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Full text of "Die literarischen vorlagen der Kinder- und hausmärchen und ihre bearbeitung durch die brüder Grimm"

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Die 

literarischen 
vorlagen der 
Kinder- und 
hausmärchen .. 



Hermann Hamann 



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PALAESTRA. 



Untersuchungen und Texte aus der deutschen 
und englischen Philologie. 

Herausgegeben 
von 

Alois Brandl, Gustav Koethe und Erich Schmidt. 

XL VIT. 

Die literarischen Vorlagen der Kinder- und Hausmärchen 
und ihre Bearbeitung durch die Brüder Grimm. 

Von Hermann Hamann. 



BERLIN. 
MAYER * MÜLLER. 

1906. 



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PALAESTR A XLVII 

^ 



Die literarischen Vorlagen der Kinder- 
und Hausmärchen und ihre Bearbeitung 
durch die Brüder Grimm. 



Von 

Dr. Hermann Hamann. 




i > 



BERLIN, 
MAYER X, MÜLLER 

1906. 



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• » • ....... . 




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Vorwort. 



Der erste Teil der vorliegenden Arbeit, die den 
Urinimpreis erhalten hat, erschien 1905 als Berliner 
Dissertation. Angeregt wurde sie von meinem Lehrer 
Herrn Geheimrat Prof. Dr. Erich Schmidt, dem ich für 
alle freundliche Unterstützung, die er mir bei der Ab- 
fassung hat angedeihen lassen, auch an dieser Stelle 
meinen ergebensten Dank ausspreche. 

H. Hamann. 



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Einleitung. 

Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 
sind trotz der hohen Stellung, die sie in der Geschichte 
der deutschen Litteratur einnehmen, noch nicht zum Gegen- 
stand einer wissenschaftlichen Untersuchung gemacht 
worden. Zwar hat die Forschung reiche Nachweise Uher 
die Verbreitung des internationalen Märchenstoffes geliefert 
und indirekt dadurch auch die Grimmsche Sammlung in 
eine hellere Beleuchtung gerückt, aber es fehlt an einer 
Arbeit über das Zustandekommen des Werkes selbst. 
Auch Stil und Sprache blieben bisher noch ungeprüft, 
obgleich sie doch eigenartig genug vom Herkömmlichen 
abweichen und schon durch die Neuheit zu näherer Be- 
trachtung einladen müssten. — Der Poesie der Erzählungen 
hat sich niemand entziehen können: „Die Märchen haben 
uns bei aller Welt bekannt gemacht", schreibt Wilhelm 
Grimm schon 1815 an seinen Bruder Jakob'), und heute 
ist das Buch in ungezählten Exemplaren verbreitet. Ein 
Abglanz dichterischen Ruhmes fällt auf die Herausgeber. 
Es war aber auch eine Art poetischer Tätigkeit, welche 
<He Sammlung entstehen Hess; denn obwohl die Geschichten 
meist getreu der Überlieferung nacherzählt wurden, und 
der Titel des Buches bescheiden nur von der Arbeit des 
Sammeins spricht, so besteht doch kein Zweifel, dass die 
Brüder Grimm in Stil und Ausdruck vielfach bessernd und 
ergänzend nachgeholfen haben. Das gestehen sie auch 
selbst ein: „Es ist natürlich", schreibt Wilhelm an Achim 



') Briefwechsel zw. J. u. \V. Grimm S. 475. 
Palaesua XIAII. 1 



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— 2 - 



von Arnim 1 ), „dass, wenn wir etwas selbst empfunden, 
diese Empfindung auch sichtbar werden muss und ihren 
besonderen Ausdruck haben. Darum hab ich mir in den 
Worten, der Anordnung, in Gleichnissen und dergleichen 
gar keine Schwierigkeit gemacht und so gesprochen, wie 
ich in dem Augenblick Lust hatte." Aber er wusste auch, 
wie man ein Märchen zu erzählen habe; wie rein hat er 
z. B. in einigen seiner Briefe an die Haxthausensche Familie 
den einfachen Kinderton getroffen! 2 ) Die Form der Er- 
zählungen geht also im wesentlichen auf die Brüder zurück, 
sei es, dass sie mündliche Überlieferung wiedererzählten 
oder älteren, schriftlichen Bearbeitungen die Gestalt gaben, 
die sie für die rechte hielten. Nur mit den litterarischen 
Quellen will und kann sich die nachfolgende Arbeit be- 
schäftigen; sie macht als ein Beitrag zur Stilgeschichte 
des Grimmschen Märchens auf dieümbildungen aufmerksam, 
die ältere Vorlagen unter der Hand der Brüder Grimm 
bei der Aufnahme in die Sammlung erfuhren. 

Obwohl die Veränderungen fast nur äusserlicher Natur 
sind, und die Erzählungen in den meisten Fällen bloss 
durch schmückende Zusätze bereichert wurden, so lässt 
doch die Wiederkehr derselben stilistischen Umformungen 
deutlich erkennen, worauf es den Brüdern bei ihrer Dar- 
stellung ankam. Freilich wird das Material nicht erschöpft, 
da die Märchen nach mündlicher Überlieferung für uns 
wegfallen, aber man kann schon aus der Betrachtung des 
kleineren Teils der Sammlung Rückschlüsse auf die Stili- 
sierung des Ganzen machen. Denn es ist ein eigentüm- 
licher Vorzug dieser Märchen, dass trotz der Verschieden- 
artigkeit der einzelnen Stücke die ganze Sammlung von 
einem gleichmässigen Vortrag beherrscht wird. 

Die Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen 
versetzt uns in eine treibende, starke Zeit zurück; die 
schaffensfreudigen Tage der jüngeren, Heidelberger Romantik 



') Steig, Achim v. Arnim und die ihm nahe standen 111,207. 
2 Freundesbriefe v. W. u. -J. Grimm, S. 8 f. 



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tauchen vor uns auf. Nicht mit Unrecht werden gerade 
„des Knaben Wunderhorn" und die „Kinder- und Haus- 
märchen" als die charakteristischen Denkmäler dieser 
Periode in einem Atem genannt; die beiden Werke sind 
gleichen oder doch ähnlichen Verhältnissen entsprungen, 
und ihre Verfasser standen auch persönlich in innigen 
Beziehungen zu einander. Im Wunderhorn hatte sich die 
begeisterte Liebe tür altdeutsches Leben und Volkspoesie 
•ein schönes Denkmal errichtet. Absterbende und zerstreute 
Blüten deutscher Volkslyrik waren hier, freilich manchmal 
künstlich zurechtgestutzt, in einem grossen Werke ver- 
einigt. Auch eine umfassende Zusammenstellung germa- 
nischer Altertümer wurde von Arnim geplant. Seine Er- 
klärung in Beckers Reichsanzeiger vom 17. Dez. 1805 
spricht unter anderm auch von „mündlich überlieferten 
Sagen und Märchen", die in der Sammlung Platz finden 
sollten'). Aber nicht alles kam zu stände, was er in 
Aussicht gestellt hatte; vorläufig galt es, das Wunderhorn 
zum Abschluss zu bringen. Während Brentano und Arnim 
an den weiteren Bänden tätig waren, rüsteten die Brüder 
Grimm in Cassel zu ihren späteren Publikationen. — In 
grösserem Umfange beginnt ihr Sammeln und Aufzeichnen 
seit etwa 1806. Ihre Schätze müssen rasch an Ausdehnung 
und Bedeutung gewonnen haben; Brentano, der 1807 in 
Cassel mit den Grimms zusammentraf, staunt über ihren 
Reichtum, den er für den 2. Teil des Wunderhorns zu 
benutzen gedenkt. 

Um diese Zeit ist zwischen den Brüdern und den 
Herausgebern des Wunderhorns auch über den Plan ver- 
handelt worden, ein öffentliches Organ für altdeutsche 
Poesie und Volkskunde zu schaffen 2 ). Neujahr 1811 taucht 
der Gedanke von neuem auf. „Der altdeutsche Sammler", 
wie die Zeitschrift heissen sollte, war zur Aufnahme aller 
Sagen, Märchen, Lieder, Volksscherze usw. namentlich 



') Steig, Achim v. Arnim I, 150. 

2) Steig, Zs. d. Vereins f. Volkskunde 1902, 129 ff. 

1* 



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mündlicher Überlieferung bestimmt. Als Herausgeber 
waren die Brüder Grimm gedacht. Das Unternehmen 
scheiterte aber an persönlichen Differenzen, die sich bald 
zwischen Jakob Grimm und Brentano über die Art der 
Redaktion herausstellten. 

Während Grimm streng wissenschaftlich alles in der 
Form zum Abdruck bringen wollte, die die mündliche 
Überlieferung geprägt hatte, glaubte Brentano sich dem 
Stoff gegenüber dieselben Freiheiten sichern zu müssen, 
von denen er bei der Zusammenstellung des Wunderhorns 
Gebrauch gemacht hatte, und so unterblieb das Werk. 
Auch standen äussere Schwierigkeiten im Wege. Auf 
eigene Faust arbeiteten die Brüder Grimm währenddessen 
weiter; 1812, als Arnim einige Tage als Gast bei den 
Brüdern in Cassel weilte, konnte er an Brentano berichten, 
dass ihre Sammlungen Riesenschritte gemacht hätten und 
bald in ein Dutzend tüchtiger Werke zusammenwachsen 
würden ')• Einige Monate später wurde der 1. Band der 
Märchen herausgegeben. 

Die ganze Art der Anlage bewies von vornherein ein 
ernstes, wissenschaftliches Interesse. Allerdings war es 
die Absicht der Bearbeiter, dass die Poesie der Märchen 
selbst wirken und erfreuen sollte, aber als Gelehrte waren 
sie nicht minder darauf bedacht, die Bedeutung der Er- 
zählungen durch umfassende Vergleiche ins rechte Licht 
zu stellen und die Ergebnisse der Forschungen für eine 
Geschichte der altdeutschen Poesie und Mythologie nutz- 
bar zu machen 2 ). Sie erblickten in den Märchen Über- 
reste der altgermanischen Mythologie und Heldenpoesie. 
So wie die Mundarten altes Sprachgut festhalten, sollten 
auch in den Volkserzählungen uralte Vorstellungen fort- 
dauern und sich weiter bilden. Mögen sie auch im Ein- 
zelnen geirrt haben, sie traten jedenfalls mit ganz anderen, 
tiefer gegründeten Voraussetzungen an ihre Aufgabe 



>) Steig:, Achini v. Arnim I, 21)8. 
Steig-, Achim v. Arnim III, 4. 



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heran als die meisten Märebenschreiber des 18. Jahrhunderts, 
denen das phantastische Gewand der Erzählungen ein will- 
kommenes Mittel war, persönliche Absichten verschiedenster 
Art auf eine bequeme Weise einzukleiden. — Das Jahr- 
hundert der Aufklärung hatte im allgemeinen für die 
schlichte Poesie des deutschen Volksmärchens keinen Sinn: 
vor allem fehlte das geschichtliche Verständnis für die Er- 
zählungen. In Spinn- und Kinderstuben lebten sie zwar 
ununterbrochen fort, aber niemand dachte daran, sie als 
litterarische Gabe dem ganzen Volke wiederzuschenken. 
Die Märchen waren vielfach als unwahre, kindische Er- 
zeugnisse verachtet und galten nur etwas durch künstliche, 
poetisierende Bearbeitung. „Ammenmärchen, im Ammen- 
ton erzählt, mögen sich durch mündliche Überlieferung 
fortpflanzen, aber gedruckt müssen sie nicht werden," 
schreibt noch Wieland '), der in seinen Werken doch oft 
Bearbeitungen märchenhafter Stoffe geliefert hat. Aber 
er sowohl wie die eigentlichen Märchensammlungeu des 
Jahrhunderts waren stark beeinflusst von französischer 
Fabulierkunst. Viel später als in Italien, wo schon Giovan 
Francesco Straparola mit den Tredeci piacevoli notti (1550) 
und nachher Giovan Baptista Basile mit dem Pentamerone 
den Höhepunkt der heimischen Märchenlitteratur erreichten, 
begann in Frankreich die Märchenpoesie zu erblühen. Ihr 
erster Vertreter, Charles Perrault (1643 — 1703), nimmt als 
Stilist zugleich den höchsten Rang ein. Am Ende des 
17. Jahrhunderts (1697) gab er in seinen „Contes de ma 
mere l'Oye" volkstümliche Märchen heraus, ohne wesent- 
liche Zusätze, im Kinderton dargestellt. Hier finden wir 
z. B. die bekannten Erzählungen vom Blaubart (Barbe 
bleue), Rotkäppchen (Chaperon rouge), vom kleinen Däum- 
ling (Petit Poucet), vom Aschenputtel (Cendrillon), dem 
Dornröschen (La belle au bois dormant). Seine Nach- 
ahmerin, die Gräfin d'Aulnoy (1650—1705), hält sich zwar 



i) Werke 35, 327. Vgl. R. Köhler, Aufsätze ed. Bolte urul 
E. Schmidt S. 17. 



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wie Perrault an echte Tradition, formt den Stoff aber be- 
reits willkürlicher. Ihre feine und vornehme Darstellung 
unterdrückt dasderbe, drastische, bürgerlichcElement; es sind 
Märchen für die vornehme Welt im Zeitalter Ludwigs XIV. 
Einige sind unmittelbar aus Straparola geschöpft. Mit 
der heimatlichen Wunderwelt verbanden sich dann die 
orientalischen Märchengebilde, seitdem Galland (1704 — 8) 
die arabische Sammlung „1001 Nacht" ins Französische 
übersetzt hatte. Die zahlreichen späteren Bearbeitungen, 
z. B. der Gräfin Murat, d'Auneuil, stehen auf tieferer 
Stufe. Neben pädagogischen Absichten und orientalischem 
Zauber macht sich der Einfluss modern-schäferlicher Liebes- 
geschichten geltend. Das galante Märchen tritt an die 
Stelle des volksmässigen; das Phantasiespiel wurde leere 
Phantasterei. Feen und Geister beherrschten die Märchen- 
welt wie in den Zaubergeschichten des Grafen Caylus. 
Dieses Kennzeichen der französischen Erzählungen trug 
ihnen den Namen „Feenmärchen" ein. Im „Cabinet des 
fees" (1785 ff.) sind eine grosse Anzahl von ihnen ge- 
sammelt. Die Deutschen lasen sie teils in der Ursprache, 
teils in Übersetzungen. Seit 1765 stellte Heinrich Raspe 
in Nürnberg eine Auswahl der Feenmärchen zusammen '). 
Den fremden Erzeugnissen schenkte man also grosse Be- 
achtung, die heimischen Schätze blieben ungehoben. 
Wieland, der zuerst in seinem Don Sylvio von Rosalva 
über die Feenmärchen gespottet hatte, griff später selbst 
Märchenstoffc auf, die sich ihm entweder in der Ritter- 
dichtung des Mittelalters oder der Märchenpoesie des 
Morgenlandes darboten; einige erfand er auch selbst. 
Seine Hauptquellen waren die Auszüge altfranzösischer 
Rittergedichte, die Conteset fabliaux in Tressans Bibliotheque 
universelle des Romans (1775 ff.) und die „Mille et unc 
nuits". Daraus schon geht hervor, dass es sich bei ihm 
um eigentliche Volksmärchen nicht handelt. Auf die hohe 



i)K.H.M. 111,300-312; O. Meyer-, Vierteljahrschr. f. Litt, 
riesch. V, 374 ff. 



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geschichtliche Bedeutung des deutschen Märchen* wies 
zuerst Herder (1777) mit nachdrücklichen Worten hin •). 
Mit Bedauern muss er bekennen, dass man bisher so gut 
wie nichts getan habe, das Dunkel über der Sagen- und 
Mythengeschichte des deutschen Volkes aufzuhellen. Er 
forderte bereits einen geschichtlichen Nachweis für Ursprung 
und Entwickelung der Volkssagen und Märchen, die ihm 
ähnlich wie später den Grimms als „Resultate des Volks- 
glaubens und seiner sinnlichen Vorstellungskräfte" er- 
schienen. — Die „Volksmärchen der Deutschen" von 
Musäus (1782 ff.) entsprachen nur wenig den Forderungen 
Herders. Es waren trotz des Titels eigentlich Volks- 
sagen, denen der Verfasser bisweilen eine märchenhafte 
Einkleidung zu geben wusste, Märchen im Sinne Grimms 
sind von seinen 14 Erzählungen wenige. Die „Chronika 
der drei Schwestern" nahmen die Brüder selbst in die 
1. Auflage ihrer Sammlung auf. Die Erzählung von 
,, Rolands Knappen" ist verwandt mit dem Märchen vom 
,.Tischlein deck dich" (aß), ..Richilde" mit „Schneewitchen" 
(53), in der „Nymphe des Brunnens" sind Teile des Märchens 
vom Aschenputtel (21 ), der Frau Holle (24) und Allerleirauh (05) 
verwebt. In reiner, unveränderter Gestalt wird uns der 
Stoff bei Musäus eben niemals geboten; ausserdem sind 
seine Erzählungen in einem ironisch -witzelnden Stil ge- 
halten und mit persönlichen Anspielungen auf Zeit und 
Zeitgenossen durchsetzt. Manche seiner Andeutungen 
waren den Mitlebenden sogar nicht recht verständlich. 
Das volkstümliche Element, der schlichte, einfache Ton 
der Darstellung ist bei ihm mehr ein äusserer Schmuck 
der künstlichen und oft verwickelten Novellen als ein 
Grundcharakter. Freilich sammelte auch er „Ammen- 
märchen" aus Volksmund und benutzte sie für seine Er- 
zählungen, aber er machte „die alten Geschichten noch 
zehnmal wunderbarer als sie ursprünglich waren", wie er 



') In seinem Aufsatz: Über die Ähnlichkeit der mittleren 
engl. u. deutschen Dichtkunst. Suphansche Ausg. 25, (*J ff. 



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selbst wohlgefällig bekennt. 1 ) Und dennoch sind die 
Mängel des Buches im Vergleich zu seinen Vorzügen nur 
gering. Es hat das Interesse an heimischen Sagen er- 
weckt, und seine Darstellung, die Composition und der 
abgerundete Stil finden noch heute Beifall. Dass Musäus in 
freier, dichterischer Weise die Überlieferungen behandelte, 
kann ihm eben nicht zum grossen Vorwurf gemacht werden ; 
es wäre pedantisch, sein Verdienst herabzusetzen, nachdem 
die Brüder Grimm auf einem anderen Wege mehr erreicht 
haben, ausserdem haben diese selbst der dichterischen 
Behandlung des Märchenstoffes keine Grenzen abstecken 
wollen. 

Mit besonderer Vorliebe wurde das Märchen von den 
Romantikern gepflegt; vieles in ihren Dichtungen ist 
märchenhaft. Die lose, phantastische Verknüpfung der 
Begebenheiten, das Hineingreifen des Zufalls und über- 
irdischer Gewalten entsprach ganz ihren Forderungen 
von der Dichtkunst Uberhaupt. „Das Märchen ist gleichsam 
der Canon der Poesie, alles Poetische muss märchenhaft 
sein ; der Dichter betet den Zufall an u , heisst es bei Novalis 2 ) : 
Das Wunderbare sollte nicht nur ein belebender, reiz- 
voller Schmuck der dichterischen Schöpfung sein, sondern 
der Boden, aus dem alle Poesie ihre Nahrung sauge. Die 
Verwirrung, das Chaos der Gefühle und Ereignisse galt 
ihnen als die Wurzel des Poetischen. Die gegenseitige 
Durchdringung des Sinnlichen und Übersinnlichen, der 
Wirklichkeit und des Ideals, die in der Ästhetikder Romantiker 
so stark betont wird, konnte nirgends bequemer als in 
der Märchendichtung dargestellt werden. Sehr nahe lag 
es, selbst Märchen zu dichten. Schon Goethe hatte in 
dem „Märchen", in den Unterhaltungen deutscher Aus- 
gewanderten (1795) ein bewundertes, rätselvolles Muster 
geliefert. In dunkeln, symbolischen Bildern und Gleichnissen, 

') Andrae, Studien z. d. Volksmärchen d. Musäus. Warb. 
Diss. 1807. S. 1?. 

2) Schriften III, lfi;>. 



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deren Bedeutung dem Erklärer Schwierigkeiten verursacht, 
spricht der Dichter zugleich ewige Wahrheiten aus, sie 
mit dem Zauber reinster Poesie verklärend. Es ist durchweg 
ein blosses Kunstprodukt. ..Die neue Melusine" (1807) 
in Wilhelm Meisters Wanderjahren und „der neue Paris" 
(1811) in Dichtung und Wahrheit sind zwar gleichfalls 
der Hauptsache nach eigene Dichtungen Goethes, in denen 
mancherlei persönliche Beziehungen in rätselhafter Ver- 
hüllung angedeutet werden, geben aber bereits durch den 
Zusatz zu verstehen, dass wir in ihnen gewisse alt- 
überlieferte Motive verwertet finden. Aber der Dichter 
hat ganz frei mit ihnen geschaltet. Im „neuen Paris" 
sind antike Elemente mit mittelalterlich -romantischen in 
buntem Wechsel verwebt, in der „Melusine" tritt neben 
dem märchenhaften Gehalt die Tendenz stärker hervor. 
Alle drei aber bringen, wie es beim Kunstmärchen kaum 
anders sein kann, mehr oder weniger dunkle Allegorien 
neben der Symbolik, die, im Volksmärchen bereits abgestreift, 
hier den Leser umfängt Auch das liebliche Märchen von 
„Hyacinth und Rosenblüte", das Novalis in den „Lehrlingen 
zu Sais" erzählt, ist nicht ganz frei davon. Spuren echter 
Volksmärchen finden sich dagegen im Faust, wo Margaretens 
Kerkerlied auf das Märchen vom Machandclboom anspielt, 
und im „Werther" macht Goethe eine kurze Andeutung 
auf den sagenhaften Magnetberg und ein Märchen von der 
Prinzessin, die durch Hände bedient wird. 

Unter den älteren Romantikern beschäftigte sich nament- 
lich Ludwig Tieck mit der Bearbeitung volkstümlicher 
Stoffe. In den „Volksmärchen von Peter Leberecht" (1797) 
erschienen neben Bearbeitungen von älteren Volksbüchern, 
wie den Schildbürgern, den 4 Haymonskindern, der Mage- 
lone u. a. auch Volksmärchen. Aber ebensowenig wie 
Musäus erstrebte Tieck geschichtliche Treue in der Dar- 
stellung. In der versificierten, dramatischen Form muteten 
die alten Erzählungen von Blaubart (1796), dem gestiefelten 
Kater (1797), Rotkäppchen (1800) und dem Däumchen (181 1 ) 
wie etwas völlig Neues an. Und die Modernisierung macht 



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sich aucli auf Schritt und Tritt bemerkbar. Nicht nur, 
tlass die Personen viel zu individuell aufgefasst waren, 
Tieck tlocht auch persönliche Elemente in die Darstellung 
ein; possenhafte Scenen, Scherz, philosophischer Tiefsinn und 
litterarische Satirc auf die Rührstücke Ifflands und Kotze- 
bues (wie im gestiefelten Kater und den sieben Weibern 
des Blaubart) wechseln mit den märchenhaften Bestand- 
teilen der Erzählung ab. Wie altklug und gescheit spricht 
beispielsweise das Tiecksche Rotkäppchen! Schlichter und 
volksmässiger ist er in der Bearbeitung der Volksbücher; 
auch die von ihm selbst gedichteten Märchen, wie der 
blonde Eckbert, der Runenberg, die Elfen, die mit früheren 
Bearbeitungen 1812 im „Phantasus" erschienen, ahmen 
sichtlieh die einfachere Natur des Volksmärchens nach, 
unterscheiden sich aber davon namentlich durch die Her- 
vorhebung der düsteren, spukhaften und dämonischen Züge. 
Während das Volksmärchen im allgemeinen einen fröh- 
lichen, befriedigenden Ausgang liebt, treten uns in den 
Tieckschen Erzählungen die Nachtseiten der Natur mit 
allen Schauern und geheimnisvollen Schrecken entgegen. 
So auch mitunter in den Bearbeitungen. Wie weiss 
er z. B. im Blaubart das Entsetzen, die herzbeklemmende 
Angst in Mechthildcns Erzählung zu steigern! — Dagegen 
traf das von Kerner gedichtete Märchen vom „Goldener" 
in den „Heimatlosen" den Ton des echten Volksmärchens 
so natürlich, dass es Friedrich Gottschalk aus dem Deutschen 
Dichterwald, wo es zuerst erschienen war, in seine Märchcri- 
sammlung aufnahm 1 ). 

Aber nicht diesen dichterischen Bearbeitungen von 
Märchen gedachten die Brüder Grimm durch ihre Samm- 
lung in den Weg zu treten, sondern den landläufigen Märchen- 
büchern, die vielfach noch vom französischen Geiste be- 
einllusst waren. Echte Überlieferung fand sich zwar seit 
Musäus* Vorgang häufiger, wie in den Kindermärchen 
aus mündlichen Erzählungen gesammelt (Erfurt 1787), den 

») Sa^en u. Volksmärchen der Deutschen (1814) 1,230. 



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Ammenmärchen von Vulpius (1791), dem Märleinbuch für 
meine lieben Nachbarsleute (1799) und den Feenmärchen 
(1801), sie waren aber meist dürftig und schlecht erzählt, 
das Typische der echten Märchenerzählung sucht man 
darin vergebens. Auch war der Inhalt im Vergleich zur 
Grimmschen Sammlung ganz geringfügig. Niemand hatte 
vor Grimm über die Märchenlitteratur weite Umschau ge- 
halten: in den meisten Fällen hatten sich die Verfasser 
mit dürftigen Bruchstücken begnügt, die sie dann aus 
eigenen Mitteln zu ergänzen und zu bereichern suchten. 
Daneben kommen noch oft Entlehnungen aus fremdlän- 
dischen Quellen vor. Die Kindermärchen von Eschke 
(1804) sind trockene, moralische Fabeln ohne jeden mär- 
chenhaften Gehalt; auch über die Sammlung ihres Namens- 
vetters Albert Ludwig Grimm (Heidelberg 1809) konnten 
die Brüder kein günstiges Urteil abgeben 1 ). Job. Gustav 
Büschings Sammlung, die in demselben Jahr wie die 
Grimmsche erschien, enthält grösstenteils Sagen, die aus 
Chroniken und Länderbeschreibungen zusammengetragen 
waren; bloss 5 Märchen sind darin enthalten, bei denen 
freilich der Kinderton der Darstellung oft vermisst wird. 
Nur zwei heben sich als literarische Kleinodien aus ihrer 
Umgebung heraus, die von Runge stammenden Aufzeich- 
nungen der Märchen vom „Fischer" und „Machandelboom". 
Runge hatte in diesen beiden Erzählungen zum ersten Mal 
Musterstücke kunstvoller Darstellung geliefert. Ohne den 
Stoff mit subjektiven Elementen zu belasten, hatte er es 
verstanden, durch Vertiefung und Steigerung der Motive, 
reiche, detaillierte Beschreibung, durch genaue Beobachtung 
der Rhythmik gesprochener Prosa die Erzählungen für alle 
folgenden Märchenschreiber vorbildlich zu machen. Der 
Kungischen Kunst ist die der Brüder Grimm nahe ver- 
wandt. Anfangs noch zaghaft in der reicheren Ausge- 
staltung der Märchen, haben sie später von Auflage 



i) Briefw. zw. .). u. \Y. Urimni S. 12a. 



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zu Auflage das künstlerische Prinzip mehr hervortreten 
lassen. 

Zum 1. Bande der Märchen wurde 6 Jahre gesammelt. 
Den grössten Teil der Erzählungen zeichneten die Brüder 
selbst nach mündlicher Uberlieferung ihres Heimatlandes 
auf; Hessen, die Grafschaft Hanau, die Main- und Kinzig- 
gegenden lieferten die meisten Beiträge. Daneben wurden 
auch Fassungen benutzt, die von Freunden und Bekannten 
herrührten. Seit seinem Aufenthalt in Halle (1809) war 
Wilhelm Grimm mit dem westfälischen Edelmann Werner 
von Haxthausen bekannt; ihm und seinen Schwestern 
verdankt die Sammlung eine Reihe der schönsten Er- 
zählungen. Mit grosser Genugtuung erwähnt Wilhelm, 
dass ihm gerade die Beiträge aus dem Westfälischen 
(Paderborn und Münster) wegen der zutraulichen Mundart 
und der inneren Vollständigkeit wertvoll seien: er freut 
sich, dass sie gerade so aufgefasst werden, wie ihm am 
liebsten ist, nämlich treu und genau mit aller Eigentüm- 
lichkeit selbst des Dialekts oline Zusatz und sogenannte 
Verschönerung 1 ). Das gleiche Lob erhält Werners Bruder 
'August: „An der Art, wie Sie aufschreiben, weiss ich 
nichts auszusetzen, es ist treu und einfach, wie ich es 
wünsche, und wenn Sie so fortfahren, werden Sie keinen 
kleinen Teil an der Fortsetzung des Buches haben" 2 ). 
Auch zu den späteren Auflagen steuerte die befreundete 
Familie reichlich bei. Nach der 3. Auflage stammen die 
Märchen No. 7. 10. 27. 60. 68. 70. 72. 86. 91. 99. 101. 112. 
113. 121. 123. 126. 129. 131—34. 137—143 (138?) aus 
Beiträgen der Familie Haxthausen. Die Märchen No. 14. 
16. 24. 45. 48. 52. 64. 65. 71. 97. 110. 133. 135. 136 sind 
z. Teil daher entnommen. Im 3. Bande finden sich Vari- 
anten von ihnen unter No. 1. 4. 6. 21. 48. 57. 71. 73. 82. 
106. 112. 143. 158. Ausserdem sind die Kinderlegenden 
No. 1—7 vollständig nach ihren Aufzeichnungen erzählt. 



') Freundesbriefe S. 1. 
2 ) Freundesbriefe S. 5. 



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Der plattdeutsche Dialekt mancher Märchen wurde unver- 
ändert beibehalten, um die Frische und Ursprünglich- 
keit des Tons zu wahren. Von Bedeutung für das Zu- 
standekommen des 2. Bandes war namentlich die zufällige 
Bekanntschaft der Brüder mit der „Märchenfrau" Vieh- 
männin in Zwehrn bei Kassel. Ihren Erzählungen folgen 
No. 6. 22. 29. 34. 61. 63. 71. 76. 89. 94. 98. 100. 102. L06. 
108. 111. 115. 118. 125. 127. 128. Ergänzungen lieferte 
sie zu No. 9. 21. 31. 58. 59. 120. Varianten befinden sich 
unter No. 4. 27. 90. 92. 122. 

Die Brüder Grimm hatten mit der Veröffentlichung 
gezögert, um die Sammlung in möglichster Vollständigkeit 
darbieten zu können. Arnim nötigte sie zu rascherem 
Vorgehen. Noch nach 25 Jahren haben die Brüder in 
dankbarer Anerkennung seiner fördernden Teilnahme ge- 
dacht 1 ). Er vermittelte auch die Verbindung mit dem 
Verleger Reimer in Berlin. Obwohl dieser erst nach Ab- 
setzung einer bestimmten Anzahl von Exemplaren Honorar 
bewilligen wollte, waren die Brüder doch mit den Bedin- 
gungen einverstanden; es kam ihnen nun darauf an, zu 
ähnlichen Unternehmungen Lust zu machen 2 ). Am Schluss 
des Jahres 1812 erschien der 1. Band im Handel. 

Der Stil der Erzählungen, der schlicht und natürlich 
sich in den einfachsten Formen bewegte, wurde zunächst 
nüchtern gefunden. Die rohe Gestalt mancher Märchen, 
die eine ältere Quelle nicht verleugneten, stiess ab; einige 
dürftige Fragmente, die mit gewissenhafter Treue ohne 
Ergänzungen abgedruckt waren, hätte man lieber ganz 
weggewünscht. Sehr ungehalten spricht sich Brentano 
über die Sammlung aus, auf die ihn Arnim aufmerksam ge- 
macht hatte 3 ). Die treue Nacherzählung findet er äusserst 
liederlich und versudelt 44 . Trotz ihrer Kürze seien die 
meisten Märchen langweilig; wolle man ein Kinderkleid 



') In der Zuschrift der 3. Auflage an Bettina. 
*) Steig, Achim v. Arnim III, 195. 
3 ) Steig, Achim v. Arnim I, 309. 



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— 14 — 



herausholen, so könne man es mit aller Treue tun, „ohne 
eines vorzuzeigen, an dem alle Knöpfe heruntergerissen 
seien". Auch die gelehrten Noten im Anhang stören ihn. 
Er vertritt den Standpunkt, den er später bei seinen eigenen 
Märchen festgehalten hat. Als gelehriger Schüler Basiles 
konnte er freilich uur schwer an der „Milchspeise" der 
Grimmschen Märchen Geschmack finden, hier fehlte der 
sprudelnde Witz und die capriziöse, kecke Darstellung, 
die den Pentamerone auszeichnet. Die Brüder Grimm 
gingen ihren eigenen Weg; was sie für die Kunstform des 
Märchens hielten, stand der Auffassung Brentanos scharf 
entgegen. Man vergleiche mit Brentanos Urteil das W 7 ider- 
spiel bei W. Grimm: „In Brentanos Buch habe ich ge- 
blättert — es ist mehr Stil in den Märchen wie in den 
unserigcn, lesen sich dagegen zu wiederholten Malen 
schlechter, weil man dann den Witz weg hat oder aus- 
wendig weiss, daher eine solche Art nur aufkommen d. h. 
absichtlich gewählt werden kann, wenn man, wie jetzt, 
etwas nur einmal liest" ')• Ruhiger als Brentano äussert 
sich Arnim; er sucht zwischen beiden Parteien zu ver- 
mitteln, verschliesst sich nicht herb gegen das Neue und 
Schöne in Brentanos Märchen und macht anderseits die 
Freunde auf manche Übelstände ihrer eigenen Sammlung 
aufmerksam. Für seine Beurteilung der Grimmschen Mär- 
chen ist seine prinzipielle Stellung zur Volks- und Kunst- 
poesie wichtig. Über das Verhältnis dieser beiden grossen 
liauptgattungen zu einander hatte sich zwischen ihm 
und den Brüdern eine lebhafte Auseinandersetzung ent- 
wickelt 5 '). Während Arnim die Weiterbildung und Ver- 
tiefung des überlieferten Stoffes als das gute Recht des 
modernen Dichters verteidigte, überhaupt die Grenzen 
zwischen Volks- und Kunstpoesie nicht so scharf bestimmen 
wollte, betrachtete Jakob jede der beiden Hauptformen als 
ein besonderes Gebiet und erkannte nur in der Volksdichtung 



1) Briefw. zw. J. u. W. Grimm S. 381. 

2) Steig, Achim v. Arnim 111,115-145. 



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— 10 - 



den ewigen Bestand dichterischer Kraft an. Nicht nur be- 
grifflich und inhaltlich, auch in der Zeit seien beide von 
einander getrennt, hatte er schon in einem Aufsatz der 
Einsiedlerzeitung (No. 19/20) behauptet, Und die willkür- 
liche Vermengung beider Gattungen erschien ihm „geradezu 
sündhaft". Diese Gegensätze mussten sich natürlich auch 
bei der Beurteilung der Märchen zeigen. Arnim lässt in 
seinen Äusserungen über das Buch mehr praktische Rück- 
sichten gelten. Er tadelt mit Recht den wörtlichen Ab- 
druck von Vorlagen aus dem IG. Jahrhundort, deren 
Sprache für Kinder ebenso unverständlich sei, wie für Er- 
wachsene, die kein Studium daraus gemacht hätten, das 
Nibelungenlied. Die Roheit einiger Märchen, z. B. das 
Schlachtspiel, schien ihm für ein Kinderbuch bedenklich; 
schon der „Machandelboonr 1 hatte ihm einst wegen einer 
darin wohnenden Grausamkeit widerstrebt. Er berührte 
sich in seinem Urteil mit Friedrich Schlegel, der zwar im 
allgemeinen eine günstige Kritik über das Buch aussprach 
und den Stil lobte, aber eine Reduktion der Märchen von 
den vorhandenen 80 Nummern auf 60 für eine Verbesserung 
der Sammlung hielt '). Den Arnimschen Ausführungen 
gegenüber nahmen die Brüder die Märchen eifrig in Schutz. 
Den Einwurf, dass manche es ihren Kindern nicht rück- 
haltlos in die Hände geben könnten, hätten sie voraus- 
gesehen, der Wahrheit der Überlieferung zu liebe aber 
müssten auch Dinge berührt werden, die manche viel- 
leicht anstössig däuchten und schwächere Gemüter ver- 
letzten. Auch tragische Fälle, wie die Geschichten vom 
Schlachten, wären schon durch die tatsächliche Existenz 
entschuldigt und stellten ausserdem eine wichtige Seite der 
Volkspoesie dar. In allen Mitteilungen der Brüder ver- 
nehmen wir den einen Grundton: treues Festhalten an der 
Überlieferung. „Hätten wir verändert, zugesetzt, so wären 
wir verantwortlich", schreibt Wilhelm an Arnim 2 ). Die Streit- 
frage dreht sich hier einfach um ein mehr oder minder. Die 

») Briefw. zw. J. u. W. Grimm S. 356. 
2) Steiff, Achim v. Arnim 111,207. 



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— 16 — 



Brüder Grimm leugneten durchaus nicht, dass der Stoff 
dadurch, dass sie ihn erzählten, gewisse Umbildungen er- 
fahren müsse, doch sei davon das absichtliche Zusammen- 
setzen und Ummodeln weit verschieden, und nur dieses 
wollten sie bekämpfen. Nicht auf pünktliche Treue kam 
es ihnen an, sondern was neben der Achtung vor dem 
geschichtlich Gewordenen „dennoch wie von einer nicht zu 
bezwingenden Gewalt neu herausgetrieben würde", das 
mache den eigentlichen Fortschritt aus ')• Was die Form 
mancher Erzählungen betreffe, so könne man die unver- 
ständlichen, wie die plattdeutschen oder die Abdrücke 
älterer Vorlagen, überschlagen, „und sich sogar freuen, 
darum noch etwas für die Zukunft zu behalten" 2 ). Wü- 
schen: die erste Auflage hebt den Zweck der Sammlung 
als ein Kinderbuch noch weniger hervor. Der wissen- 
schaftliche und geschichtliche Wert der Erzählungen gilt 
den Brüdern noch ebensoviel wie die künstlerische Form, 
sie sind sogar geneigt, diese der Treue in der Überlieferung 
aufzuopfern. Jakob spricht es unverhohlen aus, wie er 
die Sammlung beurteilt wissen wolle: „Das Märchenbuch 
ist mir garnicht für Kinder geschrieben, aber es kommt 
ihnen recht erwünscht und das freut mich sehr, sondern 
ich hätte nicht mit Lust daran gearbeitet, wenn ich nicht 
Glaubens wäre, dass es den ernstesten und ältesten Leuten 
so gut wie mir für Poesie, Mythologie und Geschichte 
wichtig werden und erscheinen könnte" 3 ). Trotz der ab- 
lehnenden Haltung, die hier Jakob gegenüber Arnims 
bessernden Vorschlägen zeigt, sind dessen Ausstellungen 
an dem Märchenbande für die 2. Ausgabe fast sämtlich 
berücksichtigt worden. "Wilhelm, der die Redaktion der 
folgenden Auflagen übernahm, war geneigter, das Urteil 
der Freunde zu beachten. Uneingeschränktes Lob aber 
spendete der Sammlung Joseph Görres in Heidelberg. Ihn ? 
der mit Enthusiasmus die Poesie der „teutschen Volks- 

>) Steig, Achim v. Arnim 111,207. 

2 ) Steig, Achim v. Arnim 111,271. 

3) Steig, Achim v. Arnim IIT, 271. 



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— 17 — 



bücher" verkündigt hatte, mussten die schlichten Erzählungen 
aus dem Volke besonders angenehm überraschen. Schon 
in der Ankündigung der Sammlung hatten die Brüder ver- 
sprochen, dass die Märchen „ohne Schnüre und Goldborten 
als ein ordentliches Volksbuch" schlecht und recht ge- 
druckt werden sollten. „Meine Hoffnung ist", schreibt 
Wilhelm an Görres *), „dass das Buch, wo man es nur 
versucht, gleich seine Kraft bewähren wird." Wie be- 
geistert es sogleich von der Kinderwelt aufgenommen 
wurde, darüber gibt die lobende Anerkennung von Görres 2 ) 
und der Dankbrief Bettinens 3 ) an die Brüder reiche Aus- 
kunft. Seltsam kontrastiert damit Brentanos Mitteilung, 
dass es in Österreich verboten war, die Märchen nach- 
zudrucken, da sie wegen ihres „abergläubischen" Inhalts 
eine Gefahr für die Volksbildung bedeuten sollten 4 ). Auch 
von ßüsching kam eine missgünstige Rezension, die den 
Grimms den Vorwurf machte, die Märchenwelt verdüstert 
zu haben s ). Das schärfste Verdammungsurteil sprach 
Heinrich Voss aus. Er stand wie sein Vater der ganzen 
Romantik feindlich gegenüber; darum kann seine böse 
Kritik nicht schwer ins Gewicht fallen. „Einige Märchen 
sind schön", schreibt er an seinen Freund Truchsess, „voll 
tiefen Sinnes und einfach und gut erzählt, die meisten aber 
sind wahrer Schund, oder wenn auch im Keim gesund, doch 
in der Form durchaus verwahrlost. Ich fordere auch hier 
das Ideal eines Erzählers, und findet sich der in Wirklichkeit 
nicht, so muss der Schriftsteller seinen Platz vertreten" 6 ). 
Wie vor dem Schwulst der Lohensteinschen Periode wird 
vor der „affektierten Kindlichkeit" der Romantiker gewarnt. 

Die Brüder Grimm waren sich des Wertes ihrer 
Sammlung wohl bewusst. Dass die Form zuerst auffallen 
würde, verhehlten sie sich nicht: „Man wird es leicht 

«) am 31. Dez. 1812. 

2 ) Brief an Grimm vom 27. I. 1813. 

3 ) Steig-, Achim v. Arnim 111,265. 

4 ) Steig-, Achim v. Arnim III, 302. 
6 ) Steig, Achim v. Arnim 111,297. 

e ) Briefe v. Heinrich Voss an Christian v. Truchsess S. 37. 
Palast ra XLV1I. 2 



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— 18 — 

bemerken", schreibt Wilhelm an Görres 1 ), „dass es keine 
Hände gearbeitet haben, die sich in poetischen, zierlichen 
Darstellungen geübt, dergleichen in unserer Zeit nicht 
selten sind; es ist im Gegenteil lieber jeder zarte, süsse 
und holde Ausdruck vermieden, der verweichlicht und 
verallgemeinert, und der Gedanke so viel als möglich an 
der Wurzel gefasst worden". Obwohl noch eine „ge- 
wisse Ungeschicktheit in poetischen Arbeiten" 2 ) darin 
walte, ist er überzeugt, dass wegen des reichen Inhalts 
kaum ein anderes Buch damit verglichen werden könne. — 
Die Hoffnungen, die sie auf die Ausgabe der Märchen 
gesetzt hatten, erfüllten sich in reichstem Masse. Der 
1. Band hatte trotz mancher Mängel als ein gutes Muster 
einer Kindermärchensammlung Nacheiferung erweckt. Sie 
empfingen von anderer Seite reiche Beiträge, mehr als 
sie erwartet hatten, so dass der 2. Band bereits 1814 
(mit der Jahreszahl 1815) erscheinen konnte. Die Arbeit 
daran lag wesentlich in Wilhelms Händen, da Jakob sich 
als Gesandtschaftssecretär in Frankreich befand. Neben 
ernsterer wissenschaftlicher Tätigkeit war dem Heraus- 
geber das Zusammenstellen der Märchen eine Erheiterung 
in den verschiedenen Stimmungen des Jahres 3 ). Jakob 
begleitete die Fortschritte des Werkes mit Teilnahme und 
Freude 4 ). An Einheitlichkeit der Stilisierung zeigt dieser 
Band vor dem ersten bereits einen bemerkenswerten 
Vorzug. Die schlichte, treu nacherzählende Art wurde 
beibehalten. Arnim übersah nicht die grössere Sicherheit 
in der Kunst der Erzählung; nur wünschte er noch ein 
stärkeres Hervortreten des Schriftstellers, damit manches 
Märchen einen befriedigenderen Abschluss linde 5 ). 

In beiden Bänden war eine Reihe von Erzählungen 
schriftlichen Vorlagen entnommen; wir wenden uns im 
folgenden ihrer Betrachtung zu. 

») am 31. Dez. 1812. vg-1. auch Steig 1 , A. v. Arnim 111,252. 

2) Steig, A. v. Arnim III, 207. 

3 ) Brief an Corres v. 30. I. 1815. 

4 ) Briefw. zw. J. u. W. (trimm S. 2(W. 
r ) Sleip, A v. Arnim 111,319. 



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Die Vorlagen and ihre Bearbeitung. 

1.6. Von der Nachtigall und der Blindschleiche 1 ). 

Es ist ein französisches Tiermärchen, das erzählt, wie 
Nachtigall und Blindschleiche ursprünglich nur je ein Auge 
hatten und zusammen lebten, bis die Nachtigall von ihrer 
Freundin für eine Hochzeit das eine entlieh, es ihr aber 
nachher nicht wieder zurückgab, und wie nun ewige Feind- 
schaft zwischen ihnen besteht. — Die Brüder Grimm ent- 
nahmen das Märchen dem 2. Bande der M£moires de 
l'Acadfrnie celtique (Paris 1808), wo es sicli in der Ab- 
handlung: Traditions et usages de la Sologne 2 ) par M. Legier 
nahezu vollständig vorfindet 3 ). Es schliesst hier: „L'opinion 
des Solognots est que non loin du nid d'un rossignol, 
souvent sous l'arbuste oü il est, on peut chercher, on y 
trouvera certainement un anvot; j'ai cherche et n'ai rien 
trouve*". Im Deutschen steht anstatt dieser kritischen 
Bemerkung, die als solche den Ton der einfachen Märchen- 
erzählung verlässt, ein anderer Schluss, der die Geschichte 
besser abrundet, indem er die stete Feindschaft der beiden 
ehemaligen Freunde zum Ausdruck bringt: „und sie trachtet 
immer hinaufzukriechen, Löcher in die Eier ihrer Feindin 
zu bohren oder sie auszusaufen." Dies ist die wörtliche 
Übersetzung einer Anmerkung im 4. Bande der Mcmioires. 
Dort heisst es in einem Aufsatz über den Volksglauben 
in der Sologne und inBerri: „La fable druidique relative 
ä Tanvot et au rossignol y (i. e. en Berri) est aecredit^e 

») vgl. R. Köhler, Zs. d. Ver. f. Volkskunde I, 53 ff. 
2 ) In Mittelfrankreich, Departement Loire-Cher. 
») S. 204 f. 

2* 



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— 20 — 



comme ä Sologne et cit£e m£me comme proverbe, sans 
doute parce qu'elle tient ä la fois aux all^gories du drui- 
disme et ä la morale. Par ce double rapport, nous avons 
cru, M. Johanneau et moi (Legier), qu'elle meritait d'etre 
versinke et nous l'avons mis en vers." Der Schluss der 
nun folgenden, gereimten Fassung (S. 100—102) lautet: 

„Aveugie et nialheureux par trop de complaisance, 
Depuis ce temps l'anvot cache son existence 
Sous le nid de l'ingrat; attend dans le sileuce 
L'instant de se venger de l'u'il qu'il a perdu, 
En mangeant Wvuf que le trattre a pondu." 

Eine Note zu „l'ingrat 11 erklärt: „On dit qu'il se trouve 
toujours un anvot sous le nid du rossignol et qu'il en 
perce et mange les (eufs. il 

Die Übersetzung schliesst sich eng an den französischen 
Text an. Einige Eigentümlichkeiten des Stils fallen jedoch 
sofort ins Auge: Grimm legt Wert auf die Beseelung der 
Tierwelt. Wie in der Volkspoesie Uberhaupt — am aus- 
gedehntesten im Tierepos — werden menschliche Ver- 
hältnisse auf die Tiere übertragen, und diese dadurch in 
die Mensehenähnlichkeit erhoben. Die knappen An- 
deutungen der Vorlage sucht die Bearbeitung möglichst 
zu bereichern und dadurch das Ganze poetischer zu ge- 
stalten. Aus diesem Grunde erklären sich Ausdrücke wie: 
da „wohnt" eine Blindschleiche (on trouvera un anvot) — 
Wie die Nachtigall nach Haus gekommen war (le rossignol 
de retour) — die Blindschleiche tat es „aus Gefälligkeit*' 
(Fanvot le lui preta). 

Der volkstümlichen Ausdrucksweise entspricht der 
synonyme Parallelismus in den Wendungen: Sie lebten 
zusammen in einem Haus „in Frieden und Einigkeit"' (ils 
vivaient dans une bonne intelligence) — sie wollte sich 
„an ihren Kindern und Kindeskindern 1 ' rächen (venger 
sur sa progeniture). Und ähnlich wird im folgenden durch 
die Wiederholung eine behagliche Breite zu Gunsten des 
volkstümlichen Stils vorgezogen: „Ks gefiel ihr so wohl, 
das* sie zwei Augen im Kopf trug und zu beiden Seiten 



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— 21 — 



sehen konnte, dass sie der armen Blindschleiche ihr ge- 
liehenes Aug' nicht wieder zurückgeben wollte" (le rossignol 
refusa de rendre Pceil, qu'il lui avait prete*). — „Seit der 
Zeit haben alle Nachtigallen zwei Augen und alle Blind- 
schleichen keine Augen' 4 (et voilä pourquoi Tanvot ne voit 
pas clair). — Die Stelle: „II pria Tanvot de lui prcter son 
oeil" lautet bei Grimm erweitert und der Umgangssprache 
angeähnelt: ..ich bin da auf eine Hochzeit ge.beten und 
möchte nicht gern so mit einem Aug hingehen, sei doch 
so gut und leih mir deins dazu, ich bring dir's morgen 
wieder/' 

Die Lautmalerei freilich in dem Vers der singenden 
Nachtigall: 

„Je ferai mon nid si haut! si haut! si haut! si bas! 
Que tu ne le trouveras pas, a 

die an das: .,ziküth kl in dem Märchen von Jorinde und 
Joringel (1, 69) anklingt, konnte im Deutschen nicht so 
glücklich nachgeahmt werden: 

„Ich bau mein Nest auf jene Linden, 
So hoch, so hoch, so hoch, so hoch; 
da magst du's nimmermehr finden.* 

Dafür aber ist der Hinweis auf die Linde als den 
Baum der Volkspoesie als glücklicher Zusatz zu bezeichnen: 
der Reim auf „finden" macht allerdings die Beifügung sehr 
leicht erklärlich. 

Einige dialektische Fassungen des Märchens 1 ) sind, 
wie R. Köhler zuerst ausgesprochen hat. 2 ) nicht boden- 
ständig, sondern gehen unmittelbar auf die Grimmsche 
Übersetzung aus dem Französischen zurück. In Frank- 
reich lebt die Erzählung noch jetzt vielfach im Volks- 
munde fort. 9 ) 



') vgl. Firmenioh, Gennaniens Völkerstimmen I, 283. H. F. 
W. Raabe, Allgem. plattdeutsches Volksbuch 1854, pag. 234. 
2 ) a. a. O. S. 63. 
*\ ib'd. S. 55 f. 



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1,8. Die Hand mit dem Messer. 

Das Märchen geht ursprünglich auf ein schottisches 
Kinder- oder Volkslied zurück, dessen Inhalt die Schrift- 
stellerin Mrs. Anne Grant of Laggan (1755—1838) in ihren 
Essays 1 ) mitteilt. Sie kannte das Lied aus mündlicher 
Überlieferung: „One of these (stories)", schreibt sie, „which 
I have heard children at a very early age sing, and which 
is just to'them the Babes in the Wood, I can never forget. 
The affecting simplicity of the tune, the stränge wild 
imagery and the marks of remote antiquity in the little 
narrative gavc it the greatest interest to nie. who delight 
in tracing back poetry to its infancy." Die nun folgende 
Inhaltsangabe bildete die Vorlage für das Grimmsche 
Märchen. Bei der Seltenheit des englischen Werkes mag 
es erlaubt sein, die betreffende Stelle hier einzurücken; 
sie wurde mir gütigst durch die Verwaltung der Bibliothek 
des British Museum übermittelt: 

„A little girl had beert innocently beloved by a fairy, who 
dwelt in a tomban near her mother's habitation. She had 
three brothers who were the favourites of her niother. She 
herseif was treated harshly and tasked beyond her strength: 
Her employment was to go every morning and ent a certain 
quantity of turf from dry heathy ground for immediate fuol 
and this with somo uncouth and primitive implement. — As 
she past the hillock, which contained her lover, he regularly 
put out bis band with a very sharp knife of such power, that 
it quiekly and readily cut tbrough all impodiraenls. She re- 
turned chearfully* and early with her load of turf; and as she 
past by the hillock, she Struck on it twice and the fairy stret- 
ched out his hand tbrough the surface and reeeived the knife. 
The mother, however, told the brothers, that her daughter 
must certainly have liad sonie aid to perform the allotted task. 
They watched her, saw her receive the enehanted knife and 
forced it from her. They returned, Struck the hillock, as she 
was wont to do, and when the fairy put out bis band, they 
cut it off with his own knife. He drew in the bleeding arm in 
despair and supposing this cruelty was the result of treachery 
on the part of his beloved, never saw her nioro." 

l ) Essays on the superstitions of the highlanders of Scotland. 
London 1811. I, 285-8(5. 



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— 23 — 



Die Bearbeitung folgt fast wörtlich der Vorlage; nur 
hin und wieder wurde ein Ausdruck in einer etwas volks^ 
tümlicheren Färbung wiedergegeben, z. B.: „Sie musste 
tagtäglich' morgens früh ausgehen 4 ' (her employment was 
to go every morning). Der Zusatz : „ein altes und stumpfes 
Gerät, womit es die ,sauere Arbeit' verrichten sollte", 
scheint nicht ohne Absicht beigefügt zu sein; Grimm liebt 
die volkstümliche Redensart: „es sich sauer werden lassen" 
und hat sie verschiedentlich variiert häufiger in den 
Märchen angewandt. Obwohl nur die oben mitgeteilte 
Inhaltsangabe des Liedes von Grimm benutzt wurde, seien 
auch einige Strophen der Originalfassung hier angegeben, 
damit das Verhältnis der Prosaauflösung zum ursprüng- 
lichen Licde deutlich wird. Anne Grants Versuch der 
Übertragung des Textes ins Englische enthält die Worte 
dos jungen Mädchens: 

„1 behold yonder the tomhan covered with rowan'Jand holly. 

Dear to mc is tho troasure whieh it contains. 

Sweet and deep was my sluinber 

On the brink of the lake of niany salmon. 

I awoke, and half of my bed remained not. 

I see yonder tbe tonihan, etc. 

I see my brother.s afar yonder 

Mounted on sleek swift jßrrey steeds: 

They ride, but my heart goes not with them. 

I see yonder tho tomhan, etc. 

I see the hotise of my mother afar off; 
Not as it were a house, but a place de.serted. 
While sweet slumber falls on others, 
Green flames shall encompass her feet. 
I see yonder the tomhan, etc. u 

Schon diese Strophen lassen erkennen, dass das Ge- 
dicht viel breiter angelegt war, als die Grimmsche Vor- 
lage, die sehr straff zusammenfasst und nur die Hauptpunkte 
der Erzählung berührt. Vollständig ist das Lied auch in 

!) Rowan, the mountain Ash. 



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— 24 — 



der englischen Fassung nicht erhalten. — Das Märchen 
wurde als undeutsch in der 2. Auflage überhaupt aus- 
geschieden. 

1,20. Von einem tapfern Schneider. 

Das weitverbreitete 1 ) Märchen vom tapferen Schneider- 
lein steht in der l. Auflage in 2 Fassungen unverbunden 
nebeneinander. Die erste stammt aus Martin Montanus 
(Wegkürzer, cap. 5) und wurde wörtlich daraus abgedruckt. 
Auch der Druckfehler in der Vorlage: „das ihm so sehr 
grossen Schaden an Fisch (= Vieh) und Leut thet", ging 
unverbessert in die Bearbeitung über. 

Die zweite Rezension, ein Fragment, erzählt nach einer 
mündlichen Überlieferung aus Hessen. Diese hat einen 
anschaulicheren Eingang, berichtet ausführlich, wie der 
Schneider sich von der Bauerfrau das Mus erhandelt und 
29 Fliegen auf einen Streich erlegt. Er näht sich dann 
den Gürtel mit der prahlerischen Aufschrift, zieht in die 
Welt und erlebt die Abenteuer mit dem Riesen. Mit der 
Kraftprobe an dem Kirschbaum, an dem der Riese und 
der Schneider ihre Stärke messen, endigt die Geschichte. 
Bei Montanus, der wahrscheinlich aus mündlicher Über- 
lieferung schöpfte 2 ), ist dieser Teil viel kürzer. In einer 
Stadt Romandia, erzählt er, habe ein Schneider 7 Fliegen 
auf einem Apfel erschlagen und sei, nachdem er die Helden- 
tat auf den Harnisch geschrieben, an des Königs Hof ge- 
zogen. Im folgenden wird nun das Leben des Schneiders 
in königlichen Diensten mit grosser Ausführlichkeit ge- 
schildert. 

Erst in der 2. Auflage wurde das Märchen umge- 
schrieben und ergänzt (s. u.), ohne jedoch den ursprüng- 
lichen Charakter und die Geschlossenheit der Darstellung 
zu verlieren. Wie willkürlich war dem gegenüber Brentanos 
Verfahren! Sein Märchen vom Schneider Siebentot ist in 

>) vgl. ausser Grimm 111,3 29 R. Köhler, Kleinere Schriften 



I, 5C3 f. 



-) vgl. Monianus. Schwankhücher ed. Bolte S. XVI. 




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— 25 — 



bunter Ordnung mit der Erzählung vom Däumchen ver- 
knüpft. Lächerliche Bezeichnungen, scherzhafte Lieder 
und Angriffe auf Juden und Schneider machen das Ganze 
zu einem launigen Gemisch halb märchenhafter, halb 
satirischer Dichtung. 

I, 22. Wie Kinder Sehl achtens mit einander gespielt 

haben. 

Die uralte Sage „von einem Kinde, das kindlicher 
Weise ein anderes Kind umbringt" entnahmen die Brüder 
H. von Kleists Berliner Abendblättern, wo es in Nr. 38 
vom 13. November 1810 abgedruckt war. Der anonyme 
Einsender war Achim von Arnim '), der die Erzählung 
„aus einem alten Buche", nämlich aus Georg Wickrains 
Rollwagenbüchlein 2 ) mit ganz geringen sprachlichen Mo- 
dernisierungen zum Abdruck brachte. Die Veranlassung 
dazu gab offenbar Zacharias Werners 1809 gedichtetes 
Trauerspiel: Der 24. Februar. Arnim verweist in seiner 
Zuschrift, die eine Aufführung des Dramas in Berlin an- 
regen wollte, auf das ähnliche Motiv, das in Werners 
Spiel zu Grunde liege; ein wichtiger Teil der Vorgeschichte 
des Stücks ist mit Anlehnung an eine ähnliche Mord- 
geschichte gedichtet worden.') Der kleine Kurt Kuruth 
hat in kindlicher Naivetät seine Schwester im Spiel ge- 
schlachtet, nachdem er die Mutter hatte ein Huhu ab- 
stechen sehen. Wahrscheinlich schwebte Werner hierbei 
eine mündliche Überlieferung der weitverbreiteten Sage 
vor. — Einen ergiebigen Gebrauch davon machte später 
Arnim im 2. Teil der Kronen Wächter. 4 ) Er gestaltete die 
Erzählung romanhaft aus und spitzte sie ähnlich wie 
Werner zu einem Geschwistermorde zu. Oswald, das 
nachgebliebene Söhnchen Bertholds, wird von dem Sohne 
Antons, seinem Stiefbruder, unter gleichen Umständen, 

1) R. Steig, II. v. Kleists Berliner Kämpfe S. 202. 

2 ) Georg Wickram, Werke III, S. 97 f. 

8 ) vgl. E. Schmidt, Vicrteljahrschr. f. Litterat.-Gosch. I, .jt'3. 
*) Steig, H. v. Kleists Berliner Kämpfe S. 203. 



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— 26 — 



wie die Sage erzählt, im Spiel hingemordet; der Mörder 
trinkt das Blut seines Opfers. Hineingeflochten aber wird 
von Arnim ein mystischer Zug, als ob eine geheimnissvolle 
Macht des Blutes die grausige Tat veranlasst habe. Bert- 
holds „zweites Leben 1 ', dem Oswald entstammte, war erst 
durch eine künstliche, von Dr. Faust vorgenommene Blut- 
übertragung möglich geworden; es war Antons Blut, das 
in dem Kinde floss. Der Mörder tat nach Arnims Dar- 
stellung nur den Willen des Schicksals, wenn er das Blut, 
das ihm eigentlich gehörte, zurückforderte. Beim Morde 
kam dasselbe Messer zur Verwendung, das beim Aderlass 
des Vaters einst gebraucht worden war. — Ähnlich ist 
die Durchführung einiger Gedanken bei Werner. Auch 
hier spielt das Mordmesser eine grosse Rolle, so dass man 
behaupten kann, dass nicht nur der Abdruck in den Abend- 
blättern, sondern auch die poetische Umgestaltung der 
Sage in den Kronenwächtern von dem virtuosen Schicksals- 
drama angeregt und beeinflusst worden ist, um so mehr, 
als es sich auch liier um einen Geschwistermord handelt, 
der in der von Arnim benutzten Fabel ursprünglich nicht 
vorhanden war. — - Die Grimmsche Bearbeitung hat nicht 
versucht, eine andere Stilisierung des Märchens vorzu- 
nehmen. 

Verwandt mit der eben behandelten Erzählung ist eine 
andere Fassung (22 b ), die nur noch das Grausige der Er- 
eignisse häuft: Ein Kind ersticht seinen Bruder, ertrinkt 
selbst im Badezuber, die Mutter erhängt sich aus Ver- 
zweiflung, und der Mann, der bei der Bückkehr vom Felde 
das Unglück wahrnimmt, stirbt vor Gram. Der Grimmsche 
Text ist, abgesehen von geringfügigen Wortveränderungen, 
ein getreuer Abdruck der Vorlage: Martin Zeillers 
Miscellanea (Nürnberg 1G61, S. 388). Zeiller übersetzte 
aus J. Wolfs Lectiones memorabiles (1600). Schon in 
der Zimmerischen Chronik wird die Geschichte erzählt 1 ). 



! ) vgl. Holte, Anmerkung zu Wickram 111,3«"); Goodeke, 
Schwanke S. 40. 



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- 27 - 



Die Vorlage bringt noch einen sagenhaften Bericht Uber 
das Zustandekommen des Distichons: 

„Sus, pueri bini, puer unus, nupta, maritus 
cultello, lympha, fune, dolore cadunt* 

das in wenigen Worten den Inhalt der entsetzlichen Tra- 
gödie wiedergibt. Mit Recht fand Arnim die beiden Er- 
zählungen wegen der rohen Grausamkeit, die darin zum 
Ausdruck kommt, als Kindermärchen unpassend 1 ); in der 
2. Auflage blieben sie weg. 

1,23. Mäuschen, Vögelchen und Bratwurst. 

Das Märchen ist ein nahezu wörtlicher Abdruck der 
Vorlage: Moscherosch, Gesichte Philanders von Sitte waldt, 
II. Teil, Schluss des 7. Gesichts. Infolgedessen blieb auch 
der altertümliche Stil bestehen und wurde auch in den 
späteren Auflagen nur wenig verändert. Der Inhalt ist 
kurz dieser: Eine Maus, eine Bratwurst und ein Vogel 
leben eine Zeitlang in glücklicher Gemeinschaft; jedes 
übt seine besondere Tätigkeit in der Wirtschaft aus. Der 
Vogel aber wird seiner Arbeit bald überdrüssig, und die 
W r urst muss sein Amt Ubernehmen, nämlich Holz im W T alde 
zusammen zu suchen. Eines Tags aber wird sie von einem 
Hund angetroffen und als freie Beute verzehrt. Er habe 
falsche Briefe bei ihr gefunden, erwidert er dem Vogel auf 
dessen Beschwerde. Die Maus übernimmt nun die Rolle 
der Bratwurst und schlingt sich durch das Gemüse, um 
es zu schmälzen, kommt aber dabei um; bei dem Versuch, 
eine entstandene Feuersbrunst zu löschen, muss auch der 
Vogel sein Leben lassen. 

Die Vorlage unterscheidet sich von der Bearbeitung 
wesentlich nur durch die Tendenz. Moscherosch überträgt 
die im Märchen geschilderten Verhältnisse auf die politischen 
Zustände seiner Zeit; die Figuren der Erzählung vertreten 
ihm die drei Stände. Aus dem Verlauf ergibt sich für ihn 
wie aus einer Fabel die Lehre, dass der Staat nur solange 



i) Steig, Achim von Arnim III, 2G3. 



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— 28 - 



bestehen könne, wie die Stände sich freiwillig einander 
unterordneten, „da es je und allewege ein Zeichen Unter- 
ganges gewest, wann sich einer in seinem Stande nicht 
mehr benügen lassen". Bei Grimm ist von Beziehungen 
auf die Zeitgeschichte keine Spur mehr vorhanden. Der 
tendenziöse Charakter ist vollständig abgestreift, und wir 
haben das blosse Tiermärchen vor uns. Die dem Märchen- 
stil eignenden Koseformen: „Mäuschen", „Vögelchen", 
„(Brat-) Würstlein" stehen in der Vorlage ohne Ver- 
kleinerungssilben. Die Verwendung der Deminutiva ver- 
leiht dem Vortrag eine gewisse Zierlichkeit. 

1,27. Der Tod und der Gänshirt. 

Der wörtliche Abdruck einer Erzählung aus Ph. Hars- 
dörfers Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichten. 5 ) — 
Ein armer, lebensmüder Hirt bittet den Tod, ihn über ein 
grosses Gewässer ins Jenseits mit hinüberzunehmen. Nach- 
dem dieser einen Geizhals abgeholt und ertränkt hat, führt 
er den Hirten mit seiner Gänseherde wohlbehalten in den 
Himmel. Hier verwandeln sich die Gänse in Schafe, und 
die drei Erzväter geleiten den Hirten in ein schönes Schloss 
und krönen ihn. — Harsdörfer erzählt die Geschichte als 
ein allegorisches Lehrgedicht, das „der Gottlosen und 
Frommen jetzigen und künftigen Zustand bedeute. 4 ' 

Wegen seines dürftigen Inhalts fiel das Märchen in 
der 2. Auflage fort; an seine Stelle trat das schon bei 
Rollenhagen im Fröschmäuseler 2 ) bearbeitete Märchen von 
den Bremer Stadtmusikanten nach mündlicher Tradition 
aus dem Paderbörnischen. 

1,35. Der Sperling und seine vier Kinder. 

Die vier Jungen eines Sperlings werden durch einen 
Sturm aus dem Nest geschleudert, kommen aber alle mit 



>) Ausg. v. 1063, S. G51 f. 
2) ed. Goetieke, III, 9. 



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— 29 — 



dem Leben davon. Nach einem Jahr treffen sie mit ihrem 
Vater wieder zusammen und berichten über ihre Erlebnisse. 
Jeder hat während der Zeit so viel gelernt, dass er der 
Hülfe des Alten nicht mehr bedarf. — Das Märchen ist 
dem ,.Fabulhans" Joh. Balthasar Schupps entnommen, 1 ) 
einem Tractat, der mit grossem Eifer die Verwendung 
volkstümlicher Erzählungen auf der Kanzel verteidigt. 
Schupps Quelle waren die Predigten des Lutherbiographen 
Johannes Mathesius. — Die Grimmsche Bearbeitung be- 
hält die ursprüngliche Fassung nahezu unverändert bei. 
Einige Ausdrücke wurden modernisiert: warnen vor (für), 
die hohl sind (sein), sehet euch vor (für). Manche Ab- 
weichungen sind wenigstens für die 1. Auflage als unfrei- 
willig zu bezeichnen, da das Märchen sonst durchgehends 
die archaischen Formen festhält; auch die späteren Auf- 
lagen überlieferten den Text in der Sprach form des 
17. Jahrhunderts und haben nur hier und da einen alter- 
tümlichen Ausdruck ersetzt. 

Arnim erzählt das Märchen unter der Überschrift: 
„Die Schule der Erfahrung u in der Gräfin Dolores. 2 ) Der 
Text ist hier genauer, als in der von ihm 1817 zum An- 
denken an die Reformation herausgegebenen Auswahl der 
Predigten des Mathesius. Die Fassung in der Sprich- 
wörtersammlung des Chytreus (1571), mit der bei Mathesius 
übereinstimmend, bildete die Vorlage für die Darstellung 
in Rollenhagens Froschmäuseier*), wo das Märchen viel- 
fache Erweiterungen im einzelnen erfahren hat. Betitelt 
ist es: Doktor Sperlings Rat. Sowohl Rollenhagen wie 
Arnim machen schon durch die Überschrift auf den 
lehrhaften Grundgedanken aufmerksam; bei Grimm fällt 
wiederum die Vermenschlichung der Tierwelt ins Auge; 
hier ist das Märchen „Der Sperling und seine vier Kinder" 
überschrieben. 



') A.isjr. v. 1700, S. 780. 

2) Werke M, 190 !f. 

3) Hitch, 2,2, VII. 



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Drei Märchen wurden aus Heinr. Jung-Stillings Lebens- 
geschichte (1777) entlehnt: Jorinde undJoringel (1,69), 
der Grossvatcr und der Enkel (1, 78) und die alte 
Bettel fr au (11,64). Die in einfacher Sprache gehaltene 
Biographie des frommen Mannes erinnert zuweilen selbst 
durch die wunderbare Entwickelung der Begebenheiten an 
eine märchenhafte Erzählung. Von Jugend auf mit dem 
Leben des Volkes vertraut, hatte Stilling für Volkspoesie 
lebhaftes Interesse; mit grossem Geschick weiss er die 
Märchen in den Verlauf der Lebensbeschreibung einzu- 
schalten. „Jorinde und Joringel" ') wurde wörtlich von 
Grimm abgedruckt und gibt zu stilistischen Bemerkungen 
keinen Anlass. Die Verwandlung der Hexe in einen Hasen, 
die bei Grimm fehlt, ist wohl nur durch Flüchtigkeit zu 
erklären, da der Text sonst die Vorlage genau wiedergibt. 
Eine mündliche Erzählung aus der Schwalmgegend in 
Hessen, die die Brüder anmerkungsweise zitieren, weicht 
von der Stillingschen Fassung nur in Nebenzügen ab und 
ist für die Grimmsche Bearbeitung nicht weiter von Be- 
deutung gewesen. 

2. Das bekannte Märchen vom Grossvater und Enkel 2 ) 
hat Stilling in die Lebensgeschichte eingeflochten und es 
infolgedessen mit einigen Zusätzen belastet. Er versetzt 
es in die unmittelbare Gegenwart und legt es einem 
Knaben in den Mund, der es als neuestes Erlebnis seinen 
Kameraden beim Spiel erzählt. Aus dieser Voraussetzung 
erklären sich Hinweise wie: „Neben uns wohnt der alte 
Frühling, ihr wisst wie er dahergeht" oder: „ich habe itin 
wohl sehen essen" — „nun hat er ehegestern sein irdenes 
Schüsselchen zerbrochen" — „da musste er gestern Mittag 
aus essen". Diese Zusätze, wie auch den willkürlich ge- 
wählten Eigennamen, liess die Bearbeitung fort, hielt sich 
aber sonst eng an die Vorlage. Nur ein paar Ausdrücke 
sind bei Grimm anschaulicher: „Wenn er nun bei Tisch 



') Jung Stilling, Red. S. 63 f. 
'■0 a. a. O. S. 78. 



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sass und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe 
auf das Tischtuch". (Wenn er dann so am Tisch sass und 
zitterte, so verschüttete er immer vieles.) Das altertümliche 
Wort: „Schnur" (Schwiegertochter) ist bei Grimm moderni- 
siert: „Sein Sohn und dessen Frau". 
3. Die alte Bettelfrau '). 

Es ist ein Fragment: Eine alte Frau tritt ins Haus, 
um sich zu wärmen; aus Versehen kommt sie dem Feuer 
zu nahe, und ihre Kleider fangen an zu brennen, ohne 
dass sie's gewahr wird. Ein Knabe steht dabei, bemüht 
sich aber nicht zu retten: „Wenn er kein Wasser gehabt 
hätte, dann hätte er alles Wasser in seinem Leibe zu den 
Augen herausweinen sollen, das hätte so zwei hübsche 
Bächlein gegeben zu löschen." Damit bricht die Erzählung 
ab. Stilling fügt das Märchen an einer wichtigen Stelle 
seiner Lebensgeschichte ein. Zwei junge Mädchen sind in 
ihn verliebt. In einem seltsam verzückten Zustand 
schwärmerischer Leidenschaft gesteht die eine ihm durch 
bedeutungsvolle. Verse aus einem Volkslicde und durch 
das Märchen ihre Neigung. Sie selbst ist die Bettelfrau, 
der „freundliche Schelm von Jungen" ist Stilling. Ihr Herz 
hat von ihm Feuer gefangen und nun wolle er's nicht 
löschen, da er sich von ihr zurückziehe. Der Schluss fehlt. 
Hierzu macht Grimm die Anmerkung: „Vermutlich rächt 
sich das Bettelweib durch eine Verwünschung, wie man 
mehr Sagen von eintretenden pilgernden Bettlerinnen hat, 
die man nicht ungestraft beleidigt". Vielleicht kannte 
Stilling das Märchen selbst nicht vollständig, wahr- 
scheinlich aber unterdrückte er den Schluss absichtlich. 
Dadurch, dass Stilling und seine Geliebte die Personen 
des Märchens darstellten, war es unmöglich, dass das 
Mädchen in der Rolle der Bettlerin einen Fluch über ihn 
aussprechen konnte. Sie ist mehr traurig als erzürnt über 
den kalten Liebhaber. Und durch die Zwischenfrage 
Stillings: „Aber wenn er nun kein Wasser hatte, nicht 



») a. a. O. S. 118. 



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löschen konnte?" wodurch er seine Zurückhaltung ent- 
schuldigen und verteidigen will, wird in dem leidenschaft- 
lichen Mädchen das bittere Gefühl verschmähter Liebe auf 
den Höhepunkt getrieben, und sie bricht in Tränen aus. 
Unmöglich konnte jetzt eine Verwünschung nachfolgen. 
Wie berechtigt aber die Brüder Grimm zu ihrer Hypothese 
waren, wird durch den Zusatz der 2. Auflage bestätigt; 
hier verweisen sie auf Heinrich von Kleists Bettelweib von 
Locarno, wo das Märchen in allen Teilen vertieft und ins 
Gespensterhaft -furchtbare vergrössert worden ist. Viel- 
leicht geht Kleists Novelle ebenfalls auf Stilling zurück 1 ), 
doch kann es sich hierbei nur um eine Anregung handeln. 
Die Grimmsche Bemerkung, dass die vortragende Amme 
oder Mutter den zuhörenden Kindern vielleicht auch den 
Gang der krummen, gebückten Alten mit dem Stock in der 
wackelnden Hand vormacht, stützt sich auf die Darstellung 
in ihrer Vorlage. — An dem eigentlichen Märchen haben 
die Brüder nichts geändert; nur die verschiedenen Zwischen- 
bemerkungen und Fragen, die bei Stilling durch die Ein- 
tlechtung des Märchens in den Zusammenhang des Romans 
nötig geworden waren, üelcn fort. 

1,32. Der gescheite Hans. 

An die aus mündlicher Überlieferung (Maingegenden) 
geschöpfte Erzählung vom gescheiten Hans reiht die 
1. Auflage eine Parallele aus J. Freys Gartengesellschaft, 
Kap. 1, an. Bebels Schwank: De fatuo rustico (Opus- 
cula 1514) bildet den Ausgangspunkt. Freys Übersetzung 
schliesst sich eng der lateinischen Vorlage an, die Grimmsche 
Bearbeitung ist der wörtliche Abdruck aus der Garten- 
gesellschaft. — Die Streiche des dummen Hans sind hier 
in reicher Vollständigkeit beisammen. Er besudelt die 
von der Braut geschenkten Handschuhe, erwürgt den 
Habicht, trägt die Egge auf den Händen und lässt den 
Speck vom Pferde heimschleifen. will dann zu Hause den 

ij Steife-, Kloisls Berliner Kämpfe, S. 524. 



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verschütteten Wein mit Mehl auftrocknen, tötet die 
schreiende Gans, die ihn seiner Meinung nach verraten 
will, setzt sich nun mit Honig beschmiert auf ihre Eier, 
um sie auszubrüten, und wirft dann nach Eulenspiegels 
Art seiner Braut ausgestochene Schafaugen ins Gesicht. 
JedeseinerAlbernheitenhatin der mittelalterlichen Schwank- 
litteratur die mannigfaltigsten Variationen.') In Grimms 
Sammlung steht es nur in der 1. Auflage; es wurde nach- 
her wegen der altertümlichen Sprache in die Anmerkungen 
aufgenommen. — Dass der Grimmsche Ausdruck: ,.Löffel- 
bitz" auf einem Lesefehler beruht: „und trug sie wie ein 
anderer Löffel bis heim", ist bereits von Bolte bemerkt 
worden 1 ). 

1,82. Die drei Schwestern. 

Zu Grunde liegt die Chronika der drei Schwestern 
von Musäus. Der Inhalt des Märchens ist kurz folgender: 
Ein Graf verprasst sein Gut und verkauft, um sein Leben 
zu erhalten, seine drei Töchter Wulfhild, Adelheid und 
Bertha an einen Bären, einen Aar und einen Delphin, drei 
verzauberte Prinzen. Diese sind gut und schön in Menschen- 
gestalt, die jeder nach einer bestimmten Frist (7 Tagen — 
7 Wochen — 7 Monaten) einmal annehmen kann; wenn 
sie aber wieder Tiere geworden sind, darf ihnen kein Mensch 
ungestraft nahen. Ein spätgeborener Sohn des Grafen. 
Eeinald, macht sich auf, um die Schwestern zu suchen 
und zu erlösen. Jeder Schwager ist eine Gefahr für ihn; 
verwandelt aber nehmen sie ihn gastfreundlich auf, und 
jeder schenkt ihm beim Abschied ein Mittel, womit Reinald 
die Entfernten zu Hilfe rufen könne, wenn er sich in Not 
befinde; der Bär drei Haare, der Adler drei Federn und 
der Delphin drei Schuppen. Er macht von diesen Geschenken 
in Lebensgefahr Gebrauch; es gelingt ihm, den Zauberer 
Zornebock, einen Sorbenfürsten, zu erschlagen, und damit 
wird nicht nur den verwandelten Prinzen ihre rechte Ge- 



') Anmerkung zu Frey, Gartenges. Kap. I. 
Palaestra XLVII. 3 



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stalt wiedergegeben, sondern noch dazu eine schöne Prin- 
zessin, Hildegard, die Tochter Radbods von Pommern, aus 
der Gefangenschaft des Zauberers erlöst und von Reinald 
heimgeführt. Die Darstellung bei Musäus weist die Vorzüge 
und Mängel seiner sonstigen Schreibweise auf. Den knappen 
Inhalt hat er sehr reich ausgestattet und mit den Arabesken 
seines Witzes umrankt. Freilich hat dadurch die Erzählung 
den märchenhaften Charakter beinahe verloren, und nur 
selten hört man die schlichte Volkssprache. Die Schilderung 
ist im einzelnen sehr ausführlich und die Beschreibung der 
Situationen breit angelegt. Vor allem drängt sich das 
komische Element hervor. Nicht ohne ein wenig Frivo- 
lität wird erzählt, dass bei der alternden Gräfin der Segen 
des frommen Eremiten in der Klause so wirksam war, dass 
die Geburt Reinalds bald erfolgte, und als dieser später 
vor der schlafenden Jungfrau im Banne ihrer Schön- 
heit ohne sich zu regen dasteht, bemerkt der Erzähler 
ironisch, dass das erleuchtete, über die Naivetät der 
Märchenwelt weit erhabene 18. Jahrhundert dergleichen 
Situationen ganz anders benutzt hätte. Treuherzige, ein- 
fache Darstellung wechselt mit satirischen Auslassungen 
über menschliche Zustände und Sitten: der verzauberte 
Prinz steht auch als Bär „unter dem Pantoffel seiner Dame", 
verallgemeinernd wird bisweilen der leichtfertige Charakter 
der Frauen angegriffen. Ehrwürdige Gestalten macht er 
gern durch Zusätze lächerlich: Graf und Gräfin sind bei 
ihm „Papa" und „Mama", der verzauberte Prinz „Signor 
Albert". Es fehlt nicht an spöttischen Anspielungen auf 
die Zeitgeschichte: „Zephyre" wehen „bei einer empfind- 
samen Abendpromenade". Wenn vom Delphin gesagt wird, 
er habe so viel „physiognomisches Gefühl" besessen, Unheil 
zu wittern, so deutet der Verfasser der „Physiognomischen 
Reisen" auf Lavaters Bemühungen hin. „Die Morgenröthe 
philanthropistischer Methode" spielt auf Basedow an, und 
wenn Bertha „glänzt wie der Silbermond den empfindsamen 
Wanderern in der Sommernacht", hören wir deutlich die 
bekannte Klopstocksche Ode anklingen. „Freund Hain" 



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darf natürlich in dieser Umgebung nicht fehlen. Ferner 
liegen die Hinweise auf die Siebenschläfer und einige un- 
bekannte Namen. Störend wirkt die Menge der Fremd- 
wörter, die bisweilen gleichfalls zu komischen Effekten be- 
nutzt werden: „veramort", „ein unbefangenes Air zu 
affektieren". Vor allem aber treten sie bei der Schilderung 
des gesellschaftlichen Lebens stark hervor. Hier ist der 
ganze Zuschnitt modern-französisch; Worte wie: Livröe, 
Juwelen, Dublonen, Toilette, Carosse, Cavalcade, Agraffe, 
credenzen, Bai pare\ Plafond, Bankett, Föten usw. um- 
schwirren das Ohr. Wie wenig er die Vorstellung des 
Märchenzeitalters erwecken will, ergibt sich auch daraus, 
dass Bertha „im reizenden Morgenn6gligee ihre Chocolade" 
trinkt, wie das vornehme Fräulein des 18. Jahrhunderts, 
Modern berührt schon die willkürliche Benennung der 
Personen: Adelheid hat ihren Namen mit bewusster An- 
lehnung an ihren Gemahl, den Adler, erhalten. Zum 
Schluss lässt er die drei verzauberten Prinzen Gründer 
von Reichen und Städten werden: Albrecht der Bär gründet 
Bernburg in der Herrschaft Askanien, Edgar der Aar die 
Stadt Aarburg in der Schweiz, Ufo der Delphin bemächtigt 
sich im Burgunderreich des nach ihm benannten Delphinats. 
Das Symbol ihrer Wappen erinnert an ihren früheren, ver- 
zauberten Zustand. 

In der Grimmschen Bearbeitung ist nur der Gedanken- 
gang der Musäusschen Erzählung beibehalten; alle Aus- 
führungen im einzelnen fehlen, die Brüder begnügen sich 
mit einem Auszug. Die Schlussepisode vom Zauberer 
Zornebock wurde von ihnen mit Unrecht für eine Erfindung 
des Musäus gehalten und fortgelassen; sie gehört indessen 
notwendig zur Entwickelung des Ganzen und bringt die 
Geschichte Reinalds zu gefälligem Abschluss. Auch in 
den drei Tierbrüdern (Li tre Rri Anemale), einem Märchen 
von Basile, Pentam. IV, 3 löst der Bruder der Prinzessinnen, 
Tittone, den Zauber dadurch, dass er eine Königstochter 
von einem Drachen befreit: beide Märchen stimmen auch 
im übrigen zusammen. Die verzauberten Fürsten sind hier 



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ein Hirsch, ein Falke und ein Delphin, und rauben ihre 
Bräute durch Verheerung des Landes. Es ist aber fraglich, 
ob Musäus den Pentaincrone benutzt hat; wahrscheinlich 
stützte er sich auf ältere volkstümliche Überlieferungen. 

Von den Namen blieb in der Bearbeitung nur Reinald, 
der den Grimms am meisten volkstümlich erschien; aus 
gleichem Grunde einige formelhafte Wendungen wie: „So 
gings über Stock und Stein, Berg auf, Berg ab, durch 
Wüsten und Wälder, Horst und Hecke, ohne Ruh und 
Rast". Hinzugefügt wurden die Reimworte: „da lag ein 
Centner Gold darin und glimmerte und flimmerte" — „da 
lebte er in Saus und Braus". Edgars Ruf an die Braut: 
„Ich sehe dich, ich suche dich, fein Liebchen, ach« verbirg 
dich nicht. Rasch schwing dich hinter mich aufs Ross, 
du schöne Adlerbraut!" zeigt auch bei Musäus rhythmische 
Gliederung gemäss der „Lenore"; bei Grimm lautet er 
einfacher und gereimt: „Schwing dich auf, schwing dich auf, 
du Fräulein traut, komm mit, du schöne Adlerbraut". 
Ebenso reimt Grimm: Ade, du Fräulein traut, Fahr hin 
du Bärenbraut! (Ade mein Töchterlein, fahr hin, du Bären- 
braut), fügt auch des Parallelismus wegen beim Raub der 
dritten Tochter den Vers ein: 

„Ado, du Fräulein traut. 
Fahr hin, du Walfischbraut!* 

der bei Musäus nicht angedeutet war. 

An den Schluss setzt Grimm einen lustigen Kinder- 
reim: „Da war Freude und Lust in allen Ecken, und die 
Katz läuft nach Haus, mein Märchen ist aus". Er er- 
innert an den Ausgang des Märchens von Hansel und 
Gretel (15): „Mein Märchen ist aus, dort läuft eine Maus, 
und wer sie fängt, darf sich eine grosse, grosse Pelzkappe 
daraus machen". 

Die wenigen schmückenden Zusätze, die Grimm dem 
Auszug beifügt, haben der Darstellung die lebendige Frische 
und Anschaulichkeit, die uns in der Vorlage trotz mancher 
unliebsamen Eigentümlichkeiten ihres Stils anmutig berührt, 
nicht verleihen können. Aber es ist nach Ausscheidung 



"V. 



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— 37 — 



aller satirischen und witzigen Anspielungen einfach und 
schlicht, und als Kindernlärchen der Musäusschen Fassung 
vorzuziehen: das Interesse beschränkt sich allein auf die 
Geschichte des Grafen und seiner drei Töchter. Die aus- 
führliche Darstellung ist auf ein Fünftel zusammengezogen,, 
und der kunstvolle Periodenbau der Vorlage in kurze Sätze 
aufgelöst. Wenn man auch nicht soweit gehen wird wie 
Heinrich Voss, der die Grimmsche Bearbeitung im Ver- 
hältnis zu Musäus mit einem Skelet gegenüber dem 
Danneckerschen Schiller verglich '), so hat doch unzweifel- 
haft die Erzählung trotz der Mannigfaltigkeit des Inhalts 
etwas Eintöniges und Nüchternes. Jakob selbst bezeichnete 
es als das schlechteste Märchen der ganzen Sammlung, da 
ihm der frische Klang der mündlichen Erzählung mangle 2 ). 

11,24. Der Jud* im Dorn. 

Das Grimmsche Märchen ist in der Hauptsache eine 
Bearbeitung des dramatischen Spiels, betitelt: „Historia von 
einem Bawrenknecht und Mönchen, welcher in der Dorn- 
hccke hat müssen tanzen", von Albrecht Dietrich 1618. 
Die Erzählung liegt jedoch schon in einigen früheren Auf- 
zeichnungen vor. Den Ausgangspunkt für die verschiedenen 
Darstellungen bietet 1. ein englisches, anonymes Gedicht: 
„The Friar and the Boy" nach einer Cambridger Hand- 
schrift des 15. Jahrhunderts (gedruckt vor 1535), und 2. 
eine deutsche Erzählung in dramatischer Form von Dietrich 
Albrecht: „Eine kurzweilige Historia, welche sich zuge- 
tragen mit einem Bawrenknecht und einem Mönche etc." 
Anno 1599 1 ). Über das Abhängigkeitsverhältnis der beiden 
Gedichte lässt sich nichts Bestimmtes ausmachen, doch 
spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die deutsche 
Fassung an das englische Original oder an dessen 152S 
gedruckte niederländische Übersetzung angelehnt ist. Die 

») Briefe an Truchsess S. 42. 

2 ) Steig, A. v. Arnim 111,255. — W. CJrimm, s. u. Beilagen. 

3 ) Bolte, Festschrift zur Begrüssung' d. 5. Neuphilol.-Tap'w 
1892 S. 1 ff., wo sich auch der Abdruck befindet. 



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Gruppe, die das englische Gedicht eröffnet, erzählt von 
dem kleinen Jack, der von seiner Stiefmutter schlecht be- 
handelt wird. Mit Hilfe eines alten Mannes, der ihm drei 
Wünsche gewährt, weiss er sich aber an ihr zu rächen. 
Wie die erzürnte Alte ihm den Mönch Tobias nachsendet, 
um ihn zu bestrafen, muss sich dieser von den Dornen 
zerkratzen lassen. Ein Nachspiel vor Gericht endigt zu 
Gunsten des Angeklagten. — Die deutschen Bearbeitungen 
weichen nur in Nebendingen ab. Das ältere Reimspiel von 
1599 hat mit Albrecht. Dietrichs dramatischer Fassung 
(1618) ungefähr gleichen Inhalt, auch formal stimmen beide 
überein, nur ist letztere, die Grimmsche Vorlage, etwas 
roher und polternder im Ton. Der tölpelhafte Knecht 
Dulla wird von dem Nachbar seines Brotherrn, namens 
„Säumagen", aufgestachelt, seinen Dienst zu verlassen. Er 
gibt dessen Reden schliesslich Gehör, fordert seinen Lohn, 
und der geizige Bauer zahlt ihm für drei Jahre Dienst 
drei Pfennige. Aus Freude darüber singt Dulla ein Dank- 
lied. Er begegnet einem Geist, dem er auf dessen Bitte 
seine Barschaft übergibt; als Gegengeschenk erhält er 
drei Wünsche gewährt. Das Folgende entspricht der 
Grimmschen Bearbeitung, nur tritt hier statt des Mönchs 
ein Jude auf. 

Jakob Ayrers Fastnachtspiel von Fritz Dölla mit der 
gewünschten Geigen 1 ) hat manches mit Dietrichs Reim- 
spiel gemeinsam. Wahrscheinlich kannte Ayrer, der bereits 
1605 starb, eine ältere Fassung des Stücks, da er docli 
wieder von Albrechts Spiel 1599 in Einzelheiten stärker 
abweicht. Für das Grimmsche Märchen kommt seine Dar- 
stellung nicht in Betracht, dagegen wurde die Verwandlung 
des Mönchs in einen Juden nach einer mündlichen pader- 
börnischen Überlieferung vorgenommen. Auf diese wird 
auch die einfachere Entwickelung am Anfang zurückgehen. 
Der Nachbar, der den Knecht zum Verlassen des Dienstes 
antreibt, fehlt; der Geist wurde in ein kleines Männchen 
verwandelt, das auch sonst in den Märchen als Ver- 

') Opus theatricum Bl. 07 ff. Keller S. 2829 ff. 



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— 39 — 



körperung eines hülfreichen Wesens erscheint. — Die 
beiden ersten Auflagen bringen das Märchen nahezu in 
derselben Gestalt. Die Darstellung zeigt nur wenige be- 
sonders charakteristische Züge. Vereinzelt finden sich 
in den schlichten Sätzen formelhafte Verbindungen wie: 
,.er wanderte fröhlich über Berg und Tal;" „wie er auf ein 
Feld kam, singend und springend." Volkstümlich ist auch 
die Wiederholung in dem Satze: „obendrauf sass eine 
kleine Lerche und sang und sang", ebenso die Art, be- 
liebte Personen durch das anteilnehmende Pronomen 
possessivum auszuzeichnen: Mein Knecht aber dünkte sich 
noch zehnmal froher — Wie mein Knecht das viele Geld 
sah — der Richter verurteilte meinen Knecht zum Tode 
am Galgen. Der Monolog steht einmal mit dem volks- 
tümlichen Personenwechsel 1 ): der Knecht dachte, was 
willst du dir's länger sauer werden lassen, du kannst dich 
nun pflegen. . . . Erst die dritte Auflage änderte das 
Märchen wesentlich um. Es wurde namentlich durch volks- 
tümliche Ausdrücke und sprichwörtliche Redensarten be- 
reichert, z. B.: der Knecht ist stets willig, wenn es „eine 
sauere Arbeit" gibt; sein Herr meint, er würde „hübsch" 
im Dienst bleiben, aber er will fort, „um sich weiter in 
der Welt umzusehen". Er glaubt mit drei Pfennigen 
„vollauf in der Tasche zu haben" und gibt auf die Frage 
des Männleins, wieviel er besitze, die stolze Antwort: 
„Drei bare Heller, richtig gezählt!" (I. Aufl.: Drei ganzer 
Pfennig). Deutlich treten die folgenden aus dem Zusammen- 
hang heraus: „Du bist einer, der blau pfeifen kann; wer 
ihm doch Salz auf den Schwanz streuen könnte; ich will 
dich jagen, dass du die Schuhsohlen verlieren sollst; du 
Lump steck einen Groschen ins Maul, dass du sechs Heller 
wert bist; ein Stein auf dem Erdboden möchte sich er- 
barmen; Gott bewahre, er greift die Lügen wie Fliegen 
an der Wand. Das muss ich dir sagen, du machst 
deinen Tanz noch mit, dass es eine Art hat." Statt: „er 

*) vgl. hierüber .1. Crimnis Aufsatz: Über den Personen- 
wechsel in der Hede (Kl. Schritten IIT). 



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— 40 — 



fragte ihn seiner Lustigkeit wegen" (1. u. 2. Aufl.), heisst 
es jetzt mit Beziehung auf das bekannte Märchen (81): 
„Wo hinaus, Bruder Lustig?" Mit besserer Allitteration, zu- 
gleich archaisierend, zeigt sich der Ausdruck: „fing alles 
an zu wabern und zu wanken" (da wankte alles und be- 
wegte sich). Auch die Verbindung: „du bist jung und 
kannst dir dein Brot leicht verdienen", hat wegen des 
prägnanten Gebrauchs der Redensart: „sich sein Brot 
verdienen" volkstümlichen Klang. Der naiven Kinder- 
sprache gehört an, wenn Grimm schreibt: „Das Männlein 
griff in den Busch und denk einer! da lag schon Fidel 
und Vogelrohr in Bereitschaft, als wenn sie bestellt wären/ 
Die ältere Bearbeitung verzichtet darauf, die Überraschung 
vorzubereiten (das Männchen stellte ihm Fidel und Vogel- 
rohr zu). Der Jude bricht in die Aposiopese aus: „Mein! 
lasst den Bub weg! — Mein! was soll mir das Geigen!" 
Überhaupt tritt dieser durch seine Sprache deutlich aus 
seiner Umgebung heraus. Nicht nur die mehrmaligen 
Ausrufe: „Au weih geschrieen!" sondern auch die dein 
Jüdisch-Deutschen eigentümliche Inversion der Rede: „Au 
weih geschrieen! geb ich doch dem Herrn, was er ver- 
langt, wenn er nur das Geigen lässt, einen ganzen Beutel 
mit Gold", charakterisieren ihn als Israeliten vortrefflich. 
Und ebenso der Ausruf: ..Gottes Wunder! So ein kleines 
Tier hat eine so .grausam mächtige' Stimme". Trotz seines 
Übeln Geschicks spielt er eine komische Rolle. Auf die 
Mahnung des Knechts: „Geh Spitzbub und hol dir den 
Vogel heraus", macht er sogleich den Wortwitz: „Mein! 
lasst den Bub weg, so kommt der Hund (Spitz) gelaufen." 
Berechnet ist der Zug, dass dem Juden ein Wort in den 
Mund gelegt wird, das ihn als geizigen Geldmenschen 
hinstellt: „Du Lump, steck dir einen Groschen ins Maul, 
dass du sechs Heller wert bist!" Überhaupt wird nach- 
drücklich der Wert des Geldes für den Juden hervor- 
gehoben: „der Leib zerstochen und zerkratzt. Das Gold 
mit dem Beutel genommen (wofür die 6. Aufl. die noch 
treffendere, volkstümliche Ironie setzt: mein Bisschen Ar- 



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— 41 - 



mut mir genommen), lauter Dukaten, ein Stück schöner 
als das andere, um Gottes Willen, lasst den Menschen 
ins Gefängnis setzen." Seine Wutausbrüche sind volks- 
tümlich-derb: „Du Hierfiedler! Du Bärenhäuter! Du 
Hundemusikant!" 

In der Form, wie die Ii. Aullage uns das Märchen 
bietet, hat das Ganze einen übermütigeren, scherzhafteren 
Ton. Statt der Wendung: „Die Leute hast du genug ge- 
schunden, so geschieht dir kein Unrecht", heisst es jetzt 
witziger: Du hast die Leute genug geschunden, nun soll 
dirs die Dornhecke nicht hesser machen", wo das Wort 
„schinden" einmal im übertragenen, dann im eigentlichen 
Sinne gebraucht ist. Auch der Ausdruck: „Die Dornen 
„kämmten" ihm den Ziegenbart" wirkt durch die Ver- 
bindung der Gegensätze humoristisch. Und als der Knecht 
behauptet, der Jude habe ihm das Geld freiwillig gegeben, 
findet er keinen Glauben: sogar der Richter ist anderer 
Ansicht und meint ironisch: „Das ist eine schlechte Ent- 
schuldigung! das tut kein Jude". 

Durch Einflechtung der erwähnten Zusätze hatte das 
Märchen schon sehr gewonnen. Was sonst noch angebracht 
wurde, um die Anschaulichkeit zu heben, ist geringfügig. 
Im Eingang wird deutlicher gezeigt, wie sich der einfältige 
Knecht von Jahr zu Jahr hinhalten lässt, im Dienst zu 
bleiben. Bestimmter wird der Jude auch in seinem Äussern 
umschrieben: ein Jude „mit einem langen Ziegenbart", „mit 
einem schäbigen Rock" bekleidet. Die Schilderung des 
Tanzes auf dem Richtplatz geht mehr ins Einzelne und 
führt vor allem den kindlichen Zug an, dass sogar „die 
Hunde sich auf die Hinterfüsse setzen" und am Tanze 
teilnehmen. 

Der abstrus-gelehrte Johann Praetorius, der durch 
seine Schriften auch für die deutschen Sagen der Brüdor 
Grimm eine wichtige Fundgrube bildete, erzählt in einem 
recht trockenen und hölzernen Stil das Märchen von den 
Kindern in Hungers not (II, 57) ■). Bei ihm ist die sagen- 

>) Abenteuerlicher Gliickstopf S. 191 f. 



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— 42 — 



hafte Geschichte, die er mündlicher Überlieferung verdankt, 
an den Ort Gräfelitz bei Eger angeknüpft. Der Inhalt ist 
kurz folgender: Eine Mutter kann sich mit ihren beiden 
Töchtern nicht mehr vor dem Hungertode retten, zwei 
Versuche der beiden Mädchen, sich bei mildtätigen Leuten 
etwas Brot zu verschaffen, können nicht die Not der Zu- 
kunft abwehren, sie fallen mit ihrer Mutter in einen tiefen 
Schlaf, und die Alte, die in der Verzweiflung schon Hand 
an ihre Töchter legen wollte, verschwindet auf Nimmer- 
wiedersehen. Ob dies eine „Geschichte oder ein Gedichte 
sei", sagt Praetorius unsicher, „lasse ich dahingestellt". 

Unter den geringen stilistischen Änderungen, die die 
Brüder vornahmen, um die Erzählung besser abzurunden, 
ist der Parallelismus in den Antworten der Töchter be- 
merkenswert. Beide entgegnen auf das grausige Ansinnen 
der Mutter regelmässig: „Ach, liebe Mutter, schont 
meiner, ich will ausgehen" usw. Ebenso wiederholt 
Grimm im Gegensatz zur Vorlage an geeigneter Stelle: 
„da assen sie mit einander, es war aber zu wenig, um den 
Hunger zu stillen". Ein Vorzug ist auch der Gebrauch 
der Figura etymologica: „Da legten sie sich hin und 
schliefen einen tiefen Schlaf". Die dürftige Erzählung wurde 
in der 2. Ausgabe gestrichen '). 



') Als Beispiel der oft pedantischen und verschrobenen Art, 
wie Praetorius volkstümliche Überlieferungen wiedererzählt, sei 
hier seine Fassung 1 des Märchens von den „drei Spinnerinnen" 
(KHM. 14) angeführt (Abent. Glückstopf S. 403 f.). 

Höret wunder! Vor Zeiten soll eine Frau oder Mutter ge- 
wesen seyn, dessen Tochter sich durchauss zum Spinnen nicht 
verstehen wollen, forsan cpaia Lilia non nent, secundum Evan- 
gelium Symboluni Reipubl. Anglianae: Da sie auch dergleichen 
Susannae immer oder gerne sein wollen. Druem hatte sie von 
ihrer Mutter viel Schläge bekommen; welches einsmals ein Cavallier 
verwunderns halben doch ohngefähr mit angesehen und gefraget, 
was das bedeuten solte, dass sie ihre schöne Tochter so marterte 
(Nemlich weil sie von der Frauen vielgeliebten martyris, das ist 
dem Plachse, Vide ex Uiccij herbario in fine centur. 3. Acerr. 
Kfllol. Laurenberg: nicht viel gehalten: per quod quis peccat etc. 



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— 43 - 



Aus „Schimpf und Ernst", der Anekdotensammlung des 
elsässischen Franziskaners Job. Pauli (1522) entstammen 
die beiden Märchen: Der undankbare Sohn (IT, 50) und: 

R. contrarium: Sie konto das un massige Thier nicht vom Spinnen 
bringen, so verpichtet wehre es drauil und spönne mehr Flachs 
auff, als sie erlangen könte. (Sehet solch mendacium officiosum 
hat notwendig die gute Mutter machen müssen, damit sie ihre 
eigene Schande nicht entdecketen; welche da alle am grossesten 
gewesen solchem Menschen, der nicht gesponnen hat.) Was ge- 
schieht? Der Cavallier saget, das ist ja gut; Gebet sie mir nur 
zum Weibe ich will gar wohl mit ihrem unverdrossenen und un- 
aufhörlichen Fleisse zufrieden und vergnüget soyn, ob sie sonsten 
gleich nichts zu mir bringet. Nun die Mutter kan dem Menschen 
seine eingelegte Bitte nicht abschlagen oder die begehrte Tochter 
versagen: (Übt ihm derentwegen das faule Muster. Drau ff sie 
der Bräutigam mit ihm und zum Versuche ein zimlich pensuni 
oder knocken Flachs zu verspinnen auffgiebt. Drüber sie zwar 
innerlich erschrickt, doch hat sie es angenommen und für die 
lange Weilo in ihr Zimmer getragen und in Verzweifflung nieder- 
geworffen. Drüber waren aber (etwan tres furiao seu larvae in- 
fernales) drei Weiber vors Fenster gekommen; eine mit einem 
grossen breiten Arse, damit sie kaum zur Stuben Thüre hernach 
herein zu kommen vermögt; die andere mit einem grossen Dampff- 
horne, einem Rhinoceroti nicht unchnlich, die dritte mit einem 
grossen, breiten Daume; solche bieten ihre Dienste dar; sagende 
dass sie alle Tage unvermerkt kommen wollen, und das auffge- 
gebene Werk auffspinnen, sofern sie (die faule Braut) an ihrem 
künftigen Hochzeitstage sagen wolle, dass sie ihre Basen oder 
Muhmen wehren, und sich nicht schämen würden, sie an ihre 
Tafel zu setzen etc. Sic verspricht solches: Jene halten auch ihr 
Wort und stellen sich alle Tage lleissig ein zur Arbeit, damit die 
Braut auch wacker bestehet und zur Belohnung von ihrem Bräu- 
tigam erhält, dass er sio mit ehestem ehelichte. Wie also die 
Hochzeit angegangen, stellen sich die abscheulige Monstra alle 
ein, und werden auch von der Braut wohl respectiert und für 
Wesen tituliert, dass dem Bräuligamb missgefallen. Darumb er 
von seiner Liebsten erfraget, wie sie zu solcher garstigen Freund- 
schaft gekommen währe? R. Sie sind also ungeheuer von vielen 
geworden: Eine als die Dick- und Breit-Arsigte hat sich an un- 
mässigem Sitzen also verwahrloset, die andere hat ihren Daum 
nicht minder verschorn, in deme sie so häuffig den Faden mit 
gedrehet, die dritte hat ihr Maul gar weggelecket, drüber die Xase 
so hervorraget. Hierauft* soll der Bräutigam betrübt geworden 



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— 44 — 



Die drei Faulen (65) r ). Der undankbare Sohn hält vor 
dem Vater das Essen versteckt, da ers ihm missgönnt 
und muss dafür eine Kröte im Gesicht mit seinem eigenen 
Fleisch füttern. Jn der Bearbeitung fehlt am Schluss die 
Moral: ..da lernen andere Kind! il und der Zug, dass die 
Strafe des Sohnes später durch die Fürbitte eines frommen 
Mannes gesühnt wird. Volkstümlich ist die Tautologie in 
dem Satze: „die sass da und ging nicht wieder weg" (die 
mocht ihm niemand hinweg tuon). Die Wendung: „Die 
Kröte sah ihn giftig an", ist schon durch den entsprechenden 
Ausdruck der Vorlage: „die sah ihn krumb an", genügend 
vorbereitet. — 

Die schwankhafte Erzählung von den drei Faulen ist 
mit mannigfachen Abänderungen, die sich teils auf die 
Trägheitsproben selbst, teils auf ihre Eeihenfolge beziehen, 
sehr häutig erzählt worden 2 ). Grimm folgt fast wörtlich 
der Vorlage, lässt aber den Schluss fallen, der gleichnis- 
weise die körperliche Faulheit auf geistiges Gebiet über- 
trägt und eine lange Moralpredigt gegen unbussfcrtige 
Sünder anschliesst. Die Sprache wurde modernisiert; am 
Anfang fügt Grimm noch die Bemerkung hinzu, dass der 
König in Verlegenheit ist, welchem seiner drei faulen 
Söhne er die Krone geben solle, „da er sie alle gleich lieb 
hatte", eine Begründung, die sich öfter in den Märchen 
vorfindet, z. B. in Nr. 124, 179 usw. (vgl. auch die Ring- 
parabel in Lessings Nathan.) 



Heyn und gesaget haben: „Nun so sollet ihr euer Lebetage keinen 
Faden mehr spinnen, damit ihr nicht solches Ungetüm werdet. 
Ihr habet doch vorher schon genug gesponnen." — Das wäre ein 
Wort für hiesige Jungfern und gut Wasser auf ihre Mühlen, ja 
ich halte auch dafür, dass sie solcher Rede und Aussganges sich 
anmassen und befahren. . . . 

>) Pauli ed. Oesterley Cap. 437 und 2G1. 

2 ) vgl. Gesta Komanoruni ed. Oesterley S. 720, wo 30 Varianten 
citiert werden. 



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— 45 — 



II, 58. Das Eselein. 

Eine Königin gebiert ein junges Eselein. Dieses ent- 
wickelt sich zu einem ausgezeichneten Musikanten und 
wird schliesslich trotz seiner Missgestalt Gemahl einer 
schönen Prinzessin. Es ist aber in Wahrheit ein Mensch 
und trägt die Eselshaut nur infolge eines Zaubers. In 
der Hochzeitsnacht wirft er sie von sich, wird aber dabei 
belauscht, und der König, sein Schwiegervater, lässt sie 
verbrennen. Dadurch ist der Zauber gelöst, und der Prinz 
bleibt von jetzt, ab in Menschengestalt. — Vorlage war 
das lateinische Gedicht: „Asinarius." Es ist in Distichen 
abgefasst und zählt 404 Verse. Die Originalhandschrift, 
ein Strassburger Manuscript (MSS. Johann. C. 105). das 
nach Grimms Angabe aus der 2. Hälfte des 15. Jahr- 
hunderts stammte, ist beim Brande der dortigen Bibliothek 
1870 zu Grunde gegangen; wir sind infolgedessen auf eine 
andere Fassung angewiesen. Das Gedicht ist noch in 
einer Salmansweiler Handschrift überliefert'), die im fol- 
genden zu Grunde gelegt wird, da der Unterschied des 
Originals von dieser Fassung nach den bei Grimm mit- 
geteilten Proben 2 ) nur unbedeutend gewesen sein kann. 
Jedenfalls kommt er für eine Beurteilung der Grimmschen 
Stilisierung gar nicht in Betracht, Trotz seiner Länge 
unterscheidet sich das Gedicht inhaltlich doch nur wenig 
von dem Grimmschen Märchen. Zwar ist es breiter und 
ausführlicher im Einzelnen als die Bearbeitung, wiederholt 
redselig manches ohne Grund nacheinander, aber es ist 
frei von grösseren Interpolationen. Wegen der fremden 
Sprache und der Technik des Verses musste die Erzählung 
auch ohne beabsichtigte Veränderungen eine vom Deutschen 
abweichende Stilisierung erhalten. Mit der lateinischen 
Sprache war der antike Hintergrund gegeben; Hinweise 
auf die alten Götternamen sind nicht verwunderlich. Der 



•) abgedruckt bui Fr. Mone, Anzeiger f. Kunde <1. teutseh. 
Vorzeit 1S49 S. »51 ff. 

-') KHM III,« S. 227 f. 



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— 46 — 



königliche Vater schwört bei Juppiter und den oberen 
Göttern (pono Jovem testem 239; testor ego superos et 
cetera numina ruris 251); die Königin wendet sich in 
täglichen Gebeten an die numina, ihr einen Erben zu be- 
scheren (21), aber „Lucina" ist ungünstig (7). Auch im 
übrigen bedient sich das Gedicht metonymisch der bekannten 
Götternamen: Phoebus ubi fessos in mare mergit equos; 
(124) — dumque redit pulsis rutilans Aurora tenebris, 
(325) etc. Auffallend genug ist das Bestreben des unbe- 
kannten Verfassers durch rhetorische Pracht zu glänzen, 
die allerdings meist in Äusserlichkeiten erstarrt, wie viel- 
fach in lateinischen Dichtungen des Mittelalters. Allitera- 
tionen erstrecken sich über ganze Zeilen: 

tunc polis ornatur tanto nite.scit honoro 
\it placeat plane plus polis ipsa polo (21)3); — 
ac regina ridens ridente marito (105) ... — 
alque regit reguni rex duo rogna duum (404). 

Beliebt sind Wortspiele und Antithesen: homo pene- 
trat penetralia regis, proderc, quae vidit, prodigiosa volens 
(151) — ut doctore suo doctior ipse foret (84) — o res 
miranda, plus miseranda tarnen (26) — discumbendo placet 
plus concumbendo placebit (223) etc. Die Erzählung ist 
also in der Form durchaus nicht ungeschickt und eintönig, 
aber von der einfachen Märchensprache von Grund aus 
unterschieden. Nur selten hören wir einen volkstümlichen 
Klang; bei der Beschreibung der schönen Königstochter 
gebraucht der Dichter ein in aller Volkspoesie häufig vor- 
kommendes Bild: 

Candida delectat faeies permixta rubore 
ac si eontemplor lilia mixta rosis (199). — 

Von einem bestimmten Einfluss stilistischer Art auf die 
Grimmsche Bearbeitung ist nichts zu verspüren; das deutsche 
Märchen ist eine kürzere Inhaltsangabe der lateinischen 
Vorlage, deren breite Ausführungen schon deswegen sehr 
zusammengedrängt wurden, weil man die rhetorischen 
Mittel der Darstellung nicht gebrauchen konnte. Bisweilen 



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— 47 — 



wurden auch grössere Partien unterdrückt. Die lange Klage 
des Esels Uber seine Missgestalt (94 — 106) und die aus- 
führliche, nicht uninteressante Verlobungsszene des jungen 
Paares (275—325) sind bei Grimm in die kurzen An- 
deutungen gefasst: „darüber ward es so betrübt" und: 
„Also ward eine grosse und prächtige Hochzeit gehalten". 
Jeder Hinweis auf das antike Element musstc schwinden, 
ebenso auch einige lüsterne Stellen: anstatt der üppigen 
Beschreibung der Hochzeitsnacht der jungen Eheleute 
(317—24) hören wir bei Grimm nur: „da ward die Braut 
froh, küssto ihn und hatte ihn von Herzen lieb". Die 
junge Prinzessin ist bei Grimm, wie fast alle Königstöchter 
des Märchens, ..wunderschön'*, die Vorlage macht uns ein- 
gehender mit ihren körperlichen Reizen bekannt (134 ff.). 

Die Bearbeitung aber wollte nicht bloss einen in 
schlichter Sprache gehaltenen Auszug liefern, sondern fügte 
ihrerseits dem Text schmückende Zusätze bei, in denen 
sich namentlich die volkstümliche Ausdrucksweise bemerk- 
lieh macht, z. B. Eselcin, was ist dir? Du schaust ja sauer 
wie ein Essigkrug? (Die tili, quid obest? cur tristis et 
linde doloris Stimulus iste cadat? 243.) Von volkstümlichen 
Zwillingsformeln begegnen: „Darüber klagte sie Tag und 
Nacht'* (dem Lat. nachgebildet: noete dieque rogat 22), ..es 
war auf einmal ganz lustig und guter Dinge* 1 , „es war 
voll Trauer und Angst** (multo stimulante dolore), wie die 
Mutter das erblickte, ting ihr Jammer und Geschrei erst 
recht an (hoc foetu viso mater iam peperisse dolet 28) 
und das charakteristische: „Es half aber alles nichts, das 
Eselein ,wollt und musste* die Laute schlagen'', wo die 
Tautologie echt volkstümlich die Unabänderlichkeit des 
Entschlusses ausdrückt. Auch der Monolog, in dem der 
Sprechende sich selbst in der 2. Person anredet, im eigent- 
lichen Sinne also ein Zwiegespräch mit sich selber führt, 
ist eine schon von Jakob Grimm gewürdigte Eigentüm- 
lichkeit der einfachen Volkssprache. Hierfür ein Beispiel: 
er dachte, was hilft das alles, du nmsst wieder heim 
(cogitat ad patrios velle redire lares 230). — Von dem 



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— 48 — 



Eselein. als der Lieblingsfigur des Märchens, wird immer 
mit einer gewissen Zierlichkeit gesprochen; so erscheint 
es stets in der Deminutivform, einige Mal im Gegensatz 
zur Vorlage: „ich bin kein gemeines Stalleselcin", wo man 
sogar das Lateinische begreiflicher findet: non sum vul- 
garis asinus, nee sum stabularis (1S1). — ..Also ward 
das Eselein aufgezogen, nahm zu und die Ohren wuchsen 
ihm auch „fein" hoch und grad hinauf (aures attollit in 
altum 41). — Das „edle Tierlein 44 weiss sich „gar fein 
und säuberlich 44 zu benehmen (inter coenandum benc servit 
asellus eidem 215), und der König will wissen, ob es sich 
als Ehemann auch „fein artig und manierlich' 4 betrage 
(ut videat quid agant nie asellus et haec domicella 807). — 
Ganz dem Märchenstil entsprechend ist die freimütige Art, 
wie der Diener vor seinem König auftritt und ihn an- 
redet: „Wacht selber die folgende Nacht, ihr werdet's 
mit eigenen Augen sehen, und wisst ihr was, Herr König 
nehmt ihm die Haut weg. 44 

11,60. Die Rübe. 

Für das Märchen wurde das lateinische Gedicht 
„Raparius" benutzt, das dem eben behandelten in Bezug 
anf äussere Form ganz ähnlich ist. so dass man für beide 
denselben Verfasser annehmen darf. Das von den Brüdern 
benutzte Originalmanuscript, eine Strassburger Handschrift 
des 15. Jahrhunderts (MSS. Johann. C. 102) hat das gleiche 
Schicksal wie der „Asinarius 44 gehabt, aber auch hier 
bietet eine Salmansweiler Handschrift genügenden Ersatz. 
Eine andere. Wiener Handschrift weicht nur in Neben- 
dingen ab und geht vielleicht in das 13.-14. Jahrhundert 
zurück 1 ). Der Inhalt ist kurz folgender: Von zwei Brüdern 
ist der eine reich, der andere arm. Der Arme wird Bauer, 
und auf seinem Acker wächst eine grosse Rübe, die er 
dem Könige zum Geschenk macht, da er nichts mit ihr 
anzufangen weiss. Dafür wird er reich mit Schätzen be- 

») Fr. Moue, Anzeiger 1830 S. 502 ff. 



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— 49 — 



lohnt. Aus Neid über das Glück seines Bruders bringt 
der Andere dem König kostbare und edle Pferde in der 
Hoffnung, noch weit grössere Gnade vor ihm zu finden, 
er erhält aber als Dank die grosse Rübe seines Bruders 
zurück. Tödlich beleidigt trachtet er diesem nach dem 
Leben; sein Mordanschlag jedoch misslingt. Die bestochenen 
Banditen vernehmen in der Ferne Hufschlag, stecken den 
Gefangenen eiligst in einen Sack und ziehen ihn am Baum 
empor. Es kommt ein fahrender Schüler vorbei, dem der 
Gefangene mitteilt, er sitze im Sack der Weisheit. Da 
der Schüler sehr begierig danach ist, so tauschen sie beide 
die Plätze, und der wissensdurstige Student hat Zeit, über 
alle weltumfassende Gelehrsamkeit dort oben nachzu- 
denken. — Die Vorlage ist in der Beschreibung der Si- 
tuationen sehr ausführlich. Eine längere Episode (133—156), 
in der der Verfasser gegen die Habsucht zu Felde zieht, 
beweist auch, dass dem Gedicht didaktische Zwecke nahe 
lagen. Metrum und Stil sind dieselben wie im „Asinarius"; 
Allitterationen sind nicht selten. Mythologische Namen 
tauchen vereinzelt auf; um den Vortrag zu beleben, fügt 
der Verfasser Bilder und Vergleiche ein, die aber kein 
volkstümliches Gepräge tragen. Den heimtückischen Bruder 
vergleicht er mit einem Vogelsteller (277, 293), als Bild 
des übermässigen Reichtums kommt der „amnis pluvialibus 
guttis abundans" (193) zur Verwendung. 

Auch hier hat Grimms Bearbeitung einen kürzeren 
Auszug geliefert und mit einfachen Worten erzählt. Es 
fehlt der Excurs über die Habsucht, der sich deutlich als 
Zusatz erwies, und ebenso alle Rhetorik der Vorlage. Die 
Beifügungen haben denselben Charakter wie im „Eselein" ; 
sie gehören der volkstümlichen Sprache an, z. B. : „er zog 
den Soldatenrock aus und ward ein Bauer (ergo valefaciens 
Marti non militat ultra 9), — es wuchs da eine Rübe 
gross und stark, dass sie eine Fürstin aller Rüben heissen 
konnte (raptila crevit, quae pleno dici nomine rapa po- 
test 16), hing den Soldatenrock an den Nagel und baute 
das Land (nunc enim aratro rura sero, nunc scindo li- 

Palae*tra XLVII. 4 



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— 50 — 



gone 93), dass ihnen der Schrecken in den Leib fuhr und 
sie Hals über Kopf ihren Gefangenen in den Sack steckten 
(nec mora captivus in saccum praecipitatur 305), — 
ich habe grosse Dinge gelernt, dagegen sind alle Schulen 
ein Wind (hic tantum veras noveris esse Scholas — Septem 
per partes cognovi quaslibet artes, si foret hic Cato cederet 
atque Plato (330) (das letzte ein deutliches Beispiel für 
die leoninischen Reimspiele in den Distichen). — Er machte 
ihn steinreich (pretiosi massa metalli viro rege iubente 
datur 109) — sitze also fein ruhig (iam sedeas 383) — 
ich wollt dich wohl hinein lassen für Lohn und gute Worte." 
— An die altertümliche (Bibel-)Sprache erinnern Ausdrücke 
wie: „Wer ruft mir?" — „Um ein weniges, so werde ich 
ausgelernt haben" — „Erhebe deine Augen". Im Gegen- 
satz zur lat. Vorlage ist der Monolog in der 2. Person 
ausgedrückt: endlich dachte er: verkaufst du sie, was 
wirst du grosses dafür bekommen, und willst du sie selber 
essen, so tun die kleinen Rüben denselben Dienst; du 
willst sie dem König bringen und verehren (vilis erit pretii 
si venditur rapula ista . . . hanc regi dabo 43). — Um 
der kindlichen Phantasie das Wachstum der Ungeheuern 
Rübe recht anschaulich zu machen, häuft Grimm synonyme 
Begriffe: Der Same ging auf, und es wuchs da eine Rübe, 
die ward gross und stark und zusehends dicker und wollte 
gar nicht aufhören zu wachsen, so dass sie eine Fürstin 
aller Rüben heissen konnte (rapula crevit et reliquis 
enormior una 15). 

Es ist möglich, dass das Gedicht im Elsass heimisch 
gewesen ist und aus mündlicher Volkssage schöpfte. 
.Fischart gedenkt der Rüben zu Strassburg 1 ) in der Redens- 
art: Rüben nach Strassburg tragen (= Eulen nach Athen). 
Ob die von Grimm aus der nordischen Mythologie an- 
geführte Parallele zur Hängescene in notwendiger Be- 
ziehung zu dem Märchen steht, dürfte schwer zu entscheiden 
sein; dagegen entsprechen zwei von Grimm nicht erwähnte 



J ) Einleitung zum Ehezuchtbüchlein (ed. Hauffen) S. 123. 



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— 51 — 

Erzählungen in Kirchhofs Wendunmuth (II, 39 u. 40) zu- 
sammen unserer Geschichte. Sie werden an König Lud- 
wig XI. von Frankreich angeknüpft und berichten bis zur 
Demütigung des Ehrgeizigen ähnlich wie das Grimmsche 
Märchen. Der Mordanschlag auf den Bruder und die 
Episode vom fahrenden Schüler fehlt. — 

Von den Schwänken des Hans Sachs kommen zwei 
als Vorlagen in Betracht: Ursprung der Affen 1 ) — 11,61. 
Das junggeglühte Männlein und: Der dewffel hat die 
gais erschaffen, hat in dewffel äugen eingeseczt 2 ) 11,62. 
Des Herrn und des Teufels Getier. — Hans Sachs 
erzählt die erste Geschichte, um die Frage nach dem 
Ursprung der Affen zu beantworten; das schwankhafte 
Element der Erzählung liegt ihm näher als die märchen- 
hafte Verjüngung des alten Mannes. — Der Herr hat 
einen alten Bettler im Feuer zu einem jungen Menschen 
umgeschmiedet. Der Schmied versucht dasselbe Experiment 
an seiner alten Schwiegermutter, es gerät aber höchst 
übel. Völlig ungestaltet kommt die Alte aus dem Löschtrog 
heraus. Die beiden schwangeren Frauen im Hause sind 
über ihren Anblick so entsetzt, dass sie noch in derselben 
Nacht zwei Kinder in Affengestalt gebären: die Ureltera 
des Affengeschlechts. Der Schluss warnt Schwangere 
vor schreckhaften Überraschungen. — Bei Grimm fehlt Ein- 
gang und Schluss, alles übrige ist beibehalten. Eine ganze 
Reihe von Archaismen wurde von den Brüdern bei ihrer 
Vorliebe für altertümliche Sprache in die Bearbeitung 
herübergenommen. — Vor Hans Sachs ist der Schwank 
bereits von Hans Folz in rohen Knittelversen behandelt 
worden 3 ); die Moral, die ähnliche Gedanken wie bei Hans 
Sachs enthält, ist noch weit ausführlicher. 

Das Märchen „Des Herrn und des Teufels Getier" 
handelt von dem Streit zwischen Gott und dem Teufel. 
Dieser hatte die Ziegen erschaffen; da sie aber den zarten 

*) Schwanke und Fabeln d. H. Sachs ed. Goelze 11,290. 
2) Schwanke und Fabeln d. H. Sachs ed. Goetze 1, 172. 
») Haupts Zs. VIII, 537 ff. 

4* 



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— 52 — 



Pflanzen grossen Schaden zufügten, so wurden sie von den 
Wölfen des Herrn zerrissen. Darüber ergrimmt verlangte 
der Teufel Ersatz. Der Herr verspricht ihm Geld zu 
zahlen, wenn das Eichenlaub abfällt. Wie die Zeit kam, 
und er seinen Lohn forderte, wurde er belehrt, dass noch 
in Constantinopel eine belaubte Eiche stehe. Ein halbes 
Jahr irrt der Böse umher, aber wo er sich auch befindet, 
sind die Bäume belaubt. Aus Zorn darüber sticht er den 
Ziegen die Augen aus und setzt ihnen seine eigenen ein. 
— Die Bearbeitung bringt inhaltlich dasselbe wie die Vor- 
lage, verzichtet aber auf den Schluss, der bei H. Sachs 
vor den Verlockungen des Teufels warnt; er verwandle 
sich nicht nur in Ziegen, sondern erscheine auch oft in 
Bocksgestalt, um ehrbare Männer zu verführen. Die Worte 
bei Grimm: „In der Kirche zu Constantinopel steht eine 
hohe Eiche, die hat noch alles ihr Laub" beruhen auf 
einem Lesefehler; die Vorlage hat: Zu Constantinopel in 
Kriechen (Griechenland). Damit stimmt auch das Folgende 
gut zusammen, dass der Teufel so lange umherirrt, ehe er 
die Eiche findet; überhaupt galt Griechenland im Mittel- 
alter als eine wilde, unwirtliche Gegend. Auch die Stelle: 
„er hetzte aus Güte und Gnaden seine Wölfe dran" ist 
durch eine falsche Verbindung der Sätze in der Vorlage 
entstanden. H. Sachs schreibt: 

Und sach darzu wie die gaispoeck . . . 
Detten den pilanzen grosen schaden. 
Das jamert in aus güet und gnaden 
Und heischet seine wölf an sie usw. 

Hieraus ergibt sich, dass sich das Mitleid Gottes auf 
die durch die Ziegenböcke beschädigten Pflanzen bezieht. 
Das hat auch allein einen Sinn. — Der Wortlaut ist 
vielfach durch die Vorlage beeinflusst und zeigt alter- 
tümliche Formen. 

11,63. Der Hahnenbalken. 

Bearbeitet nach Friedrich Kinds Gedicht gleichen 
Namens in Beckers Taschenbuch 1812. Die Vorlage er- 



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— 53 — 



zählt das Märchen in 15 nicht ehen poesievollen, aber 
glatt und leicht dahinfliessenden Versen als schwankhafte 
Anekdote. Der märchenhafte Kern der Erzählung, die 
Wirkung des glückbringenden, vierblättrigen Kleeblatts, 
wird nebenbei behandelt; der Schluss, wo berichtet ist, 
dass das Mädchen in ihrer Verblendung ein blühendes 
Flachsfeld für Wasser hält und durchwaten will, — eine 
uralte Vorstellung, die sich unter anderm auch in der Sage 
von Rodulf und Rumetrud findet 1 ) — leicht ins Schwank- 
hafte hinübergespielt. Dem ist auch der sprachliche Aus- 
druck angcpasst, der absichtlich groteske und lächerliche 
Vergleiche bevorzugt: 

r Er winkt; der Hahn fliegt von der Wand 

Der Bühne auf des Meisters Hand, 

Hebt hoch die Krause und begrüsst 

Das Volk, läuft dann zum Baugerüst, 

Und scheint gar scharf bei muntrem Krähen 

Den stärksten Baumstamm zu erspähen. 

Geübter als ein Altgesell 

Hebt er die stärkste Eiche schnell, 

Schwingt dann die Bürde säuberlieh 

Mit einer Pfote über sich: 

Sie ragt hoch wie der Turm zu Babel 

Und kerzengrad auf seinem Schnabel/ 

„Hans Hagel" sieht mit grosser Verwunderung zu. Das 
Mädchen, das vom Zauber frei geblieben ist, klärt die 
Menge über ihre Verblendung auf; die Rache des Hexen- 
meisters lässt nicht auf sich warten. Bei einem Festzuge, 
den der Dichter ausführlich schildert, und der in seiner 
Art sehr gut die derbe Lustigkeit des Kleinstädters zum 
Ausdruck bringt, wird das Mädchen durch die List des 
Zauberers „vorm Schützencorps und Magistrat" im eigent- 
lichen Sinne des Worts biossgestellt. Den Schluss bildet 
eine Lehre, die er humoristisch mit Beziehung auf die 
ebenerwähnte Strafe des Mädchens folgendermassen for- 
muliert: 



») Grimm, Sagen II, 395. 



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— 54 — 

„Lass du dem Gaukler seinen Salm, 
Dem Volk den Balken für den Halm, 
Nicht stets wird Klarheit dich umhellen, 
Der Gaukler weiss dich blosszuslellen." 

Die Bearbeitung beschränkt sich auf die Erwähnung der 
Hauptpunkte, die sie schlicht aneinander reiht. Der spass- 
hafte Ton, der die Vorlage beherrscht, ist völlig ver- 
schwunden, wie denn Grimm bezeichnenderweise den 
drastischen Vorfall sich auf dem Hochzeitsgange der 
Braut abspielen lässt. Der Schauplatz (in der Vorlage 
Schwaben) wird nicht erwähnt. — 

Volkstümlich ist die sprichwörtliche Redensart: und 
jagten den Hexenmeister mit Schimpf und Schande fort 
(Hans Hagel griff zu Stein und Kot Und wählt des Gauklers 
Kopf zum Ziele; doch der entkam im Volksgewühle.) Auch 
der Parallelismus in der Wendung: „Da gingen ihr die 
Augen auf und sie sah, dass sie mitten in einem blau- 
blühenden Flachsfeld stand" ist nicht etwa eine leere 
Wiederholung, sondern eine Eigentümlichkeit volksmässig- 
archaisierenden Sprachgebrauchs 1 ). (Vorl.: erblickt sie 
nur ein Feld mit Flachs); — „den Balken balancieren" 
heisst bei Grimm anschaulicher und mit Umgehung des 
Fremdworts: „und trug ihn, als wär er federleicht". — 

Eine Erzählung aus dem Paderbörnischen und in 
Fr. Mones Anzeiger 1835 (p. 408) stimmen in der Haupt- 
sache mit unserem Märchen zusammen; in ersterer fehlt 
die Rache des Zauberers 2 ). 

11,67. Das Märchen vom Schlauraffenland. 

Zu Grunde liegt das mhd. Gedicht unter dem Titel: 
SO ist diz von lügenen 3 ). Die Anklänge an das weit- 

! ) W. Grimm erklärt es für einfacher und kindlicher zu sagen: 
„meine Ohren hören" statt: ich höre. Erstere Wendung könne 
nur Unverständigen ein Pleonasmus sein (Sendschreiben an 
Gräter S. 29). 

2) KHM. III 3 S. 149. 

a ) C. H. Jl iiilers Samml. deutsch. Ged. a. d. 12.— 14. Jhrd. 
III, 14. vgl. Haupt und Hoffmann, Altd. Bl. 1, 163. 



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— 55 - 



verbreitete') Märchen vom glücklichen Lande der Schlaraffen 
treten aber fast ganz zurück; bloss die Linde mit heissen 
Fladen und der Honigfluss könnten darauf hinweisen. Da 
aber die Erzählung sonst sich in den Formen des Lügen- 
märchens bewegt, und auch die Überschrift auf die folgende 
Anhäufung von unerhörten und unmöglichen Dingen auf- 
merksam macht, so ergibt sich daraus, dass das Märchen 
mit Unrecht als eine Beschreibung des Schlaraffenlandes 
angesehen wird 2 ). Von Schlaraffen als faulen Schlemmern 
oder Phantasten ist nirgends die Rede. Das Gedicht be- 
ginnt: „Ich sach eins males in der äffen zit" usw., wofür 
Grimm ohne weiteres „In der Schlaurafifenzeit" einsetzt. 
Die Angabe „in der äffen zit 4i , die im 15. Jahrhundert 
öfter ohne jeden Gedanken an die „slüraflen" vorkommt, 
ist zu vergleichen mit solchen in andern Lügenmärchen, 
wie z. B. zu Weihnachten im Sommer, zu Pfingsten auf 
dem Eise usw. 

Die Vorlage ist ein kunstloses Produkt aus dem 14. Jahr- 
hundert mit vielen unreinen Reimen. Die Darstellung 
bemüht sich nicht, abzuwechseln, sondern reiht die einzelnen 
Sätze meist mit den einleitenden Worten: Dö sach ich ... 
an einander. Der Mangel stilistischer Ausdrucksmittel ist 
auch auf die Bearbeitung von übelm Einfluss gewesen, ob- 
gleich sich diese hütet, der Vorlage mechanisch zu folgen. 
Einzelnes wurde mehr hervorgehoben: da kam eine Schnecke 
gerennt (dö sach ich einen snecken) eine alte Schindmähre 
(ein bnesez pfert), ein bitterscharfes Schwert (vil bcesez 
swert), von einem tiefen Tal auf einen hohen Berg (von 
eime tal üf einen berc). Für „ern" setzt die Bearbeitung 
dasmundartliche „zackern", statt des allgemeinen Ausdrucks: 

du sach ich ein röte kuo 
daz hröt in den oven tuon 

die Wendung aus der Handwerkssprache „eine rote Kuh 
schoss das Brot in den Ofen""). Die unsaubere Schlusspointe: 

») vgl. E. Schmidt. Charakteristiken II, 51 ff. 

2) Beiträge von Paul u. Braune V, 419. 

3) Grimm, Deutsch. W.-B. 9,40. 



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— 56 — 



dö sprach ein huon: 
est üz geseit, 

ein ungefuoc scheiz uf die bruoch, 
est uz geseit 

heisst bei Grimm zierlich: „Da krähte ein Huhn: Kickeriki! 
Das Märchen ist ausverzählt. Kickeriki!" 

Die Bearbeitung ist nicht ohne Irrtümer. Der Text 
der Vorlage: 

dö sach ich zwei rinder 
zwo geize bringen 

wurde infolge eines Versehens (Gr. las ,Kinder 4 statt ,Rinder 4 ) 
umgeformt: „Zwei Kinder, die würfen zwei Zicklein". Ein 
gleicher Fehler steckt in der Wendung: „Und im Hof 
standen vier Rosse, die droschen Korn aus allen Kräften", 
wofür die Vorlage bietet: 

dö sach ich vier rösser 
üz howe korn dreschen. 

(= aus Heu Korn dreschen). Erst hierdurch wird der 
Gegensatz der mit einander verbundenen Begriffe herge- 
stellt, wie er für das Lügenmärchen notwendig ist. — Be- 
deutung und Zusammenhang erfordern für den Ausdruck: 

dC sach ich ein vil bu^sez swert 
houwen eine sIegebrucke enzwei 

das Gegenteil der Grimmschen Übersetzung, also nicht 
ein „bitterscharfes" Schwert, sondern ein sehr stumpfes, 
denn es soll ja gerade das Unmögliche mit der Redensart 
ausgedrückt werden. — 

Die beiden folgenden Märchen unterscheiden sich wenig 
von ihrer Vorlage. Das dithmarsisch e Lügenmärchen 
(II, 68) ist die Prosaumschrift eines Tanzliedes 1 ). Der im 
Zusammenhang etwas unklare Satz: „de Wahrheit kommt 
by groten hupen und blief doch nicht verschwegen", worin 
man keinen Widerspruch entdecken kann, blieb in der 
Bearbeitung weg. Die Worte: „se segelten by groten 

>) Anton Vieths dithmars. Chronik 1733, 111 = Unland, Volks- 
lieder, 240. 



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— 57 — 



hupen" sind irrtümlich als „über grosse Hufen 44 verstanden 
und demgemäss Ubersetzt worden: „und schifften über 
grosse Acker hin 44 ; „by groten hupen' 4 heisst aber „haufen- 
weise 44 . — Allitterierend heisst es einmal: fein langsam 
und leise (de schwammen also lise). Die 6. Auflage fügte 
den hübschen Schluss hinzu: Macht das Fenster auf, 
damit die Lügen hinausfliegen. — 

Das Rätsel märchen (IT, 69) ist aus einem Volksbuch 
aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts abgedruckt '). Das 
Märchenhafte der Erzählung liegt in der Verwandlung dor 
Frau in eine Blume; ähnliche Verzauberungen kommen 
häufiger vor z. B. im Liebsten Roland (56) und im Funde- 
vogel (51). Die Sprache zeigt geringe Modernisierung. 

11,66. Die heilige Frau Kummerniss. 

Die Legende erzählt von dem Märtyrertod einer portu- 
giesischen Königstochter Wilgefortis, die als Christin sich 
nicht mit einem heidnischen Prinzen vermählen w T ollte und 
deshalb Gott anflehte, ihre Schönheit zu zerstören und ihr 
einen Männerbart wachsen zu lassen. Das Wunder geschah, 
und sie wurde von ihrem grausamen Vater, der sie zu der 
verhassten Heirat hatte zwingen wollen, zum Kreuzestode 
verurteilt. — Vor ihrem Heiligenbilde kniete einst ein 
Geiger und spielte ein schönes Lied. Zum Dank dafür 
Hess das Bild einen goldenen Pantoffel niederfallen. Das 
Fehlen des Schuhes wurde bald bemerkt, es geschah Um- 
frage, und der Spielmann, bei dem er gefunden wurde, sollte 
wegen Kirchenraubes gehängt w r erden. Auf seinem letzten 
Gange bat er sich die Gnade aus, noch einmal vor der 
Heiligen spielen zu dürfen; es wird ihm erlaubt, und wie 
er einen Bogenstrich tut, lässt das Bild auch den zweiten 
Schuh fallen, und der Geiger wird freigelassen. — Die Bear- 
beitung folgt fast wörtlich der Fassung im Andreas Strobls: 
Ovum paschale (Salzburg 1700) p. 216 f. Der Bericht des 
Wunders wurde etwas abgeschwächt, im übrigen aber lässt 

i) vgl. Haupts Zs. ILI.34. 



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— 58 — 



sich eine abweichende Stilisierung nicht erkennen. Zwar 
ist die Sprache etwas modernisiert, doch blickt der alter- 
tümliche Grund noch überall hervor. Der lateinische Name 
der Jungfrau Wilgefortis wurde unterdrückt, ebenso dir 
Wendung: das Valete nehmen mit: „zu guter Letzt Abschied 
nehmen" übersetzt. Die Gewährung der letzten Bitte 
erinnert an die Episode des Märchens vom Juden im Dorn. 
Im „Geiger zu Gmünd" hat Justinus Kerner die Legende 
poetisch bearbeitet Mit gutem Recht ist hier statt der 
Wilgefortis die Schutzpatronin der Musik, die „sanges- 
reiche Cäcilie" als Heilige eingeführt worden. 

Der Ursprung der Legende ist dunkel. Man bringt 
sie in Zusammenhang mit den bekleideten Christusstatuen 
des Mittelalters 2 ), andere knüpfen sie an germanisches 
Heidentum an 3 ). Der Kultus der Heiligen blühte haupt- 
sächlich im Westen Deutschlands, von wo er sich weiter 
ausbreitete. Die Namen werden vielfach variiert; Strobl 
nennt sie noch: Liberata. Daneben bestehen Bezeich- 
nungen wie: St. Gehülfe, St. Hilfe, das vlämische Ontcom- 
mena ( Liberata), aus dem sich vielleicht durch Volks- 
etymologie die Benennung: „heilige Frau Kümmernis" ent- 
wickelt hat. Bisweilen wird auch ein männlicher Heiliger 
darunter verstanden: St. Kummerus. — 

Eigenartig ist die Entwicklungsgeschichte der beiden 
schönen Märchen: Von den Fischer und sine Fru (1,19) 
und Von den Machandel boom (1,47). Sie stammen 
aus der Feder des Malers Philipp Otto Runge, der sie 
im Januar 1806 in vorpommerscher Mundart niederschrieb. 
Noch am 7. Januar teilt er seinem Bruder Gustav in 
Wolgast, woher er selbst stammte, mit, dass er ihm 
gelegentlich zwei „Löögschen" (= Kindermärchen) zusenden 
wolle, die ausserordentlich schön und vollständig seien, 
wenn er nur Zeit zum Aufschreiben fände 4 ). Am 24. Januar 

«) Gedichte, 1826, S. U7. 

2 ) Weinhold, Zs. d. Ver. f. Volkskunde 9, 322 ff. 

3) Germania 82,461 ff. 

4 ) ßunges Hinterlassene Schriften 1,62. 



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— 59 — 

1806 schickte er sie an seinen Freund Jon. Georg Zimmer, 
den Verleger der Romantiker in Heidelberg, als Dank für 
den 1. Hand des Wunderhoras, das Zimmer als erstes Werk 
in Heidelberg herausgab. Er schreibt Uber seine Märchen 
folgendes: ..Ich sende Ihnen hierbei zwei plattdeutsche 
Döhnchen, wie sie die Kinderfrauen wohl erzählen, man 
findet sie selten so vollständig und ich habe mich bemüht, 
sie so aufzuschreiben, wie sie sich anhören .... Ich 
glaube, wenn es jemand übernähme, dergleichen recht zu 
sammeln, und hätte das Zeug um das Eigentliche zu packen, 
dass es schon der Mühe verlohnen würde; vorzüglich wäre 
nie zu vergessen, dass die Sachen nicht gelesen, sondern 
erzählt werden sollten ')". Hieraus geht deutlich hervor, 
dass er selber mit bewusster Technik der Darstellung an 
den Märchen gearbeitet hat. Mit feinem Empfinden betont 
er das musikalisch -rhythmische Moment der Märchen- 
sprache, die sich der mündlichen Ausdrucksweise anzu- 
passen habe. Von Zimmer erhielt Arnim (1808) das 
Rungische Manuscript ausgehändigt; eine Anfrage Arnims 
beim Verfasser, ob er mit dem Abdruck der Erzählungen 
in der Zeitung für Einsiedler einverstanden sei, hatte den 
gewünschten Erfolg. In allzugrosser Bescheidenheit spricht 
sich Runge nur ein geringes Verdienst an der Wieder- 
gabe der Märchen zu, da es bloss Zufall sei, dass er sie 
so vollständig zu hören bekommen habe 2 ). Er stellt noch 
ein drittes Märchen vom starken Hans (dem plattdeutschen 
Herkules) in Aussicht, über den wir aber nichts Bestimmtes 
erfahren. Am 9. u. 12. Juli 1808 kam der „Machandel- 
boom 1 ' zum Abdruck; der „Fischer" wurde nicht mehr 
aufgenommen, da Arnim die Erzählung nicht für ein eigent- 
liches Kindermärchen hielt. „Die Fabel vom Fischer 
schien mir damals, als ich den Machandelboom abdrucken 
Hess", schreibt er an die Brüder Grimm 3 ), „kein eigent- 
liches Kindermärchen, und darum nahm ich es nicht auf, 

*) Ruoges Schriften 1, 64. 
2) Runge* Schriften 1,185. 
8 ) Steijr, A. v. Arnim 111,202. 



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— 60 — 



weil ich in dem Kreise der bald zu schliessenden Zeitung 
nur recht charakteristische Sagen wünschte. Selbst der 
Machandelboom war mir w r egen einer gewissen, darin 
wohnenden Grausamkeit nicht ganz recht, aber die Berüh- 
rung mit Goethe auf der einen, mit der nordischen Romanze, 
die ich damals von Wilhelm übersetzt erhielt und mit dem 
Cid in Hinsicht des Aufrichtens toter Leiber (auf der 
anderen Seite) bestimmte den Abdruck". 

In einer Anmerkung seiner Zeitung machte der „Ein- 
siodler" Arnim darauf aufmerksam, dass die Verse, die 
der schöne Vogel singt: 

Mein Mutter, der mich sehlact't 
Mein Vater, der mich ass . . . 

in Gretchens irrem Liede in der Kerkerscene des Faust 
wiederklingen. (Arnim schreibt statt Gretchen irrtümlich 
Klärchen). Das Folgende deutet auf die von W. Grimm aus 
dem Dänischen übersetzte Romanze: „Des Riesen Lang- 
bein und Wittich Wielands Sohn Kampf 4 , wo die Auf- 
stellung eines toten Leichnams eine ähnliche Rolle spielt 
wie im Cid '). — Die beiden Manuscripte Rungcs nahm 
Arnim mit nach Kassel und überliess sie 1809 den Grimms 
zur Abschrift. Später empfing sie auch Friedr. Heinr. 
von der Hagen, von dem sie dann dessen Freund Büsching 
für seine 1812 erschienene Sagensammlung entlehnte. Ein 
Vergleich der beiden Abdrücke bei Grimm und Büsching 
lüsst deutlich orthographische und ganz geringfügige 
stilistische Abweichungen erkennen. Die Varianten des 
Grimmschen Textes kommen auf Rechnung des Verlegers 
Georg Andreas Reimer in Berlin 2 ). Dieser, eingeborener 
Grcifswalder, hatte ohne Erlaubnis Grimms den Wortlaut 
der plattdeutschen Märchen nach eigenem Sprachgebrauch 
und nach Joh. Carl Dähnerts plattdeutschem Wörterbuch 
(1781) umgeändert, da er ihm der pommerschen Mundart 



») Ztg. f. Einsiedler No. 30. Altdän. Heldenlieder S. 17. 
2) Nachgewiesen von Steig, Archiv f. d. Stud. d. neueren 
Sprachen u. Litt. 107, 277 ff. 



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— 61 — 



nicht genau zu entsprechen schien. Stärkere Eingriffe 
zeigt der Text des „Fischers", aber auch das Märchen 
vom Machandelboom erlitt Veränderungen, obgleich sie 
weniger zahlreich und unbedeutender waren, „da die 
Abschrift viel correkter und den Regeln des Plattdeutschen 
zusagender war als beim Fischer". Da aber die Anmer- 
kungen am Schluss besagten, dass es wörtlich nach Runges 
Mitteilungen abgedruckt sei, so geriet Reimer, der bei der 
Drucklegung des Märchentextes noch nichts davon gewusst 
hatte, in Verlegenheit. Er schrieb deshalb am 1. Dezember 
1812, um sein Verfahren zu entschuldigen, dass schon die 
Ungleichheit der Schreibart einen ganz wörtlichen Abdruck 
nicht gestattet hätte, und führt als Entlastungsgrund für 
sich an. dass ihm Tieck zu seiner Beruhigung mitgeteilt 
habe, „die Erzählung sei gar nicht so abgefasst, wie er 
sie selbst häufig aus Runges eigenem Munde gehört habe, 
selbst in einigen Wendungen und Momenten der Entwick- 
lung verschieden *)". Reimer wusste selbst, dass die Mit- 
teilung Tiecks seine Eingriffe in die Gestalt der Märchen 
nicht entschuldigte und war deshalb zu einem nachträg- 
lichen wortgetreuen Abdruck bereit. Da aber die Aus- 
gabe des Buches nicht verzögert werden sollte, so unter- 
blieb die weitere Änderung, und auf Reimers Veranlassung 
lautete die Anmerkung zum Machandelboom: „Dieses 
wunderschöne Märchen ist uns von Runge mitgeteilt 
worden". Über das Verhältnis des Abdrucks zum ursprüng- 
lichen Text wird nichts gesagt. 

Steig vermutet mit Unrecht, dass Reimer auch die 
Fassung des „Fischers" bei Büsching als fehlerhaften 
Abdruck des Rungischen Märchens bezeichnet habe 4 ). 
Schwerlich hatte er trotz seiner Änderungen an dem 
Grimmschen Text ein derartiges persönliches Interesse 
an dem Wortlaut bei Büsching, dass er ihn sogar zu einer 
genauen Vergleichung herangezogen hätte: denn ohne 

1) Archiv a. a. O. S. 293. 

2 ) Archiv Hd. 107, 290. 



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- 62 — 

dieses Verfahren würde er den Unterschied gar nicht 
bemerkt haben; auch bezeichnete er ihn nicht deshalb 
als fehlerhaft, weil er den Grimmschen Text für unvoll- 
kommen hielt und Verbesserungen anbrachte. Vor allem 
aber spricht dagegen, dass schon in einem Brief der 
Brüder an Arnim vom 2G. Sept. 1812 Büsching der 
Vorwurf gemacht wird, er habe das Märchen vom Fischer 
ungenau wiedergegeben 1 ). Mit diesem Briefe aber ging erst 
das Druckmanuscript der Märchen nach Berlin ab 2 ); es kann 
sich also bei dem Tadel, den sich Büsching von den Grimms 
gefallen lassen muss, nur um die (wohl durch Druckfehler ent- 
standenen) Abweichungen gehandelt haben, die seine Fassung 
von ihrer — wie man sicher annehmen darf — ganz wortge- 
treuen Abschrift des Rungischen Manuscripts unterschieden. 
Da diese nun aber durch Reimers Schuld entstellt ist, so 
sind wir nicht im Stande, solange nicht jede Änderung 
Reimers als solche nachgewiesen ist, anzugeben, wieweit 
Grimms Vorwurf Büsching gegenüber berechtigt war. 

Der von Reimer veränderte Text blieb auch in der 
2. Auflage bestehen. Die Note zu No. 19 im 3. Bande 
zeigt jedoch, dass den Brüdern die Erinnerung an Reimers 
Verfahren noch nicht verloren gegangen war. Da der 
Text in ihrer eigenen Sammlung nun noch viel weniger 
als der Büschingsche der ursprünglichen Handschrift 
Runges entsprach, so fehlt hier der ganze Passus über 
von der Hagen und Büsching. Der Machandelboom trägt 
den Vermerk: „Von Runge nach der Volkserzählung auf- 
geschrieben," weiter nichts. — Von ganz geringen Ände- 
rungen abgesehen- 1 ) überlieforten auch die folgenden Auf- 
lagen den Text in der alten Form bis zur 5. Auflage der 
kleinen Ausgabe der Märchen, die man seit 1825 einge- 
richtet hatte 4 ). Dann aber erscheinen die Märchen plötzlich 



1) Steig, Achim y. Arnim IH,21ß. 

2) Steig, Achim v. Arnim 111,213. 

3) Archiv, S. 297. 

4 ) Steig, Achim v. Arnim 111,548. 



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— 63 — 



in ganz neuer Gestalt. Inzwischen (1840 — 41) waren 
nämlich die hinterlassenen Schriften Otto Runges er- 
schienen, in denen die Texte von Daniel Runge, dem 
Herausgeber, in Hamburgischen Dialekt umgeschrieben 
waren. 1812 schrieb er bereits an Arnim und erbat sich 
von ihm das Manuscript der beiden Märchen. Das befand 
sich aber in Clemens Brentanos Händen. Ob dieser es 
zurücksandte, bleibt bei dem Mangel an Nachrichten darüber 
unsicher. Die Umschrift der Märchen zeigt aber eine so 
weitgehende Übereinstimmung mit der ursprünglichen 
Fassung, dass man notwendig eine ältere Vorlage an- 
nehmen muss 1 ). Es ist möglich, dass Daniel Runge die 
Abdrücke in Grimms oder Büschings Sammlung benutzte, 
aber da er mit keinem Worte die Zugrundelegung einer 
fremden Fassung erwähnt, so scheint er das Original- 
manuscript der Märchen samt den Briefen seines Bruders 
von Brentano zurückerhalten zu haben. 

Wenig verändert wurde das Märchen vom Machandel- 
boom; hier handelt es sich bei den Abweichungen fast 
nur um Sprachforraen. Beim Fischer dagegen zeigen sich 
bedeutendere Eingriffe. Der Einschub neuer Sätze ver- 
ändert auch die alten: am auffälligsten tritt das Bestreben 
hervor, Detailschilderungen zu geben und den äusseren 
Glanz der Situationen mehr hervorzuheben. Aber trotz 
aller Änderungen ist auch hier die Übereinstimmung mit 
dem Früheren ganz evident. 

Die neue Form der Märchen wurde von der 5. Auf- 
lage (1847) ab von W. Grimm trotz einiger Bedenken 
angenommen. Damit stimmt nun aber nicht die An- 
merkung des 3. Bandes (1856): dort steht noch wie früher 
bei No. 19, dass das Märchen in pommerscher Mundart 
aufgeschrieben sei; Grimm vergass. dass er inzwischen 
die Märchen nach Daniel Runges Vorgang in Ham- 
burgischem Dialekt aufgenommen hatte. In dieser letzten 



i) Anders Steig, Archiv a. a. O. 298. 



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— 64 — 



Form stehen die Märchen noch heute in unsern Aus- 
gaben. 

Der Erzählung vom Fischer, die den schwindelnden 
Aufstieg und jähen Sturz eines ehrgeizigen Menschen in 
märchenhafter Einkleidung zur Darstellung bringt, konnte 
mit leichter litterarischer Nachhilfe eine auf den Geist 
der Zeit gerichtete Wendung gegeben werden. Schon 
Reimer bemerkte 1808, dass das Märchen Personen 
und Ereignisse der Zeit vortrefflich charakterisiere 1 ). 
Am nächsten lag der Gedanke an das Parvenu-Schick- 
sal Napoleons. Am 29. April 1814 schreibt Savigny 
an W. Grimm, dass ein Sonderdruck des „Fischers" aus 
der Grimmschen Sammlung als Biographie des französischen 
Kaisers stark gekauft und gelesen werde 2 ). Wichtiger 
aber ist, dass Arnim in freier, dichterischer Weise das 
Märchen vom Fischer, das er zuerst als Kindermärchen 
befehdet hatte, in seiner „Päpstin Johanna'' in gereimter 
und prosaischer Fassung bearbeitet und es symbolisch 
mit den Schicksalen des weiblichen Papstes verllochten 
hat 3 ). Brentano gedachte die beiden Rungischen Er- 
zählungen für seine Märchensammlung zu benutzen 4 ): 
die viel später von Guido Görres besorgte Ausgabe der 
Märchen enthält sie aber nicht. Sicher hätte auch 
Brentano die Fassung Runges geändert. 

Für die beiden Märchen haben wir endlich ein merk- 
würdiges Zeugnis zu berücksichtigen, das die Frage nach 
der Form des ursprünglichen Manuscripts Runges noch 
einmal berührt. Es ist anzunehmen, dass der am 24. Jan. 
1806 an Zimmer abgesandte Text zum Abdruck gelangt 
ist. Bedenken erregt nur eine Nachricht Brentanos 5 ). 
Dieser hatte die Rungischen Märchen in der Hand- 



1) Zimmer und (1. Romantiker S. 277. 

2) Steig, Archiv Hd. 110,». 

3) Steig, Archiv Hd. 110, 13 IT. 

4) Brentano, (Jos. Schriften VIII, 101. 

5 ) Steig 1 , Achim v. Arnim I, 151. 



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— 65 — 



schrift gelesen und erkannte zwar ihre ausgezeichnete 
Darstellung an, wunderte sich aber darüber, dass das 
Märchen vom Machandelbooni von der Fassung, die er 
aus mündlicher Überlieferung wusste, in einigen Punkten 
abweiche: ..Der Unterschied ist," schreibt er. .,dass in 
meinem Exemplar eine goldene Kette an einen Vater und 
ein paar rote Schuhe an die Tochter, in seinem aber ein - 
paar Hosen und ein Weck verschenkt werden." In dein 
Märchen, wie es uns vorliegt, ist aber von einem solchen 
Geschenk gar nicht die Rede, vielmehr werden ebenso 
eine ..goldene Kette" und ein „paar rote Schuhe" ver- 
teilt, wie Brentano es in der von ihm gehörten Rezension 
gefunden hat. Man kann das Brentanosche Zeugnis nicht 
anders verstehen, als wenn man annimmt, dass der ur- 
sprüngliche Text l?unges von dem uns erhaltenen 
mindestens in den von Brentano angeführten Punkten 
abgewichen sei: denn dessen Mitteilung sieht durch die 
bestimmte Gegenüberstellung der fraglichen Varianten 
ritiem Citat sehr ähnlich. Innerhalb der zwei Jahre - 
vom .Januar 1S0(> bis Januar 1808 — müsste dann Runge 
eine veränderte Fassung eingesandt haben: vielleicht hat 
ihn Brentano selber auf die Abweichungen aufmerksam 
gemacht. Vermutlich hatte Reimer, der die beiden Märchen 
im Januar 1808 in der Handschrift las 1 ), schon die end- 
gültige Fassung vor sich, wie sie bald darauf in der 
Zeitung für Einsiedler erschien, sonst hätte er bei seiner 
späteren Verteidigung den Grimms gegenüber sicher auf 
diese Punkte aufmerksam gemacht, denn er hätte ja dann 
einen augenscheinlichen Beweis für die Meinung Tiecks 
ins Feld führen können, dass der Text von Runge selbst 
mit Varianten erzählt wurde. 

Die Stufenfolge der Entwicklung des Textes in beiden 
Erzählungen ist also diese: 

1. Das ursprüngliche Manuscript Ranges enthielt die 
von Brentano gerügten Abweichungen. 



') Zimmer, Z. u. d. Romantiker S. 277. 
I'alaostra XI.V11. *» 



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— 66 — 



2. Der Abdruck des „Machandelbooms" in der Zeitung 
für Einsiedler und des „Fischers" bei Büsching 
stehen dem (veränderten) Rungischen Text am 
nächsten. 

3. Bedeutendere Eingriffe von fremder Hand zeigt 
der Abdruck der beiden Märchen bei Grimm 1812. 

In einem andern Dialekt erscheinen sie 

4. in Ruriges Hinterlassenen Schriften, denen sich 

5. Wilhelm Grimm nachher anschloss. 

Das Originalmanuscript ist nicht wieder aufgetaucht. 



Die zweite Auflage der Märchen (1819) brachte 
nicht nur eine Reihe neuer Erzählungen, sondern änderte 
auch vielfach an der ersten Fassung. Auf manche Mängel 
der Sammlung war von den Freunden hingewiesen worden, 
namentlich hatte Arnims verständnisvolles Urteil, worauf 
die Brüder besonderes Gewicht legten, bestimmte Nach- 
teile gerügt. Obwohl die Herausgeber bei ihrer eigen- 
artigen Auffassung des deutschen Volksmärchens nicht 
alle Einwürfe berücksichtigen wollten und konnten, so 
zeigt doch die neue Bearbeitung deutlich, dass sie einzelnen 
Besserungsvorschlägen Gehör gegeben hatten. Auch ihnen 
selbst genügte der frühere Zustand des Buches nicht mehr. 
Zwar hatte Jakob zuerst Arnim gegenüber jedes Märchen 
in Schutz genommen, aber schliesslich fand auch er den 
1. Band unvollkommen: ,.Ich denke nicht", schreibt er an 
Wilhelm '), „dass er ebenso darf wieder gedruckt werden, 
sondern vieles ist zu bessern und zu vermehren." Tn der 
neuen Ausgabe, die für die folgenden im grossen und 
ganzen textlich massgebend gewesen ist, trat der Charakter 
einer blossen Sammlung mehr zurück, und die Form ge- 
wann an durchgebildeter Feinheit. Die grössten Änderungen 
erfuhr aber nur der erste Band. Fragmente, lückenhafte 
Erzählungen und einige Märchen in altertümlicher Sprache 
wurden teils durch vollständigere Überlieferungen ersetzt, 

') Am 11. Mai 181.5. 



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— 67 — 



teils ergänzt, und so erhielt das Buch ein ganz anderes 
Aussehen. Auch im Kleinen ist die bessernde Hand der 
Brüder oft zu spüren. Es seien die äusseren Veränderungen 
durch Zahlenangaben deutlich gemacht. Ausgeschieden 
wurden No. 6, 8, 22, 27, 33, 54, 62. 71, 72. 77, 82, 85. Eine 
ganze Reihe brachte man im 3. Bande unter, der 1822 
selbständig mit den Varianten und Anmerkungen erschien, 
die man in der 1. Auflage „wegen ihrer angenehmen und 
eigentümlichen Abweichungen" noch in den Text auf- 
genommen hatte. In der folgenden Aufzählung der aus- 
geschalteten Märchen bezeichnet die eingeklammerte Zahl 
den Platz, wo sie im 3. Bande erwähnt werden: es sind 
No. 16 (62), 32 ( 32). 64 T (57), 34 (34). 59, 66 (127), 60. 61 
(60. 61), 68 (88). 70 (56). 73 (46), 74 (60), 75 (29), 81 (82), 
84 (Fragm. 5). Im 2. Bande wurden gestrichen No. 33, 
•13, 44, die Jakob als das schlechteste Stück der Abteilung 
bezeichnete 1 ). 57, 66. No. 13 findet sich als Variante zu 1, 
36 zu 122. No. 35 erhielt einen besseren Platz unter den 
fvinderlegenden (9). Im übrigen handelt es sich hier um 
kleinere Formverbesserungen. Es kamen ausser den Va- 
rianten neu hinzu No. 6—8, 16, 22, 27, 33, 35, 37, 59, 66, 68, 
70—75, 77, 82-84, 95. 119, 121, 129, 130, 143, 152, 155. 
156. Einige sind Redaktionen älterer Aufzeichnungen. 

Die Vorzüge der neuen Ausgabe waren unverkennbar. 
Rühmend hebtüörres „die ansprechende Harmonie zwischen 
Inhalt und Form* 1 der Märchen hervor; er bewundert den 
sicheren Takt, womit die Brüder den Ton der Darstellung 
getroffen hätten, und versichert, das Ganze sei so, dass 
keine Literatur etwas in dieser Vollkommenheit dagegen zu 
stellen habe 2 ). 

35. Der Schneider im Himmel 3 ). 

Schon der schwäbische Humanist Heinrich Bebel er- 
zählt den bekannten Schwank in seinen Facetien unter 

') Briefwechsel zwischen Jakob u. Wilhelm CJrinini S. 440. 

2 ) Brief an (irinini vom 10. Dez. 1*2*2. 

3) Vjrl. R. Kühler, Aufsiit'/.e ed. Bolte u. K. Schmidt S. 4.S ff. 

:>• 



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— (58 — 



der Überschritt: „De sarcinatore fabula" Aus ihm 
schöpften Frey (Gartengesellschaft. Cap. 109) und Kirchhof 
(Wendunmuth 1,230). Jeder von ihnen fügte Kleinigkeiten 
hinzu. Freys Darstellung zeigt im Gegensatz zu seiner 
Vorlage einen derben Humor, ist anschaulich und dramatisch 
belebt und bringt zuerst den trefflichen Schluss, wonach 
der aus dem Himmel vertriebene Schneider das Dorf Wart- 
einweil aufsucht, um dort mit den Landsknechten zu zechen. 
Kirchhof beginnt spöttisch: „Ach leider, was habe ich ver- 
gessen? Der Schneider sollte ich oben bei der Fürsten 
und des Adels Historien Meldung getan haben, sintemal 
wann dieselbigen all gestorben, sie die ersten sein, die 
Fdelleute werden mögen", und fährt dann nach Art des 
Lügenmärchens fort: „Ein Stumm hat mir gesagt, dass 
eine blinde Frau auch gesehen, es hab ein hinckender 
Schneider vor Zeiten auf seinem Handwerk umher- 
gewandert" usw. Das Folgende schliesst sich enger als 
bei Frey an die Vorlage an. Der Schluss lautet echt 
märchenhaft: ..Wer so fürwitzig ist und gern wissen wollte, 
wie es dem Sehneider fürder gangen, mag vorm Himmel 
danach fragen. 1 * Die Moral bedient sich des Ovidischen 
Distichons nach Bebel: 

„Si (juotio.s peeeant honiines sua fulmina mittat 
.Juppiter exiguo tomporo inerniis oril.~ 

Kirchhofs Übersetzung gibt denselben Gedanken in christ- 
lichem Sinne wieder. 

Die Brüder Grimm benutzten im wesentlichen die Dar- 
stellung bei Frey, milderten aber einige anstössige Stellen. 
Am Anfang fügten sie das Zwiegespräch zwischen Petrus 
und dem bittenden Schneider ein, wobei uns die volksmässige 
Ausdrucksweise interessiert: „Petrus fragte: Wer klopft? 
Kin armer, ehrlicher Schneider bittet um Finlass! — Ja, 
ehrlich wie der Dieb am Galgen, du hast lange Finger 
gemacht und den Leuten das Tuch abgezwickt". Die Vor- 
lage berichtet einfach: ..Der Schneider war gern hinein 



>) Opuseulii 1j14. Ausyaho von i;>~>0, .S. <>. 



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— <>9 — 



gewesen, Petrus aber wollt ihn nicht hineinlassen, darum 
dass er so unbillig in seinem Leben den Leuten das Tuch 
gestohlen hält." Wie auch sonst wird der Schneider als 
ein kleines, spindeldürres Männehen vorgestellt. Die 
späteren Auflagen heben seine Winzigkeit noch mehr her- 
vor: er bittet „mit einer feinen Stimme" um Einlass und 
springt ..mit seinem dürren Leibe*' behende durch die offene 
Himmelstür. — Von der 4. Auflage ab folgten die Brüder 
mit geringen Abweichungen der Wiedergabe in Jörg 
Wiekrams Kollwagenbüchlein (Gap. 110». Ausführlicher 
ist hier die Beschreibung des Wunderstuhls Gottes: der 
Schluss warnt den Sünder vor Überhebung. In der Be- 
arbeitung blieb am Anfang die Unterredung zwischen 
Petrus und dem Schneider und der launige Abschluss nach 
Frey. Einmal ist absichtlich ein volkstümlicher Ausdruck 
gewählt: ..er tat. als ob er kein Wasser getrübt hätte** 
(..er tat, als ob er immer dagewesen wäre"). 

44. Der Gevatter Tod. 

Die erste Auflage brachte das Märchen nach einer 
mündlichen Erzählung aus Hessen. Es schloss damit, dass 
der Tod seinem vorwitzigen Paten, der ihn um die Kranken 
betrog, in einer unterirdischen Höhle die Lebenslichter der 
Menschen zeigte und ihn mit einer Warnung entliess. Für 
diezweite Ausgabe wurde der Schluss nach einer Erzählung 
in Friedrich Gust. Sehillings ...Neuen Abendgenossen'* ') 
umgearbeitet: der listige Tod stellt sich, als wolle er seinem 
Paten durch Untersetzen eines neuen Lichtes lange Jahre 
schenken, er versiehfs aber absichtlich, das Lichtstümpfchen • 
fällt um, und der Arzt bricht leblos vor dem gestrengen 
Gevatter zusammen. Schilling benutzte das Märchen, das 
er wohl aus mündlicher Überlieferung kannte, als Grund- 
lage für einen weit ausgesponnenen Unterhaltungsroman. 
Für das Grimmsche Märchen kommt nur der letzte Teil 
in Betracht, auch dieser stark gekürzt und auf die Haupt- 



') Friedrich ("Just. Schilling Sämtl. Schriften C0,0 IT. 



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— 70 — 



punkte zusammengedrängt. Abgesehen vom Schluss wurde 
auch die erste Fassung stilistisch verändert. Der ur- 
sprüngliche Text berichtete, wie sich dorn armen Mann 
nach dem lieben Gott unmittelbar der Tod als Pate an- 
geboten habe: die 2. Auflage schaltet die Begegnung mit 
dem Teufel Sm. Hierfür waren ältere Bearbeitungen des 
Märchens massgebend. In Jakob Ayrers Fastnachtspiel: 
..Der Baur mit seim Gevatter Tod' 1 ') treten Jesus, der 
Teufel und der Tod als Gevattern auf. Der Vater erhält 
das glückbringende Patengeschenk und wird dadurch ein 
berühmter Wunderarzt. Auch Praetorius hat die Dreizahl 
der Paten: Teufel, Gott und Tod-). Nach der 1. Fassung 
sollte die Kunst des Arztes vergeblich sein, wenn der Tod 
zu Füssen des Kranken stände, dagegen könne man, wenn 
er sich ihm zu Häupten aufgestellt habe, auf Genesung 
hoffen. Die zweite Auflage drehte den Fall um: später 
(:$. Aufl.) kam aber die erste Auffassung doch wieder zur 
Geltung. Die verschiedenen Bearbeitungen des Märchens 
wechseln in diesem Punkt. So wie Schilling erzählen es 
z. B. Praetorius und Hans Sachs in dem Schwank „Der 
Bauer mit dem Tod" 3 ). Dagegen stimmt Ayrer mit der 
endgültigen Grimmschen Fassung überein. Hier bekommt 
dein natürlichen Zusammenhang entsprechend der Sohn 
das Geschenk, wie es auch Prätorius erzählt, aus dem das 
..Kraut" als Heilmittel entnommen ist. Die 1. Auflage 
hatte weniger poetisch die „Wunderflasche"'. Auch sonst 
ist die neue Bearbeitung wegen ihrer anschaulichen und 
populären Spruche der früheren vorzuziehen: es seien 
die wesentlichsten Verbesserungen angeführt. Der Arme 
läuft ..auf die grosse Landstrasse", um dort wenigstens 
einen Paten für sein Kind zu finden. Der ,.dürrbcinige" 
Tod packt den Paten ..hart mit der eiskalten Hand" (l. Aufl.: 

'i Opus thealricum Xo. 0. 

-I Abenteuerlicher Olüekstopf S. 117; v«rl. Zs. <1. Vereins f. 
Volkskunde 4.47. 

■ ! ) Sdiwiinko ed Goelzc Xo. 1)4. Vjrl. auch H. Sachs* Meister- 
lied gleichen Inhalts. Zs. d. Vereins f. Volkskunde 4,37 f. 



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er packt ihn\ An dem Dialog zwischen dem Vater und 
den ihm begegnenden Personen ist die Wiederkehr der- 
selben Worte bemerkenswert. Die Frage des Mannes: ..Wer 
bist du?" wird regelmässig drei Mal gestellt. Die schroffe 
Antwort des Armen auf das freundliche Anerbieten Gottes: 
..Du giebst dem Reichen und lässt die Armen hungern" 
wird entschuldigt: ,.So sprach der Mann, weil er nicht 
wusste. wie weislich Gott Reichtum und Armut verteilt." 
Einige Ausdrücke machen die Erzählung volksmässiger. 
z. B. die Euphemismen: ..und da war für ihn kein Kraut 
mehr gewachsen": ..unterstehst du dich, mich noch einmal 
zu betrügen, so geht dirs selbst an den Hals 11 i(>. Aull. 
..an den Kragen"). ..es ist aus mit dir. die .Reihe kommt 
an dich", ausserdem die folgenden Wendungen: „das war 
der liebe Gott, der wusste schon, was er auf dem Herzen 
hatte", ..er würde es so übel nicht nehmen, wenn er ihn 
einmal hinters Licht führte": ..so drückt er wohl ein Aug' 1 
zu"; ..dass er alle Gedanken in den Wind schlug", und die 
Reimworte: „weit und breit kamen die Leute"; „ich will 
ihm Gold die Hülle und Fülle geben". Der Zusatz: „Der 
alte König weinte Tag und Nacht, dass ihm die Augen 
erblindeten" entspricht gleichfalls einer in der Volkspoesie 
häutig vorkommenden Hyperbel. Der Kindersprache ge- 
hört die Wiederholung eines Wortes an, z. B. ..viel tausend 
und tausend Lichter". Der Monolog steht einmal mit 
Personenwechsel: ..Der Arzt dachte, vielleicht kannst du 
den Tod überlisten, weifs dein Herr Pate ist, wird er s 
so übel nicht nehmen 1 *. Die Fremdwörter wurden ver- 
deutscht: „Arzt" (Doktor), „vom Tod erretten" (kurieren). 
..das Kraut gebrauchen" (eine Kur anfangen). 

Das Märchen ist über ganz Europa verbreitet. ') In 
allen Darstellungen sind die Motive wesentlich dieselben: 
wunderbare Krankenheilungen durch ausserordentliche 
Mittel, die man einem höheren Wesen verdankt. Die 



') (»ustav Meyer, Essays 1.152 IT. u. Holte. Zs. <l. Vereins f. 
Volkskunde IT. 



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— 72 — 



Überlistung dos Todes kann wie in Grimms Märchen durch 
Umdrehen des Bettes bewirkt werden: daneben findet 
sicli auch die Form, dass der Kranke noch um die Frist 
bittet, ein Vaterunser zu sprechen; er beginnt dann damit, 
ohne es zu Ende zu beten. Gewöhnlich aber überlistet 
der Tod den Kranken. Dieser Zug findet sich schon in 
einer isländischen Erzählung: „Der Königssohn und der 
Tod" aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts. \) Das älteste 
Zeugnis in deutscher Sprache bietet Hugo von Trimberg 
im Renner (V. 2306(5 ff.). 

77. Das kluge G retel. 
Das kluge Gretel ist eine naschhafte Köchin, die die 
beiden Hühner, die ihr Herr für einen Gast bestimmt hat. 
selber verzehrt und sich durch eine geschickte Ausrede 
vor der Strafe zu schlitzen weiss. Wie der Fremde er- 
scheint, macht sie ihn darauf aufmerksam, dass der Haus- 
herr, der gerade das Messer wetzt, ihm beide Ohren ab- 
schneiden wolle, worauf der Gast schleunigst das Weite 
sucht. Dem Wirt aber erzählt das Mädchen, dass der 
Besuch die Hühner mitgenommen habe. Um doch etwas 
zu retten, ruft der Herr dem Gaste nach: Nur eins! Dieser 
aber versteht, er solle nur ein Ohr missen, und rennt 
weg, ohne sich umzusehen. — Dass das Märchen ur- 
sprünglich frivolen Inhalts war. beweist die mittelhoch- 
deutsche Fassung: „Der entlaufene Hasenbraten".'-) Hier 
teilt die Hausfrau dem eingeladenen Pfarrer mit, dass ihr 
Mann, der das Bratenmesser schärft, es auf ihn abgesehen 
habe, da er bei ihm in einem bösen Verdacht stehe. Um 
der Entmannung zu entgehen, läuft der Pfaffe davon. Die 
boshaften Anspielungen sind in dem kurzen und trockenen 
Bericht bei Pauli (Cap. 3(54) vollständig getilgt. Hans 
Sachs, der diesen als Vorlage für seine beiden Bearbeitungen 
des Schwanks benutzte/') erzählt trotz mancher Erwcite- 

') Gehring:, Isländische Lebenden, Novellen u. Märrhen 11.14:3. 

2) Plagen, Oosamiabenteuer XXX. 

3) Schwanke ed. Goctze I1I,«U u. Werke ed. Keller V»,40?. 



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— — 



rungen das Ganze in einem nüchternen Ton und hebt in 
der Moral eindringlich die Warnung vor schlechten Haus- 
mägden hervor. Die Brüder Grimm folgten der Dar- 
stellung in Andreas Strobls: Ovum paschalc ! Salzburg 
1700 S. 25? ff.), wo die Geschichte zu einem launig erzählten 
„Ostermärlein" ausgestaltet worden ist. ihre Zusätze 
beschränken sich auf einige sprichwörtliche Redensarten: 
..die Küchin muss wissen, wie das Kssen schmeckt": ..wo 
das eine ist, muss das andere auch sein, die zwei gehören 
zusammen": „was dem einen recht ist. das ist dem andern 
hillig". Volkstümlich sind auch die Ausdrücke: „er lief, 
als wenn das Feuer unter ihm brennte 44 (lief, was er 
kunnte): „sie tat einen ehrbaren Trunk" (tet ein Trünklein 
darauf) und die Tautologie: „ist aber Jammer und Schade": 
..ist ja Sünd und Schund". I)<t Monolog zeigt einmal 
Personenwechsel: „sie dachte, du bist doch ein schönes 
Mädel* 4 (in der Vorlage: „bin ja ein rundes Diendl"). Die 
Fremdwörter ..tranchieren" und „Vesperzeit 44 sind bei 
Grimm verdeutscht. 

Dem bekannten Märchen von „Hans im Glück" (83) 
liegt die Fassung zu Grunde, die A. Wernicke in der 
Zeitschrift „Wünschelrute" (ISIS: Xo. !W) nach mündlicher 
Überlieferung veröffentlicht hatte. In der Bearbeitung 
fehlen die scherzhaften Ortsnamen „Gernefrass" und „Suse- 
wedel", und die Ausrufe Hansens: „Bei allen Heiligen", 
„ich bitte euch um der sieben Wunden Christi willen", 
.die auf einen katholischen Verfasser hindeuten. Hin und 
wieder wurden einige Worte hinzugefügt. So ist z. B. die 
komische Situation des Kuhmelkens deutlicher als in der 
Vorlage beschrieben: Hans hat die Kuh an einen „dürren" 
Baum gebunden und lässt die Milch in seine „Lederinütze 44 
rinnen, bis er von dem ungeduldigen Tier einen Schlag 
bekommt, dass er „zu Boden taumelte und sich eine Zeit- 
lang gar nicht besinnen konnte, wo er war". Den Vers 
des Scherenschleifers: 



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— 74 — 



„fiesrlililTen muss beut alles sein 
Und glänzen wie ein Kar funk eiste in" 

ersetzte man durch das allgemeine Sprichwort: „Handwerk 
hat einen goldenen Hoden". Ein paar Sätze sind in volks- 
tümlicher Sprache gehalten: „Wie er so dahin ging und 
immer ein Hein vor das andere setzte": „Hans suchte 
seine Glieder zusammen und machte sich auf den Weg": 
„dem Ding ist zu helfen, dachte Hans"; „Herz, was 
verlangst du mehr" und alliterierend: „ein Reiter, der 
Irisch und fröhlich vorübertrabte", „als er frank und frei 
dahinritt". Auch der prägnante Gebrauch des Possessiv- 
Pronomens gehört hierher: „Ja, die hat ihr Gewicht" 
(-= ihr gutes Ge wicht) und die Euphemismen: „mit eurem 
Schwein mag's nicht ganz richtig sein", „es ist ein schlechter 
Spass. das Reiten". 

84. Hans heiratet. 

Vorlage war eine Erzählung in Praetorius' ..Wünschel- 
rute" (S. 148 f.). Die Abweichungen der Bearbeitung sind 
unbedeutend. Hier erst trägt der Held den populären 
Namen „Hans". Volkstümlich ist die Tautologie in dem 
Satze: „und bleib da sitzen und geh mir nicht von der 
Stelle". Ein Gebot in negativer Form zu wiederholen, 
ist eine in der Umgangssprache häufig zu beobachtende 
Erscheinung. Die Vorlage hatte indirekt und weniger 
eindringlich: „er sollt in solcher Positur bleiben". In 
komischem Gegensatz zu der armseligen Wirklichkeit in 
Hansens Haushalt stehen die wichtigen Vorbereitungen 
zur Hochzeit, die in der Bearbeitung noch deutlicher 
hervortreten: der Vetter Hess „gut ,k einheizen, gab ihm 
„eine gute Menge Weissbrot" und einen „neugemünzten, 
glänzenden Heller" in die Hand. Statt der Moral in der 
Vorlage, die vor leichtsinniger Heirat warnt, haben wir 
bei Grimm einen lustigen Kinderreim: „Bist du auch aut 
der Hochzeit gewesen? Jawohl bin ich darauf gewesen. 
Mein Kopfputz war von Butter (?>. Aufl. von Schnee), da 
kam die Sonne, und er ist mir abgeschmolzen; mein Kleid 



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- 75 



war von Spinneweb, da kam ich durch Dornen, die rissen 
es mir ab: meine Pantoffeln waren von Glas, da stiess 
ich an einen Stein, da sagten sie klink und sprangen 
entzwei." Dieser echt märchenhafte Abschluss stammt 
aus mündlicher Überlieferung: er stand zuerst in No. TO 
(1. Aufl.). Ganz ähnlich endet No. 91 „Dat. Erdmänncken' 1 : 
auch in No. (>6 hat Grimm durch einen Zusatz gleicher 
Art das Märchen erweitert. 

119. Die sieben Schwaben. 

Die älteste bekannte Überlieferung, die auf das Vor- 
handensein des Schwank* von den sieben Schwaben 
schliessen lässt, ist ein Dialog in lateinischer Sprache aus 
dem Ende des 15. Jahrhunderts, betitelt: Uomedia de le- 
pore et novem Suevis 1 ). Drei Schwaben sind über das 
Aussehen eines schlafenden Hasen entsetzt und lassen sich 
nur mit Mühe beruhigen. In veränderter Form taucht 
das Hasenabenteuer in dem von H. Sachs verfassten 
Schwank: ..Die neun Schwaben" auf 2 ), wo erzählt wird, 
dass umherwanderndc Sehwaben einen schlafenden Hasen 
antreffen, dem sie mit einem langen Spiess zu Leibe gehen. 
Nach Überstandenein Kampf kommen sie an ein Wassel', 
verstehen das Quaken eines Frosches falsch und ertrinken 
einer nach dem andern. Das Gedicht bildete die Vorlage 
zu einer Erzählung bei Montanus (Gartengesellschaft II. IS) 
und bei Kirchhof (Wendunmuth 1.273). Dieser fügte noch 
einen dritten Schwank hinzu, den er ebenfalls einem Meister- 
lied des Hans Sachs entnahm: „Der Schwab mit dem 
Rechen" -1 ). Ein bewaffneter Schwabe hört auf dem Felde 
das Gebrumm einer Hornisse, hält es für einen feindlichen 
Kriegsruf und flieht. In der Hast tritt er auf einen Rechen, 
empfängt einen Schlag in den Rücken, glaubt sich von den 
Feinden ergriffen und gibt sich angstvoll gefangen. Seit 



1) Bülte, Schwankbüchcr dos Mcmtaims S. 507 IT. 

2) Holte, Zs (I. Vereins f. Volkskunde 4.4*2. 
:: ) Schwanke ed. (ioetzo 111.845. 



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— 7G — 



dem 17. Jahrhundort ist die Sichenzahl der Schwaben ge- 
läufig:. Das Grimmsche Märchen ist grösstenteils Kirch- 
hofs Wendunmuth nacherzählt. Die groteske Beschreibung' 
dos Hasen: ,.da sass oin Hase in der Sonne und schlief, 
streckte die Ohren in die Höhe und hatte die grossen, 
gläsernen Augen starr aufstehen; da erschraken sie beim 
Anblick des grausamen und wilden Tieres insgesamt und 
hielten Rat" entspricht den Versen in H. Sachsens Schwank 
von den neun Schwaben: 

„Sie funden pult Sie hielten rat 

liejren einen liasen in dem »ras, sie wollten spat 

der da entsehlatTen was eine kiine dal 

mit offen ausren hart all neun peweisen schiere 

s;iin <rlesren und erstarrt. an diesem grausamen und wilden 
Sein oren det er strecken. [diere." 

Kin fließendes Blatt '). gedruckt bei Fr. Campe in Nürnberg, 
lieferte die Unterredung in Reimen und die Namen. Ver- 
sehentlich ist bei Grimm „Marli" für „Marti" (Martin) ge- 
schrieben. Nach der Verschmelzung der drei Vorlagen 
haben die Bearbeiter nur noch einige volkstümliche Aus- 
drücke angebracht: „es war zu besorgen, das Ungeheuer 
verschlang sie mit Haut und Haar": frisch gewagt ist 
halb gewonnen": „es fuhr ihm der Stiel ins Gesicht und 
gab ihm einen ungewaschenen Schlag" (dass ihm der Stiel 
auf die Nasen schlug). Auch die flektierten Zahlwörter 
haben für uns etwas volksmässiges: ..sie hatten alle siebeue 
sich vorgenommen", ,.also dass ein Frosch ihrer sechse ums 
Leben brachte." Die Wendungen: ..dass ihm der Angst- 
schweiss am ganzen Leibe ausbrach- und: ..dem ich weiss 
nicht was für ein Geruch in die Nase kam" sind anständige 
Umschreibungen der nackten Derbheiten des l(i. Jahr- 
hunderts. Kirchhof verlegt das Abenteuer auf eine Wall- 
fahrt nach Trier und Aachen: die genaue Angabe des 
Orts ist indes weniger märchenhaft. Der Schlussvers im 
Wendunmuth bringt, wie fast immer, eine moralische Nutz- 
anwendung; hier lautet sie beschwichtigend: 

') V<rl. Z<. d. Vereins f. Volkskunde 4,4:50. 



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.,10s sein d'Sehwaben hierdurch nit «reschineht. 
In Frühlhhkeil es so hinpdit: 
Ein yeder troftllt ilim selln>r bass, 
Andere wissen von ihm auc h was." 

FW. Einäuglein. Zweiäuglein und Dreiä uglein. 

Die älteste bekannte Fassung des Märchens stellt 
bei Montanas (Gartengesellschaft. Cap. r») als Erzählung 
vom ..Erdkühlein". Die Brüder (Jrimm folgten einer zeit- 
genössischen Aufzeichnung aus dem Lausitzisehen von 
Theodor Pescheek'). Fortgefallen ist in ihrer Bearbeitung 
die gelehrte Ueminiscenz aus der antiken Mythologie, das 
Bild des Tantalus, das die Vorlage bei einer entsprechen- 
den Stelle des Märchens gebraucht. In Einzelheiten wurde 
mehrfach gebessert. Die Brüder verweilen absichtlich in 
tler Beschreibung des YYundertisehes Zweiäugleins: ..Kaum 
hatten sie die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tisch- 
lern, mit einem weissen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller 
mit Messer und (Jabel und silbernem Löffel, die schönsten 
Speisen standen rund herum, rauchten und waren noch 
warm, als wären sie eben aus der Küche gekommen." 
Die Vorlage ist knapper: ..so stand da das sauber ge- 
deckteste Tischlein zu ihren Füssen und duftete ihr mit 
den einladendsten Speisen und (Jetränken gar lieblich und 
ge würzig entgegen." Die strömenden Tränen Zweiäugleins 
vergleicht Grimm ..mit zwei Büchlein, die aus den Augen 
herabtlosseif . In der Vorlage fehlt das Bild. Bevor das 
arme Mädchen die köstlichen Speisen des Wundertisches 
anrührt, sagt es fromm ..das kürzeste Gebet her, das es 
vvusste: Herr Gott, sei unser Gast zu aller Zeit, Amen", 
während die Vorlage es ungeniert ..nun weiter auf kein 
Nötigen harren, sondern sogleich frisch und wohlgemut 
zulangen 1 - lässt. wonach es verlangte. Charakteristisch 
durch das Spiel mit Zahlbegriffen ist die Art. wie Grimm 
die allmählich sich steigernde Verwunderung der Schwestern 
beschreibt, als Zweiäuglein von den übrig gebliebenen 

M imsrhiie-s WörhentliclM' XaH, Hebten II, 17-2«. 



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— 78 — 



Brocken nichts mehr nehmen will: „das erste Mal und 
das zweite Mal achteten es die Schwestern nicht, wie es 
aber jedesmal geschah, merkten sie auf und sprachen: es 
ist nicht richtig mit dem Zweiäuglein u . Am auffallendsten 
unterscheidet sich die Umschrift von der Vorlage durch 
die Wiederholung gewisser Züge. Beim Versuch Drei- 
äugleins, ihre Schwester zu überlisten, hören wir dieselben 
Worte wie früher: „Aber Zweiäuglein merkte, was Drei- 
äuglein im Sinne hatte und trieb die Ziege hinaus ins hoho 
(Jras und sprach: Wir wollen uns dahin setzen, Drei- 
äuglein, ich will dir was vorsingen". Die Vorlage ver- 
weist kurz auf den früheren Fall: .,Aber auch diese suchte 
Zweiäuglein auf die nämliche Art, wie sie bereits gestern 
getan, einzuschläfern' 1 . Überhaupt werden alle Vorgänge, 
die sich beim Besuch Dreiäugleins auf dem Felde abspielen, 
mit ähnlichen Wendungen wie beim Einäuglein wieder- 
gegeben. So heisst es zweimal: ..Ich will mitgehen und 
sehen, dass die Ziege auch recht gehütet und ins Futter 
getrieben wird 44 . Dreiäuglein wird mit denselben Worten 
wie Einäuglein aufgefordert, nach Hause zurückzugehen. 
Auf die Frage der Fee antwortet Zweiäuglein regelmässig: 
..Soll ich nicht weinen?" . . .»und das Folgende: ..weil ich 
zwei Augen habe, wie andere Menschen, so können mich 
meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stossen 
mich herum [später noch volkstümlicher: stossen mich aus 
einer Ecke in die andere . . .], werfen mir alte, schlechte 
Kleider hin und geben mir nur zu essen, was sie übrig 
lassen", entspricht genau einer Parallele kurz vorher. 
Wenn die Vorlage berichtet, dass Dreiäuglein alle Erlebnisse 
auf dem Felde „haarklein' 4 der Mutter erzählt habe, so 
gibt Grimm statt dessen eine ausführliche Schilderung, den 
Zauberspruch der weisen Frau zum fünften Mal wieder- 
holend. Die Sprache ist einfach und schlicht. Künstliche 
Tropen mied man und nannte die Dinge mit ihrem rechten 
Namen: „Zweiäuglein merkte gar bald, dass der Baum aus 
den Eingeweiden der Ziege aufgeprosst war 44 . Die Vorlage 
•anschreibt: „Zweiäuglein gewahrte, wie der wunderschöne 



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— 79 — 

Baum oben da aus der Erde hervorgesprossen war. wo 
sie den wunderbaren Samen der Erde anvertraut hatte". 
Der allegorische Ausdruck: „dass sie trauernd herumging, 
und die Einsamkeit ihre einzige Freundin war 41, fehlt. Leise 
ist die Neigung zu verspüren, Abstraeta zu ersetzen: 
Zweiäuglein aber dachte, ich muss gleich einmal versuchen, 
ob es wahr ist, was sie gesagt hat* 4 (..Alsbald versuchte 
Zweiäuglein die Wahrheit jener Vcrhcissung"), „Einäuglein 
konnte der Mutter nicht sagen, warum es nicht essen 
wollte 4, („Einäuglein wusste der Mutter den Grund keines- 
wegs anzugeben* 4 ). Einzelnes ist in volkstümlicher .Sprache 
hinzugefügt: Zweiäuglein weinte ..seine bitteren Tränen *: 
..es ist nicht richtig mit dem Zweiäuglein, das muss andere 
Wege gefunden haben". Die Bearbeitung nennt die spär- 
liche Kost, die man Zweiäuglein zu Hause zukommen lässt, 
in volksmassiger Kürze: „die paar Brocken". Die 6. Auf- 
lage fügte die sprichwörtliche Redensart hinzu: ,.Wer 
weiss, wo unser Weizen noch blüht". „Essen und Trinken- 
ist eine populäre Umschreibung für Mahlzeit überhaupt. 
Verwandt ist diese Ausdrucksweise, die auf sinnliche Deut- 
lichkeit der einzelnen Glieder Wert legt und blasse Kollektiv- 
begriffe meidet, mit den volkstümlichen Tautologien, von 
denen uns hier eine Anzahl begegnet: „Ach, ich leide 
Hunger und Durst, Kummer und Not. vom Morgen bis 
zum Abend* 4 . Tm jeden Anklang an die Feenmärchen zu 
beseitigen, wurde die „Fee** der Vorlage in eine ..weise 
Frau*' verwandelt. 

Als Vorlage zu dem Märchen „Die Brautseh au' 4 
(155) diente die kurze Notiz, die der schweizerische Volks- 
und Jugendschriftsteller Job. Rudolf Wyss zu seiner im 
Stil der Vossischen „Luise 44 gehaltenen kleinen Idylle: 
„Die Apfelprobe 44 macht. 1 ) Die Umschrift zeigt nur gering- 
fügige Änderungen: ein einleitendes Wort war leicht aus 



>) Joh. H. \Vys.s, Idyllen, Volkssagen. Legenden S. '.V2i. 



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— 80 — 



dem Zusammenhang zu ergänzen. Statt: viel „Geniess- 
bares" heisst es bei Grimm populärer: viel „Gutes"'). 

Die Bearbeitungen der gedruckten Vorlagen, die aus 
der ersten Auflage in die zweite herübergenommen wurden, 
blieben im allgemeinen unverändert. An den kurzen Ge- 
schichten war wenig zu bessern. Eine Ausnahme macht 
das .Märchen vom tapfern Schneider! ein (20). Die 
beiden Erzählungen der 1. Auflage wurden durch eine 
dritte, hessische Überlieferung ergänzt, die das Abenteuer 
des Schneiders in der Höhle des Kiesen enthielt. Ausser- 
dem aber schrieb man. hauptsächlich wohl auf Arnims 
Veranlassung, der Stil und Ausdruck für ein Kinderbuch 
ungeeignet fand. 2 ) das ganze Märchen um und hob es 
künstlerisch durch Zusätze mannigfacher Art. Am meisten 
treten die volkstümlichen Kedensarten hervor, z. B.: ..Da 
lief dem Schneiderlein die Laus über die Leber" (mein 
Schneiderlein ward bös): „die ganze Welt Solls erfahren, 
und sein Herz wackelte dabei wie ein Läminerschwänzchen'*: 
„nun nahm's den Weg zwischen die Beine und stieg auf 
einen hohen Berg hinauf" (das Sehnciderlein stieg auf 
einen hohen Berg): und Hess seine Äugelein nach ihm 
hin und beigeben" (und lugte von weitein): „da hast du's 
schriftlich" (da kannst du sehen): „die Fliegen aber ver- 
standen kein Deutsch"; „dem Ding will ich wold steuern" 
(er wüsste dieser Sachen wohl zu tum: „da merkte sie. 
in welcher Gasse ihr junger Herr Gemahl geboren war"; 
„da lagen sieben vor ihm tot und streckten die Heine": 
„nun ging das Schneiderlein immer seinem spitzigen 
Naschen nach'": ..der liess sich das nicht gefallen und gab 
ihm gleiche Münze zurück". Der Schneider ist mit sprich- 
wörtlichen .Redensarten bei der Hand: ..Gewonnen Spiel! 
sprach das Sehnciderlein." ..Habt Ihr gar keine Wunde? 
Das hat gute Wege, erwiderte er. kein Haar haben sie mir 
gekrümmt!" Die :>>. Aullage brachte noch einige weiten? 

') Ayl. No. 11. „Dein wirft sie ilorli nnmchmnl Cnh-s zu." 

->> S(.>y a. \ . Arnim m,2i>::. 



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— 81 



Verbesserungen; sie seien hier gleich erwähnt. Statt des 
Ausdrucks: „Der Schneider pfiff allerlei Liederehen" liest 
man jetzt bestimmter: ..Er pfiff das Liedchen: Es ritten 
drei Schneider zum Tore hinaus. 4 ' Der Umgangssprache 
angehörig sind Wendungen wie: „Das ist ein Kinderspiel" 
und: ..dem Ding will ich einen Riegel vorschieben". 
Einzelnes wird deutlicher beschrieben. Man erfährt z. B., 
dass der Schneider drei Treppen hoch wohnt: sehr vor- 
sichtig zeigt er sich beim Einkauf: „er besah alle Töpfe, 
hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran und sagte end- 
lich" . . . Seine Behendigkeit wird noch mehr als früher 
betont: er heisst ..der flüchtige Held-, „der kleine Kerl", 
und vergleicht sich selbst mit einem Eichhörnchen. Prahle- 
risch erwähnt er bei jeder Gelegenheit, sieben auf einen 
Streich erschlagen zu haben. 

Jede neue Auflage der Märchen stellte eine höhere 
Stufe auf dem Wege der Entwicklung dar. Allerdings war 
in der zweiten Ausgabe nach bedeutenderen Umformungen 
ein Grundstock geschaffen, der inhaltlich nahezu unver- 
ändert bestehen blieb; nur vereinzelt griffen die Brüder 
noch ein Stück heraus, das ihnen nicht recht gefiel, um 
es durch eine andere Überlieferung zu ersetzen. Aber in 
der Form zeigen die späteren Ausgaben noch mancherlei 
Verbesserungen. Ihr Wert besteht jedoch vor allem in 
der grösseren Reichhaltigkeit. Die dritte Auflage (1837) 
brachte allerdings verhältnismässig wenig Neues. Am 
Schluss wurden No. 161 — 167 hinzugefügt. No. 43 der 
2. Auflage fiel fort, und an ihre Stelle trat eine voll- 
ständigere Erzählung nach gedruckter Vorlage. Auch 
von den andern neu aufgenommenen Stücken gehen einige 
auf ältere Fassungen zurück. 

]G2. Der kluge Knecht. 

Das Märchen erzählt Luther neben anderen Volks- 
schnurren in der Auslegung des 101. Psalms '). Die Be- 

>) Vgl. Goedekc, Dichtungen M. Luthers S. 124. 
Palaestra XLVII. 0 



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— 82 — 



arbeitung rundet nur die Sätze hier und da etwas ab. 
Der Eingang, der öfter mit einer sentenziös gefärbten 
Wendung beginnt, ist auch hier verallgemeinernd in den 
Ausruf gekleidet: „Wie glücklich ist der Herr, und wie 
wohl steht es mit seinem Hause, wenn er einen klugen 
Knecht hat, der auf seine Worte zwar hört, aber nicht 
danach tut, und lieber seiner eigenen Weisheit folgt." 
Um den Helden schon äusserlieh als einen beschränkten 
Oesellen zu charakterisieren, legt ihm Grimm den volks- 
tümlichen Vornamen „Hans" bei. Beachtenswert ist, dass 
er in der Bearbeitung das Beiwort „klug" regelmässig 
dann erhält, wenn er einen augenfälligen Beweis seiner 
Dummheit gegeben hat, wie auch die Überschrift „Der 
kluge Knecht" in ironischem Sinne gesetzt ist (vgl. Xo. 32 
Der gescheite Hans. Xo. 34 Die kluge Else). 

103. Der gläserne Sarg. 

Das Märchen entstammt einem abenteuerlichen Studenten- 
roman: Das verwöhnte Mutter-Söhnchen oder Polidors ganz 
besonderer und überaus lustiger Lebenslauf (Frcibcrg 172S). 
Es wird hier als selbständige Einlage erzählt, unterscheidet 
sich auch in Stil und Sprache von seiner Umgebung. 
Inhaltlich ändert die Bearbeitung so gut wie nichts. Der 
Anfang: „Sage niemand, dass ein armer Schneider es nicht 
weit bringen und nicht zu hohen Ehren gelangen könne; 
es ist weiter gar nichts nötig, als dass er an die rechte 
Schmiede kommt und, was die Hauptsache ist, dass es 
ihm glückt", macht sich in harmloser Weise über den 
■Schneider lustig, der ja in der volkstümlichen Literatur oft 
als humoristische Figur aufgefasst wird. Grimm macht 
mehrfach absichtlich Anspielungen auf seinen fragwürdigen 
Mut, der so selten eine ernsthafte Probe besteht; geht er 
wirklich entschlossen vor, so wird es im Gegensatz zur 
Vorlage betont: „er klopfte mutig an"; „der Schneider, 
den ein unerwarteter Mut überkam, sprang auf"; „sein 
"Mut war schon so weit gewachsen, dass er dem Befehle 
Folge leistete". Das „arme" Schneiderbürschchen ist bei 



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— S3 



Grimm ein „artiges und behendes". Einzelne Schilderungen 
sind in der Bearbeitung feiner ausgeführt: die schlafende 
.Schöne wird uns in ruhigem Sehlummer gezeigt: „die 
Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichts- 
farbe und ein Hand, das der Atem hin und her bewegte, 
Messen keinen Zweifel an ihrem Leben". Das lange 
blonde Haar umhüllt sie wie ein kostbarer Mantel. Die 
Vorlage ist roher im Ton: ,.in welchem er eine über alle 
.Massen schöne und wohl gebildete, ganz nackende und 
der Länge nach ausgestreckte Weibesperson liegen sähe". 
Sehr gekürzt wurde der ausführliche, der Situation wenig 
entsprechende Bericht des verzauberten Mädchens beim 
Erwachen. Von formelhaften Wendungen blieben aus der 
Vorlage: ..ohne Zittern und Zagen", „über Stock und 
Stein, Berg und Tal, Wiese und Wald" („über Stock und 
Stein, durch Tal und Wald"): die Alliteration: „Herz 
und Hand anbieten" fügte man hinzu. 

Der Zustand des Mädchens, den es mit den Worten 
beschreibt: „ich befand aber, dass eine unbekannte Gewalt 
mir die Sprache hemmete", ist bei Grimm dem Volks- 
glauben entsprechend ein Alpdrücken. Die gespreizte 
Ausdrucksweise, die sich manchmal übel bemerkbar macht, 
ersetzte man durch einen schlichten Erzählungston. Die 
meisten Abweichungen erklären sich aber aus der Moderni- 
sierung der Sprache. Dass hierbei eine Änderung die 
andere nach sich zieht, versteht sich von selbst. Die 
Fremdwörter wurden regelmässig übersetzt: Lärm (Tumult), 
geschliffen (poliert), Zeichen (Charakter), Diener (Page), 
ein Lager suchen (campieren). Am Schluss fügt die Be- 
arbeitung die zur Vollständigkeit notwendige Entzauberung 
des Bruders der Jungfrau hinzu. 

164. Der faule Heinz. 

Das Märchen beruht auf einer Erzählung in Eucharius 
Eyerings Proverbiorum copia 1,70—72. Die dürre Reim- 
erzählung bot aber nur das Notdürftigste dar. Die Aus- 
führlichkeit des Märchens, namentlich am Anfang, ist freie 

u* 



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— 84 — 



Erfindung Grimms. Der moralisierende Charakter der 
Vorlage hat einem humoristischen Plaudcrton Platz ge- 
macht. Absichtlich ist der komische Kontrast zwischen 
den Klagen Heinzens und der Wirklichkeit, die dazu gar 
keinen Anlass gibt, in der Bearbeitung verstärkt worden. 
Er will seine Schultern von der Bürde der Arbeit frei 
machen, geht lange mit sich zu Bat und findet schliess- 
lich den besten Ausweg in der Heirat mit der dicken 
Trine. „Er setzt seine milden Glieder in Bewegung", 
geht quer über die Strasse — „denn weiter war der Weg 
nicht", fügt die Bearbeitung launig hinzu — und wirbt um 
die „arbeitsame und tugendreiche Tochter" seines Nach- 
bars. In Wahrheit aber gibt ihm diese in der Trägheit 
nichts nach. So haben nun beide „gute Tage" und brauchen 
sich ..von keiner andern Arbeit zu erholen als von ihrer 
eigenen Faulheit". Auch nach der Bestrafung bleiben sie 
ihren Grundsätzen getreu und lassen sich nicht aus ihrer 
Ruhe bringen. Der humoristische Schluss: ..Weisst du, 
die Schnecke war einmal zur Hochzeit geladen, machte 
sich auf den Weg, kam aber zur Kindtaufe an. Vor dem 
Hause stürzte sie noch über den Zaun und sagte: eilen 
tut nicht gut" rundet das Märchen vortrefflich ab. Er 
winde in der G. Auf Inge hinzugefügt und stammt aus den 
Briefen der Elisabeth Charlotte von Orleans 1 ). Einer Reihe 
volkstümlicher Ausdrücke begegnet man auch in diesem 
Märchen: „Plötzlich fiers ihm wie Schuppen von den Augen"; 
,.da muss man die Augen auf haben"; „als er am hellen 
Tag in den Federn lag"; „ich will ihm mit ungezählten 
Schlägen die Haut gerben". Parallelismus der Glieder 
zeigt sich in folgenden Wendungen: „so eine Ziege jahr- 
aus jahrein ins Feld zu treiben", „die Bienen flogen vom 
frühen Morgen bis zum späten Abend aus und ein", und 
gereimt: „er ging nur dann und wann mit ins Feld hin- 
aus". 'Seine Trägheit entschuldigt Heinz mit dem Sprich- 



i) Brirf«. «lor Elisabeth «'harlott*-. liibl. .1. Lit. Vwins 1843, 
VI, 2(58. 



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— 85 — 



uort: „Wer früh aufsteht, sein Gut verzehrt", und die 
Kitern der Braut haben nichts gegen die Heirat ein- 
zuwenden, denn: ,.Gleich und gleich gesellt sich gern" 
(Zusatz der 4. Aull.). Der volkstümliche Name Heinz 
lilieb aus der Vorlage, die vornehmere Benennung „Adel- 
heid wurde den Umständen entsprechend von den Brüdern 
in das vulgäre ..dicke Trine" verwandelt. In den Worten: 
..gerade wie jener Knecht, der die Kuh suchen sollte und 
drei Amseln nachjagte" haben wir einen Hinweis auf das 
Märchen Xo. 162, das auch in Xo. 174 zitiert wird. 

43. Frau Trude. 

Für das Märchen: „Die wunderliche Gasterei", das 
aus mündliclierÜberlieferung stammt, wurde dicBearbeitung 
fines Gedichtes von Meier Teddy, betitelt: „Klein Büschen 
und Frau Trude" •) aufgenommen, das die grausenerregende 
Wirtschaft im Hause der Hexe vollständiger als die erste 
Erzählung schilderte. Der Eingang beginnt, bei Grimm 
warnend: „Es war einmal ein kleines Mädchen, das war 
eigensinnig und vorwitzig, und wenn ihm seine Eltern 
etwas sagten, so gehorchte es nicht, wie konnte es dem 
gut gehen?'' Im folgenden ist der Text der Vorlage häufig 
mit Beibehaltung des Wortlauts in die Bearbeitung über- 
gegangen, nur ist diese knapper und eilt rascher dem 
Ende zu. 



Die 4. Auflage steht textlich der dritten sehr nahe; 
am Schluss wurden Xo. 1138—177 hinzugefügt. 

1GS. Die hagere Liese. 

Vorlage war Kirchhofs Wendunmuth 1.371: „Ein weih 
uird muthwillig geschlagen*'. Die Bearbeitung hat im 
wesentlichen nur Ausdrücke der populären Sprache hinzu- 
gefügt, z. B.: „sie äscherte sich ab von Morgen bis Abend", 
„als sie im Bett lag und vor Müdigkeit kaum ein Glied 



U Frauenta.scht'nbuch lS2.'i, S. 300. 



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rühren konnte", „und wenn du dich auf den Kopf stellst, 
du kriegst keinen Tropfen Milch", ebenso die Reihe der 
Scheltworte: „Du langer Lenz, du Nimmersatt, du Strick, 
du fauler Heinz". Auch die Bezeichnungen: „Liese" und 
„langer Lenz" für den Ehemann (Vorlage: Claus) und der 
Parallelismus in der Wendung: „Es half aber alles nichts, 
sie hatten nichts und kamen zu nichts" sind volkstümlich. 
In der Ausmalung der Prügelszene zwischen den Gatten ist 
die Umschrift weniger roh und schliesst humoristisch: „Üb 
sie am andern Morgen fortfuhr zu zanken, oder ob sie 
ausging, den Gulden zu suchen, den sie finden wollte, das 
weiss ich nicht", während die Vorlage moralisiert: 

„Sich zanken um das man nicht hat. 
Setzt gewisse schmerzen an die statt. ^ 

170. Lieb und Leid teilen. 

Eine Bearbeitung des Wiekramschen Schwankes: 
„Einer leidt mit seiner frawen lieb und leidt" '). Die Be- 
arbeitung bringt nur formale Änderung*'!]. Wie in andern 
Märchen, wird der zänkische Schneider auch hier mit 
Humor und Laune gezeichnet: er läuft seiner Frau „mit 
der Elle und der Schere" nach und verteidigt sein rohes 
Benehmen ihr gegenüber mit den scherzhaften Worten: 
..ich habe ihr nur, weil sie so wunderlich aussah, die Haare 
mit der Hand kämmen wollen („ich habe sie nur ein wenig 
bei dem Haar wollen ziehen") und habe, damit sie zu 
ihrer Pflicht zurückkehre, als eine gutgemeinte Erinnerung 
nachgeworfen, was mir eben zur Hand war" („do bin 
ich ihr nachgeeilt, nach ihr mit benglen und was ich er- 
witseht hab, geworfen"). Beabsichtigter Parallclismus ist 
deutlich zu erkennen in Wendungen wie: „packen und 
raufen" (erwitschen), „mit der Elle und mit der Schere" 
lerwitscht er die Scher). ..war mürrisch und zänkisch" 
(dass er mit ihr zankt). ..so tobte und wetterteer 1 iso flucht 
er) „er brummte, sehalt. raufte und schlug sie" (er sehlug 

') Heltes Ausgabe des Kollwagenbüchleins Nu. 17. 



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- 87 — 



und rauft sie stets). Echt volkstümlich heisst es bei 
Grimm: ..er sass eine Zeitlang bei Wasser und Brot" (man 
legt ihn ein Zeitlang in gefengnus). 

171. Der Zaunkönig. 

Das Märchen, das von der Königswahl der Vögel er- 
zählt, ist. wie die beiden folgenden, nach Aufzeichnungen 
des Pastors Mussäns bearbeitet und stammt aus mecklen- 
burgischer, mündlicher Überlieferung '). Eine zweite, hand- 
schriftliche Vorlage, die K. Goedeke in Lachendorf im 
Hannoverschen aufgenommen und Grimm überlassen hat. 
kann nur formale l'ntersehiedeoderinhaltliche Abweichungen 
von geringer Bedeutung gehabt haben. 

Mussäns hat die Erzählung schlechter komponiert und 
bringt die Worte der Tiere z. T. ohne inneren Zusammen- 
hang und ohne Beziehung auf die bevorstehende Königs- 
wahl: bei Grimm dagegen steht der Zaunkönig von Anfang 
an im Mittelpunkt. Die Sprache des Räderwerks der 
Mühle ist, wenn man hier nicht einen Einfluss der 
Goedekeschen Fassung annehmen will, ein Zusatz Grimms: 
von Jakob gibt es ja darüber eine Abhandlung-). Den 
Tieren werden menschliche Eigenschaften beigelegt. Di< 
Bearbeitung fügt den Beispielen der Vorlage noch einige 
charakteristische Züge bei: ..Als es Abend geworden war. 
und die Vögel von der Anstrengung beim Fliegen grosse 
Müdigkeit empfanden, so gingen sie mit Weib und Kind 
zu Bett''. Die grosse Höhe des Fluges wird mit anschau- 
lichen Bildern umschrieben: ..Der Adler stieg so hoch, 
dass er der Sonne hätte die Augen aushacken können", 
der Zaunkönig noch höher. ..dass er Gott auf seinem Stuhle 
konnte sitzen sehen", wofür die Vorlage ein mattes: „und 
über alle klafterweit sich erhebend" bietet. Durch ein 
beabsichtigtes Spiel mit den Ausdrücken zeichnet sieh die 
Szene aus, wo der Zaunkönig in seinein Versteck von der 
Eule bewacht wird: ..Der kleine Kerl guckte mit dem Kopf 

') Schriften des nieekleiilmi'jrischen Vereins V.74 IT. 
-) Zs. f. deutsches Alterliilli V, Ml. 



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licraus, aber die Eule trat gleich davor, und er zog den 
Kopf wieder zurück. Dann tat die Eule das eine Auge 
wieder auf und das andere zu und wollte so die ganze 
Nacht abwechseln, aber als sie das eine Auge wieder zu 
machte, vergass sie das andere aufzutun, und so bald die 
beiden Augen zu waren, schlief sie ein". Die Vorlage 
verzichtet auf die Wiederholung: „Stundenlang sass sie 
vor dein Loche, als aber zur Mittagszeit die helle Sonne 
ihr in die grossen Augen schien, schloss sie eins nach 
dem andern und schlief ein'*. Der grösseren Anschau- 
lichkeit wegen vergleicht Grimm die Menge der Vögel mit 
..einer schwarzen, dahinziehenden Wolke" und führt eine 
Reihe von ihnen mit Xamen an: „Sie kamen alle zusammen. 
Adler und Buchfinke, Eule und Krähe, Lerche und Sper- 
ling, was soll ich sie alle nennen, selbst der Kuckuck kam 
und der Wiedehopf, sein Küster, der so heisst, weil er 
sich immer ein paar Tage früher hören lässt". In Mono- 
logen findet sich Personenwechsel: ,.Er dachte, was willst 
du noch höher fliegen, du bist doch der König'': ..sie dachte, 
ein Auge kannst du wohl zutun, du wachst ja noch mit 
dem andern". Erwähnt seien noch der volkstümliche Eu- 
phemismus: „Der kleine Vogel fürchtet, es ginge ihm an 
den Kragen" und die Keim Verbindungen: „ein gewaltiges 
Sausen und Brausen", „aus Wäldern und Feldern''. 

Das Märchen von der Scholle (172) handelt von der 
Königswahl unter den Fischen. Nur die ausführlichere 
Schilderung der Anarchie im Wasserreiche ist ein Ver- 
dienst der Bearbeitung. Auch hier die Beseelung der 
Tierwelt: wie vernunftbegabte Geschöpfe stellen sich die 
Fische am Ufer „in Reihe und Glied 1, auf. — Das Märchen 
.Rohrdommel und Wiedehopf" (173) gibt eine Erklärung 
des Rufs der beiden Vögel. Unbedeutende Zusätze suchen 
der dürftigen Erzählung etwas aufzuhelfen. / 

174. Die Eule. 
Das Grimmsche Märchen gibt im wesentlichen die 
Darstellung in Kirchhofs Wendunmuth 1, 167: „Von der 



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eulen zu Pein' 1 wieder, lässt aber die Ortsangabe fort. 
Ein paar Zusätze heben die Anschaulichkeit: ..er erschrak 
beim Anblick der Eule, die da in einer Ecke sass'" f.. er 
wird dieses Vogels gewahr 4 ): .,eine von den grossen Eulen 
war aus dem benachbarten Walde bei nächtlicher Weile 
in die Scheuer eines Bürgers geraten und wagte sich, als 
der Tag anbrach, aus Furcht vor den anderen Vögeln, die, 
wenn sie sich sehen lässt, ein furchtbares Geschrei er- 
heben, nicht wieder aus dem Schlupfwinkel heraus" („es 
war eine Eule kommen und dorft sich vor Furcht der 
andern Vögel nicht wieder heraus tun"'). Mit Rücksicht 
auf die Bestimmung des Buches wurden einige Derbheiten 
der Vorlage gemildert oder überhaupt verschwiegen. Sonst 
aber war der Text ausschlaggebend; er ist auch nicht ohne 
Vorzüge. So findet man hier bereits die echt märchen- 
hafte Wendung am Anfang: „Vor alten .Jahren, als die 
Leute nicht wie jetznnd verschmitzt waren" . . ., ferner die 
sprichwörtliche Redensart: „Keiner will den Fuchs beissen k \ 
IMe Bearbeitung fügte noch etliche volkstümliche Ausdrücke 
hinzu: ..sollen wir auch unser Leben in die Schanze 
schlagen"; „also ward die Scheuer an vier Ecken an- 
gezündet": „ein Ungeheuer, wie er Zeit seines Lebens 
keins erblickt hätte, süsse in der Scheuer und drehte die 
Augen im Kopf herum". Der formelhalte Schlusssatz: 
„Wer s nicht glauben will, der gehe hin und frage selbst 
nach", beruht auf dem Vers der Vorlage: 

„Ist einer keck, zieh er «ren Pein 
Und jreh daselbst zum hier und wein, 
l'rajr sie, was ihn die eul «jetan, 
Warum sie die verbrennet lian" usw. 

175. Das Unglück. 

Das Märchen steht nur in der 4. Auflage. Vorlage 
war Wendunmuth I, 1.78: später ward es durch das Märchen 
vom Mond ersetzt. Den Inhalt drückt der allgemeine, von 
Grimm an den Anfang gestellte Satz aus: „Wen das Un- 
glück aufsucht, der mag sich aus einer Ecke in die andere 



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verkriechen, oder ins weite Feld fliehen, es weiss ihn 
dennoch zu finden''. Der bemerkenswerteste Unterschied 
zwischen der Vorlage und der Bearbeitung liegt in der 
Tendenz. Kirchhof betont die moralische Seite stärker: 
nicht durcli ein unabwendbares Schicksal, wie bei Grimm, 
sondern infolge seiner eigenen Habsucht wird der arme 
Tagelöhner unglücklich. 

Das Märchen von den Boten des Todes (177) findet 
sich schon in Hugos von Trimberg Kenner (v. 2ü 6G6 — 722) 
mit dem „Gevatter Tod" (44) verbunden. Pauli erzählt 
in kurzen Worten, wie ein Mensch mit dem Tode einen 
Vertrag geschlossen habe, ihn nicht zu holen, bevor er ihm 
seine Boten gesandt. Grimms Vorlage (Wendunmuth IL 124) 
beginnt wie Pauli, ist aber im einzelnen ausführlicher. 
Die Bearbeitung fügte die Schilderung des Kampfes zwischen 
Tod und Riesen neu hinzu. Gelegentlich finden sich ge- 
nauere Detailbeschreibungen, z. B.: ..Da klopfte ihm eines 
Tages jemand auf die Schulter, und als er sich umblickte, 
stand der Tod hinter ihm" („bald kam der Tod"); „er ging 
mitleidig heran, richtete ihn auf, llüsstc ihm aus seiner 
Flasche einen stärkenden Trunk ein. und wartete, bis er 
wieder zu Kräften kam" („er hat aus Erbarmuuss ihn gc- 
labet"): ..kam nicht das Fieber, stiess dich an, rüttelte dich 
und warf dich nieder* (..vor etlichen .Jahren plagte dich 
ein hartes Fieber"): „indem kam ein junger Mensch des 
Wegs, frisch und gesund, sang ein Lied und warf seine 
Augen hin und her" (..als ihn ein .Jüngling ersähe"). Auch 
die direkte liede findet sich häutiger als in der Vorlage. . 
Einige Ausdrücke gehören der Umgangssprache an: ..Weisst 
du auch, wer ich bin, und wem du wieder auf die Beine 
geholfen hast?" ..Der .Jüngling war lustig und guter Dinge 
und lebte in den Tag hinein." Kirchhof gebraucht dafür 
derbere Wendungen: „Solcher Zusag halber ward das Ge- 
müt des Jünglings in Sicherheit stolz erhaben, frass, soff 
und schlemmt ein und alle Tage, dass ihn jetzt dieser, 
dann jener Gebrechen plagte'-. Die gereimte Schluss- 
nioral. die ein Meniento mori bringt, fehlt bei Grimm. 



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Die 5. Auflage (1847) fügte die Nummern 178-193 
neu hinzu, die meisten nach gedruckten Vorlagen. 

179. Die Gänschirtin am Brunnen. 

Nach einer Erzählung in Kletkes Almanach deutscher 
Volksmärchen (1840. No. 2). Kletke verdankte das Märchen 
seinem Freunde Andreas Schuhmacher in Wien und hat 
nur das Verdienst, es aus dem Dialekt ins Hochdeutsche 
umgeschrieben zu haben. Merkwürdig ist die Überein- 
stimmung der Vorgeschichte des Märchens mit der be- 
rühmten Exposition des „König Lear". Die Gänschirtin ist 
eine verstossene Prinzessin. Ihr Vater wollte bei der 
Teilung des Reiches derjenigen von seinen drei Töchtern 
das Beste vermachen, die ihn am meisten liebte. Die 
älteste hat ihn lieb wie Zucker, die zweite wie ihr schönstes 
Kleid, die jüngste so lieb wie Salz. Der ergrimmte Vater 
lässt ihr einen Sack mit Salz auf den Rücken binden und 
enterbt sie. Bei Shakespeare ist der Vorgang ganz ähnlich. 
Die selbständige Haltung Cordeliens, die ihren Vater liebt, 
„wie's ihrer Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder", 
reizt den alten Lear zu masslosem Zorn und er sagt sich 
von ihr los. Die Erzählung lässt sich bis zu dem 
fabulosen Geoffrey of Monmouth zurückverfolgen, der um 
11 85 aus mancherlei Überlieferungen eine Urgeschichte 
der Briten zusammensetzte. 

Die Vorlage ist auf weite Strecken hin fast wörtlich 
benutzt worden; gelegentlich wurde gestrichen, wo sieh 
die Darstellung etwas redselig in die Breite zog. Pro- 
vinzialismen wie: „Anschiebt", ,,gross-hoch-langniächtig\ 
..feinwinzig", „stoekmüde". „Mütterlc", „Bürschel". „Ge- 
spass", „springgiftig" u. a., die sieb auch noch in Kletkes 
Umschrift vorfinden, wurden beseitigt; ebenso trat für das 
oberdeutsche Perfektum regelmässig das erzählende Im- 
perfektum ein. Einige volkstümliche Wendungen fügte 
man neu hinzu: „Wenns Ernst wird, so wollen sie sich 
aus dem Staube machen": „ich hab dir's sauer genug 
gemacht": „ihr werdet ja so rot wie ein Zinshahn". Tauto- 



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logisch hcisst es: „Was hilft mir Glanz und Ehre, jeden 
Morgen erwache ich mit Sorgen und Kummer". Die 
schöne Königstochter beschreibt Grimm nur mit typischen 
Wendungen: „Sie war so weiss wie der Schnee, so rot 
als Apfelblüte, und ihr Haar so glänzend als Sonnen- 
strahlen". Die Vorlage fährt verweichlichend fort: „und 
wenn sie durch den Wald oder über die Wiese gegangen 
ist, so haben sich die Bäume und die Blümlein gebückt 
und gestreckt, dass sie an ihre Händchen anstreifen, und 
ihre Füsschen küssen möchten. Die Vögelein sind neu- 
gierig zu ihr herabgeflogen und haben gepfiffen, was sie 
aus dem Hals gebracht haben, nur dass sie sie anschauen 
und freundlich anlachen sollte". Der Schluss, woran das 
persönliche Hervortreten des Erzählers beachtenswert ist. 
wurde erst von Grimm hinzugefügt: „Die Geschichte geht 
noch weiter, aber meiner Grossmutter, die sie mir erzählt 
hat, war das Gedächtnis schwach geworden: sie hatte 
das Übrige vergessen. Ich glaube immer, die schöne 
Königstochter ist mit dem Grafen vermählt worden, und 
sie sind zusammen in dem Schloss geblieben, so lange 
Gott wollte." Mit scherzhaften Worten fährt er fort: „Üb 
die schneeweisen Gänse lauter Mädchen waren (es braucht's 
niemand übel zu nehmen), das weiss ich nicht genau, aber 
ich vermute es doch" usw. 

180. Die ungleichen Kinder Evas. 

Zu Grunde liegt der bekannte Hans Sachsische Schwank 
von der Einsetzung der menschlichen Stände. Bereits in 
einem eddischen Gedicht, dem Liede von Rig, wird der 
Unterschied der Berufsarten in mythologischer Weise dar- 
gestellt, Die alte Sage trug sich später auf Adam und 
Eva über; im Mittelalter bildete sie sich zu der uns ge- 
läufigen Form aus: Gott-Vater bestimmt bei einem Besuch 
in der Hütte Adams die verschiedenen Söhne Evas für 
einen besonderen Stand, den ihre Nachkommen noch jetzt 
beibehalten müssen. Die Gründe sind in den einzelnen 
Bearbeitungen verschieden. Die älteste bekannte Auf- 



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— 93 — 



Zeichnung des Märchens bietet der italienische Humanist 
Baptista Mantuanus ') (1448—1516) in einer um 1470 ge- 
dichteten Ekloge 2 ). In Deutschland ist wahrscheinlich 
schon ein geistliches Schauspiel, von Hans Rudolf 151(i 
in Freiberg insceniert. auf Mantuanus" Eintluss zurück- 
zuführen. Sicher gilt das von der Bearbeitung, die Agricola 
unter der Überschrift : „Do Adam reutte und Heva spann, 
wer was da ein Eddelmann* 4 in seiner Sprichwörtersammlung 
1528 bietet (Ko. 2(i4). Melanchthon, der die Fabel 1531) 
seinem offenen Brief an den Grafen .Johann IV. von Wied 
eingefügt hat 1 ;, änderte sie wesentlich um. Mantuanus 
erzählt, dass Eva einen Teil ihrer Kinder versteckte, da 
sie sich schämte, eine so grosse Anzahl geboren zu haben. 
Bei Melanchthon werden die Kinder verborgen gehalten, 
weil sie hässlich und schmutzig sind. Vor allem aber 
macht er die Verschiedenheit, der Stände abhängig von 
einem Katechismus- Examcu, das der Herr mit Evas Kindern 
anstellt, und legt nachdrücklich so seine pädagogische 
Tendenz an den Tag. Der fromme Abel, der sich sein- 
beschlagen in protestantischer Dogmatik zeigt, wird reich 
gesegnet: Kain dagegen ist störrisch und widerspenstig 
und muss sich mit dem Bauernstande begnügen. Die von 
Melanchthon geschaffene protestantische Legende be- 
arbeitete man im K>. und 17. Jahrhundert ungemein häutig, 
und zwar in den verschiedensten literarischen Formen. 
Unter den zahlreichen Bearbeitern des 16. Jahrhunderts 
steht in der ersten Reihe Hans Sachs, der die Legende 
von Melanchthon entlehnte und viermal in Reime gebracht 
hat 4 *, als Meistergesang, Fastnachtspiel, Komödie und 
1558 als Schwank 5 ). Nur dieser kommt als Grimms Vor- 
lage für uns in Betracht. Er ist unter den Bearbeitungen 
des Nürnberger Poeten als die gelungenste zu bezeichnen. 

•) Nachweis Bültes, Schumanns Xachtbiichloin S. 4<)3. 

Z. T. abgedruckt bei Hollo S. 372 f. 
:: ) Corpus ret'oi niatorum :1053. 
*) Vgl. Michel, Heinrich Ivnaust S. 30. 

Schwanke ed. Cioelzc 1, 11)4. 



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— 94 — 



Auf die lehrhafte Katechismusprüfung wird verzichtet, und 
so trägt das Ganze einen einheitlichen Charakter. Vor 
allem aber kommt der prächtige Humor der Erzählung 
hier am vollkommensten zur Geltung. — Die Bearbeitung 
folgt der Vorlage fast bis aufs Wort: nur an zwei Stellen 
wurden kurze Sätze interpoliert. Die Wendung am Anfang: 
..Adam hackte das Feld und Eva spann Wolle* 4 ist der 
Darstellung in Agricolas Sprichwörtern entlehnt, und das 
anschauliche Bild, dass der Herr, um Eva zu überraschen, 
au die Tür klopft, worauf Adam durch die Spalte lugt, 
um zu sehen, wer komme, entstammt der Bearbeitung 
von Georg Und. Widmann 1 ): „da ihn nun unser Herr auf 
ein Zeit visitieret, war des Adams Hütte und Behausung 
beschlossen, der Herr klopfet an, als aber Adam und sein 
Weib Heva durch ein Loch den Herrn ersahen, erschraken 
sie sehr". Bloss an einer Stelle wurde die Vorlage ge- 
kürzt. Bei der Beschreibung der schmutzigen Kinderschar 
schwelgt Hans Sachs in der Verwendung von charakte- 
ristischen Adjektiven; V. 104 ff.: 

„Kin unfletig gestrobelto rott, 
Crintig und lausig, zottet und kuesig, 
Zerhadert, geschraiitzig und ruesig 
Grob, ungeschickt, dolpet und (tötsehet, 
Schlüchlig, on zuecht päwrisch und lutschet." 

Grimm mildert etwas: „die ganze grobe, schmutzige, 
grindige und russige Schar". Die Angabe des Verstecks 
der Kinder ist aber in der Umschrift absichtlich in die Länge 
gezogen; für jedes der zwölf Kinder weiss er einen Platz 
zum Unterschlüpfen zu nennen. Die lange Schlussmoral 
der Vorlage (V. 195—222), die sich des weiteren Uber 
Gottes segensreiches Regiment auf Erden ausspricht und 
vor Überhebung und Unzufriedenheit warnt, blieb weg. 

181. Die Nixe im Teich. 

Nach einer Erzählung von Moritz Haupt aus der Ober- 
lausitz 2 ). Die Grimmschen Änderungen beschränken sich 

~») Vgl. Zeitschrift f. deutsches Altertum 11,263. 
2) Ebenda 1, 202 ff. 



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— 95 



auf geringfügige Zusätze. Dio Beschreibung der Landschaft 
geht mehr ins Besondere; die Wassernixe wird bestimmter 
gezeichnet : ..er erblickte ein schönes Weib, das sich lang- 
sam aus dem Wasser erhob; ihre langen Ilaare. die sie 
über den Schultern mit ihren zarten Händen gefasst hatte. 
Üossen an beiden Seiten herab und bedeckten ihren weissen 
Leih" („da stieg eine weisse Frau daraus hervor 1 '). Ein- 
mal wird auf einen alten Volksaberglauben angespielt: 
..Den Knaben selbst Hess er nicht in die Mibe des Wassers. 
Hüte dich, sagte er zu ihm, wenn du das Wasser berührst, 
so kommt eine Hand heraus, hascht dich und zieht dich 
hinab". Die Volkstümlichkeit des Ausdrucks ist z. T. ver- 
stärkt durch den Parallelismus einzelner .Redensarten: ..Sie 
trieben ihre Herden durch Feld und Wald", oder allite- 
rierend: .,es war, als ob Kisten und Kasten von selbst 
sich füllten". 

Das Märchen vom Riesen und Schneider (183) ent- 
hält den Druckfehler: .,sich in dem Wald umzuschauen" 
(..si in da Wold [WeltJ umma zu schauen 1 *) und den un- 
verständlichen Satz: ..Warum nicht lieber gleich tausend 
auf einen Schuss, und die alle hierher?'* (Vorlage: „ . . . und 
di dazu? — und dich dazu). Im übrigen ist es eine wört- 
liche Übertragung der Vorlage'). 

Die folgenden 4 Märchen sind nach Ludwig Aurbachers 
..Büchlein für die Jugend" (1834) mit geringfügigen Ab- 
weichungen erzählt. 

Den Inhalt des Märchens vom Nagel (184) bringt 
kurz ein altdeutscher Spruch: 

„Kin nagel behalt ein isen, ein Isen ein ros, ein ros ein man, 
ein man ein bnreh, ein btnch ein laut" 2 ). 

Der Eingang: „Wer im Kleinen nicht Sorge trägt, muss 
im Grossen Schaden leiden. Das erfuhr auch ein Kauf- 



•) Kran-/. Ziska, Österreichische Volksmärchen 1822, S. 0 ff. 
2) Miillenhoff-ScheivT Denkm. 1, Nu. 40.5. 



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— 96 — 



hcrr, der um eines schlechten Nagels willen ein schönes 
Ross verlor", fehlt bei Grimm, um die Spannung nicht 
gleich am Anfang aufzuheben. Statt der Trope: „wohl- 
bepackt mit Geld und Geldsorgen" schreibt die Bearbeitung 
volkstümlicher: ..er hatte seine Geldkatze mit Gold und 
Silber gespickt" '). 

Die Fassung des Märchens Xo. 185 Der arme Junge 
im Grab-) unterscheidet sich von der Vorlage nur durch 
einige Wortveränderungen. Provinzialismen wie: ..Freit- 
hof", „Hafen". „Piphühnchcn" werden mit: ..Kirchhof", 
..Topf", ..Küchlein" wiedergegeben, ebenso die Worte: 
..Schnaps", „Branntwein oder Kirschwasser" in „Wein" 
und ..Ungarwein" verwandelt. Volkstümlicher ist Grimm 
in Wendungen wie: ..als er wieder auf den Beinen war" 
(..als er wieder gesund geworden war"), ..ich schlage dich 
so lange, bis du kein Glied mehr regen kannst* 1 („er drohte 
ihm mit Totschlagen'-). Der Ausdruck: ..dem waren seine 
Eltern gestorben 11 lautet bei Grimm kindlicher: „Dem war 
Vater und Mutter gestorben*' (vgl. No. 78: ich mach ein 
Tröglein, daraus sollen Vater und Mutter essen"). 

188. Spindel, Weberschiffchen und Nadel 1 ) 

Die Bearbeitung legt Wert auf feinere Ausführung 
der Bilder: so sticht z. B. die Beschreibung des Wunder- 
teppichs merklich von der Vorlage ab: „Auf der Tür- 
schwelle fing es an einen Teppich zu weben, schöner als 
man je einen gesehen hat. Auf beiden Seiten blühten 
Kosen und Lilien, und in der Mitte auf goldenem Grund 
stiegen grüne Ranken auf, darin sprangen Hasen und 
Kaninchen. Hirsche und Rehe steckten die Köpfe da- 
zwischen, oben in den Zweigen sassen bunte Vögel, es 
fehlte nur, dass sie gesungen hätten". Die Vorlage 



») Büchlein f. (I. .luvend S. 71 f. 

Klmnda S. 107 f. 
3) Kbenda S. 1(10 IT. 



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— 97 - 



verbreitet sich nicht Uber Einzelheiten, sondern begnügt 
sich mit der allgemeinen Angabe: „das Gewebe war so 
schön und reich an Silber und Gold, dass nichts Kost- 
bareres gefunden werden mag in allen Königspalästen". 
Rühmenswert ist bei Grimm die Verwendung zahlreicher 
Bilder aus der Tier- und Pflanzenwelt, auf die als auf 
etwas ganz Bekanntes und der kindlichen Vorstellung 
Geläufiges mit gutem Recht hingewiesen wird. Das schöne 
Mädchen wird mit grosser Feinheit gezeichnet: wie es 
den Königssohn erblickte, „ward es über und über rot, 
schlug die Augen nieder und spann weiter 4 *; und um die 
Unruhe der Verliebten zu schildern, fügt die Bearbeitung 
treffend hinzu: „ob der Faden diesmal ganz gleich ge- 
worden ist, weiss ich nicht, aber es spann so lange, bis 
der Königssohn wieder weggeritten war. Dann trat es 
ans Fenster, öffnete es und sagte: es ist so heiss in der 
Stube; aber es blickte ihm nach, so lange es noch die 
weissen Federn an seinem Hut erkennen konnte". Die 
drei Verse bei Grimm: 

„Spindel, Spindel, geh du aus, 
Bring den Freier in mein Haus" usw. 

weichen von denen der Vorlage etwas ab, um den alter- 
tümlichen Reim: 

„Spindel fein, Spindel schon, 
Kegrüsse mir den Königssohn" 

zu vermeiden. Statt: „sich ernähren" heisst es volks- 
tümlicher: „sich sein Brot verdienen"; auch kommt die 
alliterierende Redensart: „vor Wind und Wetter geschützt 
sein' 4 einmal vor. 

189. Der Bauer und der Teufel 1 ). 

Die Teilung der Ernte zwischen einem dummen Teufel 
und einem klugen Bauern, wobei die Hölle zweimal um 
das erhoffte Gut betrogen wird, ist auch durch Rückens 
Gedicht „Der betrogene Teufel" 2 ) allgemein bekannt gc- 

1) Rüehlein f. d. Jugend S. 249; Holte, Zs. d. Vereins f. Volks- 
kunde 8,21. 

2 ) Rüekert, Werke ed. Klüngel- J,2W3. 

Palaestra XLVII. 7 



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— OS — 



worden. Inhaltlich hat sich die Bearbeitung eng an die 
Vorlage angeschlossen, stellt aber die beiden Punkte der 
Wette um. Der Bauer sät anfangs Rübsamen, dann Weizen. 
Es ist natürlicher, wenn sich der Teufel zuerst den Teil 
der Ernte ausbedingt, der sich über der Erde befindet, 
Der Schluss der Vorlage, wonach Bauer und Teufel ver- 
suchen, wer am meisten Hitze ertragen könne, wurde als 
„schlecht erdacht" fortgelassen. Beide setzen sich in 
ein stark geheiztes Zimmer, der Bauer weiss sich aber 
durch eine geheime Öffnung Kühlung zu verschaffen. Einen 
andern Schluss bietet Müllenhoff ! ). Die Bauerfrau zeigt 
dem Teufel, als er zu ihr kommt, einen Riss im Tisch mit 
den Worten: „Da hat mein Mann mit dem Nagel seines 
kleinen Fingers diesen grossen Riss quer in meinen schönen, 
eichenen Tisch gemacht". Und als er weiter hört, dass 
sich der Bauer beim Schmied die Nägel schärfen lasse, 
macht er sich eilig davon. — Über den Stil ist wenig zu 
sagen. Ähnlich wie die Vorlage, nur etwas zierlicher, 
beginnt auch Grimm: „Es war einmal ein kluges und 
verschmitztes Bäuerlein, von dessen Streichen viel zu er- 
zählen wäre: die schönste Geschichte ist aber doch, wie 
er den Teufel einmal dran gekriegt und zum Narren gehabt 
hat". („Den Teufel hat einmal ein Bauer schön dran 
gekriegt und zum Narren gehabt: wenn ihr die Geschichte 
hören wollt, so will ich sie euch erzählen"). Mit der 
sprichwörtlichen Redensart des Bauern: „So muss man 
die Füchse prellen" schliesst das Märchen bei Grimm 
bündig ab. 

186. „Die wahre Braut 1 ' ist ein lausitzisches 
Kindermärchen nach Haupts Zeitschrift 11,481—86. Die 
Grimmsche Bearbeitung erzählt bisweilen ausführlicher und 
bestimmter. So wird z. B. das Wunderschloss, das die 
Fee errichtet, sehr eingehend beschrieben. Wertvoll an 
der Schilderung ist die poetische Belebung der Sprache 



') Sagen, Märchen und T.i<'(]«T austSrlileswi^-Ilolsteiti etc. S.27*. 



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— 09 



und die Kleinmalerei, z. B.: „die Felsen rückten zusammen, 
und standen da. als hätten Riesen die Mauer gebaut: 
darauf erhob sich das Gebäude, und es war, als ob un- 
zählige Hände unsichtbar arbeiteten und Stein auf Stein 
legten. Der Boden dröhnte, grosse Säulen stiegen von 
selbst in die Höhe und stellten sich neben einander in 
Ordnung, auf dem Dach legten sich die Ziegel zurecht 1 ' usw. 
Grimm weiss genau mit der Einrichtung der Küche 
Bescheid: „Aber das Feuer brannte auf dem Herd, in 
den Töpfen kochten die Speisen, Kluft und Schippe waren 
angelehnt, und an den Wänden das blanke Geschirr von 
Messing aufgestellt. Nichts fehlte, selbst nicht der Kohlen- 
kasten und die Wassereimer". Die Pracht des Schlosses 
wird auch fernerhin noch stark hervorgehoben, z.B.: „Es 
wusste sich in der ersten Zeit gar nicht in seinem Glück 
zu finden, schöne Kleider hingen in den Schränken, die 
Truhen waren mit Gold und Silber oder mit Perlen und 
Edelsteinen angefüllt, und es hatte keinen Wunsch, den 
es nicht erfüllen konnte: überall war eine Pracht, als 
wenn ein König einziehen sollte; als sie in das Schloss 
eintrat, musste sie die Hand vor die Augen halten, so 
blendete sie der Glanz." Die Eigennamen „Lassmann" 
und „Helene" wurden als Modernisierung gestrichen. Die 
„Fee" ist (wie in Xo. lao) in eine alte Frau verwandelt. 
Der Schluss der Vorlage erwähnte kurz die Verbindung 
des jungen Paares. Bei Grimm nimmt auch die Natur 
an dem Glück der Neuvermählten teil: „Als wäre der Wind 
vorgespannt", heisst es, „so eilten die Pferde zu dem 
Wunderschloss. Als sie an der Linde vorbeifuhren, 
schwärmten unzählige Glühwürmer darin, sie schüttelte 
ihre Äste und sendete ihre Düfte herab. Auf der Treppe 
blühten die Blumen, und aus dem Zimmer schallte der 
Gesang der fremden Vögel." 

190. Die Brosamen auf dem Tisch ist eine wort- 
getreue Wiedergabe der Vorlage (Haupts Zeitschrift für 
deutsches Altertum 111,36). 

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ICH) 



191. Der Räuber und seine Söhne. 

Das Märchen wurde nur in die 5. und 6. Auflage 
aufgenommen; später steht statt dessen die aus münd- 
licher (?) Tradition geschöpfte Erzählung vom „Meer- 
häschen'' an seiner Stelle. Grimm benutzte den Abdruck 
einer Handschrift des 15. Jahrhunderts in Haupts und 
Hoffmanns Altdeutschen Blättern (1,119—127). Das Märchen 
stimmt grösstenteils mit Odysseus* Abenteuer in der Höhle 
Polyphems Uberein ') und wurde so wiedererzählt, wie 
die Vorlage es brachte. Auch der Stil zeigt trotz der 
Umschrift ins Hochdeutsche keine bemerkenswerten Unter- 
schiede. Nur am Anfang zog man die etwas breite Dar- 
stellung enger zusammen und fügte die Sprichwörter hinzu: 
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm''; „ehrlich währt 
am längsten"; „der Krug geht so lange zu Wasser, bis 
er bricht". Der moralisierende Schlussvers fiel fort. 

192. Der Meisterdieb. 

Grimm folgte einer von Georg Fr. Stertzing in Thüringen 
aufgefassten Überlieferung 2 ) und besserte nur in einigen 
Ausdrücken. Namentlich treten die volkstümlichen Euphe- 
mismen hervor: „es geht dir an den Hals" („du imisst 
unfehlbar sterben"); „du musst mit des Seilers Tochter 
Hochzeit machen und das Gekrächze der Haben soll deine 
Musik sein": „du kannst auf deine Erhöhung am Galgen 
rechnen"; „für diesmal kommst du mit heiler Haut davon" 
(„ich schenke dir das Leben, das du eigentlich verwirkt 
hattest"). Ferner: „Was zog der Graf für ein langes 
Gesicht.** „Was hast du in dem Fässchen, du alte 
Schachtel ?** ..Für Geld und gute Worte geb ich euch 
gerne ein Glas." Das Atmen des Knechts vergleicht 
Grimm sehr drastisch mit dem „Blasen eines Schmiede- 
balgs" und legt dem Meisterdieb, als dieser den Pfarrer 
und den Küster in den Taubenschlag gebracht hat, die 

1) \V. firimm. KI. SdirinVn IY.42SIT. 

2) Zs. f. deutsches Altertum 111,21)2 IT. 



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— 101 — 



scherzhaften Worte in den Mund: „Hört ihr. wie die Engel 
sich freuen und mit den Fittichen schlagen?'* Die beiden 
glaubten nämlich im Himmel zu sein. 

Die Vorlage für das Märchen „Der Mond" (175) gab 
Heinr. Pröhle, Märchen für die Jugend No. 39. Die Be- 
arbeitung streicht den Ortsnamen „Schnorrwitz** und hebt 
noch mehr als die Vorlage die humoristische Seite der 
Erzählung hervor: Die Gesellen denken beim Raub des 
Mondes an nichts Arges und sprechen harmlos: „Wir 
wollen den Mond wegführen, sie können sich hier einen 
andern kaufen.*' Sie halten den Mond für „eine leuchtende 
Kugel*' oder „eine Lampe'* und beschneiden ihn in der 
Heimat „mit einer Heckenschere' 4 . Wie dunkel es nach 
seiner Wegführung in dem wundersamen Lande war, zeigt 
uns Grimm an einem anschaulichen Beispiel: „Wenn die 
Leute abends ohne Laterne ausgingen, stiessen sie mit 
den Köpfen zusammen*' und führt den hübschen Zug an, 
dass in der hellen Mondnacht „die Zwerge aus den Felsen- 
höhlen hervorkommen, und die kleinen Wichtelmänner in 
ihren roten Röckchen auf den Wiesen den Ringeltanz 
tanzen." 

Die 6. Auflage (1850) ergänzte die Sammlung bis 
auf 200 Xummern. Für die „Erbsenprobe u bringt sie 

182. Die Geschenke des kleinen Volks. 

Die Vorlage ') bietet am Anfang die etwas sentimentale 
Stelle: „Bald war es, wenn sie aufhorchten, als rauschte 
nur der Wind so sanft in den Linden am Wege, bald als 
klängen die Glockenblumen auf der Wiese, wenn sie im 
Winde sich neigten. Und der Schneider dachte an seine 
liebe Braut, die er daheim gelassen hatte und seufzte, dass 
er so arm sei, und die Spielleute wohl noch lange nicht 
zu ihrem Hochzeitstanze aufspielen würden." Dies fehlt 



') E. Sommer, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Thüringen 
S. 82 f. 



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102 — 



bei Grimm, der den Schneider wie auch sonst mit mehr 
Laune und Leichtsinn ausstattet. Für den Ausdruck der 
verliebten Sehnsucht finden wir hier eine scherzhafte 
Wendung: „Jetzt werde ich Meister, heirate meinen an- 
genehmen Gegenstand (wie er seine Liebste nannte) und 
bin ein glücklicher Mann 4 ". Gut ist die Grimmsche Ab- 
weichung, dass der Goldschmied sich in der Verzweiflung 
(Iber den Verlust seines Reichtums vor den Kopf schlägt 
und dadurch sein neues Missgeschick, den Mangel des Barts 
und der Haare, kennen lernt. In der Vorlage wird es ihm 
durch seinen Kameraden mitgeteilt. Man sieht, dass Grimm 
sich die Situationen gegenständlicher gemacht hat als die 
Vorlage. 

194. Die Kornähre. 

Die Vorlage 1 ) erzählt nach mündlicher Überlieferung. 
Im Eingang gebraucht Grimm das formelhafte: „Vor Zeiten, 
als Gott noch selbst auf Erden wandelte" (früher vor langen, 
langen Jahren). Einige unbedeutende Zusätze heben die 
Anschaulichkeit: „Ihr kleines Kind, das neben ihr sprang, 
fiel in eine Pfütze und beschmutzte sein Kleidchen 1, (einst 
hatte sich ein Kind verunreinigt); die Mutter reisst „eine 
Handvoll" Ähren aus (die reichen, schönen Ähren). 

In dem Märchen vom Grabhügel (195) 2 ) hat Grimm 
den Anfang sehr erweitert und ausführlich den Reichtum 
des geizigen Bauern geschildert. Im folgenden schliesst er 
sich enger an, fügt aber volkstümliche Redensarten bei. 
So gehören der Soldatensprache an: „Herr mit der roten 
Feder, ihr seid mein Hauptmann nicht"; „wir wollen euch 
das Feld räumen und abziehen". Der Soldat macht eine 
Anspielung auf das bekannte Märchen vom „Gruseln 
lernen" (No. 4): „Das Fürchten hab ich noch nicht gelernt; 
ich bin wie der Junge, der ausging das Gruseln zu lernen 



•) Zs. (1. Vereins für hessische Geschichte IV, 1847, S. 114. 
2) Ebenda S. 115. 



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— 103 — 



und sich vergeblich bemühte, der aber bekam die Königs- 
tochter zur Frau und mit ihr grosse Reichtümer". Andere 
populäre Redensarten sind: „Ich stehe da wie einer, dem 
das Wasser bis an den Kopf geht"; „wo ihr nicht weg- 
geht, dreh ich euch die Hälse um"; „der Teufel zog ge- 
lindere Saiten auf"; „dem Kohlenbrenner wollen wir schon 
eine Nase drehen". Auch kommt im Gegensatz zur Vor- 
lage der Monolog mit Personenwechsel vor: „Der Teufel 
dachte, mit Gold fängst du die zwei Haderlumpen am besten". 
Anschaulich wird der Handel zwischen dem Teufel und 
dem Soldaten beschrieben: „Nur eingelullt, rief der Soldat, 
aber ich zweifle, dass der Stiefel voll wird. Das Geld 
klingelte, als es herabfiel, und der Stiefel blieb leer. Der 
Teufel blickte mit seinen glühenden Augen selbst hinein 
und überzeugte sich von der Wahrheit. Ihr habt unver- 
schämt dicke Waden! rief er und verzog den Mund. Meint 
ihr. ich hätte einen Pferdefuss wie ihr? erwiderte der 
Soldat*". Auch dass der Teufel das Geld von einem 
Wechsler, „seiueni treuen Freunde", holt, ist von Grimm 
absichtlich hinzugefügt worden, da nach altem Volksglauben 
der Reiche am ehesten den Lockungen des Teufels ver- 
fällt. Metaphorische Ausdrucksweise, die sonst nach Mög- 
lichkeit vermieden wird, findet sich an zwei Stellen: „Es 
klopfte, aber nicht an die Tür seiner Stube, sondern an 
die Tür seines Herzens". „Da begann der erste Sonnen- 
strahl der Milde einen Tropfen von dem Eis der Habsucht 
abzuschmelzen." Statt des populären Fremdwortes: „Halb 
Part!" im Munde des alten Soldaten bringt die Bearbeitung 
die immerhin steife Umschreibung: „Das wollen wir gemein- 
schaftlich tragen". 

Das Märchen von Oll Rinkrank (196) ist ein wört- 
licher Abdruck der Vorlage (Friesisches Archiv 1, 162 ff). 

197. Die Kristallkugel. 

Es ist die Bearbeitung eines Märchens bei Friedmund 
von Arnim'). Durch eine Reihe von Zusätzen wird die 

i) Hundert Märchen S. 92 IT. 



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— 104 — 



Anschaulichkeit verstärkt, z. ß.: „da verwandelte sie den 
ältesten in einen Adler, der musste auf einem Felsengebirge 
hausen, und man sah ihn manchmal am Himmel in grossen 
Kreisen auf und nieder schweben 41 („den ersten hatte sie 
zu einem Adlerkönig verwünscht"); „den zweiten ver- 
wandelte sie in einen Walfisch, der lebte im tiefen Meer, 
und man sah nur, wie er zuweilen einen mächtigen Wasser- 
strahl in die Höhe warf 4 ' („den zweiten hatte sie zu einem 
Fischkönig verwünscht 44 ); „aber wie erschrak er, als er sie 
anblickte, sie hatto ein aschgraues Gesicht voll Runzeln, 
trübe Augen und rote Haare 44 („er schaute die Prinzessin, 
die sah aber sehr schlecht aus 44 ). Von ähnlicher Art sind 
noch einige andere Erweiterungen. Der Satz: „dass für 
den vierundzwanzigsten noch ein Feld übrig sei 44 wird 
volksmässiger tautologisch ausgedrückt: „und wäre nur 
noch einer übrig, dann dürfte keiner mehr kommen". Die 
Änderung, dass der Jüngling „durch alle Zimmer des 
Schlosses hindurchging und erst in dem letzten die Königs- 
tochter fand" erinnert an die in Märchen beliebte Art, die 
Spannung durch Aufschiebung der Pointe zu erregen. Die 
Vorlage leitet das Märchen in die Erzählung vom Schloss 
der goldenen Sonne (92) über; es entspricht dem Schluss 
von Musäus' Chronika der drei Schwestern. 

In dem Märchen No. 199 Der Stiefel von Büffel- 
led er 1 ) besteht die wesentlichste Verbesserung Grimms 
im Gebrauch der Soldatensprache, z. B.: „Wir suchen ein 
Nachtquartier und etwas Unterfutter für den Magen, denn 
der meinige ist so leer wie der Geldbeutel (wie ein alter 
Tornister 4 *, 7. Aufl.); „der Soldat fing an, tapfer in den 
Braten einzuhauen 44 ; „nun ist es Zeit, dass wir das Zelt 
abbrechen' 4 ; „oho, Bruderherz, das wäre zu früh ab- 
marschiert, wir haben den Feind glücklich überrumpelt, 
jetzt wollen wir als Nachzügler in aller Ruhe hinterher- 
marschieren". Auch sonst tritt die volkstümliche Sprache 



') FruHlimuul von Arnim, Hundert Män hon S. 22 ff. 



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— 1 05 — 



■ 



kräftig hervor: „die Stiefel . . . gehen durch dick und 
dünn, u der Soldat tut einen ..herzhaften Zug" (er trank 
einen Schluck), „gieb Acht, Bruder, du sollst dein blaues 
Wunder sehen/' ..gleich und gleich gesellt sich gern." 
.,ohne auf Weg und Steg zu achten 1 '. „Wartet, ihr sollt 
an einem dürren Ast das Fliegen lernen'", und ein ähnlicher 
Euphemismus in: „Komm Bruderherz, es wird nicht gleich 
an den Kragen gehen". ..Ich habe draussen im Wald ein 
Nest voll Galgenvögel gefunden, kommt mit. wir wollen 
es ausheben." Das Märchen beginnt, wie einige andere, 
mit einer allgemeinen Wendung: „Ein Soldat, der sich 
vor nichts fürchtet, kümmert sich auch um nichts''. Der 
Soldat wird als ein treuherzig-derber und entschlossener 
Charakter gezeichnet: ..Er reichte ihm die Hand. Hess sich 
neben ihm auf das Gras nieder und streckte seine Beine 
aus"; er „zieht den Pfropfen aus der Flasche, dass es 
knallt 44 und „tut einen herzhaften Zug: als ihm der Geruch 
von der Speise in die Nase gestiegen war 4 , fing er an. ..in 
den Braten einzuhauen" und stand nicht eher vom Tisch 
auf, „als bis er wieder für drei Tage gegessen und ge- 
trunken hatte 4 '. Die Vorlage ist im Ausdruck matter und 
weniger drastisch. 

198. Jungfrau Maleen. 

Vorlage war die Fassung bei Müllenhoff (Sagen, Märchen 
und Lieder aus Schleswig-Holstein etc. S. 391 f.), nach münd- 
licher Tradition. In der Grimmschen Bearbeitung treten 
die volkstümlichen Doppelformeln deutlich aus ihrer Um- 
gebung heraus: „Sie ward eingemauert und also von 
Himmel und Erde geschieden 4 *: „sie wussten nicht, wann 
Tag oder Nacht anbrach" (..ohne dass sie wussten, wie 
weit es an der Zeit sei 4 '); „Speise und Trank' 4 („Speise- 
vorrat 44 ); „ich bin die Jungfrau Maleen, die Hunger und 
Durst gelitten und solange in Not und Armut gelebt hat.' 4 
„Ich kann und will keinen andern zum Gemahl nehmen." 
Statt: „es soll dich dein Leben kosten 44 steht der sinnliche 
Ausdruck: „dann wird dir der Kopf vor die Füsse gelegt 4 '. 



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— 106 — 



Sehr anschaulich schildert Grimm die Befreiung der Königs- 
tochter: „Nach langer Arbeit gelang es ihnen, einen Stein 
heraus zu nehmen, dann einen zweiten und dritten, und 
nach drei Tagen fiel der erste Lichtstrahl in ihre Dunkel- 
heit, und endlich war die Öffnung so gross, das sie heraus- 
schauen konnten' 1 . Der Vorgang wird bis ins kleinste zer- 
gliedert und gewinnt noch an Deutlichkeit durch zahlen- 
mässige Gruppierung der einzelnen Handlungen. Die Vor- 
lage sagt kürzer: ..Drei Tage lang bohrten sie unablässig, 
da drang der erste Lichtstrahl in ihre Finsterniss". Statt 
„Turm" setzt Grimm das archaische „Turn'*. 

Die 7. Auflage brachte als Variante (151 b) zu dem 
Märchen von den drei Faulen die Bearbeitung eines Fast- 
nachtspiels aus dem 15. Jahrhundert: „Ein spil von den 
zwelf pfaffen knechten" '). Nur wenige Erweiterungen sind 
zu bemerken; die Brüder heben die Faulheit der Knechte 
noch stärker hervor, z. B.: „Ruft der Herr, so tue ich, als 
hätte ich es nicht gehört, und ruft er zum zweiten Mal, 
so warte ich noch eine Zeit lang, bis ich mich erhebe und 
gehe auch dann recht langsam, so lässt sich das Leben 
ertragen". Im Spiel heisst es kurz: „Ich kumm nit pald 
und lauf nit sehr". Manches klingt volkstümlicher: „ich 
Hess es in Gottes Namen fortregnen, dass ich ein Loch in 
den Schädel bekam" („dass ich ein Loch am Kopf empfing"); 
„soll ich eine Arbeit angreifen, so dämmere ich erst eine 
Stunde herum" („so geh ich vor ein stund darumb"); ..ich 
sehe, dass ich allein ein munterer Kerl bin" („dass ich 
gar resch bin allein"); „ich schlief richtig ein". Die Fle- 
geleien des achten Knechts wurden sehr gemildert. 

Von den Kinderlegenden ist die letzte (No. 10) eine 
wörtliche Übertragung aus dem Vorarlbergischen 2 ). 

Die gedruckten Vorlagen für die Märchen No. 161 
(Karoline Stahl, Fabeln, Märchen und Erzählungen für 
Kinder. Nürnberg 1818) und No. 178 (Neueste Kinder- 



') Koller, Fastnaehtspiolo aus dem 15. «Jahrhundert JJd. 2, 562. 
'■i) Yonbun, Sagvn aus Vorarlberg S. 7. 



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— 107 — 



bibliothek, Hildburghausen 1827) habe ich leider nicht auf- 
treiben können 1 ). 



In bunter Mannigfaltigkeit ist eine Reihe der verschieden- 
artigsten Vorlagen an uns vorübergezogen, heimische und 
ausländische, altdeutsche und zeitgenössische, Prosa und 
Verse. Mehrere verrieten deutlich kunstmässige Darstellung 
und überlieferten den Stoff in reiner Form, in andern war 
der märchenhafte Gehalt vielfach durch willkürliche Zu- 
taten entstellt oder verhüllt; einige dehnten sich weit- 
schweifig in die Länge, und mitunter stiessen wir auf 
dürftige, fragmentarische Reste, wo nur noch das Gerippe 
der echten Überlieferung erhalten war. Geht man die 
Grimmsche Sammlung durch, so ist die Gleichmässigkeit 
des Tons und Stils erstaunlich, die alle Stücke beherrscht. 
Es ist kaum noch zu spüren, welches Stück mündlicher, 
welches schriftlicher Überlieferung verdankt wurde. Wenn 
auch einige Züge die Entlehnung aus fremdem Gebiet 
erkennen lassen, so sind sie doch derartig gedämpft und 
zurückgehalten, dass sie nicht mehr störend auffallen. 

Die Brüder haben die Einheitlichkeit der Form ihrer 
Märchen durch Anwendung ganz bestimmter stilistischer 
Mittel erreicht. Sie brachten einen neuen Märchenstil auf, 
indem sie den mündlichen Erzählungen, wie sie im Volk 
umliefen, die charakteristischen und liebenswürdigsten Züge 
ablauschten und sie den vorgefundenen Stoffen je nach 
Bedürfnis verliehen. Denn bald Hessen die Vorlagen dieses, 
bald jenes Moment ausser Acht. Was man als die Kunst- 
form der Märchen anzusehen habe, darüber herrschten zur 
Zeit, als die Brüder ihre Sammlung veranstalteten, ver- 
worrene Meinungen. „Wir finden das Märchen vor; jeder 
bearbeitet es auf eigne Weise und denkt sich etwas anderes 
dabei", sagt Tieck 2 ). Vielen galt Musäus mit seiner witzig- 
ironischen Schreibart als unerreichtes Vorbild, und die 



t) Zu No. 178 vgl. Bolte, Zs. f. deutsch»' Philologie 20, 326.. 
2) Phantasus T, S. 131 (1844;. 



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— 108 — 



romantischen Märchendichter Brentano und Tieck hatten 
jeder seinen besonderen Märchenstil. Alle hielten es für 
besser, die schlichten Erzählungen zu modernisieren, als 
dass man, um sie ganz zu verstehen, in einen künstlichen 
Zustand der Kindlichkeit zurückkehre. Und doch hat die 
Grimmsche Auffassung in Wahrheit Recht behalten. Bei 
den andern wird das Märchen aus seiner natürlichen 
Sphäre herausgehoben, es wird seinem mütterlichen Nähr- 
boden entzogen und ein Kunstprodukt, das den Kindern 
für das, was es ihnen entriss, keinen Ersatz brachte, und 
durch das man, wie etwa bei Goethes Märchen, „an nichts 
und an alles erinnert wurde". Dass es in bestimmten 
Fällen durch einen genialen Dichter ein glänzenderes 
Äussere und sinnschwercren Gehalt empting, soll nicht 
geleugnet werden, aber nur treue Überlieferung konnte 
den Erzählungen geschichtlichen Wert verleihen, und einen 
Beitrag zur deutschen Mythologie und Literaturgeschichte 
wollten die Brüder ja in erster Linie liefern. Bewunderns- 
wert aber ist, wie sie die Forderung erfüllt haben, grösste 
Treue mit kunstvoller Darstellung zu vereinigen. Wie 
Herder für die Kunst des Volksliedes, so waren die Brüder 
Grimm für die des Märchens mit feinstem Gefühl begabt. 
Auf Grund reicher Beobachtungen an mündlichen Er- 
zählungen und eines umfassenden Studiums andererMärchen- 
literaturen schufen sie die dem deutschen Volksmärchen 
gemässe Kunstform. Sie hielten an der Originalität und 
Schönheit der lebendigen Volkssprache, fest; sie wollten 
nicht selbst poetisieren, sondern Volksdichtung wieder- 
erzählen und nicht über das Volk, sondern mit dem Volk 
lachen und scherzen. Deshalb suchen wir in den Märchen 
vergebens nach persönlichen Motiven der Verfasser: es 
wäre verlorene Mühe, daraus Rückschlüsse auf die Denk- 
weise und Anschauungen der Brüder zu ziehen — wenn 
man sich nicht mit einem ganz allgemeinen Resultat ihrer 
reinen Andacht begnügen will — , während es ein Leichtes 
ist, wichtiges Material für die Beurteilung der Persönlich- 
keit eines Musäus, eines Tieck, eines Brentano aus deren 



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109 — 



Märchen zu schöpfen. Dagegen zeigen uns die Kinder- 
und Hausmärchen ungeschminkt den Charakter des deutschen 
Volkes ähnlich wie die Volkslieder. Zwar ist die Lyrik 
unmittelbarer und gewährt ein treueres Bild als Prosa- 
erzählungen, aber auch deren Gestalten sind nicht will- 
kürlich gewählt, sondern Spiegelbilder der Nation, und in 
den phantastischen Figuren ist ein gut Stück wirklicher 
Volksanschauung niedergelegt. Dadurch sind sie als Quellen 
für die Beurteilung des Nationalcharakters wichtig. Hierauf 
hatte schon Herder hingewiesen; in seinem Sinne haben 
die Brüder Grimm gearbeitet, Auch sie wissen den scharf 
zu tadeln, der nationale Dichtung mit eigenen Ideen ver- 
mische und dadurch seinem Volke etwas entziehe '). 

Alle stilistischen Beobachtungen, die sich aus der 
Vergleichung der Vorlagen mit den Bearbeitungen ergeben, 
lassen sich in reichem Masse auch bei den mündlicher 
Tradition entnommenen Stücken anstellen, woraus um- 
gekehrt erhellt, dass diese für die Stilisierung der schrift- 
lichen Vorlagen massgebend gewesen sind. 

Im folgenden soll durch eine Übersicht die Methode 
derGrimmschenBearbeitung in allgemeineren Bestimmungen 
klar gelegt werden, als es bei der Einzelbetrachtung der 
Vorlagen möglich war. „Hat auch das Märchen seine 
Hegel?'' fragt Herder 2 ), und er gibt die Antwort: „Übel, 
wenn es solche nicht hätte, da bei seiner tiefen Einwirkung 
auf die Seele des Menschen, bei seinem noch tiefern 
Grunde in unsrer Natur es ein ungeheures Mittel zu 
Bildung oder Missbildung menschlicher Gemüter sein kann." 

In den meisten Fällen beziehen sich die Änderungen 
der Brüder bloss auf die äussere Form; sie bildeten ge- 
gebene Eigentümlichkeiten nur noch weiter aus. Sehr 
selten haben sie ein Märchen neu geschaffen oder so tief- 
greifend umgestaltet, dass seine Verwandtschaft mit der 

') Steig, A. v. Arnim IIl,2«8. 

2 ) Früchte aus den sog. goldenen Zeiten dos achtzehnten 
.Jahrhunderts, No. 6. Suphan 23,273. 



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— 110 — 



Vorlage nur schwer erkennbar wäre. Namentlich gilt das 
von den Stücken, die für die 1. Auflage benutzt wurden; 
hier haben sie sogar manchmal die künstlerische Form 
der treuen Überlieferung zuliebe preisgegeben. Erst mit 
der 2. Ausgabe beginnt eine stärkere Umarbeitung. Die 
Abweichungen in späteren Auflagen sind meist nur gering- 
fügig, da die Vorlagen direkt oder indirekt von den Grimms 
beeinflusst und also schon auf eine kunstmässige Dar- 
stellung gerichtet waren. 

Die Brüder kürzten oder erweiterten je nach Bedürfnis, 
sie vervollständigten auch die Erzählung, indem sie mehrere 
verwandte Überlieferungen mit einander verschmolzen. In 
einigen Fällen besteht die Änderung nur in der Weglassung 
gewisser Zusätze, die ungeeignet oder störend erschienen. 
Dazu gehören vor allem die moralischen Nutz- 
anwendungen in Vers und Prosa, an denen besonders 
die älteren deutschen Aufzeichnungen leiden, die den 
launigen Geschichten recht oft eine lange Schleppe 
nüchterner Lehren anhängen. Das Märchen wird hier 
noch als Fabel aufgefasst und nur der praktischen An- 
wendung wegen erzählt; als selbständiges Literaturprodukt 
erkennt man es noch nicht an. Mit dieser beschränkten, 
prosaischen Vorstellung räumten die Brüder endgültig auf. 
Bei ihnen ist das Märchen nicht Einkleidung eines Er- 
fahrungssatzes; sie erkannten richtig, dass seine Phantastik 
im Grunde keinen sittlichen Zweck verfolge, daher den 
Menschen nicht auf sich zurück, sondern aus sich heraus 
ins unbedingte Freie führe. Zwar „alle Poesie soll be- 
lehrend sein", heisst es bei Goethe 1 ), „aber unmerklich; 
sie soll den Menschen aufmerksam machen, wovon sich 
zu belehren wert wäre, er muss die Lehre selbst daraus 
ziehen, wie aus dem Leben". Zu einer ähnlichen Auf- 
fassung bekannten sich die Brüder: ein Buch mit rohen, 
moralischen Kinderexempeln fand Jakob nicht nur lang- 
weilig, sondern auch schädlich 2 ); die Moral sollte aus den 

') In dein Aufsatz: f'ber das Lflirpedicht. 
2 ) Steig, A. v. Arnim 111,270. 



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— 111 



Märchen hervorgehen „wie eine gute Frucht aus einer 
gesunden Blüte ohne Zutun der Menschen" '). Nur ganz 
vereinzelt lassen sie die Lehre hervortreten, aber dadurch, 
dass sie verallgemeinert in Form einer sprichwörtlichen 
Redensart (z.B. 184; 189) auftritt oder humoristisch (187) 
gewandt ist, wird ihr die aufdringliche Härte genommen. 
Auch für diese Auffassung hätten sie sich auf Herder 
berufen können, der es sehr bedauert, dass wir zwar 
„Reimgebetlein und Lehrverse genug" hätten, aber kein 
Werk, um eine „ganze, jugendliche, kindliche Seele damit 
zu füllen, Gesänge in sie zu legen, die lebenslang in ihnen 
bleiben" 2 ). 

Alle fremden Elemente, die die organische Ent- 
wicklung der Erzählungen unterbrachen und das Interesse 
davon ablenkten, wurden gestrichen, z. B. alle tendenziösen 
Zusätze, Anspielungen auf Zeit und Personen, satirische 
Beimischungen« gelehrte Vergleiche. Im einzelnen sind 
solche Auslassungen oben erwähnt worden. Um den Märchen 
abgeschlossene Selbständigkeit zu geben, mussten manche 
Zusätze der Vorlagen, die sich aus der Verbindung mit der 
Umgebung erklären, gleichfalls wegbleiben. 

Bestimmte Orts- und Zeitangaben fehlen. Die 
wenigen Fälle, wo geographische Namen auftauchen: 
Rom (33), Göckerliberg in Welschland (95), Bremen (27). 
Keuterberg (96), Mosel (119) und einige andere lassen das 
Prinzip, das Märchen nicht an einer bestimmten Stelle zu 
lokalisieren, unangetastet 1 ). Auch scherzhaft gemeinte, 
poetische Ortsnamen werden nicht geduldet, denn „alle 
Märchen sind Träume von jener heimatlichen Welt, die 
überall und nirgend ist" 4 ); sie sind etwas dem ganzen 



«) KHM. I, s. XVI. 

2 ) Über Ossian, Suphan 6,201. 

s ) Vgl. No. 119, wo man die Namen Trier und Aachen be- 
seitigte und die „Mosel" wohl nur deshalb aus der Vorlage bei- 
behielt, um sie naeh Volksetymologie für ein „mosiges", stilles und 
tiefes Wasser zu erklären. 

*) Novalis, Schriften 11,231. 



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— 112 — 



Vaterlande Gemeinsames und streifen darum alles Indi- 
viduelle nach Möglichkeit ab. Dadurch unterscheiden sie 
sich von Sagen, die sich gern an bestimmte und historisch 
nachweisbare Ereignisse oder Personen anknüpfen, während 
das Märchen seine Personen gewöhnlich nur als Typen 
einführt. Wenn Tieck im ^Gestiefelten Kater" den König 
stets mit Krone und Szepter auftreten lässt, so hat er 
damit die Art, wie das Märchen charakterisiert, gut ge- 
troffen. In echt poetischer Weise werden nur wenige be- 
zeichnende Züge herausgehoben, sonst erzählt man so all- 
gemein wie möglich. Görres hatte ganz recht, wenn er 
die Stelle: „Es war einmal ein gewisser König'* (1,57) 
unmärchenhaft fand da das Märchen dieses bestimmende 
Beiwort niemals brauche. 

Die weibliche Schönheit wird, wie im Volksliede, 
mit sparsamen, typischen Worten beschrieben. Oft genügt 
die Bezeichnung „wunderschön"; daneben erscheinen cha- 
rakteristische Hyperbeln, wie: „die Tochter war so schön, 
wie ihr auf der Welt eine finden könnt", „schöner als noch 
jemand auf Erden gewesen war", „dass kein Maler sie 
hätte schöner malen können 4 ' oder formelhafte Wendungen 
wie: „es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag'\ 
.,das schönste Kind unter der Sonne 41 usw. Von anschau- 
licher, poetischer Kraft sind in der Beschreibung die Bilder 
aus der Natur. Mehrfach sind die ausführlichen Schilde- 
rungen der Vorlagen beschnitten, dafür aber mit wirkungs- 
volleren Farben ausgestattet worden. 

Anstössige und frivole Stellen wurden ausgemerzt. 
Ohne Prüderie aber nannte man natürliche menschliche 
Verhältnisse und Zustände bei dem rechten Namen. Denn 
das Kind kennt in seiner Naivetät keine andere Ausdrucks- 
weise; seine natürliche Aufrichtigkeit, die jeden Schein 
von Falschheit verachtet, setzt sich über alle künstlichen 
Bedenken hinweg. Auch hierfür haben die Brüder erst 
durch ihre Sammlung Verständnis erwecken müssen bei 



') fiörres, Fn'iuuU'sbiiHV III.M. 



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— 113 — 



manchen, die aus übergrosser Vorsicht Umschreibungen 
und decente Verhüllungen lieber gesehen hätten. 

Die Sprache des Märchens ist wie die des Volks- 
liedes sinnlich, klar, anschaulich, lobendig. Alle blassen, 
abstrakten Bilder und Gleichnisse wurden in der Dar- 
stellung gemieden; für das sehende Auge, das lauschende 
Ohr erzählte man, nicht für den abstrahierenden Verstand. 
Allegorische, mit Metaphern ausgeschmückte Prosa ist 
in echten Kindermärchen undenkbar. Nur höchst selten 
hat Grimm von Tropen Gebrauch gemacht und wählt auch 
dann einfacherem Fassungsvermögen dcrKinder angepasste 
Bilder. Wie im Volksliede dienen konkrete Dinge zur 
Umschreibung von Abstraktionen, denn die Sprache des 
Kindes ist wie die des Volks arm an abgezogenen Allgemein- 
begriffen. Die Fremdwörter wurden als unverständlich 
gestrichen oder verdeutscht, ausser wo sie formelhaft auf- 
treten, wie etwa im „Doktor Allwissend" (98). Auch die 
Soldatensprache ist mit Recht durch Beibehaltung des 
Fremdwortes gekennzeichnet. Wie peinlich man auf Ver- 
deutschung drang, ergibt sich auch daraus, dass z. B. 
fast jeder Prinz und jede Prinzessin der ersten Auflage 
in der zweiten als „Königssohn" und „Königstochter" auf- 
treten '). 

Gegenüber den Streichungen treten die von Grimm 
gemachten Zusätze sehr viel stärker hervor. Kaum ein 
Märchen, das nicht durch eine geringe Erweiterung an 
künstlerischer Form gewonnen hätte. Begreiflicherweise 
überwiegen ganz bedeutend die Beifügungen in populärer 
Sprache. Dazu gehören allgemeine Redensarten des 
Volks. Die Vorlagen versäumen vielfach das derbe, 
bürgerliche Element der Märchensprache. Unter den Rede- 
wendungen sind besonders auffallend die zahlreichen 
Euphemismen. Üble Dinge mit unschuldigeren Ausdrücken 
zu umschreiben, ist ein alter z. T. abergläubischer Volks- 
brauch. 

') Daneben auch andere Umschreibungen wie Liebster, Bräuti- 
gam, Sohn — Jungfrau, Liebste usw. 

Palaeatra XL VII. 8 



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— 114 — 

Oft werden Sprichwörter in die Rede eingeflochten, 
denn der Laconismus des gemeinen Mannes führt gern 
Urväterweisheit im Munde. Eine passende Sentenz ist 
wie ein Machtspruch, der jede lange Beweisführung über- 
flüssig macht. Zumeist drücken sich auch bei Grimm nur 
Personen niederen Standes in sprichwörtlichen Wendungen 
aus. Schlagende, prägnante Kürze ist also in Volks- 
märchen ebenso am Platze, wie die weicheren Linien 
liebevoller Ausmalung. 

Bin echt volkstümliches Gepräge erhält der Vortrag 
durch die Verwendung von Tautologieen. Diese sind 
teils gereimt, teils alliterierend, haben also sprichwörtlichen 
Charakter und eine feste, altüberlieferte Form. Die 
Märchensprache liebt musikalische Klangfiguren, wie ja 
der mündliche Vortrag gern formelhafte Ausdrücke ge- 
braucht, schon um das Gedächtnis zu unterstützen. Ab- 
gesehen von Reimzeilen, wie sie nicht selten auch in den 
aus mündlicher Tradition entlehnten Stücken auftreten, 
sind es die schallnachahmenden Worte, die der Sprache 
die natürliche Frische verleihen. Der Ton wird teils 
durch Worte umschrieben wie: „trippeln und trappeln" (87), 
„was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum" (5), 
teils hören wir ihn in Form einer lautmalerischen Inter- 
jektion: die Katze schreit: miau! miau! die Gänse schnattern 
ihr ga! ga! die Frösche ihr ak! ak! oder quak! usw. Die 
Kinder lieben es ja, die Stimmen der Tiere nachzuahmen. 

Die Einflechtung zweiteiliger Redefiguren gibt dem 
Vortrag poetische Färbung und rhythmische Gliederung 
und dem ganzen Satzgefüge dadurch, dass die zweite 
Reihe meist einen gleichen oder ähnlichen Gedanken 
ausspricht wie die erste, einen gewissen Nachdruck. Nicht 
selten steigert sich die schlichte Erzählung zum Halbgesang 
einer Deklamation mit Wiederholungen und Reimsprüchen, 
wie z. B. in No. 30, 32, 38. Poesie und Prosa sind in 
glücklicher Mischung vereinigt. Durch häufigen Gebrauch 
synonymerGedankenverbindungen erhält die Darstellung die 
ruhige Breite. Herder vergleicht die Synonyma treffend 



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— 115 — 



mit den goldenen Äpfeln der Atalante; es sind künstlerisch 
wirksame Ruhepunkte der Erzählung. Während das Volks- 
lied sprunghaft von einem Motiv zum andern, von einer 
Situation zur andern eilt, was nicht bloss auf unvollkommene 
und zersungene Überlieferung zurückzuführen ist, haftet 
das Märchen gern am Ort und geht in der Darstellung 
nur schrittweise vor, auch das Wunderbarste behaglich 
vermittelnd. Schon der Anfang so vieler Märchen kann 
als Beispiel für ihre bequeme Erzählungsweise gelten: 
„Es war einmal ein N., der" . . . Statt den Gedanken in 
einem Hauptsatz auszudrücken, wird er auf Haupt- und 
Relativsatz verteilt, dessen Pronomen den bereits erwähnten 
Begriff noch einmal aufnimmt. 

Anspielungen auf volkstümliches G emeingut (andere 
Märchen, Aberglauben u.dergl.)sind verhältnismässig selten. 
Zu billigen ist, wenn z. B. ein Soldat das Märchen vom 
„Gruseln lernen" citiert, oder wenn auf den „grossen 
Butzenmann" als Schreckgespenst verwiesen wird (90); 
anstössiger wohl, wenn zwei unbekanntere Erzählungen 
ganz äusserlich auf einander bezogen werden, wie No. 168 
auf das Märchen vom faulen Heinz (164). Unmöglich 
kann das Märchen in dieser Form wirklich „erzählt" 
werden. Der Zusatz in No. 168 erklärt sich zwar leicht 
aus der Nachbarschaft der beiden Stücke, schädigt aber 
die Selbständigkeit des Märchens. Es ist Literatur. 

Dramatischer belebt wird die Erzählung durch häutige 
Anwendung der direkten Rede. Die Vorlagen geben 
oft nur eine zusammenfassende Inhaltsangabe, wo hier in 
anschaulicher Wechselrede die Personen vor uns auftreten. 
Man meidet,* wie die einfache Volkssprache, die indirekte 
Verschränkung der Sätze und führt schon aus Bequemlich- 
keitsgründen lieber die Worte in ursprünglicher Gestalt 
an. Ebenso erhöhen zahlreiche Interjektionen die Kraft 
des sprachlichen Ausdrucks; auch werden Anreden 
gern mit einem Vokativ eingeleitet. Bisweilen wird durch 
Einführung des Besonderen die Wirkung gesteigert: so 
bedient sich der Soldat der Sprache seines Standes, der 



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— 116 — 



Schneider gewisser Formeln der Handwerkssprache, und 
der Israelit spricht sein Judendeulsch. 

Namen sind in Märchen selten, eine individuelle 
Namengebung fehlt überhaupt. Nur Vornamen, wie sie in 
ländlichen Kreisen üblich sind, z. B. Heinz, Hans, Trine, 
Grete, Trudc usw. duldete man oder fügte sie hinzu, wo 
sie fehlten. Moderne oder willkürliche Namen wie „Früh- 
ling", „Hans Wohlgemut", „Lassmann", „Helene" wurden 
gestrichen, der Name eines Prinzen „Benjamin" aus- 
drücklich auf die Bibel bezogen (9). Dem Volksbrauch 
entspricht die Beifügung eines stehenden Adjektivs, z. B. 
der faule Heinz, der lange Lenz, die dicke Trine, Ferenand 
getrü, das kluge Gretel. Zur Unterscheidung von andern 
Personen gleichen Vornamens dient ein charakterisierendes 
Beiwort, nicht etwa der volle Geschlechtsname. Überhaupt 
sind ja Bezeichnungen, die vom Ausseren, der Beschäftigung, 
dem Temperament der Personen hergeleitet sind, sehr be- 
liebt (Drosselbart, Däumling, Rotkäppchen, Bruder Lustig, 
Spielhansl, Meister Pfriem usw.). Dazu gehören auch Be- 
nennungen wieRotfuchs, Quakfrosch, Pudelhund, Göckelhahn, 
Rotkopf, Piephuhn oder scherzhaft umschreibende Namen: 
Hautab, Halbaus, Ganzaus (2), Tannendreher, Felsen- 
klipperer, Duckmäuser, Kratzbürste (166). Bemerkenswert 
sind ironische Benennungen: der gescheite Hans (32), die 
kluge Else (34). 

Die der Technik der Volkspoesie eigentümliche Art, 
Züge und Wendungen zu wiederholen, ist sehr oft 
zu finden (vgl. namentlich No. 32 u. 34). Ähnliche Vor- 
gänge werden mit denselben Worten erzählt, z. T. schon 
aus dem Grunde, weil der einfache Mann bft nur über 
einen Ausdruck verfügt. Auch haftet der Gedanke noch 
an dem bereits Erzählten, die Worte klingen im inneren 
Ohr nach. Die Wiederholungen erweisen deutlich, dass 
die Geschichten nicht bloss für das Auge des Lesers ge- 
schrieben sind, sondern für das Gehör den Rhythmus und 
den natürlichen Tonfall des gesprochenen Worts beobachten, 
während die Verfasser der Vorlagen recht oft sich gar 



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- 117 — 



nicht in die Rolle eines wirklichen Märchenerzählers hinein- 
versetzen und nur ein Lesestück liefern. Der kindliche 
Sinn aber verlangt, dass ein wiederholter Vorgang ebenso 
erzählt werde wie das erste Mal, wie er sich auch ent- 
täuscht fühlt, wenn dasselbe Märchen, wiedererzählt, in 
einzelnen Punkten abweicht. Es sei hier auf eine charakte- 
ristische Stelle in Goethes Werther verwiesen, wo auf 
diesen Punkt aufmerksam gemacht wird: „Die Kleinen 
verfolgten mich um ein Märchen, ich erzählte ihnen das 
Hauptstückchen von der Prinzessin, die von Händen be- 
dient wird. Ich lerne viel dabei, und ich bin erstaunt, 
was es auf sie für Eindrücke macht. Weil ich manchmal 
einen Incidenzpunkt erfinden muss, den ich beim zweiten 
Mal vergesse, sagen sie gleich, das vorige Mal war es 
anders gewesen, so dass ich mich jetzt übe, sie unver- 
änderlich in einem singenden Silbenfall an einem Schnürchen 
weg zu rezitieren." Schon bei der Übersetzung der Alt- 
dänischen Heldenlieder (Vorrede S. XVI) machte Wilhelm 
Grimm auf diese stilistische Eigentümlichkeit aufmerksam, 
und im Vorwort zu den Märchen heisst es: „Wieder- 
holungen einzelner Sätze, Züge und Einleitungen sind wie 
epische Zeilen zu betrachten, die, sobald der Ton sich 
rührt, der sie anschlägt, immer wiederkehren und eigent- 
lich in einem andern Sinne nicht zu verstehen'' (S. X). 
Ebenso wie Prosasätze werden auch Reimworte wieder- 
holt. Es sind „geflügelte Worte", die, einmal ausgesprochen, 
leicht und bequem über die Lippen eilen und auch so auf- 
genommen werden. 

Schon die Wiederholung darf als Beleg für das be- 
stimmte Symmetriegefühl des Märchens gelten, in dessen 
Aufbau die primitivsten, darum aber auch wirksamsten 
ästhetischen Gesetze zu finden sind. Besonders tritt das 
Spiel mit Zahlen hervor. In der Volkspoesie sind diese 
überhaupt von gewissem symbolischem Wert. Heilig ist 
die Drei-, Sieben- und Zwölfzahl, die vielleicht schon aus 
religiösen Motiven festgehalten wurden. Aber auch rein 
äusserlich macht sich die Vorliebe für zahlenmässige 



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- 118 — 



Gruppierung geltend und hat auch auf die Composition 
der Märchen EinÜuss ausgeübt. Sehr häufig treten drei 
Personen im Märchen auf, unter denen immer die dritte 
den Vorrang vor den andern gewinnt; der jüngste Bruder 
ist der klügste und umsichtigste, die jüngste Schwester 
die liebenswürdigste und schönste. Aller guten Dinge sind 
drei: etwas Grosses wird zweimal vergebens versucht, 
das dritte Mal gelingt es. Drei Wünsche werden erlaubt; 
Schneewitchen wohnt über den sieben Bergen bei den 
sieben Zwergen; sieben Jahre soll die Königin gefangen 
sitzen, nach ihrer Befreiung lebt sie noch drei Tage (76). 
Im Märchen vom Dornröschen können nur zwölf Feen 
eingeladen werden, die dreizehnte (Unglückszahl) bringt 
das Unheil. Wie wichtig das Prinzip, zahlenmässig zu 
gliedern, für die Technik des Märchenstils ist, erkennt man 
auch daraus, dass z. B. ausdrücklich der Akt des Zählens 
angegeben wird, z. B.: „am rechten Ufer, da stehen grosse 
Ruten, die zähle, und die elfte schneide ab" (88), denn es ist 
nötig, dass die rechte Zahl getroffen werde. Besonders 
beliebt sind Gruppenaufzählungen (vgl. No. 80). Jede 
neue Reihe hat ein Glied mehr als die vorige; der Er- 
zähler begnügt sich aber nicht mit der einmaligenErwähnung 
des neuen Gliedes, sondern wiederholt, jedesmal von vorn 
beginnend, das schon Genannte. Nur in der Verknüpfung 
mit dem Vorhergehenden hat das Neue Bestand. Er- 
zähler und Hörer werden nicht müde, selbst eine Reihe 
von zwölf Ereignissen zahlenmässig an sich vorüberziehen 
zu sehen. Ganz ähnliche Figuren finden sich in Abzähl- 
versen, in Volks- und Kinderliedern 1 ). 

Auch die blosse Wiederholung eines Begriffs durch 
eine einfache Cumulatio ist als Zeichen der Kindersprache 
anzusehen: die Doppelsetzung des Positivs ist gleich dem 
Superlativ („lange, lange Zeit", „grosse, grosse Nuss", 
„sie hatten aber so gut, nein so gut geschmeckt", „sass 



1) Vgl. Uhland, Volkslieder No. 2,4. Wunderhorn (Reclam) 
S. 827 ff. 



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— 119 — 

da eine bildschöne Jungfrau, nein so schön, dass es nicht 
zu sagen ist" u. a.). 

Die Verwendung der Koseformen, in der Bearbeitung 
häufiger als in den Vorlagen, verleiht dem Vortrag ein- 
schmeichelnde Zierlichkeit und Anmut; namentlich werden 
Lieblingsfiguren des Märchens gern mit Deminutiven be- 
dacht. Manchmal ist diese Art der Bezeichnung durch- 
gehends angewandt, z. B. in No. 30. 

Der Anfang des Märchens ist, abgesehen von der 
bekannten Eingangsformel: „Es war einmal" . . ., womit 
z. B. auch Apulejus im 2. Jahrhundert n. Chr. sein Märchen 
von Amor und Psyche einleitet, bisweilen verallgemeinert 
und nach Art eines Sprichworts abgefasst oder bewegt 
sich in formelhaften Ausdrücken wie: „Zur Zeit, da das 
Wünschen noch geholfen hat", „als Gott noch selbst auf 
Erden wandelte"; „et is woll dusent und meer Jahre her", 
was zugleich das Folgende als Märchen charakterisiert. 
Damit sind die Zeitangaben so ziemlich erschöpft. Nur 
ob es Abend oder Morgen, ob es ein Winter- oder Sommer- 
tag war, wird etwa noch verraten: „Zur Winterszeit, als 
einmal ein tiefer Schnee lag"; „da es gerade Frühlingszeit 
war, und das Kind seine Freude an den bunten Blumen 
hatte" (169); „et wöör an enen Sünndagmorgen tor Harvest- 
tied, jüst as de Bookweeten bloihde" (187). Auch hier 
herrscht der sinnige Zug, die nackte Zeitangabe durch ein 
Bild aus der Natur zu umschreiben. 

Besondere Bedeutung hat der Märchensehl uss. 
Gewöhnlich genügt wie in den Vorlagen ein schlichter 
Abschluss der Erzählung ohne rhetorischen Schmuck. Nicht 
selten aber wird eine formelhafte Wendung, die gereimt 
sein kann, dem Märchen angehängt, wie: „Die Katze läuft 
nach Haus, mein Märchen ist aus." Meist ist sie neckischer 
Natur: indem der Vortragende über den gläubigen Kinder- 
ernst lacht, deutet er zugleich die Unwahrscheinlichkeit 
der Geschichte an. In sicherem Vertrauen aber auf ihre 
Wirkung darf er den lustigen Abschluss wagen. Zweifelnde 
Gemüter warnt der Erzähler launig: „Wer's nicht glaubt, 



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— 120. — 



bezablt einen Thaler", und nicht alle Kinder werden schon 
so gescheit sein wie das kleine Mädchen, von dem Wilhelm 
Grimm im Anschluss an diesen Schluss die bekannte 
hübsche Geschichte erzählt'). Oft schliessen die Märchen 
mit der Hochzeit als dem Gipfel des irdischen Glücks. 
Diese wird bisweilen mit fröhlicher Laune geschildert und 
der Zuhörer gefragt: „Bist du auch auf der Hochzeit ge- 
wesen?" usw. (84). oder der Erzähler wünscht, „er wär 
auch dabei gewesen" (134), denn „wer dabei gewesen, der 
ist nicht hungrig nach Haus gegangen" (II, 43). Mit frohem 
Ausblick in die Zukunft heisst es dann wohl: „Nun lebten 
sie vergnügt, und es ging ihnen wohl bis an ihr Ende" (85), 
oder frommer: „nun lebten sie froh so lange es Gott gefiel"; 
„und ob sie noch leben, das steht bei Gott". Humoristisch 
klingt: „Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute 
noch". Nach der Anschauung des Märchens gehört nun 
einmal langes Leben und Reichtum zum glücklichen, irdischen 
Dasein. Selten fasst der Inhalt sich in einer (sprich- 
wörtlich gehaltenen) Moral zusammen, z.B.: „Eile mit 
Weile" (184), „so geht's aber den Hochmütigen" (97); „du 
wirfst das Beil so weit, dass du's nicht wieder holen 
kannst" (72). 

Beliebter ist der persönliche Märchenschluss, in dem 
der Erzähler sich unmittelbar an seine Zuhörer wendet. 
Auch hierfür bietet unsere Sammlung einige Beispiele. 
Besonders bemerkenswert ist die Art, sich auf Gewährs- 
männer (Grosseltern) zu berufen, denen man die Geschichte 
verdankt (z. B. No. 179). Auch der Anfang leitet ähnlich 
ein, z. B.: ,.Disse Geschieht is lügenhaft to verteilen, 
Jungens, aver wahr is se doch, denn mien Grotvader, von 
den ick se hew, plegg Ummer to seggen" . . . Ganz all- 
gemein heisst es: „Un we dat lest verteilt het, den is de Mund 
noch wärm" (113) oder: „wer's wüsste, könnte viel davon 
erzählen". Bisweilen gesteht der Vortragende am Schluss, 
selbst nicht mehr zu wissen: „und ob sie noch da schweben, 



») Freundesbriefe S. 189 f. 



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— 121 — 



das weiss ich nicht" (90), oder er gibt rückblickend Uber 
gewisse unaufgeklärte Punkte des Märchens Bescheid. 
Frage des Kindes und Antwort des Erzählers sind hübsch 
beisammen in folgendem: „Fährt er wohl noch? Was denn? 
Es wird ihm niemand die Stange abgenommen haben." — 
„Wo ist aber die Ziege hingekommen, die schuld war, 
dass der Schneider seine drei Söhne fortjagte? — Das 
will ich dir sagen" . . . (36) — „Warum hat aber der 
Fuchs die armen Piephühner zu fressen kriegt? — Ei, du 
Narr, deinem Vater wird ja wohl sein Kind lieber sein 
als die Hühner auf dem Hof" (45). 

Gewöhnlich duldet nur der Schluss ein direktes Hervor- 
treten des Erzählers; im Verlauf des Märchens selbst wird 
die objektive Darstellung festgehalten. Einzelne abweichende 
Fälle sind nur als Ausnahmen zu betrachten, z. B.: „da 
lebte Allerleirauh lange Zeit recht armselig; ach. du schöne 
Königstochter, wie soll's mit dir noch werden". „Nun 
weiss ich nicht, ob sie sich so dick gegessen oder ob sie 
so übermütig geworden waren" (10), oder man stellt mit- 
unter eine rhetorische Frage: „Das Mädchen kehrte den 
Schnee weg, und was glaubt ihr wohl, was es gefunden 
hat?" (13) „Aber was meineder, wer isch das gsi? D 1 
Tochter selber isch es gsi!" Allgemein heisst es: „Es 
kann sich jeder denken, wie ihm zu Mut war." Stimmung 
zu erzeugen, wird der Geschichte selbst Uberlassen, das 
persönliche Empfinden des Vortragenden schwebt unaus- 
gesprochen über dem Ganzen. 

Die Anschaulichkeit der Sprache wird vielfach 
gehoben durch Kleinmalerei: die geringfügigsten und un- 
scheinbarsten Züge sind den Brüdern oft die wichtigsten, 
und auch das Unbedeutende bekommt durch die gefällige 
Anmut, mit der sie es erzählen, einen anziehenden Reiz. 
Der sprachliche Ausdruck ist zart bei der Darstellung 
kindlicher Dinge, derb in der Schilderung gröberer Ver- 
hältnisse. Er legt Wert auf Sachen, die dem Kinde am 
meisten ins Auge fallen und seine Verwunderung erregen. 
So gleichgültig das Märchen sonst gegen Ortsangaben ist, 



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— 122 — 



so genau ist doch oft die Beschreibung gewisser Situationen : 
Zauberhauten, Landschaften, Schlösser, häusliche Ein- 
richtungen werden bis ins einzelne mit plastischer Deutlich- 
keit geschildert, denn das Kind hat eine Freude am Bunten 
und Schimmernden. Mit Vorliebe verwendet man auch Bilder 
aus dem Naturleben; die Tier- und Pflanzenwelt wird gern, 
nicht bloss in wirklichen Tiermärchen, in den Anschauungs- 
kreis hineingezogen, wodurch die Erzählungen einen frischen, 
kräftigen Naturton und das Gepräge des Echten und Un- 
gekünstelten erhalten. Aber in den Märchen liegt nicht 
eine sentimentale Sehnsucht nach der Natur, diese ist fin- 
den einfachen Mann des Volkes noch nicht etwas Fremdes, 
sie ist noch der Urboden aller gesunden Verhältnisse. Der 
grüne Wald, das blühende Feld, geheimnisvolle Brunnen 
und Quellen sind die Plätze, wo sich das Märchen gern 
ansiedelt. Wenn die Fabel im allgemeinen nur die Tiere 
zu Trägern von Ideen macht, geht das Märchen schranken- 
los noch tiefer in das Naturreich hinab, auch die un- 
organische Welt naiven Sinnes zu beseelen und mit Vernunft 
zu begaben. Denn das Kind glaubt, dass die Dinge, 
die es umgeben, gewissermassen seines gleichen sind, die 
begehren und handeln wie es selbst. 

Das Wunderbare und Unwahrscheinliche ist im 
Märchen das Natürliche. Wirkliches und Unmögliches 
webt das Spiel der Phantasie launig durcheinander. Damit 
steht in Verbindung, dass die Brüder zwar keine neuen 
Wunder hinzugedichtet, aber durch poetische Belebung der 
Sprache das Märchenhafte der Erzählung bedeutend erhöht 
haben. Die tote Natur ist vielfach zum redenden und 
handelnden Genossen des Menschen geworden; aber man 
mied eine sinnlose Anhäufung von Wundern, wie sie sich 
etwa in den Feenmärchen findet. Auch behandelten die 
Brüder das Gespensterhafte und Grausige, das Wunder- 
bare und Phantastische nicht parodistisch wie einige ihrer 
Vorgänger, sondern mit der Andacht eines kindlichen 
Gemüts. Anerkennend erwähnt Goethe das Grimmsche 
Märchen vom „Gruseln lernen", das „einen Tod- und 



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— 123 — 



Teufelsspuk als etwas ganz Gemeines bebandele 41 . Der 
Gegensatz von „Einbildungskraft und Derbheit, von un- 
verwüstlichem, gesundem Sinn und gespenstischem Trug 
könne nicht besser dargestellt werden" (Werke 33, 199). 
Das ist ja überhaupt eine Eigenschaft des Volksmärchens, 
dass es an seine Wunder glaubt, während das Kunst- 
märchen die Allegorie nicht vermeiden kann und auf geist- 
reiche Verknüpfung der Ereignisse angewiesen ist. 

Das komische Element in den Märchen ist ein 
launiger, gutmütiger Humor, der sich mit den sonderbarsten 
und dümmsten Personen abzufinden weiss, ja gerade bei 
der Behandlung dieser Leute und ihrer Albernheiten am 
wirksamsten zur Geltung kommt. Und doch wird dadurch 
niemals die Stimmung des Ganzen zerstört; es ist ein 
Spott, der alle trifft und darum keinen, der in einem er- 
träumten Lande mit allerlei wunderlichen Lebens- 
verhältnissen spielt und deshalb von der Ironie eines 
Musäus oder Tieck von Grund aus verschieden ist. Auch 
bei der ironischen Behandlung mancher Märchenfiguren, 
z. B. des faulen Heinz, der klugen Else, des dummen 
Hans, des tapferen Schneiders hat man immer das Gefühl, 
als sei die Erzählung ernst gemeint. Die Brüder verstehen es, 
unser Interesse auch für wenig liebenswürdige Personen 
rege zu halten. Man lacht Uber die Einfalt, die es noch 
nicht versteht, sich zu verstellen, oder ist gerührt durch 
die Offenheit der naiven, treuherzigen Gesinnung, die alle 
Künstlichkeit beschämt. Im allgemeinen hat die Bearbeitung 
die Vorlagen nach dieser Seite hin unverändert gelassen; 
nur einige Gestalten, wie der Schneider, der Jude im 
Dorn sind mit mehr Humor gezeichnet. 

Das Märchen nimmt, wie die Volkspoesie überhaupt, 
gern starke Contraste auf: gut und böse, wunderschön 
und hässlich wie die Nacht stehen unvermittelt einander 
gegenüber; feinere Abstufungen werden nicht gemacht. 
Das bestimmt Umrissene ist dem Märchen lieber als der 
schillernde Charakter, zu dessen Darstellung auch eine 
feinere Kunst gehört als der Märchenerzähler besitzt, der 



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— 124 — 



sich mit einer psychologischen Begründung und Vertiefung 
seiner Charaktere nicht befasst. Auch würde auf Seiten 
des Hörers die Empfänglichkeit dafür fehlen. Das un- 
verbildete Gerechtigkeitsgefühl des Märchens verhilft dem 
Guten zum Siege über das Böse. Die beiden inneren 
Gegensätze, die so oft begegnen, sind zugleich Grundlagen 
für äussere Unterschiede, beide laufen parallel. Mit Seelen- 
reinheit vermählt sich die glückliche körperliche Beschaffen- 
heit, und umgekehrt kann man aus einer äusserlich häss- 
lichen Märchenfigur schon auf einen schlechten Charakter 
schliessen. Der Lohn der Tugend besteht in grösstem 
irdischem Glück, die Strafe des Bösen in schrecklichster 
Qual.- 

Wie im Volksliede sind die syntaktischen Ver- 
hältnisse der Sätze höchst einfach. Coordination wird der 
Subordination vorgezogen; ein Gedanke reiht sich schlicht 
an den andern. Feinere Beziehungen durch Partikeln und 
Conjunktionen anzudeuten wird ebensowenigversucht wie ein 
kunst voller Periodenbau. Es ist natürliche Prosa desMundes. 
Das altertümliche Deutsch mit der einfachen Struktur der 
Sätze kam in seiner Schlichtheit der modernen Märchen- 
sprache sehr nahe; schon deswegen, abgesehen von Grimms 
Vorliebe für archaische Ausdrucksweise, wurden die Vor- 
lagen fast unverändert Übernommen. Sie bewahrten dem 
Märchen den „angeerbten, wenn auch nach und nach 
modificierten Charakter zugleich mit dem einfachen, den 
ältesten Zeiten gemässen Vortrag", wie ihn Goethe für das 
Volkslied verlangte 1 ). Auch dialektische Ausdrücke wurden 
Kunstmittel. Ausser den Märchen, die durchgehends in 
einer bestimmten Mundart abgefasst sind, um ihnen den 
frischen Erdgeruch zu wahren, begegnen Idiotismen aller- 
dings nur selten, z. B.: Haulemännerchen, Frau Gothel 
Ellermutter u. a., denn ein Sprachgemenge wurde nicht 
geduldet. Auch hielten die ersten beiden Auflagen noch 
vielfach die apokopierten und elidierten Wortformen fest. 



') In dem Aufsatz: Über Volkspoesie. 



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— 125 — 



die teils dem mündlichen Vortrag entsprachen, teils aus 
älteren Vorlagen übernommen wurden. Erst mit der dritten 
Auflage macht sich ein Streben bemerkbar, die Formen 
dem schriftgemässen Deutsch anzuähneln. Tiefere Ein- 
griffe zeigt die Bearbeitung neueren Vorlagen gegenüber; 
lange Perioden wurden aufgelöst, Nebensätze in Hauptsätze 
verwandelt. Nicht selten wird die einleitende Partikel im 
Satze fortgelassen und eine wirksame Inversion eingeführt, 
z. B.: „fragto die weise Frau" — „sprach der Bauer" usw., 
eine Eigenart des archaisierenden Stils, welche die eindring- 
liche Kraft der Rede steigert wie in Luthers Bibel. Die 
Darstellung wird hierdurch dramatischer. Frage und Ant- 
wort schliessen sich eng an einander, und der Zwischensatz 
ohne einleitende Partikel ist gleichsam wie eine Parenthese 
anzusehen, die flüchtig den Strom der Worte unterbricht. 
In einem Brief der Haxthausenschen Correspondenz hat 
W. Grimm sich durchweg dieser Form bedient Im Stil 
des Volksliedes entspricht ihr die Erscheinung, dass das 
Hauptwort am Anfang der Zeile häufig ohne Artikel steht 
(vgl. Heidenröslein: „Knabe sprach: Ich breche dich" . . .), 
wodurch es „weitmehr poetische Substantialität und Per- 
sönlichkeit" erhält, wie Herder betont 2 ). 

Vielfach ist der Monolog mit Personenwechsel an- 
gewandt, eine anschauliche, echt volksmässige Ausdrucks- 
weise. Da „denken" sprechen mit sich selber ist, so kann 
der Denkende sowohl erste wie zweite Person sein. Die 
Vertauschung der Glieder erhöht die Beweglichkeit und 
eindrucksvolle Kraft des Vortrags. Es ist gegenständlicher 
und gemütlicher, sich selbst mit „du" anzureden. Jakob 
Grimm charakterisiert den Unterschied in seiner Ab- 
handlung über den Personenwechsel in der Sprache 3 ) mit 
den Worten: „Mit dem ,Ich l redet der Verstand, mit dem 
.Du' reden Herz und Empfindung". 



!) Freundesb riefe S. 8 f. 

2 ) Suphan V, 194. 

s) Kl. Schriften in, 299. 



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— 126 — 

Durch massvolle und geschickte Anwendung der 
stilistischen Feinheiten haben die Brüder Grimm — das 
Hauptverdienst gehört Wilhelm — den Vorlagen neue und 
reiche Schönheiten verliehen. Ihr Verfahren ähnelt dem 
des Kunstdichters, der das dunkle Fühlen und die halb 
unbewussten, instinktiven Andeutungen der Volksdichtung 
benutzt und ihnen den vollen und reinen Ausdruck gibt. 
Sie wiederholten nicht etwa wahllos typische Wendungen 
und flickten sie künstlich dem Märchen an; ihre Sicherheit 
bewahrte sie auch vor Übertreibung. Sie stellten jedes 
Märchen in seiner Eigenart als Fertiges vor und fügten 
aus der Stimmung des Ganzen passende Zusätze bei, es 
dadurch erst zu einem Kunstwerk umgestaltend. Die Kluft 
zwischen Kunst- und Naturprodukt wurde überbrückt, oder 
vielmehr erst dio Kunst der Brüder verlieh den Märchen 
durch die einfachsten Mittel den frischen Duft und die 
sinnliche Kraft und Schönheit, woran der Wildling zu 
erkennen ist. Ihre Methode lässt sich bereits aus der 
Betrachtung des kleineren Teils der Sammlung im Umriss 
bestimmen. Eine erschöpfende Darstellung hat aber mit 
Notwendigkeit die mündlicher Überlieferung nacherzählten 
Märchen zu berücksichtigen; auch würden dadurch erst 
Einzelbeobachtungen, die uns jetzt unscheinbar dünken, in 
das rechte Licht treten. Wir müssen auf neue Schätze 
des „Grimmschrankes" warten. 



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Beilagen. 



Vorlage. 

I Hans Sachs, Schwanke T, 172. 
Der dewffel hat die gais er- 
schaffen, hat in dewffel augon 
eingeseezt. 

Doctor Üolpianus der hat 
Ein puech peschrieben, darin stat: 
Nach dem der Her all creatür 
Auf erd peschueff gar rein und pür 
Die wolff er im erwelen künd 
Und het sie pey im für jaghiind, 
Das er sicher in den refieren 
Wer vor den andren wilden thieren. 
Nun sagen vns die gierten pfaffen 
Wie das er het kain gais erschaffen. 
Da richtet sich der dewffel on 
Vnd wolt auch sein ein schöpfer fron 
Und macht vil gais in seinen grenezen, 
%i rt sie all mit langen füchssehwenc- 
Und wen sie gingen an der waid [zen, 
Dellens dem dewffel vil zv laid, 
Wo sie in doren hecken gingen 
Mi t den schwenezen sie drin pehingen. 
Den schloff er nein und macht sie los. 
Die müe den dewffel hart vertros, 
Det in allen die schwencz abeissen, 
Wie noch die stüempff der gais pewey- 
Sch I ueg sie allein hin auf die waid. [sen, 
Der herr kam hin durch ein wegschaid, 
Sach, wie die gais in weitem raiim 
Penaglen die fruchtbaren paüm. 
Und sach darzw, wie die gaispöck 
Verderbten die edlen weinstück, 



Grimm. 

Des Herrn und des Teufels 
Getier. (11,62.) 



Gott der Herr hatte alle Tiere er- 
schaffen und sich die Wölfe zu seinen 
Hunden auserwählet; blos den Geis 
hatte er vergessen. 



Da richteto sich der Teufel an, wollte 
auch schaffen, und machte die Geisc 
mit feinen, langen Schwänzen. Wenn 
sie nun zur Weide gingen, blieben 
sie gewöhnlich mit ihren Schwänzen 
in den Dornhecken hängen, da musslo 
der Teufel hineingehen und sie mit 
vieler Mühe losknüpfen; verdross 
ihn zuletzt, war her und biss jeder 
Geis den Schwanz ab, wie noch heut' 
des Tags an den Stümpfen zu sehen 
ist. 

Nun Hess er sie zwar allein weiden, 
aber es geschah, dass Gott der Herr 
zusah, wie sie bald einon fruchtbaren 
Baum benagten, bald die edlen Reben 
schädigten, bald andere zarte Pflanzen 
verderbten. Dess jammerte ihn, so 



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- 128 - 



Detten den pflanzen grosen schaden. 
Das jamert in aus guet vnd gnaden 
Vnd heischet seine wolff an sie, 
Dio selbigen zeriessen die. 
So pald der dewffel das vernom 
Wie bald er zv dem herren koni 
l'nd sprach : Herr, das geschupfte dein 
Das hat zvrissen mir das mein!" 
Der herr sprach: Dein gais niücsl ich 

straffon, 

Weil dtis zv schaden hast erschaffen." 
Der dewffel sprach : Gleich wie ich pin 
Ein schöpfler boshaftiger sin, 
So peschueff ich auch creatiir 
Mir gleich, die ich durch dich verliir. 
Dw must sie mir wol zalen de wer." 
Der herr sprach:.Ja,iehzaldirshewer. 
So pald das aichen laub abfeit, 
So kümb! das gelt ist schon gezelt." 
Der dewffel fuer dahin sein stras 
Als das aichlaub abfallen was, fpel. 
Der dewffel fordert sein schueld dop- 
Der herr sprach: Zv Constantinoppel 
In Kriechen stet ain aichen hoch 
Die selb ir laüb hat alles noch." 
Der dowflel fuer dahin mit fluechen 
Sechs monat die aichen zu suechen, 
Vnd erst im Mayen wider kom. 
Da er die aichen all vernom 
Wider gruen vnd vol pleter wwn. 
Muest der schueld ghraton, vnd vor 
Da stach er all den gayson sein fzorn 
Dio aügon'aus und seezt in ein 
Sein dowfl'els äugen. Drum an laugen 
Haben all gais noch dewffels äugen 
Vnd darzw auch abissen schwenez. 
Der dewffel auch durch sein gespencz 
Sich oft, in schwarze gais verwandelt 
Won er mit der zaubrerin handelt. 
Auch holen sie oft auf eim pock 
Ein man hin über stain und stock 
Auf die puelsehaft. Vil vngemachs 
Rieht er dardurch an, spricht Hans 

Sachs. 



dass er aus Güte und Gnaden seine 
Wölfe dran hetzte, die denn die 
Heise, so da gingen, bald zerrissen. 
Wie der Teufel das vernahm, trat 
er bald vor den Herrn und sprach: 
„Dein Heschöpf hat mir das meine 
zerrissen." Der Herr antwortete; 
„Was hattest du es zu Schaden er- 
schallen?" 

Der Teufel sagte: „Ich musste das; 
gleichwie selbst mein Sinn auf Scha- 
den gehl, konnte, was ich erschaffen, 
keine andere Natur haben, und musst 
mirs teuer zahlen." „Tch zahl dir's. 
sobald das Eichenlaub abfällt, dann 
komm, dein Geld ist schon gezahlt." 

Als das Eichenlaub abgefallen war, 
kam der Teufel und forderte seine 
Schuld. Der Herr aber sprach: „In 
der Kirche zu Constantinopei steht 
eine hohe Eicht, die hat noch alles 
ihr Laub." Mit Toben und Fluchen 
entwich der Teufel und wollte die 
Eiche suchen, irrte sechs Monate in 
der Wüstenei, eh' er sie befand, und 
als er wiederkam, waren derweil 
wieder alle andere Eichen voll 
grüner Blätter. Da musste er seine 
Schuld fahren lassen, slach im Zorn 
allen übrigen Geisen die Augen aus 
und setzte ihnen seine eigenen ein. 
Darum haben alle Heise Teufelsaugen 
und abgebissno Schwänz, und er 
nimmt gern ihre Hestalt an. 



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129 — 



Kirchhof, Wendunmuth 11,124. 
Von dess todts botten. 

Man sagt, dass auff ein zeit ein 
grosser, starker ries den tod hab im 
kampff bestanden, darnider gesehla- 
gen, ganlz onmächtig und krafftlos 
ligen lassen, welchen, als ihn ein 
Jüngling, der daselbst fürgieng, sähe, 
hat er auss erbarmnuss in golabt, 
also dass er seine vorige sterck und 
gesundheit widerumb bekäme. Der- 
halben zu einer widorgeltung diser 
gutthat, versprach der tod dem 
jüngling, sintemal es von gott und 
der natur also vorsehen, dass alle 
menschen sterben müssten, und ei- 
serner derwegen nicht verschonen 
köndte, wollte er ihm doch sein end 
zeitlich gnug zuvor durch botlschaft 
verkündigen lassen. Solcher zusag 
halber ward das gemüt dess jüng- 
lings in Sicherheit stoltz erhaben, 
frass, soff und schlemmet ein und 
alle tag, dass in jetzt diser, denn 
jener gebrechen platte. Bald do er 
nach vielen siechtagen wider in 
freuden lebte, kam der tod, sagende, 
wie die stund seines abscheids von 
diser erden nun vorhanden. Jener 
war solcher Sachen nicht zufrieden, 
den tod dess betrugs, hinderlist und 
un wahrhaftiges Versprechens be- 
schuldigende, sintemal er keinen an- 
zeiger von ihm vernommen. Ho, 
schweig still ! antwortet der tod, sein 
das nicht botten genug? Vor etlichen 
jaren plagte dich ein hartes Heber, 
bald darnach ein schwereres, ietzt 
hastu am kopff mit schwindeln, an 
der brüst mit husten und keichen, 
im magen und gederm grossen 
schmertzen erlitten, deine kreffte an 
armen und beinen haben abgenom- 
men, die haut ist dürr und runtzelicht 

Palaestra XLVII. 



Die Boten des Todes (177). 

Vor alten Zeiten wanderte einmal 
einRiesP auf der grossen Landstrasse, 
da sprang ihm plötzlich ein un- 
bekannter Mann entgegen und rief: 
„Halt! koinon Schritt weiter!" „Was* 4 , 
sprach der Kiese, „du Wicht, den 
ich zwischen den Fingern zerdrückon 
kann, du willst mir den Weg ver- 
treten? Wer bist du, dass du so 
keck reden darfst?" „Ich bin der 
Tod", orwiderte der andere, „mir 
widersteht niemand, und auch du 
musst meinen Befehlen gehorchen." 
Der Riese aber weigerte sich und 
fing an mit dem Tode zu ringen. 
Ks war ein langer, heftiger Kampf, 
zuletzt aber behielt der Riese die 
Oberhand und schlug den Tod mit 
seiner Faust nieder, dass er neben 
einem Stein zusammensank. Der 
Riese ging seiner Wege, und der 
Tod lag da besiegt und war so kraft- 
los, dass er sich nicht wieder er- 
heben konnte. „Was soll daraus 
werden", sprach er, „wenn ich da 
in der Ecke liegen bleibe? es stirbt 
niemand mehr auf Erden, und sie 
wird so mit Menschen angefüllt 
werden, dass sie nicht mehr Platz 
haben, neben einander zu stehen." 
Indem kam ein junger Mensch des 
Wegs, frisch und gesund, sang ein 
Lied und warf seine Augen hin und 
her. Als er den Halbohnmächtigen 
erblickte, ging er mitleidig heran, 
richtete ihn auf, flösste ihm aus 
seiner Flasche einen stärkenden 
Trank ein und wartete, bis er wieder 
zu Kräften kam. „Weisst du auch", 
sagte der Fremde, indem er sich 
aufrichtete, „wer ich bin, und wem 
du wieder auf die Beine- geholfen 

9 



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— 130 — 



hast?" „Nein tt , antwortete der Jüng- 
ling", „ich kenne dich nicht." „Tch 
bin der Tod", sprach er, „ich ver- 
schone niemand und kann auch mit 
dir keine Ausnahme machen. Damit 
du aber siehst, dass ich dankbar 
bin, so verspreche ich dir, dass ich 
dich nicht unversehens überfallen, 
sondern dir erst meine Bolen senden 
will, bevor ich komme und dich ab- 
hole." „Wohlan", sprach der Jüng- 
ling, „immer ein Gewinn, dass ich 
weiss, wann du kommst, und so 
lange wenigstens sicher vor dir bin." Dann zog er weiter, war lustig und 
guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend und Gesundheil 
hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn 
bei Tag plagten und ihm nachts die Ruhe wegnahmen. „Sterben werde 
ich nicht", sprach er zu sich selbst, „denn der Tod sendet erst seine Boten, 
ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber." Sobald 
er sich gesund fühlte, fing er wieder an, in Freuden zu leben. Da klopfte 
ihm eines Tages jemand auf die Schulter: er blickte sich um, und der 
Tod stand hinter ihm und sprach: „Folge mir, die Stunde doines Abschieds 
von der Welt ist gekommen." „Wie", antwortete der Mensch, „willst du 
dein Wort brechen? hast du mir nicht versprochen, dass du mir, bevor 
du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? ich habe keinen gesehen." 
„Schweig", erwiderte der Tod, „habe ich dir nicht einon Boten über 
den andern geschickt? kam nicht das Fieber, stiess dich an, rüttelte dich 
und warf dich nieder? hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? 
zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? brauste dir's nicht in den 
Ohren? nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? ward dir's nicht 
dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der 
Schlaf, dich jedon Abend an mich erinnert? lagst du nicht in der Nacht, 
als wärst du schon gestorben?" Der Mensch wusste nichts zu erwidern, 
ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort» 



worden. Über das alles solte dich 
erinnert haben mein leiblicher bru- 
der, der schlaff, in welches banden 
du etliche zeit nicht änderst als ge- 
storben hast gelegen. Derhalben 
sein deine entschuldigung nichtig 
und wil ich dich mit mir nemmen. 

Dise fabel gibt zu verstehen, 
Dass uns der tod kompt unversehen, 
Darumb ein christ sich darauff schick, 
Als solts geschehn all augenblick. 



Die Geschichte vom Ein äugle i n, 
Zweiäuglein und Dreiäuglein. 1 ) 

Eine Edelfrau hatte drei Töchter, 
die hiessen: Einäüglein, Zweiäuglein 
und Dreiäuglein; denn die Älteste 



») Büschings Wöchentl. Nachricht. 
1816, S. 17 ff. 



Einäüglein, Zweiäuglein und 
Dreiäuglein. 

Es war eine Frau, die hatte drei 
Töchter, davon hiess die älteste Ein- 
äüglein, weil sie nur ein einziges 
Auge mitten auf der Stirno hatte, 
und die mittolsie Zweiäuglein, weil 
sie zwei Augen hatte wie andere 



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— 131 — 



hatte drei Augen, die Andere zwei 
Augen und die Jüngste nur ein 
Auge. Das eine bei der Jüngsten 
und das dritte bei der Ältesten stand 
aber mitten auf der Stirne. " 

Darum nun, dass die Mittelste 
nur zwei Augen hatte und nicht um 
ein Haar anders gestaltet war, als 
andere Menschen, ward sie gehasst 
von Mutler und Schwestern und 
sowohl in Kleidung, als Essen und 
Trinken zurückgesetzt, also, dass sie 
sehr oft traurig und trauernd herum- 
ging, und die Einsamkeit ihre einzige 
Freundin war. 

So sass sie auch einst vorlassen 
auf dem Foldraine und hütete die 
Ziege, die ihr von der Mutler an- 
vertraut war, konnte aber nicht auf- 
hören zu weinen, weil sie bei der 
Mahlzeit abermals fast leer ausge- 
gangen war. Siehe, da trat eine Fee 
zu ihr und fragte sie liebreich, was 
sie so weine? 

Drob war Zweiäuglein froh, dass 
sich doch jemand ihrer annehme in 
ihrer Not und Trübsal, und sie er- 
zählte der Fee nun, wie sie zu Hause 
nur täglich geplagt werde von ihrer 
Mutter und von den beiden Schwes- 
tern und bei Tische mehr vom Zu- 
sehen satt werden müsse, denn vom 
Zulangen. 

Da gab ihr die Fee einen guten 
Rat, wie sie durch Hülfe ihrer Ziege 
Speise und Trank gewinnen könne, 
so wie sie nur wünsche; denn so 
oft sie zu ihror Ziege sagen werde: 

Zicklein meek! 
Tischlein deck! 

werde das sauber gedeckteste und 
mit den schmackhaftesten Speisen 
und Getränken aufs beste versehene 
Tischlein vor ihr und zu ihrem 



Menschen, und die jüngste ürei- 
äuglein, weil sie drei Augen hatte, 
und das dritte stand bei ihr gleich- 
falls mitten auf der Stirne. Darum 
aber, dass Zweiäuglein nicht anders 
aussah als andere Menschenkinder, 
konnten es die Schwestern und die 
Mutter nicht loiden und sie sprachen 
zu ihm: „Du mit deinen zwei Augen 
bist nicht besser als das gemeine 
Volk, du gehörst nicht zu uns" und 
stiessen es herum und warfen ihm 
schlechte, alte Kleider hin und gaben 
ihm nicht mehr zu essen als was 
sie übrig liessen, und taten ihm 
Herzeleid an, wo sie nur konnten. 

Ks trug sich zu, dass Zweiäuglein 
ins Feld gehen und die Ziege hüton 
musste und noch ganz hungrig war, 
weil ihm seine Schwestern so wenig 
zu essen gegeben hatten. Da setzte 
es sich auf einen Rain und fing an 
zu weinen und so zu weinen, dass 
zwei Bächlein aus seinen Augen 
herabflossen. Und wie es oinmal 
aufsah, stand eine Frau neben ihm, 
die fragte: „Zweiäuglein, was weinst 
du?" Zweiäuglein antwortete: „Soll 
ich nicht weinen? weil ich zwei 
Augen habe wie andre Menschen, 
so können mich meine Schwestern 
und meine Mutter nicht leiden, 
stossen mich herum, werfen mir 
alte, schlechte Kleidor hin und geben 
mir nur zu essen, was sie übrig 
lassen. Heute haben sie mir fast 
garnichts gegeben, dass ich noch 
ganz hungrig bin." Sprach die weise 
Frau: „Zweiäuglein, trockne dir dein 
Angesicht, ich will dir etwas sagen, 
dass du nicht mehr hungern sollst. 
Sprich nur zu deiner Ziege 

„Zicklein, meck, 
Tischlein, deck", 

9* 



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— 132 - 



Dienste stehen. Hätte sie nun ihrom 
Hunger eine Gnüge gethan und wolle 
des Tischleins wieder entührigel 
sein, so dürfe sie nur sagen: 

Zicklein meek! 

Tischlein weg! 
und alles würde vor ihren Augen 
wieder verschwunden sein. 

Für solchen guten Rath dankte 
Zweiäuglein der Fee aufs hoste, die 
aber verschwand wieder vor ihren 
Augen. 

Alsbald nun versuchte Zweiäuglein 
die Wahrheit jener Verheissung und 
siehe da, kaum hatte sie zu ihrer 
Ziege dio Worte gesagt: 

Zicklein meck! 

Tischlein deck! 
so stand das sauber gedeckteste 
Tischloin zu ihrenFüssen und duftete 
ihr mit den einladendsten Speisen 
und Getränken gar lieblieh und ge- 
würzig entgegen. Zweiäuglein aber 
harrete nun weiter auf kein Nötigen, 
sondern langete frisch und wohl- 
gemuth zu, was ihr eben beliebte, 
und war lustig und guter Dinge. 
Als sie aber ihrer Esslust ein Gnüge 
gethan, sprach sie die ihr gelehrten 
Worte: 

Zicklein meck! 

Tischlein weg! 
und alsbald war das Tischlein samt 
alle dem, was noch darauf war, und 
wovon noch gar wohl ein recht 
Hungriger sich hätte sättigen können, 
wieder verschwunden. 

Dess war nun Zweiäuglein nicht 
wenig froh, dass ihr nun ein Mittel 
an die Hand gegeben war, wie sie 
trotz der neidischen Missgunst, mit 
der sowohl Mutter als Schwestern 
ihr begegneten, sich täglich Speise 
und Trank hinlänglich verschaffen 



so wird ein sauber gedecktes Tisch- 
lein vor dir stehen, und das schönste 
Essen darauf, dass du essen kannst 
so viel du Lust hast. Und wenn du 
satt bist und das Tischlein nicht 
mehr brauchst, so sprich nur 

„Zicklein, meck, 

Tischlein, weg", 
so wird's vor deinen Augen wieder 
verschwinden. 1 * Darauf ging die weise 
Frau fort. Zweiäuglein aber dachte, 
„ich muss gleich einmal versuchen, 
ob es wahr ist, was sie gesagt hat, 
denn mich hungert gar zu sehr", 
und sprach 

„Zicklein, meck, 

TLschlein, deck", 
und kaum hatte es die Worte aus- 
gesprochen, so stand da ein Tisch- 
lein mit einem weissen Tüchlein ge- 
deckt, darauf ein Teller mit Messer 
und Gabel und Löffel, die schönsten 
Speisen standen rund herum und 
waren noch warm, als wären sie 
eben aus der Küche gekommen. Da 
sagte Zweiäuglein das kürzeste Ge- 
bet her, das es wusste, „Herr Gott, 
sei unser Gast zu aller Zeit, Amen 4 *, 
und langte zu und liess sich's wohl- 
schmecken. Und als os satt war, 
sprach es, wio die weise Frau es 
gehoissen hatte, 

„Zicklein, meck, 
Tischlein, weg". 
Alsbald war das Tischchen und alles 
darauf wieder verschwunden. „Das 
ist ein schöner Haushalt", dachte 
Zweiäuglein und war ganz vergnügt 
und guter Dinge. 

Ahends trieb es seine Ziege heim 
und rührte das irdene Schüsselchen 
mit Essen, das ihm die Schwestern 
hingestellt hatten, gar nicht an, und 
am andern Tag zog es wieder mit 



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— 133 — 



und nunmehr ohne Sorten darum 
leben könne. Sie machte sich daher 
mit der spärlichen und geringen 
Kost, die man ihr zu Hause nach 
gewöhnlicher Art zukommen Hess, 
wenig zu schaffen und liess selbige 
nicht selten ganz und gar stehen, 
worüber die Ihrigen, die doch nicht 
wussten, von was sie sich sonst er- 
nähre, sich nicht wenig verwun- 
derten. Gar bald aber kamen diese 
auf die Vermulhung, dass Zwei- 
äuglein, die doch sonst auch die 
schlechte Kost nicht verschmäht 
hatte, ein Mittel ausfindig gemacht 
haben müsse, wodurch sie sich, wenn 
sie vom Hause entfernt und mit der 
Ziege auf der Weide sei, ihren Unter- 
halt erwerbe. 

Um nun hierbei hinter die Wahr- 
heit zu kommen, musste das nächste 
Mal, als Zweiäuglein wieder mit der 
Ziege auf die Weide ging, Einäuglein 
mitgehen, um dem Mittel, dessen 
sich Zweiäuglein zu ihrer Sättigung 
bediene, auf die Spur zu kommen. 
Zweiäuglein aber merkte gar bald, 
was man gegen sie im Schilde führe, 
und nahm sich vor, ihre Nachsteller, 
der angewandten Vorsicht unge- 
achtet, zu täuschen. Sie wusste es 
durch allerhand Liebkosungen so 
weit zu bringen, dass Einäuglein 
sich auf den Feldrain in das weiche 
Gras zu ihr setzte; nun aber suchte 
sie sie einzuschläfern, indem sie ihr 
allerlei langweilige Märlein erzählte 
und ihr, da sie nun bald einschlafen 
wollte, immer vorsang: 

Einäuglein wachst Du? 
Einäuglein schläfst Du? 

Und hiermit gelang es ihr, Einäug- 
lein in einen festen Schlummer zu 
singen, was sie von Herzen freuete, 



seiner Ziege hinaus und liess auch 
die paar Brocken, die ihm gereicht 
wurden, liegen. Das erste Mal und 
das zweite Mal achteten es die 
Schwestern nicht, wie es aber jedes- 
mal geschah, merkten sie auf und 
sprachen, „es ist nicht richtig mit 
dem Zweiäuglein, das lässt jedesmal 
das Essen stehen, und hat doch sonst 
alles aufgezehrt, was ihm gereicht 
wurde: das muss andere Wege ge- 
funden nahen." Damit sie aber 
hinter dio Wahrheit kämen, sollte 
Einäuglein mitgehen, wenn Zwei- 
äuglein die Ziege auf die Weide 
trieb, und sollte Acht haben, was es 
da vorhätte, und ob ihm jemand etwa 
Essen und Trinken brächte. 

Als nun Zweiäuglein die Ziege 
wieder hinaustrieb, trat Einäuglein 
zu ihm und sprach: „ich will mit 
ins Feld und sehen, dass die Ziege 
auch recht gehütet und ins Futter 
getrieben wird." Aber Zweiäuglein 
merkte, was Einäuglein im Sinne 
hatte, und trieb die Ziege hinaus in 
hohes Gras und sprach: „komm Ein- 
äuglein, wir wollen uns hinsetzen, 
ich will dir was vorsingen." Ein- 
äuglein setzte sich hin und war von 
dem ungewohnten Weg und von der 
Sonnenhitze müd, und Zweiäuglein 
sang immer 

„Einäuglein, wachst du? 
Einäuglein, schläfst du?" 
Da tat Einäuglein das eine Auge zu 
und schlief ein. Und als Zweiäug- 
sah, dass Einäuglein fest schlief und 
nichts verraten konnte, sprach es 

„Zicklein, meck, 
Tischloin, deck", 
und setzte sich an sein Tischlein 
und ass und trank bis es satt war, 
dann rief es wieder 



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— 134 — 



denn ungeseheuet sprach sie nun 
das goldene Sprüchlein: 

Zicklein meck! 

Tischlein deck! 
ass und trank und war guter Dingo; 
und als sie dessen genug hatte, 
sprach sie wieder: 

Zicklein meck! 
Tischlein weg! 
und Tischlein und Speisen waren 
alshald wieder verschwunden, also 
dass Einäuglein, die unterdessen 
ruhig fortgeschlafen, nicht das ge- 
ringste davon innen worden war. 
Nunmehr aber, da es Kssenszeit und 
Zeit zum Nachhausegehen war, 
weckte Zweiäuglein ihre Schwester 
Einäuglein und ermahnte sie zur 
Heimkehr. 

Ob nun wohl auch heute die 
Mahlzeit von Zweiäuglein fast mit 
dem Rücken angesehen wurde, so 
wusste Einäuglein dennoch der 
Mutter den Grund davon keines- 
wegs anzugehen. 

Nachdem nun die Mutter solcher- 
gestalt immer noch nicht dahinter 
gekommen war, wie wohl Zwei- 
äuglein auf andere Weise sich zu 
ernähren wissen möge, so gab sie 
Zweiäuglein am andern Tage ihre 
älteste Schwester Dreiäuglein mit 
auf die "Weide, vermeinend, dass 
diese, was Einäuglein mit ihrem 
einen Auge nicht zu gewahren im 
Stande gewesen sein möchte, mit 
ihren drei Augen doch wohl in 
Obacht nehmen würde. Aber auch 
diese suchte Zweiäuglein auf die 
nämliche Art, wie sie bereits gestern 
bei Einäuglein gethan, einzuschläfern. 
Allein da sie anstatt 

Dreiäuglein wachst Du? 

Dreiäuglein schläfst. Du? 



„Zicklein, meck, 
Tischlein, weg" 
und es verschwand alles und Zwei- 
äuglein weckte nun das Einäuglein 
und sprach: „Ei, Einäuglein, du 
willst hüten und schläfst dabei ein, 
derweil hätte die Ziege in alle Welt 
laufen können; komm, wir wollen 
nach Haus gehen." Da gingen sie 
nach Haus und Zweiäuglein liess 
wieder sein Schüsselchen unange- 
rührt stehen und Einäuglein konnte 
der Mutter nicht sagen, warum es 
nicht essen wollte und sprach „ich 
war draussen eingeschlafen". 

Am andern Tag sprach die Muttor 
zu Dreiäuglein, diesmal sollst du 
mitgehen und acht haben, ob Zwei- 
äuglein draussen isst, und ob ihm 
jemand Essen und Trinken bringt, 
denn essen und trinken muss es 
doch. Da trat Dreiäuglein zu Zwei- 
äuglein und sprach: „ich will mit- 
gehen und sehen, ob auch die Ziege 
recht gehütet und ins Futter ge- 
trieben wird." Aber Zweiäuglein 
merkte, was Dreiäuglein im Sinne 
halte und trieb die Ziege hinaus ins 
hohe Gras und sprach, „wir wollen 
uns dahin setzen, Dreiäuglein, ich 
will dir was vorsingen." Dreiäug- 
lein setzte sich und war müde von 
dem Weg und der Sonnenhitze, und 
Zweiäuglein hub wieder das vorige 
Liedlein an und sang 

„Dreiäuglein, wachst du?" 
Aber statt dass es nun singen musste 

„Dreiäuglein, schläfst du?" 
sang es aus Unbedachtsamkeit 

„Zweiäuglein, schläfst du?" 
und sang immer 

„Dreiäuglein, wachst du? 
Zweiäugloin, schläfst du?" 

Da fielen dem Dreiäuglein seine 



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— 135 — 



ihr vorzusingen, aus Unbedacht- 
samkeit 

Drei auglein wachst Du? 
Zweiäuglein schläfst Du? 
sang: so war das dritte Auge Drei- 
äugleins, ohne dass Zweiäuglein es 
bemerkte, immerfort wachend ge- 
blieben, ob sie es gleich wie schla- 
fend immer zugeblinzt hatte. 

Dreiäuglein hatte also mit ihrem 
drittem Auge gar wohl in Obacht 
genommen, was Zweiäuglein mittler- 
weilen mit der Ziege vorgenommen, 
und hatte es gar wohl mit angehört, 
wie sie durch das Sprüchlein 

Zicklein meck! 

Tischlein deck! 
sich ein gar herrliches Mahl be- 
reitet und wieder durch das Sprüch- 
lein 

Zicklein meck! 

Tischlein weg! 
solches vor aller Augen verborgen 
hatte; und froh wegen solcher Ent- 
deckung, berichtete nun Dreiäuglein 
bei ihrer Nacbhausekunft solches 
alles haarklein der Mutter. Diese 
aber war hierüber so zornig, dass 
sie sogleich den Untergang jener 
Ziege boschloss und sie auch wirk- 
lich alsbald schlachtete. Hierdurch 
nun ward das gute Zweiäuglein in 
die äusserste Betrübnis versetzt, 
weil sie nun des Mittels wieder be- 
raubt war, sich für allen Mangel 
und Kummer schadlos zu halten. 
Trauernd setzte sie sich einsam auf 
den gewohnten Feldrain und weinte 
bitterlich. Siehe, da stand plötzlich 
jene Fee wieder vor ihr, die ihr 
schon einmal aus der Not geholfen 
und fragte sie mit leutseliger Stimme, 
was ihr immer noch fehle. Da klagte 
ihr Zweiäuglein ihr neues Herzeleid 



zwei Augen zu und schliefen, aber 
das dritte, das von dem Sprüchlein 
nicht angeredet war, schlief nicht 
ein, doch Dreiäuglein tat es zu, aber 
aus List gleich als schlief es auch 
damit: doch blinzelte es und konnte 
alles gar wohl sehen. Und als Zwoi- 
äuglein meinte, Dreiäuglein schlafe 
fest, sagte es sein Sprüchlein 

„Zicklein, meck 
Tischlein, deck", 
ass und trank nach Herzenslust und 
hiess dann das Tischlein wieder 
fortgehen, 

„ Zicklein, meck 
Tischlein, weg", 
und Dreiäuglein hatte alles mit an- 
gesehen. Da kam Zweiäuglein zu 
ihm, weckte es und sprach, „ei Drei- 
äuglein, bist du eingeschlafen? du 
kannst gut hüten! komm wir wollen 
heim gehen." Und als sie nach Hau9 
kam, ass Zweiäuglein wieder nicht, 
und Dreiäuglein sprach zur Mutter 
„ich weiss nun, warum das hoch- 
mütige Ding nicht isst: wenn sie 
draussen zur Ziege spricht: 

„Zicklein, meck, 
Tischlein, deck", 
so steht ein Tischlein vor ihr, das 
ist mit dem besten Essen besetzt, 
viel besser, als wir's hier haben; 
und wenn sie satt ist, so spricht sie 

„Zicklein, meck 
Tischlein, weg", 
und alles ist wieder verschwunden; 
ich hab es genau mit angesehen. 
Zwei Augen hatte sie mir mit einem 
Sprüchlein eingeschläfert, aber das 
eine auf der Stirne, das war zum 
Glück wach geblieben:" Da rief die 
Mutter zornig „willst du's besser 
haben als wir? die Lust soll dir 
vergehen!" Sie holte ein Schlacht- 



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- 136 — 



und fragte sie treuherzig: ob ihr 
nun noch was für ihr Wohl zu thun 
übrig sei? Die Fee aber hatte auch 
diesmal guten Rath für sie und sagte : 
sie solle sich nur die Eingeweide 
von der geschlachteten Ziege geben 
lassen, diese aber an der Hausthüre 
vergraben, daraus würde unfehlbar 
ihr künftiges Glück erwachsen. 

Ob nun wohl diese Zusage dem 
guten Zweiäuglein sehr wundersam 
vorkommen musste, so beschloss sie 
doch dem Rathe jener Fee, zu der 
sie einmal ein unbegrenztes Zu- 
trauen gefasst hatte, zu folgen, ver- 
meinend, dass es doch alles gewiss- 
lich zu ihrem Besten dienen werde. 
Sie begab sich daher alsbald nach 
Hause und bat die Mutter flehentlich, 
dass, wenn man ihr auch sonst an 
der geschlachteten Ziege keinen An- 
teil zu lassen gemeinet sei, man ihr 
doch wenigstens das Eingeweide zu- 
kommen lassen solle; und wirklich 
fand auch die Mutter, nichts Arges 
dabei vermeinend, kein Bedenken, 
sondern erfüllte ihr Begehren. 

Zweiäuglein nun vergrub bei 
Sonnenuntergang in aller Stille das 
vielverheissende Geschenk, hoffend 
und harrend, wann? wie? und was 
für Glück ihr daraus erwachsen 
könne. Und siehe da! kaum war 
am nächsten Morgen die Mutter 
nebst ihren drei Töchtern vom Schlaf 
erwacht, so erblickten sie vor den 
Fenstern einen wunderschönen Baum 
mit silbernen Blättern und goldenen 
Früchten hoch am Hause empor ge- 
wachsen und Zweiäuglein gewahrte 
zu ihrer nicht geringen Freude, wie 
der wunderschöne Baum eben da 
aus der Erde emporgesprossen war, 
wo sie gestern den wunderbaren 



messor und stiess es der Ziege ins 
Herz, dass sie tot hinfiel. 

Als Zweiäuglein das sah, ging es 
voll Trauer hinaus, setzte sich auf 
den Feldrain und weinte seine 
bitteren Tränen. Da stand auf ein- 
mal die weise Frau wieder neben 
ihm und sprach „Zweiäuglein, was 
weinst du?" — „Soll ich nicht 
weinen! 4 antwortete es, „die Ziege, 
die mir jeden Tag, wenn ich Euer 
Sprüchlein hersagte, den Tisch so 
schön deckte, ist von meiner Mutter 
tot gestochen, nun muss ich wieder 
Hunger und Kummer leiden." Die 
weise Frau sprach „Zweiäuglein, ich 
will dir einen guten Rat erteilen, 
bitt deine Schwestern, dass sie dir 
das Eingeweide von der geschlach- 
teten Ziege geben und vergrab es 
vor der Haustür in die Erde, so 
wird's dein Glück sein." Da ver- 
schwand sie und Zweiäuglein ging 
heim und sprach zu den Schwestern : 
„liebe Schwestern, gebt mir doch 
etwas von meiner Ziege, ich ver- 
lange nichts Gutes, gebt mir nur 
das Eingeweide." Da lachten sie 
und sprachen: „das können wir dir 
wohl geben, wenn du weiter nichts 
willst." Und Zweiäuglein nahm das 
Eingeweide und vergrub's abends 
in aller Stille nach dem Rate der 
weisen Frau vor die Haustüre. Am 
andern Morgen, als sie insgesamt 
erwachten und vor die Haustüre 
traten, so stand da ein wunderbarer 
prächtiger Baum, der hatte Blätter 
von Silber und Früchte von Gold 
hingen dazwischen, dass wohl nichts 
schöneres und köstlicheres auf der 
weiten Welt war. Sie wussten aber 
nicht, wie der Baum in der Nacht 
gewachsen war, nur Zweiäuglein 



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— 137 — 



Samen der Erde anvertraut hatte. 
Nun aber stieg gar bald das Ver- 
langen in einer jeden von ihnen auf, 
sich der schönen Früchte und Hlätter 
jenes Baumes teilhaftig zu machen. 
Allein nur vergebens gaben sich 
sowohl die Mutter als Einäuglein 
und Dreiäuglein Mühe, den Wunder- 
baum zu ersteigen, oder etwas davon 
sich abzupflücken; denn ob sie gleich 
mit leichter Mühe bald hinauf waren, 
so entwich gleichwie es dem Tan- 
talus in jener heidnischen Fabel er- 
gieng, doch allemal jede Frucht und 
jeder Zweig ihren Händen, wenn sie 
darnach fassen wollten: und rück- 
lings fielen sie dann nur noch 
schneller hinunter als sie hinauf- 
gestiegen waren. 

Einzig und allein Zweiäuglein, der 
jener Baum zum Eigentum angehörte, 
war so glücklich, sich davon ab- 
pflücken zu können, soviel sie nur 
wollte, denn nur ihr war es ver- 
gönnt, ungefährdet hinauf und hin- 
unter steigen zu können. Darum 
ward sie denn auch von ihren 
Schwestern nicht wenig beneidet 
und verfolgt, und daher kam es denn 
auch, dass, da eben, als sie Alle um 
jenen Baum versammelt standen, 
ein fremder, junger schöner Herr 
herangeritten kam, Zweiäuglein samt 
ihren goldenen Früchten unter ein 
grosses, leeres Fass versteckt wurde, 
denn die übrigen glaubten, dass der 
schöne fremde Ritter sie selbst ganz 
aus der Acht lassen möchte, wenn 
Zweiäuglein, die obendrein schöner 
als sie war, ihnen mit den Wunder- 
früchten zur Seite stände, woran sie 
denn auch wohl nicht unrecht haben 
mochten. 

Kaum war nun der schöne fremde 



merkte es, dass er aus den Einge- 
weiden der Ziege aufgesprosst war, 
denn er stand gerade da, wo sie es 
hinbegraben hatte. Da sprach die 
Mutter zu Einäuglein: „steig hinauf, 
mein Kind, und brich uns die Früchte 
von dem Baume ab. u Einäuglein 
stieg hinauf, aber wie es einen von 
den goldenen Äpfeln greifen wollte, 
da fuhr ihm der Zweig aus den 
Händen; und das geschah jedesmal, 
so dass es keinen einzigen Apfel 
brechen konnte, es mochte sich an- 
stellen, wie es wollte. Da sprach 
die Mutter: „Dreiäuglein, steig du 
hinauf, du kannst mit deinen drei 
Augen besser um dich schauen als 
Einäuglein." Einäuglein rutschte 
herunter und Dreiäuglein stieghinauf. 
Aber Dreiäuglein war nicht ge- 
schickter und mochte schauen wie 
es wollte, die goldenen Äpfel wichen 
immer zurück. Endlich ward die 
Mutter ungeduldig und stieg selbst 
hinauf, konnte aber so wenig wie 
Einäuglein und Dreiäuglein die 
Frucht fassen und griff immer in 
die leere Luft, Da sprach Zweiäug- 
lein: „ich will mich einmal hinauf- 
machen, vielleicht gelingt niir's eher." 
Die Schwestern riefen zwar, „du mit 
deinen zwei Augen, was willst du 
wohl!" Aber Zweiäuglein stieg hinauf, 
und die goldenen Äpfel zogen sich 
nicht vor ihm zurück, sondern liessen 
sich von selbst in seine Hand herab, 
also dass es einen nach dem andern 
abpflücken konnte und ein ganzes 
Schürzchen voll mit herunter brachte. 
Die Mutter nahm sie ihm ab, und 
statt dass sie, Einäuglein und Drei- 
äuglein, dafür das arme Zweiäuglein 
hätten besser behandeln sollen, so 
wurden sie nur neidisch, dass es 



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— 138 - 



Hilter näher gekommen so halte er 
auch schon den wunderroichen Baum 
ins Auge gefasst und begehrete von 
den Mägdleins, das« sie ihm doch 
einen Zweig gehen möchten von dem 
so glänzenden und schönen Baume. 
Solches nun war den beiden Mägd- 
lein sehr erwünscht und sie strengten 
nun eine nach der andern nochmals 
ihre Kräfte auf das schär fste an, um 
dem schönen Baume eine Frucht 
abzugewinnen, die sie dem Fremden 
verehren könnten ; keiner aber mochte 
es, ebensowenig wie bisher, gelingen ; 
und ebenso erging es der Mutter, 
die so gern ihren lieben Töchtern 
auf diesem Baume zu einem Manne 
verholfen hätte. 

Da verwunderte sich der schöne 
fremde Herr nicht wenig, wie Jemand 
Herr des Baumes, nicht aber auch 
zugleich Herr von dessen Früchten 
und Blättern sein könne und meinte, 
es müsse doch notwendig wohl noch 
sonst jemand im Hause sein, dem 
dieser Baum gehöre und der Macht 
über denselben habe; und er fragte 
auch zum öftern, ob sich dieses nicht 
also verhalte? Doch sowohl Mutter 
als Kinder leugneten es standhaft 
und beharrten darauf, dass ausser 
ihnen niemand hier sei und der 
Baum niemand Anderm angehöre, 
als ihnen. 

Über solche Reden aber ärgerte 
sich Zweiäuglein, die das alles unter 
dem Fasse ruhig hatte mit anhören 
müssen, nicht wenig und um den 
Fremden von der l'nwahrheit der- 
selben zu überzeugen, schob sie 
einige der glänzenden, goldenen 
Früchte unter dem Fasso hervor zu 
seinen Füssen. Kaum hatte der 
Fremde dies zu seiner nicht geringen 



allein die Früchte holen konnte und 
gingen noch härter mit ihm um. 

Es trug sich zu, als sie einmal 
beisammen an dem Baum standen, 
dass ein junger Hilter daher kam. 
..Geschwind, Zweiäuglein", riefen 
die zwei Schwestern, „kriech unter, 
dass wir uns deiner nicht schämen 
müssen 44 , und stürzten über das 
arme Zweiäuglein in aller File ein 
leeres Fass, das gerade neben dem 
Baume stand, und schoben die gol- 
denen Apfel, die es abgebrochen 
hatte, auch darunter. Als nun der 
Ritter näher kam, war es ein schöner 
Herr, der hielt still, bewunderte den 
prächtigen Baum von Gold und 
Silber und sprach zu den beiden 
Schwestern, „wem gehört dieser 
schöne Baum? wer mir einen Zweig 
davon gäbe, könnte dafür verlangen, 
was er wollte. 44 Da antworteten Ein- 
äuglein und Dreiäuglein, der Baum 
gehörte ihnen zu, und sio wollten 
ihm einen Zweig wohl abbrechen. 
Sie gaben sich auch beide grosse 
Mühe, aber sie waren es nicht im- 
stande, denn die Zweige und Früchte 
wichen jedesmal vor ihnen zurück. 
Da sprach der Ritter, „das ist ja 
wunderlich, dass der Baum euch 
zugehört und ihr doch nicht Macht 
habt, etwas davon abzubrechen. 44 Sie 
blieben dabei, der Baum wäre ihr 
Eigentum. Indem sie aber so sprachen, 
rollle Zweiäuglein unter dem Fasse 
ein paar goldene Apfel heraus, so 
dass sie zu den Füssen des Ritters 
liefen, denn es war bös, dass Ein- 
äuglein und Dreiäuglein nicht die 
Wahrheit sprachen. Wie der Ritter 
die Äpfel sah, erstaunte er und 
fragte, wo sie herkämen. Einäuglein 
und Dreiäuglein antworteten, sie 



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— 139 — 



Verwunderung' gewahrt, so drang 
er nun auch darauf, das diejenige, 
welche hier notwendig unter jenem 
Fasse verborgen sein müsse, und 
die durch den Besitz der schönen 
goldenen Früchte dargethan habe, 
dass sie Macht über jenen Kaum 
habe, hervorgelassen werden möge. 

Nun aber konnten Mutter und 
Geschwister nicht länger abwehren, 
Zweiäuglein kam getrost unter dem 
Fasse hervor, verhoffend, dass der 
Fremde sie gegen alle und jede 
Feindseligkeit derlhrigen beschützen 
würde. Sie sagto es demnach frei 
heraus, dass der wunderreiche Baum 
mit den schönen Früchten Niemand 
andern angehöre, denn ihr allein, 
stieg zum Beweis dessen behend 
und ungehindert hinauf, brach den 
allerschönsten Zweig mit den glän- 
zendsten Früchten davon ab und 
verehrte solchen gar bescheidentlich 
dem schönen fremden Herrn. 

Dieser nun, nicht wenig erfreut 
darüber, seines Wunsches teilhaftig 
geworden zu sein, fragte Zweiäuglein 
freundlichst, wie er sie wohl für 
solche Gefälligkeit belohnen könne? 
Sie aber bat ihn flehentlich, dass er 
sich ihrer möge annehmen, und sie 
erlösen aus dem mütterlichen Hause, 
wo man ihr so lieblos begegne. Dies 
versprach der Fremde, — die Mutter 
und Schwestern aber mochten es 
gar gerne und gar uugerne mit an- 
sehen, wie der schöne, junge Ritter 
Zweiäuglein sich auf sein Rösslein 
nahm und munter mit ihr davon 
trabte. Denn so sehr es sie auch 
ergötzte, des ihnen verhassten Zwei- 
äugleins nunmehr entübriget zu sein, 
eben so sehr beneideten sie dasselbe 
dennoch um die guten Tage, die ihm 



hätten noch eine Schwester, die dürfe 
sich aber nicht sehen lassen, weil 
sie nur zwei Augen hätte, wie andere 
gemoine Menschen. Der Kitter aber 
verlangle sie zu sehen und rief 
„Zweiäuglein, komm hervor". Da 
kam Zweiäuglein ganz getrost unter 
dorn Fass hervor, und der Ritter 
war verwundert über seine grosse 
Schönheit und sprach: „Du, Zwei- 
äuglein, kannst mir gewiss einen 
Zweig von dem Kaum abbrechen." 
— „Ja", antwortete Zweiäuglein, „das 
will ich wohl können, denn der Kaum 
gehört mir." Und stieg hinauf und 
brach mit leichter Mühe einen Zweig 
mit feinen silbernen Blättern und 
goldenen Früchten ab, und reichte 
ihn dem Ritter hin. Da sprach der 
Ritter: „Zweiäuglein, was soll ich 
dir dafür geben?" „Ach", antwortete 
Zweiäuglein, „ich leide Hunger und 
Durst, Kummer und Not vom frühen 
Morgen bis zum späten Abend : wenn 
Ihr mich mitnehmen und erlösen 
wollt, so wäre ich glücklich." 



Da hob der Ritler das Zweiäuglein auf 
sein Pferd und brachte es heim auf 
sein väterliches Schloss: dort gab 
er ihm schöne Kleider, Essen und 
Trinken nach Herzenslust, und weil 
er es so lieb hatte, liess er sich mit 
ihm einsegnen, und ward die Hoch- 
zeit in grosser Freude gehalten. 



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— 140 — 



nun bei dem schönen fremden Herrn, 
mit dem eine jede von ihnen gar 
gern bis ans Ende der Welt geritten 
wäre, zu Theil werden würden. 

Zu ihrem Tröste war ihnen jedoch 
der wunderreiche Baum mit seinen 
schönen Früchten geblieben, der 
ihnen, wenn auch nicht seine Früchte, 
doch aber grossen Ruhm gewähren 
könnte. Wie sehr aber trauerten 
sie, als der schöne Baum samt seinen 
Früchten am nächsten Morgen vor 
ihren Augen verschwunden war; 
doch, wie sehr freuete sich Zwei- 
äuglein in ihrem schönausgezierten, 
hochadlichen Kämmerlein, als eben 
jener Baum samt seinen schönen 
Früchten am nächsten Morgen vor 
ihrem Fenster prangte: denn ihr, 
der er einzig und allein angehörte, 
war er nachgefolgt. 

Ob solcher schönen Mitgift schätzte 
nun der junge Ritter Zweiäuglein 
noch einmal so hoch, verhielt sie 
überaus gut im Essen und Trinken, 
gab ihr die allorschönsten Kleider 
und Hess sie unterweisen in allen 
Künsten ihres Geschlechts und reichte 
ihr endlich aus übergrosser Liebe 
am Traualtare seine Hand. 

Als Gemahlin dieses schönen 
Ritters lebte Zweiäuglein nur noch 
glücklicher, und es machte ihr nichts 
grössere Freude als von dem, was 
ihr so reichlich zugeteilt war, mit- 
teilen zu können denen, die nichts 
hatten. 

Schon lange Jahre waren ihr so 
vergangen, als auch einstmals zwei 
Frauen ihre bekannte Güte und 
Leutseligkeit ansprachen, weil sie 
vor Armut verderben zu müssen er- 
achteten. Zweiäuglein, die nunmehr 
reiche Edelfrau, erkannte alsbald in 



Wie nun Zweiäuglein so von dem 
schönen Rittersmann fortgeführt 
wurde, da waren die zwei Schwestern 
recht neidisch über sein Glück. 
„Nun, der wunderbare Baum bleibt 
uns", dachten sie, „können wir auch 
keine Früchte davon brechen, so 
wird doch jedermann davor stehen 
bleiben, zu uns kommen und ihn 
rühmen; wer weiss, was uns noch 
für ein Glück blüht." Aber am 
andern Morgen war ihr Baum ver- 
schwunden und ihre Hoffnung dahin. 
Und wie Zweiäuglein zu seinem 
Kämmerlein hinaussah, so stand er 
zu seiner grossen Freude davor und 
war ihm also nachgegangen. 



Zweiäuglein lebte lange Zeit ver- 
gnügt; da kamen einmal zwei arme 
Frauen zu ihm auf das Schloss und 
baten um ein Almosen. 
Da sah ihnen Zweiäuglein ins Gesicht 
und erkannte ihre Schwestern Ein- 



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— 141 — 



ihnen ihre beiden Schwestern, be- 
schloss aber bei sich. Roses mit 
Gutem zu vergellen, und überhäufle 
daher dio beiden Frauen, die es 
nicht ahndeten, wer ihnen solches 
zu Liebe thät, mit Wohlthalen und 
Geschenken und behielt und ver- 
pflegte sie bei sich auf zeitlebens. 
Jene aber, als sie endlich dahinter 
kamen, und das gute Herz sich ihnen 
offenbarte, bereueten es sehr, sie in 
ihrer .Jugend, da sie noch bei und 
unter ihnen war, so gedrückt zu 
haben, und baten es ihr alles ab. 
was sie ihr ohne Schuld und Ursache 
ehedem angethan hatten. 

Grimm, 1. Auflage. 

Der Jud' im Dorn. 

Ein Rauer hatte einen gar getreuen 
und fleissigen Knecht, der diente 
ihm schon drei Jahre, ohne dass er 
ihm seinen Lohn bezahlt halte. Da 
fiel es ihm endlieh bei, dass er doch 
nicht ganz umsonst arbeiten wollte, 
ging vor seinen Herrn und sprach: 
„ich habe euch unverdrossen und 
redlich gedient die lange Zeit, darum 
so vertraue ich zu euch, dass ihr 
mir nun geben wollt, was mir von 
Gottes Recht gebührt." Der Rauer 
aber war ein Filz und wusste, dass 
der Knecht ein einfältiges Gemüt 
hatte, nahm drei Pfennige und gab 
sie ihm, für jedes Jahr einen Pfennig, 
damit wäre er bezahlt. Und der 
Knecht meinte ein grosses Gut in 
Händen zu haben, dachte: „was 
willst du dir's länger sauer werden 
lassen, du kannst dich nun pflegen 
und in der Welt frei lustig machen." 
Stockte sein grosses Geld in den 
Sack und wanderte fröhlich über 
Rerg und Thal. 



äuglein und Dreiäuglein, die so in 
Armut geraten waren, dass sie umher- 
ziehen und vor den Türen ihr Rrot 
suchen mussten. Zweiäuglein aber 
hiess sie willkommen und tat ihnen 
Gutes und pflegte sie, also dass die 
beiden von Herzen bereuten, was 
sie ihrer Schwester in der Jugend 
Rösch angetan hatten. 



3. Auflage. 

Der Jude im Dorn. 

Ks war einmal ein reicher Mann, 
der hatte einen Knecht, der diento 
ihm fleissig und redlich, war alle 
Morgen der erste aus dem Rett und 
Abends der letzte hinein, und wenns 
eine saure Arbeit gab, wo keiner 
anpacken wollte, so stellte er sich 
immer zuerst daran. Dabei klagte 
er nicht, sondern war mit allem zu- 
frieden und immer guter Dinge. 
Als sein Jahr herum war, gab ihm 
der Hen* keinen Lohn und dachte: 
„das ist das gescheitste, so spare ich 
etwas und er geht nicht weg, son- 
dern bleibt hübsch im Dienst." Der 
Knecht schwieg auch still, that das 
zweite Jahr wie das erste seine Ar- 
beit, und als er am Ende desselben 
abermals keinen Lohn bekam, Hess 
er sichs gefaUen und blieb noch 
länger. Als endlich das dritte Jahr 
herum war, bedachte sich der Herr, 
griff in die Tasche, holte aber nichts 
heraus. Da ring der Knecht endlich 
an und sprach: „Herr, ich habe Euch 



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— 142 — 



Wie er auf ein Feld kam singend 
und springend, erschien ihm ein 
kleines Männlein, das fragte ihn 
seiner Lustigkeit wegen? „Ei, was 
sollt' ich trauren, gesund bin ich, 
und Geldes hab' ich grausam viel, 
brauche nichts zu sorgen; was ich 
in drei Jahren bei meinem Herrn 
verdient, das hab ich gespart und 
ist all' mein." „Wie viel ist denn 
deines Guts?" sprach das Männlein. 
„Drei ganzer Pfennig", sagto der 
Knecht. „Schenk' mir deine drei 
Pfennige, ich bin ein armer Mann." 
Der Knecht war aber gutmütig, er- 
barmlo sich und gab sie hin. Sprach 
der Mann: „weil du reines Herzens 
bist, sollen dir drei Wünsche er- 
laubt seyn, für jeden Pfennig einer, 
so hast du was dein Sinn begehrt." 
Das war der Knecht wohl zufrieden, 
dachte, Sachen sind mir lieber als 
Geld und sprach: „erstens wünsche 
ich mir ein Vogelrohr, das alles 
trifft, was ich ziele, zweitens eine 
Fiedel, wenn ich die streiche, muss 
alles tanzen, was sie hört; drittens, 
worum ich die Leute bitte, dass sie 
es mir nicht abschlagen dürfen." 
Dass Männchen sagte: „alles sey dir 
gewährt", und stellte ihm Fiedel und 
Vogelrohr zu ; darauf ging es seiner 
Wege. 

Mein Knecht aber, war er vorher 
froh gewesen, dünkte er sich jetzt 
noch zehnmal froher und ging nicht 
lange zu, so bogegnote ihm ein alter 
Jude. Da stand ein Baum und oben- 
drauf auf dem höchsten Zweig sass 
eine kleine Lerche und sang und 
sang. „Gotts Wunder, was so ein 
Thierlein kann, hätt' ich's, gäb' viel 
darum." Wenn es weiter nichts ist, 
die soll bald herunter", sagte der 



drei Jahre ehrlich gedient, seid so 
gut und gebt mir, was mir von 
Rechts wegen zukommt; ich wollte 
fort und mich gerne weiter in der 
Welt umsehen." Da antwortete der 
Geizhals: ,ja, mein lieber Knecht, 
du hast mir unverdrossen gedient, 
dafür sollst du mildiglich belohnt 
werden", griff abermals in die Tasche 
und zählte dem Knecht drei Heller 
einzeln auf, „da hast du für jedes 
Jahr einen Heller, das ist ein grosser 
und reichlicher Lohn, wie du ihn 
bei wenigen Herrn empfangen hättest. 
Der gute Knecht, der vom Geld 
wenig verstand, strich sein Kapital 
ein und dachte: „nun hast du vollauf 
in der Tasche, was willst du sorgen 
und dich mit schwerer Arbeit länger 
plagen." 

Da zog er fort, bergauf, bergab, 
sang und sprang nach Herzenslust. 
Nun trug es sich zu, als er an ein 
Buschwerk vorüberkam, dass ein 
kleines Männchen hervortrat und 
ihn anrief: „Wohinaus, BruderLustig? 
ich sehe du trägst nicht schwer an 
deinen Sorgen." „Was soll ich 
traurig sein", antwortete der Knecht, 
ich habe vollauf, der Lohn von drei 
Jahren klingelt in meiner Tasche." 

„Wieviel ist denn deines Schatzes?" 
fragte ihn das Männchen. „Wieviel? 
drei bare Heller richtig gezählt." 
„Hiire", sagte der Zwerg, „ich bin 
ein armer bedürftiger Mann, schenke 
mir deine drei Heller; ich kann 
nichts arboiten, du aber bist jung 
und kannst dir dein Brot leicht ver- 
dienen." Und weil der Knecht ein 
gutes Herz hatte und Mitleid mit 
dem Männchen fühlte, so reichte er 
ihm seine drei Heller und sprach: 
„in Gottes Namen, es wird mir doch 



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— 143 — 



Knecht, setzte sein Rohr an und 
schoss die Lerche auf das Haar, 
dass sie den Baum herahflel, „gehet 
hin und leset sie auf", .sie war aber 
ganz lief in die Dörner unten am 
Baum hineingefallen. Da kroch der 
Jud' in den Busch, und wie er mitten 
drin stack, zog mein Knecht seine 
Fiedel und geigte, llng der Jud' an 
zu tanzen und hatte keine Buh, 
sondern sprang immer stärker und 
höher: der Dorn aher zerstach seine 
Kleider, dass die Fetzen herum 
hingen und ritzte und wundete ihn, 
dass er am ganzen Leihe blutete. 
„Gotls willen, schrie der «Jud', lass 
der Herr sein Geigen seyn, was hah' 
ich verbrochen?" Die Leute hast 
du genug geschunden, dachte der 
lustige Knecht, so geschieht dir kein 
Unrecht, und spielte einen neuen 
Hüpfauf. Da legte sich der Jud' 
auf Bitten und Versprechen und 
wollte ihm Geld geben, wenn er 
aufhörte, allein das (Jehl war dem 
Knecht erst lange nicht genug und 
trieb ihn immer weiter bis der Jud' 
ihm hundert harte Gulden verhiess, 
die er im Beutel führte und eben 
einem Christen abgeprellt hatte. Wie 
mein Knecht das viele Geld sah, 
sprach er: „unter dieser Bedingung 
ja tt , nahm den Beutel und stellte 
sein Fiedeln ein; darauf ging er 
ruhig und vergnügt weiter die 
Strasse. 

Der Jud' riss sich halb nackicht 
und armselig aus dem Dornstrauch, 
üherschlug,wie ersieh rächen möchte 
und fluchte dem Gesellen alles Böse 
nach. Lief endlich zum Richter, 
klagte, dass er von einem Bösewicht 
unverschuldeterweise seines Geldes 
beraubt und noch dazu zerschlagen 



nicht fehlen." Da sprach das Männ- 
chen: „weil ich dein gutes Herz sehe, 
so gewähre ich dir drei Wünsche, 
für jeden Heller einen, die sollon 
dir in Erfüllung gehen. „Aha'-, 
sprach der Knecht, „du bist einer, 
der blau pfeifen kann. Wohlan, 
wenn's doch sein soll, so wünsche 
ich mir erstlich ein Vogelrohr, das 
alles trifft, wonach ich ziele; zweitens 
eine Fidel, wenn ich darauf streiche, 
so rauss alles tanzen, was den Klang 
hört, und drittens, wenn ich an 
jemand eine Bitte thue, so darf er 
sio nicht abschlagen 44 ,.Das sollst 
du alles haben", sprach das Männ- 
chen, griff in den Busch, und, denk 
einer, da lag schon Fidel und Vogel - 
rohr in Bereitschaft, als wenn sie 
bestellt wären. Er gab sie dem 
Knecht und sprach: „Was du dir 
immer erbitten wirst, kein Mensch 
auf der Welt soll dir's abschlagen." 

„Herz, was begehrst du nun?" 
sprach der Knecht zu sich selber 
und zog lustig weiter. Bald darauf 
begegnete er einem Juden mit einem 
langen Ziegenbart, der stand und 
horchte auf den Gesang eines Vogels, 
der hoch oben in der Spitze eines 
Baumes sass. „Gottes Wunder!" 
rief er aus, „so ein kleines Tier hat 
so eine grausam mächtige Stimme! 
wenn's doch mein wäre! wer ihm 
doch Salz auf den Schwanz streuen 
könnte!" „Wenu's weiter nichts ist", 
sprach der Knecht, „der Vogel soll 
bald herunter sein", legte an und 
traf aufs Haar und der Vogel fiel 
herab in die Dornhecken. 

„Geh*, Spitzhuh", sagte er zum Ju- 
den, „und hol dir den Vogel heraus." 
„Mein", sprach der Jude, „lass der 
Horr den Bub weg, so kommt ein 



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— 144 - 



wäre, dass os erbarmte, und der 
Kerl, der es gothan hätte, trüge ein 
Rohr auf dem Buckel und eine Goige 
hinge an seinem Hals. Da sandto 
der Richter Boten und Häscher aus, 
die sollten den Knecht fahen, wo sie 
ihn könnten sehen, der wurde bald 
ertappt und vor Gericht gestellt. Da 
klagte der Jud\ dass er ihm das 
Geld geraubt hätte, der Knecht sagte: 
„nein, gegeben hast du mir's, weil 
ich dir aufgospielt habe". Aber der 
Richter machte das Ding kurz und 
verurtheilte meinen Knecht zum Tod 
am Galgen. Schon stand er auf der 
Leitersprosse, den Strick am Hals, 
da sprach er: „Herr Richter, gewährt 
mir eine letzte Bitte!" „Wofern du 
nicht dein Leben bittost, soll sie ge- 
währt seyn." „Nein, um mein Leben 
ist's nicht, lasst mich noch eins auf 
meiner Geige geigen zu guter Letzt." 
Da schrie der Jud' : „Bewahre Gott ! 
erlaubt's ihm nicht! erlaubt's ihm 
nicht!" Allein das Gericht sagte: 
einmal ist es ihm zugestanden, und 
dabei solls bewenden, auch durften 
sie's ihm nicht weigern, weil er die 
Gabe hatte, dass ihm keiner die Bitte 
abschlug. Da schrie der Jud': „Bindet 
mich fest, um Gotteswillen!" Mein 
Knecht aber fasste seine Fiedel und 
that einen Strich, da wankte alles 
und bewegte sich, Richter, Schreiber 
und Schergen, und den Jud' konnte 
keinerbinden,underthat den zweUen 
Strich, da Hess ihn der Henker los 
und tanzte selber und wie er nun 
ordentlich ins Geigen kam, tanzte 
alles zusammen, Gericht und der 
Jude vornen und alle Leute auf dem 
Markt, die da wollten zuschauen. 
Und anfangs ging's lustig, weil aber 
das Geigen und Tanzen kein Ende 



Hund gelaufen; ich will mir den 
Vogel auflesen, weil Ihr ihn doch 
einmal getroffen habt", legte sich 
auf die Erdo, und fing an sich in 
den Busch hinein zu arbeiten. Wie 
er nun mitten in dem Dorn steckte, 
plagte der Mutwill« den guten 
Knecht, dass er seine Fidel abnahm 
und anfing zu geigen. Gleich fing 
auch der Jude an die Beine zu heben 
und in die Höhe zu springen: und 
je mehr der Knecht strich, desto 
besser ging der Tanz. Aber dio 
Dörner zerrissen ihm den schäbigen 
Rock, kämmten ihm den Ziegenbart 
und stachon und zwickten ihn am 
ganzen Leib. „Mein", rief der Jude, 
„was soll mir das Geigen! lass der 
Herr das Geigen, ich begehre nicht 
zu tanzen." Aber der Knecht hörte 
nicht darauf und dachte, „du hast 
dio Leute genug geschunden, nun 
soll dir's die Dornhecke nicht besser 
machen", und fing von neuem an, 
zu geigen, dass der Jude immer 
höher aufspringen musste und die 
Fetzen von seinem Rock an den 
Stacheln hängen blieben. „Au weih 
geschrien!" rief der Jude, „geb ich 
doch dem Herrn, was er verlangt, 
wenn er nur das Geigen lässt, einen 
ganzon Beutel mit Gold. „Wenn du 
so spendabel bist", sprach der 
Knecht, „so will ich wohl mit meiner 
Musik aufhören, aber das muss ich 
dir nachrühmen, du machst deinen 
Tanz mit, dass es eine Art hat"; 
nahm darauf den Beutel und ging 
seiner Wege. 

Der .Jude blieb stehen und sah 
ihm nach und war still, bis der 
Knecht weit weg und ihm ganz aus 
den Augen war, dann schrie er aus 
Leibeskräften, „du miserabler Musi- 



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— 145 



kant, du Bierfledler: wart, wenn ich 
dich allein erwische! ich will dich 
jagen, dass du die Schuhsohlen ver 
Heren sollst! du Lump, steck einen 
Groschen ins Maul, dass du sechs 
Heller wert bist", und schimpfte 
weiter, was er nur losbringen konnte. 
Und als er sich damit etwas zu 
Gute gethan und Luft gemacht hatte, 
lief er in die Stadt zum Richter. 
„Herr Richter, au weih geschrien, 
ich bin auf offener Landstrasse be- 
raubt und übel zugerichtet worden 
von einem gottlosen Menschen: ein 
Stein auf dem Erdboden möchte sich 
erbarmen: die Kleider zerfetzt, der 
Leib zerstochen und zerkratzt, das 
Geld samt den Beutel genommen! 
lauter Dukaten, ein Stück schöner als das andere: um Gotteswillen, lasst 
den Menschen ins Gefängnis werfen." Sprach der Richter: „War's ein 
Soldat, der dich mit seinem Säbel so zugerichtet hat?" — „Gott bewahr!" 
sagte der Jude, „einen nackten Degen hat er nicht gehabt, aber ein Rohr 
hat er gehabt auf dem Buckel hangen und eine Geige am Hals, daran ist 
er leicht zu erkennen." Der Richter schickte seine Leute nach ihm aus, 
die fanden den guten Knecht, der ganz langsam weiter gezogen war, und 
fanden auch den Beutel mit Gold bei ihm. Als er vor Gericht gestellt 
wurde, sagte er: „Ich habe den Juden nicht angerührt und ihm das Geld 
niehl genommen, er hat mir's aus freien Stücken angeboten, damit ich nur 
aufhörte zu geigen, weil er meine Musik nicht vertragen konnte." „Gott 
bewahr!" schrie der Jude, „der greift die Lügen wie Fliegen an der Wand." 
Aber der Richter glaubte os auch nicht und sprach: „Das ist eine schlechte 
Entschuldigung, das thut kein Jude", und verurteilte den guten Knecht, 
weil er auf offener Strasse einen Raub begangen hätte, zum Galgen. Als 
er aber abgeführt ward, schrie ihm noch der .Jude zu: „Du Bärenhäuter, 
du Hundemusikant, jetzt kriegst du deinen wohlverdienten Lohn." Der 
Knecht stieg ganz ruhig mit dem Henker die Leiter hinauf, auf der letzten 
Sprosse aber drehte er sich um und sprach zum Richter: „Gewährt mir 
noch eine Bitte, ehe ich sterbe." „Ja", sprach der Richter, „wenn du nicht 
um dein Leben bittest?" „Nicht ums Leben", antwortete der Knecht, „ich 
bitte, lasst mich zu guter Letzt noch einmal auf meiner Geige spielen." 
Der Jude erhob ein Zetergeschrei: „Um Gotteswillen, erlaubt's nicht, er- 
laubt's nicht." Allein der Richter sprach: „Warum soll ich ihm die kurzo 
Freude nicht gönnen, es ist ihm zugestanden, und dabei soll es sein Be- 
wenden haben." Auch konnte er es ihm nicht abschlagen, wegen der 
Palaestra XLVIL 10 



nahm, so schrien sie jämmerlich und 
baten ihn abzulassen, aber er that's 
nicht eher, bis ihm der Richter das 
Leben nicht nur schenkte, sondern 
auch versprach, die hundert Gulden 
zu lassen. Und erst noch rief er 
dem Juden zu: „Spitzbub' gesteh', 
wo du das Geld her hast, sonst hör 
ich dir nicht auf zu spielen." „Ich 
hab's gestohlen, ich hab's gestohlen, 
und du hattest es ehrlich verdient", 
schrie der Jude, dass es alle hörten. 
Da Hess mein Knecht die Geige 
ruhen und der Schuft wurde für 
ihn am Galgen gehängt. 



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— 146 — 



Gabe, die dem Knecht verliehen war. Der Jude aber rief: .,Au weih! an 
weih! bindet mich an, bindet mich fest!" Da nahm der gute Knecht seine 
Geige vom Hals, legte sie zurecht und wie er den ersten Strich that, fing 
alles an zu wabern und zu wanken, der Richter, die Schreiber und die 
Gerichtsdiener, und dem, welcher den Juden festbinden wollte, fiel der 
Strick aus der Hand; beim zweiten Strich hoben alle die Beine, und der 
Henker Hess den guten Knecht los und machte sich zum Tanze fertig; 
bei dem dritten Strich sprang alles in die Höhe und fing an zu tanzen, 
und der Richter und der Jude waren vorn und sprangen am besten. Bald 
tanzte alles mit, was auf den Markt aus Neugierde herbeigekommen war, 
alte und junge, dicke und magere Leute untereinander; sogar die Hunde, 
die mitgelaufen waren, setzten sich auf die Hinterfüsse und hüpften mit. 
Und je länger er spielte, desto höher sprangen die Tänzer, dass sie sich 
einander an die Köpfe stiessen und anfingen jämmerlich zu schreien. 
Endlich rief der Richter ganz ausser Atem: „Ich schenke dir dein Leben, 
höre nur auf zu geigen." Der gute Knecht Hess sich bewegen, setzte die 
Geige ab, hing sie wieder um den Hals und stieg die Leiter herab. Da 
trat er zu dem Juden, der auf der Erde lag und nach Atem schnappte, 
und sagte: „Spitzbube, jetzt gestehe, wo du das Geld her hast, oder ich 
nehme meine Geige vom Hals und fange wieder an zu spielen." „Ich hab's 
gestohlen, ich hab's gestohlen", schrie er, „du aber hast's redlich verdient." 
Da liess der Richter den Juden zum Galgen führen und als einen Dieb 
aufhängen. 



Zu S. 37. Endlich seien noch \V. Grimms auch Musäus gegenüber 
bedeutsame Worte aus der Vorrede zu den „Altdänischen Heldenliedern", 
1811 S. XXVI angeführt: 

„In den Märchen ist eine Zauberwelt aufgelan, die auch bei uns 
steht, in heimlichen "Wäldern, im tiefen Meere, und den Kindern noch ge- 
zeigt wird. Häufig kommt es vor, dass eine Mutter unwissend oder aus 
Not ihr Kind verkauft hat an ein Ungeheuer, wie hier die Königin an 
einen wilden Nachtraben, das es wegträgt, oder dessen Zauber dadurch 
gelöst wird oder auch, dass der Bruder die verlorene Schwester aufsucht 
und in Meeresgrund findet, wo sie ein wilder Zauberer in einem Wasser- 
schloss hält, der das Menschenfleisch wittert, und vor dessen Wut ihn die 
Schwester schützt, bis sie endlich erlöst werden. Hier muss man zuletzt 
nüt dem armen Rosiner [No. 49J, der seine Frau selbst auf dem Rücken 
unwissend aus dem Aleer tragt, und wie er sie unten nicht mehr findet, 



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— 147 — 



vor Leid ein Stein wird, Mitleid haben.*) Diese Märchen verdienen eint' 
bessere Aufmerksamkeit, als man ihnen bisher geschenkt, nicht nur ihrer 
Dichtung wegen, die eine eigene Lieblichkeit hat, und die einem jeden, 
der sie in der Kindheit angehört, eine goldene Lehre und eine heitere 
Erinnerung daran durchs ganze Leben mit auf den Weg gibt; sondern 
auch, weil sie zu unsrer Nationalpoesie gehören, indem sich nachweisen 
lässt, dass sie schon mehrere Jahrhunderte durch unter dem Volk gelebt." 



•) „Auch Musäus hat dieses Märchen bearbeitet, aber in seiner Manier, 
nicht einfach und gerad, wie wir es noch lieber hören: Kinder, nicht 
anders." 



Druck von Carl Salewski In Berlin N. 



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PALAESTRA. W 



Untersuchungen und Texte aus der deutsehen 
und englischen Philologie. 

t t 

Herausgegeben 

von 

Alois Brandl, Gustav Roethe und Erich Schmidt. 

XLVU. 

Die literarischen Vorlagen der Kinder- und Hausmärchen 
und ihre Bearbeitung durch die Brüder Grimm. 

Von Hermann Hamann. 



BERLIN. 
MAYER X- MÜLLER. 

1906 



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Die Palaestra soll in einer freien Folge von Bänden eine Samm- 
lung bilden, in welche Arbeiten aus den Seminaren der Herren Proff. 
Drr. Alois Brandl, Gustav Roethe und Erich Schmidt und 
auch andere wissenschaftliche Arbeiten aus den Gebieten der 
deutschen und englischen Philologie aufgenommen werden, welche 
von den Herren Herausgebern ihrer wissenschaftlichen Bedeutung 
wegen hierzu empfohlen werden. 

Erschienen sind: 

1. THE GAST OF OY. Eine englische Dichtung des 14. Jahrhunderts nebst ihrer latei- 
nischen Quelle De Spiritu Guldonis herausgegeben von Prof. Dr. G. Schleich. M. 8.— 

2. Geliert* Lustspiele. Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Lustspiels von 
Dr. J. Coym. M. 2,40 

3. liuraermanns Merlin von Dr. Kurt Jahn. M. 'S — 

4. Neue Beitrüge zur Kenntnis (Ick Yolbsriitsels von Dr. Robert Petsch. M. 3,60 

5. Über die altgermaniscben relativsätze von 0 ustav Necke 1. M. 2,80 

6. Die altengl. Bearbeitung d. Krzählung von spollonlus v. Tyrus v. Dr. B. Mar kisch. M. 1,60 

7. Ueber die mitteleui:l.l ebersetznng des Speculum huinauae salrationis v. Dr. 0. Br ix. M. :!,6ti 

8. Studien z. Geschichte d. llcbbelachcn Drama« von Th. Poppe. M. 3.5» 

9. Leber die Namen des norditumbrisehen Uber Vitae von Dr. Rud. Müller. M. 5,5" 

1Ü. ttichard the Third np to Khnkespeare. By G. B. Churchill. M. in,— 

11. Die (iautrekssaira von W. Ranisch. M. 5,50 

12. Joseph Gorrea als Herausgeber, Literaturhistoriker, Kritiker v. Franz Schultz. M. 7,— 

13. Die Mi Tu uli in' des Don IfuUote in die enul. Literatnr. Von (i. Becker. M. 7,— 

14. Wortkritik und Sprachbereicherung in Adelungs Wörterbuch. Ein Beitrag zur Geschichte 
der nhd. Schriftsprache Von Dr. Max Müller. M. 2.60 

15. Ysuinbras. Eine englische Romanze des 14. Jahrhunderts herausgegeben von Prof. Dr. 
G. Schleich. M. 4,— 

16. Conrad Ferdinand Meyer. Quellen u. Wandlungen seiner Gedichte v. Dr. Kraegcr. M. 10,— 

17. Die lustige Person im älteren englischen Drama (bis 1044) von Dr. Eduard 
Eckhardt. M. 15,— 

18. The Gontlo Uralt. By Thomas Deloney. Edited with notes and introduetion by .Alexis 

F. Lange. IL S — 

20. Quellenstudien zu Robert Bums. 1773- 17111, Von Ott" Rittor. M. 7 y Vj 

21. Hainaes Stellung zur bildenden Kunst uurt ihrer Aeslhctik. Zugleich ein Beitrag zur 
Quellenkunde d Ardinghello Von K. D. Jessen. • M. 7,— 

22. Von Percy zum Wunderhorn von Heinrich Lohre. M. 4.— 

23. The Con»tance Saga. By A. B. Cough. M 2,50 
'.'4. Blut- und Wundsegen in ihrer Entwickelung von Oskar Eber mann. M 4.80 
25. Der groteske und hyperbolische Stil des mhd. Volksepos. Von Leo Wolf. M. 4,5m 
26 Zur Kunstauachaunng des Will. Jahrhonderts. Von Winckelmann bis zu Win ken- 

roder. Von Helene Stock er. M. 3.6o 

27. Eulcnsplegel in England. Von Friedrich Brie. M. 4.SO 

29. Die Rednickten enir) Ischen Liederbücher bis IHHfl. Mit Abdruck aller Texte aus den 
bisher noch nicht neugediuckteu Liederbüchern und der zeitgenössischen Über- 
tragungen. Von Wilh. Bolle. HL 11,50 

30. l'ntersucliungen Uber die mhd. Dichtung vom Grafen Itudolf. Vou J. Both m an n. M. 5, — 

31. Daa Vernum ohne pronominales Subjekt in der älteren deutschen Sprache. Von Karl 
Held. M. 5,— 

32. Schiller und die Bühne. Von Jul. Petersen. M. n,— 

33. t'aesar in der deutschen Literatur. Von F. Gundelfingen M. 3,6« » 

34. über Surrey'a Vlrpilubersetzunir. nebst Neuausgabe des 4 Ruches nach Toltel's Original- 
druck u der Hs. Hargrave. Von Otto Fest. M. 3,6u 

3'». The Story or King Lear from GeotTrey of Monmouth to Shakespeare by Wilfrid 

Perreit. 9.— 

36. Thomas Deloney. Von Richard Sie vers. IL 6.6" » 

öS. Grobianua in England. Von E. Hühl. M 7.60 

39. Die Sage von Macbeth bis zu Shakspere. Von Emst Kröger. M. 7,60 

40. Dorothea Schle« 1 als Schriftstellerin im Zusammenhang mit der romantischen Schule. 

Von F r a n z 1) <• i b e l. M. 5,60 

41. liettina von Arnima Briefromane. Von Waldemar Oenlke. 31. 10,— 
47. Die Hterar. Vorlagen d. Kinder, n. Hausmärchen u. ihre Bearbeitung durch die Brüder 

Grimm. Von II. Hamann. M. 4.50 

49. Lautlehre der älteren Lnjamonhandschrifr. Von Paul Lucht, M. 4 

50. Oldcastle — Falstaft* in d. engl. Literatur bis zu Shakespeare. Von W. Baeske. V. 3,«o 
53. Sir Lglamour. Eine engl. Romanze des 14. Jahrhunderts. Herausgegeben v. Prof. Dr. 

G. Schleich. M. 4.50 

Berlin. Mayer & Müller, 

Vorhigsbucli Handlung-. 

» 

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Verlag von Mayer & Müller in Berlin. 



Acta Germanica. Organ für deutsche. Philologie. Jeder Band Mk. 12.—. 
Böhm, Jon., Die dramatischen Theorien Pierre Corneille*. 1901. Mk.4,— . 
BÖkeninnn, W., Französischer Euphemismus. 1004. Mk. 4,- . 

Dame», G., Roger Boyles „Henry V 4 . 1904. Mk. 1,80. 

Drechsler, W'., Der Stil des Macnhersonschen Ossian. 1904. Mk. 1,50. 
Euglaender, D., Lord Byron, hine Studie. 1897. Mk. 2,—. 

Fink, P., Das Weib im französischen Volksliede. 1904. Mk. 2,80. 
tilasenapp, G., Zur Vorgeschichte der Allegorie in Spensers „Faerie 
Queen". 1904. Mk. l,2v. 

Horovitz, J., Spuren griechischer Mimen im Orient. 1905. Mk. 2,40. 
Jacob, Georg, Türkische Volkslitteratur. 1901. Mk. 1,50. 

— Das Schattenspiel in seiner Wanderung vom Morgenland zum 
Abendland. M. color. Tafel. 1901. Mk. 1,60. 

— östliche Knlturelemente im Abendland. 1902. Mk. 1.20. 

— Türkis'-he Bibliothek. Band I. Vorträge türkischer Meddahs 
(mimischer Erzählungskünstler). Zum ersten Male ins Deutsche 
übertragen. 1901. Mk 3.00. 

— — Band 11. Mohmed Tevfiq, Hin Jahr in Konstantinopel. Erster 
Monat: Tandyr baschy. Jns Deutsche übertragen u. erläutert 
von Th. Menzel. 1905. Mk. 1,80. 

Jahn, l'.. Volkssagen aus Pommern und Bügen. 2. Aull 1889. Mk. 6,—. 
Lauriln, K. S., Versuch einer Stellungsnahme zu den Hauptfragen 

der Kunstphilosophie. 1903. Mk. 5,—. 

Lehmann-Filhes, M.. Isländische Volkssagen. Aus der Sammlung 

von Jon Arnason ausgewählt und übersetzt. 1880. Mk. 3.(50. 

— Isländische Volkssagen. Neue Folge. 1891. Mk. 4,— . 

— Proben Isländischer Lyrik, verdeutscht. 1894. Mk. 1.20. 
Ludwig, A., Lope de Vegas Dramen aus dem Karolingischen Sagen- 
kreise. 1898. Mk. :u>o. 

Mannt/, A. v.. Heraldik in Diensten der Shakespeare - Forschung. 

1903. Mk. 8.—. 

Meyer, Elard Hugo. Völuspa. Eine Untersuchung. 1889. Mk. 0.50. 

— Germanische Mythologie. 1801. Mk. 5,—. Geb. Mk. 5.80. 
Meyerfeld, M.. Robert Bums. Studien zu seiner dichterischen Ent- 
wicklung. 1899. Mk. 3,—. 

— Von Sprach' u. Art der Deutschen u. Engländer. 1903. Mk. 1.50. 
Michael, 0.. Der Stil in Thomas Kyds Originaldramen. 1905. M. 2.—. 
Pletschcr, Th., Die Märchen Charles Perrault's. Eine literarhistorische 

und literaturvergleichende Studie. 1900. Mk. 1,80 

Römer, A., Heiteres u. Weiteres von Fritz Keuter. Mit Beiträgen zur 
plattdeutschen Literatur. 1905. M.4,— . In Leinenband M. 4.80. 

Snadis politische Gedichte, übersetzt von Friedrich Rückert. Aut 
Grund des Nachlasses herausgegeben und mit Einleitung ver- 
sehen von E. A. Bayer. 1S94. Mk. 3,t5u 

Sander, G H., Das Moment der letzten Spannung in der englischen 
Tragödie bis zu Shakespeare. 1902. Mk. l,6o. 

Sarrazin, l)r. G.. Beowulf-Studien. 1888. Mk. 5,—. 

Saude, F., Die Grundlagen der literarischen Kritik bei Joseph 
Addison. 1900. Mk. 1,60. 

Schreckhas, R.. Über Entstehungszeit u. Verfasser des „Titus An- 
d •Miicus". 190Ö. Mk. 1,00. 

Sherzer, Jane B.. The Ile of Ladies, hersg. nach einer Hs. des Marquis 
v. Bath. 1903. Mk. 3.—. 

Swcaringcn, G.F.. Die engl. Schriftsprache beH'overdale. 1901. Mk.1,20. 

Thümen, F.. Die Iphigeniensage in antikem und modernem Gewände. 
Zweite Auflage. 1895. Mk. 1,— . 

Hugo vou Trimberg, Der Renner. Ein Gedicht aus dem 13. Jahr- 
hundert. 1904. Facsimile-Druck der Ausgabe v. 1833. Mk. 20,—. 

Die YoUnngasaga. Nach Bugges Text mit Einleitung und Glos*ar 
herausgegeben von Wilhelm Ranisch. 1891. Mk. 3.00. 



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PALAESTRA XLVH. 



Die literarischen Vorlagen der Kinder- 
und Hausmärchen und ihre Bearbeitung 
durch die Brüder Grimm. 



Von 



Dr. Hermann Hamann. 



BERLIN. 
MAYER X, MÜLLER 

1906. 



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