schönheiten verliehen. Ihr Verfahren ähnelt dem
des Kunstdichters, der das dunkle Fühlen und die halb
unbewussten, instinktiven Andeutungen der Volksdichtung
benutzt und ihnen den vollen und reinen Ausdruck gibt.
Sie wiederholten nicht etwa wahllos typische Wendungen
und flickten sie künstlich dem Märchen an; ihre Sicherheit
bewahrte sie auch vor Übertreibung. Sie stellten jedes
Märchen in seiner Eigenart als Fertiges vor und fügten
aus der Stimmung des Ganzen passende Zusätze bei, es
dadurch erst zu einem Kunstwerk umgestaltend. Die Kluft
zwischen Kunst- und Naturprodukt wurde überbrückt, oder
vielmehr erst dio Kunst der Brüder verlieh den Märchen
durch die einfachsten Mittel den frischen Duft und die
sinnliche Kraft und Schönheit, woran der Wildling zu
erkennen ist. Ihre Methode lässt sich bereits aus der
Betrachtung des kleineren Teils der Sammlung im Umriss
bestimmen. Eine erschöpfende Darstellung hat aber mit
Notwendigkeit die mündlicher Überlieferung nacherzählten
Märchen zu berücksichtigen; auch würden dadurch erst
Einzelbeobachtungen, die uns jetzt unscheinbar dünken, in
das rechte Licht treten. Wir müssen auf neue Schätze
des „Grimmschrankes" warten.
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Beilagen.
Vorlage.
I Hans Sachs, Schwanke T, 172.
Der dewffel hat die gais er-
schaffen, hat in dewffel augon
eingeseezt.
Doctor Üolpianus der hat
Ein puech peschrieben, darin stat:
Nach dem der Her all creatür
Auf erd peschueff gar rein und pür
Die wolff er im erwelen künd
Und het sie pey im für jaghiind,
Das er sicher in den refieren
Wer vor den andren wilden thieren.
Nun sagen vns die gierten pfaffen
Wie das er het kain gais erschaffen.
Da richtet sich der dewffel on
Vnd wolt auch sein ein schöpfer fron
Und macht vil gais in seinen grenezen,
%i rt sie all mit langen füchssehwenc-
Und wen sie gingen an der waid [zen,
Dellens dem dewffel vil zv laid,
Wo sie in doren hecken gingen
Mi t den schwenezen sie drin pehingen.
Den schloff er nein und macht sie los.
Die müe den dewffel hart vertros,
Det in allen die schwencz abeissen,
Wie noch die stüempff der gais pewey-
Sch I ueg sie allein hin auf die waid. [sen,
Der herr kam hin durch ein wegschaid,
Sach, wie die gais in weitem raiim
Penaglen die fruchtbaren paüm.
Und sach darzw, wie die gaispöck
Verderbten die edlen weinstück,
Grimm.
Des Herrn und des Teufels
Getier. (11,62.)
Gott der Herr hatte alle Tiere er-
schaffen und sich die Wölfe zu seinen
Hunden auserwählet; blos den Geis
hatte er vergessen.
Da richteto sich der Teufel an, wollte
auch schaffen, und machte die Geisc
mit feinen, langen Schwänzen. Wenn
sie nun zur Weide gingen, blieben
sie gewöhnlich mit ihren Schwänzen
in den Dornhecken hängen, da musslo
der Teufel hineingehen und sie mit
vieler Mühe losknüpfen; verdross
ihn zuletzt, war her und biss jeder
Geis den Schwanz ab, wie noch heut'
des Tags an den Stümpfen zu sehen
ist.
Nun Hess er sie zwar allein weiden,
aber es geschah, dass Gott der Herr
zusah, wie sie bald einon fruchtbaren
Baum benagten, bald die edlen Reben
schädigten, bald andere zarte Pflanzen
verderbten. Dess jammerte ihn, so
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Detten den pflanzen grosen schaden.
Das jamert in aus guet vnd gnaden
Vnd heischet seine wolff an sie,
Dio selbigen zeriessen die.
So pald der dewffel das vernom
Wie bald er zv dem herren koni
l'nd sprach : Herr, das geschupfte dein
Das hat zvrissen mir das mein!"
Der herr sprach: Dein gais niücsl ich
straffon,
Weil dtis zv schaden hast erschaffen."
Der dewffel sprach : Gleich wie ich pin
Ein schöpfler boshaftiger sin,
So peschueff ich auch creatiir
Mir gleich, die ich durch dich verliir.
Dw must sie mir wol zalen de wer."
Der herr sprach:.Ja,iehzaldirshewer.
So pald das aichen laub abfeit,
So kümb! das gelt ist schon gezelt."
Der dewffel fuer dahin sein stras
Als das aichlaub abfallen was, fpel.
Der dewffel fordert sein schueld dop-
Der herr sprach: Zv Constantinoppel
In Kriechen stet ain aichen hoch
Die selb ir laüb hat alles noch."
Der dowflel fuer dahin mit fluechen
Sechs monat die aichen zu suechen,
Vnd erst im Mayen wider kom.
Da er die aichen all vernom
Wider gruen vnd vol pleter wwn.
Muest der schueld ghraton, vnd vor
Da stach er all den gayson sein fzorn
Dio aügon'aus und seezt in ein
Sein dowfl'els äugen. Drum an laugen
Haben all gais noch dewffels äugen
Vnd darzw auch abissen schwenez.
Der dewffel auch durch sein gespencz
Sich oft, in schwarze gais verwandelt
Won er mit der zaubrerin handelt.
Auch holen sie oft auf eim pock
Ein man hin über stain und stock
Auf die puelsehaft. Vil vngemachs
Rieht er dardurch an, spricht Hans
Sachs.
dass er aus Güte und Gnaden seine
Wölfe dran hetzte, die denn die
Heise, so da gingen, bald zerrissen.
Wie der Teufel das vernahm, trat
er bald vor den Herrn und sprach:
„Dein Heschöpf hat mir das meine
zerrissen." Der Herr antwortete;
„Was hattest du es zu Schaden er-
schallen?"
Der Teufel sagte: „Ich musste das;
gleichwie selbst mein Sinn auf Scha-
den gehl, konnte, was ich erschaffen,
keine andere Natur haben, und musst
mirs teuer zahlen." „Tch zahl dir's.
sobald das Eichenlaub abfällt, dann
komm, dein Geld ist schon gezahlt."
Als das Eichenlaub abgefallen war,
kam der Teufel und forderte seine
Schuld. Der Herr aber sprach: „In
der Kirche zu Constantinopei steht
eine hohe Eicht, die hat noch alles
ihr Laub." Mit Toben und Fluchen
entwich der Teufel und wollte die
Eiche suchen, irrte sechs Monate in
der Wüstenei, eh' er sie befand, und
als er wiederkam, waren derweil
wieder alle andere Eichen voll
grüner Blätter. Da musste er seine
Schuld fahren lassen, slach im Zorn
allen übrigen Geisen die Augen aus
und setzte ihnen seine eigenen ein.
Darum haben alle Heise Teufelsaugen
und abgebissno Schwänz, und er
nimmt gern ihre Hestalt an.
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129 —
Kirchhof, Wendunmuth 11,124.
Von dess todts botten.
Man sagt, dass auff ein zeit ein
grosser, starker ries den tod hab im
kampff bestanden, darnider gesehla-
gen, ganlz onmächtig und krafftlos
ligen lassen, welchen, als ihn ein
Jüngling, der daselbst fürgieng, sähe,
hat er auss erbarmnuss in golabt,
also dass er seine vorige sterck und
gesundheit widerumb bekäme. Der-
halben zu einer widorgeltung diser
gutthat, versprach der tod dem
jüngling, sintemal es von gott und
der natur also vorsehen, dass alle
menschen sterben müssten, und ei-
serner derwegen nicht verschonen
köndte, wollte er ihm doch sein end
zeitlich gnug zuvor durch botlschaft
verkündigen lassen. Solcher zusag
halber ward das gemüt dess jüng-
lings in Sicherheit stoltz erhaben,
frass, soff und schlemmet ein und
alle tag, dass in jetzt diser, denn
jener gebrechen platte. Bald do er
nach vielen siechtagen wider in
freuden lebte, kam der tod, sagende,
wie die stund seines abscheids von
diser erden nun vorhanden. Jener
war solcher Sachen nicht zufrieden,
den tod dess betrugs, hinderlist und
un wahrhaftiges Versprechens be-
schuldigende, sintemal er keinen an-
zeiger von ihm vernommen. Ho,
schweig still ! antwortet der tod, sein
das nicht botten genug? Vor etlichen
jaren plagte dich ein hartes Heber,
bald darnach ein schwereres, ietzt
hastu am kopff mit schwindeln, an
der brüst mit husten und keichen,
im magen und gederm grossen
schmertzen erlitten, deine kreffte an
armen und beinen haben abgenom-
men, die haut ist dürr und runtzelicht
Palaestra XLVII.
Die Boten des Todes (177).
Vor alten Zeiten wanderte einmal
einRiesP auf der grossen Landstrasse,
da sprang ihm plötzlich ein un-
bekannter Mann entgegen und rief:
„Halt! koinon Schritt weiter!" „Was* 4 ,
sprach der Kiese, „du Wicht, den
ich zwischen den Fingern zerdrückon
kann, du willst mir den Weg ver-
treten? Wer bist du, dass du so
keck reden darfst?" „Ich bin der
Tod", orwiderte der andere, „mir
widersteht niemand, und auch du
musst meinen Befehlen gehorchen."
Der Riese aber weigerte sich und
fing an mit dem Tode zu ringen.
Ks war ein langer, heftiger Kampf,
zuletzt aber behielt der Riese die
Oberhand und schlug den Tod mit
seiner Faust nieder, dass er neben
einem Stein zusammensank. Der
Riese ging seiner Wege, und der
Tod lag da besiegt und war so kraft-
los, dass er sich nicht wieder er-
heben konnte. „Was soll daraus
werden", sprach er, „wenn ich da
in der Ecke liegen bleibe? es stirbt
niemand mehr auf Erden, und sie
wird so mit Menschen angefüllt
werden, dass sie nicht mehr Platz
haben, neben einander zu stehen."
Indem kam ein junger Mensch des
Wegs, frisch und gesund, sang ein
Lied und warf seine Augen hin und
her. Als er den Halbohnmächtigen
erblickte, ging er mitleidig heran,
richtete ihn auf, flösste ihm aus
seiner Flasche einen stärkenden
Trank ein und wartete, bis er wieder
zu Kräften kam. „Weisst du auch",
sagte der Fremde, indem er sich
aufrichtete, „wer ich bin, und wem
du wieder auf die Beine- geholfen
9
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— 130 —
hast?" „Nein tt , antwortete der Jüng-
ling", „ich kenne dich nicht." „Tch
bin der Tod", sprach er, „ich ver-
schone niemand und kann auch mit
dir keine Ausnahme machen. Damit
du aber siehst, dass ich dankbar
bin, so verspreche ich dir, dass ich
dich nicht unversehens überfallen,
sondern dir erst meine Bolen senden
will, bevor ich komme und dich ab-
hole." „Wohlan", sprach der Jüng-
ling, „immer ein Gewinn, dass ich
weiss, wann du kommst, und so
lange wenigstens sicher vor dir bin." Dann zog er weiter, war lustig und
guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend und Gesundheil
hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn
bei Tag plagten und ihm nachts die Ruhe wegnahmen. „Sterben werde
ich nicht", sprach er zu sich selbst, „denn der Tod sendet erst seine Boten,
ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber." Sobald
er sich gesund fühlte, fing er wieder an, in Freuden zu leben. Da klopfte
ihm eines Tages jemand auf die Schulter: er blickte sich um, und der
Tod stand hinter ihm und sprach: „Folge mir, die Stunde doines Abschieds
von der Welt ist gekommen." „Wie", antwortete der Mensch, „willst du
dein Wort brechen? hast du mir nicht versprochen, dass du mir, bevor
du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? ich habe keinen gesehen."
„Schweig", erwiderte der Tod, „habe ich dir nicht einon Boten über
den andern geschickt? kam nicht das Fieber, stiess dich an, rüttelte dich
und warf dich nieder? hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt?
zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? brauste dir's nicht in den
Ohren? nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? ward dir's nicht
dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der
Schlaf, dich jedon Abend an mich erinnert? lagst du nicht in der Nacht,
als wärst du schon gestorben?" Der Mensch wusste nichts zu erwidern,
ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort»
worden. Über das alles solte dich
erinnert haben mein leiblicher bru-
der, der schlaff, in welches banden
du etliche zeit nicht änderst als ge-
storben hast gelegen. Derhalben
sein deine entschuldigung nichtig
und wil ich dich mit mir nemmen.
Dise fabel gibt zu verstehen,
Dass uns der tod kompt unversehen,
Darumb ein christ sich darauff schick,
Als solts geschehn all augenblick.
Die Geschichte vom Ein äugle i n,
Zweiäuglein und Dreiäuglein. 1 )
Eine Edelfrau hatte drei Töchter,
die hiessen: Einäüglein, Zweiäuglein
und Dreiäuglein; denn die Älteste
») Büschings Wöchentl. Nachricht.
1816, S. 17 ff.
Einäüglein, Zweiäuglein und
Dreiäuglein.
Es war eine Frau, die hatte drei
Töchter, davon hiess die älteste Ein-
äüglein, weil sie nur ein einziges
Auge mitten auf der Stirno hatte,
und die mittolsie Zweiäuglein, weil
sie zwei Augen hatte wie andere
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— 131 —
hatte drei Augen, die Andere zwei
Augen und die Jüngste nur ein
Auge. Das eine bei der Jüngsten
und das dritte bei der Ältesten stand
aber mitten auf der Stirne. "
Darum nun, dass die Mittelste
nur zwei Augen hatte und nicht um
ein Haar anders gestaltet war, als
andere Menschen, ward sie gehasst
von Mutler und Schwestern und
sowohl in Kleidung, als Essen und
Trinken zurückgesetzt, also, dass sie
sehr oft traurig und trauernd herum-
ging, und die Einsamkeit ihre einzige
Freundin war.
So sass sie auch einst vorlassen
auf dem Foldraine und hütete die
Ziege, die ihr von der Mutler an-
vertraut war, konnte aber nicht auf-
hören zu weinen, weil sie bei der
Mahlzeit abermals fast leer ausge-
gangen war. Siehe, da trat eine Fee
zu ihr und fragte sie liebreich, was
sie so weine?
Drob war Zweiäuglein froh, dass
sich doch jemand ihrer annehme in
ihrer Not und Trübsal, und sie er-
zählte der Fee nun, wie sie zu Hause
nur täglich geplagt werde von ihrer
Mutter und von den beiden Schwes-
tern und bei Tische mehr vom Zu-
sehen satt werden müsse, denn vom
Zulangen.
Da gab ihr die Fee einen guten
Rat, wie sie durch Hülfe ihrer Ziege
Speise und Trank gewinnen könne,
so wie sie nur wünsche; denn so
oft sie zu ihror Ziege sagen werde:
Zicklein meek!
Tischlein deck!
werde das sauber gedeckteste und
mit den schmackhaftesten Speisen
und Getränken aufs beste versehene
Tischlein vor ihr und zu ihrem
Menschen, und die jüngste ürei-
äuglein, weil sie drei Augen hatte,
und das dritte stand bei ihr gleich-
falls mitten auf der Stirne. Darum
aber, dass Zweiäuglein nicht anders
aussah als andere Menschenkinder,
konnten es die Schwestern und die
Mutter nicht loiden und sie sprachen
zu ihm: „Du mit deinen zwei Augen
bist nicht besser als das gemeine
Volk, du gehörst nicht zu uns" und
stiessen es herum und warfen ihm
schlechte, alte Kleider hin und gaben
ihm nicht mehr zu essen als was
sie übrig liessen, und taten ihm
Herzeleid an, wo sie nur konnten.
Ks trug sich zu, dass Zweiäuglein
ins Feld gehen und die Ziege hüton
musste und noch ganz hungrig war,
weil ihm seine Schwestern so wenig
zu essen gegeben hatten. Da setzte
es sich auf einen Rain und fing an
zu weinen und so zu weinen, dass
zwei Bächlein aus seinen Augen
herabflossen. Und wie es oinmal
aufsah, stand eine Frau neben ihm,
die fragte: „Zweiäuglein, was weinst
du?" Zweiäuglein antwortete: „Soll
ich nicht weinen? weil ich zwei
Augen habe wie andre Menschen,
so können mich meine Schwestern
und meine Mutter nicht leiden,
stossen mich herum, werfen mir
alte, schlechte Kleidor hin und geben
mir nur zu essen, was sie übrig
lassen. Heute haben sie mir fast
garnichts gegeben, dass ich noch
ganz hungrig bin." Sprach die weise
Frau: „Zweiäuglein, trockne dir dein
Angesicht, ich will dir etwas sagen,
dass du nicht mehr hungern sollst.
Sprich nur zu deiner Ziege
„Zicklein, meck,
Tischlein, deck",
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— 132 -
Dienste stehen. Hätte sie nun ihrom
Hunger eine Gnüge gethan und wolle
des Tischleins wieder entührigel
sein, so dürfe sie nur sagen:
Zicklein meek!
Tischlein weg!
und alles würde vor ihren Augen
wieder verschwunden sein.
Für solchen guten Rath dankte
Zweiäuglein der Fee aufs hoste, die
aber verschwand wieder vor ihren
Augen.
Alsbald nun versuchte Zweiäuglein
die Wahrheit jener Verheissung und
siehe da, kaum hatte sie zu ihrer
Ziege dio Worte gesagt:
Zicklein meck!
Tischlein deck!
so stand das sauber gedeckteste
Tischloin zu ihrenFüssen und duftete
ihr mit den einladendsten Speisen
und Getränken gar lieblieh und ge-
würzig entgegen. Zweiäuglein aber
harrete nun weiter auf kein Nötigen,
sondern langete frisch und wohl-
gemuth zu, was ihr eben beliebte,
und war lustig und guter Dinge.
Als sie aber ihrer Esslust ein Gnüge
gethan, sprach sie die ihr gelehrten
Worte:
Zicklein meck!
Tischlein weg!
und alsbald war das Tischlein samt
alle dem, was noch darauf war, und
wovon noch gar wohl ein recht
Hungriger sich hätte sättigen können,
wieder verschwunden.
Dess war nun Zweiäuglein nicht
wenig froh, dass ihr nun ein Mittel
an die Hand gegeben war, wie sie
trotz der neidischen Missgunst, mit
der sowohl Mutter als Schwestern
ihr begegneten, sich täglich Speise
und Trank hinlänglich verschaffen
so wird ein sauber gedecktes Tisch-
lein vor dir stehen, und das schönste
Essen darauf, dass du essen kannst
so viel du Lust hast. Und wenn du
satt bist und das Tischlein nicht
mehr brauchst, so sprich nur
„Zicklein, meck,
Tischlein, weg",
so wird's vor deinen Augen wieder
verschwinden. 1 * Darauf ging die weise
Frau fort. Zweiäuglein aber dachte,
„ich muss gleich einmal versuchen,
ob es wahr ist, was sie gesagt hat,
denn mich hungert gar zu sehr",
und sprach
„Zicklein, meck,
TLschlein, deck",
und kaum hatte es die Worte aus-
gesprochen, so stand da ein Tisch-
lein mit einem weissen Tüchlein ge-
deckt, darauf ein Teller mit Messer
und Gabel und Löffel, die schönsten
Speisen standen rund herum und
waren noch warm, als wären sie
eben aus der Küche gekommen. Da
sagte Zweiäuglein das kürzeste Ge-
bet her, das es wusste, „Herr Gott,
sei unser Gast zu aller Zeit, Amen 4 *,
und langte zu und liess sich's wohl-
schmecken. Und als os satt war,
sprach es, wio die weise Frau es
gehoissen hatte,
„Zicklein, meck,
Tischlein, weg".
Alsbald war das Tischchen und alles
darauf wieder verschwunden. „Das
ist ein schöner Haushalt", dachte
Zweiäuglein und war ganz vergnügt
und guter Dinge.
Ahends trieb es seine Ziege heim
und rührte das irdene Schüsselchen
mit Essen, das ihm die Schwestern
hingestellt hatten, gar nicht an, und
am andern Tag zog es wieder mit
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— 133 —
und nunmehr ohne Sorten darum
leben könne. Sie machte sich daher
mit der spärlichen und geringen
Kost, die man ihr zu Hause nach
gewöhnlicher Art zukommen Hess,
wenig zu schaffen und liess selbige
nicht selten ganz und gar stehen,
worüber die Ihrigen, die doch nicht
wussten, von was sie sich sonst er-
nähre, sich nicht wenig verwun-
derten. Gar bald aber kamen diese
auf die Vermulhung, dass Zwei-
äuglein, die doch sonst auch die
schlechte Kost nicht verschmäht
hatte, ein Mittel ausfindig gemacht
haben müsse, wodurch sie sich, wenn
sie vom Hause entfernt und mit der
Ziege auf der Weide sei, ihren Unter-
halt erwerbe.
Um nun hierbei hinter die Wahr-
heit zu kommen, musste das nächste
Mal, als Zweiäuglein wieder mit der
Ziege auf die Weide ging, Einäuglein
mitgehen, um dem Mittel, dessen
sich Zweiäuglein zu ihrer Sättigung
bediene, auf die Spur zu kommen.
Zweiäuglein aber merkte gar bald,
was man gegen sie im Schilde führe,
und nahm sich vor, ihre Nachsteller,
der angewandten Vorsicht unge-
achtet, zu täuschen. Sie wusste es
durch allerhand Liebkosungen so
weit zu bringen, dass Einäuglein
sich auf den Feldrain in das weiche
Gras zu ihr setzte; nun aber suchte
sie sie einzuschläfern, indem sie ihr
allerlei langweilige Märlein erzählte
und ihr, da sie nun bald einschlafen
wollte, immer vorsang:
Einäuglein wachst Du?
Einäuglein schläfst Du?
Und hiermit gelang es ihr, Einäug-
lein in einen festen Schlummer zu
singen, was sie von Herzen freuete,
seiner Ziege hinaus und liess auch
die paar Brocken, die ihm gereicht
wurden, liegen. Das erste Mal und
das zweite Mal achteten es die
Schwestern nicht, wie es aber jedes-
mal geschah, merkten sie auf und
sprachen, „es ist nicht richtig mit
dem Zweiäuglein, das lässt jedesmal
das Essen stehen, und hat doch sonst
alles aufgezehrt, was ihm gereicht
wurde: das muss andere Wege ge-
funden nahen." Damit sie aber
hinter dio Wahrheit kämen, sollte
Einäuglein mitgehen, wenn Zwei-
äuglein die Ziege auf die Weide
trieb, und sollte Acht haben, was es
da vorhätte, und ob ihm jemand etwa
Essen und Trinken brächte.
Als nun Zweiäuglein die Ziege
wieder hinaustrieb, trat Einäuglein
zu ihm und sprach: „ich will mit
ins Feld und sehen, dass die Ziege
auch recht gehütet und ins Futter
getrieben wird." Aber Zweiäuglein
merkte, was Einäuglein im Sinne
hatte, und trieb die Ziege hinaus in
hohes Gras und sprach: „komm Ein-
äuglein, wir wollen uns hinsetzen,
ich will dir was vorsingen." Ein-
äuglein setzte sich hin und war von
dem ungewohnten Weg und von der
Sonnenhitze müd, und Zweiäuglein
sang immer
„Einäuglein, wachst du?
Einäuglein, schläfst du?"
Da tat Einäuglein das eine Auge zu
und schlief ein. Und als Zweiäug-
sah, dass Einäuglein fest schlief und
nichts verraten konnte, sprach es
„Zicklein, meck,
Tischloin, deck",
und setzte sich an sein Tischlein
und ass und trank bis es satt war,
dann rief es wieder
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— 134 —
denn ungeseheuet sprach sie nun
das goldene Sprüchlein:
Zicklein meck!
Tischlein deck!
ass und trank und war guter Dingo;
und als sie dessen genug hatte,
sprach sie wieder:
Zicklein meck!
Tischlein weg!
und Tischlein und Speisen waren
alshald wieder verschwunden, also
dass Einäuglein, die unterdessen
ruhig fortgeschlafen, nicht das ge-
ringste davon innen worden war.
Nunmehr aber, da es Kssenszeit und
Zeit zum Nachhausegehen war,
weckte Zweiäuglein ihre Schwester
Einäuglein und ermahnte sie zur
Heimkehr.
Ob nun wohl auch heute die
Mahlzeit von Zweiäuglein fast mit
dem Rücken angesehen wurde, so
wusste Einäuglein dennoch der
Mutter den Grund davon keines-
wegs anzugehen.
Nachdem nun die Mutter solcher-
gestalt immer noch nicht dahinter
gekommen war, wie wohl Zwei-
äuglein auf andere Weise sich zu
ernähren wissen möge, so gab sie
Zweiäuglein am andern Tage ihre
älteste Schwester Dreiäuglein mit
auf die "Weide, vermeinend, dass
diese, was Einäuglein mit ihrem
einen Auge nicht zu gewahren im
Stande gewesen sein möchte, mit
ihren drei Augen doch wohl in
Obacht nehmen würde. Aber auch
diese suchte Zweiäuglein auf die
nämliche Art, wie sie bereits gestern
bei Einäuglein gethan, einzuschläfern.
Allein da sie anstatt
Dreiäuglein wachst Du?
Dreiäuglein schläfst. Du?
„Zicklein, meck,
Tischlein, weg"
und es verschwand alles und Zwei-
äuglein weckte nun das Einäuglein
und sprach: „Ei, Einäuglein, du
willst hüten und schläfst dabei ein,
derweil hätte die Ziege in alle Welt
laufen können; komm, wir wollen
nach Haus gehen." Da gingen sie
nach Haus und Zweiäuglein liess
wieder sein Schüsselchen unange-
rührt stehen und Einäuglein konnte
der Mutter nicht sagen, warum es
nicht essen wollte und sprach „ich
war draussen eingeschlafen".
Am andern Tag sprach die Muttor
zu Dreiäuglein, diesmal sollst du
mitgehen und acht haben, ob Zwei-
äuglein draussen isst, und ob ihm
jemand Essen und Trinken bringt,
denn essen und trinken muss es
doch. Da trat Dreiäuglein zu Zwei-
äuglein und sprach: „ich will mit-
gehen und sehen, ob auch die Ziege
recht gehütet und ins Futter ge-
trieben wird." Aber Zweiäuglein
merkte, was Dreiäuglein im Sinne
halte und trieb die Ziege hinaus ins
hohe Gras und sprach, „wir wollen
uns dahin setzen, Dreiäuglein, ich
will dir was vorsingen." Dreiäug-
lein setzte sich und war müde von
dem Weg und der Sonnenhitze, und
Zweiäuglein hub wieder das vorige
Liedlein an und sang
„Dreiäuglein, wachst du?"
Aber statt dass es nun singen musste
„Dreiäuglein, schläfst du?"
sang es aus Unbedachtsamkeit
„Zweiäuglein, schläfst du?"
und sang immer
„Dreiäuglein, wachst du?
Zweiäugloin, schläfst du?"
Da fielen dem Dreiäuglein seine
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— 135 —
ihr vorzusingen, aus Unbedacht-
samkeit
Drei auglein wachst Du?
Zweiäuglein schläfst Du?
sang: so war das dritte Auge Drei-
äugleins, ohne dass Zweiäuglein es
bemerkte, immerfort wachend ge-
blieben, ob sie es gleich wie schla-
fend immer zugeblinzt hatte.
Dreiäuglein hatte also mit ihrem
drittem Auge gar wohl in Obacht
genommen, was Zweiäuglein mittler-
weilen mit der Ziege vorgenommen,
und hatte es gar wohl mit angehört,
wie sie durch das Sprüchlein
Zicklein meck!
Tischlein deck!
sich ein gar herrliches Mahl be-
reitet und wieder durch das Sprüch-
lein
Zicklein meck!
Tischlein weg!
solches vor aller Augen verborgen
hatte; und froh wegen solcher Ent-
deckung, berichtete nun Dreiäuglein
bei ihrer Nacbhausekunft solches
alles haarklein der Mutter. Diese
aber war hierüber so zornig, dass
sie sogleich den Untergang jener
Ziege boschloss und sie auch wirk-
lich alsbald schlachtete. Hierdurch
nun ward das gute Zweiäuglein in
die äusserste Betrübnis versetzt,
weil sie nun des Mittels wieder be-
raubt war, sich für allen Mangel
und Kummer schadlos zu halten.
Trauernd setzte sie sich einsam auf
den gewohnten Feldrain und weinte
bitterlich. Siehe, da stand plötzlich
jene Fee wieder vor ihr, die ihr
schon einmal aus der Not geholfen
und fragte sie mit leutseliger Stimme,
was ihr immer noch fehle. Da klagte
ihr Zweiäuglein ihr neues Herzeleid
zwei Augen zu und schliefen, aber
das dritte, das von dem Sprüchlein
nicht angeredet war, schlief nicht
ein, doch Dreiäuglein tat es zu, aber
aus List gleich als schlief es auch
damit: doch blinzelte es und konnte
alles gar wohl sehen. Und als Zwoi-
äuglein meinte, Dreiäuglein schlafe
fest, sagte es sein Sprüchlein
„Zicklein, meck
Tischlein, deck",
ass und trank nach Herzenslust und
hiess dann das Tischlein wieder
fortgehen,
„ Zicklein, meck
Tischlein, weg",
und Dreiäuglein hatte alles mit an-
gesehen. Da kam Zweiäuglein zu
ihm, weckte es und sprach, „ei Drei-
äuglein, bist du eingeschlafen? du
kannst gut hüten! komm wir wollen
heim gehen." Und als sie nach Hau9
kam, ass Zweiäuglein wieder nicht,
und Dreiäuglein sprach zur Mutter
„ich weiss nun, warum das hoch-
mütige Ding nicht isst: wenn sie
draussen zur Ziege spricht:
„Zicklein, meck,
Tischlein, deck",
so steht ein Tischlein vor ihr, das
ist mit dem besten Essen besetzt,
viel besser, als wir's hier haben;
und wenn sie satt ist, so spricht sie
„Zicklein, meck
Tischlein, weg",
und alles ist wieder verschwunden;
ich hab es genau mit angesehen.
Zwei Augen hatte sie mir mit einem
Sprüchlein eingeschläfert, aber das
eine auf der Stirne, das war zum
Glück wach geblieben:" Da rief die
Mutter zornig „willst du's besser
haben als wir? die Lust soll dir
vergehen!" Sie holte ein Schlacht-
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- 136 —
und fragte sie treuherzig: ob ihr
nun noch was für ihr Wohl zu thun
übrig sei? Die Fee aber hatte auch
diesmal guten Rath für sie und sagte :
sie solle sich nur die Eingeweide
von der geschlachteten Ziege geben
lassen, diese aber an der Hausthüre
vergraben, daraus würde unfehlbar
ihr künftiges Glück erwachsen.
Ob nun wohl diese Zusage dem
guten Zweiäuglein sehr wundersam
vorkommen musste, so beschloss sie
doch dem Rathe jener Fee, zu der
sie einmal ein unbegrenztes Zu-
trauen gefasst hatte, zu folgen, ver-
meinend, dass es doch alles gewiss-
lich zu ihrem Besten dienen werde.
Sie begab sich daher alsbald nach
Hause und bat die Mutter flehentlich,
dass, wenn man ihr auch sonst an
der geschlachteten Ziege keinen An-
teil zu lassen gemeinet sei, man ihr
doch wenigstens das Eingeweide zu-
kommen lassen solle; und wirklich
fand auch die Mutter, nichts Arges
dabei vermeinend, kein Bedenken,
sondern erfüllte ihr Begehren.
Zweiäuglein nun vergrub bei
Sonnenuntergang in aller Stille das
vielverheissende Geschenk, hoffend
und harrend, wann? wie? und was
für Glück ihr daraus erwachsen
könne. Und siehe da! kaum war
am nächsten Morgen die Mutter
nebst ihren drei Töchtern vom Schlaf
erwacht, so erblickten sie vor den
Fenstern einen wunderschönen Baum
mit silbernen Blättern und goldenen
Früchten hoch am Hause empor ge-
wachsen und Zweiäuglein gewahrte
zu ihrer nicht geringen Freude, wie
der wunderschöne Baum eben da
aus der Erde emporgesprossen war,
wo sie gestern den wunderbaren
messor und stiess es der Ziege ins
Herz, dass sie tot hinfiel.
Als Zweiäuglein das sah, ging es
voll Trauer hinaus, setzte sich auf
den Feldrain und weinte seine
bitteren Tränen. Da stand auf ein-
mal die weise Frau wieder neben
ihm und sprach „Zweiäuglein, was
weinst du?" — „Soll ich nicht
weinen! 4 antwortete es, „die Ziege,
die mir jeden Tag, wenn ich Euer
Sprüchlein hersagte, den Tisch so
schön deckte, ist von meiner Mutter
tot gestochen, nun muss ich wieder
Hunger und Kummer leiden." Die
weise Frau sprach „Zweiäuglein, ich
will dir einen guten Rat erteilen,
bitt deine Schwestern, dass sie dir
das Eingeweide von der geschlach-
teten Ziege geben und vergrab es
vor der Haustür in die Erde, so
wird's dein Glück sein." Da ver-
schwand sie und Zweiäuglein ging
heim und sprach zu den Schwestern :
„liebe Schwestern, gebt mir doch
etwas von meiner Ziege, ich ver-
lange nichts Gutes, gebt mir nur
das Eingeweide." Da lachten sie
und sprachen: „das können wir dir
wohl geben, wenn du weiter nichts
willst." Und Zweiäuglein nahm das
Eingeweide und vergrub's abends
in aller Stille nach dem Rate der
weisen Frau vor die Haustüre. Am
andern Morgen, als sie insgesamt
erwachten und vor die Haustüre
traten, so stand da ein wunderbarer
prächtiger Baum, der hatte Blätter
von Silber und Früchte von Gold
hingen dazwischen, dass wohl nichts
schöneres und köstlicheres auf der
weiten Welt war. Sie wussten aber
nicht, wie der Baum in der Nacht
gewachsen war, nur Zweiäuglein
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— 137 —
Samen der Erde anvertraut hatte.
Nun aber stieg gar bald das Ver-
langen in einer jeden von ihnen auf,
sich der schönen Früchte und Hlätter
jenes Baumes teilhaftig zu machen.
Allein nur vergebens gaben sich
sowohl die Mutter als Einäuglein
und Dreiäuglein Mühe, den Wunder-
baum zu ersteigen, oder etwas davon
sich abzupflücken; denn ob sie gleich
mit leichter Mühe bald hinauf waren,
so entwich gleichwie es dem Tan-
talus in jener heidnischen Fabel er-
gieng, doch allemal jede Frucht und
jeder Zweig ihren Händen, wenn sie
darnach fassen wollten: und rück-
lings fielen sie dann nur noch
schneller hinunter als sie hinauf-
gestiegen waren.
Einzig und allein Zweiäuglein, der
jener Baum zum Eigentum angehörte,
war so glücklich, sich davon ab-
pflücken zu können, soviel sie nur
wollte, denn nur ihr war es ver-
gönnt, ungefährdet hinauf und hin-
unter steigen zu können. Darum
ward sie denn auch von ihren
Schwestern nicht wenig beneidet
und verfolgt, und daher kam es denn
auch, dass, da eben, als sie Alle um
jenen Baum versammelt standen,
ein fremder, junger schöner Herr
herangeritten kam, Zweiäuglein samt
ihren goldenen Früchten unter ein
grosses, leeres Fass versteckt wurde,
denn die übrigen glaubten, dass der
schöne fremde Ritter sie selbst ganz
aus der Acht lassen möchte, wenn
Zweiäuglein, die obendrein schöner
als sie war, ihnen mit den Wunder-
früchten zur Seite stände, woran sie
denn auch wohl nicht unrecht haben
mochten.
Kaum war nun der schöne fremde
merkte es, dass er aus den Einge-
weiden der Ziege aufgesprosst war,
denn er stand gerade da, wo sie es
hinbegraben hatte. Da sprach die
Mutter zu Einäuglein: „steig hinauf,
mein Kind, und brich uns die Früchte
von dem Baume ab. u Einäuglein
stieg hinauf, aber wie es einen von
den goldenen Äpfeln greifen wollte,
da fuhr ihm der Zweig aus den
Händen; und das geschah jedesmal,
so dass es keinen einzigen Apfel
brechen konnte, es mochte sich an-
stellen, wie es wollte. Da sprach
die Mutter: „Dreiäuglein, steig du
hinauf, du kannst mit deinen drei
Augen besser um dich schauen als
Einäuglein." Einäuglein rutschte
herunter und Dreiäuglein stieghinauf.
Aber Dreiäuglein war nicht ge-
schickter und mochte schauen wie
es wollte, die goldenen Äpfel wichen
immer zurück. Endlich ward die
Mutter ungeduldig und stieg selbst
hinauf, konnte aber so wenig wie
Einäuglein und Dreiäuglein die
Frucht fassen und griff immer in
die leere Luft, Da sprach Zweiäug-
lein: „ich will mich einmal hinauf-
machen, vielleicht gelingt niir's eher."
Die Schwestern riefen zwar, „du mit
deinen zwei Augen, was willst du
wohl!" Aber Zweiäuglein stieg hinauf,
und die goldenen Äpfel zogen sich
nicht vor ihm zurück, sondern liessen
sich von selbst in seine Hand herab,
also dass es einen nach dem andern
abpflücken konnte und ein ganzes
Schürzchen voll mit herunter brachte.
Die Mutter nahm sie ihm ab, und
statt dass sie, Einäuglein und Drei-
äuglein, dafür das arme Zweiäuglein
hätten besser behandeln sollen, so
wurden sie nur neidisch, dass es
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Hilter näher gekommen so halte er
auch schon den wunderroichen Baum
ins Auge gefasst und begehrete von
den Mägdleins, das« sie ihm doch
einen Zweig gehen möchten von dem
so glänzenden und schönen Baume.
Solches nun war den beiden Mägd-
lein sehr erwünscht und sie strengten
nun eine nach der andern nochmals
ihre Kräfte auf das schär fste an, um
dem schönen Baume eine Frucht
abzugewinnen, die sie dem Fremden
verehren könnten ; keiner aber mochte
es, ebensowenig wie bisher, gelingen ;
und ebenso erging es der Mutter,
die so gern ihren lieben Töchtern
auf diesem Baume zu einem Manne
verholfen hätte.
Da verwunderte sich der schöne
fremde Herr nicht wenig, wie Jemand
Herr des Baumes, nicht aber auch
zugleich Herr von dessen Früchten
und Blättern sein könne und meinte,
es müsse doch notwendig wohl noch
sonst jemand im Hause sein, dem
dieser Baum gehöre und der Macht
über denselben habe; und er fragte
auch zum öftern, ob sich dieses nicht
also verhalte? Doch sowohl Mutter
als Kinder leugneten es standhaft
und beharrten darauf, dass ausser
ihnen niemand hier sei und der
Baum niemand Anderm angehöre,
als ihnen.
Über solche Reden aber ärgerte
sich Zweiäuglein, die das alles unter
dem Fasse ruhig hatte mit anhören
müssen, nicht wenig und um den
Fremden von der l'nwahrheit der-
selben zu überzeugen, schob sie
einige der glänzenden, goldenen
Früchte unter dem Fasso hervor zu
seinen Füssen. Kaum hatte der
Fremde dies zu seiner nicht geringen
allein die Früchte holen konnte und
gingen noch härter mit ihm um.
Es trug sich zu, als sie einmal
beisammen an dem Baum standen,
dass ein junger Hilter daher kam.
..Geschwind, Zweiäuglein", riefen
die zwei Schwestern, „kriech unter,
dass wir uns deiner nicht schämen
müssen 44 , und stürzten über das
arme Zweiäuglein in aller File ein
leeres Fass, das gerade neben dem
Baume stand, und schoben die gol-
denen Apfel, die es abgebrochen
hatte, auch darunter. Als nun der
Ritter näher kam, war es ein schöner
Herr, der hielt still, bewunderte den
prächtigen Baum von Gold und
Silber und sprach zu den beiden
Schwestern, „wem gehört dieser
schöne Baum? wer mir einen Zweig
davon gäbe, könnte dafür verlangen,
was er wollte. 44 Da antworteten Ein-
äuglein und Dreiäuglein, der Baum
gehörte ihnen zu, und sio wollten
ihm einen Zweig wohl abbrechen.
Sie gaben sich auch beide grosse
Mühe, aber sie waren es nicht im-
stande, denn die Zweige und Früchte
wichen jedesmal vor ihnen zurück.
Da sprach der Ritter, „das ist ja
wunderlich, dass der Baum euch
zugehört und ihr doch nicht Macht
habt, etwas davon abzubrechen. 44 Sie
blieben dabei, der Baum wäre ihr
Eigentum. Indem sie aber so sprachen,
rollle Zweiäuglein unter dem Fasse
ein paar goldene Apfel heraus, so
dass sie zu den Füssen des Ritters
liefen, denn es war bös, dass Ein-
äuglein und Dreiäuglein nicht die
Wahrheit sprachen. Wie der Ritter
die Äpfel sah, erstaunte er und
fragte, wo sie herkämen. Einäuglein
und Dreiäuglein antworteten, sie
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Verwunderung' gewahrt, so drang
er nun auch darauf, das diejenige,
welche hier notwendig unter jenem
Fasse verborgen sein müsse, und
die durch den Besitz der schönen
goldenen Früchte dargethan habe,
dass sie Macht über jenen Kaum
habe, hervorgelassen werden möge.
Nun aber konnten Mutter und
Geschwister nicht länger abwehren,
Zweiäuglein kam getrost unter dem
Fasse hervor, verhoffend, dass der
Fremde sie gegen alle und jede
Feindseligkeit derlhrigen beschützen
würde. Sie sagto es demnach frei
heraus, dass der wunderreiche Baum
mit den schönen Früchten Niemand
andern angehöre, denn ihr allein,
stieg zum Beweis dessen behend
und ungehindert hinauf, brach den
allerschönsten Zweig mit den glän-
zendsten Früchten davon ab und
verehrte solchen gar bescheidentlich
dem schönen fremden Herrn.
Dieser nun, nicht wenig erfreut
darüber, seines Wunsches teilhaftig
geworden zu sein, fragte Zweiäuglein
freundlichst, wie er sie wohl für
solche Gefälligkeit belohnen könne?
Sie aber bat ihn flehentlich, dass er
sich ihrer möge annehmen, und sie
erlösen aus dem mütterlichen Hause,
wo man ihr so lieblos begegne. Dies
versprach der Fremde, — die Mutter
und Schwestern aber mochten es
gar gerne und gar uugerne mit an-
sehen, wie der schöne, junge Ritter
Zweiäuglein sich auf sein Rösslein
nahm und munter mit ihr davon
trabte. Denn so sehr es sie auch
ergötzte, des ihnen verhassten Zwei-
äugleins nunmehr entübriget zu sein,
eben so sehr beneideten sie dasselbe
dennoch um die guten Tage, die ihm
hätten noch eine Schwester, die dürfe
sich aber nicht sehen lassen, weil
sie nur zwei Augen hätte, wie andere
gemoine Menschen. Der Kitter aber
verlangle sie zu sehen und rief
„Zweiäuglein, komm hervor". Da
kam Zweiäuglein ganz getrost unter
dorn Fass hervor, und der Ritter
war verwundert über seine grosse
Schönheit und sprach: „Du, Zwei-
äuglein, kannst mir gewiss einen
Zweig von dem Kaum abbrechen."
— „Ja", antwortete Zweiäuglein, „das
will ich wohl können, denn der Kaum
gehört mir." Und stieg hinauf und
brach mit leichter Mühe einen Zweig
mit feinen silbernen Blättern und
goldenen Früchten ab, und reichte
ihn dem Ritter hin. Da sprach der
Ritter: „Zweiäuglein, was soll ich
dir dafür geben?" „Ach", antwortete
Zweiäuglein, „ich leide Hunger und
Durst, Kummer und Not vom frühen
Morgen bis zum späten Abend : wenn
Ihr mich mitnehmen und erlösen
wollt, so wäre ich glücklich."
Da hob der Ritler das Zweiäuglein auf
sein Pferd und brachte es heim auf
sein väterliches Schloss: dort gab
er ihm schöne Kleider, Essen und
Trinken nach Herzenslust, und weil
er es so lieb hatte, liess er sich mit
ihm einsegnen, und ward die Hoch-
zeit in grosser Freude gehalten.
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— 140 —
nun bei dem schönen fremden Herrn,
mit dem eine jede von ihnen gar
gern bis ans Ende der Welt geritten
wäre, zu Theil werden würden.
Zu ihrem Tröste war ihnen jedoch
der wunderreiche Baum mit seinen
schönen Früchten geblieben, der
ihnen, wenn auch nicht seine Früchte,
doch aber grossen Ruhm gewähren
könnte. Wie sehr aber trauerten
sie, als der schöne Baum samt seinen
Früchten am nächsten Morgen vor
ihren Augen verschwunden war;
doch, wie sehr freuete sich Zwei-
äuglein in ihrem schönausgezierten,
hochadlichen Kämmerlein, als eben
jener Baum samt seinen schönen
Früchten am nächsten Morgen vor
ihrem Fenster prangte: denn ihr,
der er einzig und allein angehörte,
war er nachgefolgt.
Ob solcher schönen Mitgift schätzte
nun der junge Ritter Zweiäuglein
noch einmal so hoch, verhielt sie
überaus gut im Essen und Trinken,
gab ihr die allorschönsten Kleider
und Hess sie unterweisen in allen
Künsten ihres Geschlechts und reichte
ihr endlich aus übergrosser Liebe
am Traualtare seine Hand.
Als Gemahlin dieses schönen
Ritters lebte Zweiäuglein nur noch
glücklicher, und es machte ihr nichts
grössere Freude als von dem, was
ihr so reichlich zugeteilt war, mit-
teilen zu können denen, die nichts
hatten.
Schon lange Jahre waren ihr so
vergangen, als auch einstmals zwei
Frauen ihre bekannte Güte und
Leutseligkeit ansprachen, weil sie
vor Armut verderben zu müssen er-
achteten. Zweiäuglein, die nunmehr
reiche Edelfrau, erkannte alsbald in
Wie nun Zweiäuglein so von dem
schönen Rittersmann fortgeführt
wurde, da waren die zwei Schwestern
recht neidisch über sein Glück.
„Nun, der wunderbare Baum bleibt
uns", dachten sie, „können wir auch
keine Früchte davon brechen, so
wird doch jedermann davor stehen
bleiben, zu uns kommen und ihn
rühmen; wer weiss, was uns noch
für ein Glück blüht." Aber am
andern Morgen war ihr Baum ver-
schwunden und ihre Hoffnung dahin.
Und wie Zweiäuglein zu seinem
Kämmerlein hinaussah, so stand er
zu seiner grossen Freude davor und
war ihm also nachgegangen.
Zweiäuglein lebte lange Zeit ver-
gnügt; da kamen einmal zwei arme
Frauen zu ihm auf das Schloss und
baten um ein Almosen.
Da sah ihnen Zweiäuglein ins Gesicht
und erkannte ihre Schwestern Ein-
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— 141 —
ihnen ihre beiden Schwestern, be-
schloss aber bei sich. Roses mit
Gutem zu vergellen, und überhäufle
daher dio beiden Frauen, die es
nicht ahndeten, wer ihnen solches
zu Liebe thät, mit Wohlthalen und
Geschenken und behielt und ver-
pflegte sie bei sich auf zeitlebens.
Jene aber, als sie endlich dahinter
kamen, und das gute Herz sich ihnen
offenbarte, bereueten es sehr, sie in
ihrer .Jugend, da sie noch bei und
unter ihnen war, so gedrückt zu
haben, und baten es ihr alles ab.
was sie ihr ohne Schuld und Ursache
ehedem angethan hatten.
Grimm, 1. Auflage.
Der Jud' im Dorn.
Ein Rauer hatte einen gar getreuen
und fleissigen Knecht, der diente
ihm schon drei Jahre, ohne dass er
ihm seinen Lohn bezahlt halte. Da
fiel es ihm endlieh bei, dass er doch
nicht ganz umsonst arbeiten wollte,
ging vor seinen Herrn und sprach:
„ich habe euch unverdrossen und
redlich gedient die lange Zeit, darum
so vertraue ich zu euch, dass ihr
mir nun geben wollt, was mir von
Gottes Recht gebührt." Der Rauer
aber war ein Filz und wusste, dass
der Knecht ein einfältiges Gemüt
hatte, nahm drei Pfennige und gab
sie ihm, für jedes Jahr einen Pfennig,
damit wäre er bezahlt. Und der
Knecht meinte ein grosses Gut in
Händen zu haben, dachte: „was
willst du dir's länger sauer werden
lassen, du kannst dich nun pflegen
und in der Welt frei lustig machen."
Stockte sein grosses Geld in den
Sack und wanderte fröhlich über
Rerg und Thal.
äuglein und Dreiäuglein, die so in
Armut geraten waren, dass sie umher-
ziehen und vor den Türen ihr Rrot
suchen mussten. Zweiäuglein aber
hiess sie willkommen und tat ihnen
Gutes und pflegte sie, also dass die
beiden von Herzen bereuten, was
sie ihrer Schwester in der Jugend
Rösch angetan hatten.
3. Auflage.
Der Jude im Dorn.
Ks war einmal ein reicher Mann,
der hatte einen Knecht, der diento
ihm fleissig und redlich, war alle
Morgen der erste aus dem Rett und
Abends der letzte hinein, und wenns
eine saure Arbeit gab, wo keiner
anpacken wollte, so stellte er sich
immer zuerst daran. Dabei klagte
er nicht, sondern war mit allem zu-
frieden und immer guter Dinge.
Als sein Jahr herum war, gab ihm
der Hen* keinen Lohn und dachte:
„das ist das gescheitste, so spare ich
etwas und er geht nicht weg, son-
dern bleibt hübsch im Dienst." Der
Knecht schwieg auch still, that das
zweite Jahr wie das erste seine Ar-
beit, und als er am Ende desselben
abermals keinen Lohn bekam, Hess
er sichs gefaUen und blieb noch
länger. Als endlich das dritte Jahr
herum war, bedachte sich der Herr,
griff in die Tasche, holte aber nichts
heraus. Da ring der Knecht endlich
an und sprach: „Herr, ich habe Euch
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— 142 —
Wie er auf ein Feld kam singend
und springend, erschien ihm ein
kleines Männlein, das fragte ihn
seiner Lustigkeit wegen? „Ei, was
sollt' ich trauren, gesund bin ich,
und Geldes hab' ich grausam viel,
brauche nichts zu sorgen; was ich
in drei Jahren bei meinem Herrn
verdient, das hab ich gespart und
ist all' mein." „Wie viel ist denn
deines Guts?" sprach das Männlein.
„Drei ganzer Pfennig", sagto der
Knecht. „Schenk' mir deine drei
Pfennige, ich bin ein armer Mann."
Der Knecht war aber gutmütig, er-
barmlo sich und gab sie hin. Sprach
der Mann: „weil du reines Herzens
bist, sollen dir drei Wünsche er-
laubt seyn, für jeden Pfennig einer,
so hast du was dein Sinn begehrt."
Das war der Knecht wohl zufrieden,
dachte, Sachen sind mir lieber als
Geld und sprach: „erstens wünsche
ich mir ein Vogelrohr, das alles
trifft, was ich ziele, zweitens eine
Fiedel, wenn ich die streiche, muss
alles tanzen, was sie hört; drittens,
worum ich die Leute bitte, dass sie
es mir nicht abschlagen dürfen."
Dass Männchen sagte: „alles sey dir
gewährt", und stellte ihm Fiedel und
Vogelrohr zu ; darauf ging es seiner
Wege.
Mein Knecht aber, war er vorher
froh gewesen, dünkte er sich jetzt
noch zehnmal froher und ging nicht
lange zu, so bogegnote ihm ein alter
Jude. Da stand ein Baum und oben-
drauf auf dem höchsten Zweig sass
eine kleine Lerche und sang und
sang. „Gotts Wunder, was so ein
Thierlein kann, hätt' ich's, gäb' viel
darum." Wenn es weiter nichts ist,
die soll bald herunter", sagte der
drei Jahre ehrlich gedient, seid so
gut und gebt mir, was mir von
Rechts wegen zukommt; ich wollte
fort und mich gerne weiter in der
Welt umsehen." Da antwortete der
Geizhals: ,ja, mein lieber Knecht,
du hast mir unverdrossen gedient,
dafür sollst du mildiglich belohnt
werden", griff abermals in die Tasche
und zählte dem Knecht drei Heller
einzeln auf, „da hast du für jedes
Jahr einen Heller, das ist ein grosser
und reichlicher Lohn, wie du ihn
bei wenigen Herrn empfangen hättest.
Der gute Knecht, der vom Geld
wenig verstand, strich sein Kapital
ein und dachte: „nun hast du vollauf
in der Tasche, was willst du sorgen
und dich mit schwerer Arbeit länger
plagen."
Da zog er fort, bergauf, bergab,
sang und sprang nach Herzenslust.
Nun trug es sich zu, als er an ein
Buschwerk vorüberkam, dass ein
kleines Männchen hervortrat und
ihn anrief: „Wohinaus, BruderLustig?
ich sehe du trägst nicht schwer an
deinen Sorgen." „Was soll ich
traurig sein", antwortete der Knecht,
ich habe vollauf, der Lohn von drei
Jahren klingelt in meiner Tasche."
„Wieviel ist denn deines Schatzes?"
fragte ihn das Männchen. „Wieviel?
drei bare Heller richtig gezählt."
„Hiire", sagte der Zwerg, „ich bin
ein armer bedürftiger Mann, schenke
mir deine drei Heller; ich kann
nichts arboiten, du aber bist jung
und kannst dir dein Brot leicht ver-
dienen." Und weil der Knecht ein
gutes Herz hatte und Mitleid mit
dem Männchen fühlte, so reichte er
ihm seine drei Heller und sprach:
„in Gottes Namen, es wird mir doch
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Knecht, setzte sein Rohr an und
schoss die Lerche auf das Haar,
dass sie den Baum herahflel, „gehet
hin und leset sie auf", .sie war aber
ganz lief in die Dörner unten am
Baum hineingefallen. Da kroch der
Jud' in den Busch, und wie er mitten
drin stack, zog mein Knecht seine
Fiedel und geigte, llng der Jud' an
zu tanzen und hatte keine Buh,
sondern sprang immer stärker und
höher: der Dorn aher zerstach seine
Kleider, dass die Fetzen herum
hingen und ritzte und wundete ihn,
dass er am ganzen Leihe blutete.
„Gotls willen, schrie der «Jud', lass
der Herr sein Geigen seyn, was hah'
ich verbrochen?" Die Leute hast
du genug geschunden, dachte der
lustige Knecht, so geschieht dir kein
Unrecht, und spielte einen neuen
Hüpfauf. Da legte sich der Jud'
auf Bitten und Versprechen und
wollte ihm Geld geben, wenn er
aufhörte, allein das (Jehl war dem
Knecht erst lange nicht genug und
trieb ihn immer weiter bis der Jud'
ihm hundert harte Gulden verhiess,
die er im Beutel führte und eben
einem Christen abgeprellt hatte. Wie
mein Knecht das viele Geld sah,
sprach er: „unter dieser Bedingung
ja tt , nahm den Beutel und stellte
sein Fiedeln ein; darauf ging er
ruhig und vergnügt weiter die
Strasse.
Der Jud' riss sich halb nackicht
und armselig aus dem Dornstrauch,
üherschlug,wie ersieh rächen möchte
und fluchte dem Gesellen alles Böse
nach. Lief endlich zum Richter,
klagte, dass er von einem Bösewicht
unverschuldeterweise seines Geldes
beraubt und noch dazu zerschlagen
nicht fehlen." Da sprach das Männ-
chen: „weil ich dein gutes Herz sehe,
so gewähre ich dir drei Wünsche,
für jeden Heller einen, die sollon
dir in Erfüllung gehen. „Aha'-,
sprach der Knecht, „du bist einer,
der blau pfeifen kann. Wohlan,
wenn's doch sein soll, so wünsche
ich mir erstlich ein Vogelrohr, das
alles trifft, wonach ich ziele; zweitens
eine Fidel, wenn ich darauf streiche,
so rauss alles tanzen, was den Klang
hört, und drittens, wenn ich an
jemand eine Bitte thue, so darf er
sio nicht abschlagen 44 ,.Das sollst
du alles haben", sprach das Männ-
chen, griff in den Busch, und, denk
einer, da lag schon Fidel und Vogel -
rohr in Bereitschaft, als wenn sie
bestellt wären. Er gab sie dem
Knecht und sprach: „Was du dir
immer erbitten wirst, kein Mensch
auf der Welt soll dir's abschlagen."
„Herz, was begehrst du nun?"
sprach der Knecht zu sich selber
und zog lustig weiter. Bald darauf
begegnete er einem Juden mit einem
langen Ziegenbart, der stand und
horchte auf den Gesang eines Vogels,
der hoch oben in der Spitze eines
Baumes sass. „Gottes Wunder!"
rief er aus, „so ein kleines Tier hat
so eine grausam mächtige Stimme!
wenn's doch mein wäre! wer ihm
doch Salz auf den Schwanz streuen
könnte!" „Wenu's weiter nichts ist",
sprach der Knecht, „der Vogel soll
bald herunter sein", legte an und
traf aufs Haar und der Vogel fiel
herab in die Dornhecken.
„Geh*, Spitzhuh", sagte er zum Ju-
den, „und hol dir den Vogel heraus."
„Mein", sprach der Jude, „lass der
Horr den Bub weg, so kommt ein
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— 144 -
wäre, dass os erbarmte, und der
Kerl, der es gothan hätte, trüge ein
Rohr auf dem Buckel und eine Goige
hinge an seinem Hals. Da sandto
der Richter Boten und Häscher aus,
die sollten den Knecht fahen, wo sie
ihn könnten sehen, der wurde bald
ertappt und vor Gericht gestellt. Da
klagte der Jud\ dass er ihm das
Geld geraubt hätte, der Knecht sagte:
„nein, gegeben hast du mir's, weil
ich dir aufgospielt habe". Aber der
Richter machte das Ding kurz und
verurtheilte meinen Knecht zum Tod
am Galgen. Schon stand er auf der
Leitersprosse, den Strick am Hals,
da sprach er: „Herr Richter, gewährt
mir eine letzte Bitte!" „Wofern du
nicht dein Leben bittost, soll sie ge-
währt seyn." „Nein, um mein Leben
ist's nicht, lasst mich noch eins auf
meiner Geige geigen zu guter Letzt."
Da schrie der Jud' : „Bewahre Gott !
erlaubt's ihm nicht! erlaubt's ihm
nicht!" Allein das Gericht sagte:
einmal ist es ihm zugestanden, und
dabei solls bewenden, auch durften
sie's ihm nicht weigern, weil er die
Gabe hatte, dass ihm keiner die Bitte
abschlug. Da schrie der Jud': „Bindet
mich fest, um Gotteswillen!" Mein
Knecht aber fasste seine Fiedel und
that einen Strich, da wankte alles
und bewegte sich, Richter, Schreiber
und Schergen, und den Jud' konnte
keinerbinden,underthat den zweUen
Strich, da Hess ihn der Henker los
und tanzte selber und wie er nun
ordentlich ins Geigen kam, tanzte
alles zusammen, Gericht und der
Jude vornen und alle Leute auf dem
Markt, die da wollten zuschauen.
Und anfangs ging's lustig, weil aber
das Geigen und Tanzen kein Ende
Hund gelaufen; ich will mir den
Vogel auflesen, weil Ihr ihn doch
einmal getroffen habt", legte sich
auf die Erdo, und fing an sich in
den Busch hinein zu arbeiten. Wie
er nun mitten in dem Dorn steckte,
plagte der Mutwill« den guten
Knecht, dass er seine Fidel abnahm
und anfing zu geigen. Gleich fing
auch der Jude an die Beine zu heben
und in die Höhe zu springen: und
je mehr der Knecht strich, desto
besser ging der Tanz. Aber dio
Dörner zerrissen ihm den schäbigen
Rock, kämmten ihm den Ziegenbart
und stachon und zwickten ihn am
ganzen Leib. „Mein", rief der Jude,
„was soll mir das Geigen! lass der
Herr das Geigen, ich begehre nicht
zu tanzen." Aber der Knecht hörte
nicht darauf und dachte, „du hast
dio Leute genug geschunden, nun
soll dir's die Dornhecke nicht besser
machen", und fing von neuem an,
zu geigen, dass der Jude immer
höher aufspringen musste und die
Fetzen von seinem Rock an den
Stacheln hängen blieben. „Au weih
geschrien!" rief der Jude, „geb ich
doch dem Herrn, was er verlangt,
wenn er nur das Geigen lässt, einen
ganzon Beutel mit Gold. „Wenn du
so spendabel bist", sprach der
Knecht, „so will ich wohl mit meiner
Musik aufhören, aber das muss ich
dir nachrühmen, du machst deinen
Tanz mit, dass es eine Art hat";
nahm darauf den Beutel und ging
seiner Wege.
Der .Jude blieb stehen und sah
ihm nach und war still, bis der
Knecht weit weg und ihm ganz aus
den Augen war, dann schrie er aus
Leibeskräften, „du miserabler Musi-
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kant, du Bierfledler: wart, wenn ich
dich allein erwische! ich will dich
jagen, dass du die Schuhsohlen ver
Heren sollst! du Lump, steck einen
Groschen ins Maul, dass du sechs
Heller wert bist", und schimpfte
weiter, was er nur losbringen konnte.
Und als er sich damit etwas zu
Gute gethan und Luft gemacht hatte,
lief er in die Stadt zum Richter.
„Herr Richter, au weih geschrien,
ich bin auf offener Landstrasse be-
raubt und übel zugerichtet worden
von einem gottlosen Menschen: ein
Stein auf dem Erdboden möchte sich
erbarmen: die Kleider zerfetzt, der
Leib zerstochen und zerkratzt, das
Geld samt den Beutel genommen!
lauter Dukaten, ein Stück schöner als das andere: um Gotteswillen, lasst
den Menschen ins Gefängnis werfen." Sprach der Richter: „War's ein
Soldat, der dich mit seinem Säbel so zugerichtet hat?" — „Gott bewahr!"
sagte der Jude, „einen nackten Degen hat er nicht gehabt, aber ein Rohr
hat er gehabt auf dem Buckel hangen und eine Geige am Hals, daran ist
er leicht zu erkennen." Der Richter schickte seine Leute nach ihm aus,
die fanden den guten Knecht, der ganz langsam weiter gezogen war, und
fanden auch den Beutel mit Gold bei ihm. Als er vor Gericht gestellt
wurde, sagte er: „Ich habe den Juden nicht angerührt und ihm das Geld
niehl genommen, er hat mir's aus freien Stücken angeboten, damit ich nur
aufhörte zu geigen, weil er meine Musik nicht vertragen konnte." „Gott
bewahr!" schrie der Jude, „der greift die Lügen wie Fliegen an der Wand."
Aber der Richter glaubte os auch nicht und sprach: „Das ist eine schlechte
Entschuldigung, das thut kein Jude", und verurteilte den guten Knecht,
weil er auf offener Strasse einen Raub begangen hätte, zum Galgen. Als
er aber abgeführt ward, schrie ihm noch der .Jude zu: „Du Bärenhäuter,
du Hundemusikant, jetzt kriegst du deinen wohlverdienten Lohn." Der
Knecht stieg ganz ruhig mit dem Henker die Leiter hinauf, auf der letzten
Sprosse aber drehte er sich um und sprach zum Richter: „Gewährt mir
noch eine Bitte, ehe ich sterbe." „Ja", sprach der Richter, „wenn du nicht
um dein Leben bittest?" „Nicht ums Leben", antwortete der Knecht, „ich
bitte, lasst mich zu guter Letzt noch einmal auf meiner Geige spielen."
Der Jude erhob ein Zetergeschrei: „Um Gotteswillen, erlaubt's nicht, er-
laubt's nicht." Allein der Richter sprach: „Warum soll ich ihm die kurzo
Freude nicht gönnen, es ist ihm zugestanden, und dabei soll es sein Be-
wenden haben." Auch konnte er es ihm nicht abschlagen, wegen der
Palaestra XLVIL 10
nahm, so schrien sie jämmerlich und
baten ihn abzulassen, aber er that's
nicht eher, bis ihm der Richter das
Leben nicht nur schenkte, sondern
auch versprach, die hundert Gulden
zu lassen. Und erst noch rief er
dem Juden zu: „Spitzbub' gesteh',
wo du das Geld her hast, sonst hör
ich dir nicht auf zu spielen." „Ich
hab's gestohlen, ich hab's gestohlen,
und du hattest es ehrlich verdient",
schrie der Jude, dass es alle hörten.
Da Hess mein Knecht die Geige
ruhen und der Schuft wurde für
ihn am Galgen gehängt.
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Gabe, die dem Knecht verliehen war. Der Jude aber rief: .,Au weih! an
weih! bindet mich an, bindet mich fest!" Da nahm der gute Knecht seine
Geige vom Hals, legte sie zurecht und wie er den ersten Strich that, fing
alles an zu wabern und zu wanken, der Richter, die Schreiber und die
Gerichtsdiener, und dem, welcher den Juden festbinden wollte, fiel der
Strick aus der Hand; beim zweiten Strich hoben alle die Beine, und der
Henker Hess den guten Knecht los und machte sich zum Tanze fertig;
bei dem dritten Strich sprang alles in die Höhe und fing an zu tanzen,
und der Richter und der Jude waren vorn und sprangen am besten. Bald
tanzte alles mit, was auf den Markt aus Neugierde herbeigekommen war,
alte und junge, dicke und magere Leute untereinander; sogar die Hunde,
die mitgelaufen waren, setzten sich auf die Hinterfüsse und hüpften mit.
Und je länger er spielte, desto höher sprangen die Tänzer, dass sie sich
einander an die Köpfe stiessen und anfingen jämmerlich zu schreien.
Endlich rief der Richter ganz ausser Atem: „Ich schenke dir dein Leben,
höre nur auf zu geigen." Der gute Knecht Hess sich bewegen, setzte die
Geige ab, hing sie wieder um den Hals und stieg die Leiter herab. Da
trat er zu dem Juden, der auf der Erde lag und nach Atem schnappte,
und sagte: „Spitzbube, jetzt gestehe, wo du das Geld her hast, oder ich
nehme meine Geige vom Hals und fange wieder an zu spielen." „Ich hab's
gestohlen, ich hab's gestohlen", schrie er, „du aber hast's redlich verdient."
Da liess der Richter den Juden zum Galgen führen und als einen Dieb
aufhängen.
Zu S. 37. Endlich seien noch \V. Grimms auch Musäus gegenüber
bedeutsame Worte aus der Vorrede zu den „Altdänischen Heldenliedern",
1811 S. XXVI angeführt:
„In den Märchen ist eine Zauberwelt aufgelan, die auch bei uns
steht, in heimlichen "Wäldern, im tiefen Meere, und den Kindern noch ge-
zeigt wird. Häufig kommt es vor, dass eine Mutter unwissend oder aus
Not ihr Kind verkauft hat an ein Ungeheuer, wie hier die Königin an
einen wilden Nachtraben, das es wegträgt, oder dessen Zauber dadurch
gelöst wird oder auch, dass der Bruder die verlorene Schwester aufsucht
und in Meeresgrund findet, wo sie ein wilder Zauberer in einem Wasser-
schloss hält, der das Menschenfleisch wittert, und vor dessen Wut ihn die
Schwester schützt, bis sie endlich erlöst werden. Hier muss man zuletzt
nüt dem armen Rosiner [No. 49J, der seine Frau selbst auf dem Rücken
unwissend aus dem Aleer tragt, und wie er sie unten nicht mehr findet,
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— 147 —
vor Leid ein Stein wird, Mitleid haben.*) Diese Märchen verdienen eint'
bessere Aufmerksamkeit, als man ihnen bisher geschenkt, nicht nur ihrer
Dichtung wegen, die eine eigene Lieblichkeit hat, und die einem jeden,
der sie in der Kindheit angehört, eine goldene Lehre und eine heitere
Erinnerung daran durchs ganze Leben mit auf den Weg gibt; sondern
auch, weil sie zu unsrer Nationalpoesie gehören, indem sich nachweisen
lässt, dass sie schon mehrere Jahrhunderte durch unter dem Volk gelebt."
•) „Auch Musäus hat dieses Märchen bearbeitet, aber in seiner Manier,
nicht einfach und gerad, wie wir es noch lieber hören: Kinder, nicht
anders."
Druck von Carl Salewski In Berlin N.
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PALAESTRA. W
Untersuchungen und Texte aus der deutsehen
und englischen Philologie.
t t
Herausgegeben
von
Alois Brandl, Gustav Roethe und Erich Schmidt.
XLVU.
Die literarischen Vorlagen der Kinder- und Hausmärchen
und ihre Bearbeitung durch die Brüder Grimm.
Von Hermann Hamann.
BERLIN.
MAYER X- MÜLLER.
1906
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Die Palaestra soll in einer freien Folge von Bänden eine Samm-
lung bilden, in welche Arbeiten aus den Seminaren der Herren Proff.
Drr. Alois Brandl, Gustav Roethe und Erich Schmidt und
auch andere wissenschaftliche Arbeiten aus den Gebieten der
deutschen und englischen Philologie aufgenommen werden, welche
von den Herren Herausgebern ihrer wissenschaftlichen Bedeutung
wegen hierzu empfohlen werden.
Erschienen sind:
1. THE GAST OF OY. Eine englische Dichtung des 14. Jahrhunderts nebst ihrer latei-
nischen Quelle De Spiritu Guldonis herausgegeben von Prof. Dr. G. Schleich. M. 8.—
2. Geliert* Lustspiele. Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Lustspiels von
Dr. J. Coym. M. 2,40
3. liuraermanns Merlin von Dr. Kurt Jahn. M. 'S —
4. Neue Beitrüge zur Kenntnis (Ick Yolbsriitsels von Dr. Robert Petsch. M. 3,60
5. Über die altgermaniscben relativsätze von 0 ustav Necke 1. M. 2,80
6. Die altengl. Bearbeitung d. Krzählung von spollonlus v. Tyrus v. Dr. B. Mar kisch. M. 1,60
7. Ueber die mitteleui:l.l ebersetznng des Speculum huinauae salrationis v. Dr. 0. Br ix. M. :!,6ti
8. Studien z. Geschichte d. llcbbelachcn Drama« von Th. Poppe. M. 3.5»
9. Leber die Namen des norditumbrisehen Uber Vitae von Dr. Rud. Müller. M. 5,5"
1Ü. ttichard the Third np to Khnkespeare. By G. B. Churchill. M. in,—
11. Die (iautrekssaira von W. Ranisch. M. 5,50
12. Joseph Gorrea als Herausgeber, Literaturhistoriker, Kritiker v. Franz Schultz. M. 7,—
13. Die Mi Tu uli in' des Don IfuUote in die enul. Literatnr. Von (i. Becker. M. 7,—
14. Wortkritik und Sprachbereicherung in Adelungs Wörterbuch. Ein Beitrag zur Geschichte
der nhd. Schriftsprache Von Dr. Max Müller. M. 2.60
15. Ysuinbras. Eine englische Romanze des 14. Jahrhunderts herausgegeben von Prof. Dr.
G. Schleich. M. 4,—
16. Conrad Ferdinand Meyer. Quellen u. Wandlungen seiner Gedichte v. Dr. Kraegcr. M. 10,—
17. Die lustige Person im älteren englischen Drama (bis 1044) von Dr. Eduard
Eckhardt. M. 15,—
18. The Gontlo Uralt. By Thomas Deloney. Edited with notes and introduetion by .Alexis
F. Lange. IL S —
20. Quellenstudien zu Robert Bums. 1773- 17111, Von Ott" Rittor. M. 7 y Vj
21. Hainaes Stellung zur bildenden Kunst uurt ihrer Aeslhctik. Zugleich ein Beitrag zur
Quellenkunde d Ardinghello Von K. D. Jessen. • M. 7,—
22. Von Percy zum Wunderhorn von Heinrich Lohre. M. 4.—
23. The Con»tance Saga. By A. B. Cough. M 2,50
'.'4. Blut- und Wundsegen in ihrer Entwickelung von Oskar Eber mann. M 4.80
25. Der groteske und hyperbolische Stil des mhd. Volksepos. Von Leo Wolf. M. 4,5m
26 Zur Kunstauachaunng des Will. Jahrhonderts. Von Winckelmann bis zu Win ken-
roder. Von Helene Stock er. M. 3.6o
27. Eulcnsplegel in England. Von Friedrich Brie. M. 4.SO
29. Die Rednickten enir) Ischen Liederbücher bis IHHfl. Mit Abdruck aller Texte aus den
bisher noch nicht neugediuckteu Liederbüchern und der zeitgenössischen Über-
tragungen. Von Wilh. Bolle. HL 11,50
30. l'ntersucliungen Uber die mhd. Dichtung vom Grafen Itudolf. Vou J. Both m an n. M. 5, —
31. Daa Vernum ohne pronominales Subjekt in der älteren deutschen Sprache. Von Karl
Held. M. 5,—
32. Schiller und die Bühne. Von Jul. Petersen. M. n,—
33. t'aesar in der deutschen Literatur. Von F. Gundelfingen M. 3,6« »
34. über Surrey'a Vlrpilubersetzunir. nebst Neuausgabe des 4 Ruches nach Toltel's Original-
druck u der Hs. Hargrave. Von Otto Fest. M. 3,6u
3'». The Story or King Lear from GeotTrey of Monmouth to Shakespeare by Wilfrid
Perreit. 9.—
36. Thomas Deloney. Von Richard Sie vers. IL 6.6" »
öS. Grobianua in England. Von E. Hühl. M 7.60
39. Die Sage von Macbeth bis zu Shakspere. Von Emst Kröger. M. 7,60
40. Dorothea Schle« 1 als Schriftstellerin im Zusammenhang mit der romantischen Schule.
Von F r a n z 1) <• i b e l. M. 5,60
41. liettina von Arnima Briefromane. Von Waldemar Oenlke. 31. 10,—
47. Die Hterar. Vorlagen d. Kinder, n. Hausmärchen u. ihre Bearbeitung durch die Brüder
Grimm. Von II. Hamann. M. 4.50
49. Lautlehre der älteren Lnjamonhandschrifr. Von Paul Lucht, M. 4
50. Oldcastle — Falstaft* in d. engl. Literatur bis zu Shakespeare. Von W. Baeske. V. 3,«o
53. Sir Lglamour. Eine engl. Romanze des 14. Jahrhunderts. Herausgegeben v. Prof. Dr.
G. Schleich. M. 4.50
Berlin. Mayer & Müller,
Vorhigsbucli Handlung-.
»
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Verlag von Mayer & Müller in Berlin.
Acta Germanica. Organ für deutsche. Philologie. Jeder Band Mk. 12.—.
Böhm, Jon., Die dramatischen Theorien Pierre Corneille*. 1901. Mk.4,— .
BÖkeninnn, W., Französischer Euphemismus. 1004. Mk. 4,- .
Dame», G., Roger Boyles „Henry V 4 . 1904. Mk. 1,80.
Drechsler, W'., Der Stil des Macnhersonschen Ossian. 1904. Mk. 1,50.
Euglaender, D., Lord Byron, hine Studie. 1897. Mk. 2,—.
Fink, P., Das Weib im französischen Volksliede. 1904. Mk. 2,80.
tilasenapp, G., Zur Vorgeschichte der Allegorie in Spensers „Faerie
Queen". 1904. Mk. l,2v.
Horovitz, J., Spuren griechischer Mimen im Orient. 1905. Mk. 2,40.
Jacob, Georg, Türkische Volkslitteratur. 1901. Mk. 1,50.
— Das Schattenspiel in seiner Wanderung vom Morgenland zum
Abendland. M. color. Tafel. 1901. Mk. 1,60.
— östliche Knlturelemente im Abendland. 1902. Mk. 1.20.
— Türkis'-he Bibliothek. Band I. Vorträge türkischer Meddahs
(mimischer Erzählungskünstler). Zum ersten Male ins Deutsche
übertragen. 1901. Mk 3.00.
— — Band 11. Mohmed Tevfiq, Hin Jahr in Konstantinopel. Erster
Monat: Tandyr baschy. Jns Deutsche übertragen u. erläutert
von Th. Menzel. 1905. Mk. 1,80.
Jahn, l'.. Volkssagen aus Pommern und Bügen. 2. Aull 1889. Mk. 6,—.
Lauriln, K. S., Versuch einer Stellungsnahme zu den Hauptfragen
der Kunstphilosophie. 1903. Mk. 5,—.
Lehmann-Filhes, M.. Isländische Volkssagen. Aus der Sammlung
von Jon Arnason ausgewählt und übersetzt. 1880. Mk. 3.(50.
— Isländische Volkssagen. Neue Folge. 1891. Mk. 4,— .
— Proben Isländischer Lyrik, verdeutscht. 1894. Mk. 1.20.
Ludwig, A., Lope de Vegas Dramen aus dem Karolingischen Sagen-
kreise. 1898. Mk. :u>o.
Mannt/, A. v.. Heraldik in Diensten der Shakespeare - Forschung.
1903. Mk. 8.—.
Meyer, Elard Hugo. Völuspa. Eine Untersuchung. 1889. Mk. 0.50.
— Germanische Mythologie. 1801. Mk. 5,—. Geb. Mk. 5.80.
Meyerfeld, M.. Robert Bums. Studien zu seiner dichterischen Ent-
wicklung. 1899. Mk. 3,—.
— Von Sprach' u. Art der Deutschen u. Engländer. 1903. Mk. 1.50.
Michael, 0.. Der Stil in Thomas Kyds Originaldramen. 1905. M. 2.—.
Pletschcr, Th., Die Märchen Charles Perrault's. Eine literarhistorische
und literaturvergleichende Studie. 1900. Mk. 1,80
Römer, A., Heiteres u. Weiteres von Fritz Keuter. Mit Beiträgen zur
plattdeutschen Literatur. 1905. M.4,— . In Leinenband M. 4.80.
Snadis politische Gedichte, übersetzt von Friedrich Rückert. Aut
Grund des Nachlasses herausgegeben und mit Einleitung ver-
sehen von E. A. Bayer. 1S94. Mk. 3,t5u
Sander, G H., Das Moment der letzten Spannung in der englischen
Tragödie bis zu Shakespeare. 1902. Mk. l,6o.
Sarrazin, l)r. G.. Beowulf-Studien. 1888. Mk. 5,—.
Saude, F., Die Grundlagen der literarischen Kritik bei Joseph
Addison. 1900. Mk. 1,60.
Schreckhas, R.. Über Entstehungszeit u. Verfasser des „Titus An-
d •Miicus". 190Ö. Mk. 1,00.
Sherzer, Jane B.. The Ile of Ladies, hersg. nach einer Hs. des Marquis
v. Bath. 1903. Mk. 3.—.
Swcaringcn, G.F.. Die engl. Schriftsprache beH'overdale. 1901. Mk.1,20.
Thümen, F.. Die Iphigeniensage in antikem und modernem Gewände.
Zweite Auflage. 1895. Mk. 1,— .
Hugo vou Trimberg, Der Renner. Ein Gedicht aus dem 13. Jahr-
hundert. 1904. Facsimile-Druck der Ausgabe v. 1833. Mk. 20,—.
Die YoUnngasaga. Nach Bugges Text mit Einleitung und Glos*ar
herausgegeben von Wilhelm Ranisch. 1891. Mk. 3.00.
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PALAESTRA XLVH.
Die literarischen Vorlagen der Kinder-
und Hausmärchen und ihre Bearbeitung
durch die Brüder Grimm.
Von
Dr. Hermann Hamann.
BERLIN.
MAYER X, MÜLLER
1906.
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JUN 3 t Ov?Ö01
CUM 3
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