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Full text of "Deutsche Rundschau"

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eutſche Aundfdan. 


, Zr: 7 
Herausgegeben * el — 


von 


Julius Rodenberg. 





(April — Mai — Jduni 1890.) 
u 3 


3and LXIII. 


= — — ¶ — — — —— 


Berlin. 
Derlag von Gebrüder Paetel. 





Alexandrien, Ernſt Gimpel. — Amfterdam, Sehffardt'ſche Buchhandlung. — Athen, Karl Wilberg. — 
Bafel, Lonis Jenke's Buchhandlung. — Bofton, Karl Schoenhof. — Brüffel, 6. Muquardt's Hofbuchhandlung. — 
Budapeft, 6. Grill’ Hofbuhbandlung. — Buenod-Wired, 2. Jacobjen & Go. — Bulareft, Alexander Degen- 
mann. Sotſchek & Go. — Chicago, Kölling & Klappenbach. — Ehriftiania, Albert Gammermeyer. — Cincinnati, 
Wilde & Co. — Dorpat, Theodor Hoppe. &. 3. Karotw’s Univerfitäts-Buhhandlung. — Hapftadt, A. Braun. — 
KRonftantinopel, Lorenk & Seil, Hofbuchhandlung. — Kopenhagen, Anbr. Fred. Hoeſt & Sohn, Hofbudj- 
handlung. Wilh. Prior Hofbuchhandlung. — Liverpool, Scholl & MeGee. — London, Dulau & Go, D. Rutt. 
a. Siegle. Trübner & Go. Williams & Norgate. — Luzern, Dolefhal’s Buchhandlung. — Lyon, H. Georg. — 
Mailand, Ulrico Hoepli, Hofbuchhandlung. — Mitau, Tr. Lucas. — Montevideo, L, Jacobjen & Go. — 
Mostau, 3. Deubner. Wlerander Lang. Sutthoff’fge Buchhandlung. — Neapel, Heinrich Detten, Hofbud- 
banblung. F. Furchheim. — New-PMort, Guftad E. Stedhert. E. Steiger & Go. B. Weftermann & Go. — 
Odeſſa, 8. Rudolph's Budyhandlung. — Paris, G. Fiſchbacher. Haar & Steinert. F. Vieweg. — Betersburg, 
Aug. Deubner. Garl Rider. H. Schmitzbdorff's Hofbuchhandlung. — Philadelphia, E. Schaefer & Korabi, — 
PBifea, Ulrico Hoepli’s Filiale. — Borto-Alegre, U. Mazeron. — Meval, Kluge & Etröhm. Ferdinand 
Waflermann. — Riga, I. Deubner. R. Kymmel's Buchhandlung. — Rio de Janeiro, Laemmert & 
60. — Rom, Loeſcher & Go., Hofbuchhandlung. — Rotterdam, W. J. van Hengel. — San fFrancldco, 
Fr. Wilh. & D. Barkhaus. — Santiago, G. Brandt. — Stodholm, Samfon & Wallin. — Tanunda 
(Süb-Auftralien), F. Bafedow. — Tiflis, &. Baerenflamm Wie. — Balparaifo, G. F. Niemeyer. — Warſchau, 
E. Wende & Go. — Wien, Wild. Braumäller & Sohn, Hof- & Univerfitäts-Budhhanblung. Wilhelm Fyrid, 
SHofbuähandlung. Manz’ihe E. k. Hofverlagd- & Univerfitäts-Buchhandlung. — Holohama, H. Ahrens & Go. 
Rachf. — Züri, 6. M. Ebel. Meher & Zeller. Orel Füßli & Go. Sortiment (Mibert Müller). 


Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt diefer Zeitichrift unterfagt. Meberfegungärechte vorbehalten. 


Dnhalts-Derzeihniß 


zum 


Dreiundfechzigften Bande (April — Juni 1890). 


u 


I. Unter dem Satalpenbaum. Erzählungen von Konrad 

Mähly. IV/VII (Scluf. a a nd a a 
Der internationale Arbeiterichug. Bon Dr. Georg 
Adler, Docent der Nationalötonomie an der Univerfität Freiburg 
i Br. fi * = 4 4 a 4 4 42 4 4 = fi 4 2 fi fi 4 41 
Ariſtokratiſcher Radikalismus. Eine Abhandlung über 
Friedrich Nietzſche. Von Georg Brandes j 52 

IV. Franz Dingelftedt. Blätter aus feinem Acchieß. Mit Kand- 
bemerkungen von Iulius Rodenberg. VII. Der fosmopolitifche 
Nachtwächter und Geheime Rath (1841—-1851). II. Stuttgart 








(1848 1861)........... . 90 
V. Dr. Laurentius Scholz von Roſenau, ein Arzt und Bota- 

nifer ber Renaiffance. Bon Ferdinand Cohn (Breslau). . . 109 
VI. Zur Erinnerung an Andräffy . . >» 2 2 202... 127 


143 





Karl Frenzel . . » ee are 


Yin, 







153 





Literarifche Neuigkeiten ; 160 


Was Gottes Wille u. — Sergei bon — 
Frapan . . 161 








XV. Joſeph in ———— Bon Beintig Brugfe) ae ce 8 
XVI Aus dem modernen Stalien. Don P. D. Filder . . . 255 
XVII. Zeitgendffiiche Gedantenftrömungen. Bon Lady Blenner- 


279 





(Fortfehung umftehend.) 


IV Deutihe Rundſchau. 


Seite 
XVIII. ranz Dingelſtedt. Blätter aus feinem Nachlaß. Mit Rand— 


bemerkungen von Aulius Rodenberg. VII. Der kosmopolitiſche 
Nachtwächter und Geheime Rath (1841 -1851). IV. Der Ausgan 


290 





Neue Aetenjtüde zur Keuolntions eihihte . . . . 31 
= Erinnerungen eine Schleswig-Holfteiners . 
XXU. Literari 
XXI. Literarifche Neuigkeiten ji gg 
XXIV. Zwiſchen Kirche und Bajtorat. Rovelle von Mite Aremni 


XXV. GStammbucdhblätter aus Goethe's Nachlaß. Mitgetheilt 


von Dr. Walther Bulpius . . ; 
XXVL. Beitgenöfjijche Gedantenfrömungen. Bon £ady — 











De. 3 






XXVII. io. Bon £. Sie- 





XVII. Heilige Bäume und Pilanzen. 


XXIX Don Dnlzeitinn Novelle von Salvatore Farina. Erſter 


T eil LIV. 











XXXIV. Zur Geſchichte der deutſchen Goldſchmiedekunſt. Von 
Iulius Leſſing. 1 

XXXV. Literari Er EEE EEE 

XXXVI. Literarifche Neuigkeiten. > 2 2 2 2 een. 480 











Unter dem Kafalpendaum. 


———j a a a 


Graählungen 
don 


Konrad Mähly. 
ESchluß.) 


——ñ— 


Als es dämmerte, ſahen die Belagerten vor dem gegenüberliegenden Hauſe 
den alten Bettler wieder auf der Staffel Platz nehmen. Timotheus aber gebot, 
Frau Sophia ſolle ein helles Feuer in der Küche anzünden und daneben die 
Bündel der vier Kinder zurecht legen. „Ihr müßt über die niedere Mauer des 
Nachbars in den ſchmalen Durchgang entweichen, ſobald es dunkel iſt. Noch 
treibt ſich die ganze Schar der Arbeiter in den Gaſſen umher, um den Feier— 
abend zu genießen. Da werdet Ihr um ſo weniger auffallen. Sollte Euch aber 
etwas zuſtoßen, ſo kehrt denſelben Weg zurück. Einer der flinken Geſellen wird 
ja entwiſchen können, um mich zu Hülfe zu rufen.“ Noch ein banges Stündchen 
verftrich; in der Küche brannte ein helles Teuer, draußen wurde es Nacht, und 
in dem erleuchteten Fsenfter, dem Haufe gegenüber, lagen die Weiber und lauerten, 
während von der Staffel darunter die Augen des Kirchenbettler3 herüber glogten. 

„Seht ift es Zeit,“ ſagte Timotheus. „Keinen Abjchied, keinen Händedruck. 
Gott befohlen! hr wartet in St. Goar. Die Heiligen fein mit Euch! So 
Euch mein Patron beihüßt, male ich ihm ein Bild in feine Capelle.“ 

Damit gingen fie in die Küche, deren Thüre Timotheus nur jo lange jhloß, 
bi3 die Seinen dur) die hintere Thüre entronnen waren, während er bie Docken 
um den Tiſch vor dem Herdfeuer aufftellte. Dann trat er wieder in die vordere 
Stube und ließ die Thüre weit Hinter fih offen. Mit dem Rüden an das 
Fenſter gelehnt, jah ex mit Wohlgefallen, welch' ſchöne Schatten feine Puppen 
in die Stube warfen, wie fie fi) in dem fladernden Feuerſcheine ganz natürlidy 
herüber- und hinüberneigten. Dann vief er ihnen fcherzende Worte zu, ging auf 
und ab zwiſchen Herd und Fenſter und legte zuweilen väterlich feine Hand auf 
Lutzens Kappe oder kniff Theodora jcherzend in ihre Wangen von weißer Wolle. 
Don Zeit zu Zeit warf er einen neuen Holzſcheit auf den Herd und ftellte ſich 
unter die Thüre und ſprach eifrig gegen feine ftille Familie. Als eine Stunde 
vergangen war, wurde er ruhiger. Nun mußten die Flüchtlinge — dem Rheine 

Deuiſche Rundſchau. XVI, 7. 


2 Deutſche Rundſchau. 


geborgen ſein, denn einer der ſchnellfüßigen Knaben Hätte ſich doch losgemacht, 
falls fie auf ein Hinderniß geftoßen wären. Triumphirend trat er ans Tyenfter 
und wünjchte den alten Vetteln drüben, indem ex die eichenen Läden ſchloß, eine 
laute quite Nacht. Dann ging er an die Hausthüre und jperrte fie mit eiferner 
Stange Noch eine Weile ſchritt er in der verfchloffenen Stube auf und nieder, 
die Hände auf dem Rüden und das Haupt gramvoll geneigt, da er mit einem 
ſchweren Entichluffe kämpfte. „Es muß fein,” jagte er dann; „möge mein Schuß- 
patron mir die Sünde verzeihen!“ 

Bei dem Kienſpan am Herbe hielt ex ftil und neftelte aus feinen Ge— 
mwändern eine Kleine Kapfel hervor, die er öffnete. Unter dem Glafe lag ein 
Stücken alten Tuches, wenige Wollfäden waren es. Timotheus aber betrachtete 
fie inbrünftig, denn fie ftammten aus dem Gewande ſeines Patrons, das diefer 
als Biſchof getragen. Ein Mönd aus Ephefus Hatte das Heilthum feinem 
Vater verkauft, und der Kölner Maler Hatte dafür ein großes Bild der drei 
Könige, auf drei Altarflügeln gegeben, um die Slofterkirche zu zieren und dazu 
nod einen Haufen Geldes. Den MWohlftand der Seinen hatte er durch dieſen 
Kauf beträchtlich verringert, aber er hatte ihn dennoch nie bereut, denn der Roc 
des Heiligen hatte ihn vor allem Unglück behütet und ihn gefund erhalten bi3 
in fein hohes Alter. Innig haftete des Sohnes Auge jet auf dem Kleinod und 
er fagte: „Sp hilf mir, viellieber Herre, dag Alles wohl gerathe. Du jelbft 
weißt, daß ich mich ander3 nicht löſen kann von meinem harten Eidſchwur.“ 
Nachdem er feine Reliquie wieder forglich geborgen, nahm er jodann bedädhtig 
den brennenden Span vom Herde und Hetterte mit demjelben nad) dem Speicher, 
wo das Reifig und die Holzvorräthe der Frauen geichichtet tvaren. „Das Haus 
werde ich nicht verlaffen,“ fagte er mit einem bitteren Laden, „wenn e3 nicht 
einftürzt. Mehr habe ich nicht geſchworen. Alſo fahr Hin, altes Dad, deine 
Herren wollten es nicht anders.“ Und mit einem fräftigen Segen ftedte er feine 
Tadel zwiſchen die Reiſigbündel, in denen es fofort unheimlich zu kniſtern und 
zu prajjeln begann. Ein Paternoſter fprechend, blieb der Dialer mit gefalteten 
Händen vor dem roth züngelnden Elemente ftehen; ala ihm aber der Qualm 
die Augen beizte, ftieg ex eilig die Leiter twieder hinab nad) der Küche. Dort 
zog er unter wilden Flüchen die brennenden Späne aus dem Herdfeuer. „Hier,“ 
tief ex, indem er den erften unter Sophia’3 braunen Schrank fchleuderte, „brenne, 
alter Blunder! Friß, rother Hahn!“ rief er wieder mit wilder Luft, indem er 
einen neuen Span in Theodora’3 Lade warf. „Brennt, ihr Holztafeln, die ich 
bemalen wollte! Brennt, ihr Rollen, die mir jo manche Abendjtunde verkürzt!“ 

„Meiſter Timotheus,“ kreiſchte es jebt draußen auf der Straße, „Meifter 
Zimotheus, e3 brennt!“ Schwere Schläge jchmetterten gegen das gefperrte Thor 
und aus dem Dachfenfter Freifchten die alten Weiber: „rau Nachbarin! Jungfer 
Dora! E3 brennt in Eurem Speicher. Teuer! Teuer!" In der Straße entftand 
ein wildes Laufen, und Timotheus jah ein, daß e3 Zeit fer, zu enttweichen. Mit 
fejter Hand nahm er die Leiter, deren er fich vorhin bedient Hatte und jchritt 
nad) dem Hofraume. Dort erklomm er mitteljt derjelben eine Mauer, durch 
einen Vorſprung gegen die Flammen gededt, die bereit3 heil lodernd zwischen 
den Sparten de3 Daches hervorſchlugen. Ein friiher Abendwind pfiff ihm hier 


Unter bem Ratalpenbaum. 3 


um die Ohren, der das Teuer anfadhte, aber auch den qualmenden Rauch von 
ihm twegjagte. „Feuer! Feuer!“ tönte es draußen von Straße zu Straße. Man 
hörte die Leute drängen und rufen. Hufe Klapperten, und wirres Schreien über: 
tönte das unheimliche Kniftern und Zanken der Lohe, deren rothe Fahne herüber- 
und hinüberſchwankte. Mehr ala einmal ſchien die Flamme, um die Ede 
züngelnd, den Dealer verjengen zu tollen, aber jofort fprang fie twieder ab, und 
der Wind führte die rothen Funken und ftreute die brennenden Schindeln nad) 
der anderen Seite. Zog der Rauch vorüber, jo konnte Timotheus durch das 
Henfter der Küche feine Puppen fiten ſehen. Faſt graute e3 ihm felbft, wie fie 
ftarr und unbeweglid Stand hielten. Hell beleuchtet erftrahlte Theodora's wohl: 
befanntes blaues Gewand und die Haube Sophien3 wehte unheimlich in dem 
Feuerſcheine. Draußen bildeten die Leute jeßt eine Kette nach dem Rheine und 
reichten fi die Eimer. Gerichtädiener wollten eindringen, aber bie gefperrte 
Thüre wehrte ihnen den Zugang. Auch an den Trenfterläden arbeiteten fie ver- 
geblich, als bereit3 krachend der Dachſtuhl zufammenftürzte und die unberufenen 
Helfer mit brennendem Sparrwerk überfchüttete. „O Jeſus, Maria und Joſeph,“ 
jammerte eine der alten Vetteln, „die ganze Familie ift verbrannt. Dort ſitzen 
fie erftict in der Küche.“ 

„Nein,“ rief der Bettler, „ich jehe den Meifter auf der Mauer. Helft ihm 
herab.“ In diefem Augenblide ftürzte vor Timotheus Füßen die verjengte Dede 
ein, und die Flammen ſchlugen nun auch aus den unteren Tyenftern. Nur bie 
vier Wände ftanden noch. Taghell beleuchtet jah Timotheus drüben die Menge, 
von deren Gefichtern der Widerſchein der rothen Flammen glänzte. Auf feiner 
Treppe kauerte noch ber Kirchenbettler, der da3 Haus bewacht hatte. Neben 
ihm ftand der weljche Mönch Scipio, deſſen weiße Kutte von der Flamme ver= 
fengt war. Ihm zur Seite ftand der bleiche Subdiacon, fein Angeſicht mit 
einem Ausdrud büfterer Verzweiflung nad ihm hinüber richtend. „Ehriwürdiger 
Herr!“ rief ihm Timotheus mit mädtiger Stimme zu. „Euch meine ich, Herr 
Diacon, Euere Ziehmutter ift todt, Euere Milhbrüder find todt, Theodora ift 
todt! Verlangt Ihr auch jet noch, daß ich das Haus nicht verlaffe? Bedenkt 
doch, in einem Aſchenhaufen zu bleiben, habe ich nicht gelobt. ch fagte: „Ach 
bleibe im Haufe, wenn es nicht einftürzt! Sprecht mid) los, oder joll ich den 
Leuten bier verkünden, warum Euch die Kanones auf einmal einfielen ?“ 

Marcus ftarrte nur bleich und wild herüber. Er betete im Herzen, auch 
dieien Lebten der Familie möge die Flamme erreichen, damit Schutt und Aſche 
das ganze Geheimniß feiner ſchwarzen Seele begrabe! Aber Bruder Scipio, der 
Predigermönd, antwortete in lautem Zuruf: „Die mächtige Hand des Herrn 
Hat Euere läfterliche Ehe gelöft. Nun mögt Jhr Euer Haus verlaffen, da der 
Greuel ausgetilgt ift aus der Gemeinde.“ 

Drüben aber lachte der Meifter gleih einem Wahnfinnigen heil auf. 
„Sehabt Euch wohl, Ihr Herren!” rief er. „Komme id in das ewige Teuer, 
fo jehen wir uns wieder! Ginge e3 aber recht zu auf Erden, jo ftrafte man 
mit Hälsling, Strid und Schnüren den Pfaffen, der den Vater verdirbt, damit 
er an der Tochter jein Gelüfte geboße. Das Hag’ ih Dir, Du fromme Chriſten— 


heit!” Damit jprang er hinab zur Erde. 
1* 


4 Deutihe Rundicdhau. 


„Er bat ſich ins Feuer geftürzt,“ jchricen die Frauen. Timotheus aber 
fchmiegte fi) an der Mauer nad) dem Pförtchen, da3 in den Nachbarhof führte, 
und fi recht3 und links zwiſchen Scheunen und Ställen hindurchwindend, ge: 
langte er in eine Seitenftraße, durch die er raſch nach dem Rheine hinabging. 
Dort bewegte fi eine erregte Volksmaſſe durcheinander. Nachen lagen unbe: 
wacht am Ufer, die die Neugierigen in die Nähe der Brandftätte getragen hatten. 
Ruhig Löfte der Meifter die Kette des nächften, nahm die Ruderftange und ftieß 
hinaus in den Strom, ber feurig roth dahinfloß, die Lohe wideripiegelnd, die 
nun aud) das Dad der nädhften Scheune ergriffen Hatte. Timotheus aber arbeitete 
jo eilig ex konnte mit jeiner Stange vorwärts, und bald lagen die Brüde und 
die Stadt Hinter ihm. Noch lange ſchaute er nach der lodernden Flamme zurüc 
bi3 ihm das höher werdende Ufer die Ausficht verdedtte. Nur noch ein ſchwacher 
gelber Schein ftand über der Stelle, nad) der der Maler blidte, jo oft er mit 
der Stange fi) wenden mußte. Haftig arbeitete er vorwärts auf dem dunfeln 
Strome, der unheimlich mit ihm dahin ſchoß. Nach einiger Zeit jah er einen 
großen Kaufmannskahn, wie eine Schwarze Laft Hinter ſich auftauchen. Da hielt 
er ein und ließ das Schiff an fi herankommen und legte dann mit feinem 
feihten Boote raſch an demſelben an: „Darf ich mein Scifflein an das Euere 
binden?“ fragte er den Schiffer. 

„Werft mir die Kette zu, jo will ih Euch anhängen,“ fagte der Mann. 

„Gott vergelt’ es,“ erwiderte der Maler, indem er dem Schiffer die Kette 
reichte. Nun ging e8 ruhig den Strom hinab. In feinem Nacden fand der 
Maler einen groben Schiffermantel, den der Beſitzer Hinterlaffen hatte, al3 er 
zum Brande eilte. Behaglich hüllte Timotheus ſich in denjelben, ſchob einen 
Bündel alten Segeltuchs unter fein Haupt und jchaute in den hellen Sternen» 
himmel, bi8 des Mondes lauterer Schein die Berge vor ihm erhellte und nad 
jo vielen Mühen dem Meifter die Augen zufielen und das einförmige Raufchen 
der Welle ihn in den Schlaf wiegte. Als dev Morgen anbrach, fröftelte ihn. 
Er erhob fi und reckte die Glieder. „Kommt berüber, Herr,“ rief der Schiffer 
ihm zu, „und wärmt Euch beim Feuer. Ein Glas heißen Würzweins ift Euch 
auch gegönnt. Was war da3 für ein Teuer, das geftern in Mainz aufleuchtete?“ 

„Es muß bei der Krahnengaſſe geweſen jein,“ ſprach Timotheus Faltblütig, 
indem er die fteifen Glieder redte. Mit Dank nahm ex den heißen Wein und 
fragte, wann fie in St. Goar anfommen würden. „Um Mittag,“ war die 
Antwort. Froh Jette fich der Meifter nun neben den Fergen und ließ dieſen 
erzählen, wie er Thal auf und Thal ab fahre das ganze Jahr. Timotheus 
jagte ihm, daß ihn in St. Goar die Seinen erwarteten, und ob der Mann gegen 
Geld und gute Worte fie mitnehmen wolle nad) Köln. Der Handel war bald 
geſchloſſen, und auch dazu war der freundliche Schiffer bereit, wenn er nad) Mainz 
zurüdtomme, das geliehene Schifflein am Krahnen anzubinden, wo es der Be— 
ſitzer ſchon abholen werde. Als die Thürme von St. Goar auftaudhten, fah 
Zimotheus ſchon von Weiten feine ganze Familie am Landungsplatze ftehen. 
Da ward jein Herz fröhlich, und er wehte ihnen zu mit der Mütze, fie aber 
ftedten die Köpfe zufammen und ſchauten wieder und wieder, bis fie ihn erkannten. 
Sobald er nahe genug war, rief er ihnen zu: „Frei, freil Mein Wort habe 


Unter bem Ratalpenbaum. 5 


ih gelöft. Der Gejandte de3 Papſtes ſprach mich los, und jelbft der hochwürdige 
Subdiafon Hatte nicht3 zu erwidern.“ Da fprangen fie jauchzend zu ihm ins 
Schiff und Halften und koſten ſich einander. Gr aber jagte, fie jollten ihre 
Sadıen in der Herberge an fi nehmen, denn der Schiffer wolle weiter nad) 
Köln. Nachdem fie dann noch Mundvorrath eingekauft, jaßen fie froh auf dem 
Verdeck beiſammen. Bon dem Brande aber ſchwieg Timotheus, damit da3 ängit- 
liche Herz feines Weibes ſich nicht darob befümmere. Da der Wind günftig 
war, jeßte der Schiffer noch etliche Segel auf und wie ein Pfeil flog jein Kahn 
an den Ufern vorüber. Al3 der Maler jo mit den Seinen der Heimath entgegen- 
fuhr, wurde ihm fein Herze leicht und fröhlich. An den Ufern erhoben fich ftatt- 
liche Thürme und glänzende Schlöffer. Die Auen glänzten im erften Grün de3 
Frühlings, und der Rhein erzählte ihm murmelnd alte Gejchichten aus feiner 
Jugend, wie diefelbe grüngoldene Welle ihn auf bewimpeltem Schiffen zu 
mandem frohen Feſte getragen hatte. Der einförmige Ruderſchlag und das 
Schaufeln des Fahrzeugs wiegte feine Sorge ein, und er wähnte, daß nun alles 
Schwere hinter ihnen Liege. So jchaute er de3 Tags in die ſmaragdnen Wellen, 
durch die das Schiff jeine krauſen Furchen 309 und blickte in der Naht nad) den 
Lichtern, die body oben am Berge aus den Schloßfenftern herabjtrahlten. Als 
am dritten Tage die Sonne ſich jenkte, da erhoben am goldenen Abendhimmel 
fi) die ftumpfen Thürme des heiligen Köln vor ihren frohen Bliden und jchieden 
fi) wie ein dunkles Schattenjpiel von dem lichten Glanze ab. Mit fundiger 
Hand Ienkte der Schiffer feinen Rheinfahn dur) das Gewirre beflaggter Maſten 
und legte an einem Staden an, wo zahllofe Matrojen beichäftigt waren mit 
dem Ausladen von Kiften, Ballen und Fäſſern, die über luftige Brüden nad) 
dem Ufer gerollt wurden. Die Knaben aber begannen zu fingen: „Daheim, 
Daheim ift do Daheim,“ und nachdem fie dem wackern Schiffer die ſchwielige 
Rechte geihüttelt Hatten, nahmen fie ihre Kleinen "Päckchen in die Hand und 
fprangen ans Ufer. 

„Aermer kommen toir wieder,“ fagte Timotheus, „al3 wir ausgezogen find, 
aber die Knaben haben vet: Daheim, Daheim ift do Daheim!“ Fröhlich 
drängten fie fih durch das Menichengewimmel der Straßen, in denen ein Kauf: 
manndladen neben dem andern fich öffnete. In den großen Lauben, die das 
Erdgeſchoß der Häufer bildeten, brannten bereit Lichter und beftrahlten rothe 
Apfelfinen und Feigen aus Welſchland, oder gefpickte Gänje und pralle Würfte, 
bier goldene Armſpangen und Kleinodien, dort Seidenftoffe und Sammettücher, 
fo daß die Heimfehrenden ordentlich ſtolz wurden auf ihre Vaterftadt; denn mit 
foldem Reihthum konnte fich Feine der Städte am Rheine meffen, die fie gejehen. 
Endlich ftanden fie vor dem hohen Giebelhaufe, in dem ſchon des Malers Eltern 
und UÜreltern gewohnt Hatten. Der Klopfer fiel laut auf das Thor, und bie 
greife Sabina, die Beichließerin, raffelte drinnen mit einem Sclüffelbunde. 
Das Thor fprang auf, und mit frohem Erftaunen begrüßte die Schaffnerin ihre 
unerwartet zurückkehrende Herrſchaft. Die Kinder aber waren fröhlich, die ge- 
liebten Stuben und die vertrauten Eden wiederzufehen, und jauchzten ob ber 
glücklichen Heimkehr. 


6 Deutſche Rundſchau. 


Am folgenden Morgen ſprach Timotheus zu den Seinen: „Es geziemt ſich, 
daß unſer erſter Gang nach der Kirche ſich richte, in der einſt die Ehe einge— 
ſegnet ward, die fie heute für ungültig erklären wollen.” So befahlen fie der 
alten Sabina das Haus, und wanderten in Eintracht der Gereonskirche zu, wo 
die Meſſe eben begann, als fie eintraten. Sie fanden da3 Gotteshaus ſchwarz 
außgeichlagen, und unheimlich bewegte fih darin die ftille Gemeinde, al3 ob fie 
eine Todtenfeier begehe und den Entjchlafenen nicht erwecken wolle duch Tautes 
Gebahren. Timotheus nahm zur Seite mit jeinen Söhnen Aufftellung, während 
Frau und Tochter in der Mitte des Schiffe niederfnieten. 

Die Chöre langen dumpf und fchauerlid: 


Inter oves locum praesta 
Et ab hoedis me sequestra, 
Statuens in parte dextra. 


„Bei den Frommen und Gerechten ftelle mich zu deiner Rechten“, wiederholte 
ſich Timotheus die lateinischen Worte und der Schauer des cantus firmus ging 
ihm durch Mark und Bein. Der Priefter hatte inzwiſchen die gemweihte Hoftie 
in einen goldenen Sarg auf dem Altar gelegt, deffen Dedel von ſelbſt ſich ſchloß. 
Zimotheus wußte, daß am dritten Tage, am Morgen des Ofterfeftes, diefer Dedel 
ebenjo wieder fich öffnen und die Hoftie von jelbft emporfteigen werde ala Symbol 
der Auferftehung. Inzwiſchen aber hielten zwei wächſerne Engel Wacht an dem 
heiligen Grabe, der eine zu Häupten des Sarges, der andere zu feinen Füßen. 
Darauf beflieg ein Mönch der neuen Bruderſchaft des heiligen Franciscus in 
brauner Kutte die Kanzel und redete bewegliche Worte über das Leiden des Herrn 
und feine fünf Wunden, und was eine jede bedeute. Der Meifter jah wohl, wie 
inbrünftig und heftig der Prediger oben fich erging. Auch die Bewegung blieb 
ihm nicht verborgen, die die Hörer ringgum ergriff. Er hörte feufzen und 
ichluchzen, und oft war e3 fo ftill, daß Timotheus feine eigenen Athemzüge ver— 
nehmen konnte. Aber de3 Malers Herz war noch allzu voll von dem Aufregen- 
den, da3 hinter ihm lag, als daß er den Worten des fremden Mönche hätte 
folgen können. Er ſchaute faft immer nad den Bänken der Frauen, wo Theo- 
doras reined Profil fi) wie ein Lichtes Engelstöpfchen von dem ſchwarz um- 
mwundenen Pfeiler abhob. Fiel dann der rothe Schein des Fenſters auf fie, fo 
ſchienen es ihm die Flammen des Hauſes zu Mainz zu fein, aus denen er auch 
ihr Glüd gerettet; tauchte fie in dem bleichen bläulichen Schimmer, jo war «8 
ihm, als ob er fie todt aus dem Strome ziehe, in den fie fi aus einem der 
Klofterfenfter getvorfen. Dann aber richtete fie fi) auf, und der goldene Licht— 
ſchein verklärte ihr ſchönes blondes Haupt mit einem Heiligenfcheine der trium— 
phirenden Kirche. Da plötlich jah der Maler jein Kind ftarr in eine Ede 
blicken. Sie fing an zu zittern und zu erbleichen. Blaß wie der Tod fiel fie 
ſchließlich an die Schulter ihrer Mutter, und al3 dieje die Augen nad) der gleichen 
Seite richtete, jah der Maler aud) Frau Sophia die Farbe wechjeln. Beunrubigt 
trat Timotheus einen Schritt vor, um zu jehen, was die Urſache dieſes Schreckens 
jei. Da gewahrte er an eine Säule gelehnt die lange ſchwarze Geftalt des Sub- 
dDiaconen Marcus, der mit jeinen dunfeln Augen unverwandt nad) den beiden 
Frauen ftarrte. „Der Elende,“ murmelte der Maler. „Er ift ung mit einem 


Unter dem Katalpenbaum. 7 


Schnellſchiffe hierher gefolgt. Wir werden keinen Frieden vor ihm haben, bis 
ich ihn zur Hölle heimſende, die ihn ausgeſpieen hat. Auch der Dominicaner 
iſt bei ihm, ſagte er dann erſchreckt, denn jetzt erſt erblickte er die weiße Kutte 
des Predigermönchs, der ſein energiſch geſchnittenes Profil aufmerkſam der Kanzel 
zuwendete. „Er hat ſeinen Spürhund mitgebracht,” ſagte der Maler in ſtiller Ver— 
zweiflung. „Ich fürchte, wir find verloren.“ Finſtere Gedanken zogen an dieſer 
Stätte des Friedens durch fein Herz, wie er ſich des Buben erwehren könne, der 
im Bunde mit einer übermädtigen Gewalt nad) feinem Liebften die unreinen 
Hände ausftrede. 

Don dem, was in der Kirche noch weiter fidh zutrug, vernahm er nichts 
mehr. Er jah nur, wie fein Kind ſchwach, gleich einer Sterbenden, in den Armen 
der Mutter lag, die da3 Mädchen, jobald der Barfühermönd feinen Segen 
gejpenbet, Hinausführte. Eilig folgte er durch die nächfte Seitenthüre und fand 
die Tochter jchluchgend, in einem heftigen Weinkrampfe mitten unter den Leuten, 
jo daß er fie ernftlih bedrohte und fo raſch als möglih in eine Seitengajje 
führte, von wo fie langfam und traurig den Heimweg antraten. Die ganze 
Freude über ihre Heimkehr war von ihnen genommen. Ihnen allen war, ala 
ob der eine Mann Macht habe, ihnen die Heimath zur Fremde zu machen und 
den Sonnenjhein am Himmel auszulöſchen. Sobald fie aber in ihren vertrauten 
Wänden war, ſchien Theodora ſich zu beruhigen. „Berzeiht, Vater,” ſprach fie. 
„Aber die Predigt des Mönchs hatte mich erregt, und der Schreden war zu jäh. 
Die ſchwarz ausgefchlagene Kirche, die Lichter, die dumpfe Luft, das Alles drang 
auf mic) ein, und al3 nun plößlich dev Abjcheuliche vor mir ftand, nicht wie ein 
Menſch, jchattenhaft, übergroß, mit dräuenden Blicken, da verließen mich meine 
Kräfte. Aber Hier im Haufe fürchte ich ihn nicht. Hier jehe ich ihn ala Knaben 
und habe das Geficht vor Augen, das er machte, wenn er log und Dinge ab» 
leugnete, von denen doch Jeder wußte, er habe fie verübt und Niemand fonft. 
Ich will ihm die Fenſter zeigen, durch die er nmächtlicher Weile hinausftieg zu 
den lodern Zeifigen, mit denen er lieber verkehrte, al3 mit den Brüdern] und 
da3 Kämmerchen, wo ich ihn erwiſchte als er die Kaffe beftahl." Sie’ lachte 
aufgeregt, indem fie noch einmal die feuchten Augen trodnete. Auch die, Brüder 
traten jeßt ein. „Er ift hier!“ rief Mlerius ſchon unter der Thüre. „Habt Ihr 
ihn gejehen, Vater?” Der Meifter nidte traurig mit dem Haupte, 

„Wer weiß,“ begann Frau Sophia tröſtend. „Vielleicht hat Marcus eine 
andere Sendung. Auch fein eigen Vermögen ift hier angelegt, und möglicher- 
weiſe hat er ganz andere Geſchäfte. Laſſet jet dieſe weltlichen Sorgen! Mix 
flingt die Seele noch von den Worten de3 heiligen Mannes, der die fünf Wunden 
jo herrlich deutete, und ich fühle, daß ich noch Feine diefer Schmerzen über mich 
genommen habe, wie einem Chriſtenmenſchen doch Pflicht ift. Den bleichen Ver— 
jucher hat und Gott gejendet, damit aud) wir ung an das Kreuz jehlagen laſſen, 
vor dem wir al3 feige Jünger geflohen find.“ In ihren Augen lag ein dem 
Gatten unbefannter Glanz, und ein Geift redete aus ihren Worten, der den 
Maler erſchreckte. „Iſt der Feind Schon in die Feſte eingedrungen?“ fragte 
er ſich. Aber er ſchwieg, während die Mutter nicht müde wurde, den Klang der 
Stimme, die edlen Gebärden des fremden Mönches zu preifen und zu wiederholen, 


8 Deutſche Rundſchau. 


was der Barfüßer von der Pflicht zu leiden geſagt habe. „Dich ſelbſt ſollſt Du 
tödten“, habe er gerufen. „Dich hungert, ſo faſte; dein Fleiſch gelüſtet, ſo gib 
ihm die Geißel; Dein Auge ärgert Dich, ſo reiße es aus.“ Dora ſchien, mit 
ſich ſelbſt beſchäftigt, wenig auf das zu achten, was die Mutter ſprach; die 
Söhne aber wurden gerade ſo, wie der Vater, verſtimmt von der Aufregung der 
wackern Frau, die ſonſt niemals ſo viel Worte gemacht hatte. 

„Ich habe gelobt, dem heiligen Timotheus ein Bild zu ſtiften,“ ſagte nun 
der Vater, um die Rede auf andere Dinge zu bringen, „und ich denke, ich male 
ihn, wie er, dem Brande der Stadt Rom glücklich entronnen, das Schiff beſteigt, 
das ihn zu ſeiner Gemeinde in Epheſus zurückführt. Wir wollen morgen gleich 
unſere alten Vorräthe muſtern, um eine tadelloſe Tafel zu finden. Ihr aber 
meldet dem Zunftmeiſter Eure Rückkehr, damit Ihr in den Liſten nicht geſtrichen 
werdet; denn mit dev Malerjchule, die wir in Mainz errichten wollten, ift es 
nun nichts. Auch den Vergilius werden fie mir wohl ſchwerlich nachſchicken.“ 

„Wir aber,“ jagte Frau Sophie, und e3 lag eine ungewohnte Schärfe in 
ihrer Stimme, „wollen das Heil unferer Seele bedenken. Noch haben wir unfere 
Diterbeichte nicht abgelegt. Der Heilige Mann, der heute gepredigt hat, wird 
morgen Beichte hören. Bift Du bereit, Theodora, mit mir zu ihm zu gehen? 
w- wollen wir den ganzen Zuftand unferer Seele und alle ihre Noth offen- 

aren.“ 

Dem Meiſter war es unlieb, daß ſein Kind, das kaum erſt ſich beruhigt 
hatte, neuen Aufregungen überliefert werden ſolle. Er wies darauf hin, wie 
bleich Theodora ausſehe, die durch die lange Oſterfaſten geſchwächt und die 
Schrecken des Morgens noch immer erregt ſei. Aber Theodora ſelbſt hatte der 
Mutter zugenickt mit ihrem ernſten, reinen Auge, und Timotheus wagte nicht, 
die Tochter an etwas zu hindern, was auch ihm eine heilige Pflicht war. 

So ging der Tag ſtill dahin. Der Maler traf mit den Söhnen alle Zu— 
rüftungen, um fein Bild beginnen zu können. Die Frauen ſaßen in der Kammer 
und Sprachen die Gebete, mit denen man fich für die Beichte zu bereiten pflegte. 
Am folgenden Morgen verließen Mutter und Tochter in aller Frühe dad Haus, 
ohne gefrühftüct zu haben, da es Pfliht war, die Ofterbeichte nüchtern abzu— 
legen. Auch die Söhne verabichiedeten fih bald, um ihre Anerkennung ala Ges 
nofjen der Innung bei dem Zunftmeifter nachzuſuchen. Zimotheus blieb allein 
bei feiner Staffelei zuräd und verfuchte die Umriſſe feines neuen Bildes auf die 
Tafel zu bringen. Aber e8 wollte ihm nicht gelingen, dern allerlei Erinnerungen 
und irrende Gedanken trieben ihr Spiel mit jeiner Seele. „Sanct Timotheus 
war ein Biſchof von Epheſus; ob wohl auch er ſchon von verbotenen Ehegraden 
wußte? Sollte er ihn mit einer Tonſur malen, wie jeinen Lehrer Paulus? 
Iſt auch er fol ein Mönch geweſen, der das Heirathen ungern ſah?“ Als 
der Meifter das brennende Rom mit Strichen von rother Kreide jkizzirte, da fiel 
ihm ein, daß ber verfluchte Nero es angezündet habe und eine ſeltſame Be— 
Hemmung befiel ihn, wie wenn er fich ſelbſt als Brandftifter vor aller Welt 
anflage, indem ex dieſes Bild den Leuten vor die Augen bringe. Dennoch malte 
er lange und eifrig weiter. Es überraſchte ihn faft, ald alle Gloden der Stadt 
die Mittagsftunde verkündeten. Wo die rauen nur blieben? Nun waren fie 


Unter dem Ratalpenbaum. 9 


ſchon ſieben Stunden in der Kirche und die zarte Theodora ungeſpeiſt und un— 
getränkt! Ihn ſelbſt hungerte nach ſo emſiger Arbeit, und er befahl der Magd— 
ihm Brot und Fiſch zu bringen, indem er ſich freute, daß mit dieſem Tage die 
Faſten zu Ende ſeien. Kaum aber hatte er feine Mahlzeit beendet, jo ſtand ſein 
Gheweib vor ihm. Sie jah feltjam falt und feindjelig aus, ala ob fie ſich inner- 
lid gegen ihm verhärten tolle. „Ich komme, Abjchied zu nehmen, Timotheus,“ 
fagte fie in ſchroffem Tone. „Es ift die letzte Gunst, die mir der Pater gewährte. 
Unjere Ehe ift verboten; ich will nicht das ewige Feuer erwählen, ftatt zeitlicher 
Noth. Was die Kirche geordnet, ift gut, auch wenn wir es nicht einjehen. Lebe 
wohl!“ Es Elang, al3 ob fie eine erlernte Lection aufſage. Der Maler aber 
ftarrte fie an, als verjtehe er ihre Sprache nicht. War fie plößlich irre geworben 
in Folge der Reden de3 fremden Mönchs? 

„Wohl ift e3 jauer,“ jagte Frau Sophia dann in weicherem Tone, als fie 
das verftörte Antli ihres treuen Gefponjen jah, darinnen fie jede Runzel und 
jedes Fältchen kannte. „Aber ſoll ich viel kleine Freude Hier nehmen auf dem 
Erdreih und dort die ewige Dual? Die haben übel gekauft, die fo übergroße 
Freude des Paradieſes geben um ein jo furzes Freudelein in diefer Welt. Die 
fahren übel, denn fie haben tweder hier noch dort nichts. Welcher Todfünde auf 
ih Hat und ohne Reue damit von diefer Welt fährt..." Aber Timotheus 
ließ fein Weib nicht ausreden. „Bift Du unter die Bequinen gegangen, jo 
predige im Leuthaus,“ unterbra er fie rauf. „Wo ift Theodora?” Sophia 
erblaßte, aber fie ſchwieg. 

„Wo ift unjere Tochter?“ wiederholte der Maler, indem er fich zornig 
erhob. Ihm ſchwante Unheil. 

„Ich darf e8 Dir nicht fagen!” erwiderte ſie leiſe. 

„Haben Di die Pfaffen völlig verwirrt gemacht?” ſchrie jet der unglück— 
liche Vater. „Du darfjt mir nicht jagen, wo mein Kind ijt?“ 

„Rein,“ antwortete fie hartnädig. 

„Weib,“ rief der empörte Gatte, „mache mich nicht rajend. Sieben Stunden 
ſchleppſt Du da3 zarte Mädchen in die kalte Kirche, Du ſahſt geftern jelbft, wie 
fie frank ift nad) der langen Faftenzeit. Und nun fommft Du und ſagſt, Du 
darfſt dem Vater nicht jagen, two feine Tochter fich befinde?“ 

„Ich darf nicht, ich habe es gelobt!” ſagte fie in eifigem Tone. 

„Du haft fie ausgeliefert, dem Marcus ins Garn gejagt, daß er jeine Luft 
büße. Ich weiß, fie hüpfen vor Freude, indeffen wir in Schande ſtecken. Ver— 
rückte, gehe, daß ich nicht thue, was mir leid iſt!“ 

„Sie ift wohl geborgen,“ erwiderte Frau Sophia ruhig. 

„Im Kloſter?“ rief er. Wiederum blieb fie ihm die Antwort jchuldig. 
„So fahre hin,” rief ex ergrimmt. „ch danke es Deinen Pfaffen, daß fie mich 
von Dir befreien! Gehe mit ihnen zur Hölle!“ 

„Lebe wohl, Zimotheus,” verjegte fie janft. Als er aufblicdte von dem 
Tiſche, auf den er verzweifelt fein Angeficht gelegt, war fie verſchwunden. 
„Willen muß ich, wo fie fie verbergen,“ rief er dann. Er ergriff feine Mütze 
und ftürzte ihr nad. Draußen jah er fie eben noch um die nächſte Ecke biegen. 
Borfihtig folgte er ihr. Sophia ſchien nad der Gereonskirche zurückzukehren. 


10 Deutſche Rundſchau. 


Dann aber ſchlug fie ſich links. „Alſo zu den Karthäuſern Haben fie fie ge— 
bracht?“ Aber auch jetzt lenkte ſie ab und bog in die Straße ein, die zu den 
Dominikanernonnen führte. Dort vor dem Kloſterthore ſtand fie ſtill. Der 
Maler beichleunigte feine Schritte, um gleichzeitig mit ihr vor dem Thore ein— 
zutreffen, ſonſt konnte er nur mit Hülfe des Raths den Gingang erzwingen. 
Dann aber war es zu jpät; denn bi3 die Obrigkeit einfchritt, hatten die Nonnen 
jein Kind, Gott weiß wohin, geflüchtet. Jebt jah er, wie fein Weib am Thore 
klopfte. In fliegender Haft ftürzte er vorwärts. Schon ſah er dad Thor ſich 
aufthun. Sein Weib trat ein. Er ſah, wie fie mit dem Pförtner noch unter 
der Thüre ſprach. Dann verſchwand fie. Mit letztem Aufgebot aller Kräfte 
iprang er auf da3 Klofter zu. Noch Hatte der Pförtner die Thüre nicht ge— 
ſchloſſen. Mit der ganzen Wucht feines jchiweren Körperd ftürzte der Maler 
gegen diefelbe, jo daß der Thürhüter zur Seite flog, die Thüre aber rückwärts 
an die Wand der Hausflur ſchmetterte. Sprachlos fanden die Dreie fi gegen- 
über. Der Pförtner ſuchte erboft nad einer Waffe, Timotheus war außer 
Athem und rang vergeblid nad Worten; Sophia zitterte vor Schred, doch war 
fie e8, die zuerft ſich faßte. 

„Thue ihm nichts,“ ſagte fie zu dem erzürnten Kloſterknechte; „er ift mein 
Mann und will mich zurüdfordern. Aber freiwillig bin ich hierher gekommen, 
und freitwillig bleibe ih. Ih will ein pönitenzlich ehrſam Leben führen, daß 
ih jeine Sünden büße.“ 

„Ihue, wozu Deine Bosheit Dich treibt,” jagte Timotheus ingrimmig; 
„aber Theodora will ich haben. Du jollft mir das Kind nicht an die Pfaffen 
verkaufen.“ 

„Laßt ihn ins Sprechzimmer,“ bat jet die Frau den Pförtner. „Es hat 
feine Gefahr. Meine Tochter folgt ihm nicht zurüd in die Welt.“ 

„Da3 wollen wir doch erſt jehen,“ erwiderte Timotheus, der ſich nun gefaßt 
hatte. „Verzeiht, quter Freund, daß ich jo unſänftiglich Euch beinahe über den 
Haufen rannte. Aber ich hatte Eile; hier, nehmt das als Schmerzensgeld und 
laßt Euern Groll fahren,“ damit drüdte er ein Silberftüd in die Hand des 
Schließers, der dasſelbe willig annahm. 

„Komme mit mir,“ winkte Sophia. „Ich will der Aebtiſſin ſelbſt Deine 
Bitte vortragen.“ Schweigend folgte er jeinem Weibe. Aljo bitten follte er 
bier, wo er zu befehlen ein Recht hatte! Sie ließ ihn in eine fahle Stube ein- 
treten, in der einige Bänke ftanden und ein vergittertes Fenſter ſich aufthat. 
Da hinter dem Gitter ein Vorhang berabhing, konnte fein Bli ins Innere 
dringen. „Warte bier,” fagte fein Weib, „bis ich der Oberin Deinen Wunſch 
gemeldet.” Timotheus jeßte fich nieder, da ihm vor Erregung die Kniee anein» 
ander jchlugen und die Füße faum mehr die Laft jeines Körpers tragen wollten. 
Nur langjam beruhigten fich fein feuchender Athem und feine Elopfenden Schläfen. 
Endlid hörte er eine fremde Frauenſtimme hinter dem Vorhang, dann zog eine 
magere braune Hand da3 Tuch zurüd. Eine Nonne ftand hinter demfelben ; als 
aber der Maler genau in das von der Stappe beichattete Geficht jah, erkannte 
er die zarten bleichen Züge jeiner Theodora. Mit einem Schritte war er an 
dem Gitter: „Mein Kind, mein Kind,“ rief er ſchmerzlich und ftredte feine 


Unter dem Ratalpenbaum. 11 


Arme durch das Gitter, um ihr Haupt an fich zu ziehen. Stille weinend ließ 
fie e8 gefchehen. „Herzer Vater,“ fagte fie dann leiſe, nachdem fie hinausgeſchaut, 
ob auch Niemand ihre Worte höre, „glaubt mir, die Heiligen twollen e3 jo.“ 

„Slaube ihnen nicht," raunte der Alte „Gott hätte die Welt nicht fo 
ſchön gemacht, wenn er gewollt, daß feine Menjchenkinder fi) vor ihr ver- 
ichließen.” 

„Ach,“ rief Theodora, der die Seele von Thränen bebte, „ih war jo glück— 
lich in diefer Welt voll Licht, und ich wußte, daß der himmlische Vater auch 
für mid noch Sonnenjchein übrig habe — — da — 0, herzer Vater, warum 
habt hr das getan? Nun muß ich bitten und beten mein Leben lang für 
alle die Seelen, die durch Euch unvorbereitet Hinübergegangen find in die ewige 
Dual.“ 

„Was rebeft Du?“ rief Timotheus erftaunt. „Was hat man Dir in den 
Kopf geſetzt?“ 

Sie ſchaute ihn ſtarr mit großen Augen an. „Ahr wißt e8 nicht?” ſagte 
fie. „Sollten fie mid) betrogen haben? Nein, das ift ja unmöglich,“ ſetzte fie 
dann fanft Hinzu. „ch wollte e8 nicht ausjprechen, um Euch nicht zu kränken. 
Es iſt des Kindes Pflicht, des Vater Sünden gut zu machen, nicht fie ihm 
vorzuhalten.“ 

„Du redeft in Räthſeln, Theodora,“ ertwiderte der Meifter. 

„Habt Ihr den Brand in Mainz angeftiftet oder nicht?“ fragte jet 
Theodora angftvoll. 

„Den Brand?“ verjehte Timotheus. „Ya, unfer leeres Haus zündete ich 
an, da ich gelobt Hatte, es nicht zu verlaffen, wenn e3 nicht einftürze. Den 
Schaden will ich qut machen, wenn es nur das ift, was Dich hält.“ 

„O Bater, warum wolltet Ihr mit Teufelswerk die Heiligen betrügen ? 
Eo wißt Ihr nicht, daß die Häufer der Nachbarn abbrannten, daß Menſchen 
in den Flammen umfamen, daß eine ganze Familie im Rauch erftichte?“ 

„Mädchen,“ rief der Meifter überlaut, „mache Deinen Vater nicht zum 
Mörder. Wer fagte Dir diefe Greuel?“ 

„Botihaft aus Mainz ift angefommen,“ flüfterte Theodora. „Man fahndet 
nach Dir, bleibe nicht hier, fie werden Did) greifen. Um die Geiftlichkeit zu 
verjöhnen, der das Haus gehörte und die Dich hart verklagt, haben die Mutter 
und ich den Schleier genommen. Du aber wirft al3 armer gebannter Dann in 
die Fremde ziehen.” Timotheus ftand ftumm; ihm war, al3 ob die ganze Welt 
mit ihm ſich im Kreiſe drehe. 

„Einen lebten Wunſch, Vater!“ hörte er feine Tochter flüftern. „Ziehe ins 
heilige Land! Verſöhne die Heiligen. Nicht ich allein kann das Entſetzliche ab- 
büßen, daß arme Mitchriften ungefpeift und ohne die heilige Delung binüber- 
gegangen find in die ewige Qual und Tag und Nacht weinen und jchreien um 
Erlöfung. Du jelbjt mußt auch das Deine thun. Hole Dir Ablaß, wo er zu 
finden ift, am Grabe Chrifti. Dort bete auch für mid), die die unfchuldige 
Urfache alles Unheil wurde. Ohne mich wäreſt Du ja nie in diefe Sünde ge- 
fallen.” Und fie jchluchzte. 


12 Deutſche Rundſchau. 


„Schweſter Urſula!“ hörte Timotheus jetzt eine harte Stimme rufen. Dora 
ſtreckte die Hand durchs Gitter und ſagte: „Lebet wohl, lieber Vater. Gott 
rechne Euch an alle Liebe und Sorge, die Ihr für mich gehabt habt.“ 

„Biſt Du es, die ſie rufen?“ fragte Timotheus erſtaunt. 

„Ich habe den neuen Namen erhalten,“ erwiderte Dora. „Lebe wohl!“ 

Der Vorhang fiel zurück, und Timotheus ſtand allein in der leeren Stube. 
Wie ein Träumender taumelte er nach unten. Er ſah undeutlich den Pförtner 
aufſchließen. Dann war er vor dem Thore, und laut mit ſich ſelbſt redend 
ſchritt er durch die Menſchen, die ihn ſeltſam anſchauten. Endlich war er zu 
Hauſe. Die alte Sabine ſagte, ſeine Söhne ſeien dageweſen und wieder weg— 
gegangen. Er beachtete es nicht. Es war ihm unmöglich, Jemanden zu ſehen 
oder mit den Knaben zu reden. Still ſchlich er in ſeine Kammer, verriegelte 
ſie von innen und warf fich auf ſein Lager. In ſtummem Brüten brachte er 
die Stunden hin. Als es dunkel wurde, ſchlief er ein. Dann wachte er wieder 
in dumpfem Grame und ſchlief wieder bis in den Morgen. Klopfen an der 
Thüre weckte ihn. Als er auf den Flur hinaustrat, ſtanden ſeine beiden Söhne 
reifefertig mit Zwerchſäcken über der Schulter vor ihm. Er fchaute fie fragend an. 

„Derzeiht, Vater,” ſprach Alerius, „wenn Euch kränkt, was wir Euch zu 
fagen haben. Wir waren geftern, wie Ihr befahlt, bei dem Zunftmeifter. Der 
aber weigerte fi, unjere Namen in da3 Buch zu fchreiben. ‚Nur guter Leute 
eheliche Söhne könne die Gilde unter ſich dulden‘, fagte er. ‚Wir aber feien 
nicht in rechter Ehe geboren, wie zwei geiftliche Boten, der Subdiacon Marcus 
und der Predigermönd Scipiv aus Mainz, dem Rathe bereit3 vermeldet hätten ; 
auch ruhe ſeit etlichen Tagen großer Schimpf auf unferem Namen. Welcher, 
das wiſſet Ihr ſelbſt, und der Sohn joll nicht ausfprechen, was die grauen 
Haare de3 Vaters verumehrt.‘ Als wir troß vieler Worte und Bitten einen 
befferen Beſcheid nicht erlangen konnten, gingen wir umher bei den Rathsver— 
wandten, beim Aldermann, ja beim geftrengen Herrn Bürgermeifter felbft find 
wir geweſen. Aber e8 war Alles vergeblid. Schließlich fielen harte Worte, 
Baftarde, Brandftifter, Mordbrennerbrut und andere Kränkungen haben fie uns 
nachgerufen. Da famen wir zu dem Entſchluß, unfere Heimath zu verlaffen. 
Wir danken Euch für alle Liebe, die Ihr an uns gethan habt, für den Inter: 
riet in der Kunft, die uns auch in der Fremde erhalten wird. Wir wollen 
nad) Gent in den Niederlanden, denn der Aldermann, der uns wohl will, meinte, 
dort frage man nicht viel nad) den Gejeßen der Pfaffen.“ 

Verlegen und zögernd ftanden die Yünglinge vor ihm. Timotheus aber 
war innerlich gebunden. Nichts regte ſich in ihm von der Liebe, mit der er 
do in feinem tiefften Innern an dieſen Anaben hing. „Auch fie verlaffen 
mich im Elend,” dachte er bitter. Aber er nidte nur ftumm. „Sa, ja,“ fagte 
er dann. „Hier könnt Ihr nicht bleiben. Mögen die Heiligen Euch behüten, 
daß Ihr feine Kanones verletzt, die Ihr nicht kennt.“ 

„Lebt wohl, Vater,“ ſagte Lutz gepreßt. Man ſah, daß er mit den Thränen 
fämpfte. Timotheus gab beiden Söhnen die Rechte, aber fie lag bleiern zwiſchen 
ihren zitternden Händen. Dann fehrte er in feine Kammer zurüd und warf 
ſich wieder auf fein Lager. 


Unter bem Katalpenbaum. 13 


Um Mittag erhob er fi. „Jetzt beginnt die Kreuzpredigt,“ fagte er. 
„Aber der Herr Papft hat ja geboten, feine alten und kranken Leute mehr zur 
Kreuzfahrt zuzulaffen. Sie jollen ftatt deffen jo viel Geld einlegen, daß ein 
Gejunder dafür ausziehen kann oder die Koften gedeckt werden für die Reifen 
der Mönche. Geld ift ihnen Lieber als Buße Das fteht wohl auch in den 
ſtanones.“ Und er lachte bitter auf, aber er ftülpte feine Mütze über feine ver— 
worrenen Haare, um fi) auf den Weg zu machen nad) der Kirche der Johanniter, 
wo an jedem Feſttag für das Heilige Mreuz getvorben wurde. Als ex unter bie 
Thüre trat, fam ihm die alte Sabina mit Weinen und Schluchzen entgegen. 
„Meifter,” xief fie, „was thut Ahr noch hier? So ſchnell Euch Eure Füße 
tragen, lauft in die nächfte Kirche und ruft: Aſyl! Aſyl! Der Büttel felbit 
läßt Euch jagen, die Mainzer Pfaffen verlangten Eure Auslieferung. Der Rath 
aber, um Euch Zeit zu laffen zur Flucht, habe den Beſcheid bis nach dem Feſte 
vertagt.“ Gleichgültig hörte Timotheus die Warnungen der Alten. 

„Was glaubft Du,” fagte er, „daß mein Leben noch werth fei, nachdem 
mih Weib und Kinder verlaffen haben?“ 

„Herre, Herre,“ warnte die alte Frau, „das Leben ift nicht viel werth, 
aber der Tod ijt bitter. Hu, wenn Ihr's einmal gejehen hättet, wie fie mit 
rothen Eijen brennen, ehe der Henker gnädig mit der glühenden Zange bem 
armen Sünder den Reft gibt, Ihr nähmet lieber das Kreuz, ald daß Ihr das 
erduldetet.” 

„Das eben wollte ich,” erwiderte der Maler. 

„Dank jei der Mutter Gottes, die Euch erleuchtet,” rief die Alte haftig. 
„Ich dachte ſchon, Ahr mwolltet Euch ausliefern, wie Ahr jo redetet. Aber eilt, 
eilt, daß Ahr das Aſyl erreicht, ehe der böfe Bube Euch feftnimmt." Timotheus 
gab der Alten ftumm die Hand und trat hinaus auf die Strafe. Mit trüben 
Gedanken ſchritt er durch die feſtlich geſchmückte Menge, die Oftern feierte. Für 
ihn gab es fortan fein Oftern mehr; von heute an war ihm jeder Tag ein 
Charfreitag. Das fröhlihe Schwaben der Leute that ihm weh, und er war 
froh, al3 da3 Dämmerlicht der Kleinen KHicdhe ihn aufnahm. Noch war fie 
völlig leer. Die Stunde der Kreugpredigt mußte noch nicht gefommen fein. 
Gleichviel, er war hier fo gut wie zu Haufe. In trüben Gedanken ſank er auf 
einen Schemel nieder und ſchaute längs des Gewölbes nad den Fenſtern des 
Chors, von wo das rothe Gewand und der goldene Heiligenichein über den 
gelben Locken des Apoſtels Johannes ihm entgegenglänzten. „Er fol ein guter 
Mann geweien fein,“ dachte Timotheus, „gerade wie Lucas, der Schubpatron 
der Maler und Schreiber.” Warum hatten Beide ihm nicht beigeftanden und 
waren jäumig gewejen, ihn zu warnen? Wber freilich, fie hatten auch Kanones 
gefchrieben. Da zürnten fie ihm, daß er diejelben übertreten. Ihr Zorn hatte 
auf ihm gelegen, ohne daß er es wußte. So war er ein Brandftifter geworden, 
ein Mörder, ein Verfluchter. Drüben im Fegfeuer Frümmien und quälten fi) 
nun die Seelen, bie ohne Segen, ohne Abjolution, ohne Wegzehrung, ohne Teßte 
Delung binübergegangen waren durch feine Schuld. „Kain, Kain!“ ſchrieen fie. 
Ihre Engel im Himmel weinten, und jelbft fein Patron wandte ſich zürnend von 
ihm ab und wollte das Bild nicht haben, da3 er für ihn gemalt hatte. Ohne 


14 Deutſche Rundſchau. 


Hülfe oben im Himmelsſaal, ohne Stütze hienieden blieb er allein auf der dunkeln 
Erbe zurück. Alles, Alles hatte er verloren. Sein Eigenthum mußte er weg— 
geben. Die Knaben irrten in der Ferne. Seine Frau machten fie doch höchſtens 
zur Kloftermagd, und jeine Tochter, wozu machten fie die? Gr fing an zu 
weinen. Ein großes Mitleid mit fich ſelbſt überfam ihn, und er fühlte, wie 
auch der Heilige Johannes anfing, ihn zu bedauern. Deutlich jah er, wie der 
freundliche Jüngling fein ſchönes Angeficht ihm zumendete. Jetzt löſte dev ſanfte 
Heilige fi) langſam [los aus feinem blauen Grunde, und e8 war, al3 ob er zu 
ihm herüberſchwebe. Leije fing die Orgel an zu tönen, und ſüßer Wohlgerud) 
wehte dem Scläfer entgegen. „Sei getroft, Timotheus,“ ſprach der Heilige 
lächelnd. „Niemand ift dur) Dich zu Schaden gefommen al3 die e3 verdienten. 
Einige leere Scheunen der Pfaffen wurden vom Feuer ergriffen, die Familie 
aber, die verbrannte, waren nur Deine Puppen.“ „O,“ feufzte Timotheus, und 
e3 war ihm, als ob ein ſchwerer Stein von feinem Herzen falle. Der Heilige 
aber legte feine milde, weiche Hand auf die Stine des kranken Mannes, und 
die Zöne der Orgel wurden immer deutlicher und kamen näher. Seht konnte 
Zimotheus auch Worte vernehmen: „Feſt fteht und treu die Wacht am Rhein.“ 
Da ſchlug er die Augen auf und ſchaute in das frijche Antlig feiner Theodora, 
die ſich bejorgt über ihn gebeugt hatte. 

„Was ift das!“ fragte er verftört. 

„Ei, fie bringen dem Herrn Rollmops ein Ständen,“ erwiderte Theodora. 
„Es ift qut, daß fie Dich weckten, denn Du Haft twieder jo lange geichlafen, daß 
Mutter ganz ängftlich wurde.“ 

Timotheus jah an fich herab. Der Pelzrod war verſchwunden. Keine Farbe 
lebte an feinen Händen. Er jchaute bejorgt nad Theodora, aber fie trug fein 
Nonnenhabit, jondern ein blaues Wollkleid, das ihr reizend ftand. „Tolle Ge- 
ſchichte,“ murmelte er, „mit diefen Träumen. Kind, ich meinte wirklich, Du 
wäreſt ind Kloſter.“ 

Theodora lachte laut und rief: „Glaubſt Du, mein Fritz würde das leiden ?“ 


V. 

Die nächſten Tage verfloſſen dem Emeritus im Verkehre mit der lang ent— 
behrten Tochter und im Genuſſe ihrer kindlichen Zärtlichkeit ſo angenehm, daß 
er alles Andere darüber vergaß, nichts aber ſo gern und ſo völlig wie die 
politiſchen Wahlen. Zwar hatte Herr Paſtor Marcus ihn einmal auf der Straße 
angeiprocdhen und dabei den neulichen Austauſch von beleidigenden Neben ins 
Komiſche ziehen wollen, um dann den Heren Rector mit aufgehobenem Zeige 
finger zu mahnen, daß man bei der Stichwahl ſicher auf ihn rechne; Timotheus 
aber hatte dem jungen Eiferer mit einem falten Gruße den Rücken gemwenbet 
und war fürbaß gezogen. Der Wahltag war ohnehin der Tag der Abreije feiner 
Dora, bie von ihrem Fritz feine Verlängerung ihres Urlaubs hatte erwirken 
fönnen, jo jehr auch Eltern und Brüder nedten und drängten. So kam denn 
der Abſchied. Der für die Familie jo unwillkommene Morgen tvar feierlich mit 
Böllerfchüffen eingeleitet worden; denn die Wahlcomite3 hatten beichloffen, heute 
alle zwei Stunden ihre Salven ertönen zu laffen, um die ſäumigen Wähler an 


Unter dem Ratalpenbaum. 15 


ihre Pflicht zu erinnern. Die perfönlicden Mahnungen wollte mar dagegen unter- 
laſſen, denn dieſelben Hatten nicht nur im Haufe des Herrn Rector Verdruß 
hervorgerufen, fondern auch anderwärt3 war e3 zu unliebjamen Zufammenftößen 
gefommen. So geihah «8, daß, ald Theodora’3 Wagen nah Tiſch vorfuhr, und 
Herr Timotheus feiner Tochter eben einen langen und innigen Abſchiedskuß auf 
den rofigen Mund drüdte, die Lippen der Beiden plößlich auseinanderflogen, denn 
gerade dieſen feierlichen Augenblick Hatte fich der tückiſche Kammerjäger gewählt, 
um einen Schuß abzugeben, und in der folgenden Kanonade gingen alle die herz- 
lichen Abſchiedsworte verloren, die daB liebe Kind den Eltern noch zurief. Die Brüder 
iprangen mit Dora in den Wagen, und als derjelbe außer Geſicht war, kehrten 
die alten Leute zu ihrem gewohnten Platze unter den grünen Katalpen zurück, 
die nunmehr im Abblühen waren und Tiſch und Bänke mit ihren welfen Blüthen 
überftreuten. Frau Sophia, an deren Wimpern nod eine Abjchiedsthräne hing, 
nahm ihr Striczeug heraus, und die Gatten jagen ftumm beieinander, indem fie 
den Summen der Bienen laufchten, die die leßten Blüthen des Baumes um- 
ſchwärmten und tief in die weißen Kelche jchlüpften. Der Rector zog nad) einer 
Weile feinen gewöhnlichen Tröfter, die geliebte alte Ausgabe des Phädon, aus 
der tiefen Roctafche und begann zu lejen. Zuweilen machte er einen leichten 
Strich am Rande, wenn ihm eine Tertverbefferung des würdigen Herausgebers 
befonderer Beachtung werth ſchien. Inzwiſchen nahte die wadere Sabine und 
begann leiſe den Tiſch abzuräumen. „Willft Du den Kaffee um vier Uhr wieder 
im Garten trinken?“ fragte Frau Sophia. Der Rector jchlug langjam fein Buch 
zu, dann fagte er: „Die Kinder lieben es jo, und ich bin fein Spielverberber. 
Der Blüthenduft ift freilich, jeit die ganze Erde mit dem Zeuge überftreut iſt, 
ftärfer ala je. Ein wahrer Dtanzanillenbaum, dieſe Katalpa! Als ich geftern 
auf dem bequemen Bänkchen droben einnickte, träumte ich wieder die tollften 
Dinge und hatte beim Erwachen ftarfen Kopfjchmerz.“ 

„Mir ift’8 auch Lieb,“ erwiderte die Rectorin, „daß der Baum bald verblüht 
haben wird. Bis in die fernften Räume erfüllt er das Haus mit feinem be= 
Hemmenden Geruche. Es ift entjchieden des Guten zu viel, und Alerander, unfer 
Mediciner, meint fogar, der Blüthenftaub ſei die Urſache Deiner jchweren 
Träume.” Die jungen Leute waren inzwilchen von dem Bahnhofe zurückgekommen, 
wohin fie die Schwefter begleitet hatten, und während Alerander die lekten Ab- 
ſchiedsgrüße des Lieben Kindes berichtete, ergriff Luß die auf dem Tiſche Liegende 
Phädonausgabe, und nachdem er eine Weile in derjelben geblättert hatte, fagte 
er: „Wie die Leute hübſch drudten vor drei Jahrhunderten und auf welch' ſchönes 
feſtes Papier!” 

„Ja, mein Junge,” jagte der alte Schulmann mwohlgefällig. „Jede diejer 
ihön gejchnittenen Lettern ift ein Zeugniß der Tüchtigkeit unferer Voreltern, 
während unfere heutigen mageren und fehlerhaft gejeßten Ausgaben ein trauriges 
Denkmal unferer Flüchtigkeit fein werden.” Zub lächelte. Er kannte des Vaters 
Stedenpferd und hütete fich, zu widerſprechen. 

„a, ja,“ beftätigte Frau Sophia, „es ift traurig, wie man heut’ zu Tage 
den Kindern mit gelbem Papier und Kleiner Schrift die Augen verdirbt, und das 
beißen fie die Kinder ausbilden.“ 


16 Deutiche Rundſchau. 


„Und was dag Schlimmfte ift,“ fuhr der alte Schulmann fort, indem er 
entrüftet mit jeiner Hand auf feinen Phädon ſchlug, „das Holzpapier, das fie 
jeit den lebten dreißig Jahren maden, vermag dem Einfluß der Luft nicht 
dauernd zu twiderftehen. Wenn ich in der Regiftratur die alten Jahrgänge der 
Gymnafialzeugniffe nachſchlug, wehten mir die Teen ber zerbrödelnden Blätter 
entgegen. Das jchlechte Papier zerjegt fih und zerfällt zu Staub. In fünf- 
hundert Jahren wird die ganze Literatur aus der zweiten Hälfte unſeres Säculums 
Staub und Afche fein.” 

„Gott jei Dank!” entgegnete die alte Frau. „Da werden die Kinder 
wenigftend mit diefen Geſchichten nicht mehr genubdelt.“ 

„Sage das nicht!“ erwiderte der Rector ftrafend. „Es find fchöne Werke 
darunter. Denke an Böckh, an Haupt, an Curtius ...“ 

„Dich jelbft nicht zu vergeffen ..“ lachte die Nectorin. 

„Ach, hätten fie im Altertfum doch auch auf Holzpapier geſchrieben,“ jeufzte 
Zub, „dann hätten wir feine unregelmäßigen Verba zu lernen und fein griechiiches 
Scriptum.“ x 

„So, fo, Du unnüßer Junge!” fagte der Rector entrüftet. „Das alfo ift 
Deine Dankbarkeit gegen das Gymnafium und die claffiichen Studien!“ 

„Ja,“ rief Lu eifrig, „wenn das Gymnafium noch wäre, was es in den 
claijischen Zeiten war! Hui! was wollte ich gern dort meine Tage zubringen. 
Neulich mußten wir die ganze Einrichtung de Gymnafiums zu Elis aus 
Paufaniad auswendig lernen. Statt der engen Schuljtuben, in denen wir 
zufammengepfercht find wie Schafe, die des Metzgers warten, ſchöne Platanen— 
gänge in der Nähe eines Fluffes, in dem man den Schulftaub fid) abwuſch, und 
was für Schulftaub! Keinen Bücherftaub, auch nicht den von Holzpapier, 
ſondern den edlen Staub der Rennbahn. Unſer Gymnaſiarch meint, Sicherheit 
in der griechiſchen Grammatif, da3 ſei der Zweck bes Lebens; da waren die 
alten Gymnaſiarchen andere Kerle. Uh, wenn unfer Gymnafialplan jo lautete: 
Bon acht bis neun Uhr Wettlauf, von neun bis zehn Uhr Singen, von zehn bis 
zwölf Ahr Discoawerfen, von zwölf bis ein Uhr Schwimmen und Mittags 
Ringen, Yauftfämpfe, Wettfahren. Aber mit diefem ſchönen Gymnafium hat 
da umfere leider jo wenig Nehnlichkeit, daß ich zweifle, ob der Name über- 
haupt daher ftammt. Biel wahrjcheinlicher Ieitet man ihn von gymnazein, 
ſchinden ....“ 

„Willſt Du ſchweigen, Du ruchloſer Knabe,“ rief der Rector, indem er in 
komiſcher Entrüſtung die langen Arme in die Luft warf. „Solch' frevelhafte 
Tempelfhänder habe ich in meinem eigenen Haufe erzogen! Wenn das am 
grünen Holze vorflommt! Ei, ei, ei!“ 

Er ſchien doch innerlich jo erboft nicht zu fein, ala er fich ftellte, und die 
beiden jungen Leute fahen wohl, daß er mühſam fein Geficht beherriche, während 
ein Lächeln um die alten faltigen Lippen zudte. Darauf nahm er würdig feinen 
Phädon, Elappte mit demfelben dem tempelſchänderiſchen Lub väterlich auf fein 
rebelliſches Haupt und zog fich, behaglich mit dem Kopfe nidend, nad) dem 
Wäldchen zurüd, um auf feiner geliebten Traumbant fein Mittagsichläfchen zu 
halten. Aber Morpheus jäumte Heute. Die Spöttereien des jungen Mannes 


Unter dem Katalpenbaum. 17 


hatten dem Vater doch einen tieferen Eindruck gemacht, als ex fich felbft zugeben 
wollte. War nicht, mit der antiken Bildung verglichen, die heutige wirklich eher 
eine Unterdrüdung als eine Ausbildung der natürlichen Anlagen zu nennen? 
Gewiß, e3 lebte ſich leichter unter den Platanen Plato’3 als in den dumpfen 
Eorridoren und niederen Schuljtuben des Gymnafiums, in denen er jein 
halbes Leben zugebracht hatte. Vor zwei Jahrtaufenden wurde der Unterricht, 
den er jein halbes Leben lang immer wieder von vorn hatte ertheilen müſſen, 
meift dur Sklaven bejorgt; aber jene Sklaverei, fo jagte er ſich, war doch faum 
drüdender geweſen al3 das harte Leben, auf das er jelbit zurüdjchaute. Vom 
Morgen bis Abend in der dumpfen Schulftube ftehen und Jahr für Jahr die- 
jelben Elemente der alten Sprachen einüben, zu Haufe Schulhefte corrigiren und 
wieder Schulhefte und dann die jparfamen Ferien athemlos ausnützen für eigene 
Arbeiten — war dad etwa fein Stlavenleben? Eine große Bitterfeit überkam 
ihn. a, der tolle Knabe hatte ganz recht. Vor zwei Jahrtaujenden hätte er 
leben mögen, ehe dieje ganze gothiiche Cultur mit ihrem noch nicht übertwundenen 
Mönchsgeiſt über die Welt kam, die die Menjchen in die Zellen fperrte und den 
Buchſtaben anbeten lehrte ftatt der Natur. Er ſah den grünen Raſen am 
Geftade der Sirenen; über dem Ufer erhoben ſich die Tempel von Päftum mit 
ihren ſchweren Dorerjäulen; und drüben rauſchte das blaue Meer die ewige 
Melodie, der ſchon Heſiod's und Homer's Ohr ihren Rhythmus abaelaufcht. So 
viel Licht drang in diefer hellen Welt der Antike auf ihn ein, daß er die Augen 
ichliegen mußte. Um jo deutlicher ftiegen die Bilder vom Golfe von Neapel, die 
alten Städte, deren heilige Trümmer er in den Tagen feiner Jugend auf einer 
Ferienreiſe befucht hatte, vor ihm auf. Er ſah die Efje des Vulcan, die mit 
ihrer Rauchfäule gleich einer Pinie den ſchöngeformten blauen Berg krönte; er 
wanderte dur die engen Straßen von Pompeji und jaß auf den Trümmern 
von Puteoli und Bajä. Leber Erwarten enge und nahe aneinander gerüdt fand 
er Alles, aber wo eine fefte, fenjterlofe Mauer das Haus von dem Lärme der 
Straße jcheidet und dev Menſch nicht nur das Stück Erde unter fi, fondern 
auch ein Stück Himmel über ſich zu eigen hat, da3 auf fein VBiridarium, den 
vom Säulengang umgebenen Innengarten, herabblidt, dba befift man feine ver- 
trauliche Welt für fi, auch mitten in dem Ameijengewwimmel einer engen Stadt. 
63 fam ihm doch wohnlich und heimisch hier vor, und jein Auge ruhte mit 
MWohlgefallen auf dem umhegten Garten, in dem unter dem Marmorbilde der 
Flora eine Duelle hervorjprang, während die auf dem ziegelrothen Wänden in 
hellen Farben gemalten Tänzerinnen ihm fröhlich zulachten. 


VI 
Sn diefem Garten, neben dem plätfchernden Brunnen, ſaß Timotheus auf 
der Treppe des Periftyl und las aus einer ſchönen Handichrift des Phädon einem 
vornehmen Greife vor, der, auf dem Ruhebette ausgeſtreckt, fich fröftelnd in feine 
Toga hüllte „Laß jetzt den Philoſophen,“ jagte der alte Mucius. „Ob die 
Seele fortdauere oder nicht, das Sterben iſt eine häßliche Sache und nicht die 
Ausfiht auf ein jchöneres Leben im Elyfium macht fie mir erträglid, die un— 
gewiß it, jondern das Eine, was gewiß ift, daß fie mich von der unheilbaren 
Deutſche Rundſchau. XVI, 7. 2 


18 Deutſche Rundſchau. 


Krankheit des Greiſenthums erlöſt. Doch reden wir von der Gegenwart. Du 
wollteſt mir heute Morgen, ehe der Anfall mich ergriff, erzählen, daß es Deinem 
Lucian geglückt ſei, den jungen Rappen wieder in meinen Stall zurückzubringen, 
den Scipio mir entführte.“ 

„Wenn es Dich zerſtreut, Herr,“ erwiderte Timotheus, „will ich den Knaben 
rufen. Er wird es Dir beſſer berichten als ich, der ich nur mit halbem Ohre 
ſeiner Erzählung zuhörte, während ich das Pergament für Dein Vermächtniß mit 
Bimsſtein glättete.“ 

Der Kranke nickte, und Timotheus ſchlug auf eine ſilberne Cymbel, die auf 
dem kunſtreichen Tiſchchen vor dem Polſter des ſterbenden Herrn ſtand. Sofort 
erſchien vom Veſtibulum her ein in eine weiße Tunica gekleideter, hochgewachſener 
Knabe mit fchönen hellen Augen, der, die Hände über der Bruft Freuzend, fich 
vor dem Dominus verneigte. 

„Erzähle, wie Du den Rappen geftern einfingft!” jagte Mucius. 

„Wie Du befahlft,“ erwiderte der Knabe, „erwartete ich die Stunde der Diebe, 
ehe ich zur Pferdeweide hinausſchlich. ch wußte, daß Scipio’3 Wagenlenter, der 
uns den Rappen von der Weide weggeführt hatte, ihn in feinen Pferch geſperrt, 
damit er dort an feine Stuten fi) gewöhne. Aber Bucephalus kennt meinen 
Pfiff, darauf vertraute ih. Es war etwa zwei Stunden vor Sonnenaufgang, 
al3 ic) an dem Gehöfte anfam. Die Pferde lagen am Boden ausgeftredt, unferen 
Bucephalus aber mochten die anderen Hengfte mit Biffen und Schlägen tractixt 
haben, denn ex lag allein für ſich abfjeit3 von der Herde. Um jo leichter konnte ich 
mid an ihn machen. Ich ſah, wie der Schtwarze das Haupt erhob und ſchnupperte, 
al3 er meine Schritte hörte. Mit gekrümmtem Rebmeſſer Löfte ic) nun bie 
Stangen des loder gefügten Gehegs, jo daß eine Lücke entftand, aber weislich 
nicht in der Richtung auf Deine Höfe, jondern nad) der Villa des Marcus zu, 
des hageren Geizhaljes, dem die Nachbarn jede Schalfheit zutrauen, damit auf 
ihn der Verdacht des Diebftahles falle. Als ich die Arbeit beendet, pfiff ich Leife 
den Triller, an den ich Deine Rofje gewöhnt habe. Wenn der Wächter es hörte, 
modte er denfen, daß einer der Hirten ſich die Nachtwache mit der Syrinx 
verfürze. Der Nappe aber ſchoß alsbald in die Höhe und fprang herüber an 
meine Seite. Die übrigen Mähren redten nur müde die Köpfe und wurden 
jofort wieder ruhig. Ich aber ſchwang mic auf des Thieres Rüden, und nad: 
dem ich ihn eine Weile am Hag Hin» und hergeführt, ließ ic) den Rappen, wie 
er gelehrt ift, rückwärts gehen, jo daß im Sande die hinteren Hufen zuerft ſich 
abprägten, und es jo jchien, al3 ob die Spuren von de Scipio Gehöfte in de3 
Marcus’ Gehege hineinführten. Sobald wir jo die gepflafterte Straße erreicht 
hatten, wendete id) um und jagte heimmwärts. Wenn fie nun heute den Spuren 
nachgehen, werden fie im Gehege de3 Marcus Umschau Halten und dann in dem 
der folgenden Nachbarn, an und aber werden fie ſchwerlich denken.“ 

„Und bat Did Niemand gejehen auf Deiner Diebesfahrt ?” fragte der Herr 
mit miüden Lächeln. 

„Wohl Jah ich,“ erwiderte der Knabe, „als ich die nadhterleuchteten Pfade 
dahinritt, umferen Nachbarn, den greifen Glaucus, vor Anbrud des Morgens 
bereit3 nad) jeinem Weinberge hinausgehen, und er ſchaute mißtrauiſch auf den 


Unter dem Katalpenbaum. 19 


nächtlichen Reiter. Ich aber ftellte den Rappen und jagte: ‚Höre, Greis, wenn 
Du gebüdt Rebſtöcke gräbft, kannſt Du nicht jehen, ob Hinter Div ein Pferd 
oder ein Reiter vorbeifam, und Deine Jahre machten Dich ſchwerhörig, jo daß 
Du auch hellen Ton des Pferdehufes nicht vernehmen kannſt. Diefes anttworte, 
wenn man Dich fragt, jonft könnten eines Morgens Deine Reben abgejchnitten 
fein und Deine Kelter häßliche Löcher de3 Bohrers zeigen. Verſtehſt Du® Er 
aber nidte mit dem Kopfe. ‚Schweigen,‘ ſagte er, ‚it die Weisheit des 
Schwaden. Vieles verfteht der Fuchs. Der Jgel nur Eines, doch frommt es 
ihm. Gr rollt fih zujammen. Dies ift auch Glaucus Waffe‘ Da warf ich 
ihm ein Geldftüd zu und trabte weiter, damit der die Menjchen zur Arbeit er- 
werdende Morgen mich nicht überfalle. Auch kam ich unbeläftigt nad) dem Ge— 
höfte, und al3 Bucephalus die gewohnte prangende Grasflur gejehen und die 
ſchimmernde Tränfe, da wieherte er fröhlich. Ich aber führte ihn in den inneren 
Hof und jagte Stephanus, er jolle ihm Dein Zeichen fofort einbrennen, um 
Scipio’3 diebiſchen Hirten den Pferdefang zu verleiden.“ 

Mit Wohlgefallen Hatte der Franke Muciud dem Berichte jeines Sklaven 
zugehört. „Du gleichft dem liftenerfinnenden Hermes,“ jagte er lächelnd, „der 
von Pieria's jchattigen Bergen die unfterblichen Ninder der Seligen entführte. 
Gehe, mein Huger Knabe, ich werde Deiner gedenken, und wenn Alerander mit 
den Geſchäften des Gartens geendet hat, mag er Dich ablöfen ar der Pforte, 
damit Du nad) Bucephal fiehft und mir wieder berichteft.“ 

Lucian verbeugte ſich und kehrte nad) feinem Pförtnerftübchen zurüd. Der 
Kranke aber ſchaute ihm mit einem wehmüthigen Blide nad). „In diefem Alter 
jtände nun mein Enfel Evenos, wäre er nicht gleich meiner Tochter der räthſel— 
haften Krankheit erlegen, die fie aus Marcus Bechern tranfen, und nun exbt 
Scipio Alles. Der Uebermüthige aber kann nicht einmal warten, bis ich in 
Charon's Nahen ſchaukle. Noch im letzten Augenblide fängt er mir die Rofje 
von der Weide.“ 

„Er dachte nicht,“ erwiderte Timotheus, „daß Du Dich) noch fümmerft um 
Deine Habe.“ 

„sa, er beeilt ji,“ jagte der Greis. „Er beerbt mic) bei lebendigem 
Leibe.“ 

„Und warum läſſeſt Du ihn erben, Herr?“ fragte der Sklave vorwurfsvoll. 

„Er hat mir die Schlinge feſt um den Hals gelegt,“ antwortete der Kranke 
leiſe, „und wenn ich auch bald das Haupt herausziehe, die Rache würde auf 
Lebende fallen, die mir werth ſind. O, wie ich mich ſehne, allen dieſen Er— 
innerungen zu entfliehen, auszuruhen von der langen Krankheit des Lebens und 
traumlo3 dort unten zu jchlafen, two ich das Grabmal mir baute, nahe dem 
Etrande Pojeidon’3, von des Meeres ewiger Klage gewiegt!“ 

Zimotheus jah finnend auf die Handſchrift des Phädon, die vor ihm lag; 
er hätte jo gern den Sterbenden an da3 Tejtament erinnert, deſſen Abfafjung 
Mucius immer und immer wieder hinausſchob. 

„Die Gemeinheit ſchwelgt,“ begann er darum aufs Neue, „und es darben 
die Edeln. Deshalb gaben die Geſetze dem Greiſe das Recht, die Ungleichheit der 
Looſe zu mildern, indem ex einen Theil feines Reichthums den erprobten Freunden 

* 


20 Deutihe Rundſchau. 


und Dienern hinterlafien darf. Noch lange jpinne die Parze Deinen Lebensfaden, 
und Zeus mehre Deine Jahre von den unferen. Täglich bitten wir die Oberen 
darum mit erhobenen Händen; aber wie e3 ihnen gefällt, fügen die Götter den 
Schluß. Darum wäre e3 weile, Herr, wenn Du heute das Vermächtniß jchreiben 
wollteft, wofür Du mi das Pergament jchon geflern glätten ließeſt. Zögere 
nicht, denn Deine Erben lauern. Im Umſehen werden fie da jein, oder es täufcht 
mid) ein Gott. Ich zweifle, ob fie auch nur Deinen legten Odemzug abwarten. 
Du fiehit es ja; jchon jebt fangen jie Div die Pferde von der Weide.” 

„Morgen, Timotheus,“ fagte der Kranke mit matter Stimme. „Meine Hand 
ift Heute ſchwach. Ach kann nicht jchreiben.” 

Timotheus ſeufzte. „Zögern wird er und zögern, bis es zu jpät ift.“ 
Eorgenvoll prüfte der Sklave die Züge feines kranken Heren, die ihm heute noch 
weniger als geftern gefallen wollten. Die Augen de3 Kranken ruhten müde auf 
den zitternden Waſſern de8 Springquell3 und den dunfeln Blättern der Lorber- 
büſche. Plögli aber ging ein Lächeln über das Geficht des Greiſes: „roh wie 
Flora,“ fagte er leife, „in der Hand ein Myrthenreis und friſche Rosen, tritt fie 
herein, und bejchattend fällt um Bruft und Naden die ambrofifche Locke.“ 
Timotheus jah hinüber und entdedte Hinter den Büjchen das belle Gewand feiner 
Tochter, die in dünnem Frauengewande gleich einer lieblichen Viſion von den 
roth getünchten Wänden ſich abhob. „WVielleiht, daß fie den Herrn geneigter 
jtimmt,” dachte er und winkte feinem Mädchen. „ſtomm' Theodora,“ rief er, 
„bringe dem Herrn Deine Roſen.“ Gleich Artemis, in eine kurze Tunica gekleidet, 
fam die junge Sklavin zwiſchen ihren Blumenbüjchen hervor, und des Greifes 
erlöfchendes Auge hing wohlgefällig an der finnberidenden Schönheit der jugend 
lichen Formen. Mit einem freundlichen Lächeln nahın er einzeln die Roſen, die 
fie ihm reichte, und legte fie neben fi) auf das Tiſchchen. „Dein Bruder 
Alerander,“ jagte er, „verfteht Blumen zu ziehen wie feiner vor ihm. Aber 
was ſoll diefer Epheufranz? Die Zeit der Gelage ift vorüber für Deinen 
armen Herrn.“ 

„Die Mutter meinte,“ ſagte das junge Mädchen zutraulich, „Eppich Kühle 
fieberheiße Schläfen. Soll ih den Kranz Dir aufjegen, Herr?” 

Mucius nickte ihr Freundlich zu und neigte das alte Haupt ihr entgegen. 
Da trat fie näher, beugte ihre jugendwarme Geftalt über den fterbenden Dann 
und drücte mit ihren zarten Händen den Kranz auf das jpärliche weiße Haar 
des Greiſes. Diefer aber legte die welken Hände um die vollen Hüften der 
üppigen Sklavin und jagte: „Küffe mid, Theodora.“ Sie hauchte einen Kuß 
auf die faltige Wange und richtete fih) dann Lächelnd empor. — Er aber hielt 
fie feft und fagte ſcherzend: „Ya, wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, Tieße ich 
Did nicht los, bis Du die ganze Schuld entrichtet Hätteft. Nun bim ich welk, 
und Du wünjcheft wohl jelbft, ein Jüngerer als Mucius hätte Eu) aus dem 
Nachlaß des Kreon gekauft?“ 

„Bielleicht, Herr,“ erwiderte die junge Sklavin. „Einem jungen Herrn hätte 
ich meine freiheit ſchon lange abgeihmeichelt.“ Als fie aber einen forjchenden Blick 
ihrem feden Worte nachſchickte, ſah fie, wie die Mlienen des Greifes ſich ver- 
düfterten. „Du trägft,“ jagte er bitter, „da3 Schwert verhüllt in Myrthen und 


Unter dem Ratalpenbaum. 21 


Roſen wie Harmodius und Ariſtogeiton. Kein Tag verſtreicht mehr, daß ihr 
mich nicht mahnt. Laß das, Kind, mein Verſprechen könnte mich ſonſt gereuen.“ 

Gekränkt zog ſich das Mädchen zurück, doch langſam und öfter umblickend, 
ob er ſie nicht zurückrufe. Aber Mucius hatte ſich wieder in ſeine Polſter fallen 
laſſen und verglich die Farben der Roſen, die ſie ihm gebracht hatte. Düſter 
und ſorgenvoll ſaß Timotheus neben ihm und ſchaute finſter in ſeinen Phädon. 
Der Kranke ſah es, und trotz ſeiner uneingeſchränkten Gewalt von dem Diener 
abhängig, auf deſſen guten Willen er angewieſen war, begann er begütigend: 
„Deine Tran räth gut. Der kühle Kranz, den Sophia mir ſchickte, lindert die 
Hitze. Sie mat ihrem Namen Ehre. Nicht das erfte Mal ift e8, daß ihre 
Weisheit findet, was mein Leiden erleichtert.” 

„Möchte e3 ihr noch lange gelingen, Herr,” verjeßte Timotheus, „den dünner 
werdenden Lebensfaden zu neben, daß er nicht abreißt; denn die Parze, die ihn 
durchichneidet, zerichneidet auch unſer Glück,“ und er feufzte. 

„Du fürchteſt Dih vor Scipio,” fragte der Kranke. 

„Er iſt ein harter Herr,“ entgegnete Timotheus traurig; „aber mehr ala 
den befannten Deſpoten fürchte ich die unbefannten. Du wareft gütig und mild. 
Meder nad) der Jugendblüthe meiner Tochter noch nad) der meiner Söhne ftredteft 
Du begehrlihe Hände. Du vermwendeteft mein Wiffen und Können auf Die 
Büherfammlung, die ich verdreifacht habe, Du jeßteft Sophia über die Köche 
und ihrer Sorgfalt und Eugen Wahl der Speijen verdanken wir es, daß das 
achtzigſte Jahr hinter Dir Liegt. Lucian vertrauteft Du die Hut der Pferde und 
Alerander den Dienft in Garten und Haus, wie ed den Neigungen und Gaben 
eines Jeden entiprad. So blieben wir beifammen, während viele Knechte nicht 
wiſſen, welches Land ihre Kinder bewohnen, wie fie ſelbſt nicht zu jagen ver- 
mögen, wer ihnen Vater und Mutter geweſen ift. Nun wird das Alles anders. 
Scipio bringt jeine Sklaven mit herüber in Dein Haus. Was foll der Soldat 
mit Büchern? Er wird mid) verlaufen, ob an einen Buchhändler, ob in die 
Waltmühle, wer weiß es? Sophia wird vielleicht im Weinberge baden und 
jäten müfjen oder Wafler fchleppen mit den alten Schultern. Die Knaben ver- 
ihadert er an einen Wüſtling in Rom, und wen Theodora zufällt, da3 mag 
Aphrodite wiſſen. Vielleicht werden wir aud) Alle am Lebten des Monats nackt 
auf dem Markte zum Verkaufe ftehen, Alte und Junge” Ex jeufzte wiederum 
und twartete dann, ob fein Herr irgend Etwas erwidern werde. Als aber feine 
Antwort erfolgte, fuhr ex fort: „Ich weiß, Herr, was Dich abhält, uns vor 
Deinem Tode noch frei zu laſſen; darf ich es ausſprechen?“ Der alte Mann 
hatte mit finfterer Miene zugehört. Seht erhob er das Haupt, und indem er 
dem Sklaven einen forjchenden Blick zufendete, der doch bereits der eines Sterben- 
den war, ſprach er mit ſchwacher Stimme: „Rede!“ 

„Du glaubft," jagte Timotheus janft, „Du würdeſt dann minder qut be- 
dient fein. Du fürdteft Did, wir könnten jofort unfere Freiheit antreten und 
bangft vor neuen Gefichtern. Das einzige Hinderniß unferer Freiheit iſt Dein 
Verlangen, e3 möchte bi3 zu Deinem lebten Athemzuge Alles hier bleiben, wie 
es iſt. Darum vertröfteit Du uns auf Dein Teftament, das doc niemals zu 
Stande kommt.” 


22 Deutiche Rundſchau. 


Der Kranke nickte leife mit dem Haupte. Da erhob Timotheus feierlich 
beide Hände zum Himmel und rief: „So höret mich, Yhr Götter der Unterwelt, 
und lafjet mein Mark verdorren, wenn ich den Schwur breche. Nichts ſoll fich 
hier ändern, jo lange der edle Mucius Leben und Odem hat. Läßt er uns frei, 
jo wollen twir dem Patronus noch eifriger und forgjamer dienen als jetzt dem 
Dominus. Jedes Haar feines Hauptes ſoll uns heilig fein, jo wahr id die 
Oberen ehre und den alltwaltenden Zeus!” Nachdem er jo geiprocdhen, verhüllte 
er fein Angefiht und warf fi vor dem Bette feines Heren flad auf die Erbe. 

„Stehe auf!” ſagte der Kranke. „Rufe die Deinen. Ich will fie befragen, 
ob fie Dein Verſprechen befräftigen ?“ 

„DO, Herr, jei gejegnet für diefes gute Wort,“ rief Timotheus. „Ich eile, 
ich fliege!” Damit verließ er raſch das Periftyl und lief zu den Frauen. Beide 
fand er an dem Herde, wo Sophia den Koch anwies, gehadtes Fleiſch jo zu 
tochen, daß alle Kraft in einer Heinen Brühe ſich jammle, und diefe dann durch 
alten Wein jhmadhaft zu machen. Theodora aber war bejchäftigt, ein Tiſchchen 
mit Speifen zu rüften und mit Blumen zu zieren, damit e3 jo geſchmückt in das 
Triklinium getragen werde. Als aber Timotheus an der Thüre erichien und mit 
eifrigem Kopfniden ihnen zuwinkte, verjtanden ſie feine Blicke fofort, ließen die 
Arbeit und kamen zu ihm heraus. „Endlich ift ex bereit,“ ſagte Timotheus, 
„tommt eilig. Wo it Lucianus?“ 

„Ah!“ rief Sophia, „nun ift ex nad) der Pferdeweide, damit der Herr nicht 
argwöhniſch werde. Alerander ſoll ihm raſch nachſetzen und ihn zurücholen.“ 
Damit eilte fie hinaus ins Veftibulum, um Alerander dem Lucianus nachzu— 
ſenden. „Diefer Verzug ift widrig,“ ſagte Timotheus unwillig. „Do nützen 
wir ihn. Gehe Du, Dora, zum Lictor und bitte ihn, Zeuge unferer Freilaſſung 
zu fein. Unſer eigenes Zeugniß würde nicht gelten in ſolcher Sache, und die 
anderen Knechte werden fich hüten, Zeugniß zu geben, da ein Sklave jedes gericht- 
liche Zeugniß auf der Folter erhärten muß. Alſo laufe zu dem nächſten Lictor, 
den Du trifft. Verſprich ihm Alles, Wein, Gold, Dich jeldft, nur jchaffe ihn 
ber, daß nicht unfere ganze Arbeit vergeblich geweſen jei. Eine ſchmucke Sklavin 
wird ihn leichter herein loden, als id) es könnte. Auch darf ich das Haus nicht 
verlaffen. Mucius könnte rufen, und wehe ung, tvenn ich nicht hier wäre.“ 

Die junge Sklavin ftrih mit ihren beiden jchmalen Händen die Haare 
zurück und ordnete die Falten ihre Gewandes, dann ging fie, indem fie den 
Kopf herausfordernd in den Naden warf, zur Ihüre, während die Eltern in dag 
Haus zurückkehrten. 

Da der Kranke fi fill verhielt, jehten fich die beiden Alten auf eine Bank 
in dem dem Periftyl benadhbarten Tablinum, und Sophia ließ fich leiſe erzählen, 
wie Timotheus den Kranken endlich zu feinem Entſchluſſe gebracht habe. 

„Das Märchen von dem entführten Rappen hat gewirkt,“ jagte ex vorſichtig 
umblicend. „Ach wußte, daß ihn eine ſolche Geichichte grimmig gegen Scipio 
aufregen werde. Hörte er, daß fein Erbe ſchon jetzt anfange, jein Eigenthum an 
fich zu reißen, jo mußte ihn das antreiben, ein Teftament zu machen, das nur 
zu unferen Gunften ausfallen Fann.“ 

„Ach,“ ſeufzte Sophia, „wenn nur die Lüge nicht entdedt wird.“ 


Unter dem Katalpenbaum. 23 


„Wie wäre das möglich,“ erwiderte Timotheus. „Unjere Knaben allein 
haben die Pferde unter jih. Niemand kann wiffen, ob der Rappe einen Tag 
fehlte oder nicht. Selbft wenn er Scipio den Diebftahl vorrüden follte, jo Tann 
e3 ihm nicht auffallen, daß diejer die Sache leugnete. Zugeftehen würde er fie 
ja natürlich niemal3, auch wenn fie wahr wäre. Uebrigens erzählte Lucian jo 
Ihön, daß nicht der Schatten eines Verdachtes in Mucius' Seele aufftieg.” 

„Aber Du jagteft,“ frug Sophia, „er wolle uns jet jchon freigeben?“ 

„Das eben ift es, was ich erreicht habe,“ fagte Timotheus triumphirend. 
„Er geftand, daß Ecipio ihn völlig in der Hand habe. Kürze er ihm das Exbe, 
jo werde Scipio an feinen Freunden ſich rächen. Jupiter wird willen, was fie 
gemeinfam verübt haben, daß er fich in die Hände diefes Tyrannen gab. Sobald 
er uns aber frei gelafjen hat, gehören wir nicht mehr zu dem Inventar, und 
Scipio, der lange feine Augen auf Theodora richtete, hat das Nachſehen.“ 

„Maja's Sohn ftehe Dir bei, daß Deine Ränke glücen,” rief Sophia. „Mir 
ift bange bis Mucius das Wort vor dem Lictor geſprochen hat, das er nicht 
zurücdnehmen fann.“ 

„Ganz recht,“ jagte Timotheus. „Sind wir erft frei, dann tollen wir 
icon noch das Teſtament erzwingen. Dann fönnen toir ganz ander auftreten 
als jebt, da ein ungeſchicktes Wort Alles verderben würde.“ Sophia jeufzte, 
und in banger Stille jaßen die Gatten beijammen und warteten mit £lopfendem 
Herzen in zitternder Unruhe auf die Rückkehr ihrer Kinder. Als Freigelafjener, 
berechnete ſich Timotheus inzwiſchen, werde er ein geborgener Mann fein. Er 
hatte bei ficheren Leuten angelegt, wa3 er im Haufe und was Sophia in der 
Küche erübrigt hatte. Auch die Knaben hatten ihre Ausjtände, wie er wußte, 
Alexander für verkaufte Pflanzen, Lucian für verheimlichte Füllen. Selbft 
Theodora hatte für Hoffnungen, die fie den Stußern von Neapolis und Bajä 
machte, manchen Silberdenar heimgebradt. „Und Wort gehalten hat fie nie, 
da3 tugendhafte Kind,” dachte der alte Sklave gerührt. Endlich hörte er draußen 
Schritte. Sophia flog nad der Piorte und öffnete. Timotheus ſah, tie 
Theodora mit einem Gerichtäbeamten eintrat, der jeine Hand fühn um ihre Hüfte 
gelegt hatte, und jobald fie im Schatten des Atrium angefommen waren, drückte 
er jogar einen Kuß auf die blühende Wange, die fie lächelnd gewährte. Aber 
frau Sophia ſchloß die Thüre nit. Das deutete darauf, daß aud) die Söhne 
bereit3 nahe feien, und in der That ſah Timotheus Beide eilig eintreten. Nun 
erhob aud er fih. Er ging dem Lictor ehrerbietig entgegen und ſetzte ihm 
augeinander, der Herr habe bereit3 jeine ganze Familie frei gegeben und wolle 
jein Wort in Gegenwart des Gerichtäbeamten befräftigen, damit fein Zweifel 
an feinem Willen beftehen bleibe. Der Lictor, ein ftattlicher Kriegamann, hörte 
mit halbem Ohre die Erzählung des Sklaven, während er feinen Bli von der 
ihönen Theodora verwendete. „Wir wollen leiſe eintreten,“ ſagte Timotheus, 
„von Dir aber, Lictor, erbitte ih die Gunft, daß, falls Mucius eingenict ſein 
jollte, Du in Geduld warteft, bis er wieder erwacht ift. Dauert es Dir zu 
lange, jo kann Theodora durch die leifen Klänge ihrer Zither ihn wecken, jonft 
fönnte er zürnen über die Störung jeines Sclafes.” 


24 Deutiche Rundſchau. 


Vorfihtig und geräufchlos traten darauf die Anweſenden in dad Viridarium., 
deſſen Sand unter ihren Sandalen knirſchte. Sie jahen den Kranken auf feinem 
Polſter ausgeftredt, jo daß das weiße Haupthaar mit dem Gpheufranze ihnen 
zugefchrt war. Still ſchlich Timotheus ihm näher und beugte vorjichtig ſich 
über ihn hinab. Plötzlich aber ftieß er ein wildes Klagegeheul aud. „O, ihr 
Götter des Hades,“ rief er. „Er ift todt, todt!” Schreiend, klagend, das Haar 
raufend, ftürzten nun aud die Anderen zum Lager und faßten den todten Herrn 
an den Händen. Sophia nebte ihm da3 Haupt mit Wafler, Theodora brachte 
Mein, um ihm denjelben einzuflößen. Aber es war Alles vergeblid. Mucius 
war todt und blieb es. Während die Anderen aufs Neue wilde Hlagerufe zum 
Himmel emporjdidten, jo daß das Haus widerhallte von dem gellenden Gejchrei, 
lehnte Timotheud gebrochen an einem Pfeiler des Periftyl. „Ach erkenne euch, 
rächende Götter,“ ſprach er leife. „Ohne da3 Märchen von dem Pferde, das ich 
ihm aufband, wären die Söhne zur Stelle gewejen, und fein Odem hätte noch 
gereicht, das Löjende Wort zu ſprechen. An meiner Lüge gehen wir zu Grunde. 
D Zeus, allwiffendes Auge der Welt, wie ftrafjt Du ftreng, Du vergeltender 
Dämon!“ 

Die nächſten Tage bradte Timotheus in ftarrem Brüten über feine ge— 
ſcheiterten Hoffnungen bin. „Mein Lebensichifflein neigt fich zur Seite,“ dachte 
er. „Bereits füllt die Woge den Boden des Kahns, und von dem zerbrocdhenen 
Maſte hängen die zerriffenen Segel in eben. Aber haft Du denn je auf ein 
anderes Ende der Fahrt gerechnet, Sklave? Mag ein freundliches Geſchick dem 
Knechte vergönnen, eine Meile ſich des Familienlebens zu freuen gleid) dem 
Freien, am Ende reißen fie und doch immer wieder auseinander!" Schmwer- 
müthig nidte ex mit dem grauen Haupte. Er mußte ja noch froh fein, daß 
der jchlimme Tag jo lange gezögert hatte. Seine Kinder waren doch twenigjtens 
gereift und mochten nun jehen, mit welchen Mitteln fie die Gunft ihrer neuen 
Herren erfaufen würden. Was wollte eine joldhe Trennung heißen gegen andere, 
die er erlebt, bei denen man zarte Kinder ihren verzweifelten Müttern entriffen 
oder hülflofe Greifinnen an rohe Bauern verfauft hatte. Faſt mußte er fich 
ſchelten, wenn er es hart fand, daß Sophia und er auf ihre alten Tage jcheiden 
jollten. Kannte er doch das 2008 feiner eigenen Vorfahren! Hatte etwa ihnen 
eine liebende Hand die Augen zugedrüdt, als fie ftarben? Seinen Water hatte 
der Prätor foltern und freuzigen laffen, weil er für die Verſchwörung des Panja 
Botengänge gemacht hatte. Hätte er diefen Dienft veriveigert, To hätte freilich 
fein Herr die Muränen im Filchteiche mit feinen Gliedern gefüttert. Der Prätor 
erkannte da3 an, aber freuzigen lieh er ihn dennod. Gr war ja nur ein Sklave, 
und e3 geichah wegen des Beifpield. Auch fein Großvater war gefreuzigt worden, 
weil einer der Sklaven den gemeinfamen Herrn ermordet hatte und ſich dann 
der Strafe durch Flucht entzog. Natürlicdy mußten da die Anderen büßen. Mit 
ihrem Schidjal verglichen, war fein Loos bis jet ein beneidenswerthes geweſen, 
und warum follte jein Glück ihm nicht treu bleiben? Alles fam darauf an, 
an wen ihn Scivio verkaufte? Die Irennung von feinem Weibe blieb ihm 
freilich ein herber Schmerz, allein er wußte zum Voraus, da nur das Leid nicht 
zu überwinden fei, das ſich am eigenen Leibe täglich erneuert. Aehnlich ſchienen 


Unter dem Katalpenbaum. 2 


Söhne und Tochter zu empfinden, bie in Erwartung der unvermeidlichen Trennung 
ſchon jeßt ihre eigenen Wege gingen. Die jchöne Theodora ſaß oft Stunden lang 
ruhig im Biridarium, legte die Hände in den Schoß und ſchien von einer glänzen- 
den Zukunft zu träumen, denn fie war offenbar dev Meinung, daß fie in der 
Hauptjache gewonnen habe, indem fie aus dem Befite de3 welken Greijes in die 
Hände eines feurigen Soldaten übergegangen fei, und fie traute fich zu, für ihre 
Mutter wenigftens ein freundliches Loos zu erwirken. 

In jo getheilter Stimmung fand der Begräbniktag die Sklavenfamilie, ala 
die Nachbarn aus den Villen und die Fiſcher vom Strande fich verfammelten, 
um der fterblihen Hülle ihres Herrn die letzte Ehre zu erweilen. Da ber neue 
Herr Timotheus geboten hatte. in der Villa zurüczubleiben, jah dieſer vom flachen 
Dade aus zu, wie der Leichenzug ſich entwidelte. Die üblichen Leichenordner 
und ſchwarz gefleidete Lictoren eröfineten den Zug. Ihnen folgten zehn Flöten- 
bläfer, deren Trauermarſch dem betrübten Sklaven ſchmerzlich durch die Seele 
Ichnitt. Gedungene Klagefrauen ftiehen ihr Zetergeichrei aus. Ein Mime, in 
der treu nachgebildeten Maske des Verftorbenen, jchritt im purpurgeftreifter Toga, 
am Stode geftüßt, wie man Muciu3 in den legten Jahren gejehen, in würdigem 
Abftand Hinter ihnen her; aber während die zufchauende Menge pries, wie treu 
die Maske die Züge und ihr Träger die Haltung deö wohlbekannten Greifes 
twiedergab, wendete Timotheus jchmerzlich das Haupt. Ihn verlehte es, den von 
einem Schaufpieler nachgeäfft zu ſehen, um den feine Seele trauerte. An den 
Einen ſchloſſen andere Hiftrionen fih an, welche die Bilder von Mucius' Ahnen 
in langer Reihe vergegenwärtigten. Dann folgte ein Wagen, geſchmückt mit 
Trophäen, die der verdiente Mann in feinen Tyeldzügen erbeutet hatte. Mit 
geſenkten Fascen ſchritten Lictoren neben demſelben. Endlich aber erſchien, um- 
dampft von Räucherpfannen, die Todtenbahre und auf derſelben die Leiche ſelbſt, 
etwas aufgerichtet über einem Polſter, das mit verſchwenderiſcher Pracht aus— 
geſtattet war. Das Paradebett wurde durch geringe Leute getragen, deren 
Patronus der Verſtorbene geweſen. Nun erſt folgten in grauen und ſchwarzen 
ZTrauergewändern die Bertvandten und Freunde und die große Schar Derer, die, 
dem Heroldörufe gehorchend, dem Zuge ſich anichloffen. So bewegte der Conduct 
fih nad) dem Strande hinunter, wo Scipio die Rede auf den Hingeſchiedenen 
halten jollte, um ihn dann, wie der Geichiedene angeordnet, unverbrannt in der 
Gruft, die er ſich gebaut, beizujeßen. 

Während diefe Dinge ſich abipielten, ſaß Timotheus traurig auf dem flachen 
Dache der Villa und ſchaute hinunter nad) dem Strande, wo die Schar der 
Leidtragenden und Neugierigen das thurmartige Grabmal umgab. Die blaue 
See dahinter war ftill und dunkel, und jelbjt die Rauchwolke des Veſupv, die ſich 
ſchwer herabjenkte, dem Meere zu, jchien die Trauer zu theilen, die durch das 
Herz des alten Sklaven zog. „Auch ein glückliches Sklavenloos, wie es mir 
gefallen,“ jeufzte Timotheus, „endet Schließlich in Trauer. Wer nicht auf fich 
fteht, jteht überhaupt nicht. Nie kann er wiljen, wann er zur Erde geichleudert 
wird! Darum nenne ich die Knechtichaft der Uebel größtes. So oft jah id 
die Sonne drüben hinter den Anfeln im Purpur verfinten und fühlte den Abend— 


26 Deutſche Rundſchau. 


wind friſcher von der See herüberwehen nach unſeren Gärten, aber noch nie 
war mir der Farben Spiel und der Lüfte Kühlung ſo widrig wie heute.“ 

Einige Stunden ſpäter, als der Abend bereits hereingebrochen war, kam der 
neue Herr mit den beiden nächſten Anwohnern ſeines Erbes in die Villa, um 
zum erſten Male hier ſeine Mahlzeit einzunehmen. Er ſelbſt machte auch in der 
Toga den Eindruck eines tapferen Soldaten. Sein Geſicht war von den Feld— 
zügen im Orient gebräunt, und die energiſche Römernaſe, die funkelnden dunkeln 
Augen, das ſtark hervorſpringende Kinn deuteten auf einen feſten Charakter. 
Mit ihm kamen die zwei nächſten Nachbarn, Marcus und Pollio. Der Erſtere, 
ein hagerer, hoch aufgeſchoſſener Grieche, deſſen Alter ſchwer zu beſtimmen war, 
galt für einen Wucherer und Geizhals. Dennoch weilte er viel in den Tempeln 
und hatte die Weihen zahlreicher Myſterien empfangen. War er als Provinziale 
nur durch ſein Geld bedeutend und durch ſeinen Einfluß bei den Prieſtercollegien, 
ſo that ſich dagegen Pollio viel auf ſein altes Geſchlecht zu gut und ſprach gern 
von der großen Rolle, die er im Senate, nicht als Redner, wohl aber als Unter— 
händler und Vermittler fpiele. 

„Ih muß geſtehen,“ jagte Marcus, indem er mit ſachkundigem Blicke den 
Werth der Villa und ihrer Einrichtung abſchätzte, „daß unferem Scipio da ein 
unvergleichlicher Beſitz zufiel. E3 gibt an unferer Küfte größere Paläfte, aber 
ſchwerlich einen, der jo wohnlid) und jo geihmadvoll ausgeftattet ift. Ich glaube, 
Pollio, unfere Grundftüde zufammen haben nicht den Werth, der für das des 
Mucius erzielt werden wird, falls Scipio jein neues Erbe verkaufen follte.“ 

„Nehmt Platz, Ihr Herren,“ jagte Scipio, indem ev mit der Hand nad) dem 
Speijezimmer deutete, wo um einen Tiſch drei Polfter aufgeftelt waren. Die 
Genoffen folgten der Einladung, und auf ein Zeichen, das der die Bedienung 
leitende Timotheus gab, brachten Alerander und Lucian filberne Becken mit 
wohlriehendem Waller und weichen purpurgeränderten Tüchern, worauf die 
Säfte ihre Hände wuſchen, während Timotheus in gleicher Weiſe dem Herrn die 
Scale hielt. 

„Ich will Unglüd haben im Würfeljpiel,“ ſagte Marcus, „wenn ich je 
ſchönere Beden und feinere Tücher gebraucht habe.“ 

„Ja,“ ermwiderte Scipio troden, „Muciuß liebte die Pracht. Ich glaube 
aber, daß ich den ganzen Kram verkaufen werde. Was ſoll ein Soldat mit 
diefen perfifchen Apparaten? ch Liebe es, meinen Falerner ohne viele Umftände 
hinabzugießen.“ 

„Da muß ich vorſichtig ſein im Loben,“ erwiderte Marcus, „damit ich mir 
die Preife nicht felbjt vertheuere, denn unter den Käufern wirft Du auch mid 
finden.“ 

„Sei und günftig, o Bacchus!“ jagte der alte Pollio, indem er fich gegen 
eine Statuette des Gottes verneigte, die auf dem Tiiche ftand und dann den Wein: 
becher ergriff, den Alerander ihm darreichte. Marcus folgte feinem Beiſpiel, in» 
dem er unter tiefer Neverenz einen Tropfen feines Weines gegen das Idol fprengte. 

„Immer der Gottesfürdhtige,” jpottete Scipiv. „Doc halte es Jeder wie 
er will. ch meinerjeits vertraue auf nichts al3 auf meine eigenen Augen und 
mein gutes Schwert.“ 


Unter dem Katalpenbaum. 27 


„Deine Trauben follen fauer werden,“ jagte Marcus ablehnend, „wenn 
diefer Falerner nicht der ſchönſte ift, den ich jemals getrunfen habe. Ihn darf 
ich wohl loben, denn die Weinvorräthe wird Scipio ſchwerlich veräußern wollen.” 

„So thöriht wird meines Vaters Sohn nicht fein, wie ich ihn fenne,“ 
entgegnete Scipio. „Alles kann man wieder erjegen, nur nicht alten Wein.” 

„Und wie hältft Du es mit dem lebendigen Anventar?“ forſchte Pollio, 
indem er, ohne auf Timotheus zu achten, mit dem Daumen nad dem jungen 
Alerander deutete, der eben die Schüfjeln hinaustrug. 

„Kommt Zeit, fommt Rath,“ erwiderte Scipiv. „Erft will ich die Leute 
mir näher bejehen. Vielleicht jchlage ich drüben Etliche los und Einige Bier, 
denn Alle kann ich natürlich nicht behalten. Mit Ausnahme der Familie diejes 
Alten habe ich die Leute des Mucius einftweilen in meine Weinberge genommen, 
two es heuer an Arbeitern fehlt. Verkaufe ih die Billa, jo fommen natürlich 
auch fie unter den Hammer.“ 

Mit innerem Grimme vernahm Zimotheus diefe herzlofen Worte. „Die 
Frevler praſſen,“ dachte er, „indefjen ich elend und nadt gleich einem Schlacht: 
thiere zu Markte gebracht werde. Wird denn fein vergeltender Dämon auffteigen, 
die Armen zu rächen?“ 

Inzwiſchen hatten die Knaben Auftern und einen neuen Wein herumgegeben, 
und nachdem der bleiche Marcus die feinen gierig ausgeſchlürft hatte, begann er 
aufs Neue: „Nur Eines fage mir, mein tapferer Scipio, wie fommt e8, daß der 
fonft jo wunderliche Mucius fein großes Vermögen ruhig den Erbgang gehen 
lieg? Wir wußten Alle, daß er Dich eher hafje als Liebe; warum machte er 
fein Teftament zu Gunften feiner Freunde?“ 

„Du denkſt,“ jpottete Pollio, „der Alte hätte jo trefflichen Nachbarn wie 
und doch auch ein paar Mebberge zuwenden können zur Abrundung unferer 
Güter?“ 

„O, daran Hätte er ganz wohlgethan,“ lachte der Hagere, indem er den 
großen Mund häßlich verzog. „Zunächſt aber intereffirt mich die Frage ala 
Piyholog. Man macht doch jonft nicht feine Feinde zu feinen Erben?” 

„Das hängt mit gewiſſen Geſchichten zuſammen,“ ſagte Scipio mit einem 
eigenthümlichen Lächeln. 

„Spanne una nicht auf die Folter, Freund,” erwiderte Pollio, indem er 
bon dem weichen Lammfleiſche auf feinen Teller häufte, das Lucian ihm anbot. 
„Der Braten ſchmeckt mir nit, wenn man mir den Becher des Geheimnifjes 
an die Lippen hält, ohne meinen Durft zu Löjchen.“ 

Der Wirth machte ein Zeichen nad) dem jungen Sklaven hin. Als Lucian 
aber das Speiſezimmer verlaifen hatte, jagte er leife: „Ach Habe die Lifte ber 
Mitverſchworenen des Panja und alle ihre geheimen Aufzeichnungen.“ Die zwei 
Säfte fuhren mit einem Rufe des Schredens vom Polfter empor. Scipio lächelte 
aufs Neue in fich hinein. „Diejes geheime Archiv,“ fuhr ex fort, „zeigte ich 
ihm und verſprach dabei, ihn nie zu beläftigen, falls er in mein Erbrecht nicht 
eingreife. Mache er ein Teftament, jo werde ich e3 erfahren, denn ex ftehe unter 
guter Aufficht; aber jelbft wenn er mich täufche, jolle meine Rache auf feine 
Geſellen niederfallen, unter denen ex Freunde hatte, für die er zärtlich beforgt war.“ 


28 Deutfche Rundſchau. 


Die beiden Anderen waren ganz ftill geworben und beichäftigten ſich eifrig 
mit ihrem Lammfleiſch, doch jchien ihnen der Biffen im Halſe zu quellen, denn 
fie fchütteten reihlih Wein den Speiſen nad), um fie hinabzumwürgen. So leife 
Scipio geiprocdhen hatte, dennoch war Timotheus fein Wort entgangen. Zur 
Hälfte kannte er ja das Geheimniß jchon aus Mucius’ eigenem Munde. Das 
aljo war der Grund, warum der Alte nie wagte, das Vermächtniß zu maden, 
von dem er doch ftet3 redete. Ein grimmer Zorn gegen den neuen Her überfiel 
ihn, der mit jeiner ſchnöden Drohung ben ſchwachen Greis gehindert hatte, ihm 
und den Seinen die Freiheit zu gewähren. „Ich will Dir es gedenken,“ ging 
es durch feine rachedürftende Sklavenſeele. Das Schweigen in der Stube wurde 
endlich peinlich, und als Timotheus den bleihen Marcus anfah, erſchrak er fait 
vor dem Ausdrucd verhaltener Wuth, mit dem diejer feinen Lammbraten in Eleine 
Stüde zerfehte. „Dumm war e3 doch don dem Tapferen, fo zu drohen,“ dachte 
er bei diefem Anblid. „Marcus ijt nicht Mucius. Sieh’ Di vor, Scipio, 
diefer magere Wolf könnte den Arm zerfleifchen, der ihn an der Kette hält.“ 

„Ih habe Euch den Appetit verdorben, meine trefflihen Freunde!“ jagte 
Scipio endlih, „aber Ahr ängftigt Euch ohne Noth. Mucius hatte nicht den 
geringften Schaden von dem köſtlichen Schaf, den ich ficher geborgen habe, und 
ich hatte den Vortheil, daß er meine Intereſſen noch jorgliher wahrnahm als 
die feinen. Alſo auf diejelbe herzliche Nachbarschaft! ch bin ein gerader 
Soldat, und jo wißt nun aud Ihr, woran Ihr mit mix feid. Nochmals rufe 
ih: Auf angenehme Nachbarſchaft!“ Er trank ihnen zu, und fie thaten ihm 
ſchweigend Beicheid. Marcus verfuchte auch zu lächeln, aber fein mageres Geſicht 
glih dabei einem Todtenſchädel. „Eine verfluchte Fratze,“ dachte nun auch 
Scipio. „Vielleiht war es doch unklug, ihm zu drohen.“ Dann jagte er laut: 
„Aber ih bin ein ſchlechter Wirth, meine Gäfte mit Staatögeheimniffen zu 
unterhalten. Sie ftören unferem Senator feinen guten Humor; das ift mir leid. 
Timotheus, reiche Du uns die gebratenen Vögel und die Früchte, die Knaben 
aber ſollen die Flöte fpielen und die ſchöne Theodora mag dazu die Zither 
ſchlagen.“ Timotheus zögerte. Als ihm aber Scipio einen jcharfen Blick zu- 
warf, verbeugte er fi in Demuth und ging, um Theodora zu beftellen. „In 
einem Haufe, in dem der Tod eingefehrt ift, aus dem fie den Herrn vor wenig 
Stunden tweggetragen, joll meine Tochter die Zither ſchlagen,“ Eagte er. „Werden 
fie ihn nicht aufftören aus feinem kaum gejchloffenen Grabe, wenn er hört, wie 
Flötenton und Zitherklang herüberfchallt zu feiner Ruheſtätte?“ Mit diefen 
Morten entjendete er Lucian nach der Schweiter. Doc die ſchöne Theodora war 
gern bereit, fi zur Schau zu ftellen. Zwiſchen ihren Brüdern erichien fie, ge— 
Heidet in das lange, dünne Gewand der Tänzerinnen, die Zither im Linken Arm 
und an den Knöcheln rothe Ketten mit Gaftagnetten. Zum hellen Schall der 
Flöten fpielte fie eine fröhliche Weife, die fie mit einem halb geiprochenen, halb 
gefungenen Liede begleitete. Timotheus reichte inzwiichen neue Becher herum, 
und die qute Stimmung fchien der verftörten Geſellſchaft beim Klange der Flöten 
wiederzufehren. Nach dem Tacte der Muſik bewegte der alte Pollio jene 
Gabel, und jein Geſicht glühte von dem genofienen Weine, mit dem er jeine 
Aufregung und feine Sorge hatte niedertämpfen wollen. Die jchöne Theodora 


Unter dem Katalpenbaum. 29 


aber legte ihre Lyra zur Seite und begann zu tanzen. Zierlih und langſam 
bewegte fie fi) wenige Schritte ridtwärt3 und vorwärts. Raſſelnd rührte fie 
dabei die hölzernen Klappern, mit denen fie den Tact der Flötenbläfer begleitete; 
bald jank fie zufammen in die Kniee und ließ ihr reiches Haar und da3 blühende 
Köpfchen bewundern, bald gab fie, rückwärts fich werfend, alle ihre üppigen 
Formen preis. Schließlich drehte fie fi in wilden Wirbel um fi) und ver: 
ſchwand dann raſch durch die Thüre. 

„Eu, eu!“ rief Marcus, auf defien fahlen Wangen zum erſten Male ein 
röthlicher Schimmer zu jehen war. 

„Herrlich, wundervoll!” ſagte Pollio. 

Scipio aber jah mit einem verlangenden Blicke der Entſchwundenen nad), 
die jein Eigenthum war. 

„Diejfe Sklavin ift eine ganze Billa werth!” rief nın Marcus aus, indem 
er ſich mit jeiner knöchernen Hand über den rundgejchorenen Kopf fuhr. 

„Gr bleibt ſich immer glei!” erwiderte Scipiv. „Schließlich tarirt er mir 
auch noch den Werth meiner Ausfiht auf Capreä und Nefio nad) Sefterzen 
und Allen.“ 

„sch Ipreche in vollem Ernfte,” jagte Marcus, indem er feine langen, fpinnen- 
artigen Hände ineinander verſchränkte. „Du kennſt meine Meierei zum Granat- 
apfel; ich jeße fie gegen Deine Tänzerin. Wir wollen um fie würfeln.” 

Thorheit,“ erwiderte Scipiv. „Ich mwürfle nicht um meine Leute,” 

„So,“ jagte der Andere jvöttiih; „aber im Würfelſpiel des Krieges, tie 
ihr Soldaten jagt, haft Du da niemal3 um Menſchen gejpielt ?“ 

„Du bift ein Sophift,“ entgegnete Scipiv. „Aber ich jehe, Du willft 
würfeln. Ein ſchlechter Wirth, der feinen Gäften nicht den Willen thut. Keine 
Speifen mehr, Timotheus! Räume das weg. Wein jtelle auf und bringe die 
Würfel. Zünde aber den großen Leuchter an, daß wir auch fehen, was Wir 
werfen, denn es dämmert.“ Damit jprang er auf und ging nad) dem Periftyl, 
wohin ihm Pollio folgte. Timotheus brachte den Miſchkrug, um den Wein zu 
bereiten; aber Marcus jchob ihn zur Seite. „Ih bin Sympofiarh, Sklave,“ 
jagte er, „ich will jelbft meines Amtes warten.” Alsbald fing ex an, den diden 
rothen Maffiker mit lauem Waifer zu mijchen. Mehrmals probirte er und griff 
mit jeinen jpinnenartigen Armen hier hin und dort hin. Zimotheus fiel auf, 
daß er den Platz wechsle und ihm den Rüden zufehre, jo daß der Sklave 
nicht jehen konnte, was er trieb. Doc war es diejem, als laffe Marcus Etwas 
in dem Bauſche jeiner Toga verſchwinden. Erſt ala die beiden Anderen eins 
traten, ſchenkte er alle Becher in deren Gegenwart voll. „Er hat Etwas vor,” 
jagte fi) der alte Stlave. „Soll ich den neuen Herrn warnen? Aber Scipio 
verfauft und ja,“ zürnte er dann, „verkauft uns Alle, Theodora nur etwas fpäter 
al? uns Anderen. Hörte ic) es doc mit eigenen Ohren. Selbſt feine Hart— 
berzigfeit vor mir noch eine Weile zu bergen, war ihm nicht der Mühe werth. 
Was geht der Herr von heute mid) an, wenn ich nicht weiß, wer der Herr des 
Morgen fein wird? Mögen fie ihre Fehden untereinander ausmachen. Was 
brauchte der Thor diefem Scorpion mit der Verſchwörung des Panja zu drohen! 
Diefelbe Drohung war es, durch die er uns in Sklaventetten fet hielt. Möge 


30 Deutiche Rundichau. 


er verderben.“ So preßte der alte Diener bie Lippen feft zufammen und jchwieg, 
ja er empfand eine grimmige Freude, daß die Drohung, durch die Scipio ihr 
Glüc verhindert, nun ihm jelbjt zum Verderben gereiche. Als ex ſah, wie diejer 
den Becher ergriff, um den Trank zu prüfen, twendete er fi) dem Gandelaber in 
der Ede zu, den ex entflammte und mit defjen Docht fich feine zitternden Hände 
nod eine Weile zu jchaffen machten. Inzwiſchen brachte Lucian den Würfel» 
becher und ftellte fih dann beicheiden neben den Bruder in das dunkle Neben= 
gemach, two fie warteten, ob man ihrer Dienfte bedürfe. 

„Bene vobis,* jagte der Wirth und trank feinen Gäften zu. Pollio dankte 
und tranf, während Marcus eifrig die Würfelbecher jchüttelte. „Um was würfeln 
wir?“ fragte er. 

„Harpagon!“ erwiderte Scipio. „Eilt e8 Dir jo, mich wieder zu plündern ?“ 

„Wer nad) dem dritten Wurf die meiften Augen hat, gewinnt eine Mine,“ 
Ihlug Marcus vor. 

„Ich bin dabei!” jagte Scipio und nahm den MWürfelbecher, den ihm jein 
bagerer Partner zuſchob. „Sieh' da, Pollio ift eingenickt,“ ſcherzte ex dabei. 
„Kein Wunder, er kann fein volles Glas vor fich jehen und bat das feine ſchon 
twieder ausgetrunken.“ Lachend fchüttelte er die Würfel und rief: „Nun fei mir 
gnädig, holde Venus.“ 

Er warf und zählte die Augen. „Nur ſechs, das ift wenig.“ 

Marcus nahm die Würfel, einen nad) dem anderen vom Tiſche und ftedte 
fie bedächtig einen nach dem anderen in den Becher, den er in jeinem Schoße 
hielt. Dann warf er. 

„Achtzehn,“ rief Scipio betroffen. „Was Venus nur an Dir liebt, mein 
magerer Marcus? Ihr bauft Du doch ficher feine Tempel?“ 

Damit ftürzte er feinen Wein zornig hinab. Als er das Glas wieder füllte, 
jah er, daß Mareus gar nicht getrumfen hatte. 

„Du faſteſt?“ fagte er ſpöttiſch. 

„So lange ih würfle, trinke ich feinen Tropfen,“ erwiderte Marcus. 
„Dionyſos und Tyche waren niemals qute Freunde. Doc fahren wir fort.“ 

„Fahren wir fort,“ wiederholte Ecipio lallend, indem feine Augen gläfern 
wurden. Das Spiel ward erneuert. Scipio warf zwölf, Marcus fünfzehn. Als 
der dritte Wurf gethan war, hatte Scipio feine Mine verloren. Marcus jchob 
ihm ein Wachstäfelchen hin, auf das er jeine Schuld eintragen mußte. „Auch 
das führft Du bei Dir,” ſagte Scipio höhniſch. „In der That, Du bift Die 
eiferne Zange, wie fie Dich nennen.” 

„Ich ſchulde Dir Erfah,“ jagte Marcus gleihmüthig. „Würfeln wir um 
zwei Minen, jo kannſt Du Alles einbringen.“ 

„Mteinethalben,” lachte Scipio und griff nad) den Würfeln. Zweimal hatte 
er einen Kleinen Vorſprung. Das dritte Mal warf Marcus fünfzehn und gewann 
jo die dritte Mine. 

„Ich ſpiele nicht weiter,“ jagte Scipio, indem ex feine neue Schuld gebucht 
hatte. „Du brächteft mich um Haus und Hof.“ 

„Ich komme nicht gen mit dem Gelde meines Wirthes nad) Haufe,“ er- 
widerte der Andere treuherzig. „Dein Alerander gefällt mir. Mehr ala eine 


Unter dem Katalpenbaum. 31 


Mine iſt er nicht werth. Ich aber ſetze Deinen ganzen Verluft gegen dieſen 
Burſchen.“ 

„Meinethalben,“ gab Scipio zurück. „Ihn habe ich minder nöthig als 
meine drei Minen.“ Und fie begannen aufs Neue zu würfeln, während von der 
Thüre angftvolle Blicke nad) den getworfenen Augen fchielten. „Er vertaufcht die 
Würfel,” flüfterte Lucian dem Bruder zu. „Siehft Du, wie er die Hand geballt 
hat.“ Alexander zitterte nur. Mit brennenden Augen jchaute er nad) dem Tiſche, 
auf dem über feine Zukunft gewürfelt wurde. „Wieder verloren,” ſchrie Scipio 
grimmig. Und er jchrieb einen neuen Vermerk in die Tafel des Marcus. „So 
fpielen wir um Lucian,“ fuhr der hagere Verfucher fort. Alerander wollte feinem 
Bruder die Hand drüden. „Dann blieben wir ja beifammen,” flüfterte er; aber 
der Ainabe war im Dunkel verfhtwunden. Cine Weile darauf ſah er ihn am 
Brunnen des Viridarium ftehen, wo er jeine Hände in dem Falten Waſſer fühlte. 
„Lucian ift unwohl,“ dachte er. War doc auch er jelbit einer Ohnmacht nahe. 

Dreimal wanderten drinnen die Becher herüber und hinüber zwiſchen dem 
trunkenen Scipio, deffen Antli wie im Fieber glühte, zu dem bleichen Marcus, 
der nun völlig einem ZTodtenfopfe gli. Zweimal gewann Scipiv. Zum dritten 
Male aber ergriff Marcus den Becher, er jchüttelte ihn auffallend lange und 
hielt ihn dan, um fi an Scipio’3 Angft zu weiden, verdedt auf dem Tijche. 
Da plötzlich legte fich eine kalte Hand auf die feine und al3 er aufblidte, fiel 
er mit einem Schrei in fein Polfter zurüd. Vor ihm ftand der geftorbene 
Mucius. Stumm, mit erhobener Rechten, hielt die Truggeftalt Stand. Selbit 
der tapfere Scipio erbleihte. „Wehe uns, daß wir tanzten in dem Haufe, das er 
erſt heute verließ,“ ertönte eine Stimme aus dem Hintergrunde „Euere Flöten 
haben ihn herübergelodt aus feinem Grabmal,“ Der abergläubiſche Marcus 
ächzte und wand ſich, während Scipio ſich aufraffte, um dem Spuf zu Leibe 
zu gehen. Aber in demjelben Augenblide verlöjchte die Flamme des Leuchters, 
und in dem ungewilfen Scheine, der von draußen Hereinfiel, jah man nur nod) 
die dämmernde Geftalt de3 Geipenftes, die fid) drohend über den zitternden 
Marcus beugte. 

„Die Larven gehen um,“ fluchte Scipio und wich zurüd. Die eiferne Hand 
des wiedergefehrten Mucius ergriff num auch die zitternde Linke des Marcus, die 
diejer Feitgeichloffen hielt. Sie jchiener miteinander zu ringen. Aber die Kraft 
de3 falichen Spieler3 war gelähmt. „Gnade,“ wimmerte er Häglih, „noch Kann 
ih Alles wieder gut machen.“ Nun lief auch Scipio ein Fröſteln über den 
Rüden. Die Sklaven ſchwiegen, und der fchlafende Pollio fing an zu röcheln 
und zu zuden, al3 ob er in Todeskrämpfen läge. 

Das Gejpenft Hatte ſich inzwiichen der Witrfel bemächtigt, und nun extönte 
eine fröhliche Stimme: „Water, mache wieder hell! Der Betrüger ift überführt!” 

Auch Timotheus war zuerſt heftig erichroden, als er in düſtere Gedanken 
verloren und bedrüdt von der Mitwifjerichaft des Verbrechens, das ſich vor 
jeinen Augen begab und das er nicht verhinderte, plötzlich unter der Thüre die 
Gejtalt feines gejtorbenen Huerr erblidte. Einen Augenblid meinte ex fi zu 
täuſchen, aber die Erſcheinung wollte nicht weichen, obwohl er ben Daumen ein= 
ſchlug und ein Stoßgebet murmelte. Greifbar deutlich ftand fie dort und jchaute 


32. Deutiche Rundſchau. 


unverwandt nach den Händen des hageren Marcus. Da gewahrte Timotheus 
unter dem Gewande der Truggeftalt die ihm mwohlbetannten rothen Sandalen 
ſeines Lucian, die verrätheriich unter der grauen Toga hervorglänzten. Alsbald 
ward ihm die ganze Ericheinung Har. Der kecke Knabe Hatte ſich zu feinem 
Spufe der Maske und Kleidung des Mimen bedient, der heute bei dem Trauer: 
zuge den todten Mucius jo geſchickt nachgeahmt Hatte, und indem ex Humpelnden 
Schrittes auf den Tiſch zuichritt, blieb er in nichts Hinter feinem Vorbilde 
zurüd. Sobald Timotheus begriffen, was fein jchlauer Knabe beabfichtige, ver- 
dunkelte er im rechten Augenblide die Flamme und unterftüßte jo aufs Beſte 
die geipenftiiche Wirkung. igentlih wollte er dadurch nur feinem Sohne den 
Rüdzug erleihtern, ehe Scipio fih auf ihn werfe; Lucian aber nahm, nachdem 
Zimotheus den Dedel von der Lampe wieder entfernt hatte, weil es der Knabe 
jo gebot, die Maske ab, und während er Marcus noch immer mit dem Arme 
vom Tiſche fernhielt, rief er: „Er hat Dich betrogen, Herr, ſieh' hier den falfchen 
Würfel!“ 

Die Stube war wieder hell. Marcus lag, feiner Glieder nicht mächtig, 
in feinen Kiffen. Scipio lachte ftumpf. Gr nahm den vierten Würfel und 
jpielte mit ihm. Bei jedem Wurfe zeigte er ſechs. Aber die Entdedung ſchien 
ihm feinen rechten Eindrud zu machen. Seine Bewegungen waren müde. Da 
begriff Zimotheuß die Sachlage. „Auch vergiftet hat er Di,“ rief er dem 
Trunkenen zu. „Ich jah, wie er Etwas in den Miſchkrug goß.“ 

Langſam wälzte Scipio jeine ftieren Augen nad Marcus hinüber. Dann 
ſchien er plößlich zu begreifen. Er erhob fich ſchwer mit jeinem mächtigen Körper 
und faßte den dürren Giftmiicher an den Schultern. „Trinke!“ fagte ex, indem 
er auf den unberührten Becher deutete. 

Marcus zögerte. 

„Zrinfe!” donnerte Scipio nochmals, „oder ich erwürge Dich.“ Da zudte 
der Magere mit feinen Schultern und trank den Becher aus. Scipio fchaute 
ihn verwundert an. 

„Du fiehit, daß Deine Sklaven lügen,“ krächzte Marcus. 

„Er hat vorher ein Gegengift genommen,“ xief Timotheus. „Siehe, Pollio 
ift ſchon todt.“ Als die Blide dev Verfammelten nad dem zurücdliegenden 
Polſter ſchauten, jahen fie auf demfelben den Scläfer von vorhin ala ftarre 
Leiche, mit fahlem Antlif. Noch einmal raffte Scipio fih auf. „Gerechte 
Götter,“ rief ex, während ihn jelbft bereit3 Todesſchauer jhüttelten. Marcus 
wollte den Augenblict des Schredens benützen, um zu entweichen; aber die beiden 
Knaben hielten den fih Sträubenden feſt. In dem Ringen entfiel dag Wachs— 
täfelchen feiner Toga, und Lucian zerftampfte es an der Erde, um die Schuld- 
urkunde zu vernichten. 

„Bindet ihn!“ rief Ecipio, der bleicher und bleicher wurde, „und führt 
ihn, falls ich fterbe, zum Richter.” Dann jeßte er fich nieder, denn die Beine 
wurden ihm ſchwer. Die beiden jungen Sklaven aber fefjelten den drohenden 
und fluchenden Giftmifcher mit den Gürteln, die fie von ihrer Tunica löften, 
und führten den Scheltenden hinaus, um ihn im Sklavenkerker zu bergen, bet 


Unter dem Ratalpenbaum. 33 


feiner Billa fehlte. Als fie zurüdfamen, fanden fie Timotheus ftarr zwischen 
zwei Zeichen, die er mit finfterer Miene betrachtete. 

Pollio lag mit bläulichem Angefihte auf feinem Polfter, und feine Augen 
waren weit auß dem Kopfe gequollen, während Scipio, mit dem Haupte auf 
dem Gredenztifhe, einem Schlafenden glich. Dem jungen Sklaven jchauberte. 
Er bededte die Leichen mit ihrer eigenen Toga und murmelte ein Gebet; ala er 
aber nad) dem Vater aufblicte, erichraf er aufs Neue. „Was ift Dir?“ rief 
er entjeßt. „Haft auch Du von dem tödtlichen Tranke genoffen oder ängfteft 
Du Did wegen des Ausganges? Wird man und bejchuldigen?" Timotheus 
aber ftarrte noch immer, ald ob er die Medufe gejehen hätte, ins Leere. Dann 
brad) er in die Worte des Sklaven bei Plautuß aus: „Ich weiß e8, daß ein 
Kreuz mein hart. Dort ruhen meine Väter!“ 

„Laß es harren, mein Vater,“ rief Lucian entſchloſſen. „In diefem Augen- 
blicke find wir die Herren ber Villa. Falls der Giftmifcher fein eigen Gebräu 
überlebt, können twir doc, bis er frei wird, in Neapolis fein. Dort verbergen 
wir und, bis wir ein Schiff finden, daß uns nad Afrika oder Hilpanien trägt. 
Alfo voran, Alerander, rüfte den Wagen! Vater, rufe die Frauen. Ich aber 
plündere die Billa.“ 

„Der Entjchloffenfte ift Führer in folder Stunde,” dachte Timotheus und 
ging, um Sophia dad Vorgefallene zu berichten. „Bleiben wir,“ jagte er ihr, 
als fie in Klagen ausbrach, „jo wartet unfer erft die Folter, dann das Kreuz, 
Thue alfo, was die Knaben rathen. Höre, Alerander jchirrt jchon die Roſſe an. 
Kaffe Alles zufammen, was ſich bergen und mit Wortheil verkaufen läßt. In 
einer Stunde müffen wir fliehen, ehe der Dämon einen WVerräther hierher führt. 
Wie leicht können die Leute des Pollio oder Marcus nad ihren Herren fragen, 
wenn fie finden, daß fie zu lange in diefem gaftlichen Haufe weilen. Hu, mid) 
ſchauert, bis wir hinaus find.“ 

„D, Eybele, gnadenreihe Mutter,“ rief die alte Frau, „wie kann ic) fliehen ! 
Meine Glieder find vom Schreden wie gebrochen. Gleich am Morgen, ein Zeichen 
ſchlimmer VBorbedeutung, ftrauchelte ich über meine Schwelle. Nun ift das Un— 
glüd da.“ 

Seines Weibes Klagen gaben Timotheus die eigene Faffung zurüd. „Jammere 
jet nicht,“ ſagte er ftreng. „Raffe zufammen, was wir brauchen können und 
den Wagen nicht allzu jehr belaftet. Theodora Eleide als vornehme Dame, die 
uns al3 ihre Sklaven mit fich führt.“ 

Als er gejehen, daß Sophia ihre naffen Augen getrodnet hatte, ging er 
hinaus, um Alerander bei dem Beladen ded Wagen? zu unterftüßen. Als er 
durch das Bilderzimmer ging, fand er Lucian über der Geldfifte, die der muthige, 
liſtenkundige Knabe aufgebrochen hatte, im Begriffe die Geldſäcke herauszunehmen. 
„Schön, mein Lucian,” fagte der Vater billigend. „Die Schuldurkunden Lafie 
bier, ihr Verſchwinden würde nur den Nachbarn zu quite fommen. Das baare 
Geld wollen wir zufammen nad) dem Wagen tragen. Mit diefem Golde, das der 
Greis aufhäufte, find wir geborgen. Sorge, daß die Frauen uns nicht mit 
verrätheriichen Dingen befchweren und unnüßen Ballaft meiden.“ 

Deutſche Rundſchau. XVI, 7. 3 


34 Deutſche Rundſchau. 


Lucian legte die Beutel mit Silber in einen Korb, den er dem Vater über— 
lieferte. Den mit Gold aber ließ er in die eigene Buſentaſche gleiten und ging 
dann, Mutter und Schweſter zu unterweiſen. Als Timotheus mit ſeinem Korbe 
in die Finſterniß hinaustrat, ſah er einen ſechsſitzigen Wagen und vor demſelben 
Alexander, der die feurigen Roſſe beruhigte. Nachdem er ſeinen Korb geborgen, 
nahm er auf der vorderen Bank Pla und ſagte Alexander, ex ſolle die Straße 
am Mteeresrande Hin fahren, doch nicht allzu jchnell, damit fie fein Aufjehen 
erregten. In Puteoli, wo ftet3 viele Fremde einfehrten, jolle er halten und bie 
Pferde füttern. Dann könnten fie noch immer vor Anbruch des Morgens in 
Neapolis eintreffen, eine Wohnung miethen und den Wagen abladen, den man 
dann am beften durch einen unbekannten Boten nad) einem fernen Orte an eine 
erfundene Perſönlichkeit jchieke, da der Verkauf zu gefährlich jei. „Der erfindungs- 
reiche Lucian,“ tröftete ex fich, „wird das Alles ſchon ordnen. Aber fie ſäumen,“ 
fagte er ungeduldig. „Willen fie doch, was und bevorfteht, falls wir gefangen 
werden. Am Circus aufzutreten vor den wilden Thieren, dürfte doch auch 
Theodora wenig gefallen, jo gerne jie ihre Schönheit zur Schau ftellt.“ Endlich 
erfchienen die Frauen, jede einen hochbepadten Korb auf dem Kopfe. Hinter 
ihnen trug Lucian eine Reihe von Kiſten heraus und ſchloß dann ſorglich die 
Thüre. Sobald Alles aufgeladen und unter den Bänken und Decken verborgen 
war, jebte ſich Timotheus neben Alexander; auf der zweiten Bank jaßen die 
rauen; auf der dritten nahm rittlings Lucian Pla, um nad) allen Seiten 
jpähen zu können, ob Gefahr in Sicht fer. Frau Sophia zitterte an allen 
Gliedern und brach in ein frampfhaftes Schluchzen aus, während ihre Tochter 
fie vergeblich zu beruhigen ſuchte. Alexander ſchlug auf die Pferde, und in 
ſcharfem Trabe ging e8 hinaus auf die Straße, die ein Schimmer vom Meere 
ber und ber weiße Sand des Uferd genugjam beleuchteten. Schwermüthig blickte 
Timotheus zu den Sternen empor, den filbernen Rindern Apollo’3, die Hesperus 
ihm Hütete. Die alte Frau ftöhnte zuweilen und verlangte nah) Wafler. 
AUlerander aber trieb die Pferde um jo eifriger vorwärts, und der Wagen flog 
unaufhaltiam weiter. Bald aber wurde es Timotheus bei dem Stoßen bes 
Wagens auf der gepflafterten Straße jo unwohl, daß der Schweiß ihm aus— 
brach, und von der dunfeln See her fam ein kühler Wind, der ihm Trröfteln 
erregte. Mühſam befam er unter den Körben der rauen eine Dede frei, in 
die er fih hüllte, um feiner Krankheit zur Beute zu fallen. Auch Lucian jchien 
der Falte Luftzug nicht zu gefallen, und er öffnete einen Korb, den er in feiner 
Nähe geborgen Hatte, und brachte eine Flaſche zum Vorſchein, die ex geſchickt 
entkorfte. Nachdem er daraus getrunken, reichte er fie der Mutter, die ruhiger 
wurde, nachdem fie einige Eräftige Züge aus dem bauchigen Gefäße gethan hatte. 
Auch dem Water ftellte dev edle bitterfühße Trank vom Abhange des Veſuv die 
Kräfte wieder her, und nachdem der Knabe, der an Alles dachte, auch noch einen 
Korb mit Eßwaaren umhergereicht hatte, jchien die Furcht der rauen fich zu 
mindern, und in fejterer Stimmung jeßten fie ihre Reife fort. 

„War e3 denn nöthig zu fliehen?“ fragte Theodora, die gewohnt war, ihren 
Kopf für fi) zu haben. „Wir hatten ja nicht verbrodhen, was konnten fie ums 
denn anhaben ?“ 


Unter dem Katalpenbaum. 35 


„Kind,“ erwiderte der Water ernft, „Du weißt nicht, was Du redeft. Vor 
den Richter hätte man und unter allen Umftänden gezogen, und Marcus hätte 
dann mich, den Tafelordner, des Giftmordes beſchuldigt. Dann wäre das GErite 
geweſen, daß der Richter una Alle der Folter unterworfen hätte. Wer weiß, 
was Du Alles bekannt Hätteft, wenn fie Deinen Schönen Fuß in den Block 
ipannten? Flehe zu den Göttern, daß fie una günftig geleiten,; nod find wir 
nicht ficher vor den Fascen de3 Lictors und den Beſtien der Arena.“ 

An diefem Augenblide, als ob die Warnung das Unheil herbeigezogen hätte, 
tourde Lucian auf feinem Nüdfige unruhig. Er ſpähte in die Nacht hinaus und 
befahl dann Alerander, er jolle einen Augenblick halten. Als die Pferde ftanden, 
hörte man in der Ferne den hellen Hufichlag von Roſſen. „Wir werden ver— 
folgt,” ſagte Lucian. Jetzt hörten auch die Anderen Pferdegetrappel, das näher 
und näher fam. Es war fein Zweifel, daß fie es waren, denen man nachſetzte. 
Auch mußten die Verfolger fie bereit3 wahrgenommen haben; denn deutlich hörten 
fie in der Ferne das fchredliche „Halt, Halt!” Lucian aber rief: „Wir haben 
feine Ausficht, zu entrinnen, wenn wir auf der Straße bleiben. Lenke alfo 
hinter die nächfte Zorbeerhede oder den erjten dunfelnden Vorſprung. Vielleicht 
jagen fie dann vorüber.“ 

Zum Glüd wendete ſich der Weg gerade jet um eine jcharfe Ecke. Einige 
ſchattige Kaftanien mit dichtem Interholze ftanden am Wege. Des Bruders 
Befehlen gehoriam, führte Alerander den Wagen auf diefen rafigen Grund, wo 
das Geräusch der Näder fi) dämpite und das Gebüjch ſchützend über ihnen fich 
audbreitete. Jebt kam der Hufichlag näher. Lucian jprang vom Wagen, durfte 
ſich unter die Büſche und kroch hinüber an die Straße. Nach einer bangen 
Taufe jprengte ein Trupp Reiter eilig vorüber. Der Weg zog ich Hier fort- 
während an der Felswand Kin, jo daß die Verfolger ftet3 glaubten, hinter ber 
nädjten Ede den fliehenden Wagen erreichen zu müſſen. „Sie find vorbei,“ jagte 
jeßt Lucian, indem er aus den Büſchen auftaudjte. „Es waren Drei, an ber 
Spitze der Lictor, der jeit dem Todestage des Mucius das Haus umjchleicht.“ 

„Ach, wir Unglücjeligen, was jollen wir thun?“ jammerte Sophia. 

„Stille jein,“ erwiderte Lucian ſchroff. „Sehen wir den Weg fort, jo 
laufen wir ihnen unfehlbar in die Hände, denn bereit3 einige Hundert Schritte 
von bier können fie den Weg abwärts überjehen, und wenn fie feinen Wagen 
erblicken, Tehren fie um. Wir warten aljo bier, bis fie zurücdkehren. Sobald 
fie vorüber find, fahren wir nach Puteoli weiter. Bei dem phöniciichen Schent- 
wirth laffen wir den Wagen und bergen die Saden. Der Mann ift zuverläffig, 
fal3 man ihm ein Drittel der Waare opfert. Dann aber trennen wir uns. 
Wer kann und mag, findet mic) morgen Abend am Gingange der Billa des 
Pollio zu Neapel.“ 

Timotheus wollte diefer Trennung widersprechen, aber Lucian machte ihm 
ein Zeichen zu ſchweigen und deutete nad) der Straße. Die Reiter famen zurüd. 

„Sie müfjen irgendwo verftecft fein,” jagte der Lictor, „Falls fie nicht vom 
Felſen ftürzten und die Nacht des Avernus Roſſe und Wagen verichlang.” 
Timotheus ftand der Herzichlag ftill, als er den Verfolger jo reden hörte; aber die 


Reiter zogen ruhig ihre Straße. 
3* 


36 Deutſche Rundichau. 


„Ich danfe Dir, Pallas,“ dachte der alte Sklave, „Du legteft ihnen die Binde 
vor die Augen. Nun find wir gerettet.“ Die beiden Anaben jprangen nad) dem 
Wege, um zu jehen, ob Alles ficher jei. Dann kehrte Alexander zurück und zog 
die Roſſe vorfihtig aus den Büſchen. „Wo ift Lucian?” fragte Timotheus. 

„Erwarte ihn nicht,“ antwortete Alerander düfter. „Er bat uns verlaffen.“ 

„O,“ rief der Vater bitter. „Alſo dazu ftedte er den Beutel mit Gold zu 
fih. Sohn, Sohn, das aljo ift dein Dank und deine Liebe!“ 

Aber es war feine Zeit zu Klagen. Alexander ſchlug auf die Pferde, und 
nachdem fie noch aufwärts um einige Felsnaſen gefahren waren, rollte der Wagen 
luſtig Puteoli entgegen. Auf einer Seitenftraße gelangten fie dann ohne weiteres 
Abenteuer, an dunfeln Gehöften vorbei, zu der Schenke des Phönicierd, und 
Alexander ging, um für die Pferde Sorge zu tragen. Auch Theodora ſprang 
herab und half ihrer Mutter vom Wagen. Nach einer Weile erfchien ein Sklave 
mit einer Laterne, um den Pferden eine volle Krippe und Waſſer zu bringen. 
Dann wurde die Thüre geöffnet, und ein häßliches altes Weib kam zum 
Vorſchein, das die Frauen zum Eintritt in die Schenke nöthigte. Bald jah 
Timotheus durch die offene Thüre, wie fie ein Feuer am Herde entflammte und 
fi in eifrige Verhandlungen mit Sophia und ihrer Tochter einließ. Als die 
Pferde ihre Krippe leer gefreſſen und die Waflereimer ausgetrunfen hatten, knallte 
Alerander mit der Peitiche, und Timotheus rief in da3 Haus: „Kommt jebt!“ 
Aber nur Sophia trat hervor. 

„Zrautefter,” begann fie verlegen, „wir haben una überlegt, daß es am 
ficherften fei, des Elugen Lucian Rath zu befolgen. Fahren wir weiter, jo wird 
der Morgen uns überraſchen. Schon lichtet es ſich am öftlien Himmel. 
Darum ift e8 beffer, wir Frauen bleiben. Yadet uns unfere Körbe ab und gib 
uns von dem Silber. Die Phönicierin wird und nicht verrathen.“ 

Timotheus ſah traurig in die Augen feines Weibes. Aber Alexander jagte: 
„Sie haben recht. Wir müfjen und trennen oder untergehen.“ 

„Theodora ift noch jung,“ entjchuldigte die Mutter. „Zürne ihr nidt- 
Süß ift die Jugend und der Tod entjeßlidh.“ 

„So lebet denn,” vief Timotheus bitter. „Aber ich forge, wenn fie am 
Abend fich niederlegt und der Schlaf die müden Glieder löſt, dann naht fidh 
ihrem Lager biuttriefenden Hauptes ein furchtbarer Drade, die Larve ihres 
Vaters, den fie faltblütig verließ, al3 die Feinde nad) ihm zielten.“ 

Sophia jchluchzte. Aber Alerander hatte bereits die Körbe der Frauen auf 
die Erde gejtellt und einen Sad mit Silber hinzugefügt. 

„Auch meinen Sad mit dem Gelde begehre ich,“ ließ fich jeht die Stimme 
der Tochter vernehmen, die nunmehr unter der Thüre zum Vorſchein kam. 

„Sehe zum Styr!“ rief Mlerander, ſchwang fi auf den Sit und trieb bie 
Pferde zum Laufen. So fuhren die Beiden, Vater und Sohn, aufs Neue in die 
Nacht hinaus. Timotheus war es jchwer ums Herz. Vergeblich juchte er fein 
Kind zu entichuldigen. Kalt, herzlos, gefalljüchtig war fie geworden in ihrem 
Stlavenleben. Wie hätte da3 auch anders fein jollen im Kampfe um die Gunft des 
Herrn. Aber er hatte geglaubt, daß fie an ihm jo gut hänge wie an der 
Mutter. Oder hielt fie auch an diejer nur feft, weil fie fie brauchte? Er weigerte 


Unter dem Satalpenbaum. 37 


fih, das zu glauben. „Furt um das Leben, Aufregung, Hunger und Durft 
ſtacheln fie jetzt,“ jo entjchuldigte er fie in feinem weichen Waterherzen. 
„Ihre Selbftfucht wird ſich wieder beihmwichtigen, wenn Ruhe und Vernunft 
die Angft geftillt haben. Liebe verreift wohl einmal, aber fie wandert nicht 
aus.“ Damit tröftete ex fich ſelbſt, jo gut er es vermochte und legte zärtlich 
dem treuen Alerander den Arm um den Naden, während fie auf der mit jedem 
Augenblicde Helleren Straße dahinfuhren. Noch lagen die Anjeln dunkel wie 
ſchwimmende Särge in dem ftahlblauen Meere. Da jprang ein Strahl im Dften 
empor, ein Kranz von Strahlen. Rofig leuchteten die Eilande Prochyte und 
Gapreä auf, violett färbten fich die Inſeln Pithecuſa und Nefio, die adelige, vor— 
nehm gebogene Linie des Veſuvius Fam über dem finkenden Nebel zum Vorſchein, und 
tiefblau erglänzte der Golf von Neapolid. Die Straße wand fich hart am Rande 
des lichten Kalkfteinfelfens empor, und Timotheus jah unter fich die hellblaue 
Fluth und die weißen Kämme der Brandung. „Groß bift Du, Pojeidon,“ rief 
er, „und berrlih Dein Reich, und Fühler ruhte es fih in Deinem Schoße als in 
des Lorbeerhaines Schattendunfel. Nur Hier oben ift Hitze und Streit und 
Leidenschaft, bei Dir ift Friede! Sie jchelten Dich treulos, Okeanos, und ſchmähen 
Deine Ungeheuer, und doc) las ich von Delphinen, die dankbar den Sänger durch 
die Wellen trugen, in denen Menſchen ihn ertränfen wollten, und von jenem 
Seevogel, der gealtert und flugmüde von jeinem Weibchen auf die Flügel ge= 
nommen wird, damit er nicht verderbe. O, Sophia, o, Theodora, wie thatet 
ihr mir!“ Schmerzli gedachte ex der Fühlen Trennung von dem Finde, das 
jein Augapfel gewejen war, und der trauernden Gattin. „Ac,” ſeufzte er, 
„Sophia, noch immer fliegt mein thörichtes Herz Dir wie ein Vögelchen zu.“ 
In diefem Augenblicde erhob ſich Alerander von feinem Site und ſchaute rückwärts. 
„Sie kommen,“ ſprach er erbleichend. „Ah kann den Wagen bergauf nicht jo 
raſch vorwärts treiben ala fie auf ihren Roſſen traben. Hier, Vater, nimm die 
Zügel.“ Mit diefen Worten warf der Knabe dem Vater die Zügel zu, griff 
unter die Bank und ließ die beiden Teßten Beutel in feinen Buſen gleiten. 
Dann fprang er vom Wagen und Eletterte den Abhang empor, wo er bald in 
dem dornigen Geftrüppe von Aloe und Cactus verihwand. Timotheus jah ihm 
trübe nad. „Auch er,” jagte er ſchmerzlich. Traurig ließ er die Pferde vor- 
wärt3 gehen, wie fie mochten, und ſchaute mit ſtumpfem Gleichmuth zurüd, wie 
der Abftand zwiſchen ihm und den Reitern mit jedem Augenblicde geringer wurde. 
Das Leben jchien ihm gleichgültig geworden zu fein, ſeit er erkannt hatte, daß 
in diefer Welt der Verfolgten und Geheßten feine Treue zu finden jei, jondern 
Jeder nur auf fich ſelbſt ſtehe. Dann erhob er fi von feinem Sike und 
ſchaute in die ſchwindelnde Tiefe hinab. „Wäre ich da unten,“ feufzte er, „da 
würdeſt du jchlafen, o Herz, ichlafen würde der ewige Lärm und all’ das un— 
ermefjene Leid!“ 

Als er zurüdichaute, waren die drei Reiter ihm wieder näher gelommen. 
Dffenbar fpornten fie ihre Roſſe. Sie fuchten ihn. Und was bedeutete ed, wenn 
fie ihn fingen? Er wußte es zu gut. „Es find nicht mehr ald Dreie,“ jagte 
er bitter. „Hätten die Knaben ausgeharrt, vielleicht hätten wir und ihrer er— 
wehrt. Aber fie find Sklaven, und nicht twie Freie gelehrt, auf der Feinde 


38 Deutſche Rundſchau. 


Lanzen ſelbſtvertrauend zuzuſchreiten. Ich aber will auch allein mein Leben 
theuer verkaufen!“ Er lenkte den Wagen um. „Lebendig ſollen ſie mich nicht 
greifen und mindeſtens Zweie mir folgen zum Avernus.“ Ruhig wartete er, bis 
die Verfolger die letzte Biegung des Weges nahezu erreicht hatten. Bereits hörte 
er das Keuchen ihrer abgetriebenen Roffe, während feine Pferde verichnauften. 
Dann, als nur noch eine jehnurgerade Straße zwiſchen ihm und den Reitern 
lag, ſchwang er die Peitſche und pfeiljchnell flog jein Wagen die teile Steigung 
abwärts. Die Räder ſchoſſen dahin und ftießen an die Füße ber Pferde, jo daß 
diefe in mwahnfinnigen Sätzen ausgriffen. Die Reiter jahen das tolle Gefpann 
ſich entgegenjagen. Der Vorderſte trieb fein Rob Hart an den Felshang, um 
den Zufammenftoß zu vermeiden. Der Lictor wollte ummenden und jo dem 
Magen entfliehen. Da faßte ihn bereits die Deichiel des bergabſchießenden Ge- 
ipannes in der Seite. Timotheus jah, wie das Roß des Verhaßten zur Seite 
iprang und mit dem Reiter den Abhang hinabſchlug. Aber ihm nad) jchofjen 
jeine eigenen Pferde über die Krümmung der Straße in den Abgrund. Ein 
Kraden, Wirbeln, Brauſen umgab ihn. Hart jchlug er auf der Erde auf und 
ftieß jein Haupt auf dem feften Grunde und — er erwachte. 


VII. 

Als er um ſich ſchaute, lag ex wirklich umd wahrhaftig an der Erde. Die 
Alveftengel und Gactusheden waren verſchwunden, dagegen hing der wohlbetannte 
Hollunderbufh mit jeinen Blättern über ihm, und die Epheuranfen fnifterten 
unter der Laft feines Körpers. Jetzt befann er fih, wo er war. Die Traum: 
bank mußte unter dev Wucht feiner lebten Bewegungen zufammengebroden fein, 
denn fie lag wie ein verendetes Pferd mit ausgeftrecten Füßen unter feinem 
Leibe. Mühfam arbeitete der alte Herr fi empor. Ihm war wirr und weh' 
zu Muthe. Sein Haupt jchmerzte, und in feinen Ohren braufte noch der Golf 
von Neapel. Tiefſinnig ftarrte er auf die Trümmer feines Sites und dachte: 
„Irgend ein Geheimniß muß dabei fein, daß ich hier immer in eine andere Welt 
entrüctt werde. Da liegt «3, das Polfter des Asklepios, ich aber danke fiir weitere 
Ancubationen. Es ift wohl am beften, ic} lafje die Planke jpalten, und Sabina 
verwendet fie in der Küche. Merkwürdig,“ fagte er, indem er die Trümmer 
zuſammenlas, um fie hinunter zu tragen, „noch geftern war ich in Folge meines 
böjen Pfaffentraumes geneigt, die ganze mittelalterlihe Cultur für eine Krank— 
heitöperiode zu halten, in der die Menſchheit verkümmerte; heute muß ich doc 
jagen, e3 war qut, daß diefe Chriftianer dazwiichen famen. Das war ja eine 
ganz verfluchte Gejellichaft, al3 die Naturgottheiten noch die Schöne Welt regierten.“ 

rau Sophia und ihre Söhne waren nicht wenig verwundert, ala Her 
Zimotheus heute, ein Brett unter dem einen Arme und vier Bankfüße unter 
dem anderen, aus dem MWäldchen hervortrat. „O weh, die Traumbank,“ rief 
Lutz betrübt. „Mein Werk hat freilich jchon drei Sommer gehalten.” 

„Alſo Du haft diefes geheimnigvolle Weſen geyimmert,“ ſagte der Vater 
und legte da3 Brett jäuberlih auf den Tiſch. 

„Es iſt Sykomorenholz,“ belehrte Alerander die Anderen. „Luk nahm zu 
jeinem Meifterftüce den Deckel der Ktifte, in der die Mumie für das Echulmufeum 


Unter dem Katalpenbaum. 39 


angefommen ift, die der Schuldiener in dem Klofter zu Memmingen faufte. 
Sol’ rothes Holz kennen wir hier nicht.” 

„Und fieh’,“ fügte die Frau Rector Hinzu, „welche ſeltſame Figuren Hier 
eingepreßt find.” 

In der That kamen, wenn man das Brett in gleicher Höhe mit dem Auge 
hielt, ſchwache reliefartige Vertiefungen zum Vorſchein. 

„Du warft ja ein wahrer Vandale, Lub, daß Du diejes Altertum in jolcher 
Weiſe vermöbelteft!" rief Alerander. 

„Bapa wollte eine Bank,” entjchuldigte ſich der Geicholtene, „und ich fand 
nicht Anderes.“ 

„Nun begreife ich meine jeltfamen Träume,“ rief der Nector lächelnd. 
„Diejes Brett mag viertaufend Jahre alt fein und hat die Luft der verjchiedenen 
Culturepochen eingejogen, die es bei dieſer Julihitze geheimnigvoll wieder aus» 
haucht. Darum träumte ich jolche alte Gejchichten.“ In guter Stimmung 
erzählte er nun den Knaben kurz den Anhalt feiner drei Träume, 

„Aber das ift ja höchſt merkwürdig,“ rief Lu. „Da will ih die Banf 
jofort wieder herjtellen, vielleicht mit drei Beinen macht ſich die Sache nod) 
beifer. Auf einem pythifchen Dreifug wirft Du am Ende noch merkiwürdigere 
Aufichlüffe erhalten. 

„Rein, ich danke,“ jagte der Emeritus. „Nun kämen bie tieferen ägyptiſchen 
Schichten an die Reihe, und wenn die erſt frei werden, unter dem Einfluß der 
tropischen Hitze, jehe ih mid) am Ende noch als ägyptiſcher Priefter und füttere 
mit verhältnigmäßiger Heiterkeit meine heiligen Krofodile mit den Armen und 
Beinen meiner Gattin. Drei Stationen der Geſchichte bin ich zurücdgefahren ; 
jchon auf der erften war ed entjchieden ungemüthlich, die zweite war traurig, 
die dritte abſcheulich; da begehre ich die Grenzen der Menfchheit nimmer zu 
ſchauen.“ 

„Aber was ſollen wir mit dem ehrwürdigen Brette anfangen?” fragte die 
Mutter lachend. 

„Gib e3 der alten Sabine, fte ſoll unfern Kaffee damit kochen,“ entichied 
der Rector. 

„Ich finde aber, Vater,” jagte Lu mit einem Nafenrümpfen, „daß wir 
keineswegs eine jehr erbauliche Rolle jpielen in Deinen Träumen.“ 

„Da3 haben mir Deine vorwißigen Zwiichenrufe mährend meiner Erzählung 
bereit3 jattfam gejagt,“ erwiderte der Nector. „Dennoch hatte mein Traum 
vollfommen vet. So und nicht beifer hätten wir uns unter den damaligen 
Verhältniffen entwickelt. Was wir heute find, find wir nicht aus eigener Kraft, 
jondern Hundert und Hundert Generationen mußten ringen, fämpfen, Leiden, bis 
nur der mäßige Zuftand des Nechtsgefühl® und der Sittlichkeit erreicht ward, 
defjen wir uns heute erfreuen. Ach jchöpfe daraus den Troft, daß auch die, die 
nad) uns fommen, befjer jein werden, al3 wir e3 find und werden fonnten. 
Schauen fie dann auf die Rohheit unferer Kämpfe mit dem gleichen Abjcheu 
zurück, wie wir heute auf die Junkerwirthſchaft und den Werberunfug des patri— 
ardaliichen Regiments, auf Hexenproceſſe und Ketzerrichter des Mittelalters, 
auf den Sklavenjammer und die allgemeine Zreulofigkeit der antiken Welt 


40 Deutihe Rundſchau. 


ſchauen, um jo beffer! Dieſer Abfcheu vor uns wird nur einen weiteren Fort— 
ſchritt des menschlichen Gejchlechtes bedeuten. Aber Eines habe ih erkannt. 
Wir müfjen kämpfen, wir müffen thätig jein. Der eigentliche Feind alles Fort— 
Ichritts ift doch immer die Selbftjucht der Mächtigen, die Tyrannei der Starken 
gegen die Schwachen. Nur die Gleichheit der Rechte ſchützt vor gefährlicher Ge— 
waltherrfchaft und ſchmählichem Sklavenfinne.“ 

In diefem Augenblid ertönte über der Billa wieder ein Böllerſchuß, der 
die Stimmberehtigten mahnen follte, ihrer Wahlpflicht eingedene zu fein. „Sa, 
Du haft ganz recht, trefflicher Kammerjäger,” rief der Emeritus fröhlich. „Wären 
unjere Vorfahren zu Haufe geblieben, wenn e3 galt, zu kämpfen um die Frei— 
heit, jo wäreft Du noch ein Sklave, und ich wäre ein Sklave, und Qumpe wären 
wir beide. Raſch, Lutz, hole mir meinen Hut! Noch ift e8 Zeit, meine Pflicht 
al3 Bürger unjeres glücklichen Jahrhunderts zu erfüllen. Gib mir einen Zettel, 
Uler. Es lebe das allgemeine Wahlreht! Auch ich ftimme für Rollmops.“ 


der internationale Arbeiterſchutz. 





Don 


Dr. Georg Adler, 
Docent ber Nationaldlonomie an der Univerfität Freiburg i. Br. 


nn 


I. 

Die denkwürdigen Erlaſſe des deutjchen Kaiſers vom 4. Februar, duch 
welche er die Löjung der Trage des Arbeiterfhußes in feine mächtige Hand ges 
nommen hat, bezeichnen wie mit Flammenjchrift den Beginn einer neuen Aera 
der europätichen Wirthſchafts- und Socialpolitil. Denn wahrlich, bedentt man, 
wie vor hundert Jahren nur durch den Sturz von Thronen und durch ein Meer 
von Blut die franzöfifche Revolution die politische Befreiung des dritten Standes 
zu erwirfen vermochte, jo kann es für den wahren Mtenjchenfreund fein erhabe- 
nere3 Schaufpiel geben, ala jet zu jehen, wie die mwirthichaftlicde Emancipation 
de3 vierten Standes, welche einen noch weit greuelvolleren Weltenbrand zu entfachen 
drohte, duch dieſe zielbewußten und wahrhaft volfsfreundlichen Maßnahmen 
auf dem Wege friedlicher und vernünftiger Neformen ind Werk gejeht wird. 

Die dee, durch internationale Vereinbarungen dem Arbeiter ausreichenderen 
Schub zu gemwährleiften, als e3 eine bloß nationale Gejeßgebung vermag, ift 
durchaus nicht neu, jondern ſchon faft ein halbes Jahrhundert alt, und, was nicht 
überjehen werden darf, dieje dee ift nicht doctrinärer Buchgelehrfamkeit ent- 
iprungen, jondern unmittelbar aus der Erfahrung des ſocialen Lebens, aus einer 
rationellen Betrachtung der praftifchen Verhältniffe hat fie fich ergeben. Ein 
elſäſſiſcher Fabrikant, Daniel Legrand, ift es geweſen, der (1841) durch die Be— 
rathungen der franzöfiichen Kammern über Maßregeln zum Beften der Arbeiter 
auf den Gedanken gebracht worden ift, eine internationale Berftändigung über 
das, was hier zu gejchehen habe, vorzuſchlagen. Bon den geräuſchvollen Wellen 
der politiichen Bewegung in den vierziger Jahren verſchlungen, tauchte 1855 diefer 
Gedante wieder auf, als der Canton Glarus ſich mit der gejeglichen Fürſorge 
für die Arbeiter der Baummollipinnereien zu beichäftigen hatte. 

Beide Male ging man von der Erfenntniß aus: daß der Arbeiterihuß für 
die Induſtrie meift eine Vertheuerung der Productionskoften zur folge Haben, 
mithin die inländiichen Gewerbe in ihrem Goncurrenzlampfe mit dem Auslande 


42 Deutſche Rundſchau. 


ſo lange ungünſtiger ſtellen müſſe, als nicht auch das Letztere ſeinen Arbeitern 
die gleiche ſtaatliche Hülfe gewähre und damit feiner Production die gleiche Be— 
laftung auferlege. Dieje Wendung, welche bis heute das Hauptargument bei der 
Befürwortung des internationalen Arbeiterfchußes geblieben ift und auch in dem 
Erlaß des Kaiſers wiederfehrt, bedarf einer eingehenderen Charakteriftik. 

Mit dem gejeglichen Arbeiterihug will man vor Allem erreichen, daß in 
gewerblichen Etablifjement3 Kinder in einem allzu jugendlichen Alter (3. B- 
unter zwölf Jahren) überhaupt nicht zur Arbeit zugelaffen werben, und daß bie 
beichäftigten jungen Perjonen jowie die weiblichen Arbeitäkräfte nur eine 
gewiſſe beſchränkte Zahl von Stunden täglih (3. B. zehn Stunden höchſtens) 
und niemal3 während der Nachtzeit in Anspruch genommen werden. Man hat 
nämlich in allen Ländern die Erfahrung gemacht, daß, jo lange der Staat nicht 
intervenirt, Kinder und Frauen troß ihrer ſchwächeren Conftitution erbarmungs- 
los in ganz derſelben Weife wie die Männer zu anftrengender, harter und über: 
langer Arbeit herangezogen werben !). 





'ı) Man ift neuerdings auch auf deutſchem Boden über die Heimfuchungen be3 Arbeiterftandes 
einigermaßen orientirt, feitdem eine Anzahl jüngerer Gelehrter in verichiedenen Induftriebezirten 
verläßliche und genaue Generalftabätarten der focialen Noth aufgenommen hat. Sie brauchten 
den Gapitaliamus und fein Verhalten gegen bie Proletarier nur einfach zu Schildern, um fi 
ala feine gefährlichften fyeinde zu erweifen. — Hier müffen natürlich einige Daten zur allgemeinen 
Kennzeichnung genügen. Tas Mühlhaufener Gebiet galt noch bi3 vor Kurzem ala ein wahres 
Mufterland väterlicher Fürſorge der Fabrikanten für ihre Arbeiter, bis Heinrich Herfner in 
feinem gründlichen Werte über die obereljäjfiiche Baummwollinduftrie (1837) die Wahrheit an den Tag 
bradte. Danach fehte diefe Induftrie damals 49 000 Perfonen in Thätigkeit, unter ihnen 26.000 
Grauen und 6700 Kinder; bie Kinder von 12—14 Jahren arbeiteten 10-11 Stunden pro Tag; 
alle anderen Kinder, fowie die Frauen und Männer mußten gleihmäßig täglich 12’. Stunden 
Ihaffen, ja bei flottem Geſchäftsgange noch länger, fo namentlid an ben Samftagen während der 
Winterfaifon 15/s—17’/. Stunden! (Bei allen Zahlenangaben über die Arbeitäzeit find bie 
Paufen nicht mitgerechnet.) — In anderen Branchen, befonderd in ben landwirthichaftlichen 
Induftriezweigen (3. B. Zuder: und Stärlefabrifen, Ziegeleien und Mühlen) haben es die Arbeiter 
faft im ganzen Deutfchen Reihe — laut ben amtlichen Mitteilungen ber Fabrikinſpectoren — 
noch ſchlimmer. Hier wird im ehr vielen Fällen von einer regelmähigen täglichen effectiven 
Arbeitäzeit von 14—21 Stunden berichtet. Da kann es natürlich nicht Wunder nehmen, daß ein 
Fabrikinſpector ala Wirkung der harten Arbeit 3. B. bei den Ziegelftreichern conftatirt: „Im 
Frühjahr beginnen fie Eräftig, und im Herbft find fie wahre Schattengeftalten.“ — In mandıen 
anderen Ländern, wie 3. B. in Italien, ift die Lage des Proletariat3 noch eine weit traurigere. 
Dort find nämlid — wie Werner Sombart (in feinen „Lohnftatiftiichen Studien“, 1889) 
auf Grund amtlicher Erhebungen berichtet — unter zehn Zertilarbeitern neun Frauen; von 
1332000 in dieſer Induſtrie thätigen Erwachlenen find männlichen Geſchlechts nur: 136 000. 
Ebenfo erfreut fich dort auch die Kinderarbeit bei den Fabrikanten einer allgemeinen Beliebtheit: 
fo find in dem genannten Gewerbe 100000 Kinder unter 14 Jahren befgäftigt! In ben Schweiel: 
gruben Siciliend arbeiten gar 9000 Kinder neben 19600 Erwachjenen. 

Die Mebelftände, welche fi als folge ber Kinder-, der übermäßigen Frauen» und ber allzu 
lang währenden Männerarbeit ergeben, laſſen fi kurz, wie folgt, zufammenfaflen. Die regel: 
mähige gewerbliche Arbeit des Kindes greift feine Gefundheit an; das Wachsthum und bie normale 
Entwidlung desfelben wird durch den Aufenthalt in dem mit jchlechter Luft angefüllten Arbeits: 
ftätten und durch die angeftrengte Thätigfeit, welche meift gewifle Glieder ausſchließlich in Anſpruch 
nimmt, geichädigt; ſchon frühzeitig nimmt das wenig widerftandsfähige Kind ben Keim von 
Gewerbefranfheiten im fich auf; die dem Kinde verfagte Ausbildung feiner geiftigen Fähigkeiten 
in Verbindung mit der eintönigen gewerblichen Beichäftigung bewirkt geiftige Werddung und 


Der internationale Arbeiterichup. 43 


Im nun joldden Zuftänden, deren lebte Conſequenz unfehlbar die Degenera- 
tion des Arbeiterjtandes fein muß, ein Ende zu machen, werden durch Geſetz 
Schranken für die Verwendung von Kindern, jungen Perjonen und Frauen zur 
induftriellen Arbeit gefeßt. Diejer Eingriff geht aber gegen das Intereſſe des 
Fabrikanten, da er ihn nöthigt, die theurere Arbeitskraft de8 Mannes zu be- 
nußen. Der Fabrikant hat alfo mehr Koften als früher, Wenn nun bloß ein 
Land fich zur Einführung der in Rede ftehenden Geſetze entichloß, während das 
Ausland nichts dergleichen that, jo hatte der ausländiſche Fabrikant bei feiner 
Production offenbar weniger Koften aufzuwenden. Letzterer hatte daher, unter 
ſonſt gleichen Umftänden, bei dem internationalen Concurrenzlampfe eine um jo 
feftere Pofition inne: er konnte, wenn aus irgend einem Grunde der Abſatz der 
MWaaren zum alten hohen Preiſe ins Stoden gerieth, leichter einen Preisnachlaß ” 
gewähren, als der durch den Arbeiterfhug mit außergewöhnlichen Koften be— 
laftete Anduftrielle. 

Dies ift mithin die inhärente Schwierigkeit aller Arbeitsgejege, ſoweit fie 
nur bei einer Nation und nicht auch bei den anderen Eulturftaaten in Geltung 
treten. Freilich ſoll damit nicht gejagt jein, daß jedes bloß nationale Geſetz 
diefer Art ſchon deshalb ſchädlich wirken müßte und abzumeifen wäre. Denn 
wenn 3. B. ein Geſetz die gewerblide Ausnugung von Kindern unter zwölf 
Jahren verbot, dagegen die Arbeit von Perjonen über zwölf Jahren unein- 
geſchränkt geftattete, jo konnte dies Vorgehen nur eine ganz Eleine Erhöhung der 
Productionskoften zur Folge haben; eine jo geringe Belaftung vermochte aber num 
und nimmer die davon betroffene Induſtrie concurrenzunfähig zu machen. Doch 
jelbjt eine exrheblichere Belaftung kann von den Induſtriellen eines Landes ohne 
Schaden getragen werden, wenn jene nur durch Vortheile in den übrigen Pro: 
ductionsbedingungen dem Auslande gegenüber twieder wett gemacht wird (4. B. 
durch billigere Erlangung der Rohſtoffe oder durch befondere Tüchtigkeit der 
Arbeiter). Schließlich aber konnten die für den einheimiſchen Arbeiterftand ge— 
ichaffenen Woblthaten gegen etwaige Behinderungen der Induſtrie jo bedeutend 
ins Gewicht fallen, daß man troß alledem ſich Lieber für den bloß nationalen 


Stumpffinn; enblidy wird durch das Zufammenfein mit den Erwachfenen während ber Arbeit und 
durch den Mangel bed Familienlebens die moraliiche Entwidlung der Kinder ſchwer geichädigt. — 
Die übermäßige Arbeit der Frauen gereicht benjelben zum ganz befonderen Nachtheil, weil fie 
viel [hwädlidyer ala bie Männer find; das Zufammenarbeiten mit Männern führt zur Un: 
moral und Unfittlichleit: die Zodtgeburten nehmen jehr zu, und ebenjo wächſt die Säuglings: 
fterblichteit; die verheiratheten Arbeiterinnen können fi) wenig um ihre Familie und ihr 
Hausweſen fümmern; bie Folge ift Berwahrlofung der Kinder und Gefährdung des häuslichen 
Friedens und der Moralität des Mannes, deſſen Heim fo fehr vernadhläffigt ift. — Endlich ein 
zu langer Arbeitätag des Mannes untergräbt feine Gefundheit, feine Lebens: und Arbeitskraft; 
fein Körper wird um jo empfänglicher für fpecifiiche Gewerbefrantheiten; fein Familienleben wird 
zerftört; fein ganzes Dafein wird im MWefentlichen auf Arbeit und den zur Erhaltung bes Daſeins 
gerabe nothwendigen Schlaf reducitt, während Alles, was den Zuftand des Menichen über den: 
jenigen eines thierifchen Vegetirens erhebt — Gejfelligkeit, VBethätigung und freie? Spiel ber 
geiftigen Kräfte, Beſchäftigung mit den Angelegenheiten von Staat und Geſellſchaft, überhaupt 
Zheilnahme an entwidelter Cultur und Givilifation — auf ein Minimum beſchränkt wird. 
(Bergl. die ausführliche Begründung. diefer Thefen in Georg Adler's „Frage des inter: 
nationalen Arbeiterſchutzes“. München, 1888.) 


44 Deutihe Rundſchau. 


Arbeiterſchutz entichied, ald daß man unthätig zuſah, wie der Arbeiterftand, hülf- 
los preiögegeben der Ausbeutung durch gewiſſenloſe Unternehmer, immer mehr 
der Entartung anheimfiel. 

Die fociale Gejchichte des neunzehnten Jahrhunderts liefert für alle dieſe 
Behauptungen reihlih Belege. So hat 3. B. die deutſche Arbeiterverfiherung 
die Concurrenzfähigkeit der heimifchen Anduftrie auf dem Weltmarfte bis jeßt 
nicht beeinträchtigt. Und das leuchtet auch ohne Weiteres ein, jobald wir von 
der Statiftit darüber belehrt werden, daß 3. B. die Krankenverſicherung den 
Unternehmer für jeden von ihm beſchäftigten Arbeiter durchſchnittlich nur vier 
Mark jährlich koſtet. Laften diefer Art können natürlich höchſtens in gewiſſen 
jpecielen Fällen drüdend empfunden werden. — Wenn indeß der weitere Aus— 
bau des deutjchen Arbeiterverficherungsiyftems verfucht, vor Allem wenn auch 
für die Arbeitälofen ausreichend geforgt werden ſoll, kann e3 fich vielleicht heraus— 
ftellen,, daß alle die Laften der verjchiedenen Arten der Arbeiterverfiherung zu = 
fammengenommen eine erhebliche Kürzung der gefhäftlichen Profite bewirken 
und daher thatjähli eine Schädigung der inländiichen Erportinduftrieen zur 
Folge haben. 

Ein weitere Beiſpiel bietet England, das zuerft in der Culturwelt das 
Vorbild einer ausreichenden gejeßlichen Einſchränkung der Kinder- und Frauen— 
arbeit gegeben und doc) bis hinein in die Mitte der fiebziger Jahre Teinerlei 
Schädigung feiner Goncurrenzfähigkeit erfahren hat, troßdem lange Zeit fein Land 
mit auch nur entfernt vergleichbarer Energie den Weg der focialen Reform be- 
fchritten hatte. Die britijche Jnduftrie glich) eben die Erhöhung der Productiond- 
foften durch Kapitalreichthum, techniſche Entwicklung und Tüchtigleit ihrer Ar— 
beiter bei Weitem wieder aud. Neuerdings ift das freilich anders geworden. 
Das continentale Gewerbe hat ſich nah und nad die Vorzüge der britifchen 
Induſtrie größtentheil3 anzueignen gewußt und macht ihr nunmehr eine um jo 
empfindlichere Concurrenz, al3 dasjelbe in Folge einer mangelhaften Arbeits- 
gejeßgebung eine günftigere Pofition einnimmt. Wenngleih dies Rejultat durch 
eine umfafjende Enquöte amtlich feftgeftellt ift, wird man doch nicht an den 
engliſchen Gejegen zum Schutze der Arbeiterklaffe mäfeln dürfen: denn ihnen 
allein verdankt England, daß Millionen von Vroletariern ſich in befriedigen— 
den wirthſchaftlichen Verhältniſſen befinden. 

In Belgien iſt die ſociale Situation genau die umgekehrte, wie in England: 
für den Arbeiterſtand iſt gar nichts gethan worden, und dadurch hat die In— 
duſtrie des Landes unzweifelhaft an Concurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkte ge— 
wonnen. Durch ſeine rückſichtsloſe Ausbeutung der Arbeitskräfte iſt Belgien in 
den Stand geſetzt, alle concurrirenden Nationen — und, wie amtlich feſtgeſtellt 
iſt, nicht zum mindeſten auch die deutſche — ſchwer zu ſchädigen. Aber die ſo— 
mit erreichte „Blüthe“ der belgiſchen Induſtrie iſt durch namenloſes, unbeſchreib— 
liches Elend der Arbeiterklaſſe, durch Ausſchluß derſelben von allen Segnungen 
der Cultur viel zu theuer erkauft worden. Mit Geſetzen, wie ſie in England 
zum Schutze der Arbeiterklaſſe eingeführt worden ſind, hätte ſicherlich die In— 
duſtrie Belgiens nicht eine ſolche Exportfähigkeit erlangt, aber die Lage des Haupt- 
theils der Arbeiterklaſſe wäre eine leidlich befriedigende geweſen, und die Letztere, 


Der internationale Arbeiterichuß. 45 


felber theilnehmend an den Gütern der modernen Givilifation, würde nicht, wie 
fie e3 jet thut, auf Mittel zu deren Vernichtung und Untergang finnen. Dur 
da3 Beifpiel Belgiend wird mithin nur eine neue Beftätigung des Sabe3 ge= 
liefert, daß der Arbeiterſchutz, ſelbſt bloß national durchgeführt, eine unab— 
mweisbare Nothwendigkeit ift, auch twenn er die Goncurrenzfähigkeit der nationalen 
Induſtrie behindert. 

Alfo: die nationale Arbeiterfchußgefehgebung ift bis zu einer getoiffen 
Grenze möglid; und nothiwendig. Die Weite diefer Grenze wird aber mejentlich 
durch die Goncurrenzfähigkeit des betreffenden Landes auf dem Weltmarfte be- 
ftimmt. Wa3 lag mithin näher, als daß immer wieder von Neuem auf den 
internationalen Arbeiterfhuß hingewieſen wurde al3 auf das einzige Mittel, 
der Arbeiterflaffe nahdrüdlih und wirkſam zu helfen, weil dann dieſe befonderen 
Laften alle concurrirenden Anduftrieftaaten gleichmäßig trafen, und jo der status 
quo wieder hergeftellt war? 

Noch nothwendiger ift eine internationale Ordnung, wenn es fih um 
ba3 Verbot gefundheitsgefährlider Fabrikationsmethoden, etwa 
ber Verivendung von Blei, Quedfilber, Phosphor und Arjenik handelt. Wenn 
durch den Gebrauch diejer giftigen Stoffe bei der Fabrikation das Product that- 
ſächlich vorzüglicher oder beliebter wird, jo ift im Falle eines bloß nationalen 
Verbots zu befürchten, daß das conjumirende Publitum — zumal de3 Aus— 
landes — die Artikel in der gewünjchten Form von der, feiner Beichräntung 
untertoorfenen fremden Induſtrie bezieht. So klagen 3. B. die deutſchen Fabrik: 
infpectoren, daß das Verbot der Verwendung de3 arjenikhaltigen Schweinfurter 
Grün zum Färben von Papieren nicht durchzuführen fei, weil die franzöfischen 
und engliſchen Abnehmer der Buntpapierfabritate den deutſchen Producenten mit 
Entziehung der Kundjchaft gedroht hätten, wenn ihnen nicht das grüne Papier 
der Beftellung gemäß geliefert würde. — 

Somit ijt es nicht bloß rückſichtsloſer Egoismus der Fabrikanten, wenn fie 
fih der weiteren Ausbildung der nationalen Schußgejfeße mit allen Mitteln 
widerſetzen, jondern fie fämpfen oft thatjählih nur um ihr Dafein. Und diefe 
Erkenntniß ift es, welche auch die nicht ummittelbar interejfirten Kreiſe der 
Nation, wie Beamte, Gelehrte u. U. m. die ein offenes Auge und Gerz für die 
Wohlfahrt ihrer Mitbürger haben, mit dem gejchädigten Fabrikanten gemeinfame 
Sache maden läßt, und deren vereinigte Oppofition dann an und für fi) wohl: 
thätige umd oft jogar nothwendige Schußgefege zu Falle bringt. Werden dieſe 
Beichränkungen der Yabrikation aber auf die Producenten aller Jnduftrieftaaten 
ausgedehnt, werden alfo dur internationale Gejeßgebung 3. B. die geſund— 
heit3gefährdenden TFabrifationsmethoden überhaupt aufgehoben oder nur in ganz 
beftimmter Modification zugelaffen, dann fallen die früheren gegentheiligen Argu— 
mente in fi) zufammen, und der Widerftand aller unintereffirten Elemente muß 
aufhören, weil er feine Berechtigung mehr hat: nur einige Fabrikanten mögen 
noch ein leiſes Alpdrücden bei dem Gedanken jpüren, daß die beabjichtigte ftaat- 
liche Intervention die industriellen Profite ſchmälern könnte. 

So läßt ih Schritt für Schritt verfolgen, wie dem einzelnen Staate 
eine wahrhaft eriprießliche und nothmwendige weitere Ausbildung feiner Maß— 


46 Deutiche Rundſchau. 


nahmen zum Schuße der arbeitenden Klaſſen nicht bloß erſchwert, jondern oft 
geradezu unmöglich gemacht wird. a, noch mehr! Bei dem exrbitterten Bett: 
fampfe der AInduftrieen auf dem Weltmarkte, der jeden Staat zwingt, feinen 
Producenten alle nur möglichen Vortheile und Erleichterungen zu gewährleiften, 
wird nicht nur ein größerer Schub des Proletariats verhindert, jondern ſelbſt 
alles Da3, was bisher diefem allein ein menschliches Dafein noch ficherte, ge— 
fährdet. 

In England find bekanntlich die Löhne einer, mehrere Millionen induftrieller 
Arbeiter umfafjenden Volksſchicht durch die Gewerkvereine und die (indirect) von 
der Arbeiterſchutzgeſetzgebung gewährte Unterftütung jehr hoch im Vergleiche zu 
den continentalen Berhältniffen. Wenn nun, wie ſicher anzunehmen ift, die 
gewerbliche Goncurrenz des Gontinent3 fi immer mehr fteigert, wenn von den 
mit billigen Arbeitstoften producirenden continentalen nduftriellen die Waaren 
zu niedrigen Preifen auf den Markt getvorfen werden, jo werden die englifchen 
Tabrifanten fi) vor die Wahl geftellt jehen: entweder ihre Production einzus 
ſchränken, unter Umftänden auch diefelbe ganz einzuftellen, oder aber die Arbeits- 
foften ebenfall3 herabzuſetzen. Da zur Erreichung des leßteren Ziele eine Ber: 
längerung der Arbeitäzeit (vor Allem mit Rückſicht auf die geltenden Geſetze) 
meift nicht ftatthaft jein wird, jo wird ald einziges anwendbares Mittel 
zur Erhaltung der englijden Anduftrieen die Herabſetzung der 
relativ hohen Löhne übrig bleiben; eine Nivellivung des zur Zeit jehr be- 
deutenden Interjchiedes im Lohne zwischen England einerjeit3, Deutjchland, 
Frankreich und Belgien andererjeitS wird unausbleibli fein. Eine traurige 
Perſpective, die leider nicht ein theoretifches Phantom ift, jondern al3 untvider- 
legliches Refultat aus den engliſchen „Reports of the Royal Commission appointed 
to inquire into the Depression of Trade and Industry®* (1885—1887) fich er- 
gibt — wie auch der jüngft verftorbene Naſſe in feiner gründlichen Abhand- 
lung über diefe Engquöte conftatirt hat. Ja, Nafje meint jogar mit Recht, diefer 
Proceß der Kürzung der Löhne habe in England bereit3 begonnen. 

Nun, das einzige Mittel, um ſolchen traurigen Conjequenzen vorzubeugen, 
ift: der internationale Arbeiterſchutz. Indem dadurch auch auf dem Gontinent 
direct eine Verkürzung der Arbeitäzeit und indirect eine Erhöhung des Lohnes 
bewirkt und jomit eine Vergrößerung der Arbeitskoften der Production herbei: 
geführt wird, kann die continentale Anduftrie nit mehr bloß wegen der 
ſchlechteren Griftenz ihrer Arbeiter eine rapide Entwicklung nehmen und bie 
englijche Induſtrie von ihren bisherigen Abjagmärkten verdrängen. Dann aber 
wird die lehtere fich behaupten können, ohne zu dem beffagenswerthen Mittel 
der Herabdrüdung des Lohnes greifen zu müſſen. So, und nur jo, kann verhindert 
werden, daß die Koncurrenz mit Hungerlöhnen und mit Nacdhtarbeit producitt, 
und daß dasjenige Land fiegt, welches es Hierin am weiteſten gebradjt hat. 

Uber alle jene traurigen Urſachen, welche den Niedergang der englifchen 
Löhne herbeiführen müffen, treffen ebenjo qut die Erportinduftrie jedes anderen 
Landes, welche einen erheblich höheren Lohn zahlt als anderswo, wo längere 
Arbeitszeit oder rückichtälofere Erploitation der Kinder: und Frauenarbeit üblich 
it. Auch hier kann einmal der Augenblic eintreten, wo die Jnduftriellen durch 


Der internationale Arbeiterſchutz. 47 


die mit billigeren Arbeitsfoften arbeitende Concurrenz jo jehr in ihrem Gewinn 
beeinträchtigt werden, daß fie fid für einen Theil des Verluftes durch Verkürzung 
der Löhne ſchadlos zu halten ſuchen. So kann es recht wohl noch einmal dahin 
tommen, daß der Kohn des deutſchen Arbeiter auf das niedrige Maß des Lohnes 
eines Italieners oder ſchließlich gar eines Kuli finft. Mit Recht gab daher auch 
vor der erwähnten königlichen Commiſſion ein al3 Zeuge vernommener Baumwoll— 
fabrifant aus Lancajhire fein Gutachten dahin ab: „Die frage entjteht, wird 
der britiiche Arbeiter durch die Goncurrenz auf das Niveau des continentalen 
Arbeiter herumtergebradht werden und dann allmälig auch auf das des 
aſiatiſchen?“ — — 

Eine internationale Regelung der fragliden Materie wird aber nicht bloß 
folche, Jedermann in die Augen jpringenden Vortheile ergeben, fondern ihr Segen 
wird ein noch viel veicherer jein. Denn dadurd; wäre ferner — wonach man 
bisher jo lange vergebli gejtrebt — ein fefter Damm gefchaffen, an welchem 
fih die verheerende Sturmfluth der Krijen zwar nicht bredyen, aber doch er- 
heblich abftumpfen würde, 

Iſt internationales Arbeitsrecht da, jo kann der Fabrikant über feine Arbeiter 
nicht mehr in unbeichränttem Umfange disponiren, jondern diejes hindert ihn 
jest, in den Zeiten der jogenannten „auffteigenden” oder günftigen Conjuncturen 
feine Production nad Belieben zu erweitern und Waarenmafjfen über Waaren- 
mafjen auf den Weltmarkt zu werfen. Daher würde die durch die meiften 
günftigen Gonjuncturen eintretende leberproduction jehr in Schranken gehalten 
werden. Die Folge hiervon müßte aber fein, daß auch der nothmwendige Rück— 
ichlag , die Krije, um jo viel gelinder auftrete, al3 es jonft der Fall geweſen 
wäre. Denn wenn in Folge des Arbeiterfhußes die producirten Waarenquantitäten 
nicht jo bedeutend anwachſen können wie früher, jo find aud) die in einem ge— 
gebenen Augenblide auf dem Markt befindlichen Waarenmengen — deren Vor: 
bandenfein bei nachlaſſender Nachfrage den Preis jo jehr drüdt — minder be— 
deutend. Bedenft man mun, welche furchtbaren Wunden die Abjabkrifen der 
Volkswirthſchaft Ichlagen, jo wird man gerade die eben beſprochene Wirkung der 
internationalen Arbeitsgejeggebung als eine höchſt jegensreiche bezeichnen — und 
zwar fegensreich auch ganz jpeciell vom Standpunkte der Unternehmerclaffe aus, 
welche von den Kriſen ebenjo ſchwer betroffen wird oder oft noch jchwerer ala ihre 
Arbeiter. Alſo auch das ſpecifiſche Fabrikantenintereſſe — und nicht bloß da3 humane 
Mitgefühl mit den Leiden von Millionen armer Menſchenweſen und die jociale 
Gerechtigkeit fprechen laut und eindringlich für das hier vertretene Poftulat. 

Nur mit einem Worte braucht ferner an das hohe politiſche Anterefje 
erinnert zu werden, da3 fi an die Erfüllung der alten und berechtigten Arbeiter: 
forderungen durch eine von der ganzen Culturwelt acceptirte Gejehgebung knüpfen 
müßte. Die Proletarier, joweit fie objectiver Erwägung zugänglid und noch 
nicht von blindem Haffe gegen alles Beftehende erfüllt find, werden fich über: 
zeugen laſſen, daß auch auf dem Boden der heutigen Eigenthumsordnung ihr 
Scidjal verbeffert umd ihnen eine Zukunft gefichert werden kann, welche de3 
Dajeins Mühſal lohnt und ihnen die Freuden verschafft, auf welche alle Menjchen 
ein Recht Haben. Und e3 wäre nicht unmöglich, daß hierdurch der Anlaß ge- 


48 Deutiche Rundſchau. 


geben würde, daß die bis jeßt immer noch weſentlich revolutionär und ertrem 
gearteten continentalen Arbeiterparteien ſich principiel und tactiſch zu maß— 
vollerem Verhalten bequemten und ihren Beftrebungen die Form einer verfafjungs- 
mäßigen Agitation verliehen; — wie ja thatjählih in England, unter dem 
Regime der Arbeiterfchußgejege, der völlige Niedergang des revolutionär: focialiftifchen 
„Chartismus“ und die Herausbildung einer großartigen jocial= reformatorifchen 
Arbeiterbewegung erfolgt ift. 
II. 

Die Erkenntniß der jegensreichen Folgen des internationalen Arbeiterſchutzes 
führte den Verfaſſer des vorliegenden Aufjages jchon Anfang 1888 zu dem 
Schluſſe: daß dieſes Poftulat „bei fortjchreitendem Entwidlungsgange der capi- 
taliſtiſchen Volkswirthſchaft fi von jelbft zur Realifirung aufdrängen müffe“. 
Unſere ſocialwiſſenſchaftliche Anſchauungsweiſe mußte diejes Reſultat als noth— 
wendig erſcheinen laſſen. Denn die ſtaatlich nicht reglementirte, capitaliſtiſche 
Productionsweiſe hat die Tendenz, den Proletarier in eine möglichſt ſchlechte 
und daher unhaltbare Lage zu verjeßen. Und bier ergibt fi) dann die Alter- 
native: entweder, befolgt der Staat nad) wie vor in der ſocialen Praxis das 
unjelige Princip des laisser faire, wirklich und wahrhaftig der Verfall der mo— 
dernen Gultur; oder aber, der Staat entwidelt eine entjchieden zugreifende fociale 
Reformthätigkeit, welche den internationalen Arbeiterſchutz einjchließt, dann 
jegensreicher Fyortichritt der Menfchheit zu immer höherer Cultur und Givilifation, 
Es ift nicht theoretifcher Uebereifer, der dieje Alternative erfindet, jondern es ift 
der fociale Naturproceß jelber, welcher feft und beftimmt die Menjchheit zwingt, 
auf die eine oder andere Werje ihren Weg zu nehmen. Darum ift internationaler 
Schub des Arbeiterftandes nicht bloß wünſchens- und erftrebenswerth, ſondern 
er ergibt fich geradezu al3 unabweisbar nothivendige Conſequenz. Und deshalb 
muß er ji früher oder ſpäter Allen, die in der capitaliftifchen Volkswirthſchaft 
leiden, Allen, die mit diefen leidenden Glafien Sympathie empfinden, Allen, die 
unabhängig objectiver Forſchung obliegen, al3 Poftulat aufdrängen, an defjen 
Realifirung mit Aufbietung aller Kräfte gearbeitet werden muß. „Daraus aljo“ 
— bemerkte der Berfafjer bereit3 damald — „ſchöpfen wir die fefte Zuverficht, 
daß dieſer Gedanke in der joctalen Geſchichte der Menſchheit obfiegen wird; er 
wird fiegen, weil er fiegen muß”’). — — 

Die vielen, ſchwerwiegenden Gründe, welche für das Postulat ſprechen, Haben 
e3 auch bewirkt, daß jeit einigen Jahren eine literariihde Bewegung zu feinen 
Gunften entjtanden ift, daß ein Arbeitercongreß nach dem anderen für dasjelbe 
votirt hat, daß eine illuftre Verfammlung wie der „internationale Congreß für 
Hygiene und Demographie” entjchieden dafür eingetreten ift, ja daß ſchließlich die 
ſchweizeriſche Regierung — die ſchon 1881 die verfchiedenen Staaten vergeblich 
für dieje Frage zu intereffiren verjucht hatte — neuerdings die europäijchen Re— 
gierungen zur Betheiligung an einer internationalen Gonferenz in Sachen bes 
Arbeiterihußes eingeladen hat. 

Die dee hat das jeltene Glüd gehabt, Perfonen und Parteien für ſich zu 
gewinnen, die jonft jehr wenig miteinander gemein haben. Die Arbeiterparteien 


1, Georg Adler, „Die Frage des internationalen Arbeiterſchutzes“ (1888), ©. 97 ff. 


Der internationale Arbeiterfchup. 49 


aller Nationen, die Ehriftlih-Socialen evangelifcher und Fatholijcher Richtung in 
den verjchiedenen Ländern, die Glericalen in Deutichland, Frankreich, Defterreich 
und der Schweiz, die Demokraten in den Ländern deutfcher Zunge, die Führer 
unſerer liberalen Fractionen (Miguel, Dechelhäufer, Barth u, A.), ja viele Ver— 
bände von Unternehmern find dem Gedanken warm zugethan?), Auch bie 
deutjche Gelehrtenmwelt — der gegenwärtig in der Nationalöfonomie die führende 
Rolle zugefallen — ift faft ganz gewonnen: Adolf Wagner und Gujtav 
Schönberg haben ſchon 1871, als fie durch ihre Brochüren über die „jociale 
Frage“ reſp. die „Arbeitsänter” die „Latheder-jocialiftiiche" Aera einläuteten, 
energiih für internationale Vereinbarungen plädirt; ſeitdem haben fich nach— 
einander L. v. Stein, W. Leris, F. J. Neumann, NR. Friedberg, %. 
Kleinwädter, A.v. Miaskowski, J. Wolf u. A. öffentlich zu jener Idee 
befannt; ja, ſchließlich hat jelbit ein jo vorfichtiger Gelehrter wie Roſcher, der 
angefehenfte aller lebenden Nationalöfonomen, ſich im Anfchluffe an die Beſprechung 
meiner Monographie über diejes Thema unumwunden dafür ausgeſprochen?). 

Der jo mächtig fortichreitenden Berwegung zu Gunften des internationalen 
Arbeiterſchutzes konnten auch die Regierungen fich nicht mehr entziehen, und 
ſchließlich haben felbft der deutjche Kaifer und der Papft ihre Autorität zu feinen 
Gunften in die Wagjchale geworfen. — 

Immerhin darf nicht verhehlt werden, daß auch Bedenken von fachmänniſcher 
Seite geltend gemacht worden find. Ich führe die Anfiht Paul Leroy— 
Beaulieu’3 an, des berühmteften franzöfiichen Nationalöfonomen. 

‚Für die Theſe des Dr. Adler (betr. die internationale Arbeitsgefeßgebung) — bemerft Leroys 
Beaulieu in ber „Revue des deux mondes“ — find die praftifchen Schwierigfeiten ala un- 
überwindlich anzufehen. Die Urtheile über dieſen Gegenftanb tragen feine Rechnung dem Unter: 
ichiede von Kraft und von Frühreife ber menjchlichen Weſen in ben verjchiebenen Ländern und 
unter den verſchiedenen Klimaten. Der junge Hindu in einer Spinnerei in Bombay, ber an 
feinem Zeppichwebftuhl von Morgen bis Abend geduldig figende junge Perfer, ber in ber Seiden— 
oder Baumwollipinnerei verwandte jugendliche italienifche Arbeiter, ber gründliche, etwas ſchwer⸗ 
fällige Anabe in Rouen, ber feurige Kleine Yankee mit feiner ruhelofen, immer gefpannten Auf: 
merkjamfeit, ber junge, in harter Arbeit aufgewachjene Engländer, alle biefe Menichenarten und 


!) Manche Arbeitgeber machen bad Verlangen nad) internationalen Berträgen offenbar nur 
geltend, um bie unbequeme Angelegenheit bes Arbeiterichubes wenn möglich ad calendas graecas 
zu vertagen, wie dies Kleinwächter für Defterreih, Bücher für Deutichland und Herkner 
für Belgien conftatirt haben. Ganz befonders verdächtig — bemerft Herkner mit Recht in 
feiner intereffanten Studie über die belgiiche Arbeiterenguöte — müfle es erfcheinen, daß bie 
Schwärmerei für „internationale“ Fabrifgefeßgebung gerade unter den FFabritanten Belgiens, 
bes einzigen induftriell entwidelten Landes ohne Arbeiterfchuß, jo verbreitet fei, da man ja bort 
zur Zeit nicht einmal beabfichtige, fo viel zu ihun, als in den großen concurrirenden Nacbars 
reichen bereits gefchehen fei. — Immerhin darf nicht überfehen werden, daß jenes Poftulat auch 
gerabe in Belgien von ben — fiherlicy unintereffirten — Gelehrten jehr warm empfohlen wird, 
fo früher von Ducpetiaur und neuerdings von Laveleye (in der Brüſſeler „Bazette“), von 
Denis (vor ber focialen Enquötecommiffion und in der Brüffeler „Reforme*), von Mahaim 
(in einer jpeciellen Abhandlung in ber „Revue d’&conomie politique‘, 1888) und von bem uns 
ermüdlichen Boghaert-Vaché in verfchiedenen Brochüren und zahllojen Journalartikeln. 

) Ausführlich ift die Gefchichte der Idee dargeftellt in ©. Adler’3 „Frage bes inter 
nationalen Arbeiterſchutzes“, S. 65—97. Vergl. au Karl Bücher’s werthvolle Abhandlung 
„Zur Geſchichte der internationalen Fabrilgeſetzgebung“ (1888). 

Deutihe Rundihau. XVI, 7. 4 


90 Deutiche Rundſchau. 


noch taufend andere neben ihnen, können unmöglich einer gemeinfamen Arbeitsmaßnahme unter: 
mworfen werden.“ 


Herr Profeffor Leroy-Beaulieu vergißt nur, daß es fi nicht um eine 
genau gleihlautende Arbeitägejeßgebung für die verjchiedenen Nationen 
handelt, fondern nur um ein gleichmäßige Minimum. 

„Wo foll ferner — fährt Leroy-Beaulieu fort — die Controle in einer fo verwidelten 
und jo jchweren Materie fein? Wer fteht dafür ein, daß die von jedem Lande übernommenen 
Verpflichtungen gehalten werden? Sind internationale Gontroleure möglih? Welche Staats: 
gewalt würde eine foldhe Kürzung ihrer Unabhängigkeit, welche bis in ihr innerftes Tagesleben 
eingriffe, annehmen? Gejeßt den Fall, ben wir für unmöglich halten, dieſe gemeinfame Gejeh: 
gebung käme wirklich zu Stande, fo könnte fie bo) nur ein Trug fein.“ 

Das ift der einzige Einwand von Bedeutung, der gegen die dee erhoben 
werden kann. Denn e3 jcheint allerdings unzweifelhaft, daß die gleichen Arbeits— 
gefeße in verichiedenen Ländern zunächft in verfchiedener Weiſe befolgt werden 
würden; ſelbſt wenn man — was höchſt wünſchenswerth — vorjchreibt, daß die 
Fabrikinſpectoren aller Staaten von Zeit zu Zeit Congreſſe abhalten, um fich über 
die Anwendung (und etwaige Fortbildung) diejer Geſetze zu berathen und zu ver: 
ftändigen, Ein Land, in dem ein tüchtiges Fabrikaufſichts- und Beamtenperjonal 
vorhanden ift und das fociale Gewiſſen lauter jchlägt, wird dem Guerillafriege 
eines einfeitigen capitaliftiichen Intereſſes gegen die fraglichen Geſetze recht bald 
zu Gunften der lebteren ein Ende machen. Aber bei andern Nationen, deren 
Beamtenthum nicht jo energiſch und zuverläffig ift, würde der Widerftand egoifti- 
icher Fabrikanten nicht jo leicht gebrochen twerden, und e3 könnte ſich möglicher 
weije ein Zuftand herausbilden, der durch ſtillſchweigende obrigkeitlihe Duldung 
regelmäßiger Uebertretungen jener Gejege von Seiten der Intereſſenten charakteri— 
firt wäre, — in welchem Falle aljo hier nur eine Socialreform nad) dem Mufter 
Potemkin's geleiftet worden wäre. 

Indeß folgt hieraus noch lange nicht, daß dann der Arbeiterfhuß in einigen 
Ländern auch auf die Dauer unausgeführt bleiben müßte. Denn es gibt ein 
Mittel, dem entgegen zu treten, das ift: in allen Ländern die Öffentliche Meinung 
über den wahren Stand der Sache zu unterrichten und über die nothiwendigen 
Folgen aufzuklären. Zu diefem Zweck hat man nur nöthig, eine internationale 
Commiſſion einzujeßen, welche das Recht hat, directe Mittheilungen über die 
Handhabung der Geſetze von Betheiligten (Ynduftriellen und Arbeitern) und Un— 
betheiligten entgegenzunehmen und diefe Mittheilungen in ihre amtliden Publi— 
cationen aufzunehmen; ferner die etwa betheiligten auffichtführenden Behörden 
zur Berichterftattung über die betreffenden Fälle aufzufordern und darüber 
da3 Urtheil zu publiciren. Inwieweit dann die Regierung de3 in Betracht 
fommenden Landes ſich diefem Gutachten anjchließt und fich daher zu einem 
Einſchreiten veranlaßt fieht, — da3 kann man getroft als Sache des be: 
treffenden Staates anjehen. Denn auf die Dauer muß dies Mittel gerade im 
vorliegenden Falle unmiderftehli wirken, wo es ſich um ein von der ganzen 
Gulturwelt ala höchſt fegensreich anerkanntes Werk von eminent civilifatorischer 
Tragweite handelt. Regelmäßig wird jede einzelne Regierung und vor Allem 
die Öffentliche Mleinung jedes Landes erfahren, wie e8 um die wirkliche An 
wendung der internationalen Gefeße fteht; die Behörden werden wiſſen, daß 
etwaige Unterlaffungsfünden dem Urtheile oder richtiger der Verurtheilung von 


Der internationale Arbeiterſchutz. 5 


Seiten der öffentliden Meinung unterliegen, und fie werden in Folge deffen im 
Laufe der Zeit achtſam und unnachſichtlich werden, wenn fie es nicht jchon von 
vornherein find. Dann aber wird fi auch an die Fyeititellungen jener Central» 
commiſſion unzweifelhaft eine reiche internationale Literatur Enüpfen, welche mit 
der Fackel der rüdjichtslofen Wahrheitsliebe die Thatſachen auf dem Gebiete de3 
Arbeiterſchutzes beleuchten wird. 

Auf diefe Weiſe wird eine internationale öffentliche Meinung entftehen, eine 
Meinung zunächft der intereffirten Klaſſen, dann der nicht direct intereffirten 
Kreiſe, der Parteien, der Beamten, der wiſſenſchaftlichen Welt, — und bieje 
öftentlide Meinung wird es fein, twelche die Regierungen antreiben wird, ent» 
ichieden fortzufahren auf der einmal betretenen Bahn. Gewiſſe VBerichiedenheiten 
in der Handhabung der Gejeße werden ja nad) wie vor beftehen bleiben: aber 
fo lange fie fih in mäßigen Grenzen halten, hat das nicht viel zu bedeuten. 
Werden doch Heutzutage jelbft die bloß nationalen Arbeitsgefege in ver- 
fchiedenen Theilen desjelben Landes auch nicht gleihmäßig angewvendet, ohne daß 
biäher Jemand darin ein Argument gegen die Nütlichkeit dieſer Geſetze hätte 
erbliden wollen. 

Daß troß alledem Schwierigkeiten der mannigfadhften Art fich ergeben, daß 
vielfache Hinderniffe fi aufthürmen werden, daß die Durchführung der inter- 
nationalen Gejege in diefem oder jenem Lande zunächft noch mancherlei wird zu 
wünſchen übrig laflen, ijt zweifellos. Aber wie der Schulzwang tro Allem, 
was fi ihm entgegengeftellt hat, heute allgemein ala eine ſegensreiche Inſtitution 
anerkannt ift, jo wird auch in jpäteren Zeiten die internationale Arbeiterſchutz— 
Geſetzgebung, troß aller Mängel in der Durchführung, gerühmt werden al3 ein 
Werk von gewaltiger Tragweite, ala ein Werk, das die Degeneration der Arbeiter: 
bevölferung verhindert und die Volkskraft geftärkt hat. 

So jehr wir nun aud) die gewaltige Bedeutung der internationalen 
Arbeitsgefeßgebung für die Gegenwart und alle Zukunft haben hervorheben 
müſſen, — jo jehr muß auf der anderen Seite davor gewarnt werden, die na= 
tionalen Gejeße in allzugroße Abhängigkeit von internationalen Verträgen zu 
ſetzen. Letztere jollen immer nur ein Minimum für alle Culturſtaaten ver: 
bürgen. Niemals aber darf eine durch den Einzelftaat wohl ausführbare Reform 
zu Gunften des Proletariat3 aus Rückſicht auf die internationale Schußgefeh: 
gebung vereitelt werden. Die Parole ift vielmehr: möglichſt viel Arbeiterfchuß 
auf nationaler oder internationaler Bafi3! Gedanken, die ganz vornehmlid) 
von Miguel energiſch — und mit Recht — betont worden find. 

Wird auf diefe Werfe vorgegangen, und hat die fühne Jnitiative des deutjchen 
Kaiferd den verdienten und gebührenden Erfolg, jo wird e3 unzweifelhaft im 
Laufe der Zeit gelingen, die Sphinx der focialen Frage in den Abgrund zu 
ftürzen und die ſchweren Gebreften der modernen Gejellihaft zu heilen. Zwar 
wird alle wirthichaftliche Unzufriedenheit nicht verſchwinden: aber fie wird 
dem Schaume des Meeres nur gleichen, der von Tag zu Tag verrinnt, und nicht 
feinen gewwaltigen Wogen. Eine neue Epoche wird eingeleitet werden, eine Epoche 
der friedlichen Reformarbeit und der Ausföhnung der focialen Klaſſen unter der 
Aegide und nad) der Norm des ftrahlenden Suum euique. 

4* 





Kriftokratifher Radicalismus. 


Eine Abhandlung über Friedrih Niektzſche. 
Don 


Georg Brandes. 





In der Literatur des gegenwärtigen Deutichlands ſcheint Friedrich Niekiche 
mir einer der intereffanteften Schriftfteller zu jein. Obgleich jelbft in feinem 
Paterlande wenig gekannt, ift er ein Geift von bedeutendem Rang, der es vollauf 
verdient, daß man ihn ftudirt, erörtert, befämpft und ſich aneignet. Unter 
anderen quten Eigenjchaften befitt er die, Stimmung mitzutheilen und Gedanken 
in Bewegung zu jeßen. 

Während achtzehn Jahren bat Nieiche eine lange Reihe Bücher und Hefte 
geichrieben. Die meiften diefer Bände beftehen aus Aphorismen, und die meiften 
und neueften diefer Sprüche beihäftigen fi) mit den moraliſchen Vorurtheilen. 
Seine bleibende Bedeutung liegt auf diefem Gebiete. Im Uebrigen aber Bat er 
die verichiedenartigften Fragen behandelt und über Cultur und Geſchichte, Kunft 
und Frauen, gejelliges und einfames Leben, Staat und Geſellſchaft, Lebenstampf 
und Tod gejchrieben. 

Er wurde am 15. October 1844 auf dem Schlachtfeld von Lützen geboren. 
Der erfte fremde Name, den er al3 Kind hörte, war der Name Guftav Abdolf's, 
Seine Vorfahren waren polnische Edelleute (Niezky), und es ſcheint, ala hätte 
fih der polnische Typus an diefem ihrem Nachkommen erhalten troß dreier 
Generationen deuticher Mütter; denn im Auslande ift ex oft für einen Polen 
angejehen worden. Seine Großmutter gehörte dem Goethe'ſchen Kreiſe in 
Meimar an. 

Er hatte ald Kind das Glüd, in eine vortreffliche Schule gegeben zu erben 
— das Inſtitut Schulpforta in Preußen, aus dem mehrere ausgezeichnete Männer 
der deutſchen Literatur (Klopſtock, J. E. Schlegel, Fichte, Ranke u. f. w.) hervor 
gegangen find. Die Lehrer an diefer Schule hätten nad) Nietzſche's Zeugniß jeder 
Univerfität Ehre gemacht. Er ftudirte zuerft in Bonn, dann in Leipzig, wo der 
alte Ritihl, damals der erfte Philologe Deutſchland's, ihn früh auszeichnete. 
feinem 22. Jahre an war er Mitarbeiter des „Literariichen Gentralblatts“. 

indete den philologischen Verein in Leipzig, der noch befteht. 





Ariftofratiicher Radicalismus. 53 


Im Jahre 1868 bot die Univerfität Bafel ihm eine Profeffur der Philologie 
an. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt und noch nicht Doctor. Später 
gab die Univerfität Leipzig ihm den Doctorgrad ohne vorhergehende Disputation. 
Er unterbrach feine Lehrthätigkeit, um am franzöfifch-deutichen Kriege theil- 
zunehmen. | 

Bon 1869 bi3 1879 war Niebiche Profeffor in Baſel. Er wurde indeſſen 
gezwungen, feine deutſche Nationalität aufzugeben, da ex als Offizier (in der 
reitenden Artillerie) zu oft einberufen und dadurch in feiner afademifchen Arbeit 
geftört wurde. „ch verftehe mich,” jchrieb er eines Tages in einem Privat: 
briefe, „auf zweierlei Waffen, Säbel und Kanone, und vielleicht noch auf eine 
dritte .... 
Es ging Nietzſche ſehr gut in Baſel, trotz feiner Jugend, die es mit ſich 
brachte, daß die Examinanden oft älter waren als der Examinator. Unter den 
hervorragenden Perjönlichkeiten, mit denen ex in Verbindung fam, war der aus— 
gezeichnete Gulturhiftorifer der Renaiffance Jakob Burkhardt und Richard Wagner, 
der mit jeiner Gattin Gofima damals in einem Landhaufe bei Luzern wohnte, 
nachdem er die Brücke mit feinem ganzen früheren Umgangskreis abgebrochen 
hatte. Für Burkhardt hat Nietzſche's Bewunderung und GErgebenheit ſich er- 
Halten. In feiner Stimmung Wagner gegenüber ift dagegen im Laufe ber Jahre 
ein vollftändiger Umfchlag eingetreten, Nachdem ev Wagner's Verkündiger ges 
weſen, enttwidelte ex ſich zu feinem leidenſchaftlichſten Bekämpfer. Nietzſche war 
immer mit Leib und Seele Mufiter; er Hat fich jogar in feinem Hymnus an 
das Leben (ein Chorwerf mit Orxchefter 1888) als Gomponift verfucht, und 
der Verkehr mit Wagner hat tiefe Spuren in feinen früheften Schriften hinter— 
lafjen. Aber die Oper Parjifal mit ihrer Fatholifirenden Tendenz und ihrer Ver— 
herrlichung der asketiſchen Ideale, die Wagner früher am allerfernten gelegen, 
ließ Nietiche in dem großen Componiften eine Gefahr, einen Feind, ein Krankheits- 
phänomen erbliden, indem jenes lebte Werk in feinen Augen über alle die früheren 
Opern ein neues Licht warf. 

Während ſeines Schweizer Aufenthalts lernte Nietzſche einen Flor intereffan: 
ter Menjchen kennen, „viel und mancherlei von dem Beften, was zwiſchen Paris 
und St. Petersburg wächſt“. 

Im Jahre 1876 fing es an, mit feiner Gejundheit rückwärts zu gehen. Er 
fuchte vergebens Linderung in einem Winteraufenthalt in Sorrent. Ein äußerft 
ſchmerzhaftes Kopfleiden, jo beharrlih, daß e3 ihm ungefähr Hundert Tage des 
Jahres raubte, marterte ihn während der nächften ſechs Jahre und brachte ihn 
an den Rand des Grabes; 1879 gab er feine Brofeffur auf. Won 1882 bis 1888 
befjerte fich fein Gejundheitäzuftand ftetig, wenn auch äußerft langſam. Seine 
Augen waren ſo ſchwach, daß er ftet3 mit Blindheit bedroht war. Er war zur 
äußerften VBorficht in feiner Lebensweiſe und in der Wahl feines Aufenthaltsortes 
gezwungen. Meiftend brachte er die Winter in Nizza, die Sommer in Sils- 
Maria im Dber- Engadin zu. In den Jahren 1887 und 1888 war feine 
Productivität erjftaunlid. In ihnen wurden Hervorragende Arbeiten von 
jehr verjchiedener Art herausgegeben und eine ganze Reihe neuer Werke vor— 
bereitet. Dann erfolgte, gegen Schluß dieſes Jahres, vielleiht als Folge 


54 Deutſche Rundichau. 


von Weberanftrengung, ein heftiger Krankheitsanfall, von dem Nietzſche noch nicht 
genejen ift. 

Als Denker ift er von Schopenhauer ausgegangen; er ift in jeinen exften 
Schriften geradezu fein Schüler. Aber da er nach mehrjährigem Schtweigen, 
während deffen ex feine exfte geiftige Krife durchlebt, wieder auftritt, iſt er von 
jedem Schülerverhältnif befreit. Er madt nun eine jo ftarfe und raſche Ent- 
widlung durch — weniger im Gedantenleben jelbit, als im Muth, feine Gedanken 
auszuſprechen — daß Schrift auf Schrift ein neues Stadium bezeichnet, bis er 
nad) und nad) fich auf eine einzige Grundfrage concentrirt, der Frage nad) den 
moraliihen Werthen. Er hatte jchon in feinen erften Anfängen al3 Denker und 
Shhriftfteller David Strauß gegenüber twider jede moraliiche Ausdeutung vom Weſen 
des Alls proteftirt und unſerer Moral ihren Pla in der Welt der Erſcheinungen 
angewieſen, „bald als Schein und Frehlariff, bald al3 Zurechtlegung und Kunft“. 
Und jeine literariſche Thätigkeit hat bisher ihre Höhe in einer Unterfuhung vom 
Entftehen der Moralbegriffe erreicht, wie es jeine Hoffnung und Abjicht war, 
eine durchgeführte Kritik der moraliichen Werthe, eine Unterfuchung des Werths 
diefer (al3 gegeben betrachteten) Werthe zu liefern. Das erfte Buch feines Werkes 
„Umwerthung aller Werthe“ war fertig, al3 ex frank wurde?). 


J. 

Nietzſche wurde zum erſten Male oft genannt, wenn auch nicht viel gerühmt, 
wegen einer biſſigen, jugendlichen Streitſchrift gegen David Strauß, von deſſen 
Buch „Der alte und der neue Glaube“ hervorgerufen. Nicht gegen den erſten 
kriegeriſchen Abſchnitt des Werks, ſondern gegen den ergänzenden, aufbauenden 
Theil desſelben iſt hier ein in ſeinem Tone pietätloſer Angriff gerichtet. Dieſer 
Angriff galt jedoch weniger der letzten Kraftanſtrengung des einſt ſo großen 
Kritikers als jener Mittelmäßigkeit, für welche dieſes ſein letztes Wort als das 
letzte Wort der Bildung überhaupt daftand. 

63 war anderthalb Jahre nad) dem Abſchluß des deutjch-Franzöfiichen Krieges. 
Der ſtürmiſche Siegesjubel war noch nicht verftummt. Niemal® waren die 
MWogen des deutichen Selbftgefühld jo hoch gegangen. Nach ber allgemeinen Auf: 
faffung in Deutjchland und den mit Deutichland befreundeten Ländern waren 
es nicht die deutjchen Heere allein, welche die franzöfiichen gejchlagen hatten, 
fondern die deutiche Cultur habe die franzöfifche bejtegt. Da erhob fich dieje 
Stimme und jagte: 

Geſetzt hier Hätten wirklich zwei Gulturen mit einander getämpft, jo wäre 
das noch fein Grund, die fiegende Cultur zu bekränzen; man müßte erft wiſſen, 
was die unterliegende werth war; ift ihr Werth ſehr gering gewwejen — und das 
jagt man ja von der franzöfiichen — jo war die Ehre nicht groß. Aber es 


) Nietzſche's Schriften find folgende: Unzeitgemäße Betrachtungen, I-IV. — Die Geburt 
ber Tragddie, oder Griehenthum und Pelfimiamus. — Menfchliches, Allzumenjchlicher, I und I. — 
Morgenröthe, Gedanken über die moralifchen Vorurteile — Die fröhliche Wifjenihaft (Ta gaya 
scienza). — Jenſeits don Gut und Böſe. — Zur Genealogie der Moral. — Alſo ſprach Zara: 
thuſtra, I—IV. — Der Fall Wagner, ein Mufilantenproblem. — Gökendämmerung, ober wie 
man mit dem Hammer philofophirt. 


Ariſtokratiſcher Radicalismus. 55 


kann in dieſem Fall überhaupt nicht die Rede von einem Sieg der deutſchen 
Cultur ſein, theils weil die franzöſiſche noch beſteht, theils weil die Teutſchen 
jetzt wie früher noch von ihr abhängig ſind. Es war Kriegszucht, natürliche 
Tapferkeit, Ausdauer, die Ueberlegenheit der Führer, der Gehorſam der Geführten, 
„kurz Elemente, die nichts mit der Cultur zu thun haben“, was Deutſchland 
zum Sieg verhalf. Und ſchließlich hat die deutſche Cultur beſonders aus dem 
guten Grunde nicht geſiegt, weil in Deutſchland der reine Begriff von Cultur 
verloren gegangen iſt. 

Es war erſt ein Jahr her, daß Nietzſche ſelbſt die größten Erwartungen an 
die Zukunft Deutichlands geknüpft, auf deſſen nahe bevorjtehende Befreiung vom 
Gängelband der romanijchen Givilifation gehofft und die günftigften Weis» 
fagungen aus der deutichen Mufit herausgehört hatte!). Der geiftige Verfall, 
der ihm von der Aufrichtung des Reichs unzweifelhaft zu beginnen ſchien, ver— 
anlaßte ihn jeßt, der herrſchenden Volksſtimmung mit vüdfichtslofem Trotz zu 
begegnen. 

Er behauptet, daß Cultur fich zuerft und vor Allem als künſtleriſche Stil- 
einheit durch alle Lebensäußerungen eines Volkes offenbare. Viel gelernt zu haben 
und viel zu wiſſen dagegen, ift, wie er zeigt, weder ein nothiwendiges Mittel zur 
Cultur nod ein Zeichen von Gultur; beides kann vortrefflih mit Barbarei zu— 
fammengeben , das heißt mit Stillojigfeit, oder mit einem bunten Miſchmaſch 
von Stilarten. Und feine einfache Behauptung ift: mit einer Cultur, die aus 
Miſchmaſch befteht, kann man feinen Feind beziwingen, am wenigften einen Feind 
wie die Franzoſen, die lange eine wirkliche, fruchtbare Cultur beſeſſen, man lege 
ihr num größeren oder geringeren Werth bei. 

Er beruft fi) auf ein Wort Goethe'3 an Edermann: „Wir Deutjchen find 
von geftern. Wir haben zwar jeit einem Jahrhundert ganz tücdhtig cultivirt, 
allein e3 können noch ein paar Jahrhunderte Hingehen, ehe bei unferen Lands» 
leuten jo viel Geift und höhere Cultur cindringe und allgemein werde, daß man 
von ihnen wird jagen können, es ſei lange her, daß fie Barbaren geweſen.“ 

Für Nietzſche deden, wie man fieht, die Begriffe Cultur und einheitliche 
Gultur einander. Um einheitlich zu fein, muß eine Cultur ein gewiſſes Alter 
erreicht haben und in ihrer Eigenthümlichkeit jo ftark geworden fein, daß fie 
alle Lebensformen durchdrungen hat. Einheitliche Cultur ift aber natürlicher: 
weije nicht dasjelbe, wie eingeborene Gultur. ine einheitliche Gultur hatte das 
alte Hellas, aber fie war die Frucht ägyptiicher und aſiatiſcher Einflüffe,; eine 
einheitliche Gultur hatte das alte Island, obgleich ihre Blüthe gerade durch den 
lebendigen Verkehr mit Europa herbeigeführt ward; eine einheitliche Cultur hatte 
Italien unter der Renaiffance, England im jechzehnten, Frankreich im fiebzehnten 
und actzehnten Jahrhundert, obgleih Italien feine Cultur aus griechiſchen, 
römischen und ſpaniſchen Eindrüden aufbaute, Frankreich die jeinige aus antiken, 
feltiichen, ſpaniſchen und italienischen Elementen und obgleich die Engländer vor 
allen ein Miſchvolk find. Es ıjt zwar nur anderthalb Jahrhunderte Her, jeit 
die Deutichen anfingen, ſich von der franzöfiichen Eultur freizumadhen, und kaum 





) Die Geburt der Tragödie, ©. 112 fi. 


56 Deutiche Rundſchau. 


mehr als hundert Jahre, jeit fie der Schule der Franzoſen entrannen, deren 
Einwirkung gleihwohl noch heutzutage zu jpüren ift; aber doch wird Niemand 
die Eriftenz einer deutjchen Gultur leugnen können, wenn fie auch verhältniß- 
mäßig jung und im Werben ift. Ebenſowenig wird der, welder Sinn für die 
Uebereinftimmung zwijchen deutſcher Muſik und deutfcher Philofophie, Gehör für 
die Uebereinftimmung zwiſchen deutſcher Muſik und deutſcher lyriſcher Poefie, 
Auge für die Vorzüge und Mängel der deutſchen bildenden Kunſt hat, die Er— 
gebniß desſelben Grundhanges find, der in dem ganzen deutſchen Gedanken- und 
Gefühlsleben erfcheint, geneigt fein, Deutjchland von vornherein einheitliche Cultur 
abzuſprechen. Bedenklicher wird das Verhältni für ſolche Eleineren Länder, wo 
die Abhängigkeit vom Ausland nicht jelten Abhängigkeit in zweiter Potenz ift. 

Für Nietzſche iſt indeffen diefer Punkt der verhältnigmäßig umwichtigere. 
Er ift überzeugt, daß die Stunde der nationalen Culturen bald ſchlagen wird, 
da die Zeit nit mehr fern jei, wo überhaupt nur noch von einer europäifchen 
oder europäiſch amerikanischen Gultur geredet werden könne. Er geht von der 
Thatſache aus, daß die entwidelten Menfchen aller Länder fich bereits jetzt ſchon 
al3 Europäer, als Landöleute, ja, als Bundesgenofjen fühlen, und von dem 
Glauben, dat jchon das nächſte Jahrhundert den Krieg um die Herrihaft über 
die Erde bringen werde. 

Wenn dann aus dem Nefultat dieſes Krieges ein biegenber, brechender 
Sturmmwind über alle nationalen Eitelfeiten Hinfährt, worauf wird es dann 
antommen ? 

63 gilt dann, meint Nießfche, ganz in Uebereinſtimmung mit den hervor— 
ragenditen Franzoſen unferer Zeit, ob e3 bis dahın gelungen fein wird, eine Art 
Raſſe hervorragender Geifter aufzuzüchten und zu erziehen, welche die centrale 
Macht ergreifen können. 

Das Grundunglüd ift daher nicht, daß ein Land noch feine echte, einheit- 
liche und durchgeführte Cultur habe, jondern, daß man fidh cultivirt glaubt. 
Und den Blick auf Deutjchland gerichtet, Fragt Nietzſche, wie es zugegangen ift, 
daß ein fo ungeheurer Gegenſatz wie der zwifchen dem Mangel an wahrer Gultur 
und dem jelbftzufriedenen Glauben, gerade die einzig wahre zu bejigen, entftehen 
konnte, und ex findet die Antwort in dem Umſtande, daß eine Claſſe Menſchen 
zur Macht gefommen ift, die fein früheres Jahrhundert gekannt bat und die er 
(1873) auf den Namen Bildungsphilifter taufte. 

Der Bildungsphilifter hält feine unperfönlide Bildung für die eigentliche 
Gultur; wenn er davon hat reden hören, Gultur jehe ein einheitliches Geiftes- 
gepräge voraus, jo beftärft ihn das in jeiner guten Meinung von ſich jelbft, da 
er überall Gebildete von feiner Art findet und da Schulen, Hochſchulen und 
Kunftanftalten nach feinen Bedürfniffen und einem feiner Bildung entiprechenden 
Mufter eingerichtet find. Da er fozufagen überall denjelben ſtillſchweigenden 
Gonvenienzen hinſichtlich Religion, Moral und Literatur, hinſichtlich Ehe, Familie, 
Gemeinde und Staat begegnet, jo Scheint ihm bewieſen, dieſe imponirende Gleich— 
artigfeit jei Eultur. Er ahnt nicht, daß dieje wohlgeordnete und wohlzuſammen— 
hängende Philifterei, die an Echreibtifchen und auf Ehrenpläßen fit, keineswegs 
deswegen Gultur geworden ift, weil ein Zuſammenwirken zwijchen ihren Organen 


Ariftofratifcher Radicaliamus. 57 


ftattfindet. Das ift, jagt Nietzſche, nicht einmal ſchlechte Cultur; das iſt nad) 
Bermögen jolid verfchangte Barbarei, nur ganz ohne die Friſche und wilde Kraft 
der urfprünglichen Barbarei; und er Hat viele malende Ausdrüde, um das 
Bildungsphilifterium ala den Moraft zu jchildern, in dem alle Müdigkeit ſtecken 
bleibt und in beffen giftigem Nebel alles Streben dahinſiecht. 

In die Gejelihaft der Bildungsphilifter werden wir in der Regel Alle 
hineingeboren, und in ihr wachſen wir auf. Sie empfängt una mit herrichenben 
Meinungen, die wir unbewußt annchmen, und jelbft wenn die Meinungen ge: 
theilt find, fo find fie doch bloß in Parteimeinungen getheilt — in öffentliche 
Meinungen. 

Ein Aphorismus von Nietzſche lautet: „Was find öffentliche Meinungen ? 
Es find private Faulheiten.“ Der Saß ift nicht unbedingt wahr. Es gibt 
einzelne Fälle, wo die öffentliche Meinung etwas werth fein kann. Hohn Morley 
hat ein gutes Buch darüber gejchrieben. Gegenüber gewiſſen groben Fällen, wo 
Treu und Glauben gebrochen tverden, und gewiſſen grob niederträchtigen Kränkungen 
von Menſchenrecht kann die öffentlide Meinung ein feltenes Mal fi) wie eine 
Macht erheben, die e8 verdient, daß man ihr folgt. Sonft ift fie in der Regel 
ein Fabrikat, das im Dienft des Bildungsphilifteriums hergeftellt wird. 

Bei ihrem Eintreten ins Leben begegnet die Jugend aljo verfchiedenen etwas 
mehr oder weniger philiftröjfen Gruppenmeinungen. Ye mehr der Einzelne zu 
einem wirklichen Menjchen veranlagt ift, defto mehr Widerftand Leiftet er dagegen, 
mit der Herde zu gehen. Aber jelbft wenn eine innere Stimme zu ihm jagt: 
Bleibe dir jelbft treu! Sei du felbft! jo Hört er mit Mißmuth diefen Zuruf. 
Hat er ein Selbft ? er weiß es nicht, er kennt es noch nicht. 

Er fieht ih nad) einem Lehrer um, einem Erzieher, Einem, der ihn nicht 
etwas Fremdes lehren will, jondern ihn lehren will, ex jelbft zu werden, diejer 
Einzelne. 

Es gab in Dänemark einen großen Mann, der mit eindringlicher Kraft die 
Zumuthung an jeine Zeitgenoffen richtete, fie jollten Einzelne werden. Aber 
die Aufforderung war von Seiten Sören Hierfegaard’3 nicht jo unbedingt gemeint, 
wie fie auögejprochen wurde. Denn da3 Ziel war gegeben. Sie follten Einzelne 
werden, nicht um ſich zu freien Perjönlichkeiten zu entwideln, ſondern um auf 
diefem Wege wahre Chriften zu werden. Sie wurden nur anjcheinend frei ge— 
ftelft, über ihnen ſchwebte ein: Du jollft glauben! und ein: Du jollft gehorchen ! 
Sie Hatten jelbft al3 Einzelne eine Schlinge um den Hals und an der anderen 
Seite des Engpafjes der Einzelheit, durch den die Herde getrieben wurde, wartete 
wieder die Herde: ein Hirt, eine Herde!). 

Es ift nicht, um feine Perſönlichkeit jofort wieder aufzugeben, daß der Jüng— 
ling unjerer Tage danach ftrebt, ex jelbjt zu werden und einen Erzieher jucht. 
Er will fi fein Dogma vormalen laffen, in dem er wieder landen fol. Und 
er fühlt mit Unruhe, daß er mit Dogmen angefült ift. Wie ich jelbft in ſich 
jelber finden, wie ſich jelbft aus fich jelber ausgraben? Dazu jollte der Erzieher 
ihm helfen. Ein Erzieher Tann nur ein Befreier fein. 


) Sören Kierkegaard. Gin literarisches Charakterbild von Georg Brandes. Leipzig. 1879. 





58 Deutiche Rundichau. 


Einen ſolchen befreienden Erzieher ſuchte Nietzſche al Jüngling und fand 
ihn in Schopenhauer. Ginen ſolchen findet Jeder, der danach juht, in der 
Perjönlichkeit, die in feiner Entwidlungszeit am tiefften befreiend auf ihn wirft. 
Nietzſche jagt: nachdem er die erfte Seite von Schopenhauer gelejen, wußte er, 
daß er jede Seite von ihm leſen und auf jedes Wort Acht geben würde, ſelbſt 
auf die Irrthümer, die bei diefem Echriftfteller ihm begegnen könnten. Jeder 
geiftig Strebende wird? Männer nennen fönnen, die er auf diejelbe Art 
gelejen. 

Allerdings blieb für Niegjche, wie im Allgemeinen für jeden Strebenden, 
nod ein Schritt übrig — fih von dem Befreier zu befreien. Wir finden in 
feinen älteften Schriften gewiſſe Schopenhauer'iche Lieblingsausdrüde, die jpäter 
nicht mehr bei ihm vorflommen. Aber die Befreiung ift hier eine ruhige Ent» 
wicklung zur Selbftändigfeit, während welcher die tiefe Dankbarkeit fich erhält, 
nicht wie im Verhältnig zu Wagner ein gewaltfamer Umſchlag, der ihn ver: 
anlaßte, den Werfen allen Werth abzuſprechen, die ihm früher die werthvolliten 
von allen geweſen. 

Er rühmt an Schopenhauer jeine hohe Ehrlichkeit, neben die er nur diejenige 
Montaigne'3 ftellen kann, jeine Klarheit, jeine Beftändigkeit, jein veinliches Ver: 
hältniß zu Gejelihaft, Staat und Staatäreligion. Bei Schopenhauer nie cine 
Einräumung, nie ein Liebäugeln. 

Und Nietzſche erftaunt über den Umftand, daß Schopenhauer überhaupt das 
Leben in Deutichland aushielt. Ein neuerer Engländer bat gejagt: „Shelley 
hätte nicht in England Ieben fünnen, und eine Raſſe von Shelley’3 würde un- 
möglich gewejen ſein!“ Dieſe Art Geifter werden geiftig gebrochen, dann ſchwer— 
müthig, zulegt Krank oder irrſinnig. Die Geſellſchaft der Bildimgsphilifter 
madht den ungewöhnlichen Menſchen das Leben ſauer. Beiſpiele finden fid 
mafienhaft in der Literatur aller Yänder, und die Gegenprobe läßt fi beftändig 
maden. Dan braucht nur an die zahlreichen Talente zu denken, die früher 
oder jpäter um Pardon gebeten und dem Philifterium Ginräumungen gemadt 
haben, um zu exiftiren. Aber felbft an den Stärkften verräth der unnüß auf 
reibende Kampf ſich in Zügen und Runzeln. Nietzſche citirt das Wort eines ge- 
übten Diplomaten, der Goethe nur oberflächlich geiehen und geſprochen: „Voilà 
un homme qui a eu de grands chagrins,“ und Goethe'3 Zuſatz, ala er es feinen 
Freunden erzählt: „Wenn jih nun in unjeren Gefichtäzügen die Spur über- 
ftandenen Leidens, durchgeführter Thätigkeit nicht auslöjchen läßt, jo ift es Fein 
Wunder, wenn Alles, wa3 von uns und unſerem Beſtreben übrig bleibt, diefelben 
Spuren trägt.“ Und das ift Goethe, commentirt Nießiche, auf den unjere 
Bildunasphilifter als auf den glüdlichften Deutjchen hinzeigen. 

Schopenhauer war bekanntlich bis in jeine letzten Lebensjahre ein ganz ein— 
jamer Mann. Keiner verftand ihn, feiner la3 ihn. Der größte Theil der erften 
Auflage feines Werks: „Die Welt als Wille und Vorftellung“ mußte al Macu— 
latur verkauft werden. Das Buch erſchien 1819 und blieb dreißig Jahre lang 
unbeadhtet. Noch 1837 iſt Schopenhauer’s Perfönlichkeit in Dänemark jo wenig 
befannt, daß Poul Möller, ein dänischer Dichter und Denter, der ihn früh ge 
ſen tte, ihn für einen Profeffor in Berlin hält, und 1841 widerfährt der 


Ariftokratifcher Radicalismus. 59 


„Sejellichaft dev Wiffenjchaften“ in Kopenhagen das bekannte Unglüd, daß fie 
ihm ihre Prämie für eine feiner berühmteſten Arbeiten verweigert. 

In umferen Tagen ift die Taine'ſche Anſchauung ftark verbreitet worden, 
daß der große Dann ganz und gar durch das Zeitalter beftimmt wird, deffen 
Kind er ift, es unbewußt refumirt und ihm mit Bewußtfein Ausdrud zu geben 
beftrebt jein jol. Aber obgleich der große Mann jelbftverftändlich nicht außer: 
halb des Gangs der Geſchichte fteht und immer auf Vorgängern fußt, jo keimt 
eine ‘dee doch ftet3 in einem Einzelnen, oder in einigen Einzelnen auf, und 
dieje Einzelne find nicht zerftreute Punkte in der niedrigftchenden Menge, fondern 
Hochbegabte, welche die Menge an ich ziehen und nicht von ihr gezogen werden. 
Das, was man den Zeitgeift nennt, entfteht zuerft in ganz wenigen Gehirnen. 

Nietiche, der von Anfang an, wohl meift durch Schopenhauer’3 Einwirkung, 
ftark von dem Sat erfüllt war, der große Mann jei nicht das Kind, jondern 
das Stieflind der Zeit, fordert von dem hervorragenden Erzieher, daß er die 
Jungen gegen die Zeit erziehe — eine, jo im Allgemeinen formulirt, recht un— 
gereimte Forderung, aber für ihren Urheber jehr bezeichnend. 

Es jcheint ihm, daß die neuere Zeit beſonders drei Menſchentypen nad) ein= 
ander zur Nahahmung und Nachfolge hervorgebracht Hat. Zuerft den Mtenjchen 
Rouſſeau's, den Titanen, der, von den höheren Kaften gedrüdt und gebunden, 
fi) erhebt und in feiner Noth die heilige Natur anruft. Dann den Goethe’jchen 
Menſchen. Nicht Werther und die verwandten revolutionären Geftalten, die noch 
von Roufjeau abftammen, nicht die uriprüngliche Fauftfigur, fondern Fauſt, wie 
er fih nach und nach entwickelt. Er ift kein MWeltbefreier, jondern ein Welt: 
beſchauer. Er ift nicht der wirkende Menſch. Nietiche erinnert an Jarno's 
Wort gegen Wilhelm Meifter: „Sie find verdrießlich und bitter, das ift recht ſchön 
und gut. Wenn Sie nur erſt einmal recht böje werden, wird e3 noch beffer fein.“ 

Einmal recht zornig zu werden, damit es befjer werde, dazu will nad) der 
Meinung des dreißigiährigen Niebiche der Schopenhauer'ſche Menſch aufmuntern. 
Diefer Menſch nimmt freiwillig das Leiden auf ſich, die Wahrheit zu jagen. 
Sein Grundgedante ift der: Ein glückliches Leben ift unmöglich); das Höchfte, was 
der Menſch erreichen kann, ijt ein heroisches Leben, d. h. ein Leben, in dem unter den 
größten Schwierigkeiten für Etwas gefämpft wird, was auf die eine oder andere 
Art Allen zu Gute fommt. Zu dem wahrhaft Menichlichen heben nur die 
wahren Menſchen ung empor, die, twelche durd) einen Sprung in der Natur ges 
worden zu fein fcheinen, die Denker und Entdecker, die Künftler und Hervor- 
bringer und die, welche mehr durch ihr Wejen wirken, als duch ihr Wirken: 
die Edlen, die im großen Stil Guten, Die, in denen der Genius de3 Guten wirft. 

Diefe Menjchen find der Zweck der Geichichte. 

Niebiche Formulirt den Sa: „Die Menichheit ſoll fortwährend daran ar» 
beiten, einzelne große Menjchen zu erzeugen — und dies und nicht? Anderes jonft 
ift ihre Aufgabe”). Das ift diejelbe Formel, zu der mehrere ariftokratiiche 
Geifter der Gegenwart gelangt find. So heißt e8 bei Renan faft gleichlautend: 
„In Summa ift dev Zwed der Menſchheit die Erzeugung großer Menſchen .... 


!) Ungeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stüd, ©. 60. 


60 Deutſche Rundſchau. 


nichts als große Menſchen; die Rettung wird durch große Menſchen kommen !).“ 
Und man fieht aus Flaubert's Briefen an George Sand, wie überzeugt auch er 
davon war. Er jagt 3. B. „Das einzige Vernünftige ift und bleibt eine Regie: 
rung von Mandarinen, vorausgeießt, daß die DMandarinen etwas können, ober 
richtiger, daß fie viel können .... Es hat wenig zu bedeuten, ob einige Bauern 
mehr oder weniger leſen können und ihren Paftor nicht hören, aber es ift 
unendlich wichtig, daß viele Menfchen wie Renan und Littr& leben fönnen und 
gehört werden. Unfere Rettung liegt jet in einer wirklichen Ariftotratie?).“ 
Sowohl Renan wie Flaubert würden Nietzſche's Grumdidee unterichreiben, daß 
ein Volk der Umweg tft, den die Natur macht, um ein Dubend großer Männer 
herborzubringen. 

Aber obgleich es diefem Grundgedanfen nit an Fürſprechern fehlt, ſoll 
damit nicht gejagt werden, daß er in der europäiichen Philoſophie der herrjchende 
it. In Deutichland denkt 3. B. Eduard von Hartmann ſehr verichieden über 
da3 Ziel der Geſchichte. Ihm kommt es unzweifelhaft vor, daß die Geichichte, 
oder, mit einem größeren Wort, der Weltprozeß ein Ziel haben müſſe und daß 
diefes Ziel nur negativ fein fünne, da ein goldenes Zeitalter in feinen Augen nur 
ein dummes Hirngeipinft ift. Daher feine Phantafien über einen, von den höchſt— 
begabten Menſchen freiwillig herbeigeführten Weltuntergang. Und im Zufammene 
bang damit fteht jeine Lehre, daß die Menſchheit nun in das Mannesalter ein- 
getreten zu fein fcheine, aljo über die Entwidlungöftufe hinaus fei, wo Genies 
nothwendig waren. 

Diefem Gedanken gegenüber vom Weltprozeß, deffen Ziel Vernichtung oder 
Erlöfung ift, Erlöfung der leidenden Gottheit vom Dafein, ericheint Nietiche 
nüchtern und rationell mit feinem einfachen Glauben, daß das Ziel der Menſch— 
heit fein in da3 Unendliche hinausgefchobenes jei, jondern in ihren höchſten 
Eremplaren Liegen müſſe, obwohl er dabei die Hauptfrage offen läßt, ob denn 
diefe größten Menfchen nicht wiederum Ziele haben, die fi) ja nicht auf ihre 
Selbfterhaltung beichränfen. 

Hiermit hat er jedoch feine Ächliekliche Beantwortung der Frage erreicht: Was 
ift Cultur? Denn auf jenem Berhältnig beruhen der Grundgedanke der Eultur 
und die Pflichten, die fie auferlegt. Sie erlegt mir die Pfliht auf, mich jelbft: 
thätig in ein Verhältniß zu den großen Menfchenidealen zu ſetzen. Ihr Grund: 
gedanfe ift der: fie weiſt jedem Einzelnen, der für fie arbeiten und an ihr theil- 
nehmen will, die Aufgabe zu: in fih und außer fi auf die Erzeugung des 
Denkers und Künftler?, des wahrheit3: und jchönheitsliebenden Menſchen, der 
reinen und guten Perjönlichkeit und damit auf die Vollendung der Natur hin— 
auarbeiten, aljo nach) dem Ziel hin: vollendete Natur. 

Wann Herricht Gulturzuftand? Wenn die Menfchen einer Gejellichaft be: 
ftändig darauf hinarbeiten, die Eriftenz großer Menfchen zu fördern Aus diefem 
höchften Ziel folgen alle anderen. Und welcher Zuftand ift am weiteften vom 
Gulturzuftand entfernt? Der, in welchem die Menjchen inftinctiv und mit ver: 


’) Renan, Dialogues et fragments philosophiques, ©. 103. 
2) Flaubert, Lettres à George Sand, &. 139 ff. 


Ariftokratiicher Radicaliamus. 61 


einten Kräften da3 Auflommen großer Menfchen erſchweren, indem fie theils das 
Aufadern des Erdbodens verhindern, der erforderlich ift, damit das Geniale 
emporwachſen kann, theil3 hartnäckig alles Geniale befämpfen, das fich unter ihnen 
erhebt. Ein ſolcher Zuftand ift weiter von Cultur entfernt, als die reine Barbarei. 

Aber gibt es einen jolchen? wird vielleicht der Eine oder Andere fragen. 
Die meiften Heineren Völker könnten fi) die Antwort aus der Geſchichte ihres 
Vaterlandes herauslefen. Man wird da, in dem Grade, wie die „Bildung“ 
fleigt, das Bildungsklima fidy verbreiten fehen, in dem das Genie nicht gedeihen 
fan. Und das ift um jo bedenklicher, da es jcheint, daß in den modernen 
Zeiten und unter den Raffen, die jet die Macht über die Erde unter fich getheilt 
haben, Staatöverbände von ein paar, oder einigen paar Millionen jelten zahl« 
reich genug find, um Geifter vom allererften Rang hervorzubringen. Es ſcheint, 
al3 würden die Genies erſt aus dreißig oder vierzig Millionen herausdeſtillirt. 
Um jo mehr Grund für die Fleineren Genoffenichaften, aus allen Kräften auf 
Cultur Binzuaxbeiten. 

Man ift in neuerer Zeit mit dem Gedanken vertraut, das Ziel, auf das es hin— 
zuarbeiten gelte, ſei das Glüd: das Glück Aller, oder doch der Meiften. Worin 
das Glück befteht, wird feltener ertvogen, und doch läht die Trage fich nicht ab» 
weifen, ob nicht ein Jahr, ein Tag, eine Stunde im Paradiefe mehr Glück ent- 
hält, ala ein Leben in der Ofenede. Aber gleichviel. So vertraut man aud) 
mit dem Gedanken ift, einem ganzen Land, einer Menſchenmenge Opfer zu 
bringen, fo unfinnig ſcheint e8, daß ein Menſch um einzelner anderer Menjchen 
willen da fein jollte, die Pflicht haben fünnte, ihnen fein Leben zu mweihen, um 
damit die Cultur zu fördern. Aber vielleicht läßt jenes größtmögliche Glück, 
welches e8 der Bentham-Mill'ſchen Moral zufolge gilt der größtmöglichen Zahl 
zu fichern, fich überhaupt nur von den einzelnen großen Perfönlichkeiten erlangen, 
und auf die Gulturfrage, wie das einzelne Menfchenleben den höchften Werth 
und die größte Bedeutung erhalte, muß doch die Antwort lauten: dadurd, daß 
e3 zum Vortheil der jeltenften und werthvollften Eremplare des Menjchen- 
geichlecht3 gelebt wird. So richtet der Einzelne auch am meiften dafür aus, daß 
das Leben der Meiften werthvoller werde. 

In unjeren Tagen bedeutet eine jogenannte Culturinftitution nur zu oft 
eine Einrichtung, kraft welcher die Gebildeten in geichlofjener Reihe vorgehen und 
alle Einfamen und Wibderfpenftigen, deren Streben auf höhere Ziele gerichtet ift, 
zur Seite drängen; auch den Gelehrten fehlt daher in der Regel aller Sinn für 
den werdenden Genius und jedes Gefühl für den Werth des gleichzeitigen und 
ftrebenden Genie. Darım haben, troß des unbeftreitbaren und raftlofen Fort— 
fchrittes auf allen technijchen und fahwilfenschaftlichen Gebieten, die Bedingungen 
für die Entftehung des Großen ſich jo wenig verbeſſert, daß der Widertille 
gegen das Geniale eher zu: al3 abgenommen hat. 

Dom Staate können die hervorragenden Andividuen nicht viel erwarten. 
Gr nützt ihnen jelten, indem ex fie in feinen Dienft nimmt, er nüßt ihnen mit 
Sicherheit nur, indem er ihnen volle Unabhängigkeit ſchenkt. Nur twirkliche 
Gultur kann dem entgegenarbeiten, daß fie zu frühe müde oder erichöpft werden, 
und fie vor dem aufreibenden Kampf mit dem Bildungsphilifterium bewahren. 


62 Deutſche Rundſchau. 


Nietzſche's Werth beruht darauf, daß er ein ſolcher Culturträger iſt: ein 
Geiſt, der, ſelbſt unabhängig, Unabhängigkeit mittheilt und der für Andere 
jene befreiende Macht werden kann, die Schopenhauer in ſeiner Jugend für ihn 
geworden. 


II. 


Vier von Nietzſche's Jugendſchriften führen den gemeinſamen Titel: „Unzeit— 
gemäße Betrachtungen“, ein Titel, der bezeichnend für ſeinen früh gefaßten Vor— 
ſatz iſt, gegen den Strom zu gehen. 

Eins der Gebiete, auf dem er ſich gegen den Zeitgeiſt in Deutſchland gekehrt 
hat, iſt das der Erziehung, indem er auf unbändige Art die ganze hiſtoriſche 
Erziehung, auf die Deutſchland ſtolz iſt und die man in der Regel überall als 
wünſchenswerth betrachtet, verurtheilt hat. 

Sein Grundgedanke iſt der: Was das Geſchlecht frei zu athmen und kühn 
zu wollen verhindert, iſt die allzu lange Vorzeit, die es hinter ſich, wie eine 
Kugel am Bein herſchleppt. Er meint, die hiſtoriſche Erziehung verhindere das 
Geſchlecht ſowohl daran zu handeln, wie zu genießen, da Der, welcher ſich nicht 
ganz im Augenblick ſammeln und in ihm leben kann, weder ſelbſt Glück zu 
fühlen noch etwas auszurichten vermag, das Andere glücklich macht. Ohne die 
Fähigkeit, unhiſtoriſch zu fühlen, kein Glück. Und ebenſo gehört zu allem 
Handeln Vergeſſen, oder richtiger Nichtwiſſen des Vergangenen. Das Vergeſſen, 
das Unhiſtoriſche iſt, wie die einhüllende Luft, der Dunſtkreis, in dem allein 
Leben entſtehen kann. Man denke, um das zu verſtehen, ſagt Nietzſche, an einen 
Jüngling, der von Leidenſchaft für ein Weib, oder an einen Mann, der von 
Leidenſchaft für eine Aufgabe ergriffen wird. Für beide exiſtirt, was hinter 
ihnen liegt, nicht mehr, und doch iſt dieſer Zuftand, der völlig unhiſtoriſche, der⸗ 
jenige, in dem jede Handlung, jede Großthat erfonnen und vollbracht wird. 
Dem analog aber gibt es, wie Nietzſche meint, einen gewiffen Grab Hiftorifchen 
Wiſſens, der vernichtend für die menjchliche Thatkraft und verderblich für die 
ſchöpferiſche Kraft eines Volkes ift. 

Man hört den gelehrten Philologen, deffen Beobachtungen meift auf deutjche 
Gelehrte und Kiünftler gerichtet gewejen, aus diefem Raiſonnement heran. 
Denn daß der deutiche Kaufmannzftand oder Bauernftand, das deutſche Mrilitär 
oder die deutichen Jnduftriellen unter einem Uebermaß von Hiftorischer Bildung 
leiden jollten, wäre e8 ungereimt anzunehmen. Indeſſen dürfte jelbft für deutfche 
Dichter, Forſcher und Künftler das llebel, worauf hier hingetviefen wird, von 
der Art jein, daß ihm nicht durch bloße Abſchaffung des hiftorifchen Unterrichts 
beizutommen ift. Die, deren Schaffenstrieb durch das Hiftoriiche Willen ge 
hemmt und getödtet werden kann, waren ſicher von vornherein jo ohnmächtig 
und thatunfräftig, daß die Welt duch ihre Production nicht bereichert worden 
wäre, Und was da lähmt, ift ja außerdem nicht fo ſehr die ungleichartige 
Mafje von todten hiſtoriſchen Kenntniſſen (über Regierungshandlungen, politifche 
Schachzüge, Kriegsthaten, künſtleriſche Stilarten u. f. w.), wie die Bekannt— 
ichaft mit einzelnen großen Geiftern der Vergangenheit, mit deren Thaten ver: 
lichen Alles, was der Menſch noch leiften kann, von jo verichtwindender Be— 


Uriftofratifcher Radicalismus. 63 


deutung zu fein fcheint, daß es gleichgültig wird, ob feine Arbeit zur Welt komme 
oder nicht. Goethe allein Tann einen beginnenden deutſchen Dichter zur Ver— 
zweiflung bringen. Aber ein Heldenverehrer wie Nietzſche Tann conjequenter 
MWeije die Belanntichaft mit den Größten nicht verringert wünjchen. 

Der Mangel an künſtleriſchem Muth und geiftiger Kühnheit hat gewiß tiefer 
liegende Urſachen, vor Allem das Zerbrödeln der Perfönlichteit, da8 die moderne 
Geſellſchaftsordnung mit fih führt. Starte Menſchen vertragen eine große 
Summe Gejdichte, ohne zum Leben ungeeignet zu werden. 

Was indeffen intereffant und bezeichnend für Nietzſche's geiftigen Stand- 
punkt ift, das find feine Unterfuchungen darüber, in welchem Grade da8 
Leben überhaupt für die Gefchichte Gebrauch) Hat. Die Geichichte gehört nad) 
feiner Auffaffung dem, der einen großen Kampf kämpft und Vorbilder, Lehrer 
Tröfter nöthig hat, die er unter feinen Zeitgenoffen nicht findet. Ohne die Ge— 
Ihichte würde der Höhenzug von großen Augenblicken großer Menſchen, der ſich 
durch die Jahrtaufende erſtreckt, nicht lebendig und Klar vor mir ftehen können. 
Einer, der Sieht, daß ungefähr faum hundert Menjchen die Gultur der Renaij- 
ſance herbeiführten, wird 3.3. zu der Ueberzeugung gelangen können, daß hundert 
produftive Menichen, in einem neuen Geift erzogen, dem Bildungsphilifterium 
ein Ende maden könnten. Werderblich dagegen Tann die Geihichte wirken in 
der Hand unfruchtbarer Menſchen. Mean jagt 3.8. die jungen Künftler in bie 
Galerien, ftatt in die Natur hinaus, fendet fie mit noch unbefeftigtem Sinn in 
Kunjtjtädte, wo jie den Muth verlieren. Und in allen ihren Formen kann, feiner 
Anfiht nad), die Geihichte zum Leben untauglich machen: als monumentale, 
indem fie den Irrthum hervorruft, daß es beſtimmte, immer wiederkehrende Con— 
itellationen gäbe, jo daß, was einmal möglich war, jet unter ganz veränderten 
Umftänden wieder möglich jei; ald antiquarifche dur Erwecken der Pietät 
für da3 Alte und Vergangene, welche den Handelnden lähmt, der immer die eine 
oder andere Pietät kränken muß; endlich ala Eritifche Gefchichte durch das nieder- 
ſchlagende Gefühl, das fie hervorruft, daß wir gerade die Irrthümer der Ver: 
gangenheit, über die wir ung zu erheben jtreben, als Erbſchaft und Kindheits- 
eindrüde in unſerem Blut tragen, jo daß wir beftändig in einem inneren Streit 
zwiſchen unferer alten und neuen Natur leben. 

Auf diefem Punkt, wie auf anderen früher berührten, will Nietzſche in 
leßter Jnftanz der Kreuzlahmheit der modernen Bildung zu Leibe. Daß „gebildet“ 
und „hiſtoriſch gebildet“ in unſerer Zeit faft gleiche Begriffe find, iſt ihm ein 
trauriges Symptom. Es ift, jagt er, ſpurlos vergeffen, daß Bildung fein jollte, 
was fie bei den Griechen war: Beweggrund, Fähigkeit zum Entſchluß; heutzutage 
wird Bildung als Innerlichkeit bezeichnet, da fie ein todter inmwendiger Klumpen ift, 
der jeinen Befiger nicht bewegt. Die am meiften „Gebildeten” find Converſations— 
lerifond. Wenn fie handeln, ift e8 fraft einer allgemeinen anerkannten Gonventenz 
oder aus der flachen Rohheit heraus, 

An diefe auf den allgemeinen Zuftand zielenden Betrachtung knüpft ſich 
dann eine Klage, die vielleicht bejonder8 in dem modernen Deutichland entjpringen 
mußte, die Klage darüber, wie drüdend die Hiftoriiche Größe in dem Epigonen— 
bewußtjein der Nachgeborenen wirke, in jener Ueberzeugung, ein Spätling, eine 


64 Deutiche Rundſchau. 


Nachgeburt einer größeren Zeit zu fein, Einer, der wohl Geſchichte lernen, aber 
nie Geſchichte hervorbringen könne, 

Sogar die Philoſophie, klagt Nietzſche, mit einem Seitenblid auf die deutjchen 
Univerfitäten, jei mehr und mehr zu einer Geſchichte der Philofophie geworben, 
zu einer Mittheilung darüber, wa3 alle Welt über alles Mögliche gemeint. Dan 
betont in den verjchiedenen Yändern wie eine Ehrenjfadhe, daß man Gedanken 
freiheit habe. In Wirklichkeit ſei das nur eine dürftige Freiheit. Man darf 
auf Hundert Arten denken — handeln dagegen darf man nur auf eine einzige Art, 
— und diefer Zuftand ift es, der als Zuftand der Bildung bezeichnet wird und 
in Wirklichkeit nur eine Form, „und zudem eine ſchlechte Form, Uniform ift“. 

Niejche greift jene Auffaffung an, nad; welcher die Hiftorifche Bildung vor 
unferem Bewußtjein al3 die vor allen anderen gerecht urtheilende ſteht. Man 
liebt den Hiftorifer, welcher der reinen Erkenntniß zuſtrebt, aus welcher nichts 
folgt. Aber es gibt viele gleichgültige Wahrheiten, und e3 ift ein Unglüd, wenn 
ganze Bataillone von Forſchern fi) darüber hermachen, jelbft wenn dieje engen 
Geifter ehrliche Charaktere find. Man hält den Hiftoriker für objectiv,, der die 
Vergangenheit an den Lieblingsmeinungen jeiner Zeitgenoffen mißt und den für 
fubjectiv, der diefe Meinungen nicht ala Mufter betrachtet. Man hält den für 
am meiften berufen, ein Moment der Vergangenheit darzuftellen, dem diefe ganz 
gleihgültig ift. Aber nur wer an der Zukunft mitbaut, verfteht die Vergangen— 
heit, und nur zum Kunſtwerk umgebildet fann die Gejhichte Inſtincte aufrecht 
erhalten oder erwecken. 

Wie die Hiftoriiche Erziehung jet betrieben wird, vermittelt man eine jolche 
Fülle von Eindrüden, daß Stumpfheit, ein Gefühl, alt in einem alten Wolf 
geboren zu jein, die Folge ift — obgleich uns nicht dreigig Menſchenleben, 
jedes auf fiebzig Jahr berechnet, vom Beginn unferer Zeitrechnung trennen, 
— Ind hiermit verbunden ift der ungeheure Aberglaube an den Werth der 
Weltgeſchichte. Unaufhörlich wird der Schiller'ſche Satz: „Die Weltgeſchichte ift 
das Weltgericht“ wiederholt, als könnte es ein anderes hiſtoriſches Gericht geben 
als den Gedanken; und hartnäckig hat ſich die Hegel'ſche Auffaſſung von der 
Weltgeſchichte als der immer deutlicheren Selbſtoffenbarung der Gotiheit gehalten, 
bloß daß fie nach und nad) in reine Bewunderung für den Erfolg, in Billigung 
eine jeden Factums, ſei e8 auch noch jo brutal, übergegangen ift. Aber Größe 
hat nichts mit dem Reſultat zu Schaffen und nichts mit dem glüclichen Aus— 
gang. Demofthenes, der umfonft redete, ift größer, als Philipp, dev immer 
fiegte. Alles ſcheint, behauptet Nießjche, in unferen Tagen in der Ordnung, jobald 
e3 eine fertige Thatſache ift; jelbjt wenn ein Genie in feinem blühenden Alter 
ftirbt, findet man Beweiſe dafür, daß es zur rechten Zeit geftorben ift. Und 
das bischen Geichichte, das wir haben, nennt man den „Weltprogeß”; man zer- 
bricht fich den Kopf über den Urjprung und das Endziel desjelben — was doch 
ein Zeitverluft fein dürfte. Weshalb du da bift, denkt Nietzſche wie S. Kierke— 
gaard, das kann dir Niemand in der Welt im Voraus jagen; aber da du num 
einmal da bift, jo ſuche deinem Dajein einen Sinn zu geben, indem bu dir ein 
fo hohes und edles Ziel ſteckſt, wie du fannit. 

Bezeihnend für Nietzſche's ſpäter jo ausgeprägt ariftofratiihe Tendenz ift 


Ariftofratifcher Radicalismus. 65 


fein Eifern gegen den Refpect der modernen Geſchichtſchreibung vor den Maſſen. 
Ehemals, raijonnirt er, jhrieb man Geſchichte aus dem Geſichtspunkt der Negenten 
und verweilte ausfchliehlich bei ihnen, wie mittelmäßig oder ſchlecht fie auch 
waren. Nun ift man dazu übergegangen, fie aus dem Gefichtspunft der Mafjen 
zu fchreiben. Für Nietzſche ift die Maſſe nicht II + 1..... (bi3 die 
Zahl derjelben herauskommt), ſondern IH1I + 1..... + xdb. bh. die 
Beitialität, die in den Einzelnen dadurch entwicelt wird, daß fie Maſſe werden. 
So aufgefaßt find ihm denn die Mafjen entweder Gopien großer Perjönlichkeiten, 
ſchlechte Copien, verwiſchte Copien aus ſchlechtem Material, oder fie find Wider- 
ftand gegen die Großen, oder fie find Werkzeuge der Großen. Im llebrigen find 
fie etwa3 für die Statiftif, die in den Mafjentrieben: Nahäffen, Faulheit, Hunger 
und Geſchlechtstrieb jogenannte hiſtoriſche Gejee findet. Groß nennt man dann, 
was während langer Zeit eine ſolche Maſſe in Bewegung gejett Hat. Und man tauft 
e3 hiſtoriſche Macht. Wenn 3.3. die plumpe Maffe fi den einen oder anderen 
Religionsgedanten angeeignet, oder ihren Bedürfniffen angepaßt, ihm! mit Zähigfeit 
vertheidigt und dur Jahrhunderte mit fich geichleppt Hat, jo nennt man den 
Erfinder diejes Gedanken? groß. Das Zeugniß von Jahrtaufenden jpricht dafür, 
heißt e8. Aber — das iſt Niebiche'3 und Kierkegaard's gemeinfamer Gedanfe — 
das Ebdelfte, Höchfte wirkt überhaupt gar nicht auf die Maffen, weder glei) noch 
jpäter. Darum ſpricht das hiſtoriſche Glück, die Zähigkeit und Dauerhaftigkeit 
einer Religion eher gegen die Größe ihres Stifters, ala für fie. 

Will man eins der hiftoriichen Ereigniffe nennen, die vollftändig geglückt 
find, fo nennt man gerne die Reformation. Nietzſche macht gegen die Bedeutung 
dieſes Erfolgs nicht die gewöhnlich angeführten Thatjachen geltend: Luther's 
frühzeitige Verweltlichung derjelben,, feine Compromiſſe mit den Machthabern, 
da3 Intereſſe der Fürften, ſich von der Obermacht der Kirche zu befreien und 
fich zugleich des Kirchengutes und einer unterthänigen, abhängigen Geiftlichfeit 
zu verfidhern, an Stelle der ehemaligen freien und von der Staatögewalt unab- 
hängigen. Er erblidt die Haupturſache de3 Gelingens der Reformation in 
ben Mangel der Eultur der nordeuropäiſchen Volksſtämme. Der Verſuch, 
im Altertfum neue griehiiche Religionen zu ftiften, fcheiterte wiederholt. Ob— 
gleih Männer wie Pythagoras, Plato, vielleiht Empedokles Eigenſchaften von 
Religionsftiftern befaßen, waren die Jndividualitäten zu verichiedenartig, als 
daß ihnen mit einer Durchſchnittsanweiſung auf Glauben und Hoffnung hätte 
geholfen werden können. Daß Luther's Reformation im Norden gelang, war 
dementiprechend ein Zeichen, daß die Cultur des Nordens hinter der Südeuropa's 
zurüdftand. Entweder gehorcdhte man blind, wie im fkandinavifchen Norden, der 
Lofung von oben, oder, wo der Umjchlag eine Gewiffensjadhe war, offenbarte 
diefe, wie wenig individualifirt die Bevölkerung war, wie eindartig in ihren 
geiftigen Bedürfniffen. Solchermaßen war auch urſprünglich die Belehrung des 
heidniſchen Alterthums nur wegen der reichlichen Vermiſchung von römischen 
Blut mit Barbarenblut gelungen, die ftattgefunden hatte. Die neue Lehre wurde 
von Barbaren und Sklaven den MWeltherrichern aufgezwungen. 

Hier hat nun der Lefer Proben der Argumente, mit denen Niebfche jeine 


Behauptung begründet, die Geſchichte als Geſchichte gäbe nicht das A und 
Deutſche Rundbihan. XVI, 7. 


66 Deutſche Rundichan. 


jtärkende Erziehungselement für die jungen Generationen ab, wie man glaubt: 
nur der, welcher da8 Leben fennen gelernt habe und zum Handeln gerüftet jei, 
brauche die Geſchichte und veritehe fie anzuwenden. Die Anderen drüde fie, 
made fie unfrucdhtbar, indem fie ihnen das Epigonengefühl mittheile und fie 
veranlafle, auf allen Gebieten dem Erfolg zu huldigen. 

Nietzſche's Polemik in diefer Sache ift eine Polemik gegen jeden hiſtoriſchen 
Hptimismus, aber er wendet ſich energiich von dem gewöhnlichen Peſſimismus 
ab, der feiner Anfiht nad aus dem Verfall, aus entarteten oder geſchwächten 
Inſtincten, entipringt. Er ſchwärmt jugendlich für die fiegreihe Durchführung 
einer „tragiſchen“ Cultur, getragen von einem aufwachjenden Geſchlecht mit uner— 
ſchrockenem Sinn, in dem das griechiſche Altertum wiedergeboren werden könne. 
Er verwirft den Schopenhauer’ihen Peſſimismus, denn er verabjcheut früh jede 
Askeſe; aber er ſucht einen Peſſimismus der Gefundheit, der aus der Stärke, 
der überftrömenden Kraft Herftammt, und er glaubt ihn bei den Griechen 
zu finden. Er hat dieje feine Auffaffung in feiner gelehrten und tiefjinnigen 
Augendichrift: „Die Geburt der Tragödie oder Griechenthum und Peſſimismus“ 
entwickelt, in der er zwei neue Bezeichnungen „apolliniſch“ und „dionyſiſch“ ein- 
führte: Die beiden Kunftgottheiten der Griechen, Apollo und Dionyjos, deuten 
den Gegenſatz zwiſchen der bildenden Kunſt umd der Muſik an. Der erftere 
entſpricht dem Traum, der andere dem Rauſch. Im Traum traten die Götter: 
geftalten zuerft vor die Menjchen hin; der Traum ift die Welt des fchönen 
Scheins. Sehen wir dagegen in den tiefften Grund der Menjchen unter der 
Sphäre des Gedanfens und der Phantajie hinab, jo begegnen wir einer Welt 
von Grauen und Entzüden, dem Reid) des Dionyjos. Oben herrſcht Schönheit, 
Maß und Grenze, drunter aber wogt frei das Uebermaß der Natur in Luft und 
Qual. Bon einer jpäteren Entwidelungsftufe Nietzſche's betrachtet, offenbart fich 
das tiefere Motiv diejer forjchenden, jpürenden Verſenkung in das griechiiche 
Altertum. Schon auf jenem Zeitpunkt findet er in dem, was für Moral gilt, 
ein Verfleinerungsprinceip der Natur gegenüber, ſucht den principiellen Gegenjat 
davon und findet ihn in dem rein künſtleriſchen, vom Chriftenthum entfernteften 
Princip, das er das „dionyſiſche“ tauft. 

Pſychologiſch gejehen, treten jchon hier die Grundzüge diejes Schriftftellers 
deutlich hervor. Was für eine Natur ift es, die mit einem fo wilden Haß das 
Philiſterthum bis hinauf zu David Strauß verfolgt? Eine Künftlernatur augen: 
iheinlih. Was für ein Schriftfteller ift e8, der mit jo tiefer Ueberzeugung vor 
den Gefahren der Hiftoriihen Bildung warnt? Ein Philolog augenjcheinlich, der 
fie an ſich ſelbſt erlebt Hat, fich jelbft davon bedroht gefühlt hat, Epigone zu 
werden, und nahe daran gewefen ift, den Hiftorifchen Erfolg zu verehren. Was für 
ein Wejen ift e8, das jo leidenſchaftlich Cultur als Geniecultus definirt? Gewiß 
fein Edermann-Naturell, aber ein Schwärmer, der anfangs willig war zu ge 
horchen, wo er nicht befehlen fonnte, dem bald aber fein eigener Herrſchertrieb 
flar wurde, und der früh begriff, daß die Menjchheit noch weit davon entfernt 
ift, über den alten Gegenjaß: gehorchen und befehlen, hinausgefommen zu fein. 
Napoleons Auftreten ift ihm, wie vielen Anderen, ein Beweis davon: die Freude, 
die Taufende ergriff, daR endlich wieder Einer gefommen war, ber zu befehlen verftand. 


Ariftofratiicher Radicalismus. 67 


Aber er ift nicht dazu angelangt, auf dem Gebiete der Moral Gehorfam zu 
predigen. Im Gegentheil, wie er veranlagt ift, leitet er die Schlaffheit und 
Niedrigkeit unferer modernen Moral davon ab, daß fie noch immer ala höchites 
Gebot Gehorjam jet, anjtatt der Fähigkeit, fich ſelbſt feine Moral zu jchreiben. 

Die militärische Schule und die Theilnahme am Krieg haben ihn wahrſchein— 
lich in fich jelbft etwas Hartes und Männliches entdecen laffen, und ihm einen 
weitgehenden Abſcheu vor Weichlichkeit und Feminimus beigebracht. Er wendete 
fich mit Unwillen von der Mitleidsmoral in Schopenhauer's Philoſophie ab und 
ebenſo von dem Romantiſch-Katholiſchen in Wagner's Muſik, denen er früher 
beiden gehuldigt. Er ſah ein, daß er in ſeiner Phantaſie beide Meiſter nach 
ſeinen Bedürfniſſen umgebildet, und er verſtand recht wohl den Inſtinct der 
Selbfterhaltung, der ſich darin geltend gemacht hatte. Der ſtrebende Geiſt formt 
ſich die Helfer zurecht, deren er bedarf. So widmete er ſpäter ſein Buch: „Menjch- 
liches, Allzumenſchliches“, das zum Hundertjährigen Gedächtnißtage Voltaire's 
herausgegeben wurde, den „freien Geiftern” unter feinen Zeitgenoffen; ex träumte 
fi die Bundesgenoffen zu, die er im Leben noch nicht getroffen hatte. 

Die ſchwere, jchmerzvolle Krankheit, die mit feinem zweiunddreißigſten Jahre 
beginnt und ihn für lange Zeiten zum Ginfiedler madt, löſt ihn von aller 
Romantik und befreit jeinen Geift von allen Banden der Pietät. Sie führt ihn 
weit weg vom Peſſimismus, kraft feines ftolgen Gedankens: „Ein Leidender hat 
fein Recht zum Peſſimismus.“ Diefe Krankheit macht ihn in ftrengem Sinne 
zum Philofophen. Sein Gedanke jchleicht Frageluftig auf verbotenen Wegen: 
dies gilt für einen Werth. Kann man ihn nicht umfehren? — Dies wird für 
ein Gutes gehalten. Iſt es nicht eher ein Böſes? — Iſt Gott nicht widerlegt? 
Aber kann man jagen, daß der Teufel es ift? — Sind wir nicht Betrogene? 
Und betrogene Betrüger, Alle? .... 

Und jo fteigt aus langer Kränklichkeit eine leidenſchaftliche Begierde nad 
Gefundheit, die Freude des Genejenden am Leben, am Licht, an Wärme, an 
Leichtigkeit und Freiheit des Geiftes, ar dem Ueberblick und den weiten Hori— 
zonten des Gedankens, am Schauen „neuer Morgenröthen“, an der Geftaltungs- 
fähigkeit, an der dichteriſchen Kraft empor. Und er tritt in das hohe Selbft- 
gefühl und den Entzüdungszuftand einer langen ununterbrochenen Production 
hinein. 


II. 

Es iſt weder möglich noch nothwendig, die ganze lange Reihe feiner Schriften 
hier durchzugehen. Um was e3 ſich für den handelt, der das Intereſſe auf einen 
noch wenig gelefenen Schriftfteller hinleiten will, das ift, feine eigenthümlichften 
Gedanken und Ausdrücde in Relief zu ſetzen, jo daß der Leſer ſich mit geringer 
Mühe eine Vorftellung über feine Art und Weife als Denker und Geift bilden 
kann. Die Arbeit wird in diefem Fall dadurch erſchwert, dat Nietzſche in Apho— 
rismen denkt, und dadurch erleichtert, daß er jedem Gedanken einen Hochdruck zu 
geben pflegt, der ihm eine paradorale Phyſiognomie verleiht. 

Die engliiche Wohlfahrtsmoral hat in Deutſchland nicht angeſchlagen; unter 
den lebenden Dentern find wohl Eugen Dühring und Friedrich Pauljen ihre 


5* 


68 Deutfche Rundſchau. 


hervorragenditen Vertreter. Eduard von Hartmann hat fih in feiner „PBhäno- 
menologie des fittlihen Bewußtſeins“ beftrebt, die Unmöglichkeit darzulegen, zu— 
gleich für den Gulturfortfchritt und für das Menfchenglüd zu arbeiten. Nietzſche 
findet neue Schwierigkeiten bei einer Unterſuchung des Begriff? Glück. Das Ziel 
der Wohlfahrtsmoral ift, den Menschen fo viel Luft und fo wenig Unluft wie 
möglich zu fchaffen. Aber wie, wenn Luft und Schmerz fo verknüpft find, daß 
Der, welcher jo viel Luft wie möglih haben will, aud eine entjprechende 
Summe Unluft mit in den Kauf nehmen muß? 63 heißt in Clärchens Lied: 
„Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt.“ Wer weiß, ob das Lebtere nicht 
die Bedingung für das Erftere ift? Die Stoifer glaubten e3 und verlangten, 
um ber Qual zu entgehen, jo wenig Luft wie möglich vom Leben. Offenbar 
muß man daher auch in umferen Tagen dem Menſchen feine ftarken Freuden 
verfprechen, wenn man fie vor großen Leiden bewahren will. 

Man fieht, Nietzſche jpielt die Frage auf das höchfte geiftige Gebiet hin— 
über, ohne Rüdficht darauf, daß da3 niedrigfte und verbreitetfte Unglüd: Hunger, 
körperliche Verkümmerung, überanftrengende, die Gefundheit zerftörende Arbeit 
feinen Erſatz in heftigen Freuden bietet. Selbſt wenn aller Genuß theuer 
erfauft wird, ift damit noch nicht gefagt, daß jegliche Dual durch Heftigen Genuß 
unterbrochen und aufgewogen wird. 

Sin Uebereinftimmung mit feiner ariſtokratiſchen Geiftesrihtung greift er 
demnächft die Bentham’jche Formel: „Das größtmögliche Glüd für die größt- 
mögliche Anzahl“ an. Das Ideal war urſprünglich, das Glück aller Menjchen 
zu ſchaffen. Da ſich das nicht thun läßt, erhält das Princip die angeführte 
Begrenzung. Aber warım Glüd für die größte Anzahl? man könnte fi denken 
für die Beten, die Edelften, die Genialjten, und es muß erlaubt fein, zu fragen, 
ob dürftiger MWohlftand und dürftiges Wohljein wirklich jener Ungleichheit der 
Lebensbedingungen vorzuziehen find, deren Stachel die Cultur zu ftetigem Steigen 
zwingt. 

Nietzſche mag hierin Recht haben, ohne deshalb mit dieſem Angriff Ent— 
ſcheidendes gegen das Wohlfahrtsprincip in der Moral vorgebracht zu Haben. 
Er faßt die Begriffe Luſt und Glück zu eng. Wenn der Culturfortſchritt auch 
manchmal auf ſeiner Bahn das Glück der Individuen vernichtet, ſo zielt es doch 
in letzter Inſtanz darauf, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern. Das ſogenannte 
Glück des Wilden iſt nicht nur nicht das höchſte, ſondern kein echtes. Man 
nenne den höheren Zuſtand Glück, oder man gebe ihm einen anderen Namen: 
das Entſcheidende iſt, daß die höhere Empfänglichkeit auch für den Schmerz kein 
zu theurer Preis iſt für die Steigerung des ganzen Lebensinhalts. 

Und ebenſo wenig ſtreitet die Anſicht Nietzſche's von der großen Perſönlichkeit 
als geſchichtlichen Zweck principiell gegen das Moralprincip der Wohlfahrt. Ich 
huldige zwar durchaus nicht der Betrachtungsweiſe, nach welcher die große 
Perſönlichkeit nur als Mittel zum Zweck oder als Diener der Menſchheit auf— 
gefaßt wird. Der große Menſch iſt inſofern Selbſtzweck, als er (wie Leonardo 
oder Goethe) vor Allem ſich ſelbſt befriedigen will und muß. Aber nicht deſto 
weniger bringt er eben dadurch etwas hervor, das auf irgend eine Weiſe un— 
zähligen Geſchlechtern zu Gute kommt. 


Ariftofratifcher Rabicaliamus. 69 


Gewichtiger ift Nietzſche's Polemik gegen die Entſagungsmoral. Es wird 
Selbſtloſigkeit gelehrt. Moraliſch ſein, heißt uneigennützig ſein. Es iſt gut, 
ſelbſtlos zu ſein, heißt es. Aber was heißt das: gut? gut für wen? Nicht für 
den ſich ſelbſt Aufopfernden, aber für ſeinen Nächſten. Wer die Tugend der Selbſt— 
loſigkeit preiſt, preiſt Etwas, was der Geſellſchaft zu Gute kommt, aber dem 
Einzelnen zum Schaden gereicht. Und der Nächſte, der uneigennützig geliebt 
werden will, iſt ſelbſt nicht uneigennützig. Der Grundwiderſpruch in dieſer 
Moral iſt, daß ſie ein Verzichtleiſten auf das Wohl des Ich fordert und 
empfiehlt, welches zum Beſten eines anderen Ichs ſtattfindet. 

Der weſentliche und unſchätzbare Werth aller Moral beſteht für Nietzſche 
urſprünglich nur darin, daß fie ein langwieriger Zwang iſt. Wie die Sprache 
durch den metriishen Zwang Kraft und Freiheit gewinnt, wie Alles, was in 
der bildenden Kunſt, dev Muſik, dem Tanz u. ſ. w. von Freiheit und Feinheit 
fi findet, kraft willfürlicher Gefege geworben ift, jo gelangt auch die Menjchen- 
natur nur duch Zwang zur Entwidlung. Damit wird der Natur nicht Gewalt 
angethan; das ift jelbjt Natur. 

Das MWejentliche ift, daß gehorcht werde, lange und in einer Richtung. Du 
folft geboren, irgendwem und lange, ſonſt gehft du zu Grunde, das fcheint 
das moraliſche Gebot der Natur zu fein, das zwar nicht kategoriſch ift (tie 
Sant meinte), auch nicht ſich an den Einzelnen wendet (die Natur bekümmert 
fih nit um den Einzelnen), ſondern das an Völker, Stände, Zeitalter, Raffen, 
ja an die Menfchheit gerichtet zu fein fcheint. Alle Moral dagegen, die fih an 
den Einzelnen zu feinem eigenen Beften, um feines Wohlergehen3 willen wendet, 
ift, aus diefem Gefichtspunft betrachtet, nichts Anderes als Klugheitsregel, Recept 
gegen Leidenfchaften, und al diefe Moral ift in ihrer Form ungereimt, da fie 
fi an Alle wendet und verallgemeinert, was fich nicht verallgemeinern läßt. 
Kant gab mit feinem fategorifchen Imperativ eine Richtſchnur. Aber diefe Richt- 
Schnur ift in unferen Händen geborſten. Es nübt nichts, uns zu jagen: „Handle, 
tie Andere in diefem Falle handeln ſollten.“ Denn wir wiffen, daß es Feine 
gleichen Handlungen gibt oder geben kann, fondern, daß jede Handlung einzig in 
ihrer Art ift, jo daß alle Vorichriften fi) nur auf die grobe Außenfeite der 
Handlung beziehen. 

Aber die Stimme und da3 Urtheil des Gewiffens? Die Schwierigkeit ift 
nur, daß wir ein Getoiffen hinter unferem Gewiſſen haben, ein intellectuelles 
hinter dem moralifhen. Wir haben entdedt, daß das Urtheil von N. N.'s Gewiſſen 
eine Vorgefhichte in feinen Trieben, Sympathien, Antipathien, Erfahrungen, 
oder Mangel an Erfahrungen hat. Wir fehen vecht wohl ein, daß unfere An— 
fihten über das Rechte und Gute, unfere moralischen WertHbeftimmungen Fräftige 
Hebel find, wo es fih um Thaten Handelt; aber wir müſſen damit anfangen, 
unsere Anfichten zu läutern und uns jelbftändig neue Werthtafeln zu jchaffen. 

Und was das Moralpredigen für Alle angeht, jo ift es ganz ebenſo leer 
wie das moralifche Geklatſch der gejelligen Perfönlichkeiten über einander. 
Kiegiche gibt den Morallehrern den quten Rath, daß fie, anftatt fich mit der 
Erziehung des Menfchengeichlehts zu bemühen, lieber wie die Pädagogen im 
fiebzehnten und adhtzehnten Jahrhundert thun follten, die ihre ganze Kraft darauf 


70 Deutſche Rundſchau. 


concentrirten, einen einzelnen Menſchen zu erziehen. Aber in der Regel ſind die 
moraliſchen Schreihälſe ſelbſt ganz unerzogene Menſchen und ihre Kinder erheben 
ſich ſelten über die moraliſche Mittelmäßigkeit. 

Wer da fühlt, daß er in ſeinem innerſten Weſen mit Anderen außer Ver— 
gleich iſt, der will ſein eigener Geſetzgeber ſein. Denn eins iſt vonnöthen: ſeinem 
Charakter Stil geben. Dieſe Kunſt wird von dem geübt, der mit Blick für die 
ſtarken und ſchwachen Seiten ſeiner Natur dies und jenes aus ſeinem Weſen 
entfernt, demnächſt durch tägliche Uebung und erkämpfte Gewohnheit Neues 
hinzufügt, das ihm zur zweiten Natur wird, ſich alſo einem Zwang unterwirft, 
um nad und nach fein Weſen unter fein eigenes Geſetz zu beugen. Nur jo er— 
langt ein Menſch Zufriedenheit mit fich jelbft, und nur jo wird er erträglich für 
Andere. Die Unzufriedenen und Mißglückten rächen fi nämlich in der Regel 
immer an Anderen. Selbſt jaugen fie Gift aus Allem, aus ihren ſchwachen 
Fähigkeiten, twie aus ihren geringen Mitteln, und leben mit einem beftändigen 
Durft nad) Rache gegen Die, in deren Wejen fie Harmonie ahnen. Jmmer führen 
folche Menfchen die Moralworte im Munde, die ganze Janiticharenmufit: Sitt- 
lichkeit, Ernft, Keujchheit, die Forderungen des deal; immer raft in ihrem 
Herzen der Neid gegen Die, welche Gleichgewicht erlangt haben und deswegen 
genießen können. 

Jahrtauſende hindurch war Sittlichfeit Gehorfam gegen die herrjchende 
Sitte, Ehrfurcht vor den ererbten Gewohnheiten. Der freie, vriginale Menſch 
war unfittlich, weil er mit der leberlieferung brach, vor der die Anderen eine 
abergläubiiche Furcht hegten. Häufig ſah er ſich jelbft auch dafür an und wurde 
jelbft von dem Schauder ergriffen, den ex erweckte. Unbewußt wurde dann eine 
folhe Voltsmoral der Gemwohnheitsfittlichkeit von allen Denen ausgearbeitet, die 
zum Stamm gehörten, indem man bejtändig neue Beifpiele und Beweije dafür 
fand, daß das angebliche Verhältniß zwiſchen Schuld und Strafe vorhanden war: 
Führt man fi jo und fo auf, jo geht es Einem jchleht. — Da es Einem nun 
häufig fchlecht geht, wurde die Behauptung nie entkräftet und die Volksmoral 
immer aufs Neue beftätigt. 

Sitte und Gebrauch repräfentirten die Erfahrungen früherer Gefchlechter 
hinfichtlich des vermeintlih Nützlichen oder Schädlichen; aber das Gefühl für 
das Sittliche fteht in feinem Verhältniß zu diefen Erfahrungen als folchen, 
fondern zu ihrem Alter, ihrer Ehrwürdigfeit und ihrer daraus folgenden Un— 
beftreitbarfeit. 

In dem Kriegäzuftand, in dem ein von allen Seiten bedrohter Stamm im 
Altertfum lebte, war unter der Herrſchaft der ftrengften Gemwohnheitsfittlichkeit 
fein Genuß größer als Graufamteit. Grauſamkeit gehört zu den älteften Feſt— 
und Siegeöfreuden dev Menſchheit. Dian dachte ich auch die Götter ergößt und 
feftlich geftimmt, wenn man ihnen das Schaufpiel von Graufamkeiten bot, — 
und jo jchlich Fich die Vorftellung in die Welt ein, daß auch freiwillige Selbit- 
plagerei, Kafteiung, Askeſe von großem Werth feien, nicht als Zucht, ſondern 
al ein jüßer Geruch in der Naſe des Herrn. 

Das Chriſtenthum Hat als Religion des Alterthums ununterbrochen Seelen- 
qual gepredigt und angewendet. Man denke fich den Zuftand eines Chriften des 


Ariftokratifcher Radicalismus. 71 


Mittelalterd, der vorausſetzt, daß er der ewigen Qual nicht mehr entrinnen 
fan. — Gros und Aphrodite waren in jeinen Augen Höllenmächte und ber, 
Tod Entjeßen. 

Der Graujamfeitämoral ift die Mitleidsmoral gefolgt. Das Mitleid wird 
al3 unegoiftiich gepriejen, jo 3. B. ganz beſonders von Schopenhauer. 

Schon Eduard von Hartmann Hat in feinem gedanfenreichen Werfe „Die 
Phänomenologie des ſittlichen Bewußtſeins“ (217—240) die Unmöglichkeit nach— 
gewieſen, im Mitgefühl die wichtigfte moralifche Triebfeder zu ſehen, geichtveige 
denn die einzige, wie Schopenhauer will. Nietzſche greift die Mitleidsmoral aus 
anderen Gefichtäpunften an. Er beweift, daß jie nichts weniger als unegoiſtiſch 
ift. Das Unglück des Anderen peinigt uns, kränkt uns, ftempelt uns vielleicht als 
feige, wenn wir nicht Hülfe bringen. Oder es liegt in ihr ein Fingerzeig einer 
möglichen Gefahr für uns felbft, wir fühlen außerdem Luft, wenn wir unjeren 
eigenen Zuftand mit dem des Unglüclichen vergleichen, und Luft, wenn wir als die 
Mächtigen, die Helfenden auftreten können. Die Hülfe, die wir bringen, wird 
bon uns ſelbſt als ein Glück empfunden, oder entreißt und vielleicht nur der 
Langeweile. 

Das Mitleid als wirkliches Mitleiden wäre eine Schwäche, ja ein Unglück, 
denn e3 würde die Leiden in der Welt vermehren. Der, welcher fih im Exnft 
dem Mitleid mit der Qual, welche ihn umgibt, ergeben wollte, würde einfach 
dadurch zu Grunde gehen. 

Unter den Wilden hat man ein Grauen davor, Mitleid zu erwecken. Der, 
welcher es thut, gilt ala verächtlich. Mitleid mit Einem zu fühlen, bedeutet im 
Gedankfengang ber Wilden, daß man ihn veradhtet. Aber man findet kein Ver— 
gnügen daran, ein verächtliches Geſchöpf leiden zu jehen. Dagegen einen Tyeind 
leiden zu jehen, der unter Qualen feinen Stolz nicht aufgibt, das ift ein Genuß; 
das erwedt Bewunderung. 

Man predigt gern die Mitleidsmoral unter der Formel: „Liebe deinen 
Nächſten!“ 

Nietzſche klammert ſich im Intereſſe ſeines Angriffs an das Wort der Nächfte. 
Er betont nicht bloß, was Kierkegaard „eine teleologiſche Suspenfion des Ethi— 
ſchen“ nannte, ſondern er fühlt ſich dadurch gereizt, daß das wahre Weſen des 
Moraliſchen darin Liegen follte, daß wir ben Bli auf die nächften Folgen 
unjerer Handlungen richteten und die zur Richtſchuur nähmen. Dem Engen, 
Spießbürgerlichen in diefer Moral ftellt ex diejenige gegenüber, die über die nächften 
Folgen wegſieht und fogar durch Mittel, die dem Nächften Qual verurjachen, 
ferneren Zielen zuftrebt, 3. B. Einfiht fürdert, obgleich dieſelbe Sorge und 
Zweifel und böfe Leidenſchaften beim Nächſten erweckt. Wir brauchen deswegen 
nicht ohne Mitleid zu fein, aber wir können unfer Mitleid um des Ziels willen 
gefangen nehmen. 

Und jo ungereimt es ift, das Mitleid als unegoiftiich zu bezeichnen und es 
heilig zu ſprechen, jo ungereimt ift e8, eine Reihe Handlungen in die Gewalt 
des böfen Gewiffens zu geben, bloß weil fie als egoiftiich gebrandmarkt find, 
Und was anders ift in leßterer Zeit geichehen, al dat man den Selbftverleug- 


72 Deutſche Rundſchau. 


nungs- und Selbſtaufopferungsinſtinct und Alles, was unegoiftifch iſt, verherr- 
licht hat, als wären das die wahren moraliſchen Werthe. 

Die engliſchen Moraliſten, die zur Zeit Europa beherrſchen, erklären den 
Urſprung der Moral auf folgende Weiſe: unegoiſtiſche Handlungen wurden ur— 
ſprünglich gute von Denen genannt, denen ſie erwieſen wurden und zum Nutzen 
gereichten; ſpäter hat man die urſprüngliche Urſache, weshalb ſie gelobt wurden, 
vergeſſen und die unegoiſtiſchen Handlungen an und für ſich als etwas Gutes 
betrachtet. 

Es war nach Nietzſche's eigener Ausſage die Schrift eines der engliſchen 
Richtung angehörenden deutſchen Schriftſtellers: „Der Urſprung der moraliſchen 
Empfindungen“ (Chemnitz 1877) von Dr. Paul Rée, die ihn zu einem ſo leiden— 
ſchaftlichen Widerſpruch Punkt für Punkt aufſtachelte, daß er durch dieſe 
Schrift den Stoß empfing, ſeine eigenen Gedanken darüber zu klären und zu 
entwickeln. 

Was indeſſen verwundert, iſt Folgendes: mißvergnügt mit jener erſten 
Schrift arbeitete Nee ein anderes und weit bedeutenderes Buch über dasſelbe 
Thema aus: „Die Entftehung des Gewiſſens“ (Berlin 1885), in dem der Stand- 
punkt, an welchem Nietzſche Nergerniß nahm, verlaffen ift und mehrere der Grund- 
gedanfen, die diefer gegen Rée geltend madt, mit einer Menge Beweisftellen 
aus verfchiedenen Schriftftellern und Völkern angeführt werden. 

Die beiden Philofophen haben einander gefannt und perfönlich mit einander 
verkehrt. Es ift mir aber unmöglich zu ſehen, wer von den Beiden den Anderen 
beeinflußt hat, und warum Nietzſche 1887 feinen Unwillen gegen Rée's 1877 
ausgeiprochene Anſchauungen berührt, ohne zu erwähnen, wie nahe diejer jeiner 
Auffaffung in dem ein paar Jahre vor feinem eigenen herausgegebenen Wert 
geftanden, 

Schon Rée hat eine Menge Beifpiele dafür angeführt, daß die verfchiedenften 
alten Völker feine andere moraliiche Glafjification der Menfchen kannten, als 
die in Vornehme und Geringe, Mächtige und Schwache, jo daß die ältefte Be— 
deutung von gut ſowohl in Griechenland wie auf Island vornehm, mächtig, 
reich war. 

Nietzſche baut jeine ganze Lehre auf diefer Grundlage auf. Sein Gedanfen: 
gang ift folgender: 

Die Bezeihnung „gut“ rührt nicht von dem her, dem Güte erwieſen wurde. 
Die ältefte Werthbeftimmung war folgende: Die Vornehmen, Mächtigen, Hoch: 
geftellten, Hochgefinnten hielten fich jelbft und ihr Thun und Laffen für „gut“ 
— erften Ranges — im Gegenfat zu allen Niedrigen und Niedriggelinnten. 
Vornehm, edel im Sinne de3 Standesgefühls einer höheren Kafte ift der Grund» 
begriff, woraus „gut“ fi als ſeeliſch Hochgeboren entwickelt. Die Niedrig: 
jtehenden werben als „ſchlecht“ (nicht als böje) bezeichnet. Schlecht erhält erft 
ſpät jeine unbedingt hevabjegende Bedeutung. E3 ift von Seiten des gemeinen 
Mannes ein lobendes Wort: jchlecht und recht. 

Die herrſchende Kafte nennt die ihr Angehörigen zuweilen bloß die Mäch— 
tigen, zuweilen die Wahrhaftigen; jo der griechiſche Adel, deffen Organ Theognis 
ift. Bei ihm hat ſchön, gut, edel immer die Bedeutung adlig. Die vornehme 


Ariftofratifcher Rabicaliamus. 73 


Moral: WertHbeftimmung geht von einem triumphirenden Bejahen aus, wie wir 
e3 bei den homerifchen Helden finden: wir VBornehmen, Schönen, Tapfern — 
wir find die Guten, die von den Göttern Geliebten. E3 find ftarfe, mit Kraft 
geladene Menſchen, deren Luft e8 ift, zu handeln und ftreiten, für die da3 Glüd 
mit anderen Worten etwas Aktives ift. 

Es war jelbftverjtändlich unvermeidlich, daß diefe Vornehmen die gemeine 
Schar verfannten und veradhteten , die von ihnen beherricht wurde. Doc jpürt 
man in der Regel bei ihnen Beflagen der unterjochten Kafte von Arbeitsſklaven 
und Laftthieren, eine Nahficht mit Denen, für die das Glüd ein Ausruhen, ein 
Sabbath, etwas Paſſives ift. 

In den Niedrigftchenden lebt nothwendigerweiſe umgekehrt ein durch Haß 
und Neid entjtelltes Bild der Herrenkafte. In diefer Entftehung ift Rache!). 

Im Gegenjaß zu der ariftofratiichen Werthſchätzung (qut = vornehm, ſchön, 
glücklich, gottbegnadet) formulirt fih die Sklavenmoral folgendermaßen: bie 
Elenden allein find die „Guten“; die, welche leiden und beichwert find, die 
Kranken, die Häßlichen, die find die einzigen Frommen. Dagegen ihr, ihr 
Vornehmen und Reichen, ihr ſeid in alle Ewigkeit die „Böfen“, die Graufamen, 
die Unerjättlichen, die Gottlofen und nach dem Tode die Verdammten. Während 
die dornehme Moral dev Ausſchlag des großen Selbſtgefühls war, ein beftändiges 
Bejahen, ift die Sklavenmoral ein beftändiges Nein gegen etwas Anderes, ein 
„Du follſt nicht“, eine Negation. 

Dem gut ſchlecht (ſchlecht — werthlos) der vernefimen Werthſchätzung ent- 
fpricht die Gegenüberftellung der Sklavenmoral: gut — böfe. Und wer find die 
Böfen für diefe Moral der Unterdrüdten? Eben diejelben, die für die andere 
Moral die Guten waren. 

Man leje die isländiſchen Sagen, vertiefe fi in die Moral der alten Nord» 
länder und ftelle ihr die Klagen über die Unthaten der Wikinger gegenüber. 
Und man wird jehen, daß dieje Ariftofraten, deren Sittlichkeit in vielen Punkten 
hoch ftand, ihren Feinden gegenüber nicht beffer waren, als losgelaſſene Raub— 
thiere. Sie jchlugen nieder auf die Bewohner der riftlichen Küftenländer, wie 
Adler auf Lämmer. Man kann jagen, fie folgten einem Adlerideal. Aber man 
wird fi dann auch nicht darüber verwundern, daß die, welche diejen fürchter— 
lichen Uebergriffen ausgeſetzt waren, fi um ein ganz entgegengefeßtes moralijches 
Ideal jcharten, nämlich das des Lammes. 

Im dritten Kapitel feiner Nüblichkeitsmoral verſucht Stuart Mill zu be- 
weifen, wie das Gerechtigfeitsgefühl fi aus der thieriichen Begierde, einen 
Schaden oder einen Verluſt zu vergelten, entwidelt hat. In einer Abhandlung 


1) Nietzſche unterftügt feine Hypotheſe mit einigen Giymologien. Das lateinifche malus, 
neben das er uelus ſchwarz ftellt, geht auf die vorarischen Bewohner von Italiens Erde im 
Gegenfaß zu ber blonden, ariichen Erobererraſſe. Im Gälifchen bedeutet fin (Mdelamann, Fingal) 
urfprünglich Blondkopf, fpäter der Gute, Edle, Reine im Gegenfap zu den fchwarzhaarigen 
Dreinwohnern. Er faßt bonus als Krieger auf, von einem älteren duonus (bellum — duellum — 
duenlum). Alſo bonus, der Mann des Kriegs, des Zwifte. Virtus ift ja zuerft Tapferkeit, fpäter 
Zugend. — Seine Etymologie gut von gothiich ift unrichtig. Got ift Hengſt, Mann. 


74 Deutſche Rundſchau. 


über „die transcendente Befriedigung des Rachegefühls“ (Anhang zur erſten 
Ausgabe vom „Werth des Lebens“) hat Eugen Dühring nad ihm verfucht, Die 
ganze Strafrechtslchre auf dem Wiedervergeltungstrieb zu begründen. In feiner 
„Phänomenologie“ hat Ed. von Hartmann nachgewiefen, wie dieſer Trieb, ftreng 
genommen, immer nur ein neues Leiden, eine neue Kränkung Herbeiführt, um 
Genugthuung für die ältere zu gewinnen, jo daß das Vergeltungsprincip nie zu 
einem fittlien Princip werden Fann. 

Nietzſche macht einen gewaltfamen, leidenſchaftlichen Verſuch, die Haupt- 
fumme faljcher moderner Moral nicht auf den Wiedervergeltungstrieb , oder das 
Rachegefühl im Allgemeinen, fondern auf eine engere Form derjelben: Groll, 
Neid, „Rancune“ zurücdzuführen. Für ihn ift, was er Sklavenmoral nennt, die 
reine Neidmoral. Und dieſe Neidmoral hat alle Ideale umgeprägt: Ohnmacht, 
die nicht vergilt, wurde Güte; ängftliche Niedrigkeit Demuth; Unterwerfung 
unter den, welchen man fürchtet, wurde Gehorſam; Sichnichträchenkönnen wurde 
Sichnichträchenwollen, wurde Vergebung, wurde Liebe zu den Feinden. Die Er- 
bärmlichkeit wurde eine Auszeichnung, eine Diftinction; Gott züchtigt, wen er 
liebt. Oder fie wurde eine Vorbereitung, eine Prüfung, eine Schule, noch mehr: 
Etwas, da3 einmal mit Zinſen aufgetvogen, als Seligkeit zurücdbezahlt wird. 
Was diefen Demüthigen auf Erden zu lieben blieb, waren ihre Brüder und 
Schweſtern im Haß, die fie ihre Brüder und Schweitern in der Liebe nannten. 
Den von ihnen erwarteten, fommenden Zuftand nannten fie ein Kommen ihres 
Reiches, des Reiches Gottes. Worauf fie hofften, dad war nicht die Süßigkeit 
der Rache, jondern der Sieg der Gerechtigkeit. 

Wenn Nietzſche die Abficht gehabt hat, mit diefer Schilderung das Hifto- 
tische ChriftentHum zu treffen, jo hat er — wie Jeder jehen kann — eine Kari— 
fatur im Geift und Stil des achtzehnten Jahrhunderts geliefert. Aber daß jeine 
Beichreibung einen gewillen Typus der Apoftel der Neidmoral trifft, läßt ſich 
nicht leugnen, und felten ift all der Selbftbetrug, der fich unter einer Moral- 
verfündigung bergen kann, mit größerer Energie entjchleiert worden. (Dan 
vergleiche: „Senjeit3 von Gut und Böſe“, „Borfpiel zu einer Philojophie der 
Zukunft“ und „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitichrift.”) 


IV. 

Eine Definition des Menjchen twürde für Nietzſche die folgende fein: Der 
Menſch ift ein Thier, da3 Gelübde geben und halten kann. 

Er erblickt den eigentlichen Adel de3 Menſchen darin, daß er etwas ver— 
iprechen,, für fich jelbft einftehen, eine Verantwortung übernehmen Tann — da 
der Menſch mit der Herrfchaft über fich jelbft, welche dieſes Verhältnig vorausjegt, 
auch Herrichaft über die äußeren Umftände und die übrigen Gejchöpfe erlangt, 
deren Wille nicht fo anhaltend ift. 

Das Bewußtjein jeiner Verantwortlichkeit nennt der ſouveräne Menſch fein 
Gewiſſen. 

Was iſt nun die Vorgeſchichte dieſer Verantwortlichkeit, dieſes Gewiſſens? 
Sie iſt lang und blutig. Durch fürchterliche Mittel iſt im Laufe der Geſchichte 
ein Gedächtniß für das einmal ſchweigend oder laut Verſprochene oder Gewollte 


Ariftofratifcher Radicalismus. 75 


aufgezüchtet worden. Yahrtaufende hindurch wurde der Menſch in die Zwangs— 
jade der Gewohnheitäfittlichkeit gefchnürt und duch Strafen, wie Steinigung, 
Rädern oder Verbrennen, durch lebendig Begrabenwerden, durch Ertränfen in 
einem Saft oder mit einem Stein am Halfe, durch Zerriffentwerden von vier 
Pferden, durch Peitſchen, Schinden, Brandmarfen — dur) alle dieſe Mittel 
wurde dem vergehlihen Thier Menſch ein langes Gedächtniß für das Ver— 
fprochene eingebrannt — gegen den Erjaß, die Vortheile zu genießen, die mit 
dem Gejellichaftsverband verknüpft find. 

Nach Nietzſche's Hypotheje entfteht das Schuldbewußtſein einfach als Be— 
mwußtjein einer Schuld. Das Gontractverhältniß zwischen Gläubiger und 
Schuldner, das jo alt ift wie die älteften Grundformen des menfchlichen Ver— 
fehr3 in Kauf, Verkauf, Taufch u. ſ. w., ift das Verhältniß, das hier zu Grunde 
liegt. Der Schuldner verjpriht (um Vertrauen auf fein Verfprechen der Zurüd- 
zahlung einzuflößen) irgend Etwas, was er befikt: feine Freiheit, fein Weib, 
fein Leben; oder er gibt dem Gläubiger das Recht, im Verhältniß zur Schuld 
ein größeres oder kleineres Stück Fleiſch aus feinem Körper zu jchneiden (das 
Zwölftafelgefeß; no) im „Kaufmann von Venedig“). 

Die Logik Hierin, die uns ziemlich fremd geworden, ift folgende: als Erſatz 
des Verluſtes wird dem Gläubiger eine Art Wolluftgefühl zugeftanden, dasjenige, 
welches darin befteht, jeine Macht an dem Machtloſen auszuüben. 

Der Leſer kann bei Rée (angef. Schrift ©. 13 u. ſ. w.) die Beweiſe für 
Niebiche'3 Behauptung finden, daß die Auffaffung der Menjchheit Kahrtaufende 
hindurch geweſen ift: Andere leiden jehen, thue wohl; aber Anderen Leiden zu— 
fügen, das ſei ein Feſt, während defjen der Glüdliche von Machtgefühl jchwelle. 
Man kann dort auch die Beweife dafür finden, daB die Triebe zum Mitleid, 
zur Billigkeit, zur Milde, die fpäter als Tugenden verherrlicht wurden, urjprüng- 
lich faft überall als moraliſch werthlos, ja als Schwachheitsſymptome betrachtet 
worden find. 

In Kauf und Verkauf und Allem, was ſeeliſch dazu gehört und älter ala 
jede Geſellſchaftsordnung ift, Liegt nach Nietzſche's Auffaffung der Keim von Er» 
jat, Ausgleihung, Recht, Pflicht. Der Menſch ift früh darauf ſtolz geweſen, 
ein Werthe abmeijendes Weſen zu jein. Einer der früheften Gemeingedanfen 
war der: Jedes Ding hat feinen Preis. Und der Gedanke: Alles kann abgezahlt 
werden, war die ältefte und naivſte Richtſchnur der Gerechtigkeit. 

Nun ſteht die ganze Gejellichaft, wie fie fih nad) und nad) entwidelt Hat, 
in demjelben Verhältniß zu ihren Mitgliedern, twie der Gläubiger zu dem Schuldner. 
Die Geſellſchaft beſchützt ihre Mitglieder; fie find vor dem friedloſen Zuftande 
gefichert, wenn fie ihre Verpflichtungen gegen fie nicht brechen. Der, welcher 
feine Zuſage bricht, der Verbrecher, wird dem vogelfreien Zuftande zurückgegeben, 
der den Ausſchluß von der Geſellſchaft mit fi führt. 

Da Nietzſche mit feinem ausſchließlich pſychologiſchen Intereſſe allen ge- 
Iehrten Apparat liegen läßt, können feine Behauptungen nicht direct controlirt 
werden. Man findet bei Rée in feinen Paragraphen über Rachluſt und Ge— 
rechtigkeitägefühl und in dem Abjchnitt über das Abkaufen der Rache, das Aus— 
gleichen durch Bußen, die hiftoriichen Data gefammelt. 


76 Deutſche Rundſchau. 


Andere Denker als Nietzſche (ſo E. von Hartmann und Rée) haben die 
Auffaſſung beſtritten, daß die Gerechtigkeitsider aus der Rachſucht entſtehe, und 
Nietzſche hat kaum ein neues, überzeugendes Argument zu Tage gefördert; aber 
das für ihn als Schriftſteller Eigenthümliche iſt das Uebermaß perſönlicher 
Leidenſchaft, womit er gegen dieſen Gedanken proteſtirt, augenſcheinlich aus dem 
Grunde, daß derſelbe dem modernen, demokratiſchen Gedankengange geläufig iſt. 

In vielen modernen Forderungen von Gerechtigkeit klingt ein Ton plebe— 
jiſchen Grolls und Neides mit. Unwillkürlich hat mancher moderne Gelehrte 
von bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Abſtammung etwas Größeres und Werth— 
volleres als vernünftig war, in den Rückſchlagsaffecten geſehen, die dem lange 
Unterdrückten eigenthümlich ſind, wie Haß, Groll, Neid, Rachſucht. 

Nietzſche beſchäftigt ſich nicht einen Augenblick mit dem Zuſtande, in dem die 
Rache als einziges Strafrecht fungirt; denn die Blutrache iſt ja kein Ergebniß 
von Sklavenhaß gegen den Herrn, ſondern von Ehrbegriffen unter Ebenbürtigen. 
Er verweilt ausſchließlich bei dem Gegenſatz zwiſchen der herrſchenden und der 
unterworfenen Kaſte und nährt eine ſtets aufs Neue hervorbrechende Erbitte— 
rung gegen Theorien, welche die unter den Mitlebenden, die mit dem Fort— 
ſchritt ſympathiſiren, nachſichtig gegen die plebejiſchen Inſtincte und ftatt deſſen 
mißtrauiſch oder feindlich geſinnt gegen die Herrſchergeiſter gemacht haben. Seine 
rein perſönliche Eigenthümlichkeit, das Unphiloſophiſche und Temperamentbeſtimmte 
an ihm, verräth ſich indeſſen in dem Zuge, daß er, der nur Haß und Verachtung 
für die unterdrückte Kaſte oder Raſſe, für ihre „Rancune“ und die aus einge— 
klemmtem Neid entſpringende Sklavenmoral hat, in der Machtfreude der herrſchen— 
den Kaſte förmlich ſchwelgt, die Atmoſphäre von Geſundheit, Freiheit, Offen⸗ 
heit und Wahrhaftigkeit, in der ſie lebt, nicht genug preiſen kann. Ihre Ueber— 
griffe entſchuldigt oder vertheidigt er. Das Bild, das fie ſich von der Sklaven— 
kaſte macht, findet er bei Weitem nicht ſo falſch, wie dasjenige, das dieſe ſich 
von der Herrenkaſte bildet. 

Auch nit von wirtlichem Unrecht, das diefe Kafte begangen, kann für ihn 
im Exnfte die Rede fein. Denn an und für fich gibt e8 weder Recht noch Unrecht. 
Un und für fich ift ein Schadenzufügen, ein Vergewaltigen, Ausnuben, Bernichten 
fein Unrecht, kann kein Unrecht fein, da das Leben in feinem Wejen, in feinen 
Grundfunctionen nicht al3 lleberwältigen, Ausnutzen, Vernichten ift. Rechts— 
zuftände können nie etwas Anderes al3 Ausnahmezuftände fein, nämli ala 
Einſchränkung der eigentlichen Lebensbegierde, deren Ziel Macht ift. 

Nietzſche erjeht den Echopenhauer’ihen „Willen zum Leben“ und den 
Darwin’shen „Kampf ums Dajein“ mit dem Ausdruck „Wille zur Mad“. 
Nicht um das Leben, das bloße Leben wird nad feiner Auffaffung gekämpft, 
fondern um die Macht. Und er hat viele — wenig treffende — Worte 
darüber, was für Heine und ärmliche Verhältniffe die Engländer vor Augen 
gehabt haben müſſen, die den Begriff „struggle for life“ mit feiner Genügjamteit 
aufftellten. Es kommt ihm vor, als hätten fie fi) eine Welt gedacht, in welcher 
Jeder froh ift, wenn er nur das Leben friften kann. Aber dag Leben ift ja 
nur der Minimumausdrud, An ſich fordert das Leben nicht bloß Selbit- 
bewahrung, jondern Selbftvermehrung, und ſolchermaßen ift es gerade „Wille zur 


Ariftofratifcher Radicalismus. 177 


Macht“. Es Ieuchtet übrigens ein, daß fein Grundunterſchied zwiſchen dem 
neuen und dem alten Kunſtwort vorhanden ift; denn der Kampf ums Dajein 
führt nothwendiger Weile den Kampf der Mächte und den Kampf um die Macht 
mit ſich. Nun ift eine Rechtsordnung, von diefem Geſichtspunkte gejehen, ein 
Mittel im Kampf der Mächte. Als fouverän, als Mittel gegen allen Kampf 
überhaupt gedacht, wäre fie ein lebensfeindliches, ein die Zukunft und den Fort— 
fchritt des Menſchen niederbrechendes Princip. 

Etwas Aehnliches meinte ſchon Laffalle, al3 er den Ausſpruch that, der 
Rechtsſtandpunkt fei ein jchlechter Standpunkt im Leben der Vöolker Das für 
Niebiche Bezeichnende ift die Freude über den Kampf als foldhen im Gegenfaß 
zur Betrachtungdiweije de modernen Humanismus. Für Nieiche mißt fich die 
Größe eines Fortjchritt3 daran, wieviel ihm geopfert werden muß. Die Hygieine, 
die das Leben in Millionen ſchwacher und unnützer Weſen aufrecht erhält, die 
eher fterben jollten, iſt für ihn fein wirklicher Fortſchritt. Ein Durchſchnitts— 
glüd der Mittelmäßigfeit, da3 der größtmöglichen Anzahl ber elenden Gejchöpfe 
gefichert würde, die wir heutzutage Menſchen nennen, wäre für ihn fein wirt: 
licher Fortichritt. Aber für ihn, wie für Menan, würde die Erziehung von einer 
ftärferen, höheren Menfchenart, als die, welche und umgibt („der Uebermenſch“), 
jelbft wenn fie nur dadurch erreicht werden könnte, daß Maſſen von Menichen, 
wie wir fie kennen, hingeopfert werden müßten, ein großer und wirklicher Fort— 
ſchritt fein. Nietzſche's mit vollem Ernft ausgeſprochene Zufunftsphantafien über 
die Erziehung des Uebermenſchen und deſſen Ergreifen der Macht auf Erden, 
haben eine ſolche Achnlichkeit mit Renan’3 halb ſcherzend, halb ſteptiſch ent- 
mworfenen Träumereien don einem neuen Asgaard, einer wirklichen Fabrik von 
Ajen (Dialogues phil. 117), daß man kaum an einer Beeinfluffung zweifeln 
fann. Nur, daß Renan unter dem übertwältigenden Eindrud der Commune 
in Paris in Dialogform jo jchrieb, daß Pro und Contra zu Worte kommen, 
während bei Nieiche der leichte Traum fich zu einer dogmatifchen Ueberzeugung 
fryftallifirt hat. Es verwundert und verleßt daher ein wenig, daß Nietzſche nie 
andere Aeußerungen als antipathifche über Nenan vorbringt. Er berührt kaum 
feine geiftesariftofratifche Tendenz, aber er verabjcheut die Ehrfurcht vor dem Evan- 
gelium der Demüthigen, die Nenan überall an den Zag legt und die freilich in 
einem gewiflen Streit mit der gehofften Errichtung einer Brutanftalt für Ueber: 
menſchen fteht. 

Renan und Taine nad ihm Haben fich gegen die faft religiöjfen Gefühle ge- 
wandt, die im neuen Europa lange für die franzöfiiche Revolution genährt 
wurden. Renan hat früh aus nationalen Gründen die Revolution bedauert, 
Taine, der urfprünglich mit ihr ſympathiſirte, ſchlug nad gründlicherem Studium 
um. Niebiche geht in ihren Spuren. Es ift natürlich, daß moderne Schrift- 
fteller, die fi) als Kinder der Revolution fühlen, Sympathie hegen für die 
Männer der großen Empörung, und ficher find viele von ihnen nicht zu ihrem 
Recht gefommen unter der gegenwärtigen, antirevolutionären Stimmung in 
Guropa. Aber die Schriftjteller haben u. A. in ihrer Scheu vor dem, was 
in dem politifchen Jargon Cäſarismus genannt wird und in ihrem Aberglauben 
an Mafjenbeiwegungen überjehen, daß die größten Empörer und Befreier nicht 


78 Deutiche Rundſchau. 


die vereinten Kleinen find, jondern die wenigen Großen; nicht bie Heinen Miß— 
gönner, fondern die großen Gönner, die den Anderen Recht, Wohlergehen und 
geiftiged Wachsſthum gönnen. 

Es gibt zwei Klafjen revolutionärer Geifter, die, welche fich inftinctiv zu 
Brutus und die, welche ſich ebenfo inftinctiv zu Cäſar gezogen fühlen. Cäſar 
ift der große Typus; Friedrich II. und Napoleon beſaßen jeder nur eine Gruppe 
feiner Eigenſchaften. Die moderne Freiheitspoeſie aus den vierziger Jahren 
wimmelt von Lobgefängen auf Brutus. Aber fein Dichter hat Cäſar befungen. 
Selbft ein jo antidemokratiicher Dichter wie Shakeſpeare war ganz ohne Blid 
für feine Größe, verherrlichte Brutus nad der Vorſchrift Plutarh’3 auf feine 
Koften und gab die Geftalt Cäfard in einer bloßen Karikatur. Nicht einmal 
Shafejpeare hat verftanden, daß Cäſar einen ganz anderen Einſatz auf den Tiſch 
des Lebens legte, al3 fein armer Mörder. Cäſar ftammte von Venus ab, feine 
Form war Anmuth. Sein Geift hatte die große Einfachheit, die da3 Merkmal 
der Größften ift; jein Wejen war Adel. Er,nad) dem noch heute alle höchſte Macht 
ihren Namen trägt, konnte Alles, wußte und fannte Alles, was ein Heerführer 
und Herricher erften Ranges fönnen und kennen muß. Nur einige Männer der 
italienifhen Nenaiffance haben fich zu einer ſolchen Höhe von Genie erhoben. 
Für alle Fortichritte, die fih in jenen Tagen ausführen ließen, war fein Leben 
Bürgihaft. Brutus’ Wefen war Doctrin, fein Merkmal die Beſchränktheit, die todte 
Zuftände zurückführen will und die Vorbedeutung einer Berufung in der Zu— 
fälligkeit eines Namens fieht. Sein Stil war troden und angeftrengt, fein Geift 
unfruchtbar. Sein Lafter war Habgier, Wucher feine Luft. Fir ihn waren die 
Provinzen rechtloſe Eroberungen. Er ließ fünf Senatoren in Salamin Hungers 
fterben, weil die Stadt nicht bezahlen Eonnte. Und diefer unfruchtbare Kopf ift 
twegen eines Dolchftoßes, der nicht? ausrichtete und nicht? von dem verhinderte, 
was er verhindern jollte, eine Art Genius der freiheit geworden, nur weil man 
nicht verftanden hat, was Ausftattung der ftärkften, reichften, adeligen Natur 
mit ber höchſten Machtfülle bedeutet. 

63 läßt fih aus dem Angeführten leicht verftehen, daß Nietzſche die Gerech— 
tigfeit allein aus activen Gemüthsbewegungen ableitet, da die Rückſchlagsgefühle 
fiir ihn immer niedrige find. Auf diefem Punkte hat er fich indeffen nicht auf- 
gehalten. Die Aelteren hatten in dem Vergeltungstrieb den Urſprung der Strafe 
gejehen. Stuart Mill Hatte in feiner Nützlichkeitsmoral die Gerechtigkeit von 
der bereit3 angeführten Strafbeftimmung (justum von jussum) abgeleitet, bie 
Sicherheitämaßregel, feine Vergeltung war. Rée hat in feinem Buche vom 
„Uriprung des Gewiſſens“ den verwandten Sab vertheidigt, daß die Strafe feine 
Trolge des Gerechtigkeitsgefühls, jondern das Gerechtigkeitägefühl eine Folge der 
Strafe ſei. Die engliihen Philofophen im Allgemeinen leiten das böfe Ge 
willen von der Strafe ab. Ahr Werth joll darin beftehen, das Gefühl bes 
Vergehens im Schuldigen zu erwecken. 

Hiergegen proteftirt Nietzſche. Er behauptet, daß die Strafe den Mtenfchen 
nur verhärtet und fühlt, ja daß der Verbrecher jogar durch die Gerichtshandlung 
ihm gegenüber daran verhindert wird, fein Thun als verwerflich zu betrachten; 
denn er fieht genau diejelben Handlungen, welche er begangen: Spionage, allen: 


Ariftofratiicher Radicalismus. 79 


legen, Ueberliften, Qualzufügen, im Dienfte der Juftiz gegen ich ausgeübt und dann 
gebilligt. Während langer Zeiten kümmerte man fi) auch gar nidht um die 
Eünde des Verbrechers, man betrachtete ihn nur als ſchädlich, nicht als ſchuldig, 
jah in ihm ein Stüd Schickſal, und der Verbrecher feinerjeit3 nahm die Strafe 
auch al3 ein Stück Schickſal, das über ihn hereinbrach und trug fie mit dem— 
jelben Fatalismus, mit dem die Ruffen noch heutzutage leiden. Im Allgemeinen 
kann man jagen, die Strafe zähmt den Menſchen, fie beifert ihn nicht. 

Der Urfprung des böſen Gewiſſens ift alfo noch unerklärt. Niebiche ftellt 
folgende geniale Hypotheje auf: Das böje Gewiſſen ift der tiefgehende Krank— 
heit3zuftand, der im Menfchen unter dem Drud der gründlichften Veränderung 
zum Ausbruch kam, die er überhaupt durchgemacht, nämlich da er fich endgültig 
in eine Geſellſchaft eingefperrt fand, die gefriedet war. Alle die ftarfen und 
wilden Triebe, wie Unternehmungsluft, Tollkühnheit, Verſchlagenheit, Raubjucht, 
Herrſchſucht, die bis dahin nicht bloß geehrt, jondern förmlich aufgezüchtet worden, 
wurden plößlich als gefährlich geftermpelt und ſchrittweis al3 unſittlich und ver- 
brecheriſch gebrandmarkt. Weſen, die zu einem umberftreifenden, Eriegerifchen 
Abenteurerleben paßten, ſahen auf einmal alle ihre Inſtincte als werthlos, ja 
al3 verboten bezeichnet. Ein ungeheurer Mißmuth, eine Niedergefchlagenheit ohne 
Gleichen bemädhtigte ſich ihrer. Und alle die Inftincte, die fih nicht nach außen 
Luft machen durften, wandten ſich nun nad) innen, gegen den Menſchen jelbft: 
das Feindichaftsgefühl, die Graufamfeit, der Drang nad) Abwechſelung, Wage- 
fpiel, Ueberfall, Verfolgung, Verwüſtung — da entftand da3 böje Gewifjen. 

Als der Staat errichtet wurde — nicht durch einen Gejelichaftsvertrag, wie 
Rouſſeau und feine Zeitgenoffen vorausſetzten — ſondern dadurch, daß eine 
Erobererraſſe mit furchtbarer Tyrannei auf eine zahlreichere, aber unorganiſirte 
Bevölkerung niederſchlug — da wandten ſich alle die Freiheitsinſtinkte derſelben nach 
innen; die active Kraft, die Begierde nach Macht kehrte ſich gegen den Menſchen 
ſelbſt. Und in dieſem Erdreich ſprießen dann die Schönheitsideale: Selbſt— 
verleugnung, Selbſtaufopferung, Uneigennützigkeit empor. Die Luſt an der 
Selbſtaufopferung iſt in ihrem Keim eine Art Grauſamkeitsdrang; das böſe 
Gewiſſen iſt die Begierde nach Selbſtmißhandlung. 

Man fühlte nun nach und nach das Verbrochene als eine Schuld, Schuld 
gegen die Vorzeit, die Vorfahren, welche durch Opfer bezahlt werden mußte, — 
anfangs durch Nahrung im gröbſten Verſtand — durch Ehrenbezeugungen und 
durch Gehorſam; denn alle Gebräuche ſind als Werke der Vorväter auch ihre 
Befehle!). Man lebte in einer ewigen Angst, ihnen nicht genug zu geben, man 
opferte ihnen das Erftgeborene, den Erftgeborenen. Die Furcht vor dem Stamm— 
vater ftieg in dem Maße, wie die Macht des Geſchlechts zunahm. Bisweilen 
wird er zum Gott umgeſchaffen, wobei der Urſprung des Gottes aus der Furcht 
deutlich zu erkennen ift. 

Das Schuldgefühl gegen die Gottheit ift Jahrhunderte hindurch ftetig ge— 
jtiegen, bis die Anerkennung der hriftlichen Gottheit als Univerjalgott ein Mari» 
mum von Schuldgefühl zum Ausbruch brachte. Erſt in umferen Tagen jpürt 


ı) Man vergleiche Lafjalle'3 Theorie bes römiſchen Teſtaments. 


80 Deutſche Rundſchau. 


man ein merkbares Abnehmen dieſes Schuldgefühls; aber wo das Sündenbewußt⸗ 
fein jeinen Höhepunkt erreiht hat, da hat das böfe Gewifjen um fich gefrefjen 
tie ein Krebs, indem das Gefühl der Schuld, für die Sünden unmöglid Ge— 
nüge thun zu können, das alleinherrfchende wurde, und dev Gedanke einer ewigen 
Strafe fi mit ihm verband. Der Stammvater (Adam) wird nun von einem 
Fluch getroffen gedacht, die Sünde ift Erbjünde. a, in der Natur jelbft, aus 
deren Schoß der Menſch hervorgeht, wird das böſe Princip verlegt: fie ift 
verflucht, verteufelt — bis wir vor dem paradoren Ausweg ftehen, in dem die 
gemarterte Menjchheit ein paar taufend Jahre Troft gefunden hat: Gott opfert 
fi) für die Menſchheit und macht fich bezahlt in feinem eigenen Fleiſch und Blut. 

Was Hier geichah, ift, daß der nad) innen gefehrte Graufamfeitstrieb ſich in 
Selbftpeinigung verwandelt hat und alle thierifche menschlichen Inſtincte ala Schuld 
gegen Gott gedeutet worden find. Jedes Nein, da3 dev Menſch zu feiner Natur, 
feinem wirklichen Weſen jagt, jchleudert er ala ein Ya, eine Wirklichkeitserklä- 
rung aus ſich Heraus, um die Heiligkeit des Gottes, fein Richteriwefen und dem— 
nächſt Ewigkeit, Jenſeits, Dual ohne Ende zu betätigen. 

Um das Entftehen der asketiſchen Ideale recht zu verftehen, muß man außer- 
dem bedenfen, daß die älteften Gejchlechter geiftiger und contemplativer Naturen 
unter einem fürdhterliden Druck von Geringſchätzung feitens der Jäger und Todt- 
ſchläger lebten. Das Unfriegerifche an ihnen war diefen verächtlich. Sie fonnten 
ſich nicht anders helfen, al3 indem fie Furcht erwedten. Das fonnten fie nur 
thun duch Graufamkeit gegen ſich felbit, durch Kafteiung und Selbftqual in 
einem Einfiedlerleben. Als Priefter, Wahrfager, Zauberer ſchlugen fie die Maſſen 
mit abergläubiichemn Entjeßen. Der asketiſche Priefter ift aljo für Nietiche bie 
bäßliche Larve, aus welcher der gejunde Denker fich entwidelt hat. Unter feiner 
Herrſchaft wurde unſere Erde der asketiſche Planet: ein Nabenneft im Himmels» 
raum, von mißvergnügten, hochmüthigen Gejchöpfen beivohnt, denen vor dem 
Leben efelte, die ihren Planeten als ein Jammerthal verabjdheuten und, von 
Unwillen gegen Schönheit und Freude erfüllt, fich jelbft joviel Böſes wie mög— 
lich zufügten. 

Nicht defto weniger ift der Widerfpruch, den wir in der Askeſe finden: Das 
Leben gegen das Leben gebraucht, nur ein jcheinbarer. In Wirklichkeit entſpricht 
das asketiſche deal dem tiefen Hang und Drang eines hinfiechenden Lebens nad 
Pflege und Heilung. Es ift ein deal, das auf Schwächung und Müpdigfeit 
hindeutet; auch mit feiner Hülfe fämpft das Leben gegen den Tod. Es ift ein 
Kunftgriff zur Selbfterhaltung des Lebens. Die Vorausſetzung dafür ift der 
Krankheitszuſtand des gezähmten Menjchen, der Ekel am Leben mit dem Wunſch, 
etwas Anderes zu fein, irgendwo anders zu fein, zur höchſten Innerlichkeit und 
Leidenschaft potenzirt. 

Der asketiſche Priefter ift die Verkörperung dieſes Wunſches. Kraft 
feiner Hält er die ganze Herde verftimmter, entmuthigter, verzweifelter, ver— 
unglüdter Weſen am Leben feft. Gerade weil ex jelbft frank ift, ift er ihr ge 
borener Hirte. Wäre er gefund, würde er fich mit Unwillen von all diejer Be— 
gierde abwenden: Schwäche, Neid, Pharifäismus, ſalſche Sittlichkeit ald Tugend 
umguftenpeln. Aber frank, wie er ift, ift er dazu berufen, Krankenwächter 


Ariftofratifcher Radicalismus. 81 


in dem großen Hojpital von Sündern und Sünderinnen zu fein. Er geht be- 
ftändig mit Leidenden um, die die Urfachen ihrer Qual außer ſich fuchen; er 
lehrt den Leidenden, daß die ſchuldige Urſache jeiner Qual er jelbit ift. So gibt er 
bem Groll des mißglüdten Menſchen eine andere Richtung, macht ihn ungefährlicher, 
indem er ihn nöthigt, einen großen Theil ſeines Grolls über fich felbft ergehen 
zu laffen. Einen Arzt kann man den asketiſchen Priefter eigentlich nicht nennen ; 
aber er mildert Leiden, erfindet Troſt jeder Art, bald Betäubungs-, bald Rei» 
zungsmittel. 

Sein Hauptmittel war immer, daß er das Schuldgefühl in Sünde um- 
deutete. Das innere Leiden wurde Strafe. Der Kranke wurde Sünder. Niebjche 
vergleicht den Unglücklichen, der diefe Erklärung jeiner Qual erhält, mit dem 
Huhn, um da3 man einen Kreideftrich gezogen. est kann er nicht weiter 
fommen. Wohin man während einer langen Reihe von Jahrhunderten fieht, 
dba fieht man den hypnotiſchen Blid des Sünder? — troß Hiob — auf bie 
Schuld ala die einzige Urſache des Leidens ftarren. Ueberall das böje Gewiſſen, 
die Geißel, da3 Bußhemd und Thränen und Zähneknirſchen und der Ruf: mehr 
Schmerz, mehr Schmerz! Alles diente dem asfetifchen Ideal. Und fo entftanden 
epileptiiche Epidemien, wie die der St. Beitötänzer und Flagellanten und die Heren- 
hyſterie und die großen Wtafjendelirien in extravaganten Sekten (die no in 
Phänomenen wie die Heildarmee u. dergl. jpufen). 

Das asketiſche Ideal hat noch feine wirklichen Angreifer, Leine beftimmten 
Verkündiger eined neuen Ideals. Inſofern als die Wiſſenſchaft jeit Copernicus 
ftet3 darauf ausgegangen ift, den Menjchen ihren früheren jtarfen Glauben an 
die eigene Bedeutung zu rauben, wirkt fie eher in Uebereinſtimmung mit ihm. 
Seine wirklichen Feinde und Untergraber hat das asketiſche Ideal zur Zeit im 
Grunde nur in Comödianten dieſes deals, in hHeuchleriichen WBerfechtern des— 
jelben, die das Mißtrauen dagegen erwecken und aufrecht erhalten. 

Da die Sinnlofigkeit der Leiden al3 ein Fluch empfunden wurde, gab das 
asketiſche Ideal ihnen einen Sinn; einen Sinn, der einen neuen Strom von 
Leiden mit fi führte, aber beifer war, al3 feiner. Ein neues deal ift gegen= 
wärtig im Begriff, fich zu bilden, ein deal, das im Leiden eine Lebensbedingung, 
eine Glüdsbedingung fieht und im Namen einer neuen Gultur dasjenige beftreitet, 
was wir bisher Gultur genannt haben. 


V. 

Es gibt unter Nietzſche's Werken ein ſonderbares Buch, das den Titel hat: 
„Alſo ſprach Zarathuſtra.“ Es beſteht aus vier Theilen, in den Jahren 1883 
bis 1885 geſchrieben, jeder Theil ungefähr in zehn Tagen, Abſchnitt nach Ab— 
ſchnitt auf langen Wanderungen erzeugt — „unter einem Gefühl von Inſpira— 
tion, als würde jeder Satz dem Verfaſſer zugerufen“, wie Nietzſche einmal in 
einem Privatbrief geäußert hat. 

Die Hauptperſon und Einiges in der Form iſt der Aveſta der Perſer ent— 
lehnt. Zarathuftra iſt der myſtiſche Religionsſtifter, der meiſt Zoroaſter genannt 
wird. Seine Religion iſt die Religion der Reinheit; ſeine Weisheit iſt leicht 
und freimüthig, wie die Weisheit deſſen, der gleich nach ſeiner — lachte; 


Deutſche Rundſchau. XVI. 7. 


82 Deutſche Rundſchau. 


ſein Weſen iſt Licht und Lohe. Der Adler und die Schlange, die beiden Thiere, 
die er bei ſich in ſeiner Berghöhle hat, das ſtolzeſte und das klügſte Thier, ſind 
alte perſiſche Symbole. 

Dieſes Werk enthält Nietzſche's Theorien ſozuſagen in Form von Religion. 
Es iſt der Koran, oder richtiger die Aveſta, die es ihm ein Bedürfniß war zu 
hinterlaſſen — dunkel und tief, hochfliegend und abftract, prophetiſch und zukunfts— 
trunken, bis an den Rand gefüllt mit dem Selbſt ſeines Urhebers, das wiederum 
ganz von fich ſelbſt erfüllt ift. 

Von modernen Werken, die dieſen Ton angeſchlagen und dieſen ſymboliſch— 
allegoriſchen Stil angewandt haben, find zu nennen Mickiewicz' „Buch der pol- 
niſchen Pilger“, Slowacki's „Anheli“ und „Das Wort eines Gläubigen“ 
von dem von Mickiewicz beeinflußten Lamennais. Aber alle dieje Bücher find 
bihliich) in ihrer Sprache. „Zarathuftra” dagegen ift ein Erbauungsbuch für 
freie Geifter. 

Niegiche jelbft ſtellt dieſes Werf am hödjften unter jeinen Schriften. Ich 
theile diefe Auffaffung nit. Die Einbildungskraft, von der er getragen wird, 
ift nicht geftaltenbildend genug, und eine gewiſſe Monotonie ift ungertrennlic 
von der arhaiftiichen, im Typen ſich bewegenden Darftellung. 

Aber es ift ein Buch für Diejenigen, welche die nur Gedanken enthaltenden 
Werke Niebiche'3 nicht zu bewältigen vermögen; e3 enthält alle jeine Grund» 
gedanken in rhetoriſch-dichteriſcher Form. Der Vorzug diejes Werkes iſt ein Stil, 
der vom erften bis zum lebten Worte volltönend, tiefflingend, ftarkftimmend ift; 
bie und da ein wenig ſalbungsvoll in jeinem ftreitbaren Urtheilen und Verurtheilen ; 
immer ein Ausdrud für Selbftfreude, ja Selbftberaufchung, aber rei an Fein— 
heiten, wie an Kühnheiten, ficher und zumeilen groß. Hinter diefem Stil Liegt 
eine Stimmung wie Windftille in einer Bergluft, die jo leicht, jo ätherrein ift, 
daß Feine Anſteckungsſtoffe in ihr vorhanden find, feine Bakterien in ihr ge 
deihen — und fein Lärm, fein Stank, fein Staub, fein Stein, fein Steg 
binaufreicht. 

Droben reiner Himmel, am Fuß des Berges dag freie Meer und drüber 
ein Lichthimmel, ein Lichtabgrund, eine Azurglode, die ſich ſtumm über braufende 
Waller und mächtige Bergrüden wölbt. Droben ift Zarathuftra mit fi 
allein, veine Luft in vollen tiefen Zügen athmend, allein mit der aufgehenden 
Sonne, allein mit dem Glühen des Mittags, das nicht die Friſche vermindert; 
allein mit den blinkenden, fprechenden Sternen der Nadıt. | 

Ein gutes, tiefes Buch ift 8. Ein Buch, Hell durch feine Lebensfreude, 
dunkel durch jeine Räthſelſprache, ein Buch für geiftige Bergſteiger und Wage- 
hälfe und für die nicht Vielen, die in der großen Menſchenverachtung aufgeübt 
find, die dad Gewimmel verabjcheut und in der großen Mtenjchenliebe, die nur 
darum jo tief verabjcheut,, weil ihr das Bild einer höheren tapfereren Menſch— 
heit vorſchwebt, die fie aufziehen und aufzüchten will. 

Zarathuftra ift hinaufgeflüchtet in feine Höhle auf dem Berge aus Ekel vor 
dem fleinen Glüd und den Eleinen Tugenden. Er hat gejehen, daß die Lehre der 
Menschen über Tugend und Zufriedenheit fie beftändig Kleiner macht: ihre Güte 
befteht meift darin, daß fie wollen, Niemand jolle ihnen Böſes thun, darum 


Ariftofratifcher Radicalismus. 83 


fommen fie den Anderen zuvor, indem fie ihnen etwas Gutes thun. Das ift 
Feigheit und wird Tugend genannt. Freilich greifen fie auch gerne an und 
ſchaden gerne, aber doch nur denen, die ein für allemal preisgegeben find, und 
denen man ohne Gefahr zu nahe treten darf. Das wird Zapferfeit genannt 
und ift nur noch tiefere ;yeigheit. Aber wenn Zarathuftra die feigen Teufel aus 
den Menſchen austreiben will, jo rufen fie ihm entgegen: „Zarathuftra iſt 
gottlo3.“ 

Er ift einfam, denn alle feine früheren Gefährten find von ihm abgefallen; 
die jungen Herzen twurden alt und nicht einmal alt, nur müde und träg, nur 
gemein — fie nennen da3, aufs Neue fromm geworden fein. „Um Licht und 
Freiheit flatterten fie einft, glei Mücden und jungen Dichtern. Gin wenig 
älter, ein wenig fälter, und jchon find fie Dunkler und Munfler und Ofenhoder.“ 
Sie haben ihr Zeitalter verftanden. Sie wählten Zeit und Stunde gut. „Denn 
eben twieder Fliegen die Nachtvögel aus. Die Stunde fam allem Lichticheuen 
Volke.“ 

Zarathuftra verabjcheut die große Stadt wie eine Hölle für Einfiedler- 
gedanken. „Alle Läfter und Lafter find hier zu Haufe; aber es gibt Hier aud) 
Zugendhafte, es gibt viel anftellige, angeftellte Tugend. Viel anftellige Tugend 
mit Schreibfingern und hartem Sitz- und Wartefleiſch.“ 

Und Zarathuftra verabſcheut den Staat, verabjcheut ihn wie Henrik Ibſen 
im Norden und tiefer als er. u 

Für ihn ift der Staat das fältefte aller alten Ungeheuer. Seine Grund» 
Lüge ift, daß er dad Volk ift. „Nein, fchaffende Geifter waren es, die das 
Bolt ſchufen und ihm einen Glauben und eine Liebe gaben; jo dienten fie dem 
Leben; jedes Volk ift eigenthümlich, aber der Staat ift überall glei.” Staat 
ift für Zarathuftra das, „wo der langjame Selbftmord Aller Leben genannt 
wird“. Der Staat ift für die Vielzuvielen. Erſt wo der Staat aufhört, fängt 
der Menſch an, der nicht überflüffig ift; der Menſch, der die Brüde ift zum 
Uebermenſchen. 

Vor den Staaten iſt Zarathuſtra auf ſeinen Berg geflüchtet, in ſeine Höhle. 

An Schonung und Mitleid lag die größte Gefahr für ihn. Reich an den 
Kleinen Lügen des Mitleid lebte er unter den Mtenjchen. 

„Zerſtochen von giftigen Fliegen und ausgehöhlt, dem Steine glei), von 
vielen Tropfen Bosheit, fo jaß ich unter ihmen und redete mir noch zu: „une 
ſchuldig ift alles Kleine an feiner Kleinheit. Sonderlich die, welche ſich „Die 
Guten“ heißen, ftechen in aller Unſchuld, fie lügen in aller Unſchuld; wie ver- 
möchten fie, gegen mich gerecht zu fein?“ 

„Wer unter den Guten lebt, den lehrt Deitleid lügen. Mitleid macht dumpfe 
Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten nämlich ift unergründlich.“ 

„Ihre fteifen Weifen, ich hieß fie weile, nicht fteif. Ihre Todtengräber, ich 
hieß fie Forſcher und Prüfer — jo lernte ih Worte vertaufchen. Die Todten- 
gräber graben fid) Krankheiten an. Unter altem Schutt ruhen Ihlimme Dünfte. 
Auf Bergen ſoll man leben.“ 

Und mit jeligen Nüftern athmet er wieder Bergfreiheit ein. Erlöſt find 
nun jeine Athemzüge von dem Geruch alles Menſchenweſens. Da fit Zara— 

g* 


84 Deutſche Rundſchau. 


thuſtra mit den alten zerbrochenen Tafeln des Geſetzes und neuen halbbeſchriebenen 
Tafeln um ſich herum und wartet auf ſeine Stunde, die Stunde, da der Löwe 
kommt mit dem Taubenſchwarm, die Kraft mit der Sanftmuth, und ihm hul— 
digt. Und er reicht den Menſchen eine neue Tafel, auf der ſolche Lehren, wie 
diefe ftehen: 

Schone nicht deinen Nächften! Die große Liebe zu den Fernſten gebietet 
e3. Der Nächfte ıft ettvas, das überwunden werden muß. 

Sage nicht: Ich tue gegen Andere, wie ic will, daß Andere gegen mid) 
thun follen. Was du thuft, kann Keiner dir thun. Es gibt feine Wieder- 
vergeltung. 

Glaube nicht, daß du nicht rauben jolft. Ein Net, das du dir rauben 
kannſt, jollft du dir niemals ſchenken Laffen. 

Hüte dich vor den guten Menſchen. Sie jprechen nie die Wahrheit. Denn 
Alles, was fie böfe nennen: das verwegene Wagen, das lange Mißtrauen, das 
graufame Nein, der tiefe Efel vor den Menſchen, die Fähigkeit und der Wille, 
in Lebendige zu jchneiden, das Alles muß hinzu, wo eine Wahrheit geboren 
werden fol. 

Alles Vergangene ift preisgegeben. Aber da e3 jo ift, fünnte es gejchehen, 
daß der Möbel Herr würde und Alles in feinen flachen Waſſern erftictte, oder 
daß ein Gewaltherrjcher fih Alles zueignete. Darum bedürfen wir eines neuen 
Adels, der allem Pöbel und allem Gewaltherriichen Widerfacher ift, und der auf 
neue Tafeln das Wort fchreibt: edel. Sicherlich Feines Adels, den man kaufen 
fann, oder, deſſen Vorväter Kreuzzüge ind gelobte Land machten, oder befjen 
Tugend nur diejenige ift, das Vaterland zu Lieben. Nein, lehrt Zarathuftra, 
vertrieben jollt ihr fein von euren Vaterländern und von euren Großvaterländern 
und Urgroßvaterländern. Nicht eurer Väter Land jollt ihr Tieben, fondern eurer 
Kinder Land. Dieſe Liebe, das ift der neue Adel, die Liebe zu dem neuen Land, 
dem unentdedten, das fern liegt in dem fernften Meer. An euern Kindern follt 
ihr das Unglück gut machen, daß ihr eurer Väter Kinder ſeid. Alles Vergangene 
jollt ihr auf diefe Weiſe erlöfen. 

Zarathuftra ift voll von Milde. Andere haben gejagt: du jolft nicht ehe— 
brechen. Zarathuftra lehrt: die Redlichen ſollen zu einander jagen: „Laßt un 
zujehen, daß wir einander lieb behalten, laßt uns einander eine Friſt jeßen, 
damit wir verjuchen können, ob wir eine längere Frift wünſchen.“ Mas nicht 
gebogen werden kann, wird gebrodhen. Ein Weib jagte zu Zarathuftra: Wohl 
brad) ich die Ehe; aber zuerft brach die Ehe mid). 

Und Zarathuftra ift ohne Gnade. Es heißt: Stoße nit an den Wagen, 
der abwärts geht. Aber Zarathuftra jagt: was reif zum Hall ift, daran follt 
ihr ftoßen. Alles, was unferer Zeit angehört, fällt und verfällt. Keiner kann 
e3 aufhalten, aber Zarathuftra will noch danach ftoßen. 

Zarathuftra liebt die Zapferen. Aber nicht die Tapferkeit, die jeden Angriff 
beantwortet. Es gehört oft mehr Tapferkeit dazu, fich zurückzuhalten und vorbei= 
zugehen und fich für den würdigeren Feind aufzujparen. Zarathuftra lehrt nidt: 
Ihr jollt eure Feinde lieben, jondern: Ihr jollt euch nicht in Kampf mit Feinden 
einlaffen, die ihr veradhtet. 


Ariftofratifcher Radicaliamus. 85 


Warum jo Hart? rufen die Menſchen Zarathuftra zu. Er antwortet: 
warum fo hart, jprad zum Diamanten einft die Küchenkohle: find wir denn 
nicht Nah-Verwandte? Die Schaffenden find hart. Ihre Seligkeit ift, ihre Hand 
auf Zahrtaufende zu drüden wie auf Wade. 

Keine Lehre empört Zarathuftra mehr, ald die von der Eitelkeit und Be— 
deutungslofigteit des Lebens. Sie ift in feinen Augen alte Geſchwätz, Altweiber- 
geſchwätz. Und die Lehre des Peſſimismus von der überwiegenden Unluft ala 
Summe de3 Lebens ift Gegenftand feines entjchiedenen Abjcheues. 

Diejelbe ſchwärmeriſche Liebe zum Leben hat Niebiche in dem „Hymnus an 
das Leben” ausgeſprochen, den er jelbft für Chor und Orcheſter gejeht hat. Es 
beißt darin: 

Gewiß, jo liebt ein FFreumd ben Freund 

Wie ich dich Liebe, räthielvolles Leben, 

Ob ich gejauchzt in dir, geweint, 

Ob du mir Leib, ob du mir Luft gegeben. 
Ich liebe dich mit deinem Glüd und Harme, 
Und wenn du mich vernichten mußt, 
Entreiße ich mich ſchmerzvoll deinem Arme, 
Wie Freund ſich reiht von Freundes Bruft. 


Und das Gedicht jchließt: 
Haft bu fein Glück mehr übrig mir zu fchenten, 
MWohlan, noch haft du beine Bein. 

MWenn Achilles es vorzog, Tagelöhner auf der Erde, ftatt König im Reich 
der Schatten zu fein, jo ift die Aeußerung ſchwach und zahm im Vergleich mit 
dieſem Ausbruch von Lebensdurft, der in jeiner Paradorie felbft nach dem Kelch 
der Qualen lechzt. 

Eduard von Hartmann glaubt an den Beginn und das Ende des „Welt- 
procefje3“. Er meint, daß feine Ewigfeit Hinter uns liegen kann; ſonſt müßten 
ſchon alle Möglichkeiten eingetreten fein, wa3 — nad) feiner Behauptung — 
richt der Fall ift. Auch auf diefem Punkt in ſcharfem Gegenſatz zu ihm, lehrt 
Zarathuftra mit eigenthümlicher Myſtik das emige Wiederfommen, d. h. daß 
alle Dinge ewig zurüdfehren und wir jelbit auch, daß wir ſchon feit ewigen 
Zeiten geweſen find und alle Dinge mit und. Die große Uhr der Welt ift für 
ihn eine Sanduhr, ein Stundengla3, das fi) immer von Neuem umfehrt, um 
immer wieder auszulaufen. Es ift da3 genaue Gegenſtück zu Hartmann’ Welt- 
untergangälehre. 

Bei jeinem Tode wird Zarathuſtra jagen: nun ſchwinde und fterbe ih; in 
einem Nu bin ich nichts, denn die Seele ift fterblich, wie der Körper; aber der 
Knoten von Urſachen, in den ich Hineinverfnüpft bin, kehrt wieder und wird 
mich immer twieder hervorbringen. 

Am Schluß des dritten Theild von Zarathuftra ift ein Gapitel mit ber 
Ueberſchrift: „Das andere Tanzlied.“ Tanz ift in Nietzſche's Sprache immer der 
Ausdrud für den hohen Leichtſinn, der über der Erdenſchwere und über all dem 
dummen Ernft erhaben iſt. Dieſes in ſprachlicher Hinficht höchft merkwürdige 
Lied ift eine gute Probe des Stils in diefem Merk, wo er fich zu dem höchſten 


86 Deutiche Rundſchau. 


dichterifchen Flug erhebt. ZaratGuftra fieht das Leben vor fi als ein Weib; 
fie jchlägt Kaftagnetten) und er tanzt mit ihr, all jeinen Zorn auf das Leben 
und alle jene Liebe zum Leben hinausfingend: 

Wer haßte dich nicht, dich große Binderin, Umwinderin, Berjucherin, 
Finderin! Wer Tiebte dich nicht, dich unfchuldige, ungeduldige, windseilige, kinds— 
äugige Sünderin! 

In diefem Geſpräch zwiſchen dem Leben und jeinem Liebhaber, Tänzerin 
und Tänzer, fommen die Worte vor: O Zarathuftra, du Tiebft mid; bei Weiten 
nicht jo Hoch, wie du jagft, du bift mir nicht treu genug. Es gibt eine alte 
ſchwere Brummglocke; die brummt Nachts bis zu deiner Höhle hinauf. Hörft 
du die Glocde Mitternachts die Stunde ſchlagen, jo dentft du bis Mittag, daß 
du mich bald verlaffen willft. 

Und jo folgt zum Schluß das Lied der alten Mitternadhtsglode. Aber im 
vierten Bande des Werts, im Abjchnitt „Nachtwandlerlied“ wird Zeile für Zeile 
jene kurze Strophe gloffirt und commentirt, die halb wie ein mittelalterliches 
MWächterlied, halb wie der Pſalm eines Myſtikers geformt, die geheimnigvolle 
Stimmung in Nietzſche's Geheimlehre zur Fürzeften Formel zufammengedrängt 
enthält: 

Es geht gegen Mitternadht, und jo heimlich, jo jchredlich, jo herzlich, wie 
die Mitternachtsglode zu Zarathuftra redet, ruft er den höheren Menſchen zu: 
Um Mitternadt hört man Vieles, was am Tage nicht laut werden darf, und 
die Mitternadht ſpricht: O Menſch, gib Acht! 

Wo ift die Zeit Hin? Sankt ich nicht in tiefe Brunnen? Die Welt jhläft. 
Und kälteſchauernd fragt es: Wer joll der Erde Herr fein? Was ſpricht 
die tiefe Mitternadt? 

Die Glode brummt, der Holzwurm pickt, der Herzenswurm nagt: Ach! 
Die Welt ift tief. 

Aber die alte Glode ift wie ein Hangvolles Inſtrument; alle Qual bat fie 
ins Herz gebiffen, der Väter und der Urväter Schmerz und alles Glück hat fie 
in Schwingung gejeßt, der Väter und der Urväter Glück — es fteigt aus der 
Glode wie Ewigkeitsduft, ein roſenſeliger Goldweingerudy von altem Glüdf und 
diejes Lied: Die Welt ift tief und tiefer, als der Tag gedadt. 

Ich bin zu rein für die plumpen Hände des Taged. Die KReinften jollten 
die Herren der Erde fein, die Unerkannteften, die Stärkften, die Mitternachts 
feelen, die heller und tiefer find, als jeder Tag. Tief ift ihr Weh. 

Uber Luft geht tiefer, al3 Herzensqual. Denn die Qual ſpricht: brich mein 
Herz. lieg weg, meine Klage! Weh Sprit: vergeh! 

Doh Ahr höheren Menſchen! jagtet Ihr jemals Ya zu einer Luft, jo jagtet 
Ahr auch Ja zu allem Wehe. Denn Luft und Qual find verfettet, verliebt in= 
einander, unzertrennlid. Und Alles beginnt von Neuem, Alles ift ewig, Denn 
alle Luft will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit. 

Alſo ift dies das Mitternachtslied: 

O Menſch! Gib Acht! 
Was fpricht die tiefe Mitternacht? 
Ich ſchlief, ich ſchlief — 


Ariftofratiicher Radicaliamus. 87 


Aus tiefem Traum bin ich erwacht. 
Die Welt ift tief 

Und tiefer alö der Tag gedacht. 
Tief ift ihr Weh — 

Luft — tiefer noch ala Herzeleid: 
Weh ſpricht: Vergeh! 

Doch alle Luſt will Ewigleit — 

— Will tiefe, tiefe Ewigkeit!” 


VI. 

So alfo ift er, diejer ftreitbare Myſtiker, Dichter und Denker, diefer Im— 
moralift, der nicht müde wird zu derfündigen. Kommt man zu ihm von den 
engliihen Philojophen, jo tritt man in eine ganz andere Welt hinein. Die Eng: 
länder find alle zufammen geduldige Geifter, deren MWejen auf Aneinanderreihen 
und Umjpannen einer Menge Kleiner Thatjachen ausgeht, um dadurch ein Gejeh 
zu finden. Die beften unter ihnen find ariftotelische Köpfe. Wenige fefleln per- 
fönlich, oder jcheinen als Perjönlichkeiten jehr zufammengejeßt zu fein. Sie wirken 
mehr durch dad, was fie thun, als durch das, was fie find. Nietiche dagegen 
ift (wie Schopenhauer) ein Errather, ein Seher, ein Künftler, weniger intereffant 
durch das, was er thut, als durch das, was er it. 

So wenig deutjch er ſich auch fühlt, jegt ex doch die metaphyfiiche und 
intuitive Ueberlieferung der deutſchen Philojophie fort und hegt den tiefen Wider: 
willen der deutſchen Denker gegen jeden Nütlichkeitsgefichtspunft. In feiner 
leidenſchaftlichen, aphoriftiichen Form ift er unbedingt original; durch feinen 
Gedanteninhalt erinnert er hin und wieder an viele Andere, ſowohl in dem Deutſch— 
land, wie in dem Frankreich dev Gegenwart; ex hält es indeffen augenicheinlich für 
rein unmdglih, daß er einem Zeitgenofjen etwas zu danfen habe, umd zürnt 
gegen Alle, die ihm in dem einen oder anderen Punkte gleichen. 

Es iſt Schon berührt worden, in wie hohem Grade er an Ernejt Renan 
durch feine Auffaffung der Cultur umd feine Hoffnung auf eine Geiftesariftofratie, 
welche die Herrichaft der Erde ergreifen könnte, erinnert. Nichtsdeftoweniger hat 
er nie ein anerfennendes Wort für Renan übrig. 

Es ift gleichfalls berührt worden, daß er in feinem Kampf mit der Schopen- 
bauer’schen Mitleidsmoral Eduard von Hartmann zum Borgänger hat. In 
dieſem Schriftfteller, deifen Ernft und großes Talent unbeftreitbar find, will 
Nietzſche nach Art einiger deutfcher Univerfitätslchrer mit unkritiicher Ungerechtig- 
feit einen Charlatan fehen. Hartmann’s Wefen befteht aus ſchwereren Stoffen, al3 
das Nietzſche's. Er ift ſchwerfällig, ſuffiſant, grundgermaniſch und endlich, im 
Gegenſatz zu Nietzſche, ganz unberührt von franzöfifchem Geift und jüdlichem 
Sonnenbrand. Aber es gibt Berührungspuntte zwiſchen ihnen, die auf den 
biftorifchen Verhältniffen in dem Deutichland beruhen, das fie Beide erzogen hat. 

In erfter Linie ift etwas Gleichartiges in ihrer Lebensftellung, da fie Beide 
al3 Artillerieofficiere diejelbe Schule durchgemacht Haben; demnädft in ihrer 
Bildung, infofern fie beide von Schopenhauer ausgegangen find und nichtsdejto- 
weniger große Ehrerbietung für Hegel bewahrt haben, aljo diefe beiden feindlichen 
Brüder in ihrem Gultus vereinen. Weiter ftimmen fie in ihrer gleich fremden 


88 Deutſche Rundichau. 


Stellung zur chriſtlichen Neligiofität und criftlichen Moral überein, ebenjo in 
ihrer ganz modern deutfchen Geringſchätzung dev Demokratie. 

Nietzſche gleiht Hartmann in feinen Angriffen auf Anardiften und Socia— 
liften, nur daß Hartmann’3 Haltung hier wiſſenſchaftlicher ift, während Nietzſche 
fi in geſchmackloſer Weife darin gefällt, von den „anardiftiichen Hunden“ zu 
ſprechen und das in demſelben Athemzug, in dem er Abjcheu für den Staat hegt 
und ausſpricht. Nietzſche gleicht Hartmann weiter in feiner immer wieder— 
fehrenden Aufweiſung der Unmöglichkeit des Gleichheitsideal3 und des Friedens— 
ideal3, da das Leben nichts ala Ungleichheit und Krieg ift. — „Was ift gut? 
tapfer zu fein ift gut. Nicht die quite Sache heiligt den Krieg, jondern der gute 
Krieg heiligt jede Sache.“ Wie fein Vorgänger verweilt er bei der Nothiwendig- 
feit des Kampfes um die Macht und bei dem vermeintlichen Gulturnußen des 
Krieges. 

Sin dieſen beiden, doch verhältnigmäßig jo unabhängigen Schriftftellern, von 
denen der eine ein myſtiſcher Naturphilofoph, der andere ein myftiicher Immoraliſt 
ift, Spiegelt fi der in dem neuen deutichen Reiche vorherrichende Militarismus. 
Hartmann nähert ſich auf vielen Punkten dem gewöhnlichen deutjchen Nationale 
gefühl. Nietzſche fteht in principiellem Streit fowohl mit ihm wie mit dem 
leitenden Staatsmann Deutjchlands; aber etwas von Bismarck's Geift Liegt 
gleichwohl über den Werfen beider Männer. Was die Kriegsfrage angeht, jo 
iſt der Unterſchied zwiſchen ihnen nur der, daß Nietzſche den Krieg nicht um einer 
phantaftiichen Welterlöfung willen liebt, fondern damit die Mannheit nicht aus 
der Welt verſchwinde. 

In feiner Geringihäßung des Weibes, feinem Schmähen ihrer Befreiungs- 
verfuche begegnet ſich Nietiche wieder mit Hartmann, doch nur inſoweit Beide 
hierin an Schopenhauer erinnern, defjen Schüler auf diefem Gebiet Hartmann 
it. Doch während Hartmann hier nur als Doctrinär mit einem gewifjen An— 
ftrih von Pedanterie auftritt, jpürt man bei Niebiche unter feinen Ausfällen 
gegen das weibliche Geſchlecht einen feinen Sinn für die Gefährlichkeit des Weibes, 
der auf jchmerzliche, perjönliche Erfahrung hindeutet. Viele Frauen ſcheint er 
nicht gekannt zu haben, aber die er gefannt hat, hat er augenscheinlich geliebt 
und gehaßt, doc am meiften geringgeihäßt. Immer wieder fommt er darauf 
zurück, twie ungeeignet der freie, genialiiche Geift für die Ehe iſt. Es liegt in 
diejen Aeußerungen an mehreren Stellen etwas ſtark Jndividuelles, jo beſonders 
in der hartnädig betonten Nothiwendigkeit vom einjamen Leben de3 Denkers. 
Was aber das weniger perfönliche Raifonnement über das Werb angeht, jo jpricht 
das altväteriiche Deutichland aus Niekihe wie aus Hartmann, Ddiefe Land, 
deffen Frauen Jahrhunderte hindurch, im Gegenjat zu den Frauen Frankreichs 
und Englands, auf das häusliche und ftreng private Leben hingerviefen waren. 
Man muß an diefen deutichen Schriftftellern im Allgemeinen anerkennen, daß fie 
Blick für den tiefen Gegenſatz und beftändigen Krieg zwiichen den Geſchlechtern 
haben, den Stuart Mill nicht jah und nicht verftand. Aber doch ift die Inge 
rechtigkeit gegen den Mann und die ziemlich flache Billigkeit gegen das Weib, 
in welche Mill’3 bewunderungswürdiger Befreiungsverjud zuweilen herausläuft, 
bei Weitem der brutalen Unbilligkeit Nietiche'3 vorzuziehen, der e8 behauptet, daß 


Ariftofratiicher Radicaliamus. 80 


wir in unjerer Behandlung des Weibes zu der „ungeheuern Vernunft de3 alten 
Afiens“ zurückkehren müfjen. 

In feinem Kampf gegen den Peſſimismus Hat Nietzſche endlich Eugen 
Dühring (befonder3 in defjen „Der Werth des Lebens“) zum Vorgänger, und 
diefer Umftand ſcheint ihm jo viel Unwillen, ja Verbitterung eingeflößt zu haben, 
daß er in einer bisweilen verftecten, bisweilen offenen Polemik Dühring als 
jeinen Affen bezeichnet. Dühring ift ihm ein Greuel, als Plebejer, al3 Antijemit, 
al3 Racheapoftel, ala Schüler von Gomte und den Engländern; aber Niebiche 
bat fein Wort übrig für das ſehr Bedeutende an Dühring, das nicht in Bes 
zeichnungen tie jene aufgeht. Man verfteht inzwijchen recht wohl, wenn man 
Nietzſche's eigenes Schickſal bedenkt, daß Dühring, der blinde Mann, der lange 
ignorirte Denker, der auf die officiellen Gelehrten herabfieht, der außerhalb der 
Univerfitäten lehrende Philoſoph, der, obwohl ihn das Leben jo wenig verwöhnt 
bat, jeine Liebe zum Leben laut befennt — vor Nietzſche wie feine eigene Carri— 
catur dafteht. Das jollte indeffen fein Grund für ihn fein, jelbft dann und 
warın den Dühring’shen Scheltton anzujchlagen. 

Merkwürdig ift e8, daß diefer Mann, der jo unendlich viel von franzöfiichen 
Moraliften und Piychologen wie La Rocefoucauld, Chamfort und Stendhal 
gelernt hat, fi) nur jo wenig von der Beherrihung in ihrer Form hat aneignen 
fönnen. Er ift dem Zwange nicht untertvorfen geweſen, den der Literariiche Ton 
in Frankreich Jedem Hinfichtlicd” der Erwähnung und Schilderung der eigenen 
Perfon auferlegt. Lange jcheint er dafür gekämpft zu haben, fich ſelbſt zu 
finden und ganz er felbft zu werden. Um ſich zu finden, kroch er in feine Ein— 
jamfeit wie Zarathuftra in feine Höhle hinein. Als es ihm gelungen war, zu 
einer ganz jelbftändigen Entwidlung zu gelangen und er den eigenthümlichen 
Gedankenborn reich in feinem Innern ftrömen fühlte, hatte er allen äußeren 
Maßſtab für feinen eigenen Werth verloren; alle Brüden zur umgebenden Welt 
waren abgebrochen. Daß die äußere Anerkennung ausblieb, fteigerte nur fein 
Selbftgefühl. Der erſte Schimmer einer Anerkennung von außen her, gab dieſem 
Selbftgefühl noch einen Hochdruck. Zuletzt ift es über feinem Kopf zuſammen— 
geichlagen und hat für eine Zeit lang diejen fo jeltenen und ausgezeichneten 
Geift verduntelt.!) Doch wie er im Augenblick in jenem unvollendeten Lebens- 
wert ausgeprägt dafteht, ift ex ein Schriftjteller, der e8 wohl verdient, ſorgſam 
ftudirt zur werden. 


1) In Niekidhe's vorlegtem Buch heißt ed: „Ich habe ben Deutichen die tiefften Bücher ges 
geben, die fie überhaupt befigen — Grund genug, daß die Deutichen fein Wort davon verftehen.“ 
In dem leßten heißt es: „Ich habe der Menfchheit das tieffte Buch gegeben, das fie beſitzt.“ 


Franz Pingelftedt. 
Blätter aus feinem Nadhlaf. 


— — — 


Mit Randbemerkungen 
von 


Julius Rodenberg. 


—ñ — 


II. Stuttgart. 
(1843—1851.) 


Der Vorabend der Revolution traf Dingelftedt in der heiterften Laune, 
zurücgefehrt von Wien, wo feine Gemahlin ihre alten Werehrer in einem Gaft« 
jpiel aufs Neue entzüdte. Dem Freund in Kaffel ſcheint e8 um dieſe Zeit nicht 
jo wohl gewejen zu jein: der Eingang nachfolgenden Briefed deutet ohne Zweifel 
auf eine3 jener Eleinen und Hleinlichen Scharmüßel, welche dem größeren und 
mannhaften Kampfe Friedrich Oetker's für feines Baterlandes Recht und Ver— 
fafjung vorangingen. Paris gährte ſchon und nur noch zwei Tage waren bis 
zum 24. Februar 1848, als Dingelftedt an Oetker jchrieb: 

In ber Hoffnung, daß deine Anrüchigkeit, ſehr ftänfriger Friedrich, durch die berühmte 
Erplofion vor Hohem Stadtgerichte, — ich lad fie meiner Frau in Wien vor, aus einer ver- 
botenen Zeitichrift, — ihre Endichaft gefunden hat, wage ich e8 mit gegenwärtigen Zeilen 
wieberum an bich zu treten. 

Erſchrick nicht, waderer Kurheſſe, dad Couvert kann nicht geöffnet worden fein vor bir; 
es ift Öfterreichifches Privilegiumsd: Eouvert. 

Sechs Wochen in Wien, vom 17. Nov. bi 10. Jan., vergingen mir wie ein Rauſch. 
Fritz, was ift diefer Ort 1) ſchön und 2) angenehm — mit a, «, V ad libitum auszuführen. 
Ah ſchwamm einmal wieber in meinem Glemente, mwieber oben auf, getragen von einer großen 
Stabt, gehätfchelt von ordentlichen Leuten, mit meiner waderen Frau und durch fie populär ge: 
worden. Es war eine göttliche Zeit. 

Kabenjammer und Nüchternheit kommen nun Hinterbrein, wie natürlich, wie nothwendig. 
Ach ftrohwittwere mit einer Tante und mit meinem ungeichlachten Buben, der bald 2 Jahr alt 
wird, — während Jenny und Jella noch in Wien find. Das Geſchäft geht gut, vortrefflich 
fogar; Wien ift über alles Erwarten eingefchlagen, Prag, Dresden, frankfurt, Mannheim, Ham- 
burg drängen ſchon mit Einladungen heran. Ta der große Schritt einmal geſchah, glüdlich 
geihah, wollen wir auch alles mitnehmen, was am Wege liegt. Diefen Sommer ruhen wir in 
Helgoland 4 Wochen aus und fangen im Herbft in Berlin auf's Neue an. Ich ruhe nicht eher 
bi3 meine 200,000 fl. voll da find. Eo lange mag und muß mein braves Weib noch kämpfen. 


Franz Dingelftedt. 9] 


Ich gehe ab und zu bei ihr, wie eö ber Urlaub geftatten will; ein Leben das bei aller Zerfah: 
renheit und Halbheit auch feinen Reiz hat. Die Ehe verjüngt ſich auf diefe Art immer twieber, 
und ber fünftleriiche Nimbus giebt ihr einen anregenden Hintergrund. Ich bin meiner quten 
Heinen Fran gewiß, und fo find alle Theile zufrieden geftellt. Ohne Kummer und Ärger geht's 
freilich nicht ab; allein hab’ ich den nicht Hier auch, hatt’ ich ihm nicht in Kaſſel, in Fulda? 
Soll's einmal Sturm fein, lieb’ ich ihn im offenen Meer, nicht im Sumpfe. Und vielleicht find’ 
ich auf meinen neuen Irrfahrten einen Hafen, ber mir beffer zufagt ala Stuttgart. Wien? Ta 
iſt's für unfer einen noch nicht Zeit. Berlin? Wollen ſehen! Ich fange an zu begreifen, daß 
Jenny und ich eigentlih nur in einer biefer beiden Stäbte leben lönnen, wenn’s einmal in 
Deutichland gelebt fein muß. 

Don Dir, Herbold I1.*), erwarte ich einen „Zuzug“, fobald du meine frau oder mich ein- 
mal in beiner Nähe fcheinen ſiehſt. Jenny fingt im April in Frankfurt; jehen wir und ihren 
unvergleichlichen „LZiebestrant* einmal an? Ober im hohen Sommer Hamburg, ein paar Abende 
auf Sathorn, am Falın, bei Mr. Mohr, ein paar Morgen auf der Düne? Mit Stalien iſt's 
nichts, Wir zwei haben fein Glück: Du, Barbaroffa, wirft dich dort fchwerlich für einen ſchwarz— 
augigen Enkel Gicero’3 ober Cicerucchio's auägeben fönnen, fie zerreißen dich, wenn bu bich fehen 
läßt. Ich follte voriged Jahr und dann bdiefes mit meinem König hingehen, nun kann ber 
Selbft nicht, der Berhältniffe wegen. Wir müfjen, Du und Ich, ausgezeichnete Zukünfte in ber 
deutſchen Gejchichte haben, dab uns das Geſchick vor dem tragifchen Ende der Hohenftaufen fo 
bartnädig ſchützt! 

Ohne Spaß, welches find beine Sommerplane? Oder fibeft du noch tief im Winter: 
geipinnfte? Alles, was Du willft; nur ſprich mir nicht wieber von Krankheit. Das ift eine Ein» 
bildung. Sieh’ mid an; jeit ich Lebe, bin ich gefund. So lang’ ed dauert, meinethalben; ich 
bin es doch, und ich lebr. 

Mein Hans hat Luft Heilen zu fehen, und ich habe fie Euch gewifler Maßen vor achtzehn 
Monaten veriprocden. Natürlich, daß fie in Kaſſel nicht für Geld Komödie fpielen würde. Wir 
fämen, auf bem Hin» ober Herwege, als particuliers an und fliegen wohl am beften bei Ahl: 
born gleich ab? Glaubft Du, daß der jekige Hof uns jo aufnimmt, wie ber einftige mich, daß 
man für meine Frau in Wilhelmähöhe ebenfo ift wie in Scheveningen? Meinetwegen könnte fie 
auch einmal gaufeln, für irgend einen heffiichen „Zwed.“ Es würde mir Spaß machen, bie 
Kaſſelaner auch mit diefer Waffe zu erobern. 

Nach Rinteln gehen wir nicht, mein’ ich, jehen aber meinen Alten und Augufte in Bremen, 
Hannover, Köln, wo fie wollen. 

Ich made feine Verſe mehr, auch feine Profa, — außer Gelb, — jonft antwortete ich ?). 
Es war eine Kinderkrankheit, welche mir bie Arzte, die beutichen Literaten, abgewöhnt und aus: 
geheilt haben. Schade um das hübſche Talent, — das mir in drei Jahren fo viel abwarf, wie 
meine frau in drei Abenden erfingt! 

Dein Bruder? Die Deinigen? Deine „Stellung“? Die Heimath? 

Julius ift in Heidelberg zu den Schwaben gegangen. Er hätt’ es nicht nöthig gehabt. 
Als mein Bruder wär’ er ohnehin vor der berühmten QDuarantaine nicht vernünftig geworben. 
Ich bin 34, — merkſt Du die Nähe des großen Stufenjahres nicht? ! 

Lebe wohl! Schreib’ mir bald, und bleibe gut 

22. Febr. 48. Deinem Franz. 


Inzwiſchen war der Ausbruch erfolgt. Wer von der älteren Generation, 
die damal3 jung war, jener wunderbaren Februar: und Märztage fich erinnert, 
dem mag es wohl noch einmal wie Frühlingsſchauer durch die Seele braufen; 
und damals war e8 au, daß ich, ein Schüler des Nintelner Gymnafiums, in 
welchem zwanzig Jahre vor mir Dingelftedt und Oetker gejeffen, auf den Straßen 


1) Herbold, ein Küfermeifter in Kaffel, war bie populäre Perjon der Bewegung von 1831, 
welche dem Lande die DVerfaffung brachte. 
2, &3 handelte fich hier um einen neuen Angriff gegen ihn, diesmal aus Dresden, von Kühne. 


02 Deutſche Rundſchau. 


und in den Volksverſammlungen den Namen zuerſt hörte, der von nun ab als 
der des angeſtammten Vertreters der heimathlichen Grafſchaft aus der Geſchichte 
des heſſiſchen Verfaſſungskampfes und ſpäter der Einigung Deutſchlands nie mehr 
verſchwinden wird. Dingelſtedt, den Dichter, kannte ich längſt aus unſeren 
Schulbüchern, in welchen ſein Lied von der Weſer und die Ballade vom Scharffen— 
jtein einen Ehrenplaß hatten; aber auch Oetker follte ich jeht näher treten, und 
nicht ohne Rührung kann ich heute, nad) fo vielen Jahren, den darauf bezüglichen 
Paſſus in feinen „Lebenserinnerungen“ (I, 310) lefen: „Von jüngeren Kräften 
nenne ich beſonders“ — hier befindet fich mein Name — „der im Unterhaltung3- 
blatte wohl zum erften Dale feine Schwingen regte. Er war noch Gymnafiaft 
in Rinteln und jandte ein Gediht auf Robert Blum, das zwar über den 
politiſchen Standpunkt der Zeitung Hinausflog, aber doch mit einer kleinen Ver: 
wahrung anerfennend zum Abdrud gebracht wurde.” Das genannte Blatt war 
die belletrijtiiche Sonntagdbeilage zur „Neuen Heſſiſchen Zeitung“, welche, damals 
von Detfer begründet, die Geſchicke des Herausgebers theilte, nad) defjen Heim» 
fehr aus dem Eril aber, als „Heſſiſche Morgenzeitung“ wieder auflebend, lange 
noch eine Macht mar in unjerem engeren Baterlande. Von welcher Art die 
nächſte Wirkung der unerwarteten Erplofion auf Dingelftedt war, geht aus fol- 
gendem Brief an Vogel hervor: 
St. 12. März 48. 

Wie magft Du glauben, ich hätte in folcher Zeit ein Gedächtnis für alten Hader, alte 
Misverftändniffe? Bleibt mir doch kaum eines für älteſte Freundſchaften und nächfte Beziehungen. 
Jeder fteht eben auf fich, für fih, bis er — fällt. Ein neuer Tag, ein neuer Kampf. Ich 
wollt’ e8 wäre Abend und Schlafenäzeit. 

Suchſt Du Halt und Hilfe bei mir, fo bift Du fchledht berathen, armer Junge Meine 
Kinder durch den faft nothwendigen Staatsbankbruch in ſterreich — Bettler. Meine Stellung 
durch die politische Bewegung faft unhaltbar gemacht. Deine Stelle durch alle Eventualitäten 
bedroht. Ich Habe nur eine Ausſicht, und die ift verbaut nach vielen Seiten, büfter nad) allen: 
Rückkehr in die Literatur, Beichränkung in allem Leben. 

So ftehe ih. Was kann ich Dir fein, was Du mir? Die Welt geht in lauter Egoiämen, 
in Zweilämpfe und Maffentämpfe auf. Sauve qui peut! Ich fliehe nicht, weil es jeig wäre, jetzt 
feinen Poften zu verlaffen. Verläßt er mich, deſto beifer am Enbe. 

Meine arme, arme Frau zieht in der Welt umher und ſingt. Sie muß diefer Tage in 
Dresden eintreffen. Dort und in Prag feifeln fie eingegangene Berpflichtungen noch auf kurze 
Zeit. Dann kehrt fie hierher zurüd. Welches Wiederfehen, nach welchem Abichieb! Bor zwei 
Monaten verlieh ich fie in Wien auf der Höhe alten Glanzes, neues Glüdes, und heute — — 

Über der Einzelne hat fein Recht zu klagen, Die Herzogin von Orleans verlor mehr als 
Jenny Lutzer. 

Dante Gott, daß Du allein ftehft in ſolcher Zeit, dak Du eine Zeitung haft, — das einzige 
aller Papiere, das fteigt, auch wenn Kanonenſchüſſe fallen, die einzige Standesherrichaft, die auch 
gegen Bauernfrieg ficher if. 

Ich ergreife die Rechte, die Tu mir bieteft, und drücke fie herzlich. Weiter willft Du 
nichts, weiter kann ich nichte. Mit alter Liebe Dein 

Fr. Dingelftedt. 


Zwei Tage fpäter, in einer die Lage ruhiger überjchauenden Stimmung, 
deren ironiſcher Ausdruck Freilich die Sorge des Herzens nur leicht verhüllt, 
ichreibt er an Oetker: 


Franz Dingelftebt. 03 


Du bift auf richtigem Wege, lieber Frrike, Heſſens Crémieux zu werben, und bie fehlende 
Beichneidung wird bei Dir keinen großen Unterfchied machen. Ich folge wie Du begreifft mit 
wachſender Theilnahme und Spannung Deinen „großen Anſprachen“ und „fliegenden Blättchen“, 
bie uns auf biplomatiichen Wege ald Attenftüd der heififchen Revolution zugehen. Mein Herz 
it mehr mit Euch, ald mit den Bewegungen in näcfter Nähe, beren Führer und Zwecke mir 
gleich fremd find. Ich hätte jet in Kaſſel fein follen, Dir die Stimme leihen, mit einem or: 
danslied an die Spibe treten. 

Das Erfte, wad Du zu thun haft, ift, da Ihr ja jeßt die freie Preſſe auch wohl befigt, 
ein Blatt zu gründen: „Der blinde Heſſe.“ Dies ſchreibſt Du fo viel ala möglich allein, mit 
ganzer juridiicher und logiſcher Schärfe, ohne fiyliftiifchen Anipruh und Schmuck, durchweg 
populär, giebft es für 4 Thaler jährlich, 1 mal wöchentlich einen Bogen, alä Niemeyer ber 
neuen Zeit'!). 

So war ber Kaſſler Bote, den Du in Philippinenhof finnbildlich barftellteft, eine 
Profezeiung. 

Die Preffe und das Advolatenthum regieren jet die Welt, bis Echwert und Anüppel beide 
zerichlagen. 

Findet Du in Eurem Neubau eine Stelle für mich, jo rufe. Ich danfe hier ab, wenn Du 
mir nur eine Wahl in bie bortige Kammer ficherfi. Außerdem wäre vielleicht unter Eberhard ?) 
im Gultminifterium, in der Theater: ober Atabemie-Direlzion, im Gabinet des Kurfürſten 
ein Plah ? j 

Sag’ ed doc) einmal in der Kölner, Heibelberger Deutichen, Frankfurter, Augsburger Zei 
tung, was bu dem „Morgenblatt* in's Ohr gefliftert haft: Wir möchten ben D. wieder haben; 
er befigt etwas Wermittelndes, eine Perfönlichkeit, die uns in unfern Zuftänden nühlich werben 
fönnte. Er hat das Bertrauen des Volkes als Dichter der Kaſſeler Spaziergänge und des or: 
dbanälicdes, und bie Neigung des Kurfürſten wird er fich mach feinen württembergifchen Ante⸗ 
cedenzien auch erwerben. Wo er jetzt ift, ſteht er fchief und umficher: ihm fehlt bad was er als 
Dichter und ala Menſch braucht, öffentliches Vertrauen; er felbft ſcheint angeftoßen zu haben bei 
den Schwaben u. f. w. u. ſ. m. 

Die Wahrheit ift, daß ich fortmuß. Mit dem Theater jetzt nir, natürlich: meine rau 
tehrt zurück, jobald eingegangene Berpflichtungen es geftatten. Gier ift die Oppofition in bie 
Pofition, an's Ruder, getreten. Ich kann mich ihnen nicht nähern, ohne den Schein aber: 
maligen Farbenwechſels auf mich zu laden. Sie werben freilich ala erfte Opfer fallen, von ihrer 
eigenen Partei zerrißen, allein bis dahin fönnen fie den ganzen Hof: und Staatöhaushalt um» 
geworfen und una fremde moraliih hinausgeſtoßen haben. 

So ſteh' ih. Was bei Euch ift, jeh” ich wohl. Bei Euch wie bei una handelt es fich um 
eine Reduktion von 30 in 3 oder 4, mit Einem fichtbaren Oberhauptee Wir werben troß ber 
uffifchen Verwandtichaft mediatifirt, wenn fein Krieg kommt; Ihr ohnehin, factiich find wir's, 
feid Ihr's bereite. Es handelt ſich alio nicht um eine Hof- fondern um eine Volls-Stellung 
für una alle; bei mir mit jchöngeiftiger Spezialität. 

Schreib’ mir Eigenheiten über Euere Borgänge Warum haft Du jept nicht Berichte an 
die Allg. Zeitg. geſchickt? Tie Gelegenheit war günftig. 

Leb’ woll, tremieur! Dein 

14. März 1848. (Lamartine) Zahmer Martin. 


Diefer Brief, mit feinem erneuten und dringenden Verlangen nad einem 
Wirkungskreis in der Heimath, zeigt uns Dingelftedt ungefähr auf demfelben 
Standpunkte, welchen Oetker damals einnahm. Später freilich, als die Scheidung 
fich vollzogen, finden wir Lebteren im Lager der Gothaer und Erfteren, tie 
namentlich aus feinen 1851 publicirten neuen Zeitgedichten „Nacht und Morgen“ 





!) Einen Tag, nachdem bdiefer Brief geichrieben worden, am 15. März 1848, erjchien bie 
Probenummer der „Neuen Heſſiſchen Zeitung“. 
2, Der Vorftand des heifiichen Märyminifteriums, zuvor Pürgermeifter von Hanau. 


94 Deutihe Rundichau. 


hervorgeht, in dem der Großdeutichen. Aber dennoch Hat eine politische Differenz 
diefe Beiden niemals ernftlich getrennt; fie blieben die alten Freunde trotzdem, 
in allen Lagen, Dingeljtedt ala Hofmann, Oetker al3 Flüchtling, und lange, 
nod) vor der Auseinanderjegung mit Defterreih hat Dingeljtedt den welt— 
hiftorifchen Beruf Preußens ar erfannt und fih, in Berlin ſelbſt, dichteriſch 
zu demſelben befannt. Auch die ftaatlihe Neubildung Deutjchlands unter 
„Einem fihtbaren Oberhaupte” (mern es auch nicht das fein mochte, für welches 
Detker von Anfang an eingetreten ift) jah er jetzt ſchon voraus. Allerdings, 
mit den Sangeögenofjen vom Anfang der vierziger Jahre konnte, wollte er nicht 
gehen — nicht mit Freiligrath, der jeßt feine herrlichen Revolutionslieder aus 
London wie zündende Brandrafeten in die Bewegung warf, noch mit Herwegh, 
den die Lächerlichkeit von Schopfheim moralisch tödtete. Sich aber ausgeſchloſſen 
zu wiſſen von dem großen Ringen der Geifter, mag ihm unerträglich geweſen 
jein; er juchte Fühlung nad allen Seiten hin, und jehr merkwürdig in diejer 
Beziehung ift ein Brief an Ruge, der zuerft in der von Nerrlich herausgegebenen 
Sammlung abgedrucdt worden ift'): 

Sie find mein freund nicht, Sie haben mir im Gegentheil oft weh und unrecht gethan, 
was mid von Ihnen mehr ala von vielen Anderen verwunberte und verlete*). Und boch nehme 
ich feinen Anftand, Ihnen beiliegendes Gedicht zu ſchicken, mit der Bitte um beliebige Veröffent: 
lichung durch ein Leipziger oder Berliner Blatt, deren ich feines mehr zur Dispofition habe. 

Ich unterjchreibe bas Gedicht nicht, weil in folchem Falle alles auf Wirkung anfommt und, 
meiner Anfiht nach, mein Name bdieje nicht fördern würde. Es ift weder eine beftellte Hof: 
ichmeichelei, ausgegangen von officiellee Begeifterung, noch eine Literärifche Speculation, und 
perjönliche Rehabilitation abzwedend. Der Drang, nicht länger müßig und ſchweigſam zu trauern, 
wo alle Welt fich rührt, treibt mich aus meiner Bereinfamung hinaus. Die auf lange und 
genaue Erlenntniß gegründete Meberzeugung, dab der König von Württemberg — wie er aud 
biäher ber localen Oppofition erfchienen und von ihr bargeftellt worben fein mag — der Einzige 
ift, den wir an der Spiße der Bewegung und bes deutſchen Bundes brauchen können, biefe Leber: 
zeugung und ber Wunſch, umbertaftenden Sympathien ein feftes Ziel zu geben, haben mich zu 
dem Gedichte getrieben. 

Gefällt e3 Ihnen und verfprechen Sie ſich Eindrud davon, fo forgen Sie in Oft und Nord 
für beffen Verbreitung und Wirkung, auf diejenige Art, welche Ihnen ala Journalift und Barteis 
chef die rechte fcheint. Ich habe e8, natürlich auch anonym, an ein hiefiges und an ein Frank— 
furter Localblatt geſchickt, damit es gleichzeitig an mehreren Enden ericheint. 

Mit freundlichem Gruße, der Ihrige, quand-möme, 

Stuttgart, 18. März 48. Fr. Dingelftedt. 


Daß dies Umhertaften zu feinem Rejultate führte, braucht nicht gefagt zu 
werden. Wenige Monate jpäter jchrieb Dingelftedt an Detker: 

Dein Brief, lieber Frik, fam an meinem Geburtätage an. Omen accipiens, legte ich ihn 
zu dem Glafe, dad du mir, zehn Jahre früher, an einem unvergeklichen Abend in der Wilhelms: 
höher Allde gefchentt. Ich beantworte ihm umg-hend; fieh daraus, was ich Dir nicht zu 
jagen brauche. 

Fort von Hier fomme ich nicht; der König, das Haus laffen mich nicht. Es ift ber erfle 


Sommer, welchen ich in dem Stuttgarter Dampffefjel verfeufze. Der erfte und — gefällt’3 Gott! — 
ber leßte. 





!) Arnold Ruge's Briefwechiel und Zagebuchblätter aus den Jahren 1825—1880. Herausgegeben 
von Paul Nerrlih. Zwei Bände. Berlin, Weidmann'ſche Buchhandlung. 1886. Bb. II, ©. 9. 

2) Bezieht fi unter Anderem auf Ruge's Anzeige von Dingelſtedt's „Sechs Jahrhunderte 
aus Buttenberg’3 Leben“. Halliſche Jahrbücher 1840, &. 184. 


Franz Dingelftedt. 95 


Gehſt Du nah Nauheim, fo reife drei Tage für mich heraus; komm nah Stuttgart. 
Lockt dich die See, fo gieb mir ein Rendezvous in Mannheim oder Mainz. Nach Frankfurt 
mag ich nicht. 

Sehen möcht’ ich, müßt’ ich Dich. Ich bin „sick at my heart and utterly disgusted.* 
Vielleicht giebft Du mir das Lächerlichfte, wad ein Menſch dem anderen geben kann, — einen 
guten Rath. 

Über beine Zeitung und meine Beiträge mündlih. Nur jo viel jet ſchon: laß fie 
nicht fallen! 

Was ich „Iebe” und „wirke*? Als 1) Hofdiener 2) Abtrünnling und 3) Ausländer bin 
ich Hier mehr als anderwärts in der Welt, jet mehr ala irgendwann nad) allen Seiten „uns 
möglich“. Daß ich meine Pflicht ala Bürgerwehrmann erfülle, wird mir fchon ala Unrecht 
angefchrieben. Ich muß aus der Sadgaffe, in bie ich mich verrannt, jobald die Krife vorüber, 
einen Ausgang finden, und dein gutes Auge Hilft mir wohl fuchen, bevor das meine allen 
Schimmer verloren hat. 

Auf baldiges Wiederfjehen denn! Mit Herzlichen Grüßen aus dem Haufe 
Dein 
1. Juli 48. Fr. Dingelftedt. 


Je weniger Dingelftedt den gefuchten Stützpunkt auf der einen Seite fand, 
defto natürlicher war es, daß er, durch das Geſetz der Selbſterhaltung zuerft, 
und nicht zuleßt durch das der Pflicht beftimmt, fich der anderen fefter anſchloß. 
Am November diejes Jahres 1848 jchrieb er an Vogel 

Iſt es wahr, was ich höre und lefe, daß Du, Lieber Bogel, von der „Schnellpoſt“ abtrittft, 
fo wird Dir vielleicht mit der Anerbietung der Übernahme der technifchen Redaktion der „Laterne“ 
gedient jein, welche lehtere von Neujahr an 2 bis Imal erfcheinen fol. Große Anfprüche würden 
an Dich nicht gemacht werben, Dir vielmehr neben geringer Arbeit Gelegenheit zu anderweitem 
Berbienfte geboten fein. Wogegen Du freilich auch mit einftweilem geringem Gehalt Dich bes 
gnügen und, was ſich ohmehin verfteht, die von der „Schnellpoft" letztlichſt verfolgte Richtung 
nicht auf unfer Blatt übertragen bürfteft. Deiner baldigen Äußerung entgegenfehend, grüßt Dich 

Dein treuer Freund 
Fr. Dingelftedt. 

Die „Laterne“ war ein kleines Wibblatt, welchem der Herausgeber jelber 
eine lange Dauer nicht prognofticirte, wie e3 denn in der That nur vom Auguſt 
1848 bis März 1849 gelebt hat. Als Vogel, den vielleicht politiiche Bedenken 
abhielten, die technijche Leitung der „Laterne“ zu übernehmen, in die Redaction 
des „Nürnberger Correſpondenten“ eingetreten war, ſchrieb ihm Dingelftedt unter 
dem 2. December 1848: 

Was ich hier Dir bieten könnte und nur bot, weil ich Dich in augenblidlicher Verlegen: 
heit wähnte, ift, gegenüber den Nürnberger Ausfichten, feiner Rede werth. 300 fl. Jahrgehalt 
ober vielmehr 25 fl. monatlid, da nur auf 3 Monate abgehoben wird. Das Blatt ift durchaus 
ein Geichöpf meiner Laune — ich halte es und laſſe es fallen, wie's mir beliebt. Eine Siche— 
zung hat und bietet alfo feine Dauer nicht. Subvenzion will ich nicht; ich habe mich capricirt, 
unabhängig zu fein, fo weit, daß ich fogar feine Uctien auf das Blatt zulaſſen mag. Ich zahle, 
mit Hadlänber, das Deficit aus meiner Taſche. Wie da unfere „Fonds“ ausfehen, kannſt Du 
dir einbilden. Vielleicht geht die Gejchichte Ichon im März wieder zu Ende Frucht ift ja fo 
feine davon zu erwarten; bie Partei, ber das Blatt zu dienen ftrebt, fcheint A tout prix unter- 
geben zu wollen. Schlimm genug, daß ich auf Einem Schiffe mit ihr bahintreibe, durch die 
Ehre gehalten. Warum Did; noch herüberziehen? 


Und in einem Schreiben vom 17. December, in welchem er es ablehnt, dem 
Freund Empfehlungen an den Eigenthümer de3 Nürnberger Blattes mitzugeben 
oder ihm Beiträge für dasſelbe in Ausficht zu ftellen, heißt es: „Geniere Dich 


96 Deutſche Rundſchau. 


auch in journaliſtiſcher Hinſicht nicht: ich bin es gewöhnt, im größten Theil der 
Preſſe Gegner zu haben, und meine Freunde ſollen ſich meinethalben nicht com— 
promittiren.“ 

Auf dem erſten Blatt des Tagebuchs von 1848 findet ſich ein kurzer Ein— 
trag, in welchem Dingelſtedt gleichſam das Reſumé des Jahres zieht und in der 
That eine Kritik feines Lebens gibt, erbarmungsloſer als irgend einer feiner 
Gegner fie hätte formuliren können: 

„Irop tard!* Devije für 1848, für mid). 
1841. Ich verlaffe Helen; vierzehn Tage darauf fällt ber Minifter, deſſen Syſtem mid 
vertrieben Hatte. 
Ich jchreibe ein radicalee Buch, den „Nadhtwächter” ; gleich darauf tritt Die 
Realzion ein. 

1844. Ich heurathe eine große Künftlerin ; fie muß auf ihre Größe verzichten. 

Das Schickſal wirft mich an einen Hof; bald darauf bricht eine Bewegung 
aus, bie alle Höfe „unmöglich“ macht. 

1847. Jenny kehrt zur Kunſt zurüd, ich knüpfe literariich aufs Neue an; Tags barauf 

Revoluzion, bie Künfte werben penfionirt. 
Ich befomme ein Vermögen; da ich's kaum genoffen — Staatäbanterott, bie 
Kinder — Bettler! 

So büfter, fo verzweifelt war feine Lage wohl nicht; aber richtig ift, daß 
der Sturm, den er faum durch fein Schweigen beihtwichtigt, aufs Neue fich erhob, 
al3 er twieder zu reden begann. 

Bornehmlih war es das „Geſchöpf feiner Laune“, die „Laterne“, welche 
Dingelftedt in den Ruf gebracht hat, anti-Fiberal zu jein, wiewohl die aus der 
Zeitichrift in jeine Sammlung „Nacht und Morgen” übergegangenen Epigramme, 
„Fresken in der Paulskirche“, höchſtens beweiſen, daß er anti demokratiſch war. 
Laube Hatte feinerzeit „in einem ungezogenen Briefe, auf den ih nur mit 
Schweigen und Bruc antwortete”, wie Dingeljtedbt an Kolb ſchrieb!), ihm die 
Auslaffung de3 „Nachtwächters“ aus feinen Gedichten vorgeworfen; wie grundlos 
und ungerecht die Beichuldigung war, geht aus der neuen Sammlung hervor, 
melde fih in allen Stüden, in ihrem Titel „Naht und Morgen“, in den 
Gapitelüberfhriften „Letzte Nachtwachen“, „Tagesanbruch“ als Fortſetzung der 
alten Nachtwächterlieder ankündigt, und in welcher ſogar der „Nachtwächter als 
Hofpoet“ ſich ſelber perſiflirt. Wohl kommen, was wir übrigens bei „zweiten 
Theilen“ gewohnt ſind, die neuen Lieder den alten an Kraft und Urſprünglichkeit 
nicht gleich, wie denn in der That es auch leichter und lohnender war, auf die 
Verhältniſſe vom Anfang als auf die vom Ende der vierziger Jahre eine Satyre 
zu ſchreiben. Aber wenn nichts Anderes, ſo würde doch das einleitende Gedicht 
des Bandes dafür zeugen, daß Dingelſtedt den Jugendidealen nicht untreu ge— 
worden: 


Ja doch: Das Licht! — In blut'ger Röthe 
Von allen Bergen kam's empor, 

Statt von friedſamer Hirtenflöte 

Empfangen vom Drommeten:Chor ; 

Am Himmel ftand er, hell und glänzend, 


') Karpeles im Feuilleton der „Neuen Freien Preſſe“, 30. Juni 1886. 


Franz Dingelftedt. 97 


Der Tag, ben wir noch fern geglaubt, 
Mit frischer Rofen Zier befrängend 
Das thaugefalbte Siegerhaupt. 

Der Staat hat feine Form zerbrocen ; 
Wann brichft du beine freie Kunſt? 
Berlaß, in die bu dich verkrochen, 

Die Stubenluft, den Nebelbunft; 

Dein zu Befik und zu Geftaltung 
Harrt reicher Stoff und gold’ner Ruhm: 
Drum auf in frendiger Entfaltung, 
Du neugebor'nes Dichterthum! 


Uns freilid, fährt der nun ſchon zu den Alten fich zählende Poet wehmüthig 
fort, ung, die wir Euch Glüdlichen vorangegangen, fiel ein minder ſüßes Loos: 
Im Dunfel euch die Wege bahnen, 
Mit unſ'rem Leib die Brüde bau'n; 
Zum Lohne bann und wann ein Ahnen 
Und Hoffen — nie erfülltes Schau’n! 
Sei's drum! Auch diefe Zwielicht: Sendung 
Wird endlich nicht verloren fein; 
Sie ſteht am Ziel mit raſcher Wendung, 
Tritt erft der volle Morgen ein. 
Die Stimmen aus ber Naht verllingen, 
Sogar die frühe Lerche ſchweigt, 
Dann hoch am Tag auf mächt'gen Schwingen 
Der Adler felbft zur Sonne fteigt! 


Wer will dem Dichter einen Vorwurf daraus maden, daß ihm damals, 
wie dem ganzen Süddeutſchland und jo ziemlih allen von Mißtrauen gegen 
Preußen erfüllten Kleinftaaten, diejer Adler der Doppeladler Dejterreichd war? 

Im Februar 1849 jchreibt Dingelftedt an Vogel: 


In bie „Öfterreihiihe Politit“ des Nürnb. Korrefp. wirft Du Dich bei näherem Nach: 
denlen gut finden. Auch wir befolgen im Augenblid feine andere. Für Baiern und Württem: 
berg nicht allein, fondern auch für Deutichland ift in Preußen kein Ziel. Tas Berlinerthum 
ber Herren Bunfen, Rabowig, Gani und Gonforten, ftedte uns gern unbeichens in Sad, 
Ichleppte das ganze Deutſchland im Zau der engliichen Handelspolitik hinter ſich her und brächte 
Berhältniffe und Perlönlichkeiten, wie fie in Preußen täglich fich überftürzen, über ganz Deutjch- 
land. Das geht nicht. 

Haft Du, wie Andeutungen in deinem Schmalfalder Briefe mich ſchließen lafjen, wirklich 
freundliches Andenten für mich in Heſſen gefunden, fo unterhalte mir das. Vielleicht wird «3 
feiner Zeit ftark genug, um meine Wahl nach Frankfurt dort durchzuſetzen? Ich gehe gleich, ja, 
ich trete, bei einiger Auaficht auf Erfolg, als Bewerber auf. Mein ganzer Sinn ficht auf die 
parlamentarifche Carriere. Richt weil ich eine Rolle auf der Bühne der Pauletirche zu ſpielen 
brennte, im Gegentheil, fie fam mir fehr pauvre vor, und ihe: Helden, links wie rechts, Vogt 
wie Binde, dächte ich mit einer einzigen Rede einzuholen. Aber viel mehr ala die Scene reizten 
mich die Gouliffen, die Clubbs, die politischen Salond. Bas wäre mein Feld. Ich habe ein 
paar ſehr lehrreiche, anregende und auch hinlänglich fruchtbare Wochen dort zugebradpt und gebe, 
fobalb ich kann, wieder hin. Ob Echmalfalden mich zum nächften Reichsſstag ſchicken würde, 
wenn ich perfönlich würbe? 

Überleg’s Dir, frage an, ſalls es angeht und gieb Antwort. 

Treulichſt Dein 
21. Febr. 49. Fr. Dingelftedt. 
Deutihe Rundſchau. VI, 7. 7 


93 Deutſche Rundſchau. 


Demnächſt heißt es, in einem Briefe an denſelben vom 2. Juni 1850: 

Verzeih, lieber Vogel, wenn id Dir Unrecht und weh gethan; Dein Brief und Dein 
Feuilleton, für welches beides ich Dir danke, herzlich danke, haben mich eines Beſſeren belehrt. 
Ich bin jo oft in ber litterarifchen und perfönlichen Welt betrogen worden, dab ber Zweifel 
jelbft am Nächften mir zu anderer Natur wird. ine ſchlechte Natur freilich, und — Du kennft 
mich — nicht meine eigene! 

Mit Deinem Artikel war und bin ich volllommen zufrieden; er war flug und fein und hat 
mich nicht nur für mich, fondern auch für Dich gefreut, ala Zeichen Deines „Fortſchritts“. 

Du fragft, warum ber politifche Theil des Korreipondenten es mit mir verborben? Gr 
hat, gelegentlich der famofen Thronrede und auch der beutfchen Frage, im feiner Münchner 
VT-Rorreiponbenz meine Stuttgarter d+ Korrefponbenz in der A. 3. nicht nur befämpft, — das 
verftände fich von felbft und wäre mir ganz recht, — fondern fie ald „geheime-legationsräthliche* 
perfönlich denuncirt. Das ift perfide Polemik, auf die ich natürlich nicht eingebe, bie mir aber 
das Blatt verleidet. 

Auch Du gefälft Dir nicht darin. Ich glaub’ es, Lieber Junge, aber ich bitte Dich body, 
auszuharren. Deine Stellung ift nüpli, wenn fie auch nicht angenehm if. Du bleibft Allen 
im Auge, das allein ift viel werth. Bielleicht gehen unfere Wege bald wieder zufammen. Mein 
König ift 70 Jahre alt; ich kann Ihn nicht verlaffen, am wenigften jetzt, wo fo vieles Ihn ver: 
läßt, ich halte aber nur aus, fo lange Er hält. Hernach — flugs wieder in's Weite. Meine 
Schiffe find gebaut, liegen vor Anter, luſtig wie ehemals mit der Schreibfeber bewimpelt; jo 
bald ich die Kette zerbreche, — Kette war fie mir längft, wenn gleich goldene, — treib’ ich wieder 
in’3 Weite. Mein Kiel hat Raum aud für Dich, und Du folft willlommen jein, wenn Du in 
eine längft vorbereitete große Zeitungs-Unternehmung mit eintreten willft. 

Doc, das find Luftichlöffer für heute und für morgen. Stehen fie feft, jo wirb’s Zeit fein, 
Dich zum Beſuch einzuladen. Ginftweilen überwintere ich hier, fleikig und rührig. Dein Rath, 
zu produziren, wird neben meiner Nothmwendigkeit zu kritifiren und zu politifiren, treu befolgt. 
Ich fchreibe, wie in meiner beften und früheften Zeit, täglich einen halben Drudbogen wenigftens. 

Bon hier nichts Neues von Belang, weder im Haus, no draußen. Daß ich die Dramas 
turgie aufgegeben, weißt Du wohl fon? Ich mußte die Hand frei haben, um ſchreiben zu 
fönnen. Doc bin ich in beftem Frieden von Gall!) geichieben. 

Ich komme ben Sommer jchwerlid fort, es fei denn der König ginge auf kurze Zeit, wo 
ih Ihn begleiten müßte. Frau und Kinder find wohl auf und grüßen freundlich. Wenn Du 
wieder einmal reifeft, fomm zu uns. Mit der Eifenbahn geht das jet fo raſch. Im September 
fönnteft Du hier unjere Fefte?) mitmachen und jchildern. 

Mit alter Liebe Dein 
Fr. Dingelftebt. 


Durch die gewaltiamen Erſchütterungen der Revolution von 1848 ward ein 
Werk unterbrochen, von allen vielleicht dasjenige, welches dem Talent und der 
Neigung Dingelftedt’3 am meiften entſprach, und nod) als Fragment das inter- 
effantefte Stüd feines Nachlaſſes: 


SIEBEN JAHRE. 
Roman 
von 


Franz Dingelftedt. 


er Banb. 





') Damals Intendant bes Stuttgarter Hoftheaters. 
2) Es find die Septemberfefle gemeint, von benen bereit3 weiter oben bie Rebe geweſen. 


Franz Zingelftedt. 99 


So fteht es, in feiner ſchönſten Fracturfchrift, auf dem erften eines Convo— 
luts von Blättern in Hochquart, denen eine Menge von Notizheften und Zetteln 
aller Art beiliegt, darauf deutend, wie lang und ernjthaft ſich Dingelftedt mit 
diefer Arbeit bejchäftigt, weldje dennody nicht über den Anfang hinausgefommen 
iſt. Aber ein Anfang, jo vielverheißend, jo jprudelnd von Leben, Luft und Liebe, 
daß man die Blätter nicht ohne jchmerzliches Bedauern, weil nicht ohne das be— 
ftimmte Gefühl leſen wird, bier feien für den Dichter alle Bedingungen erfüllt 
geweſen, um Etwas zu ſchaffen, was in der Reihe feiner Werke den erften und, 
al3 charakterijtiiches Denkmal der Zeit, in der Literatur einen bleibenden Plaß 
fi gewonnen hätte. Nichts hat Dingelftedt mehr mit dem Herzen und kaum 
etwas Anderes je mit folcher Freudigkeit gejchrieben, als dieß, wo die liebjten 
Erinnerungen feiner Jugend ihm die Feder führten. 

Sie waren, ih weiß nicht ob abfichtli und im Hinblid auf das Werk, 
wieder aufgefriicht worden durch einen Ausflug nad) Heffen, den er im Spät- 
herbft 1846 unternahm, und über welchen fein Tagebuch und Nachricht gibt. 

13 Drtober. Frankfurt. Abends 7 Uhr im Coupe bes Eilwagens nad Kaſſel. 


19. October. Marburg im Nebel durchflogen. Halaborf: Onfel! Alte Scene, jehr öde 
und ernft. 

Halsdorf war jein Geburtsort, die Stätte feiner erften Kindheit, vor der 
Ueberfiedelung der Familie nad Rinteln. Am Abend ift er in Kaſſel. Fünf 
Sabre waren verfloffen, jeitdem er, ein Flüchtling, die Heimath verlaffen, und 
fieben , jeitdem er zum legten Male dur; die Straßen diefer Stadt gegangen, 
ein armer Gymnafialhülfslehrer, von der Allerhöchften Ungnade betroffen und in 
die Verbannung nad Fulda geſchickt. 

22. October. Bei S. K. Hoheit dem Kurprinzen-Mitregenten. 

23. October. Abends Hofball. Vergleiche zwifchen jeht und früher, hier und dort. 
Souper bis 12. 

27. October. Abſchiedsaudienz beim Rurprinzen. 

Dazwiſchen Wiederjehen und fröhliches Zufammenjein mit den alten Freunden. 
„Abendgang mit Oetker.“ „Schöner Herbſttag. Wanderungen durch Alt- Staffel.“ 

Kaum nad) Stuttgart zurücgefehrt, und nad Erledigung der nothwendigften 
Vorarbeiten, beginnt der Gedanke feftere Form anzunehmen. 

24. bi8 27. Januar (1847). Plane zum Roman, erweitert, hingeworfen. 

28. bi3 30. Januar. Fortgeſetzte Plane für den mweftfälifchen Roman. 

11. Februar „Sieben Jahre“. 

Darunter mit Rotbftift und in Fractur: „Mit Gott angefangen.“ 

Bis Ende 1847 wird wohl dad Meifte von dem, was wir haben, gejchrieben 
worden fein; dann, während der nun eintretenden Erjchütterungen, ſtockt das 
Merk und ruht faft ein Jahr: 

24. bis 27. September (1848). Den Roman „Sieben Jahre“ wieder aufgenommen, 
und am 2. Banbe gearbeitet. 

Über das Erz, das im Ziegel erfaltet, Tieß fich ſchwer wieder in Fluß 
bringen, und nad} einer abermals halbjährigen Paufe heißt 8: 

24. April (1849). Zwei Kapitel aus bem Weſtfäliſchen Roman (für Detler) gefchrieben. 

Dies ift die lebte Tagebuchnotiz über die „Sieben Jahre“, die nun für 
immer liegen blieben — ein ftiller, lebenslanger Vorwurf für den Dichter, der 
wohl fühlte, was ihm hier verloren gegangen. 


jr 


100 Deutiche Rundſchau. 


Der Roman jollte ganz in ber Heimath jpielen — in den oberheffifchen 
Dörfern, die Dingelftebt jo wohl Fannte; in Schmalfalden, da3 er mit feinem 
Schultameraden Vogel in den Ferien durchwandert; in Hersfeld, welches er von 
Fulda aus manchmal befucht, wenn er fi” mit den dortigen Freunden einen 
guten Tag machen wollte, und in Kaffel, das er bis zuleßt jehr geliebt hat. Es 
ift nicht jchwer, in den Hauptfiguren und einigen Nebenfiguren die Vorbilder 
wieder zu erkennen, in einzelnen Zügen des abenteuernden Helden jelbft den 
braven Vogel, in dem Gejchwifterpaar Balentin und Johanne den Refler des 
eigenen Verhältniffes zu feiner Schwefter Augufte — „mein frommes, zuverjicht- 
liches, ſtarkes Schwefterlein” — und in dem Gaftellan de3 alten Eurfürftlichen 
Schloſſes, dem Schloßvoigt, den eigenen Water, den Kloftervoigt — „ein Reft der 
zerfprengten, ohne Schtertftreich gelieferten heifiichen Armee, wie fie bis zum 
Jahre Sechs gewefen.” Die „Sieben Jahre“ waren die Jahre des weſtfäliſchen 
Königreicha, welche der alte Herr jelber durchlebt Hatte und deren Reminiscenzen 
durch ihn dem Sohne gleihfam unmittelbar und perjönlich überliefert worden 
waren. „Sa, da ftand fie leibhaftig, die qute, alte Zeit: von der drei Finger 
breiten Halabinde aus Buchbinderpappe mit ſchwarzem Perfan überzogen, oben 
herausfchauend ein ſchmaler, weißer Streif, ebenſo ängſtlich nad) Linien, al3 der 
Zopf nah Zollen gemeffen am ſpaniſchen Rohr de3 Capitains oder Feldwebels, 
bi3 hinab zu den ſchwarzen Gamaſchen aus grobem Commißtuche, deren Knöpfe 
ſyſtematiſch gezählt, angefeßt, offen gelaffen oder eingereiht waren. Es fehlte 
nichts als die Uniform, welche der Greiß vor neun Monaten auögezogen hatte, 
da es hieß, fein Kurfürſt jei außer Landes gegangen, ohne das Schloß und den 
Garten, wo er oft und gern verweilt, noch einmal zu jehen, und er werde nie 
mal3 wiederkommen; dafür ſäßen die Franzoſen bereit3 in Kaſſel, und eines 
ſchönen Morgens könne der neue König bei ihm anpochen und ihn franzöſiſch 
anfahren, um ihn hernach zum Teufel zu jagen, weil er ein alter Hund fei. und 
nicht Franzöſiſch verſtehe.“ — 

Mit der Erinnerung an den Vater belebt fi) auch die wieder an da3 
Dörflein in Oberheffen, welches Dingelftebt eben noch, auf feiner Herbſtreiſe, 
gejehen. Aber ein freundlichered Bild als im Tagebuch entrollt und der Dichter 
im Roman: 

Es ift noch nicht fo lange her, daß jede ordentliche Landſtraße im Lieben beutichen Vater: 
lande ala würdiges Kunftziel es ſich vorgeftekt hatte, jede in ihrer Richtung möglicher Weiſe 
erreichbare Anhöhe, nebft entiprechender Bertiefung, unterwegs aufzufuchen und nebenbei, ın 
menfchenfreunblicher Nebung des Grundjaßes: Leben und leben lafjen, alle Derter und Dertchen, 
Weiler und Wirthshäufer, Meilen weit in der Runde, gleich Perlen an einer Schnur, an ihrer 
malerifchen Windung in bunter Wechſelfolge einladend aufzureihen. Das war bie gute alte Zeit, 
ba bie Welt von Eifenbahnen fo wenig wußte wie von Vereinen gegen Thierquälerei: das Liebe 
Dieh raderte fih auf den fteilen, flaubigen Steigungen des Weges ehrlich ab, und der Menſch 
ging pommabig zu Fuße nebenher, weil es ihm noch nicht, wie heute, eher anzukommen, ala ab: 
zureifen drängte. Die gefegnete Poftichnede — „Déhliſchankſe“ auf althefſſiſch — brauchte damals 
auf der Strede zwiſchen Kaſſel und Frankfurt drei volle Zage und drei volle Nächte, und dreimal 
bloß umgeworfen, auf dem Bilbeler Berg, am Steinweg zu Marburg, und bei Melfungen, das 
galt für eine ausnehmend glüdliche Fahrt. Da konnte Einer noch mit Fug und Recht ausrufen: 
„D welche Luft gewährt das Reifen!” 


Franz Dingelftebt. 101 


Auf diefer großen, fehr belebten Heerfirahe von Frankfurt nach Kaffel Liegt, zwei Meilen 
von Marburg, ber Mitte, entfernt, ein Dertlein mit Namen Haladorf, ober Holzdorf, wie andere 
Leute Äprechen und jchreiben. Wir wollen über den richtigeren Namen nicht freiten, wie über 
Grätz und Graß die Gelehrten thun; es würde nicht der Mühe lohnen um jo ein buntes, 
ichlichtes Dorf. In der Zeit, worin wir es mit bem geneigten Leſer befuchen, war wenigftens 
noch etwas Luſtiges und Lebendiges in dieſem Dorf: die Poft wechjelte Pferde drin. Später wurde, 
einer halabrechenden Höhe mitten in Haläborf zu Liebe, Straße und Station verlegt. Diefe ift 
zu Josbach, jene macht einen ftolzgen Bogen um ben niederen Kirchthurm und das Wälbchen von 
Haladorf. Die Perle, von der Schnur abgefallen, liegt abjeitö verloren im Sande: ein Gleichniß, 
ſchier zu koftbar für den beicheidenen, ftillen Flecken. 

Das leptere, ftill, war er freilich nicht, vielmehr das gerade Gegentheil, als ber lebte 
Sonntag im Mai des Jahres 1809 mit tiefer Himmelsbläue und hellen Nachmittagaftrahlen 
über jeinen Hütten lag. Ein Sonntag in einem oberheſſiſchen Dorf, in jener fruchtbaren Gegend 
zwijchen Lahn und Schwalm, ift ſonſt, — und die Zeit wird barin wenig verändert haben ober 
verändern, — ein rechtes Bild des Friedens und ber Behäbigkeit, das bloß im Herbfte, um bie 
Kirmeß herum, lautere und bewegtere Staffage anzunehmen pflegt. An gewöhnlichen Sonntagen 
fieht das Auge weit und breit nichts als je nad) der Jahreszeit grüne, gelbe, weiße, braune 
Felder; Wiejenftreifen, Baumgruppen, Stroh: und Ziegeldädher dazwiſchen; einen Bach mit einem 
Steg; einen Kichthurm und darauf der durch Wind und Wetter jchiefgewordene Hahn ober ein 
forgfam gehegtes Storchenneft; ein fanfter Hügelzug umſchlingt das Ganze. Die jungen Burjche, 
mit ihren blendendweißen Kitteln und den rothgeftreiften Mühen, deren Quafte bis zur Schulter 
herabfällt, gar ftattlidy anzufehen, gehen in der Nähe des Dorfes jpazieren, Jeder fein Mädchen 
an der Hand ſchwenkend, alle dieje ebenfalls aufs Befte herausgepubt, mit wallenden, breiten, 
bunten Bändern an der Haube und an ben kurzen, faum das Knie erreichenden Röden. Sämmt- 
liche Kinder der Gemeinde, — ftruppige Blondköpfe in wimmelnder Vielzahl, — fpielen um bie 
Linde herum, fchaufeln fi) auf einem gefälligen Balten des nahen Bauplapes oder jchneiden 
Pieifen aus den Weidenbäumen am Waſſer. Die Alten ſihen daheim im Wirthehaus, die kurze 
Peife, Stummel geheißen, jeft zwiichen den legten Zähnen, das jpihe Branntweinglas vor fich 
auf dem fliegenſchwarzen Tiſche. Dann und wann ein Ichariftimmiger Gefang, welcher über die 
Wogen des Kornes und in den ftillen Abend binzicht, der heifere Schlag der Dorfuhr, oder ein 
Pofthornton, bei dem bie fleinen, bleigefahten Fenſter rechts und links an der Heerſtraße fich 
emporjcieben und neugierige, grüßende Gefichter dem durcheilenden Wanderämann nachftarren. 


Nicht minder anmuthig geichildert ift der erſte Blick auf Kaſſel, von der 
Gegend der „jedem Kaſſeler Kinde bekannten Knallhütte: fein ſchöner Name, aber 
eine deſto jchönere Stelle“. Dann heißt es weiter: 

Das Fuldathal innerhalb feiner fanft angezogenen und verjchlungenen Hügelfetten breitet 
fi zu Frühen aus wie ein von Künftlerhand gebautes und bis ins Sleinfte ausgenarbeitetes 
Rundgemälde. Links fireicht in dunklem Nabel: und Laubholz der Habichtewald. Auf einem 
Vorſprunge desfelben winten aus vollem Grün hernieder die weihen Mauern, bie ſchlanken Säulen, 
die majeftätifchen Zinnen der Wilhelmshöhe, ehemals Weißenſtein und einftmals Napoleonshöhe 
getauft. Ueber ihnen erhebt fi, — eine der fühnften Dichtungen in Stein, ein wahres Wald: 
märchen, — ber Wunberbau ber Kastaden, das Rieſenſchloß, die Pyramide, die Herkulesfäule 
darauf, eines auf dem anderen emporgethürmt zu einer meilenweit fichtbaren, den Rüden bes 
Höhenzuges fed durchſchneidenden und überbietenden Spike. Rechts jenfen ſich mildere Hügel 
in weicherer Färbung als das dunkle Gegenüber zu dem Ufern des aus weißen Steinbrüden in 
das grüne Thal hinunterwandelnden Fluſſes. 

Die Stadt liegt malerifh im Mittelgrunde des Bildes, umfaht und überragt von allen 
Seiten durch ſanft anfteigende und im einander übergehende Höhen. Die hellen Linien ihrer 
Hauptftraßen, einzelne hervorragende Pracht: und Ziergebäubde, Kuppeln und Thürme, ein buntes 
Gewirr von Giebeln, durch die Schlangenwindungen des Waſſers getrennt und vereinigt zugleich, 
heben fich auf ber umvergleichlicyen Farbenmaffe der Au überrafchend ab. Wenn Herbft oder 
Hrühling die Natur flimmen, dann fteigt in diefen Höhen und Gärten eine farbige Zonleiter 
auf und nieder, wie fie jo leicht nicht wieder in der Welt vorlommt, von dem büfteren Schwarz 


102 Deutihe Rundſchau. 


bes Nabelholges an bie zum frifhen Eaitgrün des erften Buchenlaubes und zum Silbergrau ber 
Meide und Birke. Dazu laufen, wie unzählige Strahlen, eine Menge Allen, bald von ber 
plöglich aufſchießenden Pappel gebildet und bald von der gefälligen, duntlen Wölbung der Linde, 
von allen Seiten auf die Stabt, wie auf ihre Sonne zu, und in heiterem Kranze umgeben fie 
zahllofe Gärten mit Land- und Lufthäufern, tragende Edhlöffer, nach allen Seiten zerftreute Dörfer, 
gleichſam die äußerſten, verlorenen Wellenichläge des bewegten Mittelpunttes. Es ift ein Bild, 
das in feinen künftlerifchen Einzelheiten, in Zufammenftelung und Anordnung jedes andere aus 
unferer reichen deutſchen Echule neben fich leiden kann, wenn fchon die Natur nicht ihre eigent⸗ 
lichen Größen und erſten Kräfte, Hochgebirge, See oder Strom, dazu hergeliehen hat. 

Es ift Dingelftedt in feinen jungen Jahren gegangen wie uns Anderen all’ 
in jener ftillen, glücklich befchräntten Zeit, da wir unfer Kleines Heſſen jo jehr 
und ausfchließglich Liebten, daß wir vor feinen Grenzfteinen mit dem goldnen 
Löwen und den weiß: rothen Echlagbäumen ftanden mit dem Gefühl der Ab- 
neigung gegen und der Geringihätung für Alles, was jenfeit3 derſelben lag. 
Kafjel war uns der Inbegriff aller Herrlichkeit; und da es für die meiften von 
una heſſiſchen Gymnafiaften damals weit ab lag und exft erreihbar ward mit 
der in gleich goldner Ferne winkenden Studentenzeit, jo umwob es die kindliche 
Phantafie mit einem doppelten Zauber. „Du weißt ja,” läßt Dingelftedt feinen 
Helden im Roman der Schwefter jagen, „mit welcher Ungeduld ich immer auf 
diejed Ziel Hingetrieben habe: Kaffel. Seit Jahr und Tag träum’ ich nur von 
Kaffel. Weil ich es von Jugend auf al3 das Größte in meinem Kleinen Leben 
habe nennen hören, als Hauptftadt unſeres Ländchens, bin ic) gemöhnt worden, 
es jelbft fo anzujehen und mir ein Bild davon zu machen.“ 

Heut’ ift Kaſſel eine Stadt, doppelt jo groß und mit noch einmal jo viel 
Einwohnern als vor vierzig Jahren; aber es ift uns fremd geworden, und ich 
zweifle, daß einem heſſiſchen Jüngling „das Herz befangener al3 ſonſt und in 
verboppelten Schlägen an die Bruft klopft,“ wenn er es zum erſtenmal erblickt. 
Aber e8 war anderd, als es noch uns, und allein gehörte und dad, was ihm 
an materieller Entwicklung gebrach, durch den traulichen Reiz jeiner Erjcheinung 
und bie Stärke unſeres Heimathsgefühls erſetzt ward. In dieſes Kaffel führt 
Dingelftedt das geihmwifterliche Paar feines Romans: 

Der Weg durch die Oberneuftadt, den fie einfchlugen, war ganz geeignet, wie er ed noch ift, 
biefen Eindrud einer großen Stabt zu verftärfen. Unmittelbar an die legte fteile Anfteigung der 
Sandftraße ſtößt ohne Vorſtadt und Uebergang die hohe Doppelreihe der Frankfurter Straße, 
deren eine Seite zur Hälfte von einem einzigen Palaft, dem Bellevue Palais, eingenommen ift. 
Perſpektiviſch eröffnet ſich dann, mit jedem Schritte weiter und herrlicher aufgethan, der Blid 
auf den Friedrichsplatz. Das Standbild des großen Yandgrafen und jein Mufeum jchimmern 
marmorweiß in blendenden Farben und ungeheueren Mafien, -- Säulen, Treppen, Bogen, fFenftern, — 
mit faft geipenftiicher Pracht und Größe durdy die Dämmerung, die auf ber weiten Fläche lagert, 
indeflen von der offenen Seite her das Waldgeräufch der nahen Au und der Gebirgsathem bes 
fern herüberragenden Meißner in das Herz der Stadt getragen werden. Rund um den Plab, 
den Valentin und feine Schwefter noch mit grünem Rafen bededt fennen lernten, von Fußwegen 
kreuz und quer ducchichnitten, fchlingt fich ein ftattlicher Kranz von Bäumen und Gebäuden, 
während am oberen Saume bie fchönfte Straße der Stadt, ihre eigentliche Lebensader, die Königs— 
ftraße, in lebendiger Bewegung vorüberftreicht. Durch fie hängt mit dem Rechtede des Friedrichs 
plates das regelmäßige Rund des Königsplahes zufammen, unter welchem das wimmelnde Durch: 
einander der Altftädter-Gaflen feinen Anfang nimmt. 


Aus der folgenden Selbftichilderung des Helden — eine vornehme Tame 
des Jeröme'ſchen Hofes hat ihn in Audienz empfangen — wird der Lefer ohne 


Franz Dingelftedt. 103 


Mühe jchliegen können auf da3 Original, nad welchem Dingelftedt gezeichnet, 
oder jagen wir gleich: porträtirt hat. 

Mit dem Frühjahr 1802 bezog ich die Univerfität. Ach hatte nach damals beftchenden 
BVorichriften bei der Regierung um Erlaubniß, mid dem Studium der Rechte widmen zu dürfen, 
angefucht. Die Erlaubniß fam, aber fie lautete auf — Gottesgelahrtheit; ein Fall, der, fo uns 
glaublich er flingen mag, fi doch mehrere Diale zugetragen. So warf mich äußerer Zwang, 
dem ich mich nicht zu entziehen im Stande war, in einen, meinen Reiqungen wildfremben, wiber: 
fprechenden Beruf. Ich befuchte theologifche Borlefungen, daneben jedoch hörte ich auch, gleichſam 


verftohlen, bie beften Rechtälehrer und lief jogar in mebicinifche Collegien . ... . Es brannte in 
mir ein unlöfchbarer Durft, ein nagender Heikhunger nad) Kenntniffen in allen Fächern nützlicher 
Wiſſenſchaft. 


Da mir jeder andere Weg verichloffen war um emporzukommen, ſollte mir eine umfaſſende 
Bildung, für jede mögliche Wendung meines Schickſals gerecht, das erobern, was Anderen 
eine große That, oder Geld, oder Geburt erringen, eine Etellung in der Welt, ein Feld für die 
in mir gährende Kraft, für den wilden Ehrgeiz und Thatendrang, der mein Inneres wie unter: 
irdifches Feuer aushöhlte und verzehrte. 

Es war eine unruhige Zeit damald und ift es heute noch, deren Morgenröthe mit dem 
Aufglühen jugendlicher Leidenschaften und Beftrebungen überall zündend zufammenfällt. Allent: 
halben löſt ſich die alte, hundertjährige Ordnung der Dinge auf, Einrichtungen, bie für ewig 
galten, ftürzen über Nacht in Trümmer, und ein neues Geflecht, neue Sitten und Berhältnifie 
ſchwingen fidy mit fräftigem Lebenstriebe empor. Frankreichs ungeheuere Wiedergeburt fahen wir 
Knaben und Yünglinge aus der Ferne mit an, athemlos vor Entſetzen, Bewunderung, Freude, 
Hoffnung; fein Zug des großen Bildes ging uns verloren, wie man auch bemüht war, es vor 
unjeren lodernden Bliden zu verhüllen, zu entftellen. Die deutfchen Hocichulen, immerdar der 
Heerd, wohin bei uns die erften Funlen jeder Bewegung im Reiche der Geifter fallen, wo fie 
zuerft zünden, fingen auch die von Weften wehende Flamme am früheften auf. Es bildeten fich 
Parteien im Herzen Deutſchlands unter feiner Jugend, welche den Parteien Frankreichs an Gluth 
und Entjchiedenheit der Meberzeugung nichts nachgaben. Während unfere Fürſten gegen den jungen 
Heeiftaat zagſam und zögernd rüfteten, fämpjten die Sympathieen des Boltes ſchon lange unter 
feinen Fahnen, mit feinen Helden und Heeren. Es war die Sade aller Unterbrüdten, fo ſchien 
e3 uns, die dort gejchlagen und gewonnen wurde. Die franzöfiiche Spradye, biäher nur heimiſch 
im geichlofjenen Kreiſe der Vornehmen, der Begünftigten, flieg herab auf den Markt, unter die 
laufchenden Mailen, zu der Beifall Hatjchenden Jugend. Ich umfahte fie, wie man eine Geliebte 
umfaßt; ein alter, nach Marburg verfchlagener Haarfräusler ward mein lebendiger Meiſter darin, 
die Reben Mirabeau’3 und Robespierre’3 meine Sprachlehre. Es war, ald ob mir eine Ahnung 
gejagt hätte: Gehe ihr entgegen, diefer Sprache, welche ihre große Botſchaftsreiſe um die Welt 
antritt; hole fie ein auf der Grenze Deiner ftillen Heimath, begleite ihren fiegreichen Einzug! 

So ſchwanden mir drei Jahre, kurz wie ein Traum und doch ihren Inhalte nad 
unbegreiflich reich, die Jahre zwei bis fünf, in bemen äußerlich ein großes, welterfchütterndes 
und umgeftaltendes Ereigniß das andere jagte, während ich durch unermüdliche Arbeit Tag 
und Naht in dem abgejchiedenen Erdenwinkel unſerer Hochſchule innerlich ebenfo mid 
auszudehnen, ebenjo zu erobern und zu gewinnen trachtete, wie ich ed draußen geichehen und 
gelingen jah. Es erjcheint mir beim Rüdblid auf jene drei Jahre das Werk eines Rieſen, das 
ich vollbradyt: neben dem freien Dienfte der Wiſſenſchaft, die Frohnarbeit um das tägliche Brot, 
ba? id; mir felbft gewinnen mußte, als Lehrer oder ala Abjchreiber; neben meinen Lieblings» 
beihäftigungen und den Studien nad) eigener Wahl noch die aufgedrungene, gewaltfam zum Ende 
zu fchleppende, fremde Aufgabe. Wahrlich, im deutjchen Studenten Liegt eine unglaubliche Kraft 
und Zähigleit verborgen, wenn fie fi auch bisher immer hat abjchlieken und bewegen müſſen 
in bem Kreislauf einer inneren Welt, den ein Fremder fo felten zu begreifen vermag. Der 
deutiche Geift hat feine eigenthümlichere Pflanzftätte und zugleich feine höhere Schöpfung, als 
feine Hochſchulen. Andere Völter taufen die Neugeburt ihrer Ideen in feuer und Blut; wir 
jäugen fie mit der Milch unferer Willenfchaften groß, und wenn fie darum weniger wild und 
gebietend in bie Welt treten, jo find fie doch ebenjo ſtark und lebensjähig, wachſen ebenſo gebeih- 
li) empor wie jene! 


104 Deutſche Rundſchau. 


Und nun, aus dem fruchtbaren Zirkel meiner Arbeiten, aus dieſer ſchönen Freiheit und 
Selbſtbeſtimmung auf einmal wieder in die dumpfe Stickluft meines Vaterhauſes, die Stirn des 
Denkers ins Joch, das Flügelpferd an die ſchmale Krippe des Stiers und vor den ſchweren Pflug 
täglicher Dienſtbarleit! Aber was half es? Deine drei Jahre waren dahin; ich ging. Eine 
Anftelung gab es nicht gleich, jelbft wenn ich fie geſucht. Nun galt es, am Teiche Bethesda 
liegen und harren, bis das Wafler ſich bewegte, andere, die auch harrten, und wer weiß wie 
lange und wie ſchmerzlich, auf die Seite ftoßen und den rechten Augenblid, ben rechten Pla er: 
ſpähen. Wie gähnte fie mich an, die troftlofe Ausficht auf eine Dorfpfarrei: Lebendig begraben, 
ehe ich gelebt; mit zweiundzwanzig Jahren ein Greis! Lehrfähze fortpflanzgen, an die ich das 
Mefler des Zweifeld hatte jehen lernen, und Täuſchungen überliefern, die vor meiner eigenen 
Wiſſenſchaft längft zerrifien! 

Balentin ift, im Grunde feines Herzend, Dingeljtedt jelber — Dingelftedt, 
der Sohn des Feldwebels, zurückverſetzt im jene Zeit, in welcher ein Gorporal 
Kaijer und jeine Brüder Könige geworden, in welcher e3 lange feinen anderen 
Adelsbrief gab, als Glück und Talent. So jehr identiftcirt ſich, Leib und 
Seele, der Dichter mit feinem Helden, daß er überall nur Selbfterlebteg, 
Selbitgefhautes, Selbftgehörtes zu berichten scheint. Es ift der Tag, ber 
7. Dezember 1807, an welchem König Jeröme und feine Gemahlin ihren Einzug 
halten in Kaſſel: 

Die blaffe Sonne fand beinahe in ihrem Zenith, als fünfzig Kanonenſchüſſe, dad Ge— 
ichmetter von vier und zwanzig Pofthörnern, einjallendes Geläut von allen Thürmen, Trommel: 
wirbel, Erompetenftöße, verwirrte Kommandorufe, dröhnende Hufichläge und die unaufhaltfam 
beranbraufende Fluth der Menſchenwoge das Nahen de3 Zuges verkündete. Valentin berichtete 
dazu aus dem Programm: Jet ift er am Thore, — jebt kriegt er vom Bürgermeifter die 
Sclüffel der Stadt, — jet hält er unter dem Zriumphbogen, — jeht überreicht ihm der Ober: 
ſchultheiß ein Gedicht . . . . hier entfiel ihm ber Zettel. Fünfzig Lancierd mit flatternden 
Fähnlein, auf fchmweißtriefenden Roffen, — dann zwei Sechälpänner, darin bie proviſoriſchen 
Minifter, — „Der Jollivet hat Spatgebä’*, Ereifcht eine Drujelftimme, — dann die Schüßen- 
garbde, — dann endloje Bivats, geſchwenkte Zücher, auffliegende Hüte und Müben, — Präien: 
tirt's G’wehr, Presentez les armes, — die Fahnen jenten fi, das Spiel wird gerührt — — 

Der König! 

Die Königin! 

Ein mit Vergoldung und Zierrath überlabener Prachtwagen, mit acht Pferden beipannt, 
drum herum und dicht dahinter zahllofe Generaladjutanten und Oberhofchargen, ftarrend von 
triegeriſchem Schmude und adeliger Pracht, die rothen Uniformen der Nobelgarde, und dann in 
endlofem Zuge die berittenen Saffelee Bürger, eine Reihe jechsfpänniger Hofwagen mit ben 
Damen der Königin, Lanzenreiter und — „Bolt.“ 

Dad Bolt, wie überall, fogar auf allen Komddienzetteln, hübſch zuleßt ! 

Aber der König? Aber die Königin? — Durd dad Spalier von Ariegern und Bürgern, 
durch die kaum handbreiten, obendrein hinaufgezogenen Glasfenfter ber Staatskaroſſe, burch den 
rafchen Schritt, worin fie dahinraufchte, blieb die irdiſche Majeftät auch hier, auch jekt noch 
dem gewöhnlichen Staube, jo gut wie unfi chtbar. Im Fluge gefehen und verfchwunden: Gin 
feines, kleines Profil, ein glattes, glänzend ſchwarzes Haar, ein weißer Handſchuh nebft geftidtem 
Uniformaufichlag, der nach Links und nach Rechts winkte, — das war ber König. Ein frifches, 
rofiges Geficht, eine hochblonde Lode und ebenfalls ein weißer Handſchuh, ebenfalls nach allen 
Seiten grüßend, faum Tleiner, ald der erfte, andere, — da3 war die Königin. 


Als Dingelftedt dies ſchrieb, war er bereit3 „hoffähig“; aber er konnte ſich 
wohl der Zeit erinnern, da er es jo wenig war, wie fein Valentin jebt, und 
mit leichter Ironie ruft er da3 Recht an, „welches die freie Kunſt uns verleiht“, 
um fein im Domino maskirtes Ebenbild auf eine jener Königlichen Redouten 
zu führen, welche die Höhe des Jeröme’schen Regiments bezeichneten, ebenjo be— 


Franz Dingelſtedt. 105 


rühmt wegen ihrer fabelhaften Pracht, wie wegen ihrer zügellofen Freiheit. Als 
Jemand flüfternd von der Anweſenheit der Königin ſprach, rief der König laut 
und ärgerlid: „La reine! Qui parle donc de la reine! Je ne connais pas de 
reine ici!* &3 war ein raufchender Feſtzug, ein Bacchanal, ſcheinbar ohne Enbe. 
„Morgen wieder luſchtick!“ jagte der König; und „treten wir ein!“ jagt der 
Dichter — dem es ja jelber wie ein Zauber vorkommen mußte, daß er jüngjt 
durch dieſe nämlichen Räume gewandelt, in Württembergifcher Hofuniform, ein 
Gaft des Kurprinzen und Mitregenten: 

Es if Dienftag, die neunte Wbendftunde des 14. Februar 1809. Zreten wir ein, fraft 
bem Rechte, welches bie freie Kunſt uns verleiht, obgleich fie nicht „hoffähig” macht. Treten 
wir ein in den goldenen Eaal, beffen ftolz geihwungene Wölbung und weißgypſernes Laubwerk 
von ben majeftätifchen Weiſen der erften Polonaife bald mwiderhallen wird, deffen reiche Vergol⸗ 
dung in hundert Spiegeln bei bem Schein von taufend und abertaufend Kerzen flammend fid) 
wiederholt, deffen ganze Yänge, 150 Fuß, deffen ganze Breite, 40 Fuß, von einem Gewirr ber 
malerifcheften Trachten, von einem Gejchwirre der füheften Stimmen belebt if. Treten wir 
ein! — — — — — — 

Selbſt unter der Verkleidung können wir aus ihrer Mitte das deutſche Blut und das 
fremde ſcheiden. Sie ragen hervor und gewinnen den Preis der Schönheit, bie vollen, hohen 
deutfchen Geftalten, die Töchter altadeliger Geſchlechter aus Preußen, Hannover, Heflen, Brauns 
fchweig, bie Scheele, die Hardenberg, bie Oberg, die Lömwenftein, die Truchſeß: berühmte Sterne 
der germaniichen Heraldik, welche es nicht verihmähten, um ben korfiichen Kometen ihre feiernde 
Bahn zu ziehen und dem Liebeshof dieſes neuen provengalifchen Fabelkönigs zu ſchmücken. Neben 
ihnen das Heine, zarte, fchwarzäugige, bewegliche FFranzoienthum: Madame Boucheporn, das 
einzige Kind eines Präfekten im fräntifchen Kaiferreih, in Kaſſel die Gattin des Präfelten bes 
königlichen Palaftes, — Madame Simeon, des Minifterd Schwiegertochter, eine fernige Pariferin, 
bis zur Derbheit natürlich, voll gaufelnder Lebendigkeit, — Madame du Goubras, ein halbes 
Kind noch, faum der heimathlichen Penfion entnommen und in eine weftphäliiche Gräfin Berne 
terode umgetauft. Um Kopfeslänge ragt über fie hervor Bianca La Flöche, bie Jtaliänerin, 
anzufchanen wie eine wanbdelnde Marmorftatue aus dem Vatikan. Und damit fein Stamm, fein 
Völkername, kein Erdtheil fait fehle im diefem Kongreß ber Schönheiten, geht dort auch eine 
Amerifanerin umher, Madame Rewbel, die Schwiegertochter de3 berühmten parifer Konventö- 
manned, — für König Jeröme eine nicht immer willlommene Mahnung an ihre Freundin, feine 
geſchiedene Frau, Miß Patterfon. 

Wir begreifen, twelche Fascination diefe Welt, kommend wie ein Märchen 
und gehend wie ein Spuk, für den Dichter haben mußte, al3 fie zuerft aus ihren 
Trümmern ihm entgegentrat, von der nüchternen Helle des Tages nur noth— 
dürftig verhült. Für Dingelftedt war diejes Kafjel, damals nod voll von 
lebendigen Zeugnifjen und Zeugen der weftphälifchen Zeit, gleihlam der Schein 
einer Wirklichkeit, aus welcher dieſe hervortaudhte, wie fie war, wenn jein 
Dichterwort fie beſchwor: 

Schlafen rings in dumpfer Stille ſonder Licht und Widerhall 
Jene hohen Häuſerreihen und darin die Menſchen all’, 

Dann betret' ich euch, ihr Steine, deren Herz Natur belebt, 
Daß ihr meiner ſpäten Stimme die vermißte Antwort gebt!). 

Frühe ſchon hatte der General von Bardeleben ſeinen jungen Freund ob 
deſſen unnatürlicher Vorliebe für das Königreich Jeröme's, dieſes Reich der 
Fäulniß und der Schmach und Schande für jedes deutſch fühlende Herz getadelt. 





1) Spaziergänge eines Kaſſeler Poeten: Auf dem Königaplah. — Sämmtliche Werte, 
3b. VII, ©. 125. 


106 Deutſche Rundichau. 


Aber der wadere Mann wird fich gefreut haben, ald ex im Frühling 1849 die 
erften, in Kafjel ſelbſt publicirten Proben des neuen Romane don Dingelftedt 
(08. Denn in diefer großartig geplanten Darftellung der fieben Jahre jollte es 
endlih zum Austrag kommen zwiſchen dem Dichter und dem Patrioten, und 
fein Zweifel, daß der Patriot den Sieg davongetragen Haben würde. Denn 
wenn e3 freilich Heut’ auch dem ernfteften Bemühen nicht mehr gelingen wird, 
die durcheinanderlaufenden Fäden des Entwurf3 hinlänglich zu entwirren, um der 
romanhaften Entwidlung als folder folgen oder einen bejtimmten Verlauf der 
Handlung angeben zu können: jo viel doch fteht jet, daß der Dichter jeinen 
Helden aus den mannigfahen Verſuchungen und Gefahren, die an den ehrgeizig 
träumenden und doch idealiich angelegten Yüngling herantreten, aus all’ den 
Liebes- und anderen Händeln, zulegt geläutert und geftählt, als deutjchen Frei— 
heitsfämpfer hervorgehen lafjen wollte Der mißglüdte Dörnberg’sche Aufftand 
jollte die Peripetie bilden: jchon in dem jhimmernden Gewühl des Faſtnachts- 
balles werden fie und gezeigt, die nicht viel jpäter, am „Aſchermittwoch,“ ihr 
Blut verfprigt für eine, damals noch hoffnungsloſe Sade: „ein halb Dutzend 
Masken etwa, alle in dunkle Dominos gehüllt,“ und um einen Farotiſch ver- 
ſammelt. . . . Es war Jonas, der amerikaniſche Agent, Oberft von Dörnberg, 
Emmerich, der alte abenteuernde Parteigänger, und noch ein paar Häupter 
aus dem uns bekannten Club: ein ganzes Neſt voll Verſchwörer, die mitten im 
königlichen Schloß zuſammenſteckten; kühne Waghälfe, welche unter einem jchein: 
baren Hazardipiele ihr wirkliches Spiel, um den Ginfaß einer Krone, verbargen. 
Man entnimmt den vorhandenen Skizzen, welch' eine Fülle charakteriftifcher 
Geftalten dem Auge de3 Dichters vorſchwebte, während die bereit3 ausgeführten 
Stüde die Kraft und Farbe der Dietion zeigen, mit welcher er fie auszuftatten 
gedachte; und in der That, die heimijch vertrauten Zuftände, gefehen unter dem 
Licht einer abenteuerlichen Romantit — franzöjiicher Leihtjinn und franzöſiſche 
Grazie dargeftellt im Gegenjaß und Kampf mit dem ftarren, beſchränkten, aber 
grundbraven Altheffentyum, von welchem ein Vertreter ihm noch im eigenen 
Bater lebte: es konnte für Dingelftedt Fein glüdlicheres Thema geben. Das 
Letzte, was vollendet vorliegt, ift eine ländliche Scene, deren Schauplaß, Hals- 
dorf, wir aus der Schilderung des Dichters ſchon kennen gelernt haben. Hier 
Iprehen die Bauern untereinander und mit ihrem Poftmeifter, Metger mit 
Namen, gleichzeitig ein geichiefter Advocat, der fih „Herr Syndicus“ tituliren 
ließ, in der beiten oberhefliihen Mundart — durch die offenen Fenſter ſchallt 
es jubelnd zurüd: „Naus met de ladanſche Brokke! Naus met de parijer 
Hungerleeder! Naus met dem Häne Kroße, dem Jeronemus;“) und das Ganze 
Elingt aus mit zwei jchönen Liedern, die man heute noch in Heffen fingen hören 
fann; das eine von den Bauernmädchen: 

Auf diefer Welt Hab’ ich fein’ Freud’, 

Ih hab’ einen Schab, und ber ift weit. 

In ferne Lande mag ich nicht, 

Und lange Kleider trag’ ich nicht. 


') Hinaus mit den lateinischen Broden! Hinaus mit den Parifer Hungerleidern! Hinans 
mit dem fleinen Knirps, dem Hieronyinus! 


Franz Dingelftedt. 107 


Denn lange Kleider und ſpitze Schuh, 
Die kommen keiner Dienſtmagd zu! 


Da3 andere von den Bauernburfchen : 
Bruder Hannjooft, weißt Du was: 
Trint mit mir aus Einem Glas! 


Der Kohrföricht Toll lewe, 
Ter Kohrprinz darnewe 


Un alle brafe Offencier: 
Kohrheflen jeint wir! 


Hier bricht dad Romanfragment ab; und der Verfaſſer mochte mit Luft 
oder Unluft, es fortzuführen, nod kämpfen, ala er fih Anfang 1849 auf 
Oetker's Drängen entſchloß, „Drei Kapitel aus Dingelftedbt’3 Roman: Sieben 
Jahre“ im „Unterhaltungsblatt zur Neuen Heſſiſchen Zeitung” zu veröffentlichen. 
Ich erinnere mich noch jehr qut, mit welcher Begeifterung in Heſſen man dieſe 
Gapitel (Einzug Yeröme’3, Maskenball und Dorfjcene) aufnahm, und melde 
Erwartungen man daran knüpfte. Dingeljtedt jelber leitete die Publication 
(4. März 1849) durd) folgendes Vorwort ein: 

Dem Wunfche des befreundeten Herausgebers biefer Blätter Folge leiftend, theile ich dem— 
felben zu beliebiger Veröffentlihung drei Bruchſtücke aus meinem, feit Jahr und Tag angekün— 
digten „weftjäliichen‘ Romane mit. Meinetwegen mögen die abgeriffenen Blätter für Noah’s: 
tauben genommen werden, ausgejendet, um zu erfunden, ob die großen Wafler Hinlänglich ſich 
verloufen haben, jo daß für die Dichtung eine jefte Scholle zu grünem Anbau wieder möglich 
geworden ift. Das Ganze wird deßungeachtet auf jeine Erſcheinung teilnehmende Freunde 
immer noch ein Weniges warten laſſen. Früher hielt mich von raſcher und voller Ausgabe eine 
vielleicht übertriebene Bedenklichkeit ab; ich wollte dad mit Liebe und Fleiß gehegte Werk vieler 
Jahre einer perfönlichen Ungunft und augenblidlichen Verſtimmung gegen den Verfaſſer nicht 
überantworten. In diefen Zweifeln und jo zu jagen mitten in der lebten Arbeitsnacht über- 
raſchte mich die Dlorgenröthe einer großen Revolution: ficher nicht der rechte Hintergrund für 
ein geichichtliches Gemälde, wie ich es zufammengeftellt und ausgeführt habe. Zudem mußte es 
durch eine wunderliche Fügung des Schidjald, romanhafter ala mein Roman, fich begeben, daß 
eben durch jene Revolution die Geftalten der Napoleoniden, unter ihmen auch mein König Jeröme, 
auf einmal bandelnd und lebendig auf der Weltbühne wieder auftraten, nachdem wir fie ala 
unſer gutes Eigenthum für die Dichtlunft volllommen gewonnen, d. h. für die Wirklichkeit voll- 
fommen bejeitigt geglaubt Hatten. Weit entfernt, in diefem Umſtande eine Förderung meiner 
fünftleriichen Zwede und Mittel zu erkennen, fühlte ich diefe vielmehr in unbequemfter Meife 
geftört und verwirrt; es ift — um im allerneueften Jargon der politifchen Tribüne zu reden — 
die ganze Tragweite meiner Grfindungen verändert, das fo unendlich wichtige und demnach 
mit größter Gewifienhaftigfeit zu beftimmende Verhältniß zwiſchen Wahrheit und Dichtung 
gründlich verrüdt worden. So haben im Yaufe weniger Jahre nicht nur die allgemeinen Bes 
dingungen der Runft, nicht nur die großen Weltzuftände und Zeitfragen, ſondern auch die eins 
zelnen Standpunfte innerhalb und außerhalb meines Romans, die perfönlichen Beziehungen des 
Derfaffers zum Publitum und zur Kritik einen dergeftalt durchgreifenden Wechfel erlitten, daß 
ein unbefangenes Urtheil mich der Ziererei und abfichtsvollen Zurüdhaltung mit demſelben nicht 
beichuldigen wird. Diejenigen Echrififteller, welche über fich und ihren Beruf zur Klarheit ges: 
fommen find, werden mich verftehen, wenn ich überhaupt eine gewiffe, mit jedem Buche wach: 
ſende Zagjamteit und innere Scheu vor dem literäriichen Markte offen befenne. Jene glüdliche 
Raivetät und Sorglofigkeit, womit wir im fFlügelfleide vor das Publifum eilen, jungen Mädchen 
vergleichbar, welche die Stunde des erften Balles nicht erwarten lönnen, ſie weicht, je ernftere 
Anſprüche wir jelbft im Namen der Welt und der Kunft an und ftellen, einer zögernben, mit 
fich felbft niemals zufriedenen und durch feinen Erfolg gelöften Befangenheit. Ich hoffe nicht, 


108 Deutſche Rundſchau. 


daß dieſe dem Leſer im Buche ſelbſt fühlbar und läſtig ſein wird, wie auch ich in den alle 
Zweifel und alle Mühen überſchwänglich lohnenden Stunden des Schaffens fie immer feſt und 
glücklich uberwunden habe; aber fie begleitet mich, jo oft ich an bie lehzte Förderung meines 
Wertes Hand anlegen und der Nichts zurüdgebenben Prefie es überliefern will. Ya, fie verläßt 
mich nicht einmal bei diefen erften Schritten, womit ich einzelne Geftalten und Bilder aus dem 
Ganzen verfuchäweife an das prüfende Zageslicht und feine unbeftehliche Beleuchtung hinaus: 
trage. Iſt darum zu befürchten, daß dich Ganze geringer, werthloſer und welter ſich barftellen 
werde, ald manche frühere, mit beneidenswerthem Leichtfinne hinausgeichleuderte und mit ebenfo 
beneidenäwerthem Glück aufgenommene Skizze? Die Hand auf's Herz, ich glaub’ es nicht; ber 
Leſer enticheibe, ebenfalld die Hand auf's Herz. — 

Stuttgart, 25. Januar 1849. Fr. Dingelftedt. 

Ob Dingelftedt, als er dieſe Worte jchrieb, wirklich no an die Vollendung 
geglaubt oder fie auch nur ernftlich beabfichtigt hat? Beabfichtigt, gewiß; geglaubt, 
eben jo gewiß nit. Der Riß, den aud hier das Jahr 1848 gemadt, var 
zu tief: wir alle, die Welt, die Menſchen und die Dinge waren andre, vorher 
und nachher, al3 ob eine Verftändigung zwiſchen Diesjeit3 und Jenſeits nicht 
mehr möglih; und wenn Dingelftedt jagt, daß, romanhafter ald der Roman, 
die Napoleoniden auf der Weltbühne wieder aufgetreten , wer weiß, ob ihn leiſe 
nicht zuweilen eine Ahnung beichlichen habe, daß ebenſo qut die Kurfürften wieder 
„abtreten“ Könnten? Der Berfaffungsconflict in Heilen, zujammen mit ber 
ichleswig =» holftein’schen Frage, der Ausgangspunkt der deutſchen Ginheits- 
beivegung, hatte begonnen. Auf heſſiſchem Boden jollten zum erften Male, und 
gleihjam zum Worpoftengefeht vor dem großen Enticheidungstampf, der Süden 
und der Norden Deutichlands, Defterreih und Preußen, einander unter den 
Waffen begegnen. Was in den zornigen oder witzigen Reimen der politijchen 
Dichter bisher nur ein Spiel der Phantafie getvefen, gewann nun, in furdt- 
barem Aufruhr, wirkliche Geftalt; und ihm, der auf den entlegenen Pfaden 
jeine® Romans mit der Sicherheit dahingejchritten war, daß Vergangenes ver- 
gangen fei, mochte num plößlid zu Muthe werden, wie dem Nachtwandler, der 
fih angerufen Hört. Das Werk blieb Liegen; immer noch einmal, bis zu feinen 
legten Tagen, in Wien, vegte fich bei Dingelftedt der Gedanke, dad Abgebrochene 
weiterzuführen — aber die Stimmung kehrte nicht wieder, und nicht ohne Wehmuth 
trennen wir und von einem Torſo, auf welchen jo viel Arbeit und jo viel Liebe — 
vergeblich! — verwandt worden find. 


Dr. Saurentius Scholz von Roſenau, 


ein Arzt und Botaniker der Renaijfance?). 


Bon 
Ferdinand Cohn (Breslau). 


LET 


J. 

Einen Völkerfrühling, wie ihn das Zeitalter der Renaiſſance in der zweiten 
Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts und während des ganzen ſechzehnten Jahr— 
hunderts erlebte, hat die Weltgeſchichte nur noch einmal geſehen, in jener Epoche, 
die wir als die Blüthe Griechenlands bezeichnen. Aber damals war es doch 
nur ein einziges, kleines Volk geweſen, das mit genialer Begabung auf allen 
Gebieten geiſtigen Strebens und künſtleriſchen Schaffens Unvergängliches hervor— 
gebracht hat; und wenn gleich unſere Cultur noch heut an den Früchten zehrt, 
die in jenem helleniſchen Blüthenalter gereift ſind, ſo liegt doch jene Zeit uns 
ſo fern, und das antike Leben iſt uns ſo fremd, daß wir nur ſchwer zu einem 
vollen Verſtändniß jener Epoche gelangen. Aber von den Männern der Renaiſ— 
fance fühlen wir, daß fie Fleiſch von unferem Fleiſch, Blut von unferem Blut 
find; die Häufer ftehen noch, die fie jich erbaut, wir wandeln in den nämlichen 
Straßen, in denen fie gewohnt; die ntereffen, von denen fie bewegt wurden, 


1) Calagius, Andreas (1549—1609) Hortus D. Laur. Scholzii celebratus carmine 

Wratislaviae apud. Georg. Baumann 1592. 
Acidalius, Valens (1567—1595) Janus quadrifrons in Kortum Laurentii Scholtzii 

med. Wratisl. ibid. 1594. 

In Laurentii Scholzii med. Wratisl. hortum epigrammata amicorum ibid. 
Leges hortenses. — Leges convivales. ibid. 

Catalogus arborum fruticam ac plantarım tum indigenarum quum exoticarum horti 
Scholziani med. Wratisl. ibid. 

Goeppert, Heinrich (1800— 1384) Ueber bie ältere jchlefiiche Pflanzenkunde ala Beitrag zur 
fchlefifchen Eulturgeichichte. Schlefifche Provinzialblätter 1832, Bd. 96, ©. 108 ff. 

Henschel, Auguft Wilhelm (1790 —1856) Zur Gefchichte der botanischen Gärten und der 
Botanik überhaupt in Schlefien im 15. und 16. Jahrhundert. Dtto und Dietrich’s 
Allgem. Gartenzeitung 1857, ©. 171 fi. 

Gräber, Jonas (1806-1889) Lebenäbilder hervorragender fchlefilcher Aerzte aus vier 
Jahrhunderten. Breslau, 1889. 


110 Deutihe Rundſchau. 


beherrichen noch unfer ganzes modernes Leben. Aber wa3 und jene Männer be- 
ſonders ſympathiſch macht, dad ift der Idealismus und der Tyeuereifer, ber fie 
beſeelt; fie find fi) defjen bewußt, daß fie im Dienfte der Humanität wirken, 
daß fie der Menſchheit die verloren gegangenen Güter edler Bildung, fittlicher 
Vervollkommnung, daß fie ihr Gedanken: und Gewiffensfreiheit erringen. Der 
Drud, welcher auf den Völkern des Abendlandes während des Mittelalterd, und 
in den lebten Jahrhunderten ſchwerer, als je, gelaftet hatte, war unerträglich ge 
worden; war es bis dahin gelungen, die Auflehnung, welche freiheitsdurftige 
Geifter von Zeit zu Zeit verſucht, durch Folterqualen und Scheiterhaufen nieder- 
zudrücden, jo ließ fich der graufame Terrorismus nicht länger aufrecht erhalten; 
nachdem zuerft in Jtalien unter der Sonne de3 neuen Frühlings das Eis viel- 
hundertjähriger Erftarrung geſchmolzen war, brachen überall in Europa bie 
Keime, bald auch die Blüthen frifchen Geifteslebens freudig hervor. 

Die wahre Bedeutung der NRenaiffance beruht in ber Rückkehr zur Natur. 
Die Menſchheit Hatte ſich im Laufe de3 Mittelalter der Natur völlig entfrem- 
det; im trüben Spiegel finfterer Askeſe und haarjpaltender Scholaftif erſchien 
die Natur al3 ein Zerrbild des himmlischen Paradiejes, von böjen Geiftern ge 
ichaffen, um die Menfchen ihrer wahren Heimath zu entfremden und durch Ver— 
lodung zur Sinnenluft in Verdammniß zu führen. Mit der Veradhtung ber 
Natur ging almälig auch die Fähigkeit verloren, diejelbe unbefangen zu beob— 
achten — geſchweige denn, diefelbe wiſſenſchaftlich zu erforichen. Wer ben frevel- 
haften Verſuch machte, in die Geheimniffe der Natur einzudringen, ward ala 
Zauberer angefehen, der mit dem Teufel im Bunde ftand, und war den Henkern 
der Anquifition verfallen. Nun aber, da man wieder die Augen zu öffnen 
wagte, erkannte man mit freudiger Ueberraihung, da die Natur ein harmoniſch 
geordnete Werk des Schöpfers fei, deffen Größe und Schönheit fi um fo herr- 
licher offenbare, je tiefer man in diejelbe eindringe. So wurde die Renaiffance 
die Wiege der Naturwiſſenſchaft. 

Dan gibt gewöhnlich an, die Renaiffance fei ausgegangen von der Wieber- 
belebung der antiken Tradition, von der Wiederaufnahme der Eaffifshen Studien 
in Italien. Wahr ift, daß die Männer, welche die neue Zeit begründeten, der 
eigenen Kraft mißtrauend, eine Anlehnung und Stüße juchten in der Autorität 
der alten Griechen und Römer, daß fie darım eifrig die Ueberrefte der antiken 
Kunft aus taufendjährigem Schutt ausgruben, die verjchollenen Handfchriften 
aus dem Staube der Hlofterbibliothefen hervorfuchten, und voll Begeifterung ſich 
beftrebten, ihre Sprache zu verftehen, ihren Geift zu erfaffen. Aber in Wahrheit 
war doc die Natur die Lehrmeifterin der großen Künſtler und Gelehrten der 
Renaifjance. Naturaliften waren die Donatello, die Mafaccio, wie alle ihre 
Nachfolger; aber der nämliche Geift, welcher die italienischen Künftler des Quattro» 
cento und Ginquecento antrieb, von den erftarrten Formeln der Gothik ſich los— 
zureißen und die Kunſt duch Schöpfen aus dem frifchen Born der lebendigen 
Natur zu verjüngen, bejeelte auch ihre Zeitgenoffen, welche den Grundftein Iegten 
für den Aufbau der Naturwiſſenſchaft, der Phyfit und der Aftronomie, für die 
Erforſchung der Thier- und der Pflanzenwelt, ihrer Anatomie und Phyfiologie 
und für die Schöpfung der wiſſenſchaftlichen Medizin. 


Dr. Laurentius Scholz von Rofenau. 111 


Am meiften fam der neue Geift den Univerfitäten zu Gute. Die Univerfi- 
täten des Mittelalters waren Höfterliche Bildungsanftalten geweſen, geftiftet und 
unterhalten von der Kirche, Geiftliche waren die Doctoren; der größte Theil 
der Schüler hatte zum Meindeften die niederen Weihen empfangen. In ber 
Facultät der Juriſten wurde nur kanoniſches Recht gelehrt: in der der Artiften 
drehte ſich der Unterricht um den ſcholaſtiſchen Streit der Realiften und der 
Nominaliften. Ein medicinijches Studium gab e8 überhaupt nicht mehr, feit 
die Schulen zu Salerno und Montpellier, in denen unter orientalifhen Einfluß 
die mediciniiche Wiſſenſchaft um die Wende de3 erjten Jahrtauſends die leßte 
Pflege gefunden hatte, von der philofophifch theologijchen Zeitrichtung überwuchert 
worden waren. Mit dem Anbruch der Renaifjfance wurden die Univerfitäten 
verweltlicht, zuerft in Jtalien, wo die Nepublit Venedig, die Fürſten der Häufer 
Eite und Medici und die päpftliche Curie in edlem Wetteifer in ihren Univerſi— 
täten zu Padua, Ferrara, Piſa und Bologna Stätten der freien Forſchung und 
Lehre eröffneten. Sie wurden bie Bildungsftätten des gefammten Europa; 
hierhin ftrömte auch die deutſche Jugend; hier empfingen Grasmus, Reuchlin, 
Ulrich von Hutten ihre klaſſiſche Bildung, die fie dann über die Alpen trugen, 
two die geiftige Bewegung ſich mit überrafchender Schnelligkeit fortpflanzte 
bis an die Ufer der Nordiee, und dann weiter nad) Often bis tief hinein ın die 
ſlawiſchen Lande. 

Diesſeits der Alpen und ganz bejonders in Deutichland nahm die Renaiffance 
ein neue3 Element auf: fie verfchmolz mit der Reformation. In Italien Hatte 
fie vor den Einrichtungen der Kirche Halt gemacht; waren doch die Kicchenfürften 
felbft die eifrigften Förderer der Nenaiffance gewejen: Aber au die fittliche 
Fäulniß, das traurige Erbtheil mittelalterlicher Verwilderung, hatte fie nicht zu 
heilen vermocht; jo iſt es gefommen, daß wir troß des Glanzes feiner Fünft- 
leriſchen und wiſſenſchaftlichen Schöpfungen an dem goldenen Zeitalter de3 italie= 
nischen Ginquecento doch feine volle Freude empfinden können. Es lag an ber 
Gemüthötiefe, der ernfteren Lebensauffaffung des Nordens, dab in Deutjchland 
die Renaiffance ſofort auch beffernde Hand an die Einrichtungen der Kirche 
legte, nicht in gewaltthätiger Revolution, jondern in allmäliger Umgeftaltung, 
getragen von dem Volksgewiſſen und der offenen oder ftillen Sympathie ber 
höheren Geiſtlichkeit. Thatſache ift, daß alle jene Männer, welche dem Huma— 
nismus, der verebelten, wahrhaft menschlichen Geiftesbildung, den verjüngten 
Künften und Wifjenfchaften in Deutfchland die Bahn eröffneten, zugleich die 
Träger der Reformation gewejen find. 


I. 


Das fünfzehnte Jahrhundert war noch nicht zum Abſchluß gelangt, ala die 
Renaiffance auch in Schlefien ihren Einzug hielt. Hier Hatte fi) aus der 
Miſchung ſlawiſchen und germaniichen Blutes ein tüchtiges Volksthum entwickelt, 
in dem nord» und füiddeutiche Charaktereigenthümlichkeiten ſich glücklich vereinigten, 
und da3 feinen geiftigen, wie feinen geographifchen Mittelpunkt in der Landes» 
hauptftadt Breslau fand. Obwohl Breslau damals kaum 40,000 Einwohner 
zählte, jo nahm es doch al3 deutjche Grenzwacht und Vorpoften des Hanfabundes 


112 Deutiche Rundſchau. 


eine bedeutungsvollere Stellung ein, als vielleicht Heutzutage; war doch Wien 
auch nicht größer, und von Berlin, das nur den vierten Theil jener Einwohnerzahl 
befaß, war no kaum die Nede. Durch feine Verbindungen mit Krakau und 
Kiew, mit Thorn und Danzig auf der einen, mit Venedig, Nürnberg und Ant» 
werpen auf der anderen Seite wurde Breslau die WVermittlerin des Handels 
zwiſchen dem ſlawiſchen Often und dem deutjchen Weften und Norden. Auf dem 
Breslauer Salzring (heute Blücherpla) ftapelte das Salz von Wieliczka; klein— 
ruffiiche Fuhrleute, deren Quartier die noch heute nad ihnen benannte Reufche 
(Reußiſche) Straße war, brachten Pelzwerk aus dem Moskowiterland, Pottajche. 
Wachs au3 den galiziichen Wäldern, Wein aus Ungarn und verführten dafür 
indifche Gewürze, florentiniſche Seide, niederländiiche Tuche, jchlefiiche Leinwand 
in ihre Heimathaländer. So erwuchs im Laufe des Mittelalterd in Breslau 
eine mächtige Kaufmannjchaft, deren Gejchlechter die gefammte Stadtverwaltung 
und Rechtspflege für fih in Anſpruch nahmen und deshalb mit den aufftrebenden 
Zünften in unabläffigen, oft blutigen Kämpfen lebten; aber die bürgerliche Frei— 
beit gegen den Biſchof, die fchlefischen Fürften und den böhmijchen König kraft» 
voll zu vertheidigen wußten. Wälſche Meifter hatten jeit 1488 die neuen Kunſt— 
formen der Renaiffance in Breslau eingeführt, im Laufe des jechzehnten Jahr: 
hundert3 gelangten diejelben zur allgemeinen Herrſchaft und verdrängten vollftändig 
die gothifche Tradition. Die Häufer der durch blühenden Handel und Gewerb— 
fleiß zum Wohlftand gelangten Bürgerichaft wurden num alle im neuen Stile 
umgebaut; fie erhielten jene maleriichen Giebelfronten, jene funftvollen Stein- 
portale, welche den Hauptftraßen des alten Breslau, und inäbefondere jeinem 
Ring, troß mancherlei jpäterer Veränderungen, noch heute fein patrizifches Ge- 
präge verleihen. Die ehriwürdigen Kirchen waren ſchon von dem frommen 
Glaubenseifer, das ftolze Rathhaus von dem kräftigen Bürgerfinn des Mtittel- 
alter8 gegründet worden; nun wurden fie vollendet, mit Renaiſſancekunſtwerken 
ausgeſchmückt und erhielten die zierlichen Thurmhelme, die für dad Breslauer 
Stadtbild jo charakteriſtiſch find. 

Gleichzeitig mit der Kunſt der Renaiffance zog auch die Wiedergeborene 
Wiſſenſchaft in Schlefien ein. Aus Prag und Krakau, wie aus dem deutſchen 
MWeften famen die Miflionäre der humaniftiichen Bildung; mit offenen Armen 
wurden fie von den Städten aufgenommen; an Stelle der verfommenen Stabdt- 
und Klofterichulen wurden moderne Gymnajien gegründet ; hier twurde die Jugend 
durch das Studium der Haffiichen Vorbilder für den Geift der neuen Seit vor» 
bereitet; fie lernten lateiniich ſprechen und jchreiben, wie Cicero, lateiniſch dichten, 
wie Ovid und Horaz. Aber auch für die Natur wurde der Sinn gemwedt, ala 
die Reformation in Schlefien eindrang und ſich in wenig Jahren über das ganze 
Land verbreitete. Hatte doh Martin Luther in feinem „Sendichreiben an die 
Bürgermeifter und Rathsherrn von allerlei Städten in Deutjchen Landen“ den 
Unterricht in der Naturkunde für die Schule eindringlich empfohlen: „wir fehen 
die Greatur recht an, mehr denn im Papftthum; wir beginnen Gottes heilige 
Werke und Wunder auch aus den Blümlein zu erkennen; in feinen Creaturen 
ihauen wir die Macht feines Wortes.“ Schon 1558 konnte Melandthon von 


Dr. Laurentius Scholz von Rofenan. 113 


den Schlefiern rühmen, „ed gebe nirgends in Deutjchland jo viele Leute aus 
dem Volke, die Künfte und Wiffenichaften pflegten, wie in Schlefien“. 

Mit der Ausbreitung der Bildung änderte ſich auch der jchlefiiche Volks— 
harakter: Im Adel ftarben die rohen Szlachſchitzen des Mittelalter aus, die 
ihre Kraft in unabläſſigen Fehden, in unmäßigen Trinkgelagen vergeudet hatten. 
Die jungen Adligen wwetteiferten mit den Söhnen der reichen Kaufleute im 
Streben nad) feiner Sitte. Nachdem fie auf einer deutſchen Hochſchule eine 
philologifhe und philofophiiche Vorbildung gewonnen, gingen fie zur Vollendung 
ihrer Erziehung nad Italien und Frankreich: nicht, wie heute üblih, mit. dem 
Rundreifebillet in dreißig Tagen; fie machten ſich in allen größeren Städten 
heimiſch, ftudirten arı den dortigen Univerfitäten, traten in Verkehr mit den be- 
rühmteften Staatömännern, Gelehrten, Künftlern; fie erlernten nicht nur die 
Univerjalfpradhe jener Zeit, das klaſſiſche Latein, fondern fie beherrſchten auch 
fließend die modernen Landesſprachen, italienisch, franzöſiſch, ſpaniſch; das Eng- 
liſch gehörte damald nod nicht zu den Requifiten der höheren Bildung. 
Heimgefehrt juchten fie ihren Ruhm, der Adel in der Regierung des Landes, die 
Patricier in der weiſen Verwaltung ihrer Vaterftadt. Sie wurden Beihüher 
der Künfte und Wiſſenſchaften, fie jammelten Kunftwerfe und Bibliotheten. 
Bald ftellte fi neben den Gejchlechteradel, der auf Reichthum und Glanz der 
Familie beruhte, als gleichberechtigt der Gelehrtenadel, deſſen Adelsbrief das 
Doctordiplom war; zu diefem Gelehrtenadel gehörten nunmehr auch die Aerzte. 
Im Mittelalter war die Ausübung der Medicin in Schlefien, wie überall, eine 
Function der Geiftlichen gewejen; die Mönche heilten ihre Kranken mit Beſchwö— 
rungen und Reliquien; fie kannten nur wenige Hausmittel, denen der Volks— 
glaube Wunderkräfte zufchried. Allerdings gab e8 an den Domfapiteln ftet3 
einen oder mehrere gelehrte Kanoniker, welche ihre Studien an den Univerſitäten 
gemacht und dort Doctoren der Arzneilunde geworden waren; aber aud ihr 
Wiſſen war nur aus Büchern geſchöpft, zumeift aus den Ueberſetzungen arabifcher 
Aerzte, welche im Reiche der Chalifen in Bagdad, Cairo oder Cordova geblüht, 
und die jelbft twieder ihre Weisheit zumeift den Ueberſetzungen der griechiichen 
Mediciner entlehnt hatten. Aber die Deffnung der Leichen war den Geijtlichen 
unterfagt geweſen, ebenjo wie jede chirurgiſche Operation, bei der Blut vergofjen 
werden mußte; diefe twurden den Badern oder den Scharfrichtern überlafjen. 
Führte der Weg zur Medicin durch die Mlofterpforte, „jo ging der Weg zur 
Chirurgie durch die Barbierftube.“ 

Nun war an den Univerfitäten Italiens die wiffenjchaftliche Medicin wieder 
erftanden, die ihr Lebensprincip nicht aus den verfälichten Ueberlieferungen des 
Avicenna oder des Averrhoes, ſondern aus der unbefangenen Erforihung des 
Menſchen und feiner Natur jchöpfte. Unter dem Schuße des Senatd von Vene: 
dig hatte Vejal in Padua das exfte anatomische Theater eröffnet; von da ging er 
nah Piſa und Bologna, und nun wurde durch ihn und feine Nachfolger auch 
an diejen Univerfitäten den Studirenden der Medicin in Leichenöffnungen Ge— 
legenheit geboten, ſich klare Anſchauungen von der wunderbaren Organijation 
des Mtenjchenleibes zu erwerben, ohne die weder eine Diagnofe noch eine Therapie 
der Krankheiten möglich ift. 


Deutihe Rundſchau. XVI, 7. 8 


114 Deutſche Rundſchau. 


Gleichzeitig wurde noch ein anderer Zweig der Heilkunde in die neuen 
Bahnen des Experiments und der Beobachtung geleitet. Die Heilmittel der 
griechiſchen Aerzte waren zum allergrößten Theil dem Pflanzenreich entnommen; 
ein römiſcher Militärarzt, Dioscorides, hatte in der erſten Kaiſerzeit eine Be— 
arbeitung des Heilſchatzes in griechiſcher Sprache geſchrieben, die ſeitdem als un— 
fehlbare Autorität gegolten hatte. Aber im Laufe von anderthalb Jahrtauſenden 
waren die griechiſchen Namen der antiken Heilpflanzen größtentheils verſchollen 
oder auf andere Gewächſe übertragen worden. Es war daher eine der erſten 
Aufgaben, welche die Naturforſcher und Aerzte der Renaiſſance ſich ſtellten, die 
Pflanzen des Dioscorides wieder aufzufinden und ihre Heilkräfte auf dem Wege 
des Experiments auszuproben. Auch hier ging Venedig allen Anderen voran. 
Im Jahre 1533 wurde zu Padua, in der Nähe des Doms des heiligen Antonius 
der erſte botaniiche Garten gegründet, in welchem alle Heilpflanzen der klaſſiſchen 
Medicin und die nachträglidy noch aufgefundenen angebaut und durch einen be 
fonderd dafür angeftellten Oftenfator den ftubirenden Aerzten vorgezeigt und 
erläutert werden jollten. Dem Beifpiele von Padua folgten in kurzen Zwiſchen— 
räumen Pija (1544) und Bologna (1563); aus den Demonftratoren der offi- 
einellen Pflanzen, die zugleich Vorſteher der botanischen Univerfitätsgärten waren, 
find die modernen Profefjuren der Botanik hervorgegangen. 

Der Ruf der großen Aerzte, Anatomen und Naturforjcher, die an den italie- 
nifchen Univerfitäten lehrten, lockte aus ganz Europa die Studirenden der Medicin 
über die Alpen; auch aus Schlefien gingen zahlreiche junge Aerzte nad Padua 
und Bologna, und fehrten nad) Jahr und Tag, mit der Laurea in der Philo- 
fophie und Medicin gekrönt, in die Heimath zurüd. Viele unter ihnen haben 
ala Profefforen an deutichen Univerfitäten oder als mediciniſche Schriftfteller 
ein bleibendes, ehrenvolles Andenken hinterlaffen. Sie ftanden untereinander in 
regſtem wiſſenſchaftlichen Verkehr; fie nahmen in der damaligen Geſellſchaft eine 
angejehene Stellung ein; jie waren mit den vornehmften Patricierfamilien ver: 
ſchwägert. An der Spitze der jchlefiichen Aerzte im Zeitalter der Renaiffance 
fteht Grato von Krafftheim, der Sohn eines armen Breslauer Kaufmannsdieners, 
ber fich durch fein Wilfen und Können zum einflußreichen Förderer der Refor— 
mation, zum Leibarzt dreier Kaifer, zum Zaiferlichen Pfalzgrafen und Erbherrn 
auf Rückerts bei Reinerz, gleichzeitig aber aud) zu einem der berühmteften Aerzte 
feiner Zeit erhoben Hatte. 

Wenn ich Hier verfuchen will, von einem unter den jchlefiichen Aerzten der 
Nenaifjance, dem Dr. Laurentius Scholz, das Lebensbild auszuführen, fo ift es nicht 
etwa, weil derjelbe in willenichaftlichen Zeiftungen die anderen überragt hätte; 
denn obwohl feine Zeitgenofjen diefen Dann als einen der erften Nerzte und 
Botaniker feines Jahrhunderts gepriefen haben, jo Hätte doch die unparteiifche 
Geſchichte dev Wiſſenſchaft wenig Veranlaffung, fi noch heute mit ihm näher 
zu beſchäftigen. Aber Laurentius Scholz ift einer der würdigften und zugleich 
einer ber liebenswürdigften Repräjentanten einer hochintereſſanten Culturepoche, 
two im wiſſenſchaftlichen, wie im gefelligen Leben ſich in Deutjchland und ins 
bejondere auch in Breslau eine Blüthe feiner Bildung und idealen Strebeng entfaltet 
hatte, die es wohl verdient, jelbft der Gegenwart als Spiegel vorgehalten zu 
werden. 


Dr. Laurentius Scholz von Rofenau. 115 


II. 

lleber die Lebensgeſchichte unſeres Laurentius ift, wie von den meiften Ge— 
lehrten, nur wenig zu beridten. Er ift im Jahre 1552 in Breslau geboren, 
erhielt jeine claffiiche Bildung auf dem dortigen Elifabethbgymnafium, und bezog 
in jeinem zwanzigſten Jahre die Univerfität Wittenberg. Zwar war der hellfte 
Glanz diefer Hochſchule ſeit dem Tode Luthers und Melanchthon's erlofchen ; 
doch noch immer jtudirten mit Vorliebe die Söhne des proteftantiichen Deutjch- 
lands an der berühmten Geburtäftätte des deutichen Humanismus und der Re— 
formation. Nach vierjährigem Aufenthalt in Wittenberg ging Laurentius, wie 
fajt alle ſchleſiſchen Aerzte jeines Jahrhunderts, nad talien, zum Studium der 
Medicin und Naturwiſſenſchaft; denn feine deutjche Univerfität beſaß damals 
Lehrer und Anftitute, die den jungen Arzt in den neuen Geift diefer Wiſſenſchaften 
hätten einführen fünnen. Vier Jahre ftudirte Laurentius erft in Padua, dann 
in Bologna; er war ein eifriger Student, der ſich die Theilnahme, dann die 
Freundſchaft feiner Profefforen erwarb; er nahm lebhaften Untheil an den botanischen, 
anatomischen und Elinijchen Uebungen; er jchrieb fleigig die Vorleſungen nad 
und arbeitete fie zu Haufe forgfältig aus; denn in jener Zeit, wo es noch feine 
Lehrbücher gab, war ein Gollegienheft, das man getroft nad Haufe tragen konnte, 
in der That ein koſtbarer Beſitz. Die Breslauer Stadtbiblivothef bewahrt noch 
mehrere feiner Gollegienhefte; eins derjelben, das er in Bologna nad einer ana= 
tomiſchen Vorleſung des PBrofeffor Arantius ausgearbeitet hatte, ließ er 1579 
noch als Student zu Bafel im Drud erjcheinen !). 

Mitte März 1579 verlieh Laurentius Bologna und Schloß fich einer Gejell- 
ihaft vorriehmer Breslauer an, die eben ihre italienische Reife angetreten hatten. 
An ihrer Mitte befand fich der junge Nicolaus Rhediger, der Sohn des gleid)- 
namigen Oberbürgermeifter3, oder wie e8 damals hieß, des Landeshauptmanng 
von Breslau; dieſer Handelöherr war mit einer Patriciertodhter aus Augsburg 
vermählt und eiferte den Großfaufleuten von Augsburg, Nürnberg, ja felbft von 
Venedig und Florenz nach; gleich diejen übte er nicht bloß auf alle politischen und 
religiöfen Stadthändel entjcheidenden Einfluß aus, fondern er verivendete auch fein 
fürftlihes, auf Handel und Landbefiß gegründetes Vermögen zur Unterftüßung 
von Künften und Wiffenichaften ?), jo daß die Zeit feiner Regierung von 1579— 1587 
al3 die Rhediger'ſche bezeichnet zu werden pflegt. Die Breslauer Reijegejelichaft 
war über Augsburg, Innsbruck und den Brenner gefommen, hatte bereit Venedig 
befucht und begab fid) num über Padua, Ferrara und Bologna nad) Rom, von 
da nach Neapel, wo Capua umd die herrliche Küſte zwifchen Puzzuoli, Bajä, 
Gumä und Cap Mifeno befichtigt wurden; dev Rückweg wurde über Florenz und 
Mailand angetreten. Wir können wohl mitfühlen, welchen mächtigen Eindrud 
auf die jungen Gemüther der Aufenthalt in Jtalien zurüdlaffen mußte, das da— 
mals in dem frifcheften Glanze feiner Paläfte und Kirchen, feiner Gemälde und 


!) Jul. Caes. Arantii Bononiensis philosophi ac medici elarissimi medicinae et anatomiae 
in celeberrimo Bononiensium gymnasio professoris de humano foetu libellus a Laurentio 
Scholzio Silesio ejus discipulo in lucem editus. Basileae 1579. 

2) Die Nhedigerena, die Bibliothek feines 1576 verftorbenen Sohnes Thomas, bildet ben 
werthoollften Grundftod der Breslauer Stadtbibliothek. r 


116 Deutſche Rundichau. 


Statuen, feiner Villen und Gartenanlagen prangte, wo ſich die höchſte Blüthe 
feines Handel3 und Kunſtgewerbes mit den Anregungen feiner hochgebildeten Ge— 
jellichaft und den unvergänglichen Reizen feiner Natur vereinigten. Noch fünf- 
zehn Jahre ſpäter gedenkt Laurentius Scholz in der Vorrede einer Schrift, die er 
feinen Reijegefährten, Nicolaus Rhediger und deffen damaligem Mentor, dem in- 
zwiſchen zum biichöflichen Kanzler aufgeftiegenen Dr. Wader von Wadenfels, 
widmet, der unvergehlichen Erinnerungen aus jener Zeit, der amregenden Ge- 
ipräche, die er mit ihnen und noch zwei andern Breslauer Patriciern geführt 
hatte, als fie mit dem nämlichen Vetturin von Padua nad Mailand fuhren. 
In Mailand trennten fich die Gefährten; Nhediger mit feinen Freunden wandte 
ih nad) Genua, Laurentius Scholz mit dem jpäteren Breslauer Schöffen Martin 
Schilling über Bajel nah Südfranfreih. In Valence, der Hauptftadt des 
Heinen Herzogthums, das einft Ceſar Borgia beherricht hatte, erreichte Laurentius 
Scholz den ehrenvollen Abſchluß jeiner achtjährigen Univerfitätsftudien. Zwei 
Profefforen der dortigen Univerfität führten ihn in die vollzählig verfammelte 
Facultät ein, von der er, nach einer fiegreich durchgeführten Disputation unter 
dem Vorſitz des Biſchofs und des Vicekanzlers, mit der Doctorwürde in der 
Philoſophie und Medicin bekleidet wurde. In die Heimath 1580 zurüdgefehrt, 
begründete Laurentius zunächft den eigenen Hausftand, indem er eine Waiſe aus 
angejehener Familie, Sara, die Tochter des 1568 verftorbenen Paſtors und 
Schulinjpectors Joh. Aurifaber, heimführte, der jelbft wieder mit einer Tochter 
de3 Breslauer Reformatord Joh. Heß verheirathet gewejen war. Zur Ausübung 
der ärztlichen Praris ließ ſich unfer Laurentius zuerft in Freyſtadt bei Glogau 
nieder; nach dem Peftjahr 1585 machte ex fich als Arzt in Breslau dauernd anfällig; 
furz vor dem Abſchluß des Jahrhunderts, am 22. April 1599 erlag ex der 
Schwindſucht im fiebenundvierzigften Lebensjahre. Drei Jahre vorher war er 
in den böhmischen Adelftand unter dem Namen Scholz von Rofenau aufgenommen 
worden; fein Wappenſchild, das ihm fein väterlicher Freund Crato fraft feiner 
Pfalzgrafenwürde jchon 1585 verliehen hatte, zeigt einen aufrechtftehenden Sparren 
mit drei goldenen Roſen, das Helmfleinod zwei Adlerflügel, von dem Sparten 
mit den drei Rofen gefreuzt. Sein Wahlipruch lautete: „Fac offieium, Deus 
providebit, Thue Deine Pflicht, Gott wird ſchon ſorgen;“ er bezeichnet den 
frommen pflichtgetreuen Mann, von dem wir gen glauben, was fein jüngerer 
Zeitgenofje, der Breslauer Syndicus Nicolaus Henel, von ihm ausſagt, „daß in 
Beicheidenheit, Liebenswürdigkeit und Reinheit de3 Charakter faum jemals ein 
Menſch ihn übertroffen habe“. 

Auch im Jahrhundert der Nenaifjance verblieben einem jungen Arzte am 
Anfang feiner Praxis noch Mußeftunden genug; Laurentius verwendete die feinen im 
Dienfte feiner Wiſſenſchaft, indem ex aus den Schriften der griechijchen, arabijchen 
und modernen Aerzte die wichtigften Lehrfähe aus dem Gejammtgebiete der 
theoretifchen und praktiſchen Medicin zufammenftellte, und diefelben, in acht Ab- 
theilungen überfihtlihh geordnet, unter dem Titel „Mediciniiche Aphoris- 
men“ herausgab. Das Büchlein ift 1589 zu Breslau in der Druderei von 
Koh. Scharffenberg,, die noch heute unter der Firma Graf, Barth & Comp. in 
ihrem alten Haufe fortbefteht, gedruckt und dem Breslauer Magiftrat gewidmet 


Dr. Laurentius Scholz von Rofenau. 117 


Später mehrte ſich die Prari3 unferes Laurentius dermaßen, daß er die 
Anftrengungen und Sorgen derjelben, zumal bei feiner angegriffenen Gejundheit, 
faum zu ertragen vermochte, doch mag diejelbe nicht unlohnend geweſen fein, 
wie wir aus einem lateinifchen Gedicht entnehmen, das ein Breslauer Poet, 
Andreas Galagius, ihm 1592 widmete und das mit folgendem, leichtverftänd- 
lichem Winte fchließt: 

„Beileres hätt! ich geleiftet vielleicht, wenn mir ein Mäcenad 

Hätte Muße verlieh’n, wie einft Virgil fie beſaß; 
Doch nur dem Jus folgt Würde und Amt; euch (nämlich den Aerzten) Schäße; Poeten 
Und Schulmeifter bedrüdt bitter im Haufe die Noth.“ 

Aber auch inmitten der aufreibenden Berufsarbeit blieb Laurentius Literarifch 
thätig; war er auch fein jelbftändiger, originaler Forſcher, jo jammelte er doch 
unabläffig die Briefe und Gonfilien der berühmteften Aerzte und Naturforfcher 
feiner Zeit, und veröffentlichte diejelben zwei Jahre vor feinem Tode in zwei 
ftarken FFoliobänden!). Um den Dienft zu würdigen, den er durch dieſe Publi- 
cationen feinen Collegen erwies, müſſen wir und daran erinnern, daß man damals 
noch feine Zeitichriften hatte, wie fie heut jede neue Erſcheinung auf wiſſenſchaft— 
lihem Gebiet jofort zur allgemeinen Kenntniß bringen; neue Erfahrungen und 
Entdeckungen wurden in der Privatcorrefpondenz niedergelegt, der ſich jene 
Ichreibfrohe Zeit mit größtem Eifer Hingab. Für uns aber find die Scholz’- 
ihen Sammlungen von unihäßbaren Werth, da wir ohne fie faum von den 
Strömungen einer hiſtoriſch bedeutungsvollen Epoche unterrichtet wären, in der 
die wiſſenſchaftliche Medicin exrft im Werden war. 


IV. 

Aber Laurentius Scholz hatte neben der Mtedicin noch eine zweite Leiden— 
ichaft, der er ſich mit gleicher Hingebung widmete, da3 war die Botanik. Der 
Rector des Breslauer Elifabeth:Gymnafiums, Nicolaus Steinberg, jagt von ihm 
in einem lateinijchen Epigramm: 

„Morgens beſuchſt Du die Kranken; dann figeft Du über den Büchern; 
Was Dir an Zeit noch verbleibt, ift der Botanif geweiht.“ 

Zu den Lehrern, denen fid) unjer Laurentius während feines Studiums in 
Padua am innigften anihloß, gehörte der Profefjor der Botanik, Guilandinus. 
Gr hieß eigentlih Weiland und mar aus Königsberg gebürtig. Auf einer 
botanischen Forſchungsreiſe nach dem Orient war er Gorfaren in bie Hände ge= 
fallen und von ihnen al3 Sclave verkauft worden. Nach feiner Befreiung wurde 
er Vorfteher des botanischen Univerfitätsgartens in Padua, und ala folcher eifrig 
beſtrebt, deſſen Reichtum am mebdicinifchen und anderen feltenen Pflanzen zu 
erhalten und zu mehren. Als Laurentius Scholz im Jahre 1579 Padua verlieh, 
überreichte er dem Guilandinus beim Abjchied fein Stammbuch — wir fennen 
die Scene aus Goethe'3 Fauft — und diefer ſchrieb dem geliebten Schüler einen 





!) Consiliorum medicinalium conscriptorum a praestantissimis atque exerecitatissimis 
nostrorum temporum medicis liber singularis nunc primum studio et opera Laurentii Scholzii 
a Rosenau editus. Francof. ad Men. 1598 fol. — Epistolarum philosophicarum et chymicarum 
a summis nostrae aetatis philosophis et medicis exaratarum volumen. Francof. 1598 fol. 


118 Deutiche Rundſchau. 


lateinifchen Spruch hinein, den derjelbe dann fpäter al3 Motto in einer feiner 
Schriften abdruden ließ. 

Zu den Anregungen, welche Laurentius Schol3 im „Orto botanico“ zu 
Padua empfangen hatte, gejellte ſich der Eindrud der kunſt- und pflanzenreichen 
Gartenanlagen, die derjelbe im weiteren Verlauf feiner italienifchen Reife kennen 
lernte. Denn zu den fchönen Künften, die im Zeitalter der Renaiffance in Jtalien 
ihre Wiedergeburt erlebt hatten, gehörte auch die Gartenkunft. In der Ber- 
wilderung des Mittelalter waren die funftvollen Gärten der Römer zu Grunde 
gegangen; innerhalb des engen Mauergürtels, in den die Bürger der Städte ſich 
einjchloffen, war fein Raum für Gartenanlagen, und außerhalb desjelben erlaubte 
die allgemeine Unſicherheit de3 Landes nicht den ungeftörten Genuß der jchönen 
Natur. Was innerhalb der Kloftermauern oder des Burgfriedend den Namen 
Garten führte, war ftillos und kunſtlos, wie unſere Bauerngärten; ſchlechte 
Obſtbäume über den Rafen verftreut, Gemüfebeete, ein paar altbewährte Heil: 
pflanzen bildeten den Beftand; Blumen gab es nur jehr wenig; die allzeit be 
liebten Roſen brachten Kleine flache Blumen, wie wir fie in ben Lieblingäbildern 
der mittelalterlihen Maler, der Madonna im Rojenhag, dargeftellt jehen. Alles 
dies änderte fich, als die Renaifjance in Italien anbrach. Große Künftler ſchufen 
für die Fürſten und die reichen Kaufleute auf Hügeln und Berglehnen Paläfte 
und Lufthäufer, und entwarfen im Anſchluß an diefe Bauten die Zeichnung für 
den nicht minder kunftvollen Garten, mit geraden, rechtwinklig ſich jchneidenden 
Hedenwänden, mit den geometrijchen Figuren des Blumenparterres, mit Grotten 
und Wafjerkünften, und dem reichen Schmud von Statuen und andern plaſtiſchen 
und architektoniſchen Kunſtwerken. Nun mehrte fih auch die Blumenfülle; es 
ift, als feien erſt jeßt die Menfchen fich bewußt getworden, welch’ liebliche 
Schöpfungen die Pflanzenwelt über die Erde verftreut hat. Zuerft um die Mitte 
des fünfzehnten Jahrhunderts erjchien die Nelke und wurde bald die Lieblings: 
blume der Renaiffance, jo daß jchon feit der Zeit der van Eyk's fi die Männer 
gern mit einer Nelke in der Hand porträtiren ließen. Der Fall Conftantinopels 
kam den Gärten de3 Abendlandes in überrafchender Weife zu Gute. Denn bie 
Türken, welche die Erbſchaft de3 Byzantinerreiches antraten, ibertrafen ihre 
Vorgänger bei Weiten in dev Empfänglichkeit für die Schönheiten der Natur; 
fie fcheuten nicht Mühe, nicht Koften, um in den Gärten Stambul3 die jchönften 
Blumen und Blüthenfträucher des Orients einheimiſch zu machen; und al3 um 
die Mitte des fechzehnten Jahrhunderts ſich zwiihen dem Kaiferhof in Wien 
und der hohen Pforte friedlihere Beziehungen anknüpften, fanden allmälig aud 
die Prachtgewächſe der türkifchen Gärten ihren Weg nad Wien und dem übrigen 
Europa. Damals erblidte man zuerft in den Gärten des Abendlandes die lila: 
farbigen Blüthenfträuße des Flieders; die weißen Blumenpyramiden der Ro: 
faftanie waren noch am Anfang des fiebzehnten Jahrhunderts dem europäijchen 
Weſten unbefannt. Bis dahin waren die Gärten während des ganzen Frühlings 
blumenleer geblieben, nun famen aus Stambul die Hyacinthen und die Kaiſer— 
fronen, die Tulpen, die afiatiihen Ranunkeln und die vollen ſüßduftigen Roſen 
von Damascus. Um diejelbe Zeit jendeten auch die canarifchen Inſeln, Afrika, 
Andien, China ihren Blumentribut in die Gärten Europa’3; war ja doch die 


Dr. Laurentius Scholz; von Rofenau. 119 


Renaifjance das Zeitalter der großen geographiſchen Entdeckungen. Im Verlaufe des 
jechzehnten Jahrhunderts famen die Pflanzenihäge Amerika's Hinzu. Auch hier 
gingen die Fürſten und Patricier Jtaliend allen anderen voran; tie fie Hand» 
ſchriften und Kameen, antife und moderne Gemälde, Marmorreliefs und Statuen 
jammelten, jo fetten fie ihren Stolz darein, in ihren Gärten die jeltenften und 
toftbarften Gewächſe der alten und neuen Welt zujammen zu bringen. Nächſt 
dem Garten von Padua galt als der reichfte der des Herzogs Alfons von Ferrara, 
der uns aus Goethe's Taſſo bekannt ift. 

Als unfer Laurentius Scholz im Jahre 1585 Breslau zum dauernden Wohn- 
fig erwählt Hatte, beſchloß er, jeine Vaterſtadt mit einer Gartenihöpfung zu 
ſchmücken, die nicht bloß in der Fülle feltener Pflanzen, jondern auch in der 
fünftlerifchen Anlage mit dem botaniſchen Garten von Padua, mit den Gärten 
der venetianifchen und florentiniichen Großfaufleute wetteifern follte. Er beſaß 
ein Gartengrundftüd auf der Weidenftraße, das bis an die Taſchenſtraße reichte, 
und das er durch Ankäufe allmälig vergrößerte; ein Reſt diejes Beſitzthums be— 
fteht noch Heute al3 öffentlicher Biergarten unter dem Namen „Parijer Garten“. 
An wenigen Jahren hatte er hier mit emfigem Fleiß und bedeutenden Koften 
eine Gartenanlage nach dem Vorbild der italienischen Villen zu Stande gebradht, 
die er bis an fein Lebensende zu pflegen und zu verichönern fortfuhr; fie wurde 
nit nur von den Breslauer Mitbürgern und den jchlefiihen Landsleuten ala 
eine Art Weltwunder angeftaunt, ſondern aud in ganz Deutfchland, ja jelbft im 
Auslande gepriefen. Kein Fremder von Diftinction durfte Breslau verlaffen, 
ohne den Scholz'ſchen Garten bejucht zu haben. Der kaiſerliche Dichter Salomon 
Frenkel von Friedenthal fingt von ihm: 

Mer von der Ferne bejucht bie Mauern bes herrlichen Breslau, 
Gehe zum Garten des Scholz, ſchaue die blühende Pracht; 

Hat er dann Herz und Augen an Allem geweidet, ſo ſpricht er: 
„Scholz, in die Vaterſtadt haft Du Italien verpflanzt.“ 

Es war dem Laurentius heiliger Ernft mit jeiner Schöpfung; ex beabfich- 
tigte — und darin zeigt fich der Jdealismus de Mannes und jeines Zeitalterd — 
zugleich eine wiſſenſchaftliche Leiftung und eine patriotijche That, im Jahre 1588 
ließ er an da3 Portal des Gartens eine lateinische Inſchrift in Stein einmeißeln: 
„zum Lob und Preis dem allmädhtigen Gotte, zum Ruhm der Baterftadt, zur 
Benutzung für feine Freunde und für die Studirenden der Botanik, endlich für 
fich ſelbſt zur Erholung von den Arbeiten und Anftrengungen feines ärztlichen 
Berufes habe er diefen von Alters her verwahrloften Garten auf eigene Koften 
neu eingerichtet und mit einheimijchen und ausländiichen Pflanzen ausgeftattet.“ 
Sn den Borreden feiner Gelegenheitsichriften fommt Laurentius wiederholt auf 
feine Abfichten zurüd; den ärztlichen Gollegen gedenkt er dadurch die Henntniß 
der Heilpflanzen, die diejelben bisher mit Unrecht den Apothekern überlaffen, 
zugänglich zu maden; dem Klima und Boden der Baterjtadt will er einen guten 
Namen verschaffen, indem er vor Mitbürgern umd Fremden den Beweis Liefert, 
daß die ſchönſten Pflanzen des Auslandes in Breslau nicht bloß zum Blühen, 
ſondern auch zum Fruchttragen gebracht werden können; ja, damit noch nach 
jeinem Ableben ein Zeugniß dafür zurickbleibe, läßt er mit großen Koften jeine 


120 Deutſche Rundſchau. 


botaniſchen Raritäten von einem Breslauer Maler, Georg Freiberger, nach der 
Natur getreu abbilden; er hofft damit ſeinen einzigen Sohn, der gleich ihm zum 
Mediciner beſtimmt iſt, zum Studium der Botanik anzuſpornen. Aber nicht 
für ſich allein will er ſeines Gartens, als des ſüßeſten Aſyls oder Muſenſitzes 
ſich erfreuen; er beſtimmt denſelben zum Mittelpunkt ſeines geſelligen Verkehrs, 
zur Stätte fröhlicher Feſte, die er unter dem Namen „floralia Vratislaviensia“, 
Breslauer Blumenfeſte, ſtiſtet; hier ſollte die Wiſſenſchaft, ohne gelehrte Pedanterie, 
ſich mit der Kunſt und der Natur zur Belebung und Veredlung einer heiteren 
Geſelligkeit vereinigen, wie ſie einſt Plato und Epikur in ihren Gärten, dann 
nach ihrem Vorbild die Mediceer bei den akademiſchen Zuſammenkünften in 
ihren Villen gepflegt hatten. 

Schon vor Achilles und Hektor hat es Helden gegeben; aber ihre Namen 
find verfchollen, weil fie feinen Homer gefunden haben. Auch der Scholz’fche 
Garten wäre heut wohl längft vergeffen, wenn er nicht das Glüd gehabt hätte, 
bon mehr als fiebzig Dichtern, darunter von ſechzehn Aerzten, befungen zu werden. 
Die Verje von etwa vierzig unter ihnen hat Scholz jelbft 1594 unter dem Titel 
„Epigramme der freunde auf meinen Garten“ abdruden lafjen, die jpäter hinzu— 
gefommenen in fein mit Papier durchſchoſſenes Handeremplar, das die Breslauer 
Stabtbibliothet aufbewahrt, eingetragen. Denn Einheimifche, wie Fremde, bie 
von Scholz in feinem Garten gaftli aufgenommen waren, Hinterließen ihm ala 
eine Art Gegengabe ein längeres oder fürzeres Lateinifches Gediht — was freilich 
in einer Zeit, wo lateiniſche Verſe als Kennzeichen eines gebildeten Mannes 
galten, Leichter zu erreichen war, als heutzutage. Dank diefen Gedichten find 
wir nicht mur über die Anlage des Scholz’schen Gartens und über feine Pflanzen- 
ſchätze vollftändig unterrichtet, jondern wir können und auch ein anjchauliches 
Bild machen von den Kreiſen, die darin verfehrten. Und es ift ein erfreuliches 
Bild, dad und das Breslau der Renaiffance hier zeigt, wo bie goldene Mitte 
zwijchen der loderen Sitte Jtaliend und der finfteren Frömmelei der englijchen 
Nuritaner eingehalten wird, und am Ufer der Ohle eine heitere, geiftig angeregte 
Gejelligkeit blüht, wie wir fie und nur am Arno zu denken gewohnt find. 


V. 

Verſetzen wir uns dreihundert Jahre zurück; wir haben an einem ſchönen 
Sommertage eine Einladung zu einem Blumenfeſte erhalten, das im Scholz'ſchen 
Garten gefeiert werden joll. Wir fommen von der Ohliſchen Gaſſe und haben 
den Thorbogen in der Mitte derjelben durchſchritten, einen Ueberreſt der älteften 
Stadtbefeftigung vom Ende des 13. Jahrhunderts; nachdem wir die Brücke über 
die Ohle!) paſſiert, wenden wir una bei der Kirche St. Chriftophori rechts nad) 
der Weidengafie, von der ſich durch eine lange Mauer der Garten abgrenzt. An 
dem ftattliden Portal mit der ftolzen Steininjhrift empfängt uns der Wirth, 
der uns ber übrigen Gejelichaft vorftellt; faft alle führen ſchöne Lateinische 


') Die „Stadbtohle“ iſt ſeit 1566 zugeichüttet, mit ihr find auch Brüde und Thorbogen 
verſchwunden. 


Dr. Laurentius Scholz don Rojenau. 121 


Namen auf us, al3 regierte im römiſchen Reich noch Kaijer Auguftus und nicht 
Rudolph U. von Habsburg. Es ift die Breslauer Elite, Gelehrte, Aerzte, 
Juriſten, vornehme Kaufleute mit ihren Frauen, alle feftlich gekleidet in den präd)- 
tigen, farbenreichen Gewändern ber Renaiffance, wie wir fie aus den Bildern des 
Tizian oder ded Paolo Veronefe kennen: die Damen nad) der neueften venetiani= 
fchen oder florentiner Mode, in Sammet und Goldbrofat, mit Perlenfetten und 
Goldgefchmeide, auch junge Mädchen find dabei, do nur hübſche; denn ein 
drafonifcher Paragraph der Garten: und Feſtordnung, die wir beim Gintritt 
gedrudt erhalten, bejagt, daß diejenigen, deren Geficht oder Ruf einen Makel 
hat, nicht zugelaffen werden jollen. Der Aufforderung des Wirthes Folge leiftend, 
macht die Geſellſchaft zuerft einen Rundgang durch den Garten; er iſt durch 
zwei rechtwinklig ſich ſchneidende Hauptalleen in vier Quartiere getheilt. Die exfte 
Abtheilung ift der Blumengarten, ein Parterre in Form eine Quadrat3, aus» 
gefüllt mit einer zierlihen Zeichnung, deren Umriſſe von Buchskanten eingefaßt 
und deren Farben aus Blumen gewebt find. Zwar ift der erſte Frühlingsflor 
fchon verblüht; Längft vorüber find Chriſtroſen, großes und kleines Schnee- 
glöckchen, Frühlingscrocus, das blaue Leberblümhen, Himmelichlüffel und 
Veilchen; auch die Aurikeln, die Kaiferkronen, Blaufterne und die orientalischen 
Hyacinthen haben abgeblüht. Aber noch blühen die legten Tulpen, von denen nicht 
weniger al3 fünfzehn verjchiedene Spielarten im Garten gezogen werden; fie find 
der Stolz des Beſitzers; denn noch find e3 nicht dreißig Jahre, daß diefe Pracht— 
blume, die ihren Namen nad dem türkifhen Turban führt, au Stambul nad 
Deutſchland gebracht wurde, und noch Heut find fie jo rar und Eoftbar, daß eine 
Zulpenzwiebel als eines der werthvollſten Geſchenke gilt, das einem Gartenfreunde 
gemacht werden kann. Nocd vor kurzer Zeit hat ein Liebhaber für eine roth 
und weiß geftreifte Tulpe zweihundert Goldgulden gezahlt, und ald man fie ihm 
für diefen Preis wieder abfaufen wollte, hat er fie nicht dafür geben mögen. 
In voller Farbenpracht Hat fich bereits der Blumenflor de8 Sommers entwidelt: 
tother, weißer, blauer, einfacher und gefüllter Afeley; rothes, weißes und gelbes 
Löwenmaul; zehn Arten Iris, ſechs Arten Kornblumen, vier Arten Lilien, vier 
Arten Fringerhut, zwölf Arten Mohn, dazu die Feuernelken, die Lichtnelfen , die 
Steinnelten, die Tredernelfen!) und wie fie alle heißen. Den Mädchen wird 
Erlaubniß gegeben, hier abzuſchneiden, foviel fie für Kränze und Sträuße 
bedürfen. 

Die übrige Gejellichaft aber wendet fich zu der zweiten Gartenabtheilung, 
der mediciniſch-botaniſchen Partie, welche die größten Seltenheiten und Koftbar- 
keiten enthält; fie ift nach dem Mufter der botanischen Gärten in Italien und 
den Niederlanden zierlich in Fleine Beete abgetheilt, deren jede mit einer be= 
jonderen Pflanzenart bejegt ıft. Mit Lebhaftem Enthufiasmus erläutert der 


1) Die Federnelke Hiek damals die Stolze von Defterreich, Superba austriaca, heute Dianthus 
superbus. Die feurige Lichtnelfe (Lychnis chalcedonica) wird in dem Gartenlatalog, den &. Scholz 
1587, und bann nochmals 1594, druden lieh, als conftantinopolitanifche Blume (flos constantino- 
politimus) aufgeführt; jet ift fie unter bem Namen „brennende Liebe“ befannt. 


122 Deutſche Runbichau. 


Wirth bei jedem Gewächs deſſen merkwürdige Eigenjchaften und mediciniſche 
Kräfte. Er erzählt von der Mühe, die er gehabt, fich den Samen von feinen 
Freunden und Correjpondenten in Spanien, Frankreich und talien, mit denen 
er in Tauſchverkehr fteht, zu erhalten, wie theures Geld ihm diefe Knolle ge- 
koſtet, wie ſchwierig e8 war, jene Zwiebel durch den Breslauer Winter hindurch- 
zubringen und fie zum Blühen zu veranlaffen. Eben blühen zwei Gewächſe, die 
portugieſiſche Seefahrer vor nicht gar langer Zeit aus Indien eingeführt haben: 
die Canna und die Baljamine. Hier das afrikanische Chryfanthemum (Chr. 
carinatum) mit den goldenen, jcharlachrothen oder weißen, auch dreifarbigen 
Blüthentöpfen hat 1535 Kaiſer Karl V. aus Tunis mitgebradt, als er triumphi- 
rend in diefen Raubftaat einzog. Dort den Akanthus, einem korinthiſchen 
Säulencapitäl glei), hat ein Freund von den Ruinen des Golofjeums in Rom 
gejendet, zugleich mit dem Anölldden der italieniichen Gartenanemonen, von denen 
die eine durch die brennend rothen, die andere durch die tiefpurpurnen Blumen 
allgemeine Bewunderung erregt haben. In einem Kreis find die Gewürzkräuter 
der italifchen Gärten zufammengeftellt, Bafılium, Majoran, Meliffe, Niop, 
Rosmarin, Raute und Diptam; in ihrer Nähe hat ein fchwertlilienähnliches 
Gewächs Pla gefunden, defjen wafjerliebende Wurzel vor einiger Zeit zu uns 
fam, wie die Einen jagen vom ſchwarzen Meer, nad Anderen aus Indien; es 
ift unfer Kalmus. Beſonders reich ift die Sammlung der officinellen Pflanzen ; 
hier flehen nebeneinander: der indiſche Ricinus, die Meerziviebel vom Mittel- 
meer, die Angelica, der Eiſenhut, die Tollkirſche und das Meum von den 
heimiſchen Subdeten. Eine Novität ift für die Geſellſchaft auch ein hohes Gewächs 
aus der Familie der Nachtſchatten, mit ftachligen Apfelfrüchten, das die jeit noch 
nicht gar langer Zeit aus Often eingetwanderten Zigeuner mitgejchleppt, und das 
die Heren zu ihren Zaubertränten benußen; es ift unfer Stechapfel. Mit be= 
ſonderem Stolz zeigt unſer Wirth eine Sammlung Pflanzen, die er vor Kurzem 
von jpanifchen Freunden zum Gejchent erhalten; fie fommen aus Peru, von den 
Gärten der Incas. Hier hat die Wunderblume Mteraglinioja (Mirabilis) ihre 
bunten Blumentrichter entwidelt, dort rankt ſich um einen Stab die indiſche 
Krefje mit feuerfarbenen Blüthen, unjer Tropaeolum; zwei Nachtſchattenarten 
haben bereits große jaftige Früchte angeſetzt, grünsviolett die eine, orange die 
andere; e3 find Gierpflangen (Solanum Melongena) und Liebesapfel (Lycopersi- 
cum); die Früchte einer dritten Art gleichen ſcharlachrothen Schoten und brennen 
im Munde wie Pfeffer, e3 ift die Paprica (Capsicum). Bon der wunderbaren 
Triebfraft jenes jüdamerifaniichen Bodens zeugt ein Samenkorn, das im Laufe 
des Sommers jeinen Stengel über Mannshöhe entwidelt hat und eine tellergroße 
Goldblume der Sonne zutehrt, es ift unjere Sonnentofe; faum minder kräftig ift 
der indijche Weizen oder Mais emporgeſchoſſen, und die Tabakspflanze, von deren 
Blättern die NReijenden jo wunderbare Wirkungen des Nauches berichtet haben. 
Die größte Seltenheit in diefer peruaniihen Sammlung aber ift ein Kraut mit 
fleiichfarbener Blumendolde, das an feinen Wurzeln Eleine Knöllchen gebildet hat; 
noch hat kein Botaniker diefe Pflanze beichrieben oder benannt; der Wirth bat 
fie unter ihrem in Onito üblichen Namen Papas erhalten. Niemand ahnt, daß 


Dr. Laurentius Scholz von Rofenau. 123 


nad ein paar hundert Jahren diefe Pflanze, unfere Kartoffel, auf allen Feldern 
angebaut und die allgemeine Volksnahrung werden wird'). 

Nur mit Mühe trennen fi) die Freunde der Botanik von den Schäben 
diefe8 Quartierd, um nod einen Blick auf die beiden letzten Abtheilungen des 
Garten zu werfen. Die eine ift al3 Labyrinth angelegt, da3 in feiner Garten» 
anlage der Renaifjance fehlen darf; die verfchlungenen Wege find von Spalieren 
eingefaßt, die von Schlingpflanzen dicht umfponnen find; theil3 find es ein- 
heimifche: Geisblatt und Waldrebe, Epheu und Zaunrübe; aber auch neue Ein- 
führungen aus Indien, Teuerbohnen, Gurken, Melonen und Kürbiffe in vierzehn 
verfchiedenen Arten. Hier befindet fi auch der Rofengarten, wo die neuen 
Rojen des Drient3 ihre vollen duftreihen Blumen entfalten, unter ihnen auch 
die feltenen gelben Rofen, Eglanterien, die erft vor Kurzem aus Verona ge= 
fommen find. 

Die letzte Abtheilung ift der Baumgarten; auf dem grünen Raſen ftehen in 
Auincunr gepflanzte Obftbäume in edlen aus dem Süden ftammenden Sorten. 
Hier reifen Aepfel und Birnen, türkiſche Pflaumen, Pfirfihe und Aprikofen, 
Mispeln und Quitten, Berberizen, Maulbeeren und Stachelbeeren, deutfche und 
italienifche Haſelnüſſe; dazwiſchen find einzelne Zierfträucher geſetzt: Goldregen, 
Blajenftraudh und Schneeball; der türkiſche lieder erfüllt die Luft mit be— 
raufchendem Duft. 

Nachdem der botanifche Rundgang beendigt, zerftreut ſich die Gejellichaft 
auf einige Zeit; die Jugend erluftigt fi an Gejellichaftsfpielen, für die in dem 
hundert Ellen langen überwölbten Yaubgange, der den Garten von Oft nad 
Weſt durchzieht, Würfeltiiche, Kugelfpiele und andere Geräthe aufgeftellt find. 
Einige üben fih im Scheibenſchießen; Andere laffen ſich zu traulichem Geſpräch 
auf die Bänke an den Springbrunnen nieder, die in der Mitte der Quartiere 
angelegt find. Hier ſprudelt eine Quelle unter einem Lebensbaum (Thuja) hervor ; es 
ift der größte und ältefte in Schlefien von diefem Baumgeſchlecht, das Franz I. 
von Frankreich aus Kanada eingeführt hat. Aus der Mundöffnung einer Maske 
ergießt ji das Waſſer in einen Fiſchweiher; daneben ift ein Trinkbrunnen eins 
gerichtet und mit Bechern ausgeftattet. Cine andere Fontäne ift mit dem 
Standbild der Flora, der Schußpatronin diejes Gartens, ausgeihmüdt. Noch 





1) Dr. med. Valens Acidalius jagt in feinem im leichten Versmaß ber römiſchen Komödie 
geichriebenen Gedichte „Janus quadrifrons in hortum Scholzianum“ : 

Mit großer Mühe und mit großen Koften läßt 

Der Herr jedwedem Kräutchen Pflege angebeihn. 

Faſt Alles, das Du Hier findeft, ſtammt vom Ausland her; 

Die einen find gekommen aus Italiens Gaun, 

Aus Griechenland, aus Hispanien oder Gallien, 

Aus Indien andere; ja jelbft aus Arabien. 

Und Alles, was hier wächft, hat des Herren Hand gepflanzt, 

Er Hat es gefät, er hat es gepflegt, und daher fommt 

Die Kraft bed Sproſſens und bes Wachsthums Leichtigkeit, 
Daher das Glüd beim Blühen und beim Fruchtanſatz; 

Daher ftammt Glanz und Orbnung, die in dem Garten herrſcht; 
Drum haben die Pflanzen größeren Werth und der Garten felbft. 


124 Deutihe Rundſchau. 


andere SKunftwerfe find im Garten vertheilt; wir bewundern einen ſara— 
zenifchen, fogenannten Alhambrakrug, angeblih eine Copie des Weinkruges, 
in dem einft da3 Wunder von Gana verrichtet wurde; das Original, das 
Muftapha Paſcha aus dem eypriſchen Famagoſta nach Gonjtantinopel hatte 
bringen laffen, ift vor Kurzem duch Joachim v. Zinzendorf nah Wien ge 
fommen. m einer Felsgrotte erblidt man den Cyklopen Polyphem, der dem 
Eintretenden einen Steinblocd entgegenjchleudert ; er ift jo naturwahr gebildet, 
daß, wer zum erften Male hereingeführt wird, unwillkürlich zurüdjchredt, zum 
Gelächter der übrigen Gejellihaft. An einer anderen Stelle ſteht Adam, ber 
den Apfel der Eva darreiht. Anmuthig ift es auch, dem melodifchen Gezwitjcher 
der Singvögel zuzuhören, die in zwei Vogelhäuſern gehalten werden; das eine 
ift vieredig, das andere hat die Geftalt einer Pyramide; beide find mit 
blühendem Geisblatt und Bitterfüß (Dulcamara) umrantt. 

Die eine Seite des Gartens wird von einer Mauer begrenzt; an jie lehnt 
fi das Gewächshaus, in welchem während des Winter untergebradt find: 

Bäume vom Süden kommend, die einen mit goldenen Aepfeln, 
Andre mit Feigen, Granaten; der Lorbeer ſchmückt ſich mit Beeren, 
Und die Piflazie mit Nüffen; es niften unter dem Dache 

Bald helllachend und bald auffeufgend türliſche Zauben. 

Jetzt ift die ganze Orangerie im Freien aufgeftellt; wir bewundern bier 
außer den obengenannten, in Kübel gepflanzten Bäumen auch Myrte, Oleander, Stech- 
palme und den amerikanischen Feigencactus (Opuntia Ficus indiea), der feit diefer 
Zeit nicht nur in allen Mittelmeerländern einheimifch geworben, ſondern jelbft 
bi3 zu den Felsgehängen oberhalb Gries bei Bozen ſich angeftedelt hat. Die 
table Wandfläche über dem Gewächshaus iſt nad) italienischer Sitte al fresco bemalt. 
Wir jehen hier den Dogen von Venedig im Goldialar mit der Dogarefja auf 
dem Prachtſchiff des Bucentoro, wie er den Verlobungsring der Adria zufchleudert ; 
daneben jegeln ftolze Andienfahrer und Kriegsgaleeren; dann folgen in bunter 
Reihe Franzoſen in Inappem Wamms, mit ihren Damen in langjchleppenden 
Gewändern, Burgunder, Neapolitaner, Türken. Inmitten einer tropiichen Land— 
ſchaft klagt Orpheus um den Verluft feiner Eurydice, und das gibt dem Künftler 
Beranlafjung, nicht nur die merfwürdigften Pflanzen Indiens, Palmen, Bananen 
und Arumgewächſe, fondern aud Löwen, Tiger, Elephanten, Affen, Kameele, 
Papageien, Strauße und andere feltene Ihiere abzumalen, die dem Gefange 
laufchen. 

Inzwiſchen ift die Zeit zum Mahle gelommen; die Gäfte verfammeln fich 
in dem Pavillon, der in der Mitte des Gartens, wo die Hauptalleen ſich Ereuzen, 
errichtet ift; es ift ein vierediger Bau; nad) allen vier Seiten offen, gewährt er 
nit bloß den Lüften und Blumenbüften freien Zugang, fondern bietet aud) 
dem Auge den erfreuenden Ausblik in das Yaubgrün ringsum. An den Wänden 
hängen Gemälde; der Wirth wäre fein Mann der NRenaiffance, wenn er nicht 
auch Kunftfreund und Kunftfammler wäre. Das berühmtefte unter diefen Bildern 
ift eine Lucrezia von Lucad Cranach; ihr gegenüber hängt eine Judith mit dem 
Haupte des Holofernes. An der anderen Wand erblidt man ala Gegenftücde eine 
Alte, die fih mit Gold die Gunft eines Jünglings erfaufen will, und einen 


Dr. Laurentius Scholz von Rofenau. 125 


Grei3, der fi) um die Liebe eines jungen Mädchens bemüht, auf der dritten eine 
Ceres in Mitte goldener Saaten, und al3 Pendant eine Jungfrau auf blumigem 
Rajen, die ſich einen Kranz aufs Haupt jet. Auch die Plaftik ift im zwei 
reizenden, mit natürlichen Farben bemalten Relief3 von Wachs vertreten, Werke 
venetianifcher Künftler; da3 eine ift Venus mit Cupido, dad andere eine Magda— 
lena mit aufgelöftem Haare, die die jchönen Arme bußfertig ringt. Zwei andere 
Reliefs, nicht minder kunftvoll von italienijchen Meiſtern aus Alabafter gearbeitet, 
ftelen Scenen aus der bibliihen Gedichte dar, in dem einen Lot mit feinen 
Töchtern, im andern das Urtheil Salomonis?). 

An der Mitte des Pavillons befindet fich der Tiſch; er ift bejeßt mit dem 
Speifegeräth, den Gläſern und Humpen in den jchönen Formen der Renaiffance; 
Blumenfträuße und [oje Blumen find über das Tiſchtuch Hingeftreut; auch die 
Pokale find befränzt, und jämmtliche Gäfte, die Herren wie die Damen, haben 
Blumenkränze aufs Haupt geſetzt, welche die Mädchen inzwiſchen geflochten; es 
ift ja ein Syeft der Flora, das Heute gefeiert wird. Weber dem Tiſche ift eine 
amerifanifche Aloe frei aufgehängt. Die Diener reichen Wafler zum Hände— 
waſchen, dann nehmen die Gäfte Plaß in bunter Reihe, wie der Wirth es an- 
geordnet, der als Sympoſiarch und König des Feſtes obenan fitt. E3 find im 
Ganzen neun Perſonen; die Zahl der Muſen ſoll nicht überjchritten werden; die 
Auswahl ift jo getroffen, daß bei aller Rüdfihtnahme auf Alter und Stand 
doc eine gewifle Gleichheit und daher auch Freiheit den Gäften gewahrt wird. 
Das Mahl ift aus einfahen Speifen zufammengejeht, feine üppige Schwelgerei, 
wie fie in anderen Kreiſen üblich ift. Die Erzeugniffe des Gartens liefern den 
Hauptantheil, Fiſchweiher und Vogelhaus verforgen die Kühe, der Obftgarten 
den Nachtiſch. Zwiſchen den Gäften entipinnt fich ein heiter angeregtes Geſpräch; 
denn nit Pythagoräer fjollen die Gäfte fein, die zum Schweigen verpflichtet 
find; die finnigen Zifchreden bei den Sympofien des Plato jollen ihr Worbild 
fein; darum bemüht fich ein Jeder, fein Beftes zur Belebung der Unterhaltung 
beizutragen. Lustige Geihichten und Witzworte machen die Runde; der Wirth 
forgt dafür, daß der Anftand nie verlegt wird, daß jelbft ein Cato nicht Anftoß 
nehmen Eönnte. Nach der Mahlzeit fordert der Wirth einen der Gäfte auf, ein 
neues Gedicht vorzulefen oder einen Vortrag über ein naturphilofophiiches oder 
medicinifches Thema zu halten, doch darf dasſelbe weder zu ſchwierig noch zu 





!) Die Aumflfammlungen von Laurentius Scholz wurben nad dem Zobe feines einzigen 
Sohnes (F 1613) zerftreut; doch habe ich bie Lucretia von Lucas Cranach im Provinzialmufeum 
von Breslau aufgefunden; fie ift in einem hellblauen Renaiffancecoftüm bargeftellt, wie fie den 
Dolch in den entblößten Leib Aößt. Aehnliche Darftelungen ber Lucrezia aus ber Cranach'⸗ 
Ihen Schule finden fich in anderen Mufen; auch die Judith und bie verliebten Alten find 
bäufig wiederholte Darftellungen der Cranach'ſchen Schule. Für die Gere und das Mädchen 
mit dem Blumenkranze find mir feine Vorbilder befannt. Dagegen habe ich das fchöne, venetianifche 
Wachsrelief: Venus auf einem Lager ruhend, von einem Faun belaufcht, zur Seite der fpielende 
Amor — im Breslauer Mufeum für Schlefifche Alterthümer wiedergefunden (Nr. 461-463 be3 
Dufeumstataloge); es ift dahin aus der Breslauer Stabtbibliothel gefommen, die einen Theil 
bes Scholz’ichen Nachlaffes befitt, eö befindet fich noch in dem alten Schwarzen, durch einen Schieber 
verſchließbaren Holzrahmen (clausa quae conduntur in arca. Calagius); die Magdalena, vermuth: 
lid eine Nachbildung der Tizian'ſchen, ift verichoflen. Dagegen babe ich die beiden in breite 
Goldrahmen gefahte Alabafterreliefs im Breslauer Alterthumsmufeum aufgefunden. 


126 Deutiche Rundſchau. 


unbedeutend, es joll unterhaltend und anregend fein; befonders willlommen find 
Gegenftände aus dem Gebiete der Gartenpflege und der Botanik. An den 
Vortrag knüpft fich eine allgemeine Debatte; doch darf diejelbe weder zu auf: 
regend noch zu gründlich werden. Die Reden werden durch häufiges Pokuliren 
unterbrochen. Zuerft fordert der Wirth die Gäfte auf, nad antiker Sitte drei 
Becher den Schußgottheiten de Gartens zu fpenden: ben erften der Flora und 
der Venus, den zweiten Apollo und den Mufen, den legten den Grazien und 
dem genius loci. Die Diener füllen jedesmal die Gläfer von Neuem mit 
goldenem, ungewäflertem Rheinmwein; die Nymphen find zum Feſte dev Flora 
nicht zugelaffen. Nun bringt der vornehmfte Gaft einen Trinkſpruch auf das 
Gedeihen de3 Gartens und feines Beſitzers; der große Humpen macht die Runde 
rechts herum. Dann trinkt der Wirth auf das Wohl eines Freundes oder eines 
anderen verehrten Mannes; auch die Gäfte trinken Einer dem Anderen zu; der 
Geforderte muß jofort und gewiffenhaft nachkommen; die Gläfer müjjen jedesmal 
nad) der Sitte der Altvorderen ehrlich bis zur Nagelprobe geleert werden. 

Wenn den Reden und den Bechern Genüge gefchehen, erſucht der Wirth 
Einen aus der Geſellſchaft, ein Lied zu fingen: ein Anderer Holt von der Wand, 
an der Zithern, Flöten, Fiedeln und andere Mufikinftrumente aufgehängt find, 
eine Laute herab, den Gefang zu begleiten. Nun wechſeln Lieder der Solijten 
und Inftrumentalmufit mit fröhlichem Rundgeſang. Das TFeft verlängert fich 
bi3 tief in die Nacht. Endlich erinnert ſich die Gejellichaft der Rückſicht, die fie 
dem Herrn ſchuldig ift; die Gäfte erheben ſich zum Aufbruch, ſchütteln fich die 
Hände und begeben ſich auf den Heimweg. „Was aber,” fo lautet der legte Paragraph 
der Gartengefeße, „bei dem Feſte geiprochen oder nicht geſprochen, was gethan 
oder nicht gethan worden ift, das ſoll in den Wein gejchrieben fein und nicht ins 
Gedächtniß. Wer fi) am folgenden Tage doch noch daran erinnert, der möge 
fih daran genügen laſſen, daß er e3 felber weiß, nicht aber Anderen in ber 
Stadt e3 ausplaudern. Wer aber diefe Gejee übertritt, der joll aus der Gemein 
Ihaft der Guten ausgeftogen und aus der Zahl der Freunde geftridhen werden.“ 

Indem wir von dem Breslauer wiffenjchaftlichen und gejelligen Leben des 
ſechzehnten Jahrhunderts Abjchied nehmen, drängt fi ung unmillfürlich der 
Dergleih mit der Gegenwart auf. Ohne Zweifel find in den dreihundert Jahren, 
die dazwischen Liegen, großartige Fortſchritte gemacht worden. Die Zahl der 
Einwohner von Breslau Hat fich faft verzehnfaht, und indem bie Stadt als 
lebendiges Glied einem großen Staatsorganismus fich einordnete, find auch für 
den Einzelnen die bürgerlichen und die ftaat3bürgerlichen Aufgaben gewachſen. 
Die Wiſſenſchaft, insbefondere die Naturwiflenichaft, hat fih in unaufhaltſamer 
Fortbildung zu einer früher nicht geahnten Höhe aufgefhwungen: und indem 
Handel und Gewerbe ihren Fortichritten auf dem Fuße folgten, haben fi auch 
alle focialen und materiellen Einrichtungen weſentlich vervollflommnet. Sorgen 
wir dafür, daß über dem materiellen Fortſchritt jener Idealismus der Renaiffance 
nicht verloren gehe, welcher im opferbereiten,, jelbftlofen Wirken für die Mit- 
bitrger jeine Befriedigung findet, und der den edelften Genuß nicht in finnlichem 
MWohlleben, jondern im Hegen und Pflegen unjeres geiftigen Befites, der Kunſt 
und Wiſſenſchaft, erblidt. 


Zur Frinnerung an Andräſſy. 


N ey u 


Daß Niemand vor feinem Tode glükli zu preifen jei, diefer Ausſpruch 
eines claffiichen Weifen, gilt ganz befonder3 in feiner Anwendung auf öfter- 
reihiiche Staat3männer. Erfolg oder Anerkennung, Eines oder das Andere, 
gehört jedoch dazu, daf ein leitender Staatsmann glücklich fei, oder doch mindeftens 
fh glüdlih fühle. Weitaus die Mehrzahl der Staatslenker des Kaiferreichs 
an der Donau muß fi) damit bejcheiden, entweder bie erzielten Erfolge zu über: 
leben, oder auf Anerkennung ihres Wirkens jo lange zu warten, bis ſich über 
ihrem irdiſchen Refte die file Gruft gejchloffen hat. Um nicht jener Perfön- 
lichkeiten zu gedenken, welchen nur „des Augenblides Gunſt“ zu einem jähen 
Aufleuchten verholfen, — was weiß die jüngere Generation heute von dem 
Siebenbürger Magner, von Schufelfa, von Mühlfeld und SKaiferfeld, denen noch 
vor drei Jahrzehnten das ganze liberale und deutjche Defterreich zujubelte? — 
vermödte man eine ftattliche Reihe von Namen zu verzeichnen, deren Träger e8 
erleben mußten, daß ihr Ruhm vor ihnen zu Grabe ging. Die Begeifterung. 
mit der ihnen einſt das „dankbare Vaterland“ den Lorbeer um die Schläfe ge- 
mwunden, erloſch früher als ihr Lebenslicht; der Kranz welkte fchneller als das 
Haupt ergraute. Nur zu viele Seiten der Memoiren des Grafen von Beuft 
find wehmuthsvollen, oft allzu jentimentalen Betrachtungen über dieſes Thema 
gewidmet, und dasſelbe Leit- und Leid-Motiv mag auch in gewifjen Aufzeich- 
nungen bindurchklingen, die heute noch im geheimften Pultfache jo manchen ver- 
dienjtvollen Miniſters oder Politikers „a. D.“ des Tages harten, da fie ohne 
Verlegung der loyal geübten Discretion die Erinnerung an die jo gar raſch ver— 
ſchollenen Thaten einem nachlebenden Geſchlechte wachrufen ſollen. Wanbdelt 
nicht noch Herr von Schmerling unter uns, den fie einſt als „Water der Ver— 
faſſung“ dankbar feierten, um ihn, kaum daß fein Werk drei Jahre beftanden, 
von dem tarpejiichen Felſen herabzuftürzen, wie wenige Jahre fpäter die Männer, 
denen fie jelbit al3 den Befreiern von den Feſſeln des Concordates, ald den 
Pfadfindern auf dem Wege zur Eroberung der ftaat3bürgerlichen und der intel- 
lectuellen Freiheit die Palme ſchwangen? 

Belam der Mann, ben fie vor wenigen Tagen in Ungarns prädtig auf- 
blühender Hauptftadt mit fürftlichen Ehren, aber, was noch mehr werth ift, 
unter Thränen de3 Volkes zu Grabe trugen, befam Graf Julius Andräffy nichts 
von diefer Bitterniß zu koſten? War feine Volksthümlichkeit auch zur Zeit, da 
er noch in Amt und Würden unter uns weilte, auf jener Höhe, auf der die Kund— 
gebungen berjelben nad) feinem Tode ftanden? Lebte er nod), er würde mit jenem 


128 Deutſche Rundſchau. 


Scharfblick, der ihn namentlich da nicht im Stich ließ, wo es ſich um die 
Prüfung und Erkenntniß des eigenen Ich handelte, der Erſte ſein, dieſe Frage 
nur mit erheblicher Einſchränkung zu bejahen: für Ungarn vielleicht, für Oeſter— 
reich nur theilweiſe. Ja, dieſe Sympathien datiren, ſelbſt ſo weit die Deutſchen 
Oeſterreichs in Betracht kommen, erſt aus neuerer Zeit. Sie knüpfen unmittels 
bar an das Bekanntwerden des Bündnißvertrages mit dem Deutſchen Reiche. 
Und ſie mußten um ſo gewiſſer und tiefer Wurzel faſſen, als ſich bei dieſem 
Anlaſſe den Führern der Deutſchen Oeſterreichs zwei Empfindungen aufdrängen 
mochten, denen ſich ihre Redlichkeit nicht verſchließen durfte. Zunächſt die Be— 
wunderung vor der ſonſt nicht landesüblichen Selbſtverleugnung des Politikers, 
der einen Erfolg von ſo epochemachender Bedeutung erzielt, ohne ihn an die 
große Glocke zu hängen, ja der ſich im Augenblicke, da derſelbe verbrieft und 
beſiegelt iſt, ruhig ins Stillleben auf das Altentheil zurückzieht. Sodann die 
Reue, wo nicht die Beſchämung ob des Unrechtes, das man dieſem Rathe der 
Krone angethan, als man ihm mit mehr Leidenſchaftlichkeit als Ueberlegung vor— 
warf, daß er die Monarchie an den Rand des Verderbens bringe. Fürwahr, 
der Kranz, den die Abordnung der öſterreichiſchen Verfaſſungspartei an der Bahre 
im ungarifchen Akademiegebäude niederlegte, reicht nicht hin, um in dem Protokoll 
über die jo denkwürdige als verhängnikvolle Konferenz vom 22. October 1878 
jene Worte de3 damaligen Parteiführers zu verhüllen, die ihre ätzende Spite 
gegen einen Abweſenden richteten. An jenem Abend Hatte Freiherr v. Pretis, 
al3 der Kaijer ihm die Neubildung des Gabinet3 übertragen, welches die Nach— 
folge des von der eigenen Partei im Stiche gelaffenen Minifteriums Adolf 
Auersperg übernehmen jollte, die Mitglieder diejer Partei verfammelt, um, nad- 
dem er fich zuvor der Zuftimmung ihres Führers verfichert, auch mit den anderen 
Trractionen der damal3 bereit3 gejpaltenen Partei fi auseinanderzuſetzen. Groß 
war feine Ueberraſchung, ala ſich derſelbe Dr. Herbſt, deſſen Unterftügung er ſich 
bereit3 gefichert glaubte, erhob, um zu erklären, „Defterreich ftche am Vorabende 
einer finanziellen Kataftrophe, wenn an der biäherigen auswärtigen Politik feft- 
gehalten werde. Eine Beſſerung der Berhältnifje jcheine nur möglich, wenn der 
gegenwärtige Leiter diefer Politik zurücktrete, deffen Hand fi al3 eine ver- 
hängnißvolle erwieſen habe und von bedauerlichem Einfluffe auf die parlamen- 
tariſche Entwicklung Oeſterreichs ſei'. Man könnte noch manche Redeblüthe jenes 
unſeligen Abends, deſſen Verblendung die Deutſchen Oeſterreichs mit einem ganzen 
neuen Capitel ihrer Paſſionsgeſchichte büßen mußten, einflechten in den Kranz, 
der als Sühne ſchweren Irrthums den Sarg des Todten ſchmückte. 

Worauf beruhte nun die außergewöhnliche Volksthümlichkeit dieſes Mannes 
in Ungarn, die unbeſtrittene hohe Achtung, die er diesſeits der Leitha genoß? 
Worauf die, wie geſagt, bei uns ſo ſeltene Erſcheinung, daß es ihm gegönnt war, 
ſich Beider zu erfreuen, ſelbſt nachdem er ſein Amt niedergelegt? Woher nament— 
lich das, womöglich noch ſeltenere Phänomen, daß ungemindert durch jene 
Popularität und neben derſelben, auch ſein Anſehen „nach Oben“, wie man in 
Oeſterreich mit einer metaphoriſchen Abkürzung zu ſagen liebt, nicht bloß un— 
geſchmälert blieb, ſondern eher in Zunahme begriffen war? Sucht man nach einer 
Antwort auf dieſe Fragen, ſo wird man vor Allem zugeſtehen müſſen, daß er 


Zur Erinnerung an Anbräffy. 129 


weder dad Eine, noch das Andere von den Göttern erfleht hat. Graf Andraſſy 
lief der Gunft des Volks nicht nach und ſchlich ſich nicht in die der herrſchenden 
Kreiſe. Vielleicht liegt ſchon im diefem Zuge feine® Charakters ein Theil der 
Erklärung. Und Charakter war bei ihm Alles, nicht Berechnung. Gab er ſich 
fo, wie er es that, jo durfte man fein Gehaben nicht auf Vorbedacht zurückführen, 
e3 war einfah ein Ausflug feiner Natur. Wohl konnte ex fi in ihrer 
Aeußerung Gewalt anthun, jo weit ihm folches bei feinem Temperament möglich 
war; allein diefe Zurücdhaltung war au das Marimum defjen, was man ihm 
zumuthen durfte Wie ihm alles Unnatürliche, Gekünftelte, Geſchraubte ein 
Greuel war, jo wies er es auch von ſich, duldete es nicht um, nicht an fich. 
Es mußte ihm als großes Opfer erfcheinen, und er litt auch in der That dar- 
unter, al3 er bei jeinem Amtsantritte feinen Namen unter da8 Rundjchreiben 
feßte, in welchem jeine Politif als die Fortſetzung derjenigen feines Vorgängers 
bezeichnet wurde. „Ich Habe mich“ — fo äußerte er damals zu Vertrauten — 
„zur Politit meines Borgängers befannt nur aus perfönlicher Rückficht für Herren 
dv. Beuft, gegen meine innere Ueberzeugung. Denn follte ich wirklich diefe Politik 
befolgen müffen, jo wäre Niemand reich genug, mid) dafür zu bezahlen, daß ich 
dierundzwanzig Stunden lang auf diefem Plate aushalte.“ Zu berlei Con— 
cejfionen aus perſönlichen Rüdfichten verftand er fich aber nicht Leicht und jeden» 
fall3 nur pro foro externe. Seinem Volfe und feinem Monarchen gegenüber 
trat er immer mit aller Offenheit auf, aber nicht mit jener Art von Aufrichtig- 
feit, die die Hand ans Herz legt und die Augen gen Himmel hebt. Nicht 
in der Stellung und im Tone de3 Marquis Poja, ber um Gedantenfreiheit bittet, 
noch mit der finfteren Stirn eines Jeremias fuchte Graf Andraffy dem Souverän 
jene Entſchließungen abzugewinnen, die auf feine Anregung zurüczuführen find. 
Sein Charakter ward ihm zum zuverläffigften Wegweifer auf dem jchlüpfrigen 
Boden in den Kaiferpaläften. Kaifer Franz Joſef zählt zu feinen hervor- 
leuchtendften Regententugenden einen ritterlichen Sinn, das Erbtheil feines großen 
Ahnherrn Maximilian, und auf diefen mußte die Weiſe Andrafiy’3 ſympathiſch 
wirken. Nie hatten jene Räthe, die dem Kaiſer offen ind Auge zu fchauen und 
mit Wahrung ber Grenzen ſchuldiger Ehrerbietigung ihre Ueberzeugung zu ver- 
treten wußten, fich über Ungnade zu beklagen. Als da3 „Bürgerminifterium“ 
ana Ruder fam, defjen Namen nad der Natur der Verhältnifje bei Hofe bis 
bahin nicht eben mit Wohlwollen genannt worden, war es Giskra, deffen frantes, 
männliches Auftreten, gehoben durch die Mittel feiner oratorifhen Begabung, 
auf den erften Schlag ihm das Herz des Kaiſers eroberte, wie diefem auch der 
geftrenge Zahlmeifter Breftel ob feines jchlichten, anſpruchsloſen Wejend und 
troß feines, die Garricatur herausfordernden Aeußeren twohlgefiel. Schade, daß 
ih Giskra jelbft um die ihm entgegengebradhte Zuneigung, die der liberalen 
Sache jehr zu ftatten gekommen wäre, brachte, indem er bald eine gewilje rück— 
fichtsloſe Rechthaberei und allerlei Antriquantenkünfte an den Tag legte. Ganz 
und gar verdarb er es jedoch mit dem Kaifer in jener Mtinifterconferenz, in ber 
es fih darum Handelte, dem aus dem Gabinet gejchiedenen Dr. oh. Nep. Berger 
fein Ruhegehalt zu bemefjen. Von einer Seite war mit Rückſicht darauf, daß 
Berger feinem Portefenille eine der einträglichiten en wi geopfert, 
Deutfhe Rundſchau. XVI, 7. 


130 Deutfche Rundſchau. 


beantragt, ihm eine höhere als die übliche recht bejcheidene Penfion zuzugeftehen. 
Da ſchlug Giskra, der fich damals in politiichen Antagonismus zu jeinem 
einftigen Gollegen befand, mit geballter Fauft auf den Tiſch: „Wie, man joll 
der Schlange noch das Gift vermehren!“ Diefe Aeußerung über einen Gollegen 
und langjährigen Gefinnungsgenofjen fand der Kaijer jo unritterli, daß er ſich 
jeither von Giskra nur abgeftoßen fühlte. Herr v. Beuſt wußte ben Monarchen 
auch nicht immer recht zu faſſen; er war oft zu kleinlich, zu tergiverfirend, 
meinte es jehr qut, aber verdarb wieder Alles durch ein übel angebradjtes Späh- 
fein, das ex nicht umterdrüden konnte, deſſen Taktlofigkeit er nicht zu fühlen 
ſchien. So wenn er 3. B. einem feiner Mitarbeiter gelegentlich einer nicht an- 
exfennenden Bemerkung des Kaiſers den Vers widmete: 

„Dft heißt: Viribus unitis!) 

So viel als: die Suppe mit if.“ 

Den Grafen Andraffy verlieh dem Kaifer gegenüber der Takt nie; niemals 
würde er ſich gewiſſe Vertraulichkeiten im Dialog erlaubt haben, wie fie jeinem 
Vorgänger mitunter entjchlüpften, weit entfernt dadurch jeinen Beziehungen zum 
Träger der Krone jene Herzlichkeit zu verleihen, die zu erreichen dem ehemaligen 
Revolutionär und Erilirten gelang, ohne daß er e3 darauf abjah. Mit dem Auge, 
das ein jo langjähriger Verkehr mit Staatödienern aller Schattirungen ſchärfen 
mußte, erfannte der Kaifer in Andräffy den Mann, der nie etwas verlangen 
oder vorjchlagen werde, was er nicht innerlich als im Intereſſe der Dynaftie 
und des Reiches geboten erachtete. Umgekehrt ließ Andräffy es nicht darauf an— 
fommen, daß der Kaifer ihn mahnen mußte, feine Gefühle und Ueberzeugungen 
zu fchonen. Als es galt, dem König von Italien einen Gegenbeſuch abzuftatten, 
und befannt wurde, daß ber Kaifer hierfür Venedig außerjehen, machte ein 
fremder Diplomat dem Grafen Andraffy Complimente über diefen Entſchluß, die 
er indeß mit den Worten ablehnte: „Glauben Sie, ich hätte das Herz gehabt, 
dem Kaiſer jo etwas zu proponixen?“ So geftaltete das Verhältniß zwiſchen 
dem Landeheren und feinem Berather ſich zu einem durchaus und beiderjeitig 
vertrauensvollen. Daß der Letztere hierin vielfach von feinem Glüdäftern be 
günftigt wurde, ſoll allerdings nicht geleugnet werden. Darum konnte cr es, 
faum daß fein Minifterium nah Wochen zählte, wagen, das Vertrauen des 
Souveräns auf eine ſolche Probe zu ftellen, wie e8 die war, da er im Jahr 1867 
dem eben gefrönten König von Ungarn den Entſchluß injpirirte, das großartige, 
von der Nation more avitico dargebradjte Krönungsgeſchenk einer Stiftung für 
die Wittwen und Waijen der Honvéd aus den Jahren 1848 —1849 zu widmen. 
Nicht einmal der „alte Herr” Deak, deſſen Loyalität außer Zweifel ftand, hätte 
den Muth gehabt, ſich dem Monarchen, deſſen erſte Waffenthat in ber Be 
fämpfung jener „aufrühreriichen Horden“ beftand, mit einer ſolchen Anregung zu 
nähern. Graf Andräſſy aber brauchte nur die richtige Saite anklingen zu laſſen, 
und ber anfangs etwas erftaunte, damals fiebenumdbreißigjährige König ging mit der 
ihm eigenen Hochherzigkeit auf den Vorſchlag ein, ebenjo wie er jpäter, ungeachtet 
des Entjegens feiner militärifchen Rathgeber, zuftimmte, daß die ungariſche Land- 
wehr officiell den bis dahin verpönten Titel „honved“ führen möge. Beide 


) Belannilich bie Devife bea Kaiſers von Defterreidh. 





Zur Erinnerung an Andräfiy. 131 


Maßnahmen begründeten die Popularität des mit jeinem Volke wiederum ver» 
jöhnten Monarchen, und befeftigten die feines erſten Minifters. 

Das Volk aber befam e3 mit dem feinen Inftincte, welcher manchmal bie 
große Maffe richtiger leitet al3 den Einzelnen, bald heraus, daß es feinen zu— 
verläffigeren und mehr vermögenden Anwalt für jeine Sache bei der Krone — 
nicht gegen biejelbe — zu erwerben im Stande wäre, als e3 einen ſolchen im 
Grafen Andräffy beſaß. Und da Andraſſy diefen Einfluß niemals einem per- 
jönliden und privaten Vortheile zur Verfügung ftellte, ihn nicht in Kleinen 
Dingen, mit unnützen, lediglich der Selbftbeipiegelung dienenden Kraftproben 
jeriplittexte, feftigte denjelben ebenjo, wie es die Zuverficht fteigerte, mit ber ſich 
die Nation jeiner Leitung überließ. Er jelbft Tennzeichnete im Jahre 1869 dieje 
Stellung und fein Verhältnig zum Monarchen mit den ſchlichten Worten: „Ich 
habe nur das einzige Verdienft, daß ich al3 Rath der Krone nie anders geſprochen, 
al3: Herr, vertraue der ungarischen Nation! Wenn fie einmal einen Ausgleich 
eingeht, dann Hält fie ihn auch mit derjelben Zähigfeit, mit der fie ihre avitifchen 
Rechte gefordert.“ 

Die nachfolgenden Zeilen können und wollen nicht den Anſpruch erheben, 
einen Zebensabriß oder gar eine erjchöpfende Charakteriftif dieſes Mannes zu 
geben. Nur mit flüchtigem Griffel Hingeworfen, will diefe Skizze einen und den 
andern Zug diejer intereffanten Perjönlichkeit fefthalten, deren Bild in ganzer 
Größe auszuführen, dem Gefchichtichreiber zufommen wird. Deshalb joll hier 
auch nicht weiter ausgeführt werden, was er für Ungarn bedeutete. Gelegentlich 
einer Berfammlung in jeinem erften Wahlfreije fam er auf die Einwendungen 
zu ſprechen, die ſchon damals von der Oppofition der jogenannten 48er gegen 
die neue Ordnung der Dinge in Ungarn erhoben würden. „Im Jahre 1848 find 
in jehr vielen Staaten Europa’3 neue Verfaffungen entftanden, aber ich weiß 
feinen einzigen, two diejelben auch nur in ihren Hauptzügen heute noch beftänden, 
Ungarn ift der einzige Staat, two jeder wejentlihe Punkt der 48er Conftitution 
wieder hergeftellt if. Was abgeändert wurde, das hat die Nation felbft abge- 
ändert!“ Da3 wurde vor 21 Jahren geiprochen, und doch könnte e8 noch heute 
den ſcandalöſen Diatriben der äußerften Linten des ungariſchen Parlamentes ent: 
gegengehalter werden. 

An Ungarns Zukunft glaubte ex feft, aber ebenjo unerjchütterlich hielt ex 
an der hiftorischen Verbindung mit Defterreih. Ein der Oppofition angehöriger 
Freund — und in Ungarn fchließt politische Gegnerſchaft perjönliche Freundſchaft 
nit aus — hänſelte ihn einft: „Was nimmft Du Dich denn gar jo jehr um 
den ‚Ausgleih‘ an, Du fannft darum doch gemeinfamer Minifter des Aeußeren 
bleiben.“ — „Mein Lieber, da irrſt Du“ — antwortete Andräffjy — „benn 
nad dem Ausgleich kommt entweder der Abjolutismus oder die Perjonal-Union, 
und dann gibt e3 feine gemeinfamen Minifter mehr.“ Schon durch diejes Feſt— 
halten an der Schöpfung von 1867 war jeine Sympathie für die Geſchicke 
Oeſterreichs bedingt, und mochte jein magyarifches Gefühl auch immerhin das 
ftärfere jein, jo geihah ihm doch bitter Unceht, ala man ihm Kälte und Em— 
pfindlichkeit für die Nöthen und Bedürfniffe der öfterreichiichen Erblande vorwarf. 
Man machte ihm diejen Vorwurf bejonders und am lebhafteften damals, als er 

9 * 


132 Deutſche Rundſchau. 


nach dem Sturze des Bürgerminiſteriums und dem Mißlingen des Potocki'ſchen 
Experimentes ſich weigerte, ſeine Stimme zu Gunſten der deutſchen Verfaffungs- 
partei zu erheben. Allerdings konnte man zu jener Zeit hundertmal aus ſeinem 
Munde die Worte hören: „Ich miſche mich nicht d'rein.“ Die Empfindlichkeit 
Beuſt's, dem Ohrenbläſer ſchon damals den Verdacht einflößten, Andräſſy trachte 
ihm nad dem Portefeuille — („Ich würde es nicht acht Tage in Wien aus— 
halten,“ rief Zebterer aus, al3 man ihm von der Beſorgniß des Reichskanzlers 
ſprach) — legte ihm zu den beftehenden fachlichen Referven noch weitere jubjectiver 
Natur auf. Gleichwohl ließ er es Jenem gegenüber an wohlgemeinten Winten 
nicht fehlen. Als Beuft das Bedürfniß fühlte, ih um das Abgeordnetenmandat 
in Reichenberg zu bewerben, redete ihm Graf Anbraffy wiederholt nicht nur 
hiervon, fondern überhaupt ab, ein Mandat für einen Vertretungskörper anzu: 
nehmen. „IH kann ja nicht zehn Monate lang warten, bis mir Gelegenheit 
wird, Infinuationen wider mich zu widerlegen,“ wendete Beuft ein. ergeben: 
ertwiderte der ungariiche Minifter: „Ueberlaffen Sie da3 uns, den Landesminiftern.“ 
Beuft jah darin nur eine ihm gelegte Falle, auch dann, ald er dabei felbft zu 
Talle fam. Man erinnert fich Heute kaum noch jener Epifode, ala im Mai 1870 
die Völker Defterreihd durch die Berufung eine im Grunde herzlich harmlofen 
Herrn dv. Widmann ins Minifterium überrafht wurden, gegen den ſich in ber 
liberalen Prefje ein Sturm der Entrüftung erhob. Noch bevor diefe Ernennung 
volljogen war, hatte ein jelbft hochgeftellter Vertrauensmann Andräſſy's die 
heiflige Miffion übernommen, dem Bortefeuille- Ganditaten abzurathen, bie 
Berufung ind? Gabinet anzunehmen. Wenige Tage darauf machte Fyreibert 
v. Widmann dem ungariichen Magnaten feinen Gegenbeſuch, während defjen er 
von allen erdenklichen Dingen ſprach. Erſt beim Fortgehen warf er die Worte 
hin: „A propos, ih bin ernannt.“ Solche Erfahrungen waren nicht fehr ein- 
ladend, fi in den Froſchmäuſekrieg der Parteien Gisleithaniens zu miſchen. 
Sobald e3 ſich jedoh um Lebenäfragen des Reiches handelte, da zögerte ber 
Ungar nit, darzuthun, daß ihm die Antereffen der Krone und des Gefammt- 
reiches höher ftanden, als die Rüdfichten auf die ſpecifiſch magyarifchen Velleitäten. 
Wer, wie der Schreiber diefer Zeilen, im Jahr 1870 in der ungarifchen Haupt: 
ftadt geweilt, weiß, wie hoc dort die Wogen der Parteinahme für Frankreich 
brandeten. Das ging jo weit, daß nad den erften Lügenhaften Nachrichten über 
einen Erfolg der franzöfifchen Waffen, ſchon alle Anftalten getroffen wurden, 
um eine Stadt-llumination zu infceniren. Wo fih Officiere in einem öffent 
lichen Bergnügungslocale zeigten, tourden fie von den Zigeunermufifbanden mit 
den Klängen der „Marjeillaife” begrüßt. Graf Andraffy hatte heftige Scenen 
mit feinen intimjten Anhängern zu beftehen, die zur bewaffneten Intervention 
drängten. 

Aber ſchon im Jahre 1868 gelegentlih der Zufammentunft mit Napoleon 
in Salzburg hatte der ungariſche Minifterpräfident, der dem Franzoſenkaiſer 
noch aus jener Zeit, da man fi ihn in Paris als „le beau pendu“ in ben 
Salon zeigte, wohl befannt war, diejem offen erklärt, er möge auf Oeſterreich 
in einem Kriegsfalle gegen Preußen fich keinerlei Hoffnung machen. Und ebenfo 
war in den Julitagen 1870 fein beftändiger Refrain: „Ein Krieg, in dem 
Oefterreich gegen Deutjchland ftünde, wäre unnatürlich, nie würde ich dazu vathen.“ 


Zur Erinnerung an Andräfiy. 133 


„Ich bin“ — jo erzählte er jelbft fpäter — „in jenen Tagen nicht von Wien 
gewichen, bis ich die Neutralitäterflärung durchgejegt hatte. Beuft hatte mir 
nach Terebes telegraphirt: ‚Sollen wir mit gefreuzten Armen zufehen?‘ Als 
ih in Wien ankam, wurde der Minifterrath drei Tage lang hinausgefchoben, 
bi3 er endlich am 18. Juli ftattfand. Und am 20. erfolgte unſere Neutralitäts- 
erklärung.“ Als ihm damals eine Aeußerung des „Herrn dv. Bismard“ — tie 
man in jenen Sagen noch den bereit3 in den Grafenfland erhobenen deutſchen 
Kanzler nannte — entgegengehalten wurde: „Beuft möge fi nur um die Gon- 
jolidirung Defterreich8 kümmern, wir fünnen mit Oeſterreich nur ala mit einer 
fremden Macht unterhandeln“ — da meinte Andräffy ganz kurz: „Recht hat ex!“ 
Im Spätherbft desjelben Jahres trat dann die ungarische Delegation in Peſt 
zufammen, und der ungarische Vertreter des Minifteriums des Aeußern — nebenbei 
bemerkt der treuefte und opferfähigfte Freund Andräſſy's — mußte in offener 
Situng erklären, die Regierung habe nie daran gedacht, eine andere als eine 
neutrale Rolle zu jpielen. Nach der Sihung begrüßte Andräffy den Redner mit 
den Worten: „Ei, ich habe gar nicht gewußt, daß Du jo gut lügen kannſt!“ 

Schwerer mochte ihm jeine Aufgabe werden, al3 im Januar 1881 Rußland 
die Pontusfrage aufrollte und in ganz Ungarn fich ein wahrer furor gegen den 
alten Feind erhob, Alles zum Kriege drängte. Es waren entjcheidende Stunden, 
während welcher der große Minifterrath in der Hofburg zu Ofen berathichlagte 
und einer Darlegung de3 Kriegaminifterd Kuhn laufchte, der feine Rede in ge— 
wohnter Weife mit unzähligen „und foweiter etcaetera“ verbrämte. Beuft 
plaidirte gegen jede bewaffnete Demonftration mit weniger Worten als gewöhn- 
lich, und vielleicht eben deshalb mit mehr Eindrud. Denn er dachte, wie er 
jpäter erzählte, fi) die großen Argumente aufjparen zu follen, um den ungarijchen 
Minifterpräfidenten, der nad ihm zu Worte kam, zu widerlegen. Groß war 
feine Ueberraſchung, als diejer ganz lakoniſch erklärte, fich den Argumenten des 
Vorredners anzuſchließen. Und doc waren diejelben, mit Vorbedadht , Lediglich 
aus den Rücfichten für die Länder Cisleithaniens geihöpft. Nach diejen beiden 
Beihlüffen durfte ein gewiß competenter Beobachter, der damalige Vertreter 
Preußens am Kaiferhofe, General v. Schweinik, äußern: „Defterreich jollte dem 
Manne ein Monument jegen, der defjen Neutralität zu Stande gebracht, jo jehr 
fie au Manchem contre cur fein mochte.“ 

Daß aber Graf Andräfiy alle Reſerve abzuftreifen wußte, wenn es galt, die 
verfaffjungsmäßigen Zuftände in Gisleithanien gegen ernftliche Angriffe zu ver— 
theidigen, bewies feine Haltung gegenüber den fyundamentalartikeln des böhmijchen 
Landtages. Wiederholte Verſuche, ihn zu beivegen, feinen Einfluß gegen die 
Strömung geltend zu machen, welche der gut gemeinte aber unglüdliche Verſuch 
des Grafen Potocki zu entjeffeln drohte, lehnte er mit den Worten ab: „Für 
meine Perſon ſcheue ich die Verantwortlichkeit einer jolchen Intervention nicht, 
aber Ungarn darf ich mit derſelben nicht belaften.“ Als jedoch das Reſcript an 
den böhmischen Landtag ihm eine Handhabe bot, ergriff er diejelbe, um aus 
jeiner Referve herauszutreten. Deäf, damald noch am Leben, wollte von einem 
Einſchreiten anfangs nichts wiffen, bezeichnete die böhmiſche Landtagsadreſſe in 
einer Privatbeſprechung als inoffenfiv für Ungarn und mahnte die magyarijchen 
Politiker zur Mäßigung und Ruhe. Andraffy vergrub ſich in feinem Terebes, 


134 Deutiche Rundichau. 


um erft auf Befehl des Kaiferd nad) Wien zu kommen, dem Beuft ein Memoire 
gegen die böhmiſchen Forderungen nach Iſchl gejendet hatte. Andraffy hatte auch 
einen perfönlichen Grund, nicht jo leicht in die Action gegen den Grafen Hohen- 
wart zu treten; er wußte, daß diefer einen polniſchen Gavalier, man jagte, den 
Grafen Adam Potocki, als Sandidaten für die Nachfolge Beuft’3 pouffterte, und 
mochte ſich nicht dem Verdacht ausjegen, jenem gegenüber ſich jelbft als Präten- 
denten in Erinnerung bringen zu wollen. Sein Erjcheinen in Wien und die Unter— 
ftüßung, die er dem damal3 ſchon ganz ifolirten Grafen Beuft bot, hatten den 
bekannten Erfolg: das Gabinet Hohenmwart fam zu Falle. Im Conſeil ſprach 
Graf Hohenwart jeine VBerwunderung aus, daß Graf Andrafiy, nachdem er zuvor 
das Rejcript gelefen und bis auf zwei Punkte gebilligt, jet dagegen ftimme. 
Graf Andräfiy entgegnete ſcharf: „Das ift eine Unmwahrbeit; aus dem Umftande, 
daß ich zwei Punkte beſonders beanftandete, folgern zu wollen, ich hätte alles 
Andere gebilligt, ift ein jefwitifcher Kniff.“ Noch in fpäteren Jahren wiederholte 
Andrafiy, er habe fich lediglich um des Ausgleiches willen feiner jonft üblichen 
Abſtinenz entjchlagen. „Ach bin für mich und meine Nachkommen” — fagte 
er — „Stolz darauf, den Ausgleih zu Stande und e3 dahin gebracht zu Haben, 
daß der Kaifer in Ungarn jo populär, wie fein anderer Monarch in Europa ift 
und über ganz Ungarn zur Vertheidigung des Reiches gebieten kann!“ Die 
Möglichkeit einer vollen Befriedigung der ſlawiſchen Afpirationen in Defterreich 
hielt ex immer für ausgeſchloſſen. Kurz bevor die eben erwähnten Ereigniffe fich 
abjpielten, im Herbſt 1870, begegnete er am Frühſtückstiſche im „adeligen“ Re— 
ftaurant Roger den Miniftercollegen Beuft und Potocki. Exfterer jcherzte, auf 
ben polnischen Grafen zeigend: „Sehen Sie, was der für ein trauriges Geficht 
macht, troßdem in Böhmen die Gehen aus den Wahlen die Majorität davon- 
trugen?" — „Und da halten Sie für ein Glück?“ frug Andrafiy. Worauf 
Beuft: „Ganz gewiß, denn im Grunde ift e8 die Beftimmung Defterreichs, daß 
diesfeit3 die Slawen die Majorität genießen, wie jenjeit3 die Magyaren.“ An: 
dräfſy beftritt dies: „Wenn ich ein Volk befriedigen fann, jo gebe ich ihm Alles, 
aber die Slawen kann man nicht befriedigen, denn ihr letztes Endziel könnte 
ihnen höchftens Rußland gewähren: die Vereinigung aller Slawen.“ Und bei 
einem jpäteren Anlaffe, bei welchem davon die Rede war, daß ein öfterreichiicher 
Minifter des Aeußern berufen ſei, ftet3 die großöſterreichiſche Staatsidee vor 
Augen zu haben, nickte ex feinem Gegenüber, das nicht frei von fürbderaliftiichen 
Anwandlungen war, zu: „Ganz richtig; wenn man aber eine Großſtaatsidee 
repräfentirt, dann ift e8 doch der helle Unfinn, Hinüberzufteigen in die Arena 
zu Gehen, Slovenen und Galizianern.” Das hinderte ihn jedoch nicht, ſich mit 
bitterer Verachtung abzuwenden von jenen Beftrebungen, die juft in der Zeit 
nad) den deutjchen Siegen bei einem Bruchtheil der Deutfchen Defterreich® zum 
Ausdrud kamen und für die man hier die Bezeichnung „Preußenſeuche“ erfand. 
„Alles was diefen Leuten Fürſt Bismard gewähren würde, können fie von mir 
garantirt haben,” äußerte er eines Tages ironisch, ficher, daß der große Kanzler 
in Berlin für derlei Ueberläufer nur die gleiche Verachtung bereit habe. Freilich 
ließ er ſich auch durch entgegengejegte Allüren nicht täufchen. Dean ſprach ihm 
von dem „Preußenhaß“ eine magyariichen Publiciften, der, bis dahin im Dienfte 
des ungarischen Gabinet3, mun die Nedaction eines Welfenblattes übernahm. 


Zur Erinnerung an Anbräfig. 135 


„Ach was, der ſchimpft nur jo, weil ex hofft, man werde in Berlin fo dumm 
fein, feine Liebe zu erfaufen.” 

Bald nah dem Sturze Hohenwart’3 folgte die Berufung Andräſſy's zur 
Leitung der auswärtigen Politif. Sagen, daß diefer Rollentaufch in ber Monarchie 
große Befriedigung hervorrief, hieße die Thatſachen fälſchen. Der neue Miniſter 
ſelbſt mochte ſich nicht ganz ficher fühlen; gleichwohl fprang er fofort, wie es 
einer Reiternatur geziemt, mit beiden Beinen in den Sattel. Seine Umgebung 
tar ihm fremd, fast durchweg Männer, bei denen man wenigſtens alle Urſache 
gehabt hätte, große Anhänglichkeit an feinen Vorgänger vorauszuſetzen, der fie 
mit Auszeichnungen und Beförderungen überhäuft Hatte. Groß war das Map 
quter Meinung nicht, das man dem Neuling entgegenbrachte. Nach der erften 
Borftellung des höheren Beamtenperjonales meinte einer der Herren — er ift 
feinem Chef, dem er nachmals treu anhing, im Tode vorangegangen — im Hin 
blick auf die fichtlih genirte und befangene Haltung des Minifters: „Ich er- 
wartete, ex werde im nächften Augenblick eine Flöte aus der Tafche ziehen und 
ein Solo vortragen.” Ein Anderer nannte die Scene „eine Vorftellung auf 
umgejatteltem Pferde“. Er jelbft ariff anfangs in der Behandlung feiner vor- 
tragenden Räthe fehl. In Ungarn nahm der Beamtenftand, wenigftens in jenen 
Tagen noch, kaum eine höhere Stellung ein, als die befoldeter Diener; und dort 
gewohnt, fi von lauter unterwürfigen Greaturen umgeben oder von jeinen Ver— 
ehrern gehätjchelt zu ſehen, fand Andraffy ſich nicht alsbald in die ungleich 
Sanftere Tonart, die glatten Umgangsformen, an welche feine Vorgänger in Wien 
ihre Hülfsarbeiter gewöhnt hatten. Als aber eined Tages einer feiner Räthe, 
den er ftehen ließ, während er jelbft figend und rauchend den Vortrag anhörte, 
fih ohne Weiteres einen Stuhl nahm und darauf niederließ, da war e8 ber Mi— 
nifter, der fichtlich verlegen wurde. Am folgenden Tage bot er Jedem, der in fein 
Arbeitszimmer trat, Sit und Cigarre an. Mit Offenheit ſprach er ſich in Bezug 
auf feine neue Gejchäftsthätigkeit aus: „Ich bin zu ſchwerfällig, um den ganzen 
Organismus bereit fennen gelernt zu Haben.“ Nun, Schwerfälligkeit war es 
eben nicht, wohl aber eine jouveräne Geringihäßung alles bureaukratiſchen 
Weſens und jener Vielgefchäftigkeit, die noch am Ballplatz herrſchte. Kein Wunder 
bei einem Manne, der mit 48er Ideen über Bureaufratie und Diplomatie auf: 
gewachſen war und obendrein von Beiden glei beim Amtsantritte einen 
ſchlechten Begriff befam. Gewiſſe Polizeiberichte hatten nämlich für die Even- 
tualität, daß Andraſſy Minifter des Aeußern werden würde, Unruhen in Prag 
und jelbft in Wien vorhergefagt, mande Diplomaten gefchrieben, man betrachte 
diefen Portefeuillewechſel als Signal eines Krieges gegen Rußland. Dieje Be- 
richte wurden ihm gewifjenhaft vorgelegt, obwohl fie eigentlich für feinen Vor— 
gänger verfaßt waren. Bald darauf äußerte er: „Jet bin ich ſchon vier Wochen 
im Amte, und die Krawalle in Wien und Prag bleiben noch immer aus.“ Und 
wa3 den Krieg mit Rußland anbelangt, jo hatte er die Genugthuung, daß Gort— 
ſchakoff fich beeilte, ihn zu feiner Ernennung zu beglüdmwünjchen, während ex fiir 
den öfterreichifchen Geſchäftsträger, Freiheren dv. Frrandenftein, nachdem ihm dieſer 
die Abſchiedsdepeſche Beuſt's vorgelejen hatte, nur die jpite Antwort fand: „Je 
suis ravi d’apprendre que Mr. le Comte de Beust est content de Jui- m&me.“ 
Der einzige Hof, der die neue Wahl nicht ſehr freundlich aufnahm, war ber 


136 Deutiche Rundſchau. 


Batilan. Gardinal Antonelli machte zwar jehr viel Weſens von der „Gapacität” 
de neuen Minifters, fügte aber feufzend Hinzu, daß ex ſich für die Curie nichts 
von demfelben verſpreche. Der bezügliche Bericht trug die Unterfchrift des da» 
maligen Geihäftsträgerd — des Grafen Kalnody. „ft mir Lieb zu Hören,” 
bemerkte Graf Andraſſy dazu. Er liebte e8 überhaupt, zu Allem, was man ihm 
vorlag, lakoniſche Randglofjen zu machen. So, als ein czechiſches Organ höhniſch 
ichrieb, „Herr Andrafiy” habe Courage. — „Ja, manchmal“; und ein anderes 
Mal, als ihm ein ähnliches Blatt nachſagte, er habe in Berlin eine unter- 
geordnete Rolle gejpielt: „Na, Gott ſei Dank; denn wenn mich dieſes Blatt 
loben würde, müßte ih mich umbringen.“ Auch mit feinen Gejandten jprang 
der neue Minifter nicht fanft um. Der alte Prokeſch in Conftantinopel jchrieb 
„ein unverdauliches Kauderwelſch“. Graf Apponyi follte von London weichen, 
um dem Grafen Beuft Pla zu maden, und remonftrirte dagegen in einem 
fulminanten Briefe. Trotz der hohen Verbindungen, die er bejaß, mußte er ſich 
fügen, und nur dadurch, daß ſich Thiers lebhaft anfegte, um ihn nach Paris zu 
befommen, entging der mächtige Magnat dem Ruheſtande. Won den anderen 
leitenden Staatömännern Europa's hatte Andraffy damals feine allzu hohe 
Meinung. So äußerte er ſich über Gortſchakoff: „Für die Nahbarftaaten ift 
es immer gut, wenn Staatömänner alt werden; ex ift heute vierundfiebzig Jahre 
alt, Gott erhalte ihn und noch recht lange!" Seine Bewunderung für den 
deutichen Reichskanzler lag zu jener Zeit noch jehr im Keime und wuchs erft in 
dem Maße, als er ihm in feinem Wirken näher rüdte Das ging jo raſch, daß 
fi Andraſſy's Intimen nicht erinnerten, ihn jemals jo ftolz gejehen zu haben, 
als an jenem 1. uni 1875, da er ihnen ein durchaus eigenhändiges Schreiben 
vorwies, das Fürſt Bismard an ihn gerichtet, um ihm für feine Haltung in 
dem Gonflicte, den der belgifche Duchesne-Fncidenzfall zu provociren drohte, herz⸗ 
lichen Dank und Anerkennung zu zollen. 

Die Unterfuhung der Politik, die Graf Andraffy machte, der Wege, die er 
einſchlug, der Ziele, die er verfolgte, gehört der Geſchichtſchreibung an, die ſich 
an diefe Aufgabe mit aller Unbefangenheit erft wird heranwagen können, fobald 
Rückſichten auf Perfonen und Verhältniffe eine rein fachliche Behandlung zulafien 
werden. Mag fi dann auch herausftellen, daß es nicht immer — wie er fi 
gern den Anjchein gab — eherne Gonjequenz und unentwegtes Zielbewußtſein 
waren, nad) denen er vorging, jo wird man darin um fo weniger einen Grund 
zu ernftem Vorwurf finden dürfen, al der Widerfpruch zwiſchen Wort und 
Handlung, zwiſchen Abfiht und Ausführung, der Näherftehende überrajchen 
mochte, doch niemald zum Nachtheile der Aktion jelbft ausſchlug. So redt- 
baberijch er in feinem Reden war, jo wenig war er e8 gegen ſich ſelbſt. Das 
joll heißen, er gehörte nicht zu den Leuten, die da etwas thun oder lafjen zu 
müſſen glauben, einzig und allein, weil der erfte Impuls oder auch die erfte 
Reflerion fie vermochte, dies und das ſich vorzunehmen. Er wich nie, oder doch 
nit, daß man es nachweiſen Fönnte, der lleberredung, dagegen oft und oft der 
Ueberlegung. Und da fein Blid nicht getrübt war durch Vorurtheile, feine 
Willensfreiheit nicht beeinträchtigt durch Rückſichten untergeordneter Natur; da 
ihm ein glücklicher Spürfinn innewohnte für das, was lebensfähig und gefund, 
und ex ſchließlich jehr viel Muth und ebenfo viel Selbftvertrauen beſaß, jo wußte 


Zur Erinnerung an Anbräfiy. 137 


er den Erfolg an feine Perfon zu feffeln. Gehört aber diejer Theil feines 
Schaffens, wie gejagt, künftiger Geſchichtsſchreibung an, jo können über die Form, 
in bie ſich dasſelbe Hleidete, nur die Zeitgenofjen als klaſſiſche Zeugen auftreten. 
Die Mehrzahl dürfte darin übereinftimmen, daß biejelbe fo grundverfchieden von 
dem war, was bi3 dahin als Tradition galt, wie — nun wie das Morleben de3 
neuen Minifters von dem der Metternich, Mensdorff, Rechberg. Seiner Er- 
ziehung, feinem Naturell widerſprach und widerſtrebte Alles, was nad) ber 
„Schule“ roh. „Schule — das fenne ich nicht,“ pflegte ex jelbft gelegentlich zu 
jagen und mit jo wegwerfender Miene, daß man nicht Luft befam, ihn eines 
Befjeren zu belehren. Denn in jeiner Borftellung häufte fi unter dieſem 
Sammelnamen nit bloß der zopfige Formelkram, jondern Alles, was nur 
irgend wie nad) Dtethode, Theorie, Herfommen ausſah. Daß etwas fo und nicht 
ander3 gemadht werden müſſe, bloß weil e8 immer jo gemacht wurde, ließ ex 
abjolut nicht zu. Seine Umgebung hatte die größte Schwierigkeit, ihm begreiflich 
zu maden, daß ein Minifter des Aeußern an beftimmten Tagen der Woche die 
beglaubigten Vertreter der Mächte empfangen müffe, auch wenn fie ihm feine 
bejondere Mittheilung zu maden haben. Unerihöpflih war er in Erfindung 
von Ausflüchten, um fich „diefer corv6e“ zu entziehen. „Muß ich mich denn 
ausfratſcheln laffen,“ rief er Halb zornig, halb wehmüthig. In vielen Fällen 
ließ ex den antihambrirenden Diplomaten bedeuten, er jei eben zum Kaiſer be- 
rufen. Auch zu komiſchen Scenen gab diefe Abneigung Anlaß. 

Unter Allen, die an dem Grafen herummodelten, um ihn nad) den Ueber— 
lieferungen des „Haufes“ zu drillen, war der Eifrigfte ein alter Thürhüter, ein 
putziges Männchen, das zum eifernen Beftand der Reichäkanzlei gehörte. Nie 
mand durfte fich herausnehmen, den Minifter jo zu tyrannifiren,, wie der Fleine 
Mann im langihößigen ſchwarzen rad, der tadellofen weißen Halsbinde, dem 
gefräufelten Jabot voll Brillantentnöpfen und die Bruft voll Medaillen und 
Kreuzchen, lauter Geſchenke dankbarer groß- und Eleinftaatlicher Vertreter. 
Eined Tages, der Minifter war eben im Begriffe auszugehen, ftürzt 2. athemlos 
ind Gabinet und meldet den **jchen Botjchafter. „ch habe Ihnen doch gejagt, 
daß ich Heute nicht empfange,“ ſchnauzt Andrafiy den Kleinen an. „Aber Ex— 
cellenz, ich kann doch unmöglich den Botſchafter Sr. **ſchen Majeftät abweiſen.“ 
„But, dann fönnen Sie ihn auch empfangen.” Prompt macht der Thürhüter 
jeine Verbeugung, jagt ganz kurz: „Sehr wohl, Excellenz“ und ſtürzt ab. Setzt 
erhob fi der Minifter ihm nad) mit dem Ausrufe: „Der Kerl iſt's im 
Stande,“ und bat den Diplomaten perjönlich zu ſich. Doch gerade ſolch' ſchnei— 
diges Wejen gefiel ihm beſſer, amüfirte ihn wohl auch mehr, als die Deferenz 
mander Functionäre, welche fich in dev Rolle des Polonius abmühten. Durch 
fachlichen Widerſpruch ihn zu befehren, durfte man nicht Hoffen; jedoch man 
konnte ficher fein, fich ihn dadurch nicht zum Feinde zu machen. Eher trat das 
Gegentheil ein. Wie im mündlichen Verkehr die müßigen Wortgefechte, jo waren 
ihm im ſchriftlichen die Schön gedrechjelten Depejchen zuwider. Die gewandteften 
Federn des auswärtigen Amtes waren in Verzweiflung, wenn fie eine Weifung 
des Minifterd zu Papier bringen follten, der, ohne je felbft die Feder zu führen, 
ſchwer zu befriedigen war. Am liebften gab ex feinen Aufträgen an die Ge— 
jandten im Auslande die Form von Telegrammen. Zur Zeit, ala noch Graf 


138 Deutſche Rundſchau. 


Karolyi den Botſchafterpoſten in Berlin inne hatte, beauftragte Graf Andrafiy 
einen feiner Räthe, eine jehr wichtige und vertrauliche Jnftruction an jenen ab= 
zufafien, aber in der Form eines Privatbriefes und mit der Anrede: „Lieber 
Alois.“ Und da der Beauftragte fichtlich ftußte, fügte der Minifter erläuternd 
hinzu: „Ich will, daß Karolyi die Weifung dem Fürſten Bismard zeige. Sieht 
diefer nun, daß e8 ein gewöhnlicher Kanzleiakt ift, jo Tieft er fie entiweder gar 
nicht oder glaubt nicht recht daran; fieht er aber einen Privatbrief von mir, To 
lieft er ihn und glaubt auch da3, was drinnen fteht.“ Er liebte es nicht, 
Prognojen aufzuftellen; aber wo er es that, fand er auch feit zu feiner VBorher- 
fage und freute fi) twie ein Kind, wenn er gegen zünftige Diplomaten Recht 
behielt. So hatte er zur Zeit de3 Alarme, der durch die „Kriegin-Siht“- 
Artikel der Berliner „Poſt“ fich erhob, fteif und feft feiner Zuverfiht auf Er— 
haltung des Friedens Ausdrucd gegeben und ſich dafür auch dem Monarchen 
gegenüber, der damals eben in Dalmatien verieilte, verbürgt. Ein Minifter- 
college glaubte ihn warnen zu jollen, fi doch nicht dermaßen zu exrponiren, 
erhielt aber zur Antwort: „Jh bin nun neun Jahre Minifter und habe dem 
Kaifer gleich anfangs gejagt, er möge mic) fortjagen, wenn etwas, was ich ihm 
fage, ſich nicht bewahrheite.“ Wenige Tage danach erhielt der Graf die Be— 
ftätigung feiner Vorausfiht aus Berlin, während Lord Derby nod zur jelben 
Stunde fi jehr beumruhigt über den Stand der Dinge äußerte. Am jelben 
Abend jpeifte Andräffy bei Sir A. Buchanan, dem damaligen Botſchafter Englands 
in Wien, und ließ e8 mit Ruhe über fich ergehen, daß diejer ihn fortwährend 
von den Kriegsbefürchtungen unterhielt. Während man beim Deffert war, kam 
eine telegraphifche Depejche und der Serretär entfernte ji, um fie zu dediffriren. 
Bevor er zurückkam, warf der Graf neckiſch die Bemerkung hin: „Paflen Sie 
auf, das ift ficher die Mittheilung Lord Derby’3, daß die Gefahr vorüber ſei.“ 
Und jo war es auch zum großen Vergnügen des fonft jo ernſten Mannes, der 
ſolche kleine Triumphe mit naiver Genugthuung im vertrauten Kreife erzählte. 
In jenen Tagen bebütirte Graf Beuft mit dem Projecte einer englifchruffiichen 
Allianz, der fih Defterreih anzuſchließen hätte, Graf Andraffy äußerte Fich 
darüber, das hieße, es dem Hunde in der Fabel nachthun und einem Schatten 
zu Liebe das Stück Fler aus dem Munde fallen laffen. Auf die Note feines 
Vorgängers aber fchrieb er mit graufamer Ironie: „Echt ſächſiſcher Bliemchen— 
kaffee“. Uebergroße Aengftlichkeit und Vorſicht war feine Sache nicht, und feine 
Agenten jammerten, daß fie Monate lang ohne die erbetenen Inſtructionen 
blieben. Dabei fam es aud vor, daß die Beicheide, die er verbaliter auf un— 
bequeme oder überflüffige Fragen ertheilte, vecht draftiich ausfielen. Als ihm 
gelegentlich der Klofterfperre in Preußen die Depefche des Polizeidirectord einer 
Provinz vorgelegt twurde, welcher meldete, daß die au dem Nachbarſtaate aus- 
getviefenen Nonnen mafjenhaft die öfterreichifche Grenze überjchritten, und um 
Verhaltungsmaßregeln bat — „Schauen, ob fie hübſch find,“ Tautete der Befcheid. 

Daß er es mit der „aftenmäßigen Erledigung” nicht genau nahm, verurjachte 
feinem Perjonale auch manche böſe Stunde, mwährend er felbft mit der größten 
Geelenruhe im Minifterrathe erklären konnte, eine Refolution der Delegation, 
welche der Kaifer fanctionirt hatte und die feine — Andrafſy's — Unterfchrift 
ht gelefen zu haben und mit nicht minderer Unbefangenheit des Kaiſers 


Zur Erinnerung an Andräſſy. 139 


qutes Gedächtniß beivunderte, der diefelbe auswendig citirte. Und nun vollends 
fein Mangel an Nefpect für die Ordnung der Regiftratur! Was gab es da für 
Entjegen unter der wohlgefhulten Beamtenihaft, wenn z. B. die Proteftnote, 
welche der Vertreter des Sultand gegen den Einmarſch der Oeſterreicher in 
Bosnien iiberreiht hatte, abſolut unauffindbar war, bi3 fie endlich aus dem — 
Papierkorb herausgefiicht wurde! Selbft loyal in feinen Mitteln, wiewohl gerne 
einen gewiffen Zug von Schlauheit zur Schau tragend und fich Kleiner Liften 
rühmend, jehte er gerne auch bei Anderen die gleiche Gefinnung voraus. Als 
e3 im Jahre 1875 in der fteirifchen Hauptſtadt Graz anläßlich der Anweſenheit 
de3 Don Alfonfo zu argen Exceſſen kam, ließen fich gewiffe Spürnafen nicht 
ausreden, daß die Berliner Regierung dabei die Hand im Spiele habe. Wie 
man davon aud in Andraffy’3 Gegenwart ſprach, rief er ganz entrüftet auß: 
„Da laſſ' ih mir doch den Kopf abjchneiden, daß dem nicht fo ift.“ In in— 
timerem Kreiſe gloffirte man es ein andered Mal, daß der Kaiſer während der 
Manöver in einem Toaft auf den Zaren dieſen feinen „guten Freund“ genannt 
babe. „Da können Sie Gift darauf nehmen, daß da3 perfönlich ganz zutrifft" — 
warf Andrafiy ein. Wie frei er jelbft von Vorurtheilen und Traditionen in der 
Politit war, bewies er ja dadurch, daß er den Beſuch des Kaiſers Franz Joſef 
in St. Peteröburg zu Wege brachte, worauf er fi immer viel zu Gute that. 
„Wenn ich e8 Heute nochmals zu thun hätte, ich würde nicht zögern“ — äußerte 
er fi) darüber noch nach der Berliner Gonferenz, die er, nebenbei gejagt, ala 
den Zenith jeiner Laufbahn betrachtete. Wenngleich das geflügelte Wort von 
der „gebundenen Marſchroute“ aus feinem Munde ftammt, wäre man verfucht 
anzunehmen, daß e3 vielleicht nie einen Minifter gab, der ſich ungebundener be— 
wegte und fi weniger Sorgen machte über die Zukunft, wenn nur für die 
Bedürfniffe der Gegenwart gejorgt war. Dilettant in feinem Fade, nannten 
ihn die zünftigen Diplomaten und mochten damit nicht Unrecht haben; aber was 
fie an falopper Routine voraus Hatten, das erfeßte er reichlich durch fein ficheres 
Urtheil, durch feinen Inſtinct, der ihn faft ftet3 das Richtige treffen ließ. Und 
Ichließlich verliehen ihm jeine Vergangenheit und das unbedingte Vertrauen, mit 
dem er fich auf jeine Stammesgenofjen in ganz Ungarn ftüßen konnte, ein ge- 
waltiges Preftige, deſſen Eindrud fich jelbft die bedeutendften feiner „Beruf3- 
genofjen“ nicht zu entziehen vermochten. Gin Feind der Phrafe und großer 
Redefiguren, machte er e8 auch feinen parlamentarifchen Vertheidigern und 
Gegnern nicht leicht. Der Nachfolger Hohenmwart’3 im cisleithaniſchen Minifter- 
präfidium, Fürſt Mdolf Auersperg, überhaupt fein fehr vebebegabter Herr, hatte 
die Gewohnheit, wenn er das Wort ergriff, die Stimme gewaltig zu erheben 
und recht viele padende kurze Schlagworte anzubringen. „Er liefert immer den 
Tert zu einem Transparent,“ jagte Graf Andräſſy ſcherzend von ihm. Allein 
ebenjo wenig imponirte ihm Pathos und Emphafe. In einer Bormittagsfigung 
der Delegation im November 1878 hielt der Abgeordnete Dr. Herbft eine fulmi- 
nante Rede gegen die Occupationspolitik und gegen den Minifter de3 Neußeren. 
Unmittelbar darauf begegneten fich der Redner und der Angegriffene im Bureau 
de3 Secretariatd. Herbſt, noch ganz im Eifer des Gefechtes, fchritt mit erhobener 
Hand und rothglühendem Gefichte auf den Minifter zu und apoftrophirte ihn 
freiichend: „Genau jo habe ich dem Grafen Rechberg das Schickſal des jchlestvig- 


140 Deutiche Runbichau. 


* bolfteinifchen Unternehmens vorhergeſagt!“ — Worauf Andräffy mit der größten 
Gelafjenbeit: „Ich beiwundere Sie nur, Excellenz, wie Sie mit nüchternem Magen jo 
lange reden können ; ich fterbe faft vor Hunger.“ Sprach's und eilte zum Frühſtück. 

Ganz eigenthHümlih war feine Stellung zur Preſſe. Der Mann, deflen 
Jugend in die Zeit der Aufhebung der Genfur fiel, der in England, in Frank— 
reich mit der Literarifchen Welt in innigem Contact lebte, der, dann heimgefehrt, 
ein Zeuge de3 außerordentlich bedeutenden Antheile® war, den die ungariſche 
Preſſe an den Errungenſchaften des Jahres 1867, an der Wiedergeburt der Nation 
genommen, der wahrhaft Liberale und Worurtheilsfreie: er war ſchlechterdings 
nicht im Stande, fih in den Mechanismus der Journaliſtik Hineinzudenten! 
Daß ein Journaliſt andere Rücfichten zu wahren habe ala ein Diplomat oder 
Politiker; daß der ſorgſamſte und wohlwollendfte Redacteur eines großen Blattes 
nicht im Stande ſei, zu verhüten, wenn Zeilen unterlaufen, die nicht der Tendenz 
des Organes entipredhen; daß er vollends Manches thun müffe, um dem Ge 
ſchmack und der Neugier des Publicums Rechnung zu tragen: AM’ das leuchtete ihm 
nit ein, war ihm auch nicht beizubringen. Wie oft konnte man den jonft jo 
geihmeidigen und ftet3 feine gute Laune beiwahrenden Baron Hofmann, mit dem 
er ſich übrigens abjolut nicht vertrug, oder denjenigen feiner Räthe, der juft die 
Bleikugel der „Preßleitung“ jchleppte — „wir leiden mehr al3 wir leiten und 
gelitten werden,“ jchrieb eines diefer Opfer — wie oft konnte man fie außrufen 
hören, es ſei „um aus der Haut zu fahren!“ Er jelbft lad „principiell“ feine 
Zeitung, aber man mußte ihm XLejensmwerthes vorlegen, befjer gejagt vorlejen, 
boraudgejeßt, daß man ihn zum Stillftehen brachte. Da fielen die Gloffen hagel- 
dicht. Gleich zu Beginn feines Minifteriums in Wien ließ ex fich bewegen, den 
Redacteur eines großen Blattes zu empfangen und mit demjelben über Politik 
zu jprechen. Natürlich figurirte das Interview am nächſten Tage als Leitartikel, 
worüber Graf Andräffy in die höchſte Wuth gerieth. „Da fol mir zur 
Witzigung dienen,” rief er einmal um das Andere. In der That war e3 leichter, 
den Kaiſer von China ala ihn zu einer Aubdienz für einen Sournaliften zu be» 
wegen. In feinem Punkte wie in diefem zeigte fih fein Localpatriotismus, 
denn man konnte ihn lange die ungarische Preffe als Mufter in Sachen der 
Parteidisciplin und Delicateffe vühmen hören, freilich) nur fo lange, bis auch 
jenjeit3 der Leitha fich manches Lämmlein als Böcklein entpuppte. Max Falt, 
der hochgeſchätzte Nedacteur des „Peſter Lloyd“, hatte ihm ſchon zu felbftändige 
Alüren oder war zu empfindli. Derjelbe Mann, ber eiferfüchtig darüber 
wadte, daß nicht das Leifefte aus feinem Gabinet in die Deffentlichkeit dringe, 
hatte fein Geheimnig vor dem notoriichen Gorrefpondenten der „Times“, dem 
ehemaligen Honvedgeneral Eber, der Einfiht nahm in die geheimften Schriftftüde. 
Freilich galt diejes Vertrauen dem alten Freunde und nicht dem Sournaliften, 
der e3 allerdings nie getäufcht oder mißbraucht hat. Als im October 1876 der 
ruffiiche General Samorofow in geheimer Miffion des Zaren in Wien ankam 
und ein Blatt diefe Meldung brachte, konnte Graf Andräffy ſich nicht beruhigen 
ob dieſer Jndiscretion, jo jehr man ſich auch bemühte, ihm beizubringen, daß es 
fh um ein Geheimniß des Polichinell handele, ſobald der Fremdling unter 
jeinem vollen Namen im Hötel abgeftiegen und bald darauf in voller Gala zur 
Hofburg gefahren jei. Man hatte die größte Mühe, ihm beizubringen, daß fein 


Zur Erinnerung an Andräffy. 141 


Wunſch, diefe Notiz zu dementiren, unausführbar jei. Was ihm perfönlich galt, 
ließ ihn kühler. Ein ſüddeutſches Blatt brachte eine Serie von Artikeln, die 
ihm übel mitfpielten. Er nannte diejelben ein „Moſaik von Pferdemift”. Ebenjo 
bermied er es, für fi) Reclame zu machen, objchon er im Grunde für publiciftifche 
Gomplimente recht empfänglid war. Eines Sommermorgen3 von feinem ge— 
wöhnlihen Spazierritte im Prater heimfehrend, erzählte er: „Heute hat mich 
der Kaifer erwiſcht. Ich ſah ihn jchon beim Bahnhof, ſchummelte (ſchmuggelte) 
mich aber an ihm vorbei. Dann in der Allee holte er mich ein, ftellte mich 
und ih mußte die ganze Zeit neben ihm reiten. Es wäre mir unlieb, wenn es 
in die Zeitung käme, man könnte glauben, ich hätte mich ſelbſt hineingejet.“ 
Nur einmal jah man ihn eine feine Perſon betreffende Mitteilung jelbft redigiren, 
und die in einer jo übermütbig luftigen Stimmung, wie er fie, wenigſtens im 
Amtöbereiche, nur jelten zeigte. Das war an jenem 9. Auguft 1879, nachdem er 
vom Kaifer endlich die lange erbetene Demijfion erhalten und hiervon die exfte 
Kunde in die Deffentlichfeit lanciren ließ, in der Form ungefähr, daß fein Palais 
in Ofen hergerichtet werde, um ihn und feine Familie angeſichts ihrer bevorftehen- 
den Ueberſiedlung zu beherbergen. In den größten Zorn gerieth er an folchen 
Tagen, wo ein Organ, das im Rufe ftand, feine Jnfpirationen aus dem aus— 
wärtigen Amte zu erhalten, ſich es beikommen ließ, irgend Etwas zu veröffent- 
lien, was dem bdeutjchen Reichskanzler unangenehm klingen modte. „Das 
ganze Jahr braudt man den Mann, und dann tritt man ihm auf die Hühner: 
augen.“ Und nicht minder draftifch bemerkte ex einft einem Vertreter der Stadt 
Wien, der fi) darüber beklagte, daß die Kaiſerin jo jelten in der Reſidenz weile: 
„So oft die Kaiferin da ift, jpredhen Eure Journale nur von ihren Hunden und 
Pferden. Soll fie darıım etwa fi in Wien wohl fühlen?” — 

Diefe flüchtige Skizze, in welcher die Pietät für einen Dahingejchiedenen 
mit vielleicht entichuldbarer Vorliebe bei feinen Lichtfeiten verweilte, ſoll nicht 
geihloffen werden, ohne auch den Vorhang ein wenig zu lüften von dem Privat» 
leben de3 Staatgmanned. Die Gejellichaftsräume de3 Minifterhötel3 am Ball» 
plab hatten ſchon lange unter der Verödung gelitten, welche fi wie ein Bann 
über fie legte, feitdem die Gemahlin des alten Metternich fie zulegt zum Sammel- 
plage Alles deſſen gemacht, was Wien an Vornehmheit und Geift beſaß. Die 
Nachfolger des vom Sturmeshaud der Revolution hinweggewehten Staatskanzlers 
waren entweder Hageftolze, oder ihre Frauen verftanden es nicht, ſich zur Geltung 
zu bringen. Ein Sinnbild diejes Verfalles, jah man zulegt noch eine ganze 
Golonie von Katzen Beſitz ergreifen von den Seidenpfühlen der altväterlichen 
Ganapee’3 und Lehnftühle, die einft „den erſten Salon Wiens" anfüllten. Bald 
nad) dem Einzuge Andraſſy's jollte das anders werden. Wohl mußte zunächit 
eine durchgreifende bauliche und decorative Veränderung vorgenommen werden, 
um die Räume in den Zuftand der Wohnlichkeit zu verjegen, den ihnen eine arge 
Verwahrlofung nahezu benommen hatte. Aber dann zog mit der neuen Herrichaft 
auch neues Leben blühend ein. Gräfin Katinka wußte fi raſch und nur mit 
den Hülfsmitteln angeborener Anmuth jene Pofition zu machen, die mit dem 
hierarchiſchen Range ihres Gatten im Einflange ftand. Es war fein Salon im 
Einne des alten Wien oder Paris, aber immerhin ein anziehender Vereinigungs- 
punkt der wirklich guten Geſellſchaft, der fich Hier darbot. Und nicht jo jehr 


142 Deutſche Rundſchau. 


die Beherrſcherin als das belebende Element dieſes Kreiſes war die Hausfrau, 
deren elegante Geſtalt mit der jugendlich elaſtiſchen Haltung, dem goldigblonden 
reichen Haar, den eigenartig großen lichten Augen, ihrer Erſcheinung den Zauber 
von Jugend und Heiterkeit gaben, welcher durch das ungezwungene Lächeln, das 
ihre Lippen umſchwebte, und den Wohlklang ihrer Stimme nur noch in der 
Wirkung verſtärkt wurde. Dieſe vornehme Weltdame, welche Lebensluſt und 
Freude ausſtrahlte, konnte zugleich eine treue, ſorgſame Gattin und Haus— 
frau, eine zärtliche Mutter ſein und beſaß obendrein den angeborenen Takt, fi 
nie auf die Frau des Minifterd binauszufpielen oder fich die Allüren einer Orafel- 
hüterin zu geben. Mit Stolz haftete oft der Blick Andrafiy’3 an der Geftalt 
der jeinem Herzen jo nahe ftehenden Frau; aber helles Vergnügen leuchtete aus 
feinem etwas ftechenden Blid und eine Art von verflärter Zufriedenheit erfüllte 
jein ganzes Wejen, wenn er jeiner Tochter Ilona anfichtig ward, deren Gazellen- 
auge ihn wie magnetiſch anzog. Der Wunſch, jeiner Familie fi mehr widmen, 
feinen herangewachſenen Söhnen, deren Erziehung der Freidenker unbejorgt einem 
Angehörigen des geiftlihen Standes anvertraut hatte, näher treten zu können, 
wog nicht wenig in der Wagichale des Entichluffes, die Leitung des Staates, 
ben er in fidhere Bahn gelenkt, in andere Hände zu geben. 

Gerade in diefen Tagen wurde die Erinnerung an eines der im Minifter- 
palaft erlebten Fefte wachgerufen, al3 die Schmerzensfunde von dem Tode der 
ehrwürdigen beutfchen Kaiferin allgemeine Trauer verbreitete. Der hohen Frau 
zu Ehren, die, wenn ich nicht irre, zum Bejuche der Ausftelung in Wien weilte, 
gab Graf Andrafiy ein Nachtfeft. Damals war das Heine Gärtchen, welches ala 
Neberreft der alten Bafteien ein Anhängfel des Miniſteriums bildete, noch nicht 
der Stadterweiterung geopfert, und die milde Sommernadt benütßend, hatte der 
Hausherr dasfelbe feinen Gäften geöffnet und darin eine nationale Zigeuner: 
mufitbande poftirt. Der Minifter trug die Uniform eines Honv&d-Oberften, die mit 
dem blauen Attila und den rothen Hofen ganz dem Phantafiecoftüme der Muſiker 
glich. Als nun, während die hohe Frau in einem Rollftuhl in den Garten ge 
fahren wurde, Graf Andrafiy zu den Zigeunern eilte, um ihnen einen Auftrag zu 
ertheilen, fonnte fi Ihre Majeftät der Bemerkung nicht erwehren, daß fie einen 
Augenblid lang den Feftgeber für den Chef der — Zigeunermufit gehalten habe. 

Mehr al3 alle pomphaften Nachrufe mag es dem Manne, den fein Herricher- 
haus, den feine Nation beweint, zum Ruhme gereihen, daß er, obgleich ihm jede 
Abfichtlichkeit ferne lag und eine herbe Außenfeite, eine vornehme Zurüdhaltung 
jedes Näherrüden erjchwerten, gerade bei Denen, die im Verhältnig amtlicher 
Unterordnung zu ihm ftanden, dad Andenken eines gerechten, bei aller Urfprüng- 
lichkeit und Rüdfichtslofigkeit dennoch gemüthsweichen Vorgeſetzten, bei feinen 
Landsleuten das eine großen jelbftlojen Patrioten, in der ganzen Monarchie Trauer 
um den Verluſt eines ernften Staat3mannes hinterließ, dem die Stefanskrone tie 
der habsburgiſche Bindejhild theuere Symbole waren. Dieje vor jedem Makel zu 
bewahren, galt ihm als feine edelfte Sendung. Darum hat auch Kaifer Wilhelm IL, 
wie immer, das treffende Wort gefunden, al3 er in feinem Beileidötelegramm an 
die jchtwergebeugte Wittive anjpielte auf den Vers unſeres Grillparzer: 

„I nu! Ein treuer Diener feines Herrn!" 


— 


Politishe Rundſchau. 





Berlin, Mitte März. 


Der neue Reichdtag, wie er aus den am 20. Februar vollzogenen Wahlen und 
den jehr zahlreichen Stichwahlen hervorgegangen ift, weift gegenüber dem früheren eine 
wejentlich veränderte Zufammenjegung auf. Daß die Anzahl der focialdemokratifchen 
Abgeordneten von 11 im früheren Reichstage auf 35 angewachfen, ift ein Zeichen der 
Zeit, das dadurch noch charafteriftifcher wird, daß die Ziffer der ſämmtlichen im 
eriten Wahlgange abgegebenen focialdemofratijchen Stimmen weit über alle Befürch- 
tungen hinaus zugenommen hat. Nichts wäre verfehlter, ala im Hinblide auf dieje 
Erſcheinung dem Deutjchen Reiche ein düſteres Horoffop jtellen zu wollen; bat doch 
unjer Vaterland ganz andere Gefahren überwunden, ganz andere Kraftproben abgelegt, 
ald das durch das Anſchwellen der Socialdemokratie geftellte Problem darbietet. 
Wohl aber ift e8 die unabweisliche Pflicht aller ftaatserhaltenden Parteien, die Gefahr 
muthig ins Auge zu faffen. Immer von Neuem ift an diejer Stelle darauf Hin- 
geiiefen worden, daß Parteizwiftigfeiten in unſeren parlamentarifchen Körperſchaften 
weit zurückſtehen müfjen hinter dem patriotifchen Bejtreben, die wirklichen Intereſſen 
Deutſchlands zu fördern. Nicht darauf fommt es an, ob eine Partei im Reichätage 
eine beftimmte Anzahl Mitglieder zählt; vielmehr ift entjcheidend, welche pofitiven 
Leiftungen die berujene Vertretung des deutjchen Volkes verzeichnen darf. Daß die 
Stärke der confervativen Fraction von 76 auf 67, diejenige der deutjchen Reichapartei 
von 39 auf 19, diejenige der Nationalliberalen von 93 auf 42 gejunfen, daß bie 
deutichfreifinnige Partei von 36 auf etwa 70, das Gentrum von 99 auf 106 Mit» 
glieder gewachjen ift, find ficherlich für den gewifjenhaft prüfenden Politiker bedeutfame 
Gricheinungen,, aus denen Rüdjchlüffe auf die innerhalb der Bevölkerung herrichenden 
Strömungen gezogen werden müſſen. Wer wollte jedoch leugnen, daß das Gtaats- 
wohl höher jteht ala alle Gegenfäße der Parteien, Gegenfäße, die, wie der Verlauf 
des deutſch-franzöſiſchen Krieges gezeigt hat, jofort verftummen, wenn das Vaterland 
in Gefahr ift! Im Frankreich ſowie in Rußland, wofelbft Chaupiniften und Panjla- 
wiften voreilig genug die focialdemofratifchen Erfolge bei den deutfchen Reichstags» 
wahlen jogleich in dem Sinne deuteten, als ob das im Jahre 1870—71 aufgerichtete 
Reich ernithait gefährdet wäre, würde man befjer thun, zu beherzigen, daß Fälle von 
Mangel an Disciplin, wie fie häufig genug in der franzöfifchen oder ruffiichen Armee 
vorkommen, in Deutjchland geradezu unmöglich find. Wie bezeichnend ijt in dieſer 
Hinfiht, daß der ala Sachverſtändiger zu den Verhandlungen de preußiichen Staats- 
rathes zugezogene Putzer Buchholz, der fich auf die Frage des Kaiſers Wilhelm offen 
als Socialdemokrat bekannte, in der Sitzung mit dem eifernen Kreuze geſchmückt erjchien ! 
Zu welchen Trugjchläffen würden unfere Widerfacher im Auslande gelangen, falls fie 
in der That wähnen follten, daß auch nur ein Bruchtheil der deutſchen Bevölkerung 
minder muthig jein Blut für das Vaterland vergießen würde. 


144 Deutſche Rundſchau. 


Deshalb dürfen wir auch trotz der entſchiedenen Befehdung ſocialdemokratiſcher 
Phantafien nicht vergeffen, daß Diejenigen, welche fich zu ihnen bekennen, unjere Mit- 
bürger find, die, infofern fie fich auf dem Boden der Gefeglichkeit halten, den Rechts— 
Ihuß des Staates für ſich beanfpruchen können. Auch ift in den Laiferlichen Erlaffen 
vom 4. Februar d. %. betont worden, daß Kaifer Wilhelm entjchloffen ift, zur Ver— 
befferung der Lage der deutjchen Arbeiter die Hand zu bieten, ſoweit die Grenzen es 
gejtatten, welche feiner Fürſorge durch die Nothmwendigkeit gezogen werden, die deutſche 
Industrie auf dem Weltmarkte concurrenziähig zu erhalten und ihre ſowie der Arbeiter 
Exiſtenz zu fichern. Mit vollem Rechte wurde dann auch darauf hingewieſen, daß die 
in der internationalen Concurrenz begründeten Schwierigkeiten Hinfichtlich der Ber- 
befferung der Lage der Arbeiter nur durch internationale Berftändigung der an der 
Beherrfchung des Weltmarktes betheiligten Länder, wenn nicht überwunden, doc 
abgefhwächt werden können. Durchaus maßvoll ift das Programm, welches die 
Grundlage der Berathungen der Berliner Arbeiterfchußconferen; bildet. Selbſt diefes 
maßvolle Programm ift nicht in beftimmten Vorjchlägen formulirt, fondern es jollen 
zunächft nur beftimmte Fragen erörtert werden, die zum Theil durch bedauerliche 
Vorgänge der letzten Jahre praftiiche Bedeutung erlangt haben. Man braucht nur 
an die Rubeftörungen in dem Kohlendiftricte von Montceausled-Mines, im franzöfifchen 
Departement Saöneset-Loire, an die wiederholten Strifes und Tumulte in den belgiſchen 
Kohlenbeden, an die jüngften Ausftände in den Kohlengruben von Rheinland, Weft- 
ialen und Schlefien zu erinnern, um zu zeigen, daß nicht etwa ein einzelner Staat 
ein Sonderintereffe an der Regelung der in Betracht kommenden Verhältniſſe Hat. 
Vielmehr wird gerade durch die angeführten Beifpiele deutlich erhärtet, daß eine inter: 
nationale Regelung jolcher Fragen wohl am Plate ift. Noch ift in Aller Erinnerung, 
wie die gejammte Liberale Preſſe Belgiens gegen das Elerifale Minifterium ſchwere 
Vorwürfe erhob, als die Strifes mit ihren Ausfchreitungen fich wiederholten, und die 
Regierung nicht in der Lage war, fich darauf zu berufen, daß fie in der Zwiſchenzeit 
auch nur den Verſuch zu den erforderlichen Reformen auf dem Wege der Gefeßgebung 
gemacht habe. 

Das der Berliner Arbeiterjchußconferenz vorliegende Programm ftellt zunächſt drei 
Fragen zur Erörterung, die fic) auf die Regelung der Arbeit in Bergwerken beziehen: 
ob die Beichäftigung „unter Tage” für Kinder unter einem bejtimmten Lebensalter 
beziehentlich für weibliche Perfonen zu verbieten ift; ob ferner für Bergwerke, in denen 
die Arbeit mit bejonderen Gefahren für die Gefundheit verbunden, eine Beſchränkung 
der Schichtdauer vorgejehen werden foll; ob es endlich im allgemeinen Intereffe möglich 
ift, um die Regelmäßigkeit der Kohlenförderung zu fichern, die Arbeit in den Kohlen: 
gruben einer internationalen Regelung zu unterjtellen. Die weiteren Hauptpunkte 
de3 Programms der Arbeiterjchußconferenz, abgefehen von den Bergwerfen, betreffen die 
Regelung der Sonntagsarbeit, der Kinderarbeit, der Arbeit junger Leute, welche das 
Kindesalter überfchritten haben, endlich der Arbeit weiblicher Perfonen. Nicht minder 
als die Löſung diefes Programms mit Nüdficht auf Elimatifche Verfchiedenheiten, ſowie 
auf die Unterichiede in der gefammten Lebensführung der Bevölkerung der zur Berliner 
Gonferenz eingeladenen Induftrieftaaten, muß auch die Ausführung der zu verein 
barenden Beitimmungen mit großen Schwierigkeiten verknüpft erjcheinen. Namentlich 
werden die Vertreter der verjchiedenen Staaten oder deren Regierungen fich darüber 
ihlüffig machen müffen, ob bejondere Beitimmungen über die Ausführung der zu 
vereinbarenden Vorfchriiten und deren Ueberwachung getroffen, ob ferner wiederholte 
Gonferenzen von Vertretern der betheiligten Regierungen gehalten, und welche Aufgaben 
ihnen gejtellt werden follen. In der Ansprache, mit welcher der preußifche Handels: 
minifter, Freiherr von Berlepih, am 15. März die Gonferenz eröffnete, wies er unter 
Anderem darauf Hin, wie die Arbeiterfrage die Aufmerkſamkeit aller civilifirten Nationen 
in Anfpruch nehme, feitdem der Friede der verichiedenen Bevölkerungsklaſſen durch den 
Wettbewerb der Induftrie bedroht erfcheine. Nach einer Löfung diefer Frage zu fuchen, 
ijt, wie weiter hervorgehoben wurde, nicht allein eine Pflicht der Menſchenliebe, jondern 


Politiſche Rundſchau. 145 


auch der ſtaatserhaltenden Weisheit, welcher es obliegt, für das Wohl aller Bürger zu 
ſorgen und zugleich das unſchätzbare Gut einer Jahrhunderte alten Civiliſation zu 
erhalten. 

Das Programm der Conferenz weicht in einem weſentlichen Punkte von dem 
urſprünglich beabſichtigten ab. Das erhellt auch aus den officiellen Erklärungen, welche 
der franzöſiſche Miniſter des Auswärtigen, Spuller, in der Sitzung der Deputirtenkammer 
am 6. März in Folge der Interpellation des boulangiſtiſchen Abgeordneten Laur über 
die Theilnahme Frankreichs an der Berliner Conferenz gab. Dieſe Sitzung darf mit 
Fug als eine der denfwürdigften im Palais Bourbon angejehen werden, weil fich in 
erfreulichfter Weife zeigte, daß der Chauvinismus A tout prix im franzöfischen Parla= 
mente, abgejehen von den boulangiftifchen Hißköpfen, keinen fruchtbaren Boden mehr 
findet. Welchen für alle Friedensfreunde beruhigenden Gontraft bildet die Hammer: 
fitung dom 6. März 1890, in welcher die Entſchließung der Regierung, an der 
Berliner Conferenz theilzunehmen, „A Berlin“ zu gehen, mit jenen tumultuarifchen 
Scenen im Jahre 1870, bei denen der Ruf „A Berlin“ eine wejentlich verjchiedene, 
für Frankreich verhängnißvolle Bedeutung hatte. Die Thatjache, daß die Deputirten- 
fammer mit der überwältigenden Mehrheit von 480 gegen 4 Stimmen die von 
dem Minifterium Tirard-Spuller für annehmbar erklärte einfache Tagesordnung 
beichloß, in Verbindung mit den entgegentommenden Aeußerungen des jonft principiell 
in der Oppofition befindlichen Bonapartiften Paul de Gaffagnac, legte vollgültiges 
Zeugniß dafür ab, daß das Parlament in Frankreich, wenn auch nicht Alles vergeffen, 
doch mancherlei jür das eigene Staatswohl Nütliches gelernt hat. Andererjeits mußten 
die Boulangiften erfahren, daß, wenn auch die hauptjtädtiche Bevölkerung, die immer 
mit Vorliebe „frondirte”, noch immer bereit ift, in einer Anzahl von Wahlkreijen für 
die Parteigänger des Generald zu ftimmen, deren „patriotifcher Nimbus“ ebenfo wie 
ihre mots sonores in der Deputirtenfammer wirkungslos bleiben. 

Der parlamentarifche Sieg. welchen der Minifter des Auswärtigen, Spuller, in 
diefer denfwürdigen Sitzung davontrug, war in der That ein wohlverdienter. Die 
von dem Minifter und früheren freunde Gambetta’3 vorgelejene Note an den fran= 
zöfifchen Botjchafter in Berlin erwies ſich ala ein diplomatifches Meiſterſtück, in 
welchem die republifanifche Regierung, indem fie die Einladung Deutjchlands zur 
Berliner Arbeiterfhußconferen; im Principe annahm, in tact- und maßvoller Weije 
ihren Standpunft wahrte. Sollte, wie in einer früheren, auf die Berliner Gonferenz 
bezüglichen Depejche des Fürſten Bismard hervorgehoben wurde, das Programm außer 
auf die Sonntagsruhe und die Reduction der Frauen- und Kinderarbeit fich auch auf 
die Beichränfung des Arbeitätages erftreden, jo führte Spuller nad) dem vorliegenden 
Ürterte feiner Depejche in diefer Hinficht wörtlich aus: „Jedenfalls gibt es eine Trage, 
die anfcheinend weniger ala jede andere den Gegenftand einer internationalen Ver— 
fändigung bilden könnte: dies ift die frage der Beichränfung des Arbeitstages. Sie 
verknüpft fich, wenigſtens was die erwachjenen Arbeiter betrifft, jo eng einerſeits mit 
den Grundfäßen, auf denen die politifche Gefeßgebung der verjchiedenen Staaten beruht, 
andererfeits mit den allgemeinen Bedingungen der induftriellen Production, daß fie 
als eine ausschließlich zur inneren Politik eines Landes gehörige, von deſſen Parla- 
mente zu erledigende Angelegenheit angejehen werden muß, alfo auch nicht in eriprieß- 
licher Weife einer diplomatifchen Discuffion unterworfen werden könnte“ Dieſer 
Geſichtspunkt wurde auch don der öffentlichen Meinung der übrigen Länder hervor— 
gehoben, und e8 kann daher nicht überrajchen, daß die Trage der Beichränfung des 
Arbeitstages aus dem endgültigen Gonferenzprogramme verſchwunden ift. 

Ein geſchickter Schachzug in der Abfertigung, welche Spuller feinen allzu chauvi— 
niftischen Widerfachern zu Theil werden ließ, war der Hinweis, daß Frankreich ja 
die Einladung zu der Berner Gonferenz bereits angenommen, und deshalb, nachdem die 
Schweiz auf ihre Priorität verzichtet hatte, gar nicht in der Lage geweſen wäre, in 
Ihidlicher Weife die Einladung der deutſchen Regierung abzulehnen, zumal deren 
mdgültiges Programm im Weientlichen mit demjenigen der Schweiz übereinftimmte; 

Deutſche Rundſchau. XVI, 7. 10 


146 Deutiche Rundſchau. 


nur daß, wie der franzöfiiche Minifter des Auswärtigen hervorhob, „die Verfafler des 
Programms der Berliner Gonferenz die Unterfuchungen über die Regelung der Arbeit 
in Bergwerfen in die erjte Reihe zu ftellen jcheinen.“ Widerlegte Spuller in feiner 
mit enthuſiaſtiſchem Beifalle aufgenommenen Rede die Interpellation des Boulangiften 
Laur in fachlicher Weiſe vollitändig, fo ließ der Minifter e8 auch nicht an fcharf zu— 
geſpitzten Epigrammen gegen feine Angreifer fehlen. Da Laur in der bei feinen Partei- 
genofjen üblichen Weife jofort die „verlorenen Provinzen“ erwähnt Hatte, machte 
Spuller ihm begreiflich, daß, wenn der Deputirte in diefer Weife feinen Patriotismus 
befunde, fein Amt ala Miniſter ibm zur Pflicht mache, den Patriotismus anders 
aufzufaflen. Die Kammer gab hier einen neuen Beweis ihrer jtaatsmännijchen Ge 
finnung, indem fie den Ausführungen des Minifter® in vollem Maße beipflichtete. 
Dies erjcheint um fo beachtenswerther, als die vor nicht allzu langer Zeit gewählte 
Deputirtenfammer mit ihren zahlreichen homines novi in folchen Heiflen Debatten 
bisher keineswegs fich bewähren konnte. Hierzu kommt, daß der für Deutfchland 
verhältnigmäßig jehr günftige Ausfall der eljaß-Lothringifchen Reichdtagswahlen — 
unter fünfzehn Abgeordneten befinden fich vier zur nationalliberalen oder zur deutſch⸗ 
freifinnigen Partei gerechnete Gegner der Proteftpartei, während dieſe einen fünften, 
den Socialdemokraten Hidel in Mühlhauſen, gleichfalls nicht für ihre Beftrebungen 
in Anfpruch nehmen kann — in Frankreich verftimmen mußte. Wenn aljo bie 
Kammermehrheit troßdem mit Feingefühl die boulangiftiiche Interpellation erledigte, 
jo foll dieſes Symptom jriedjertiger Gefinnung auch in Deutſchland nicht unterjchägt 
werden. Dan darf deshalb auch mit Herrn Spuller nicht rechten, wenn er feine Rede 
etwas pomphaft — wir citiren nach dem jtenographifchen Urterte de „Journal officiel“ — 
mit Hangvollen Worten jchloß: „Unfere Zuftimmung zur Berliner Conferenz ift ein 
Act des geläufigen internationalen Verkehrs, ein Act, der nichts von einer Neuerung 
an ſich trägt.” Hier unterbrach ein Abgeordneter den Minifter mit dent Zurufe: 
„Und die Weltausftellung ?“ Spuller ließ fich jedoch durch diefen Hinweis auf die 
Nichtbetheiligung Deutſchlands an der Säcularfeier der großen Revolution nicht aus 
der Faffung bringen und ſchloß: „Was neu it, ift, daß die franzöfifche Republik die 
Ehre haben wird, in eine von den Monarchien einberufene Berfammlung die Grund» 
fäße der Gerechtigkeit und Freiheit mitzubringen, von denen ich foeben ſprach, und ich 
hege die Ueberzeugung, daß dort wie anderwärts frankreich, nachdem es in dem 
Bewußtjein feiner Stärke feinen ganzen Stolz wiedergewonnen hat, die Stimmen der 
Bernunft, der Humanität, der Civilifation und des FFortichritts vernehmen laffen wird.“ 

Bemerkenswerth ift, daß troß dem correcten Berhalten des Minifters des Aus— 
wärtigen, Spuller, in der Angelegenheit der Berliner Arbeiterfchußconfereng bie 
Stellung des franzöfifchen Miniſteriums keineswegs befejtigt wurde, jo daß die Miniſter⸗ 
kriſis mit dem Ausſcheiden des Minifterd des Inneren, Gonftans, und deſſen Erjegung 
durch den radicalen Abgeordneten Leon Bourgeois ihren Abſchluß nicht gefunden 
hatte. Seit geraumer Zeit bereit3 beitanden Meinungsverjchiedenheiten zwifchen dem 
Gonjeilpräfidenten Zirard und dem Minifter des Inneren, Conſtans, jo daß zu wieder 
holten Malen davon die Rede war, daß Zirard von der Leitung des Cabinets zurüd- 
treten und Herrn Gonftans, der insbefondere den für die Republik günftigen Wahl: 
feldzug durchgeführt hatte, Pla machen würde. Statt defjen war nun Tirard zunächſt 
auf feinem Poften geblieben, während ein neuer Conflict mit dem Minifter des Inneren, 
Conſtans, die unmittelbare Folge Hatte, daß Lebterer das Feld räumte und durch 
Leon Bourgeois, der vielfach als Schüßling Glemenceau’s und Floquet's gilt, erjegt 
wurde. Dieje Minifterveränderung war aber wohl geeignet, gewiſſe Bejorgniffe wachzu- 
rufen, da fie eine DVerfchiebung der Regierungspolitit nach links darftellte, während 
die allgemeinen Wahlen mehr im Sinne einer gemäßigten republitanifchen Richtung aus— 
gefallen waren. So jtand von Anfang an ztı befürchten, daß die Zeit der parlamentarifchen 
Krifen wieder angebrochen wäre, zumal wie in der früheren Deputirtentammer aud 
in der gegenwärtigen die monarchifche Oppofition in der Lage ift, bei entjcheidenden 
Abdftimmungen den Ausſchlag zu geben und das Minijterium zu ftürzen. Das 


Politiſche Rundſchau. 147 


energiſche Vorgehen der Regierung in der Angelegenheit des Herzogs don Orléans, 
der nach jeiner Berurtheilung zu einer längeren Gefängnißjtrafe fich zu Glairvaur in 
Haft befindet, war ebenfalld nicht geeignet, die Monarchijten verföhnlicher zu ftimmen. 
63 Hätte daher ohnehin großer Vorficht von Seiten des Minifteriums bedurft, falls 
es die Leitung der Geſchäfte behalten wollte. Hervorgehoben zu werden verdient, daß 
der Minijter des Inneren, Bourgeoiß, bei Gelegenheit der parlamentarischen Debatte 
über die vollzogene Veränderung im Gabinet fich jehr geſchickt aus der Affaire zog, 
indem er es weder mit den gemäßigten Republifanern noch mit den radicalen Elementen 
verdarb. Das Unheil fam dann auch von einer anderen Seite, indem das Minifterium 
Tirard durch einen Beichluß des Senats in der frage des franzöftich » türkifchen 
Handelävertrages zum Nüdtritte veranlaßt wurde. Die fchußzöllneriiche Strömung in 
Frankreich macht fich eben aller Orten geltend; auch darf angenommen werden, daß 
dem Beichluffe des Senats ſehr rafch ein ähnlicher der Deputirtentammer gefolgt wäre. 

Eine Minifterkrifis in Frankreih kann allerdings im Hinblide auf die Häufig- 
feit derartiger Vorgänge auch nicht annähernd für jo wichtig erachtet werden wie 
die Kriſis in Ungarn, wojelbjt der bewährte Minifterpräfident Tisza fein Ent- 
lofjungsgefuch eingereicht hat. Die auferordentlichen Werdienfte, welche der am 
16. December 1830 geborene, aljo noch im rüftigen Mannegalter ftehende ungarifche 
Staatsmann nicht nur um fein engeres Vaterland, fondern auch um die Erhaltung 
des europäifchen Friedens ala eifriger Anhänger der Tripelallianz fich erworben hat, 
erfordern volle Anerkennung. Koloman Tisza war es, der in der Zeit finanzieller und 
politifcher Verwirrung in jeinem Vaterlande Ungarn eine ſtarke liberale Partei bildete, 
die ihn dann im October 1875 in den Stand ſetzte, die Leitung der Regierungs— 
geichäfte mit Erfolg zu Übernehmen. Auch trug er wejentlich zu der Befeftigung der 
Öfterreichifch = ungarischen Monarchie bei, indem er im Sinne des Ausgleiches wirkte, 
jowie die Drientpolitit des Grafen Andräfiy erfolgreich unterjtügte. Wenn Defterreich- 
Ungam im mitteleuropäifchen Friedensbündniſſe mit vollem Rechte eine von den 
Bundesgenofjen, Deutichland und Italien, hochgeſchätzte Stellung einnimmt; wenn bie 
politifchen Verhältniſſe auf der Balfanhalbinjel fich wejentlich friedlicher gejtaltet 
haben, jo gebührt das Verdienſt neben dem Kaifer Franz Joſeph und den leitenden 
öfterreichifchen Staatsmännern auch dem bisherigen ungarischen Minifterpräfidenten. 
Die äußere Urfache, durch welche die Demiffion Tisza's herbeigeführt wurde, bildeten 
die parlamentarischen Vorgänge, die mit den perfönlichen Berhältniffen Ludwig 
Koſſuth's zufammenhängen. Am 11. December 1889 Hatte Tisza im ungarifchen 
Unterhaufe das Verſprechen gegeben, er würde der Kammer eine folche Abänderung 
des Heimathsgeſetzes unterbreiten, daß Kofiuth, obgleich er den Anforderungen des 
gegenwärtig in Kraft befindlichen Geſetzes formell nicht nachgefommen ſei, doch das 
ungarische Staatsbürgerrecht behalte. Nun ift aber nach der Auffaſſung des Gabinets 
in der Zwifchenzeit ein Greigniß eingetreten, durch welches die Sachlage vollftändig 
verändert worden und die Erfüllung jenes Verſprechens zu einer moralijchen Un— 
möglichkeit gemacht if. Hat doch Ludwig Kofjuth einen Brief veröffentlicht, in 
welchem er dem gefrönten Könige von Ungarn und dem ganzen gegenwärtig als 
gejeglich geltenden Zuftande die Anerkennung verfagt, und zwar in einer Weile, die 
an Schroffheit alle früheren ähnlichen Kundgebungen überbietet. Die Mitglieder des 
ungarischen Minifteriums find deshalb der Anficht, daß zu Gunften Desjenigen, der 
die ganze gegenwärtige Situation fir eine ungefeßliche erachte, auch fein bejonderes 
Gefeß geichaffen und der Krone zur Sanction vorgelegt werden könne. Tisza jelbft 
billigte die Auffaffung feiner Gollegen; er erachtete fich jedoch durch fein im Unterhaufe 
ertheiltes Verſprechen perfönlich für gebunden, zumal er die Taktit der parlamen- 
tarifchen Widerfacher aus langjähriger Erfahrung jehr wohl kannte. Die tumultuarifchen 
Scenen würden fich nicht nur wiederholt, fondern einen noch erbitterteren Charakter 
angenommen haben; der Vorwurf de Wortbruches würde in jeder Situng gegen den 
Minifterpräfidenten erhoben worden fein, auf deffen Ehrenſchilde bisher nicht ber 
geringite Makel nachgewiejen werden konnte. Welchen Ausgang aber auch die Minifter- 

10* 


148 Deutſche Rundicau. 


frifis in Ungarn nehmen mochte, durjte doch von Anfang an ala gewiß gelten, daß die 
Stellung Defterreih-Ungarna im europäifchen Friedensbündnifſe in feiner Weiſe ver- 
ändert werden wird, da alle ungarifchen Parteien die Nothwendigkeit eines dauernden 
Anſchluſſes an Deutjchland längſt ertannt Haben. Graf Szapary, der biäher das 
Aderbauminifterium leitete, wird ala Chef des Cabinets und Minifter des Inneren 
ficherlich die Politik Tisza's fortſetzen. 

Die italieniſche Deputirtenkammer iſt ebenfalls in dieſen Tagen der Schauplatz 
einer Kriſis geworden, die jedoch erfreulicher Weiſe einen glücklichen Verlauf genommen 
hat. Wie in der franzöſiſchen Deputirtenkammer die Boulangiſten die Rolle der 
berufsmäßigen Lärmmacher fpielen, wie im ungarifchen Unterhauje einige Abgeordnete 
der Oppofition bei jeder Gelegenheit den bisherigen Confeilpräfidenten Tisza perfönlich 
angriffen, weift die italienifche Deputirtenfammer ein Häuflein irredentiftiicher Ab— 
geordneten auf, die nie verabfäumen, ein Ceterum censeo vernehmen zu lafjen, nad 
welchem die Tripelallianz vernichtet werden müffe, weil in ihr das „verhaßte“ 
Defterreich einen vollberechtigten Pla gefunden Hat. Allerdings ift der Ab» 
geordnete Imbriani, der Wortführer der Jrredentiften, fein Cato major; dies ver— 
hindert ihn jedoch nicht, ftet? von Neuem feinen VBernichtungsruf vornehmen zu laſſen. 
Da die italienische Regierung einige ultraradicale Gemeinderäthe aufgelöjt hatte, die, 
im MWiderfpruche mit den gejeglichen Beitimmungen, Politif trieben, indem fie das 
Andenken des „irredentiftiichen Märtyrer” Oberdank feierten, begründete Imbriani 
am 8, März in der Deputirtenlammer eine von ihm und einigen Gefinnungsgenofien 
eingebrachte Interpellation, wobei er den Gonfeilpräfidenten Griepi perjönlich angriff. 
Diefer, welchem neben anderen großen Verdienſten auch dasjenige gebührt, daß er 
ein ebenfo treuer wie energifcher Hüter des europäifchen Friedensbündniſſes jenjeits 
der Alpen ift, fertigte die Interpellation in gründlicher Art ab. Da Jmbriani unter 
Anderem in üblicher Weife die Namen Mazzini's und Garibaldi’3 ausjpielte, weil die 
Regierung einen öffentlichen Aufzug aus Anlaß einer Gedenkfeier für Mazzini unter- 
jagt Hatte, betonte Crispi unter dem lebhafteſten Beifalle der weit überwiegenden 
Kanımermehrheit, daß auch in Zufunit die „rothen Proceffionen“ ebenjo wie die 
„Ihwarzen“ unterfagt werden würden. Andererſeits wieß der Gonfeilpräfident darauf 
bin, daß Mazzini und Garibaldi feiner Partei, jondern dem Vaterlande angehören. 
Mag nun auch Jmbriani in der italienischen Deputirtenfammer mit feinen jtereotypen 
Redensarten zumeift nur einen KHeiterfeitäerfolg erzielen, jo durite Griepi doch bean— 
ipruchen, daß der Kammerpräfident Biancheri alle perfönlichen Angriffe, die in ber 
Rede des irredentiftiichen Abgeordneten enthalten waren, mit Entichiedenheit zurückwies. 
Obgleich dies zu wiederholten Malen geſchah, vermißte der Gonjeilpräfident die noth— 
wendige Energie und lieh diefer Auffafjung Ausdrud, worauf Biancheri fein Amt als 
Kammerpräfident niederlegen wollte. ine folche Entjchließung des verdienftvollen 
Mannes berbeizuführen, lag jedoch jo wenig in der Nbficht Crispi's, daß er bie 
Kammer erfuchte, das vorliegende Demiffionsgefuch nicht anzunehmen. Mit Ein- 
ftimmigfeit jaßten denn auch die Deputirten ihren bezüglichen Beſchluß, jo daß 
Biancheri in der Sitzung der Deputirtenfammer vom 11. März den Vorſitz wieder 
übernehmen konnte. Diefer Abjchluß der jüngften parlamentarifchen Vorgänge zeigte 
jedenfalls in erfreulicher Weife wieder, wie feſte Wurzeln das europäijche fyrieden?- 
bündniß auch in der öffentlichen Meinung Italiens geichlagen hat. 


Fiterarifche Rundſchau. 





Karl Frenzel. 





Gejammelte Werke von Karl Frenzel. 1. Lieferung. Leipzig, Wilhelm Friedrich. 
1890. 


In einer geiftvollen und anmuthigen Skizze, welche der Gefammtausgabe feiner 
Werke gleichjam ala Vorwort oder Einleitung dient, erzählt una Karl Frenzel, wie 
er in die Literatur fam. Im Schatten der Petrifirche geboren und aufgewachjen in 
dem der Nicolaitirche, vereinigt er in fich alle die prominenten Gigenjchaften des 
Berliners, defjen Natur fich aus dem Widerfpruch von Verſtand und Gemüth zufammen- 
jeßt und aus der Gegenwirkung bdiefer Elemente feine Bejonderheit erhält. Wie für 
die Landichaft um Berlin, deren eigenthümliche Reize man nicht länger leugnet, jo 
fcheint ung auch der Tag gefommen, da man den geiftigen Boden Berlins auf fein Ver: 
bältniß zur deutjchen Literatur Hin unbefangener unterfucht und richtiger ſchätzt ala 
bieher. Wilhelm Scherer hat nachgewiefen, daß in diefem Sande der Quell der neueren 
deutichen Lyrik mit Paulus Gerhardt’3 geiftlichen Liedern zuerſt vernehmlich ward. 
Derjelbe Boden Hat den Philifter Nicolai hervorgebracht und den Genius Leſſing's 
gereift; an der Ede der Roßſtraße fam Tieck zur Welt, das Haupt der romantijchen 
Schule, und in einem Hintergebäude der Akademie Gublow, der Führer des jungen 
Deutſchlands. Niemals ift die Literatur hier eine Herrfchende Macht geweſen; aber 
mehr als einmal Hat fie fich aus Berlin ihre Waffen geholt, und wenn man auf ihre 
vornehmſten Hiefigen Repräjentanten fieht, jo wird man das Gharakteriftifche derjelben 
darin finden, daß in ihnen immer das poetifche Vermögen mit dem Eritifchen verbunden 
und daß durch das Vorwiegen des einen oder anderen ihre Stellung bejtimmt war. 
Der Phantafie des Berliners ift ala Gegengewicht die geiftreiche Schärfe des Witzes 
und der Sjronie beigegeben, dem Teen» und Elfenzauber Tieck's an den Ufern der 
Spree die fühle Stepfis Gutzkow's gefolgt, und zwiſchen Beide fällt die Jugend 
Frenzel’. Es Hätte una Wunder nehmen jollen, wenn Tieck's Märchen und Komödien 
nicht das Erfte geweſen, oder faſt das Erjte, was er gelefen. Der Zweite war Heine, 
der fich eben damals zögernd von dem ſüßen Banne der Romantik frei machte, wies 
wohl Beide fie niemals ganz los geworden find, weder Heine noch Frenzel. 

Aus echt Berliner Fleinbürgerlicden Verhältniffen gefommen, umgab ihn doch 
frühe jchon Etwas wie eine literarifche Luft und Atmoſphäre. Diefer Theil feiner 
Skizze ift das Reizendfte, was man fich denken kann; ein Kleines Idyll, in welchem 
dad Berlin der legten Jahre Friedrich Wilhelm's III. mit feinen Linien gezeichnet ift. 
Freilich nicht weiter, ala der Gefichtöwinkel des Knaben reichte. Hätten wir aber nur 
mehr jolcher Schilderungen einer Zeit, die von der unferen wie durch einen Abgrund 
getrennt ſcheint! Ein Onkel Frenzel's war Buchbinder, und deilen Laden in der 
Friedrichftraße für ihm der Vorhof zur Literatur. Man fieht den waderen Mann vor 


150 Deutſche Rundſchau. 


ſich und athmet den Geruch der friſch gebundenen Bücher um ihn her. Gin wohl- 
angejehener, bemittelter Berliner Bürger und auf dem beften Fuße mit feiner gelehrten 
Kundihaft, die fi vornehmlih aus der Nachbarfchaft der Univerfität refrutirte. 
Manche von den literarischen Berühmtheiten jah Frenzel hier und hörte von Charlotte 
Stiegli jprechen, die mit ihrem Gemahl in diefem Laden ein und ausgegangen. Ein 
Original, wie nur im damaligen Berlin es möglich war, fand fich in Geftalt eines 
verbummelten Genie, eine® Sournaliften von Beruf, dem der Onkel zuweilen ein 
Mittagbrot gab und deſſen Leben einen unverhofft würdigen Abſchluß dadurch erhielt, 
daß er eine Goldſchmiedswittwe Heirathete und deren Gejchäft übernahm. Aber er 
entjagte darum nicht ganz den alten Xiebhabereien, und er und andere gute Bürger 
(der Onkel Buchbinder darunter) führten an freien Abenden vor einer geladenen Geſell— 
Ichaft in den Hinterzgimmern Komödien auf, wie die Handwerker im Sommernadhts- 
traum; und bier, in der Mohrenjtraße, mit dem Schaufpielhaus auf der einen Seite, 
mit dem Haus auf der anderen, an deſſen Edfenjter man fich noch die geſpenſtiſche 
Figur E. T. U. Hoffmann’s denken konnte, jah Frenzel zum erften Male in jene 
Zauberwelt, die fpäter mit fritifcherem Blick zu muftern feine Beitimmung war. Die 
Berhältniffe mochten eng und die Menfchen nüchtern fein, etwas Phantaftifches um 
jchwebte fie dennoch, das die Seele diejes Knaben wahrnahm , und der Alttag jelbit 
ſchien von einem Geheimniß umgeben, welches bier und dort, in feltenen Feierſtunden 
fich Lüftend, ihm Bilder eines höheren Dafeins zeigte. Die guten Teen haben feinen 
Kindertagen nicht gefehlt. Eine davon, eine alternde Jungier, Jugendfreundin feiner 
Mutter, war Garderobidre bei der Fürftin Liegnig, der zweiten Gemahlin Friedrich 
Wilhelm's III. Hoch oben, in zwei freundlichen Dachkammern des Pringeffinnenpalais, 
heute ein Theil des Palais der Kaiferin Friedrich, wohnte diefe treffliche Perſon, die 
den ängjtlich laufchenden Kleinen, Hinter einer Thür verborgen, einmal den alten König 
jehen ließ, wie er am Arme der Yürftin langjam vorüberjchritt. Ein jcheidendes 
Zeitalter, groß wie eines, aber in menfjchlicher Gebrechlichkeit endend, und in Frenzel’ 
Erinnerung verbunden mit dem Jasmingeruch des Schloßgartens von Charlottenburg 
und dem Raufchen der alten Linden im Parke von Schönhaujen. 

Das Fundament feiner Bildung verdankt Frenzel einem Lehrer der Dorotheen- 
ftädtifchen Realfchule, Friedrich Köppen, einem jener bedeutenden Männer, deren Ans 
denfen leuchtend bei den Schülern jortlebt, wenn das eigene Schidjal längſt in der 
Dunkelheit verlaufen, Männer, die wohl Anderen auf ihrer Bahn forthelfen können, 
fich jelber nicht. Durch diefen ward Frenzel der Wiſſenſchaft zugeführt, jener lebendigen, 
die das Gefühl für Schönheit und freiheit twedt, die nicht im Gegenjaß fteht, jondern 
fih Eins weiß mit der Literatur, und die damals, im Bunde mit ihr, die Trägerin 
des nationalen Gedankens war. In jenen äußerlich ftillen Jahren vor dem eriten 
Ausbruch Hat Frenzel die Schäße jeines Wiſſens aufgehäuft, zu welchen das Werder'ſche 
Gymnafium den foliden claffifchen Grund legte. Bon feinen Univerfitätslehrern nennt 
Frenzel Ranfe vor Allem, dann Guhl, Hotho, Werder ala Diejenigen, welche von 
entjcheidendem Einfluß auf feine künftige Richtung geweſen find. Gefchichte und 
PHilofophie ftanden im Mittelpunkte feiner Studien, denen eine rege poetijche Pro- 
duction zur Seite ging. Trauerſpiele waren das Grfle, was er jchrieb, Gedichte das 
Erſte, was von ihm gedrudt ward. Die Revolution von 1848 fand den Zwanzig— 
jährigen erfüllt von all’ den Idealen, die fein erfter Lehrer in ihm gewedt, und bie 
er num verwirklicht zu ſchauen meinte. Das leidenfchaftlich Aufwallende der Bewegung, 
was fie von Begrifterung in fich hatte, riß ihn Hin; um die Rednertribünen in den 
Zelten jchlangen fi) ihm die „wilden Rofen” Louiſe Afton’s, der Freiſchärlerin, und 
durch den Tumult der Straße vernahm er ihren Refrain — Berje, die der gefehte 
Mann von heute noch mit dem Klang und Tonfall jener Zeiten herzuſagen weiß: 

Schlagt die Gläjer all’ in Scherben, 
So vergeh' die alte Welt; 


So foll flerben und verderben, 
Was den Geift in Feſſeln hält. 


Literariiche Rundſchau. 151 


Ein Frühlingafturm — und e8 war vorüber. Sprechen wir nicht von den 
Opfern, die er gefoftet, nicht von der eifigen Winternacht, die ihm gefolgt. Als 
Schulmeifter, der fein Probejahr ablegt, begegnete Frenzel feinem ehemaligen Lehrer 
wieder — fie waren jet Gollegen; aber mehr noch ala der ftumme Händedruck des 
Aelteren fagte fein müde Auge dem Jüngeren, daß er aufgehört habe, zu hoffen. 

Jeder von ung, wenn er auf fein Leben zurüdjchaut, wird einen Moment darin 
ala den entjcheidenden erkennen, der feine ferneren Geſchicke beftimmte, Diefer war 
e8 für Frenzel, ala er an einem Märztage des Jahres 1854 und in einem Zimmer 
des Hötel de Rome in Berlin zum erjten Male vor Karl Gutzkow ſtand. Mit dem 
durchdringenden Blid, der ihm eigen, hatte Gutzkow fogleich in dem jchmächtigen, zart 
gebauten Schulamtscandidaten den feinen und wohl vorbereiteten Geift entdedt, der 
fich ſelbſt noch nicht zu fennen oder nicht zu trauen fchien. Ein Aufſatz Frenzel's, 
feiner Doctordiffertation („Ueber die erften Gefchichtjchreiber der ficilianischen Veſper“) 
entnommen, hatte die Belanntichaft vermittelt: er hatte fie den, kurz zuvor von Gutzkow 
begründeten, „Unterhaltungen am häuslichen Gerd“ eingefandt, einer Wochenfchrift, 
deren ftändiger Mitarbeiter Frenzel von mın ab ward, um fpäter deren Mitredacteur 
zu werden und endlich ganz an Gutzkow's Stelle zu treten. Im Jahre 1859 erfchien 
jein erfter Band Efiays: „Dichter und Frauen“, im Jahre 1860 fein erfter Roman: 
„Vanitas“. So kam, aus der Schule, Frenzel in die Literatur, und der ihn geführt, 
war — in mehr als einem Sinne — Gutzkow. 

Unmittelbar dem Selbftporträt jchließt fich, im diefer Lieferung, eine meifterhafte 
Studie am, in welcher Frenzel den merkwürdigen Mann gefchildert Hat — eher ein 
Gharafter= ala ein Literaturbild ; denn wenn von Einem, fo gilt von Gutzkow dag Wort, 
dab des Menjchen Charakter des Menſchen Schidjal fei. Was dasjenige Gutzkow's war, 
wir wiſſen es; dor unferen Augen, in dem traurigen Gefühl, ihm nicht helfen zu können, 
haben wir ihn, unter feinen Beitgenofjen ficher den Größten, dahingehen jehen, in 
Bitterfeit, underföhnt, unverföhnlich, mit wenigen freunden, er ſelbſt fein jchlimmiter 
Feind. Und doch wird Derjenige, der einft die wahre Geichichte der dreißiger und 
bierziger Jahre fchreibt, von Gutzkow jagen müffen, daß er eine von den treibenden 
Mächten der intellectuelfen Bewegung war, welche neben der politifchen jener Zeit 
einherging und fich mit ihr verflocht. Wir Lefen es auf jeder Seite dieſes Eſſays, und 
aus der feelifchen Erregung, die Frenzel mehr verbirgt als offenbart, glauben wir noch 
einen Nachhall des Schmerzes zu vernehmen, daß auch er den Mann, dem er nahe 
fand wie jonft Keiner, zulegt verlieren mußte wie alle Anderen. Bei gleichen oder 
doch jehr ähnlichen Ausgangs- und manchen inneren Berührungspunften kann es feine 
färferen Gegenfäge geben ala zwifchen biefen beiden geborenen Berlinern, faſt der 
nämlichen Claſſe der Bevölkerung entjprungen und für die jpätere Laufbahn auf den» 
jelben Anftalten, dem Werder'ſchen Gymnafium und der Berliner Univerfität, wiflen- 
ichaftlich vorbereitet. Aber welch” trennender Interfchied der Charaktere! Wo Gutzkow 
leidenschaftlich und unruhig, ift Frenzel gejegt und feßhalt. Seit Gußfow im Jahre 
1830, dem Jahre der Julirevolution, feine Vaterſtadt verlaffen, hat er (mit einziger 
Ausnahme von Dresden, 1847—1861) an demjelben Orte nicht ein halbes Dubend 
Jahre zugebracht — immer auf der Wanderung, immer auf der Reife. Frenzel mag 
dreißig Jahre geworden fein, bevor er aus dem Horizont von Berlin herauskam, und 
er war gewiß länaft jenfeit?® des „mezzo del camin di nostra vita“, ehe er das Land 
Dante’ ſah, des Dichters, deflen Namen er auf die erite Seite feines erften Buches 
geichrieben. Zerriffen wie das Leben Gutzkow's war, hat fich das Leben Frenzel's 
barmonifch geftaltet; immer, wo es die großen Angelegenheiten de Vaterlandes in 
Literatur und Kunft galt, hat er in den erjten Reihen mitgejtritten: häusliches Glüd 
und treue Freundſchaft haben dem Menfchen, ungewöhnliche Erfolge dem Schrijtfteller 
gelohnt, dem es nunmehr vergönnt ift, diefe Gefammtaußgabe dem Publicum anzubieten. 

Einen Namen erwähnt Frenzel in der Skizze feines Entwidlungsganges nur bei— 
läufig, denjenigen Voltaires; aber wenn der witzigſte der Franzoſen nicht unter den 
Führern des Suchenden war, jo mußte fpäter, al& der Weg gefunden, die Wirkung 


Ä 


152 Deutihe Rundſchau. 


um jo tiefer und nachhaltiger fein. Mit diefem großen Bertheidiger der freiheit, 
diefem Spötter, abwechjelnd ein Verfolger und ein PVerfolgter, den Beifall ber 
Mächtigen fuchend und fie verlachend, ward das achtzehnte Jahrhundert eine Wahr- 
heit und Wirklichkeit für Frenzel und Voltaire ſelbſt, auf diefem Hintergrunde, ſeltſam 
gefärbt jchon von den Vorzeichen von 1789, eine Figur, die Lörperhaft aus dem Rahmen 
der Bücherbefanntfchaft heraustritt wie Einer, der lebt und mit dem man verkehrt. 
Manchmal, auf feinen Abendgängen, mag er biefem Geiftermann im Hoffleid, mit 
dreiedigem Hut und Allongeperrüde, begegnet jein unter dem Alademieportal, oder, 
von der langen Brüde ber, im Zwielicht an den Fenſtern der föniglichen Gemächer 
ihn geſehen haben, wie er fich jchadenfroh die Hände rieb. Was Frenzel zu Voltaire 
Hingezogen, ift das Dämonifche diefer Natur, welche ſich Hinter einem Grinfen verftedt, 
feine Genialität, welche zerftört und aufbaut, fein kritiſcher Geift, der nichts verſchont, 
fein Hiftorifcher Sinn, der ihn gewiffermaßen zum Schöpfer der modernen Gejchicht- 
ichreibung gemacht hat, die Grazie, wenn er jchmeichelt oder verwundet, der Zauber 
feines Stils, feine unfterbliche Frifche. Niemand kann Voltaire beffer verflanden, ihn 
iympathifcher erfaßt haben ala Frenzel; und Niemand könnte mehr berufen fein, uns 
dad Leben Voltaire’3, vom beutichen Stand» und Gefichtspunft aus, zu jchreiben. 
In der That Hat Frenzel ihn zum Helden eines feiner Romane, „La pucelle“, gemacht; 
aber dies ift nur der junge Voltaire und fein Verhältniß zur „göttlichen Emilie“, 
das mit der Mathematik begann und mit einer Lächerlichkeit endete. 

Die Welt des achtzehnten Jahrhunderts, mit diefem echt Boltaire’schen Präludium 
angefangen, ift e8 denn auch vornehmlich, die Frenzel in der erften Reihe feiner Romane 
darftellt: die fünftlerifchen Tendenzen bdesfelben in „Waiteau”, die philojophifch- 
religiöfen in „Ganganelli“, „Im goldenen Zeitalter” das Paris Marie Antoinettens 
und die Tage Kaifer Joſeph's, den amerikanischen Unabhängigfeitsfampf „Auf freiem 
Boden“, die Revolution in „Charlotte Corday“ und die Napoleonifche Zeit, das Ende 
des einen, den Anbruch des anderen Jahrhunderts in „Qucifer”. Hiermit betritt 
Frenzel die moderne Welt und die heimifche Erde, die er in feinen folgenden Romanen, 
mit kaum einer Ausnahme, nicht mehr verläßt. 

Ein reiche und unausgeſetztes Schaffen, das mehr ala ein Menfchenalter umfaßt 
und fich auf faſt alle Gebiete der Literariichen Production erjtredt; in welchem alle 
Strömungen und Strebungen der Zeit fich jpiegeln und eine gleichmäßig ausgebildete 
PVerjönlichkeit fich offenbart. Eine feltene Gunft des Schidjal® Hat es Frenzel be 
ichieden, diefe neue Zeit von ihren erften Dämmerungen unter Friedrich Wilhelm III. 
mitzuerleben und fie gleichfam von unten ber zu betrachten, bevor er zu den höheren 
und freieren Aſpecten emporftieg. Dies hat ihn vor der Einfeitigfeit behütet, welche 
mit vorgefaßten Meinungen verbunden iſt und feinem Urtheil die Ueberlegenheit ge: 
fichert, welche aus dem Gefühl der eigenen Kraft entipringt, vielleicht aber auch jene 
Nachficht zur Folge gehabt gewiffen Erfcheinungen gegenüber, die mit ftrengerem Maße 
gemefjen, die Probe ſchwer beftehen würden; gegenüber gewiffen Richtungen, die nicht 
die feinen find. Minima non curat praetor. Daß er aber, wenn es fein muß, noch 
fein „Quos ego!“ zu rufen weiß, das brauchen wir den Lefern unferer Zeitfchrift nicht 
zu jagen; und möge diefe Stimme Hier noch lange gehört werden! Denn wir 
bedürfen ihrer in diefem Streite der Meinungen, der immer näher rüdt, in dieſem 
Kampfe, der unvermeidlich geworden ſcheint — 


La guerre est au Parnasse, au conseil, en Sorbonne: 
Allons, defendons-nous, mais n’attaquons personne. 


Literariſche Rundſchau. 153 


Neue Romane und Novellen. 


⸗ 


Dahiel, der Convertit. Roman von Richard Voß. Drei Bände. Stuttgart, Leipzig, 
Deutiche Berlagsanftalt. 1889. 
nn und Gejchautea. Bilder aus Italien von Richard Voß. Jena, H. Eoftenoble. 


Don Frühling zu Frühling. Bilder und Skizzen von Hana Hoffmann. Berlin, 
Gebrüder Paetel. 1889. 
nr. Roman von Alerander Baron von Roberts. Leipzig, W. Friedrich. 


Frau Minne Ein Künftler-Roman von Theophil Zolling. Leipzig, H. Häflel. 1890. 


Man kann eine Reihe von Romanen, die jämmtlich eine gewiffe Werthſtufe über- 
fliegen haben, nicht in der Weiſe abfertigen, daß man bloß Nummer mit Nummer 
vergleicht und den Einen am Anderen mißt. Ein Kunftwerk ift eine Perfönlichkeit ; 
es iſt gefchaffen ala ein Einzelnes und will als folches geachtet fein. Ich begreife 
vollftommen den Groll des echten Dichters gegenüber einer derartigen Maſſenkritik, in 
welcher dad Individuum untergeht. Aber es gibt doch einen Gefichtspunft, unter 
dent angefchaut die Sache ihren Stachel verliert, — es ift der Gefichtäpunft der 
Technik. Gewiß: ein ganz großer Meifter fchafft auch feine Technik individuell; Ro— 
mane wie Keller's „Grüner Heinrich“ oder Viſcher's „Auch Einer” find technifch un» 
möglih mit irgend einem anderen Dichterwerfe zu vergleichen; fie find, wie fie 
find und müfjen auch in ihren Yormgefegen aus fich ſelbſt heraus begriffen werben. 
Für die große Mehrzahl aber felbft der guten Kunſtwerke gilt diefe Forderung 
teineswegd. Hier bejtehen für das Gebiet der Technik Richtungen, Moden, wenn man 
jo will (obwohl man das Gehäffige des Wortes dann bei Seite laffen muß), meift 
zwei oder drei große Grundfchablonen, die theild bewußt, theild unbewußt, theils im 
Banne doraufgegangener Lectüre, theils — gewiffermaßen immer wieder im Zwange ber- 
jelben Urgejeße jpontan erzeugt — von Hunderten benußt werden, die für eine ganze 
Literaturperiode bezeichnend find, und bei deren Beiolgung im Einzelnen allerdings das 
Bedürfniß nach Vergleichen mit ähnlichen Proben ein durchaus berechtigtes ift, da 
Alles aus einer Wurzel jproßt, das Grundjchema a priori klar ift und das Intereſſe 
fi) dahin vereinigt, wie im einzelnen Diefer fo und Jener fo fich mit feinem indi- 
viduellen Begehren in dem vorgefundenen Gehäufe zurecht gefunden und eingewohnt 
bat. Die kleine Reihe von Dichtungen, welche ich bier zu betrachten habe und die 
im recht eigentlichen Sinne der Zufall zufammengeweht bat, daß fie ein Ganzes 
wurden, läßt fich außergewöhnlich Leicht ala folches jaffen und zu einem typifchen 
Bilde für die weſentlichſten jener heutigen Richtungen auägeftalten. Ein Roman jener 
oberften Art, der auch technifch eine Perfönlichkeit darftellte, befindet fich nicht darunter. 
Dennoch kommt der befte der Reihe, die dreibändige Schöpfung von Richard Voß, 
diefer Stufe immerhin am nächften. Voß wirkt ſowohl ftofflich, wie rein formal, und 
wenn fein Werk, wie ich zeigen werde, Schwächen hat, fo gehört zu dieſen nicht der 
Mangel an jener Harmonie, die gewiffermaßen Baſis jeder wirklich bedeutenden Dich- 
tung fein muß. Auch fehlt e8 im Formalen wenigjtens nicht an individuellen Zügen, 
die Keime des ganz Großen, des oberjten Stodwerkes gleichjam, wirklich enthalten. 
Bei Hoffmann finde ich eine Seitenſchwenkung, eine einfeitige Entwidlung nach der 
formalen Seite hin mit merkbarer Vernachläffigung des ftofflichen Gehaltes. Eine 
gewiſſe äfthetifche Schule würde hier vielleicht im Gegentheil eine Kunftentwidlung 
noch über das höhere Niveau hinaus erbliden; aber diefer Standpunkt ift keineswegs 
mehr heute der herrſchende. Bei aller Herrlichkeit des Formalen, das allerdings hier 
ganz durchjegt ift mit Individuellem, bleibt ein Mangel an Gedankengehalt, an ſach— 
licher Ziefe, der nicht wegzuleugnen ift. Umgekehrt tritt in den Romanen von Bolling 
und Roberts der Stoff mit feiner gröberen oder feineren Wirkung allbeherrfchend in 
den Vordergrund, und die Form entkleidet fich jeglichen individuellen Gepräges; fie 
gebraucht jErupellos die Schablone des Feuilletonromans, die man ihrer Herkunft nach 





154 Deutſche Rundſchau. 


auch die franzöſiſche nennen kann, obwohl keineswegs alle Franzoſen ſo ſchreiben. Es 
möge das im Folgenden eine nähere Ausführung finden. 

Richard Voß iſt ein Dichter, kein Feuilletoniſt. Auch der Band Skizzen aus 
Stalien, deffen Titel oben neben dem Romane erwähnt ift, beweiſt das; jede Zeile 
ift Dichterarbeit; das ganze Buch ftellt etwa das vor, was ein gewifjenhaft jchaffender 
Poet fih als Vorftudie zu italienifchen Novellen auferlegen würde, dichteriich an- 
geichaute Landjchaftsbilder, Menfchenköpfe nach der Natur, Gejchichtsreflerion,; don ber 
leichten Art des Feuilletons feine Spur. Auch „Dahiel der Gonvertit“ ift eine 
Dichterarbeit in jeder Faſer, — ein großer, kühner Entwurf, mit ficherer Hand heraus- 
gegriffen, von glänzender dee durchichillert, farbenprächtig, berauichend, neu, — nur 
durch Eins jchwer beeinträchtigt und halb um feine Wirkung gebracht: durch das Un— 
gleiche der Ausführung. Dan denke fi: ein Jude des römifchen Ghetto, der Chriſt 
wird, aus reinen und edeln Motiven, der wiederum, ala er fich entjeglich enttäujcht 
fühlt im Mönchätreiben, auf dem Punkte fteht, Apoftat zu werden, den jein Abt in 
die Einöde verbannt und der num dort in religiöje Umnachtung verfällt und zum 
chriſtlichen Fanatiker wird, der wider feine alten Glaubenägenofjen wüthet; man bdenfe 
fih das Hineingezeichnet in die gewitterfchwüle Welt des achtzehnten Jahrhunderts, 
mit dem Hintergrunde des gewaltigen päpftlichen Rom einerfeits, der elegifch zarten, 
wie ein Dornröschen in ihren alten Erinnerungen eingefponnenen Gampagna anderer- 
ſeits; man denke fich das erjchöpft nach der Tieſe der philofophiichen Idee wie nach 
dem Pompe des weltgejchichtlichen Zeitcolorits, — wahrlich ein Gigantenftoff, für dem 
drei jchmale Bände kaum ausreichend erjcheinen. Das Alles ijt aber für Voß noch 
nicht genug gewejen, er Hat noch mehr verſucht. Der Fanatiker als Schlußbild ge- 
nügte ihm noch immer nicht, er hat ihn zu allerlegt in einer Art von Epilog noch 
bis zum Räuberhauptmann Hinaufgipfeln müfjen, der im Banditengejecht fällt. Er 
hat endlich den Höhepunkt des greifbar Deutlichen für feine Bilder damit erreichen 
wollen, daß er dem größeren Theile des Romans die Form don Selbftbelenntnifjen 
im Tone jener Zeit gab, Selbſtbekenntniſſen, die in die eigentliche hiſtoriſche Erzäh— 
lung das Reflerionselement etwa der Auguftinischen Gonfeffionen und die bizarre Ge— 
danfenwelt des fich jelbit beobachtenden Myſtikers Hineinbringen jollten. Wenn man 
noch dazu nimmt, daß Voß ohnehin mehr Novellift als Romandichter ift, aljo eine 
ausgeiprochene Vorliebe dafür hat, den geraden Gang der Haupthandlung durch Epi— 
joden zu verfnäueln und abzulenken, daß er eine nicht minder ausgeſprochene Vorliebe 
für die etwa fich darbietenden romantijchen Züge befigt, die doch alle mehr oder 
minder überflüffige Arabesten in der großen piychologifchen Entwidlungslinie dar— 
jtellen, jo begreift fich, daß denn eben doch jchließlich der Poet unter der Laft des 
Allzuriefigen zufammengebrochen ift und fein Vollkommenes gejchaffen hat. Zunächit 
ift er, troß eines großen Aufwandes von Gejchidlichkeit im Einzelnen, in der Haupt— 
jache gänzlich mit der Memoirenform in die Brüche geraten; fie macht die Lectüre 
bloß jchwieriger und wirft gerade da, wo fie helfen foll, im direct umgelehrten Sinne: 
fie gibt nämlich dem Tone des Ganzen, anftatt ihn „echt“ zu machen, etwas Ge— 
mijchtes, das nicht alt und nicht neu, nicht Poetenrede von Achtzehnhundertneunund- 
achtzig und auch ganz unbedingt nicht Mönchärede von Siebzehnhundert und jo und 
jo viel ift. Dagegen hilft auch nicht, daß die Ginkleidung zu Beginn de Romanes, 
die moderne Novelle, die zur Entdeckung der alten Papiere führt, ganz wejentlich beſſer 
it, als fonft derartige Heillofe Umwidlungstunftitüde, die mir niemals frucht— 
bringend erjcheinen, gemacht zu werben pflegen. Gin zweiter großer Fehlgriff ift der 
Schluß. Wohl ift der Umſchwung zum Tyanatifer, dad Erwachen des religiöien 
Wahnfinns pfychologisch jehr fein angebahnt und in feinen erften Phaſen mit gemwal- 
tiger poetifcher Kraft dargeftellt, — jo bedeutend, daß dieje Stellen allein genügen 
müßten, dem Buche einen hohen Rang zuzuweifen. Aber ich glaube, der rechte An— 
ſchluß ift Schon da verfehlt, wo Voß einfeitig die Verödung und den Zerfall des 
moralijchen Gefühls in Folge des Myſticismus im Helden betont. Ich fürchte, 
er hat bier mehr richten wollen, ala gejtalten. Der fyanatiker, der doch jchlimm 


Literariiche Rundſchau. 155 


genug jein follte, war ihm noch zu gut als Schlußrefultat, er wollte den gemeinen 
Mörder haben. ch bezweifle, daß diefer gerade fich unter den gegebenen Umftänden 
entwideln konnte. Dahiel iſt nahezu wahnſinnig. Zum Mörder aus Ehrgeiz (er 
mordet feinen Abt, um jelbjt Abt zu werben) gehört Kälte, kein Myſticismus. Voß 
hat offenbar die inyfliſche Literatur von den älteſten Heiligen an bi8 auf Schopen= 
hauer's Lehre von der MWillengertödtung durch Askeſe genau ftudirt, aber er ift trotz— 
dem jelbit zu jehr ein Kopf aus unferer kalten, Elaren Zeit, um bie volle Tiefe zu 
iaffen. So bleibt feine Darftellung bei aller poetischen Größe eine äußerliche. Vollends 
die allerlegte Stufe, der Schritt vom Abt zum Banditen, ift gar nicht mehr aus— 
gearbeitet; ein paar dürre Worte geben bloß die nadte Thatſache. Voß meinte jeden- 
falle, der Leſer jähe das Facit von felbit, er brauche e8 bloß noch anzudeuten; es ift 
aber eben nicht der all, weil jchon der Schritt zum Abt, der Mörder ift, nicht mehr 
piychologisch Har wird. Der Hang zu Epifoden hat im GEingelnen Manches verdorben, 
ohne daß ich darauf viel Gewicht legen möchte; Hier und da Hat er auch Gutes ge- 
ichaffen, jo daß fich das im Ganzen auggleicht. Die Nebenfiguren find zum Theil 
jehr jchablomenhait behandelt, die Juden ganz hell, die Mönche ganz ſchwarz; die 
Frauengeftalten find durchweg nicht bedeutend genug angelegt. Auch das überfieht 
man, weil das Tempo des Romans ein jchnelles ift, die großen Panoramen fich 
drängen und der Held allein mit feinem Innenleben mehr als Dreiviertel des Raumes 
füllt. Sch weiß nicht, ob Voß noch einmal im Stande fein wird, ganz Großes zu 
ſchaffen. Was er dichtet, Roman wie Drama, ift immer voll von großen Entwürfen; 
er padt einen Riefenftoff, und er fällt dann mit diefem Stoffe, weil er zu ſchwer 
war und die volle Vertiefung, der lange Athem nicht da waren. Aber auch dieſe 
Kühnheit hat ihren Zauber, es iſt die Kühnheit eines echten Dichters, das dürfen 
wir nicht vergeſſen in einer Zeit, die unendlich mehr Schreiber hat als Dichter. 

Von Richard Voß zu Hans Hoffmann iſt ſcheinbar ein weiter Schritt, 
äußerlich genommen jo weit wie bon der gewitterdunkeln Tragödie zum waldgrünen 
Idyll. Voß iſt ein Prunkdichter, prunkend in der Idee, wie in der Form; aber ſein 
Stoff war in unſerem Falle zu gigantiſch, ſelbſt für dieſen üppigen Pinſel. Nun, — 
Hans Hoffmann iſt, es mag ſeltſam klingen, in ſeiner Art auch ein Prunkdichter, bloß 
daß er einen für ſeine Gaben zu kleinen Stoff in dem Buche, das wir betrachten 
wollen, zum Vorwurf genommen hat. Ich will das durch ein Bild erläutern, das 
vielleicht etwas trivial klingt, aber die Sache trifft, die ich ausdrücken möchte. Man 
denke ſich ein Gemälde, deſſen Mittelpunkt, der das Ganze beherrſcht, ein kleiner, 
drolliger Gegenftand, etwa ein höchſt kunftvoll zur Darftellung gebrachtes Bierjeidel, 
bildet. Diejes Bierjeidel denle man ſich nun rings umgeben von den großartigften 
und farbenprächtigften Decorationsfachen: Bergen von Makart'ſchen Südfrüchten, 
weißem Marmor und dunfelrothen Vorhangfalten; zum Ueberfluß gewahrt man noch 
durch ein offen ftehendes Fenſter einen köſtlichen Sandichaftsausfchnitt, der den Meifter 
in jedem Zuge verräth und allein ala Prachtftüd erjten Ranges genügen würde, wenn 
er im Bordergrunde prangte. Selbſt ein fanatifcher Verehrer von „Stillleben“ dürfte 
dieſes Gemälde etwas jonderbar finden und ein Mißverhältniß berausfühlen, das man 
je nach der bevorzugten Seite Armuth oder auch Verſchwendung nennen könnte, Die 
Mehrzahl der Novellen, die Hans Hoffmann diesmal bietet, hat zur Unterlage, zum 
Mittelpunkt eine kurze, ſpaßhafte Anekdote, je nach dem Glüd im Grfinden einmal 
eine ziemlich unmahrjcheinliche und dann einmal wieder eine ganz vorzügliche, tiber 
die Jedermann lachen müßte, auch wenn fie ihm mit den denkbar fürzeften Worten 
erzählt würde. Sehr unwahrfcheinlich ift beifpielaweife das Begebniß in „Heubuft”, 
jo unwahrfcheinlich, daß der Humor darunter leidet; höchſt witig dagegen ift das 
Abenteuer von der „ftillen Pauline“ in „Himmelfahrt“; hart an der Grenze jchwantt 
die num doch ſehr furiofe Gejchichte der beiden Junggefellen aus „Ihaumwind“ ; geradezu 
prachtvoll wieder iſt das Erlebniß des Gapitäns KHannenberg, das den Titel „Eistrug“ 
führt und den Monat Februar im Novellenfalender vertritt. Im Ganzen ift e8 das 
unanzweifelbare Recht eines Poeten, auch einmal in behaglicher Stunde jo recht nach 


156 Deutſche Rundſchau. 


Herzensluſt zu „jabuliren“, und wenn man erſt in die richtige Stimmung ſich hinein— 
gelacht Hat, jo erträgt man viel — oder beffer, man erträgt auch ein luſtiges Nichts 
und lacht doch weiter. Hier fängt aber num erft recht eigentlich das für Hoffmann 
Charakteriftiiche und Merktwürdige an. Hoffmann häuft auf diefe Kleinen, harmlofen 
Hiftörchen die ganze Fülle, Pracht und Kraft feines höchſten dichterifchen Könnens. 
Wir wiffen aus früheren Gaben, wie bedeutend dieſes Können ift. Ein wahres 
Königskind der Poefie fpielt bier mit Scepter und Kronen, aber im wahrften Sinne: 
es jpielt damit. Das Gewaltigite, Anfchaulichjte und Stimmungävollite, was in 
legter Zeit überhaupt von einem Landſchaftsmaler in Worten gejchaffen worden ift, 
wahre Perlen in jeder Hinficht, durchwirkt in toller Verſchwendung jede einzelne diefer 
Anekdoten. Da ift eine Gejchichte „Friedensfeier“. Gin Ehepaar, das fich gezantt 
bat, wird das Opfer einiger grober Zufälle, — falſch verjtandenes „Komme“ im 
Telegramm, Borbeifahren des Einen am Andern in zwei fich Ereugenden Zügen und 
dergleichen — ein an fi) gar nicht übler, wenn auch etwas hyperboliſcher Scherz, 
bei dem der Zufall ein Lachender Schalt ift und die Menfchen zuerft weinende, Hinter: 
her aber ebenfalls Lachende Kinder find. Und in diefen Zufammenhang, der gebie- 
terifch Zeichnungen von Wilhelm Bufch fordert, malt nun Hoffmann eine märfifche 
Seelandſchaft, wie mir überhaupt noch niemals eine in der Literatur vorgefommen ift; 
er malt einen Sonnenuntergang über feinem See, der jo groß, jo jeierlich, jo durdh- 
drungen von dem ganzen Ernſte der Natur, wie von dem Ernſte der nachjchaffenden 
Dichterfeele ift, daß der Scherz jede Wirkung verliert, daß dieſe Heinen thörichten 
Menjchlein buchjtäblich dem Hörer verloren gehen und dafür ein unftillbares Sehnen 
erwächlt nach ernftem Menfchenthun, nach einem Schidjal, das nach wilden Sturme 
verföhnt in jenen großen Farben verglühte, die der Dichter am Himmel widerftrahlen 


läßt. Ich fühle es wohl, daß Hoffmann hat jagen wollen: jener Gontraft gerade iſt 


der echte Weltcontraft, — dummes Herumfchwirren der Dienjchenkinder, Ameifengewühl 
ohne Zweck und Sinn, dahinter aber die Natur immer in derjelben Größe, mit dem 
gleichen Riefenfpiel ihrer Lichter, ihrer Dämmerungen, ihrer Jahreszeiten, das fich u 
die Menjchen nicht befümmert. Aber der Weg, das auszudrücken, jiheint mir do 
nicht getroffen, die Freude an dem Unfinn ift zu ftark; zu ſehr wird verjucht, ihn in 
die brennenden Farben Hineinzurüden, ihm durch den Zauber der Sprache eine Tiefe 
zu geben, die er nicht hat und nicht Haben fann. Weitere Erörterungen hierüber 
würden tief ind Gebiet der Theorie de8 Humors überhaupt führen müffen, wozu bier 
nicht der paflende Ort ift. Ich glaube, daß unter diefem Gefichtäpunfte gerade Hoff- 
mann’3 Novellen werth wären, von einem Aeſthetiker ganz genau analyfirt zu werben. 
Bei dem fühlbaren Mangel an humoriftifchen Novellen und Humoriftifchen Dichtungen 
aus echter „Künftlerhand“ überhaupt, der Heute herrſcht, müſſen Gaben diejer Art, 
jelbft wenn fie ftellenweife Mufter im negativen Sinne bieten follten, doppelt hoch 
gehalten und berüdfichtigt werden. Das äußere Gewand der Hoffmann’schen Dichtung 
ift auch in diefem falle wieder tadellos. Voß fchreibt immer üppig, ftellenweife 
ſchön; Hoffmann fchreibt vor Allem ganz gleichmäßig gut, und wo er, wie in den 
Schilderungen, noch dazu einen bejonderen Anlauf nimmt, da bringt er einen Stil 
von höchſter Vollendung, in dem jedes Wort leuchtet wie ein Meifterftrich mit dem 
Pinjel. Zum Scluffe jei noch darauf hingewiefen, daß in der Mitte des Buches ein 
paar Skizzen ftehen, auf welche jene Auseinanderjegung über das Anefdotenhafte und 
das Mißverhältniß von Stoff und Ausführung feine Anwendung findet, da Hier voll« 
fommener Ernft waltet. Sehr gut ift unter diefen Ausnahmen „Meeresftimmen“, ein 
ergreifendes Iyrifches Gedicht in Proſa; mißlungen jcheint mir „Jrrlicht“. Obwohl 
ber Dichter durch den einheitlichen Zitel und die fortlaufenden Kalenderdaten ein 
Ganzes aus dem Buche hat machen wollen, kann jchon diefer ganz erniten Beftandtheile 
wegen, die den Iuftigen Ton der übrigen jäh und unvermittelt durchbrechen, nur em⸗ 
pfohlen werden, diefe Novellen nicht hintereinander, ſondern einzeln zu lefen. 
Einfeitig ftoffliche Wirkung habe ich oben ala das Gharakteriftiche für die Ro- 
mane von Zolling und Roberts bezeichnet. Am Allgemeinen gibt e8 für diefen Fall 


Literarische Rundichau. 157 


wieder einen doppelten Typus in unferer Tagesliteratur, je nachdem das Wirkungs- 
element, der Stoff, verwachfen ift mit der äußeren Handlung, dieje in jeder Einzelheit 
beberricht und trägt, oder aber auch noch eine Differenz befteht zwifchen der Handlung 
und dem wirfungsvollen Stoffe, ja dieſer Stoff am Ende gar nur [oje aufgepfropft, 
ala leuchtendes Lockmittel in eine Begebenheit Hineinverwebt ift, die ebenfogut ohne 
ihn fich abipielen könnte. An Romanen der leßtgenannten, allerdings fehr tief ſtehenden 
Art ift bei ung kein Mangel. Die beiden Proben des „Stoff-Romans“, die ich Hier 
vorführen will, gehören erfreulicher Weiſe der Heinen Zahl derer an, die annähernd 
wenigiten® noch die erfte Bedingung erfüllen. Beide Romane bezeichnen ſchon durch den 
Titel mehr oder minder abjtract ihren Stoff: „Revanche“ und „Ein Künftlerroman”. 

Roberts greift feinen Stoff mit glüdlicher Hand aus einem jener Zwiſchen— 
gebiete heraus, wo Politif und Moral fich berühren und die erjtere Macht gewinnt 
über die letztere. Die Entfittlihung, die innere Verrohung und Verwilderung eines 
- blühenden Gulturvoltes durch das einfeitige Pflegen und Großziehen des Revanche— 
gedankens will er darlegen. Das ift lebendige Gegenwart in jeder Einzelheit und doch 
im Ganzen gewifjermaßen eine hiftorifche Erzählung, ein Gejchichtsroman, in welchem 
das zeitfreie Auge des Dichters das Tagestreiben mit feiner Zerfplitterung bereits als 
ein Ginheitliches, deſſen Idee fich Hell offenbart, angejchaut hat. Wie eine glüdliche 
Che, der Frieden einer Familie zu Grunde gehen an dem langjam nagenden Gifte 
diejer. gleichſam ftaatlich fanctionirten Moralverwirrung, wie der große, allgemeine 
Deutichenhaß im individuellen Falle die Maske des jchönen und berechtigten Patrio- 
tismus abwirft und fich erbarmungslos ala die Furie zeigt, die allen Errungenfchaiten 
der Gultur ins Gefiht ſchlägt — das hat Robert? mit großer Energie aufgegriffen 
und zu gejtalten verfucht. Als guter Beobachter fennt er den Franzoſen bon heute, 
er kennt Paris, das dreifache Paris: das Paris der KHaiferzeit, das gebeugte, todes— 
matte Paris von 1870, deſſen Boulevardbummler in rheinischen Gejangenenzelten 
froren, fi) langmweilten und jchimpiten, und endlich das Paris, defjen erjtes wieder 
erſtarlendes Selbjtbewußtjein glaubt, im Rachegedanten fich erjchöpfen zu müſſen, ohne 
Bid dafür, daß gerade an diefem Gedanken noch Alles krank, Alles Fieber, Alles 
Bahnfinn if. Mit diefer ftarken Beherrſchung des -Stofflichen, des Untergrundes für 
die individuelle Tragödie, hält nun allerdings die dichterifche Kraft, die fich in dem 
Romane ausſpricht, nicht ganz Schritt. Wie mir fcheint, Liegt das nicht daran, daR 
Roberts etwa fein Poet wäre. Das hemmende Element liegt in der Feuilleton— 
ſchablone. Alle Fehler und alle Vorzüge derjelben beſitzt Robert?’ Schreibweife in 
höchſtem Maße, bloß, daß bei diefem Stoffe die fehler ftörender werden als fonjt. 
Das Buch ift, was man fo nennt, „leichtflüſſig“ gejchrieben, die Erpofition knapp, 
Har, das Intereſſe des Leſers aufs Lebhaitefte herausfordernd. Eine große Perfonen- 
fülle, ein ſehr eiliger Scenenwechjel, daneben lange Schilderungen und lange Reden 
ängjtlich vermieden, die Pointen jo zugeſpitzt, daß auch der bejchränktere Geift noth- 
wendig jehen muß, wo hinaus das Experiment will, wo die Kleinen Wendepunfte find, 
wo endlich der entjcheidende Umfchlag erfolgt. Nimmt man dazu eine gefällige 
Schreibweife, die niemals durch die Form zu glänzen verfucht, aber im Allgemeinen 
auch nie ftörend gegen die Geſetze feineren Stile verftößt; bedenkt man, daß ber 
Raum eines „franzöfiſchen“ Romanbandes nicht überfchritten ift, jo Tann man nicht 
anders jagen, als: die Fyeuilletontechnik zugeftanden, ift das Buch gut und erfüllt alle 
Regeln derfelben in ausreichendftem Make. Die Kehrjeite ift, daß alle diefe Erfolge 
im Schulgerechten auf den tiefen Stoff drüden und ein Mißverhältniß erzeugen, das 
feinen ganz freien Genuß zuläßt. Ein Stoff, wie diefer, forderte unvergleichlich viel 
mehr Raum; ex forderte ihn deshalb, weil das innere Leben, das eigentlich Piycho- 
logiiche, fonft nicht zur Geltung kommen konnte. Der Anfang täujcht den Leſer 
darüber weg, der Schluß zeigt, wie ſtets in folchem Falle, die begangene Sünde ganz 
fraß. Nur ein großer, bedeutender Aufbau, in dem Alles kryſtallklar noch in ganz 
anderem Sinne fich Herangliederte, hätte diefem tragischen Schluſſe die Wucht der 
echten Tragddie gegeben, die Wucht jenes im griechifchen Drama fo mächtigen 


158 Deutiche Rundichau. 


Zermalmtwerdens des armen Individuums unter dem Drude einer Schuld, die in den 
Verhältnifien lag, die ein ganzes Volk, eine ganze Zeit begangen und deren Blitz nun 
unerbittlich auch den Schuldlofen Fällt. Statt defien Löft fich diefer Roman mit einigen 
ſchattenhaft eiligen Scenen, für die gar fein Zwang mehr befteht, die ebenjo gut an- 
ders fein könnten, Gin Stoff, wie diefer, verlangte nach der Technik Alphonſe Dau— 
det’8, wie fie in den „Königen im Exil“ angewendet ift; dann hätte.der richtige Ab- 
ſchluß fich jchon von ſelbſt ergeben. Es ift Roberts dringend anzurathen, daß er jein 
prächtige Talent, feine gute Beobachtungsgabe nicht einer niedrigeren Technik opfern 
möge, die er vollkommen beherricht, aber eben deshalb wohl auch in der Folge über: 
winden und als Jugendſtufe hinter fich Laffen fann. Das Publicum wird ihm dieſen 
Rath nicht geben, im Gegentheil, es haſcht nach jenem leichten Feuilletonftil. Aber 
der Dichter foll bedenken, daß es eben feine Aufgabe ift, das Publicum zu erziehen 
und von den Irrwegen falfcher Erziehung zu einem Befferen binzuführen. Gerade 
weil ich Robert für eine jehr tüchtige Kraft Halte, Habe ich die Pflicht gefühlt, diejen 
Gefichtspunft jo fcharf zu betonen. Der unmittelbare Werth feines Buches, das hoch 
über vielen fteht, wird dadurch nicht Herabgefeßt. Ich wünſchte bloß, daß er uns 
noch mehr böte, hier nicht Halt machte, weil ich glaube, daß er das Zeug dazu hat, 
Größeres thatjächlich noch zu leiten. 

Manches von dem zulett Gefagten findet auch auf Zolling’s „Frau Minne* 
Anwendung. Für den Autor bedeutet das Buch in eriter Linie einen ſtarken Fort— 
fchritt gegen jeinen erften Roman „Der Klatſch“. Ein „Künftler-Roman“! Das 
flingt faſt altmodiſch. Und doch trägt das Buch ein durch und durch modernes Ge- 
präge, das in Verbindung mit dem alterthümlichen Titel den Gontraft von Alt und 
Yung in blendendem Lichte zeigt; ed erwächſt in jedem Zuge aus ber Nachfolge 
Zola's. Nun kommt Zolling allerdings nicht gegen Zola auf, wo Beide ala Rivalen 
auftreten in der Daritellung des rein Dtenjchlichen, in den Momenten, wo die Hand— 
[ung die volle Gluth der jchaffenden Seele ausathmen muß, wo der fühle Beobachter 
mit feinem Settelfaften verjchwindet Hinter dem aus dem Innerſten des Eigenen 
heraus geftaltenden Poeten. Die bedeutfamfte Leidenjchaftsfcene des Buches tritt 
zurück gegen inhaltlich geringere. Ander8 dort, wo der Roman in ruhigem Tempo 
dahinfchreitet, wo er in ähnlicher Weife, wie dad auch Zola für ſolche Stellen liebt, 
das einfache Referat dem dramatifchen Leben vorzieht und in großen Linien ein Bild 
der Berhältniffe malt, aus denen die individuelle Handlung entipringt. Dort kommt 
Zolling’8 Bedeutung zu ihrem Recht. Viele Seiten des ftarken, zweibändigen Wertes 
zeichnen ein umfangreiches, vielgeftaltiges Bild des Berliner Künftlertreibens. Bittere 
Wahrheiten werden bier in reichlicher Fülle vorgetragen, und die Dinge werden nicht 
falſch dadurch, daß fie gelegentlich ſtark Farrifirt find. Das Interefje des Stoffes be- 
herrſcht den Leſer volllommen, noch in höherem Maße ala bei Roberts. Mehr an 
bie Dichterarbeit heran greift die Schilderung überall da, wo fie mit ftarkem Local 
colorit Züge aus dem Bilde der Großftadt in ziemlicher Menge anhäuft, nicht ohne 
Glück im Einzelnen, bisweilen etwas erdrüdt von der Mafle des Materiale, etwas 
chaotifch, aber doch immer mit fehr viel Geift behandelt. Das Gefühl verläßt den 
Lefer nicht, daß man es mit einer ungemein forgjältigen, durchgefeilten Arbeit zu thun 
habe. Die Klippe, an der Roberts geftolpert, der Schluß, ift auch Zolling verderblid 
geworden. Bei ihm lag e& nicht daran, weil er nicht ſorgſam, nicht breit genug er 
ponirt hatte. Im Gegentheil: die Erpofition des Romans ift vortrefflich. Aber bie 
weitere Entwidlung in der Perfon des Helden hinkt, die große, echte Künftlernatur, 
die in Gegenfaß treten mußte zu den Fragen um ihn her, ift durchaus nicht mit der- 
jelben Energie durchgeführt, die der Gatirifer Zolling den fragen gegenüber bewährt. 
So wird der Ausgang nicht ein wahrhaftes Gotteägericht wie in Zola's Pœuvre, fondern 
er wirft den Vorhang jäh herab durch den Stoß eines mehr oder minder bedeutungalofen 
Zufall. Im Ganzen aber halten fich Vorzüge und Fehler die Wage, und Niemand 
wird leichtfertig einer jo ernften Arbeit den Werth abjprechen wollen. 


Wilhelm Bölſche. 


Literarifche Notizen. 


2. Meyer’d Konverfationd-Legifon. Vierte 
Auflage. Sechzehnter Band. Uralsk — 33. 
Leipzig und Wien, Berlag des Bibliographiichen 
Inftituts. 1890. 

Mit diefem fechzehnten Bande fteht das 
roße Wert vollendet vor uns, welches wir, feit 

Fra Beginn im Jahre 1885, mit unaus- 

ejegter Theilnahme begleitet haben. In dieien 
fünf Jahren hatten wir fo vielfach Gelegenheit, 
die Vorzüge diefer neuen Auflage darzuthun, 
daß wir unjrem früheren Lobe faum nod etwas 
hinzuzufügen müßten, wenn es nicht dieſes 
wäre, was uns freilich ald das höchſte Yob er- 
ſcheint: daß nämlich von allen vorher gehegten 

Erwartungen feine getäufht und das hoch— 

geftedte Ziel in Wirklichkeit erreicht iſt. In 

fünf Jahren faft täglichen Gebrauchs lernt man 
ein Hülfsbuch wie diefes fennen, und in voller 

Neberzeugung dürfen wir ausfpreden, dab wir 

in Meyer’ Konverjations-terifon ein encyllo- 

pädiihes Werk befigen, das in der Zuverlälfig- 
feit und Fülle des Materials, in der Solidität 
und Gediegenheit der Ausftattung — Papier, 

Drud, JUuftrationen und Einband — von feinem 

anderen des In- und Nuslandes übertroffen, 

von wenigen erreiht wird. Es ift eines von 
den Werfen, auf welches die Nation, die eö be» 
figt, ftoly fein darf und durch welches die uniere 
fiegreih in den Wettbewerb eintritt mit den— 
jenigen Ländern, welche bisher in Bezug auf der- 
artig ſumptuöſe Unternehmungen als die weit 
vorausgeichritteneren galten. In einem jolden 

Werke, wenn irgendwo, ipiegelt fih der ganze 

Zuwachs an Macht, Vertrauen und nicht 

sum Wenigften an Wohlftand, deflen Deutich- 

land fich erfreut; denn um es zu jchaffen und 
zu tragen, bedarf es der feften und geficherten 

Grundlage, die und nicht länger fehlt. Das 

Sedürfnih einer gehobenen Eriftenz, das unfere 

geſammte Lebensführung durddringt und auf 

allen Gebieten nad) den entiprechenden Formen 
verlangt, hat fich auch den Erzeugnifien unferes 


Buchhandels mitgetheilt; und in der That, Fein 


noch jo reich ausgeftattetes Bibliothelzimmer, 
dem dieſes Lerifon, in feiner modeften äußeren 
Erſcheinung, nicht ein Schmud wäre. Darauf 
allein jedoch ift eö weder berechnet noch be- 
ſchränkt. Es ift vielmehr beftimmt, in die breiten 


Schichten unſeres Volkes Wiffen und vernünf- 


tige Aufflärung zu tragen, es bei feiner geiftigen 
Arbeit zu unterftügen und zu fördern, ihm in 
allen Fällen, wo die eigene Fachkenntniß nicht 


fein; und wie der alte Meyer einft, vor fünfzig 
Jahren und mehr, feinem Berlag das feitdem 
berühmt gewordene Motto gab: „Bildung macht 
frei*, fo jehen wir das größte Verdienſt dieſer 
neuen Auflage darin, daß fie, an ihrem Theile, 
dazu beitragen wird, das Wort des erften Ur- 
hebers von Meyer's Konverjationd-Lerifon wahr 
au machen. 


159 


ey. Vifcher - Erinnerungen. Aeußerungen 
und Worte. Ein Beitrag zur Biographie 
Fr. Th. Viſcher's von Sie Frapan. Stutt- 
gart, ©. J. Göſchen. 1889. 

Fräulein Ilſe Frapan, welche den Leſern 
der rg Rundihau* Feine Fremde mehr 
ift, hat im ‚Januar 1883 an den großen Aeſthe— 
tifer einige Berfe aus Hamburg eingeſandt und 
ihn um fein Urtheil gebeten. Darauf erhielt fie 
am 23. Februar 1883 eine Antwort, laut welcher 
Viſcher in diefen Verſen „etwas Anderes fand ala 
das gewöhnliche Gezirpe; eigenes, aus erfahrener 
Wahrheit des Yebens gegohrenes und gereiftes 
Empfinden, fähig, im Anfchauungsbild ſich 
niederzulegen‘. Natürlid war das Fräulein 
über diefe Antwort beglüdt, reifte nad Stutt- 
gart, hörte Viſcher's Borlefung über deutiche 
Yiteratur des 19. Jahrhunderts und trat ihm 
allmälig perfönlih näher. Sie lernte Viſcher 
in feiner jchönjten, abgeflärteften, mildeften Zeit 
fennen, als einen Mann, welder, in hohem 
Sreifenalter jtehend, nichtS mehr für ſich ver- 
langte, jondern nur für Andere lebte, der mit 
ausgereiftem, erfahrungsreichem Geifte alle Höhen 
und Tiefen durddrang; fie ſah, wie er bei 
feinen nächſten Freunden die uneingeichränttefte 
Verehrung genoß, wie er die Freude und der 
Stolz aller jeiner Mitbürger war. Nun er feit 
Herbſt 1888 dahingeichieden ift, will fie ihn jo 
erhalten, wie er ihr erichienen. Sie weiß 
felbft, dab man ihre Schilderungen „iehr fub- 
jectiv“ finden wird; aber fie weiß auch, daß das 
in der Natur der Sache liegt und getröftet ſich 
deffen, daß, wenn das Bild zu glänzend, zu 
ſchattenlos erfcheint, fie doch nur J geſchildert 
hat, wie ihre Augen Viſcher ſahen. Mit be— 
geiſterter Seele hat ſie den bedeutenden Mann 
gezeichnet, wie er auf dem Lehrſtuhl, wie er im 
Haufe, wie er in der Geſelligkeit ſich darbot; 
und wenn man auch in der That ſagen möchte, 
daß gewiſſe menſchliche Schwächen, ohne weldye 


'ja fein Sterblicher ganz ſein kann, von der 





Enthufiaftin überfehen fein müffen, jo wird man 
doch an ihrer vortrefflihen und warmen Er- 
zählung feine volle freude haben. Wie reich 
Viſcher's Gemüth, wie liebenswürdig fein Humor, 
mie ernft fein Denken, wie ftahlhart fein Pa- 
triotiömus war, das tritt uns bei Ilſe Frapan 
in vielen intereffanten Ginzelzügen neu ent- 
gegen. Wenn das Bud ‚lie Seesen’ eine 
dritte Auflage erlebt — eine zweite ift ſchon 


i da —, fo follte S. 148 es jedenfalld heißen: 
mehr ausreicht, ein Lehrer und Berather zu | 


„Wir erinnern an Friedrich's des Großen furdt- 
loſes Erſcheinen unter den Defterreihern, nad) 
der fiegreihen Schlaht von Xeuthen,“ nicht: 
„Nah der verlorenen Schlaht von Kollin“; 
übrigens ift diefe ganze Geſchichte, welche Viſcher 
treffend „einen Beweis von der geheimnifvollen 
Macht der Größe“ nannte, jekt als Sage er: 
wiejen. Zur Sache thut das aber in diefem 
Zujammenhange gar nichts. 


160 


Von Neuigkeiten, melde ber Rebaction bis zum 
12. März zugegangen find, verjeihnen wir, näberes 
Eingeben nad Raum und Gelegenbeit uns 
vorbebaltenb: 

Adermann. — Schiller und Lotte, Eine Geſchichte ihrer 
Liebe. Bon Plarrer W. Adermann, Nena, fr. Mauke's 
Verlag (A. Schent). 

Aulard. — Recueil des actes du comité de salut 
publie avee la correspondance ofticielle des re- 
presentants en mission et le registre du conseil 


ex&cutif provisoire, public par F. A. Aulard. Tome 


deuxieme: 22 Janvier 1793 — 31 Mars 1793. Paris, & 


Imprimerie Nationale. 

Bayerische Bibliothek 12. Band: Ueber Lorenz 
von Westenrieder's Leben und Schriften. Von 
August Kluckhohn. Bamberg, Buchner’sche Ver- 
lagsbuchhandlung. 180. 

Behrmann. — Eine Maienfabrt durch Griechenland. 
Bon Georg Bebrmann. Hamburg, Lucas Gräfe. 1890. 

Beringuier. — Die Rolande Deutihlands. 
sur eier bes Bjährigen Beſtehens des Vereins filr die 


Geſchichte Berlins am 28. Januar 1890. Am Auftrage | 


des Xereins herausgegeben von Dr. jur. Richard 
Veringuier. Berlin, Berlag des Vereins für die Ge- 
PA Berlins. 1800, 

liothet Deutiher Geſchichte, unter Mitwirkung 
von D. Gutſch, E. Viühlbacher, Di. Manitius, X. Jaſtrow 
u. f. tw. herausgegeben von H. von Zwiebined: Südens 
borit. I. Abthig. König Friedrich der Große von Rein— 
bold Kofer. Stuttgart, J. G. Cotta'ſche Buchhandlung, 
Nachfolger. 1890. 

Bischoff. — Harmonie-Lehre von Kaspar Jacob 
Bischoff. 1.3. Lfg. Mainz, J. Diemer. 18%.: 
Bolte. — Der Bauer im deutschen Liede, 32 Lieder 
des 15.—19. Jahrhunderts nebst einem Anhange 
herausgegeben von Johannes Bolte. Berlin, 

Mayer & Müller. 1890. 

Bonghi. — In autunno. Su e giü. Del Ruggiero 
Bonghi. Milano, A. Paganini. 1890, 
Öttcher. — Die Verleumdungs-Seude, Aritiiche Plau— 
bereien über eine po Arantbeit von Karl Böttcher, 
Berlin, Brahvogel & Ranit. 

Brön La reforme de l’orthographie frangaise 
par Michel Breal. Paris. Hachette & Cie. 18%, 

Brehm. — Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre 
Vorträge von Dr. ©. €. Brehm, 1. %fg. Stuttgart, 
Unton, Deutſche Verla seleligaft. 1890. 

Caravelli. — Pirro Schettini e l’Antimarinismo, 
Studio del Vittorio Caravelli. Napoli, Tipografia 
della regia Universitä. 1889, 

Drudtowig. — Die Emancipationd-Shwärmerin. Luft 
jptet in fünf —— und dramatiſche Scherze von 

r. — lene Drustowig. Dresden, an. Petzold. 

Fagne — Dix-huitieme siecle, Etudes littsraires. 

1 _ Emile Faguet. Paris, H. Lecene et H. Oudin. 


Falck. — Art und Unart in deutſchen Bergen. Volts— 
3 in Reimen und Inſchrifren. Berlin, Herm. 
J. Meidinger. 

+. — Gejammelte Werte von Karl Frenzel. Eriter 
Band. Erinnerungen und Strömungen. Leipzig, 
Wilhelm Friedrich. 1890. 

— Die Erziehung ber beutihen Jugend. Bon 

Paul Güßfeldt. Berlin, Hebrüber Paetel. 1890. 

— Nah Dber- Ammergau. Wanderung zum 
Baffionsfpiel. Bon Alban von Hahn, Leipzig, Dtto 
Spamer. 18% 


Hansen. — Klaus Groth in zijn leven en streven als 
Dichter, Taalkamper, Mensch met reisverhaal 
en terugblick op de dietsche Bewegung door 
Dr. ©, J, Hansen. Antwerpen, L. dela Montagne, 


1889. 

SHehfe. — Dramatiihe Dichtungen von Paul fe. 
23. Bb.: Ein überflüffiner Menſch. Echaufpiel wel 
Alten von Paul Heyſe. Berlin, Wilhelm Herg (Beſſer'ſche 
— ———— 1590, 

Sehfe. — Ytalienifhe Dichter feit der Mitte des 18. Jahr: 

hunderts. ®d. IV. Lyriker und Boltsgefang. TDeutich 

Heyſe. Zweite Auflage. Berlin, Wilhelm 
Ser (Befler'ihe Buhbbandlung). 1889, 

Hirschberg, — Aegypten. Geschichtliche Studien 
eines Augenarztes, Von Dr. J, Hirschberg. Leipzig, 
George Thieme, 18%, 

Jeruſalem. — Lehrbuch der empirifhen Piydhologie für 
Gomnafien und höhere Yebranftalten, fowie jur Bolts- 
belebrung von Prof. Dr. Wilhelm Yerufalem, Zweite 
Auflage. Wien, A. Pichler's Wittwe & Zobn. 1890, 


von Paul 








Feſtſchrift 





Deutſche Rundſchau. 


ter. — Deutſche Redensarten. Sprachlich und kultur⸗ 
geſchichtlich erläutert von Albert Richter. Zeipsie, 

Xchard Richter. 1880 - 
berty. — L’Inconnaissable, sa möthaphysique — 
aris, Felix 


sa psychologie. Par E. de Roberty. 
ee 
Rosenberg. — Die Goldschmiede-Merkzeichen. 2 


Stempel auf älteren Goldschmiedearbeiten in 
Facsimile herau ben und erklärt von Dr. 
Marc Rosenberg. Frankfurt a,M., Heinrich Keller. 


1890 

abatier. — Die chriſtlichen Dogmen, ihr Weſen und 
ihre Entwidlung. Rede von Profeflor Sabatier, deutid 
—— von WRorig Schwalb. Yeipsig, Ouo 
18%, 


. €. Koppe. 


Regierung König Wilhelm 1. 
ei Hi — Aunſtdichtung. 


8 t 92: Die —— der —— 

on Lucian Mueller. Hamburg, lagsanſtalt und 
Druderei, A.“G. 1800. 

Sanders. — Aus der Bertitatt eines Wörter buchſchreibers 
Plaudereien von Daniel Sanders. Berlin, Hans 


Yüftenöder, 1889. 
Scala. — Die Studien des Polybios. Von Rudolf 
von Scala. I. Stuttgart, W. Kohl er. 18. 
aefer. — Die Unvereinbarteit bes ſocialiſtiſchen 
Hutunftsftaates mit der menſchli otur. Uns 


gehaltene Rede, der deutfhen Eoclaldemokratie ge 
widmet von Dr. ®. Schaefer, Zweite Auflage. Berlin, 
Hobert Oppenbeim. 1800. 

Scheffel · Gedenkbuch. Aus Anlaf der Gründung bes 
Scheffel- Bundes in Deiterreih herausgegeben vom 
Sceffel- Bund, Geleitet von A. B 
U. Hartleben’s Verlag. 1890. 

Schmidt-Gabanid. — Allerlei Humore. Komiſche No 
vellen und heitere Stiszen von R. Schmibdt-Cabanis, 
Dritte Auflage. Berlin, Dito Jante. 

1] — Der Litterarifchrgejellige Terein zu Diben- 
burg. Dentſchrift sum So jährigen utungsjehe Bon 
Auguft Shwarg. Oldenburg, Schulze' ſche Sofbuchhand⸗ 
lung (A. Schwarg). 1889. 

Sodnodty. — Epradfünden. Eine Blüthenleje aus der 
modernen deutſchen ri mug hg oe von Theober 
von Eosnosty, Breslau, Eduard Trewendt. 18%. 

Bilder und Landihaften aus aller 
t 75.76: TZrieft und feine nädfte Umgebung. ton 

sel Fiſcher. Zurich, Julius Laurencic. 1890. 
t . — Yubmwig XVI. und Marie Antoinette auf 
der Flucht nad Wontmedy i. J. 1791. Aus dem Rach⸗ 
laffe des Freiherrn Ernſt von Stodmar —— 
von Emil Daniels. Berlin, Wilhelm Hert (Beſſerſche 

zn ). 18%. 

ubel, -- Die Begründung bed Deutichen Reiches 
duch Wilhelm I. Bornehmlid nad den preußiſchen 
Staatsaften von Heinrih von Sybel, Dritter Band. 
weite unveränderte Auflage. Münden und Leipsig, 

. Oldenbourg. 18%. 

Trautmann. — Lehre vom Schönen, von Otto Traut- 
mann. I. Form, Ornament und Farbe. Dresden, 
Richard Bertling. 189. 

— Ter Zug der 10,000 Griechen bis sur 

Schwarzen Meer bei Trapezunt bargeftelt 

Von von Zreuenteld. 


er. Bim, 


Antunft am 
nah Tenophon's Anabafis, 
Naumburg a. S., Albin Schirmer. 1890. 

_ Das Empfindungsprincip und die Entftebung 
des Lebens. I und ll. Bon 3. G. Vogt. veipsig, 
Oscar Gottwald. 1889. 

Vogt. — Entftehen und Bergeben ber Welt, auf Grund 
eines einbeitliben Subitanzbegrifies, von J. G. Bogt. 
Leipzig, Oscar Gottwald. 188%. . 

Wanters — Stanley au seeours d'Emin-Pacha. Par 
A.-J). Wanters. Paris, Maison Quantin. 18%. 
Weltrich. — Friedrich Schiller. Geſchichte feines Lebens 
und Charakteriſtit ſeiner Werle. Unter kritiſchem Rad- 
weis der biographiſchen Duellen. Bon Richard Weltrich 


28. Stuttgart, Cotta’fhe Buchhandlung, Nachfolger. 
1889. 
Widmann, — Gemüthliche Geſchichten. mei Er 


äblungen aus einer fchweizerifhen Kleinſtadt von 
N B. Kidmann. Berlin, Gebrüder Paetel. I8W. 











“= 


Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Piererſchen Hofbucdruderei in Altenburg. 
- Für die Redaction verantwortlih: Paul Lindenberg in Berlin. 


Nigter Abdrud aus dem Inhalt diefer Zeitichriit unterſagt. Ueberſetzungsrechte vorbehalten. 





Bas Gottes Wille ifl. 


Schwäbiſche Dorfgeſchichte 
von 


Ilſe Frapan. 





Es war im Vorfrühling, aber ſchon linder Sonnenſchein auf dem ſchnell— 
fließenden Neckar drunten, und an den Bäumen der Berghalde ein grünlicher 
Schleier, gewoben aus den jungen hüllenloſen Knoſpen. Mit Bündeln von 
Schlüſſelbbumen und blauen Himmelſternen in den Händen kamen die Kinder 
daher; mit den Blumen in den Händen umftanden fie da3 Haus des Pfarr- 
bauern, aus dem eben der Sarg getragen ward, und ftareten mit ihren meit 
offenen blauen Augen auf den ihnen unverftändlichen Vorgang. 

Die Pfarrbäuerin war geftorben. Mit abgezogenem Hut und hängendem 
Kopf trat der Bauer aus der Hausthür; ihm folgten zwei Eleine Mädchen, in 
ihwarzen neuen Kleidern, die ihnen lang um die Füße fchlotterten. Die Aeltere 
hatte die Augen tief in ihr Tuch gedrücdt und folgte, ohne aufzufehen, mit 
blinden ungleihen Schritten dem traurigen Zuge. Die Kleinere weinte heftiger, 
wobei ſich der braume frauslocdige Kopf bald nad) rechts, bald nad) links wandte, 
bald rückwärts mit jpähenden Augen, wer noch fomme Bon Zeit zu Zeit 
rüttelte die ältere rau, die neben ihr ging, fie derb am Arm, fie zur Andacht 
zu ermahnen; dann nahm fie ſchnell das Tuch und jchrie jo laut Hinein, daß 
ſich jet dba, jet dort ein3 von den Kindern mit den Waldblumen auf die Zehe 
bob, um zu jehen, wer das thue. 

Als der Zug am offenen Grabe hielt und der Pfarrer herantrat, um mit 
beiwegter Stimme der Todten da3 Zeugniß nachzurufen, daß fie ein braves, 
frommes Weib geivejen, und daß fie ihre Kindlein zu früh habe verlafjen müfjen, 
da jah die Kleine den Wetter, nad) dem fie lange ausgeihaut, plößlih an der 
anderen Seite der Grube fich gegemüberftehen, und wie ihre Augen fi) be- 
gegneten, da Üüberfiel Beide jenes unwillfürlihe Laden, das Kindern bei feier- 
Iihen Gelegenheiten jo oft Strafe zuzieht. Mit einem zornigen Rud von der 
Baje Urjula ward Madele auf die Seite geftoßen; fie verbarg beihämt ihre Augen 
in den Rodfalten der Tante. Der lange Bub, der Raile?), erhielt von einem der 


1) Paul. 
Zeutiche Rundſchau. XVI, 8. 11 


162 Deutſche Rundidau. 


Träger einen ermahnenden Puff, daß er faft in die Grube gerutſcht wäre, und 
unter dem ftrafenden Blick des Geiftlichen ſich in feiner Verlegenheit auf alle 
Diere niederließ und aus dem Kreife hinauszufriechen begann. Plötzlich aber 
wandten ſich Aller Blicke auf die Aeltere, die, ald der Pfarrer geendet hatte und 
der Sarg aufgehoben ward, ſich mit lautem Weinen auf die ſchwarze Truhe 
warf und mit auögeftrediten Armen daran feitflammerte. 

„Mariele! Mädle!“ rief der Vater und riß fie am leide. Aber fie rührte 
fi nit. Da trat der Pfarrer zu ihr, berührte janft ihre Schulter und jagte 
mit faft zärtlihem Tone: „Laß Deine Mutter jchlafe, bis der liabe Herrgott 
je weckt.“ 

Das Mädchen hob den Kopf und ließ langjam die Hände los. „Komm',“ 
jagte der Geiftliche und führte fie an feiner Hand ins Ieere Haus zurüd. 

Das ift gewiß ein ſchweres Kreuz, wenn eine Mutter von jungen Töchtern 
wegſtirbt. Wie verwaifte Lämmlein liefen da3 Mariele und da3 Madele unter 
dem Gefinde umher, und die zehnjährige Jüngere fragte rathlos und verwint: 
„Wer gibt mer jezt mei Veichperbrot?“ als fei mit dem Verſchwinden der Mutter, 
der „Sorgerin“, zugleich alle Ausficht auf Speife und Trank dahin. Sie tröftete 
fich freilich jchneller als die dreizehnjährige Marie. deren ftumm und heiß fließende 
Thränen fein Brot und fein freundliches Wort ftillte. Ja, Brot gab e3 wohl, 
freundliche Worte nimmer. So arme Kinder verlieren leider gar zu oft den Vater 
mit; wenn er auch äußerlich jeine Schuldigfeit thut; — die natürliche Ver— 
mittlerin ift eben fort, und ein junges Mädchen denkt in einer ganz anderen 
Sprache al3 ein alter Bauer. Es fommt wohl auch vor, dat Vater und Töchter 
einander zuwachſen, wenn nämlich des Mannes Wachsthum noch nicht abgejchlofien 
war; beim Pfarıbauer in Hofen war joldh’ eine jeltene Weiterentwicklung nicht 
eingetreten. Die rau war nach jahrelangem ſchweren Siechthum verftorben; 
aber Halb gelähmt, wie fie auf ihrem Schmerzensbette lag, immer doch war jie 
die Seele de3 Haushaltes geweſen; fie dachte für ihren Mann, fie handelte für 
ihn durch jeinen Arm; ihr Wort war e3, da3 die Dienftboten zur Ordnung 
hielt; ihr treue Auge jah, wie es ſchien, durch Wände und Thüren; mit zittern 
der Hand ſchnitt fie no am Tage vor ihrem Tode den Kindern das Brot. 
Seit ihre ſchwache Stimme nicht mehr rief, ging der Bauer umher wie aus 
gewechfelt. Derjelbe Menſch, von dem es hieß, er habe die lange Krankheit der 
rau mit bewundernswerther Geduld ertragen, war nun, da er frei war, un 
wirſch den ganzen Tag, trug feinen Kummer unwillig, wie die ärgfte Zumuthung 
vom lieben Herrgott und hätte gern ben zweiten Tag wieder geheirathet, um 
nur nicht traurig jein zu müſſen. Nad Art harter Menfchen konnte er durdaus 
feine betrübten Mienen vertragen. Seine Aelteſte weinte ihm zu viel. Das 
zarte Gefichtchen mit der Flaren weißen Stirn und den tiefen Augen befam einen 
Yeidenden Zug, und diefer Zug ſchien ihm ein Vorwurf. Er hatte fein Weib, 
da fie gefund war und ſich dad Schwerfte auflud, oft genug geplagt, mit Jäh— 
zorn und Robheit ihren gebrechlichen Körper verjpottet — dann hatte fie ihn jo 
angejehen, wie ihn das Mariele anjah, als er, acht Tage nad) jeines Weibes 
Tode, mit einem halben Rauſch zum Mittageffen kam. Er zog die Augenbrauen 
zuſammen und jagte: 


Was Gotte! Wille ift. 163 


„Was iſch no?” und da ihr das Waller in die Augen ftieg, warf er den 
Löffel hin: „Ho! heut’ regnet’3 ſcho' wieder in d' Supp nei!“ 

„D' Supp iſch guet, dia ſchreibt fih von,“ jagte Mabdele und lächelte den 
Vater an. . 

Murrend nahm er den Löffel wieder auf, dann und wann einen unzu— 
friedenen Blick auf Mariele werfend. „Da guck 's Madele a’, des hat Auge 
wie e jong’3 Gaidle, jo thätſcht mer au beſſer g’falle,“ jagte ex zulekt, nachdem 
das Eſſen feine befänftigende Wirkung gethan. Mariele ſchluckte mühſam Suppe 
und Thränen hinunter, aber ihr Geficht lächelte nit. Sie blickte nach der 
Stelle, wo der Mutter Bett geftanden all’ die Zeit, von woher fie ihr die bleiche 
Hand entgegengeftredit, jo oft fie länger fort gewejen — fie jah ihre großen grauen 
Augen aus jener leeren Stelle an der Wand traurig und liebevoll herüberleuchten, 

„J han halt’3 Heimweh nad der Mutter,“ jagte Mariele, und ein troßiger 
Zug trat plößlich auf ihrem Geficht hervor, „'s ijcht ebe doch d’ Mutter gweſe.“ 

„Ja, je hat Dir älleweil de Kopf a’halte, aber jeſcht iſch gar!“ ſchrie der 
Bauer mit ſchwerer Zunge und ſchlug, ohne vet zu wiffen, warum, auf ben 
Tiſch, daß die Teller klirrten. „Jeſcht bin i do, mer könnt fafcht moine — —“ 
er jah fi wild um, griff dann nad dem Brotlaib, warf aber jogleidh das 
Mefler zur Erde. „Deiht au ftompf,” grollte er, „jchneidet’3 falt Wafler bis 
uf de Bode! Tür was hat mer uich!)! bloß fürs Efje?“ 

Marie lief mit ſchamrothen Wangen hinaus, um das Meffer zu wetzen, 
aber als fie zurückkam, war der Vater davon, und al3 er ſpät Abends heim: 
tehrte, war aus dem halben Rauſch ein ganzer geworden. 

In diefer Nacht träumte Mariele, fie jolle fterben, und fie jah ihr Grab 
graben und war ganz fröhlich dabei. Aber fterben konnte fie nicht; das Madele 
ihnedelte fich an fie hin und jagte: 

„Mutter iſcht no net do, muejcht ſcho' no warte.” 

Darüber erwachte fie und hörte ihrer Schwefter tiefe gleichmäßige Athem- 
züge neben fih. „3 ben froh, daß i mei’ Madele hab',“ murmelte fie. Die 
Kleine ftieß im Schlaf um fid) und drängte Marie mit ihren jpigen Ellbogen 
faft aus dem Bett. Ganz vorfichtig ftieg Marie über fie hinweg und legte ſich 
auf den leeren Pla an der Wand. Aber fie konnte nicht wieder einjchlafen; 
es war jo dumpf in der Hammer, und das fämpfende Schnardhen ihres Waters 
drang laut und läftig durch die dünne Wand des Nachbarraumes. E3 war faum 
dämmerig, die Leinen Scheiben dicht beſchlagen. Mariele jtieg aus dem heißen 
Bette, 320g Rod und Jäckchen an und jchlüpfte mit bloßen Füßen an die Haus— 
thür, Auf dem hellen Grau de3 Himmels flatterten zerrifjene Wolkenſtreifen, und 
bor dem lichtweißen Oſten ftand ein mächtiges dunkles Gebilde, groß, wie ein 
Riefenvogel mit weit gebreiteten Schwingen. Ihre Anie zitterten, wie fie darauf 
blite, unten der Fluß, das Wehr, die Ufer mit den Weinbergen lagen im 
tauchenden Nebel; Mühlhauſen am Nedarufer gegenüber ſchmiegte ſich wie eine 
ſchlummernde weißliche Herde um den Hirten, den ſchlanken Kirchthurm. Nur 
jenes große MWolfenbild jchien zu Leben, zu wachen; leiſe begannen ſich die 


1) euch. 
117 


164 Deutiche Rundichau. 


Schwingen von unten zu befäumen, filbern und ſchimmernd von der nod) ver: 
borgenen Sonne. Das ift der Adler des Herrn, fiel es plößli in ihre Seele, 
das ift dev Herr, der über und gewacht hat, über unfer Haus, unfer Dorf, aß 
es dunkel war. Andacht und Dankbarkeit durchichauerten das Kind. Zugleich 
aber überfam fie ein Gefühl des Ernſtes und der Verantmwortlichkeit. Die Kühe 
brüllten im Stall. Die Magd jollte aufftehen, füttern, dachte fie, ich muß fie 
tweden, das ift jet mein Geſchäft. Sie ließ die Augen umbergehen. Allerlei 
Geräth lag unordentlich auf dem Boden oder Iehnte jo an den Eden, daß man 
darüber fallen Eonnte. Die Melkkübel ftanden ungeicheuert; der Düngerhaufen 
war zerfragt und über den halben Hof verftreut. Der Anecht ift faul, der Vater 
jollt’ ihn zanken, dachte fie. Dann aber bejann fie ſich nicht länger, ſondern 
ging in den Verſchlag neben dem Stall und klopfte die Magd auf die Schulter: 

„Auf, Hanne, De jchloffcht, glaub’ i, bis d' Rueh en Babe gilt!“ 

Die Magd riß die verichlafenen Augen auf und ftarrte: 

„8 iſt jo no halbe Naht!” gähnte fie, „was willicht von mer?“ 

„Auf jollicht, füttere, '3 iſcht Zeit,“ wiederholte Marie beftimmt, und ihr 
ernithaftes Geficht belehrte die Magd, da in diefem Augenbli eine neue Herrin 
in dem verwaiften Haushalte erftanden war. 

Als der Herr Pfarrer feinen Morgenfpaziergang anhob, den er zur Inter 
ftüßung einer Brunnenkur alltäglich machen mußte, jah er beim Nachbar, dem 
Pfarrbauern, ein ungewohntes Armſchwingen. Mit zornigem Gefiht ftand der 
Jäckle unter den Mifthäufen und rechte und jchaffte, daß es eine Art batte 
Und an einer Biegung des Wegs, vom Walde her, kam das Mariele gefahren 
mit einem hochbepadten Karren voll jungem Futter; mühſam 309 fie, mit 
feuchender Bruft; auf der Stirn ftanden Schweißtropfen, aber da3 ganze glühende 
Geſichtchen athmete Selbftzufriedenheit und Arbeitseifer. 

„Du biſcht früah dra, Mariele,” lobte der Geiftliche, „des wird em Vatter 
recht ſei'.“ 

„Er iſcht geichter Nacht miteme“ — fie erröthete noch tiefer und verſtummte. 

„Du wirſcht ihm bald eine rechte Hülfe werde,“ fuhr der Pfarrer freundlich fort, 
und jein Lächeln drang der Kleinen wie ein warmer Vatergruß ins Herz. Groß 
und vertrauendvoll ſchlug fie die Augen zu ihm auf und jagte mit bebender Stimme: 

„Er hat g’jagt, für was mer es!) häb, ob mer e3 bloß für 's Eſſe häb.“ 

Das Geficht des Geiftlichen verfinfterte jich wie von einer widrigen Empfindung. 

„Das gefällt mir nicht,” ſprach er tadelnd, „ein Kind ſoll nicht über jeinen 
Vater klage.“ 

„Rei,“ murmelte Marie, und die Hingebende Zutraulichkeit verſchwand aus 
ihren Zügen. Mit einem fcheuen Seitenblid machte fie Pla, um den Herrn 
Pfarrer vorbei zu laſſen, der, ſich noch einmal nah ihr umſehend, langjam und 
manchmal den grauen Kopf jehüttelnd, feinen Spaziergang fortjette. 

Während dann die Mädchen in der Schule waren, traf e8 ſich, daß ber 
Pfarrer abermal3 am Nachbarhofe ftehen blieb und endlich den Bauern zu fid 
twintte, dev mit gerötheten Augenlidern und jchwerer Stirn ſich die Nachtnebel 
am Brunnen abzuſpülen bemühte. 





I) una. 





Mas Gottes Wille ift. 165 


Es war ein furzes Geſpräch, zu dem ber Bauer nicht viel beitrug. Ein 
paar Mal erflang die Stimme des Geiftlichen jcharf und eindringlich, ſonſt ward 
die Rede halblaut geführt. Auf dem derben fonnverbrannten Gefiht Deininger’3 
lag ein ohnmächtiger Troß, als er losfam. Nach diefem Geſpräch ging er nicht 
wieder ins Wirthshaus, aber jeine Aeltefte befam oft genug böſe Blicke, und die 
Kluft zwiſchen Bater und Kind erweiterte fi) immer mehr. 

Trotz Fleiß, Sparjamkeit und Bravheit wär's ein unfrohes Haus getvejen, 
ohne das muntere Madele, das fürs Lachen und Neden ſorgte. Sorglos wie 
ein Eichhörnchen, dem die Nüffe alle Tage nachwachſen und das fein Wind vom 
Baume ſchüttelt, wie ungeftüm er auch bliefe, hüpfte fie im Haufe herum, und 
ihr Zünglein war ftet3 ebenfo geſchäftig wie ihre ſchlanken Beinchen. Weil aber 
da3 Mariele bei der Arbeit nicht gern ſchwatzte, das Gefinde oft wüfte und zu= 
widre Antwort gab, jo plauderte fie den ganzen Tag mit Allem, was ihr jonft 
in den Weg kam, e8 mochte antworten oder nicht. Sah fie das Mohrle behaglich 
an einem alten Knochen nagen, den er nad) feiner neidigen Spißerart jchon dreimal 
eingejcharrt und immer twieder hervorgefragt hatte, jo ftellte fie fich ſogleich, als 
wolle fie ihn dieſes koſtbaren Schafe berauben, indem fie jchmeichelnd und 
drohend rief: 

„Komm’, Mohrle, des Bor!) mueß quet jei, geb mer’, fomm’, 's g’lujcht?) 
mi ganz derno’.” Wenn dann der Spih in eine grollende fnurrende Wuth gerieth, 
zähnefletfchend mit dem ganzen Leibe feinen Knochen deckte, oder ganz außer ſich 
gebracht, mit ohrzerreißendem Gebell an ihrem Röckchen riß, dann ftanden dem 
Madele vor Lachen die Thränen in den Augen, und fie hielt ſich mit beiden 
Händen das Bäuchlein feft, damit e3 nicht plaße. 

Schmiegte fich die Kate ſchnurrend in die Ofenede, jo rief ihr das Madele 
ipottend zu: „Du, Kätzle, biſcht e faule Her! ſpennſcht de ganze Tag und s geit?) 
doch fein Fade!” Oder fie ftrih ihr mit den Schelmenhändchen von hinten nad) 
vorn über den entſetzt ſich fträubenden Katzenbuckel und fchrie: „Um Alles! Hafcht 
du aber graue Hoor Friagt!“ 

„So red’ doch net jo domm derher, d’ Hab iſt jo von Natur grau,“ ſagte 
Mariele, halb verwundert von ihrem Strickſtrumpf aufſehend. Dann nickte 
Madele bedeutſam und flüſterte mit einem Blinzeln nad der Verſpotteten: 
„Weiſcht Mariele, i will je jo no*) e bifile ärgere!” 

Ein ander Mal hörte man ihre helle Stimme im höchſten Zorne rufen: 
„Ha! uverfhämt! Du mueſcht Hi ſei! do ſiehſcht, jeſcht biſcht ſcho' e kalte Leich.“ 

„Was haſcht no wieder?“ fragte die Schweſter. 

„D' Schnoke! aber i hans verwiſcht, dia hat auskämpft!“ und Madele ſog 
mit Triumph an der gebiſſenen Stelle. 

Ja, das Madele war ein friſches luſtiges Ding, und auch der Herr Pfarrer 
Hatte ſeine Freude an ihm, wenn es gleich einem knoſpenden Röslein ihm über den 
Zaun guckte und immer eine Gelegenheit erſah, ihm ſelbſt oder ſeiner guten Frau 
einen kleinen Dienſt zu erweiſen. Ihre eigenen Kinder waren erwachſen und 
nicht mehr daheim, da gefiel ihnen die lachende Kleine doppelt, und gern ließ 





) Knochen. 2) gelüſtet. °) gibt. +) nur. 


166 Deutſche Rundſchau. 


die Frau Pfarrerin ſie neben ſich herlaufen, wenn ſie in den Wald ging. Madele 
wäre zwar lieber nach Cannſtadt gegangen, im Walde war's ihr faſt langweilig; 
aber ein bischen ſchwatzen durfte fie doch hier, und das Mariele daheim fand 
ihr ftet3 eine Arbeit, der fie jeßt entfam, denn ein Spaziergang mit der Frau 
Pfarrerin hob alle Verpflichtungen auf. Unterwegs mußte fie dann wohl Obadt 
geben, daß fein Thierlein durch ihre Füße beſchädigt werde. Alle Augenblide 
hieß 8: „Madele, ’e Schned!” und der Zeigefinger der Pfarrerin deutete bald 
hier⸗, bald dorthin. Dann faßte das Kind mit vorſichtigen Fingern den Schned 
um ben Leib und feßte ihn ins Gras auf die Seite. 

„Sieh' z'erſcht zua, wo er hi’ will,“ ermahnte die Pfarrerin, „wohi' feine 
Hörnle ftehe, do will ex hi’, gib Obacht.“ Zuweilen aber zog die Schnede bei 
der Annäherung der Finger jogleih die Hörner ein, dann fauerte fid) Madele 
daneben auf den Boden und fang: 

„Scyned, Schned, komm' heraus! 

Etred beine lange Hörnle raus, 

Ober i werf di ind Brunnehaus!* 
und das fo lange, bis der Schned gehorchte; aber wenn's nicht bald geichab, fo 
ward fie böje und xoth und jchrie ihren Reim fo laut durch den Wald, daß bie 
rau Pfarrerin fie zanken mußte: „Geh, net jo wüeſcht, do wachet jo alle Vögel 
im Neſcht auf.“ 

Dann ward fie ganz ftill, denn die Neftoögel waren ihr jo eine Art kleine 
Kinder, und Kleine Kinder liebte fie über Alles und konnte fie Hätjcheln und 
pflegen, daß die Mütter im Dorfe fie ihr gern anvertrauten. Sie war Jeder— 
mann gefällig, vor Allem den Nachbarn im Pfarrhaus. Wann die Magd nicht 
daheim, wie war's allemal jo geſchickt, das Madele nah Werken zum Bäder zu 
ſenden. Wann ein Wäfcheftüc vom Seil herabgeflogen war, gleich ftürmte das 
flinte Kind hinterdrein, e8 wieder einzufangen, und die Pfarrerin bemerkte wohl: 
gefällig, daß fie den verwehten Schurz zuvor brav im unten fließenden Nedar 
fpülte, wenn er auf dem regenmweichen Boden etwa ſchmutzig geworben. 

Marie, die jchweigend, jo gut fie es vermochte, die Führung des Haushaltes 
übernommen, hätte zwar erzählen fünnen, daß die Kleine daheim nicht jo über: 
mäßig dienftbereit jei, aber ihrer ernfteren Gemüthsart erfchien Madele noch weit 
jünger als fie war; ganz allmälig rüdte Marie in die Stelle ber jorgenden 
Mutter, au) Madele gegenüber. 

„Ja, dia!” fagte Madele, wenn der Lehrer in der Schule fie tadelte und 
ihr Marie ald Mufter der Aufmerkſamkeit aufftellte. Sie war ganz verwundert, 
daß man ihr zumuthen könne, jo ernfthaft wie „Dia“ zu fien und in das 
Geficht des Lehrerd zu blicken mit den ſchwärzlich-rothen Bartftoppeln, dem 
gefträubten Haar und der zufammengegogenen Stirn, das fie ſchon längſt auf 
wendig kannte. Wenn fie dem Schulmeifter auf feine Frage eine Antwort wußte, 
dann ftotterte das jonft jo jchnelle Zünglein mit weinerlicher Entſchuldigung: 
„J ben 3’ unkeck gwe, han 's net möge ſage.“ Der rechte Grund aber war, 
dab e3 draußen vor den Fenſtern viel hübjchere Dinge zu jehen gab als das Gefidt 
des Lehrers und das ABC und Einmaleins, und viel Reizenderes zu hören ald 
feine langgedehnten Wörter, die er gar jo beängftigend deutlich ausſprach. 


— 


Was Gottes Wille ift. 167 


Kamen nit immer am Schulhaus die Hochzeitäzüge vorüber, wenn fie in 

die Kirche fich bewegten, mit Bläjfern und Geigern? Wenn Madele nur einen 
Blick auf das Kränzlein der Braut oder auf die Silberfnöpfe bes Bräutigams 
hatte werfen dürfen, jo fam fie voller davon nad) Haus, ala wenn fie alle Bücher 
der heiligen Schrift jammt allen Namen der großen und Kleinen Propheten aus» 
wendig gelernt hatte. 
Es iſt begreiflich, daß das Madele bei ihren Kameradinnen jehr beliebt war. 
Kein Streich konnte ausgeführt werden ohne ihre Beihülfe; fein Spiel war voll- 
ftändig, wenn fie fehlte — ihre Arme waren zwei jo bequeme Henkelchen, in die 
man fih gern Hineinhängte, man ſah fie faft niemal3 allein gehen. „Em 
Piarrbaure jei Mariele!“ fjagten die Nachbarn und fügten mit hochgezogenen 
Brauen hinzu: „Deſcht emol e Schaffige*), deicht eppes Solids.“ 

„Em Pfarrbaure ſei Madele," da verzogen ſich alle Gefichter zum Lächeln, 
obgleid man nichts zu ihrem Lobe zu jagen wußte. Ya, geachtet war daB 
Mariele, beliebt nit. „'s Annemärgele,“ jagten die Mädchen, wenn fie mit 
ihrem ernften, ftill nachdenklichen Geficht vorüberging; ſprach man fie an, jo 
ward fie ſchnell freundlih, aber fie gab Beſcheid, und dann ging fie weiter, 
wußte nicht zu ſchwatzen, wußte nie was im Orte geihah. Vor lauten Auf: 
tritten, Marktlärm oder gar Schlägereien, floh fie mit mehr Mißbilligung als 
Angft; in früher Eatholiicher Zeit wäre fie vielleicht mit vierzehn Jahren ins 
Klofter gegangen. Sie war wie erdrüdt von Verantwortlichkeit, der Sorge für 
Haus und Feld; der Vater hatte nur Zeit und Gedanken für den Weinberg, der 
in vortrefflicher Lage an dem heißen Nedarufer faft Jahr für Jahr einen ganzen 
Herbft gewährte, aber auch unabläffige Sorgfalt verlangte. Der Krautgarten, 
Kartoffelland, der türkifche Weizen, und ein kleiner Ader Roggen, weit draußen 
nah Fellbach zu gelegen, blieb ganz Marien überlaffen und der Hanne; jelbft 
den Knecht gab der Vater faum dazu her. Dabei lebten fie ärmlich; geizig 
legte der Bauer Erjpartes zum Erſparten, ſchränkte die Ausgaben ein; Fleiſch 
gab’3 faum am Sonntag; eine große Schüffel Salat, eine geftandene Milch und 
Brot — dazu Mojt ald Getränk, jo war er den ganzen Tag zufrieden, fein 
braumer, zäher, ausgedörrter Körper verlangte nicht mehr — alſo mußt’ es auch 
den Anderen recht jein. 

„Gebt Acht, dab ſich das Mariele net 3’ arg abſchafft,“ jagte der Arzt 
zum Pfarrbauern, als er ihn einmal im „Stern“ antraf; „fie ift 3’ bleich und 
hoch aufg'ſchoſſe, und je hab’ oft jo args Kopfweh, hat fie mir q’jagt.“ 

„Morgerege und Weiberwai 
Send um zehne nimmemai,“ 
late der Bauer, den Kopf wiegend. 

„3 könnt ihr gehe wie Eurem Weib jelig,“ fuhr dev Doctor unbeirrt fort, 
„die iſcht au jo z' Grund gange.” 

„Arbeit iſcht g’jund,“ jagte der Bauer voll Ueberzeugung, „do jehe Se mi a’,“ 
und er juchte jeinen krummen Rüden aufzureden. 

„Ein jungs Mädle iſcht aber 'was Anders!” jagte der Arzt und nahm 
verdrieglih die Zeitung auf. 


’ Arbeitfame. 


168 Deutſche Rundſchau. 


„Deſcht ebe der Fehler. J hau en Buaba g'wöllt! Zu was hat ſe mer dia 
Mädle' derherbrocht? J han immer e Daule!) vor jo viel Mädle' g'hett.“ 

Die Gäſte lachten, der Arzt aber rief zornig: „Deſcht mer z' dumm, 's iſcht 
e wahrs Wort, neif?) Ochſen und ean Bauer ſend zeha Stück Rindvieh.“ Damit 
ſtand er auf, um zu gehen; aber nun war auch der Weingärtner giftig geworden: 

„Beſſer bäuriſch g'fahre als herriſch g'loffe,“ ſchrie er hitzig, und dann nad) 
einer Weile, obgleich der Arzt ſchon fortgegangen: „Wemmer mit em Maul 
ſchafft, wie der Herr Doctor, no iſcht's Lebe freili e Kinderſpiel.“ Ein beifälliges 
Gemurmel beantwortete dieſen Ausfall, dann aber ließ ſich doch Einer oder der 
Andere mit einem Vorſchlag hören. 

Am nächſten Sonntag wanderte der Pfarrbauer zu ſeinem Schwager nach 
Fellbach hinüber, zu dem Bärenwirth und Vater des Paul und noch drei anderer 
Buben. Und am Dienſtag kam der Paile herüber und führte auf dem Kopfe 
einen kleinen Koffer daher, und der Pfarrbauer ſagte zum Mariele, das große 
Augen machte: „Der bleibt jetzt do, richt em ſei Bett in mei'm Kämmerle.“ 

Madele drehte ſich vor Vergnügen auf dem Abſatz, als fie das hörte; fie 
lief Marie in die Kammer nach und ſchrie: „Jezet, wann i mit em Paile Käs 
b’jeh®), no lacht er alei, bei Div mueß i immer de Afang made.“ 

63 zeigte ſich indeß, daß der Paul nicht herberufen worden, um mit Madele 
zu fpielen, fondern um dem Vater den Buben zu erſetzen, den ihm jein Weib 
Thuldig geblieben war. Gern Hatte der Bärenwirth feinen ſtämmigen, ſtroh— 
blonden Xelteften nicht hergegeben, aber der Bauer hatte jo manchen Ueberredungs— 
grund geltend gemadt. „Was denkicht au, Urſchi, jo viar Pandure, de freffet uich 
de Nas und d’ Obre ab.” 

Urſchi war Paul's Stiefmutter, die drei anderen Buben gehörten ihr; zivei 
davon waren ſchon mit in die Ehe gefommen. Es war nicht zu leugnen, da 
fie einen gewaltthätigen Hunger mitbradhten, jo oft e8 zur Mahlzeit ging, und 
zumal der Paile af nad Urſchi's Meinung faft ftraffällig. „'s wird koi Freſſer 
gebore, er wird derzue erzoge,” pflegte fie zu jagen, und ihre runden, ſchwarzen 
Rollaugen blickten unmillig auf die mächtigen Ranken Brot, die der Stiefjohn 
herunterfchnitt. Wer wird auch einen Buben jo ein großes Schnappmeffer im 
Hoſenſack tragen laſſen! Es Hatte ſchon Händel gegeben um das Mefjer, da3 
Paul jorgjamer wijchte und pußte als jein Geſicht — Lieber hätt’ er's verſchluckt, 
al3 es aus den Händen gegeben. 

ALS der Pfarrbauer die Urſchi feinem Vorſchlage jo geneigt ſah, Hatte er 
den Bruder bearbeitet. Das war ſchwerer. Die ſchwarzen Strobelköpfe, die feine 
zweite Frau ihm zugebradht, konnten fi an Kraft und Stämmigfeit mit dem 
Paul nicht meffen. Aber was that man nicht des häuslichen Friedens halber! 
Urſchi bohnte und mwühlte für ihre Kinder, für die es einmal bei der Erbtheilung 
ihmal hergeben konnte. Nun bot fich hier für Paul eine vortreffliche Ausſicht. 

„Dei’ Bua nemmt mei’ Mädle, 's Mariele,“ fagte ihm der Schwager, '3 
Weib hat's au g’jagt, uff em Todtebett; 's Madele zahlt ex 'naus, no wird * 
Güetle ſei' Eigethom, wemmer emal mit unfere Boiner*) Nuß 'raſchmeißt.“ 


1) MWiderwillen. 2) neum. °) fehen, wer zuerft lacht. + Knochen. 


Was Gottes Wille ift. 169 


„sa’ jei, daß D’ wieder heirotheſcht,“ meinte der Andere lauernd. 

„, nemme! i han g’nug vom Wehſtand,“ wehrte der Bauer. 

Und jo war's richtig gemacht worden, und Paile war von jeinem Vater 
unterrichtet worden, weshalb er nad) Hofen zu gehen habe. 

Der Burſche ging nicht ungern, obgleidy er mit den Stiefbrüdern qut Freund 
war und jeßt unter das MWeibszeug mußte. Er war der zweiten Mutter im 
Wege, da3 fühlte er, wenn fie ihm auch feine böjen Worte gab. Und dann — 
mit einem Mädchen fich abzugeben, das einmal feine Frau werden und ihm ein 
ihönes Gut mitbringen jollte, dad war auch faum ehrenrührig. Als er nad 
Hofen fam, ſah er Alles ſchon mit dem Blick des zukünftigen Gigenthümers, 
au dad Mariele, das ihm ganz wohl gefiel, weil «3 fo ſchlank und ernfthaft 
ausſah, al3 könne es Schon jeden Tag heirathen. Vorläufig war e3 erſt vierzehn 
Jahre und ein halbes, und die Konfirmation ftand vor der Thüre. 

„Du, weiſcht no, wie — n — i doz'mol uf de Kirſchebaum ben?“ fragte er 
fie, als fie Abends vor dem Haufe jaßen. 

Mariele nidte, und dann erzählten fie'3 dem Madele, das nicht mit dabei 
gewejen, jondern noch tief unten im Brunnen gejchlafen hatte. Vier Jahre alt 
war der Paile gewejen und in Hofen zu Beſuch mit ferner Mutter, die damals 
noch gelebt hatte. Da bat man zu Mittag die Kinder gerufen, ihn und da 
dreijährige Mariele, aber nirgends find fie gewefen. Zuletzt fommt die Mutter 
in die Kammer, da Liegt der Bub in Moriele'5 Bett, und das Mariele fitt 
davor und fagt fein Wort. „Was iſch mit em Büeble?“ ruft die Mutter 
aͤngſtlich herbeiſpringend. 

„Er Hat Weh,“ jagt Mariele, „i han en recht ei'butſcht“). 

Da ſieht die Mutter dem Paile ſein Händchen an, das ſchmutzig auf dem 
diefen Deckbett liegt und etwas gepadt hält — e3 find drei Kirſchen an einem 
Stengel. 

„Mariele,” jchreit die Mutter, „ſag wo iſch's Büeble gwe?“ 

„Gr hot brot?) und i han g’lefe”, jagt Mariele und zeigt unters Bett; da 
fteht unten ein ganzer Korb voll Kirſchen. 

Madele klatſchte in die Hände. 

„Aber 's Beſte vergiſcht,“ jagte Paile jelbitgefällig, „mei Arm iſcht broche 
gwe, aber grillt?) han i net. Mei Muetter hat mers oft verzählt, wie — n — i 
d' Kirſche net Losg’laffe han mit der rechte Hand, beim Herr Doctor.“ — 

„Hat je Dir au verzählt, wie der Doctor g’jagt hat: ‚Thon Se no dem Buab 
d' Hoje recht ſpanne, fonft fteigt er feim Vatter bald de Hopf 'nuf?‘“ fragte 
Marie nedend. 

Paul überhörte diefe anzüglichen Worte ganz. „D’ Kirche jend fei’ give,“ 
jagte er nachdenklich, und mit Kennermiene fügte er Hinzu: „Friſch jend je immer 
am befte — aber jo Mäbdle, die fommet jo net uf d' Bäum 'nuf.“ 

„Wer net auffi Erebjelt, fällt net abi,“ lachte Marie, aber der Bub war 
nm auf fein Lieblingsgeſpräch gefommen und fuhr gemächlich fort: 


) zugebedt. 2) gepflüdt. 3) aufgeichrien. 


1709 Deutiche Rundſchau. 


„Mei Batter jegt’3 au, 's ifcht e Kreuz, jo e Mädle 3’ ſei. E Mädle und 
e Kuah guckt bloß zua. Uf d' Baum 'nuf fommet ex!) net, reite fennet er net, 
adere fennet er gar net — i möcht no au wiſſe, z'was d' Mädle uf der 
Melt fend.“ 

Mariele jah einmal auf, al3 wolle fie etwas jagen, fenkte aber die Augen 
gleich wieder auf ihr Geftrid. 

Madele jprang auf und rief dem Mohrle zornig zu: „Haſcht recht, Mohrle, 
beil’ en fei’ a’, den dumme Buaba; gelt, 's iſcht e Tropf?“ Und fie reizte ben 
Spiber, daß er bellend losfuhr. Dabei ward fie immer röther im Geficht, fie 
ballte die Hände und trampelte mit den Füßen, rollte die Augen und jeufzte 
dabei, daß ſich der Vetter halbtodt lachen wollte. 

„Recht jo, Madele, geh’, mad) e Zörnle!“ jchrie er; „'s freut mi jo arg, 
wenn De 's machſt.“ 

Plöklih fuhr ihm ihre derbe Heine Hand in die Haare umd zaufte aus 
Leibeskräften. „Do fiehſch, für was d' Mädle do jend!” fchrie fie mit großer 
Unerſchrockenheit. 

Paul blieb vor Verwunderung ſtarr ſitzen und ſchüttelte nur ein bischen 
den zerrauften Hauptihmud, als die empörte Kleine ihre Hand zurückzog. 

„Du biſcht e Wetterhex,“ jagte er noch immer erftaunt; „aber i woiß ſcho 
fo e kloi's Häfele lauft bald über.“ 

„seine Leut jend au Leut,” gab Madele ſchlagfertig zurüd. 

„J geh 3 Nachteffe richte,” ſagte Marie aufftehend, „do werdet er ſcho, 
Friede ſchliaße, bei der Supp, dent i.“ 

So geſchah es denn auch, aber am anderen Tage begannen die Händel von 
Neuem, und e8 ſchien, daß die Beiden recht Gefallen daran fanden. War Marie 
nicht dabei, jo fanı e8 wohl gar zum Schlagen; Paile hatte jeine erfte Ber: 
wunderung abgeftreift, und wenn” er auch nad) jeiner Meinung nur zum Scherz 
zubaute, jo blieb doch oft ein rothes Mal auf dem braunen Arme des Bäsleins. 
Sie achtete das wenig, wenn ihr auch der Schmerz im erften Augenblide Thränen 
in die Augen trieb; Paile aber war grob genug, fie mit diefen ruhmvollen Denk: 
zeichen zu neden. 

„Moje?) haſcht, daß mar 's nemme zähle ka',“ fpottete er, fie an den Zöpfen 
zerrend. Marie war in die Stunde?) gegangen, und die Zwei in der Stube allein. 

Madele lachte unbefümmert: „'s vergeht ſcho, bis i heirath.“ 

„Bis Du heirotheſchtſt?“ der Bub riß die Augen auf, „ſo dumme Maͤdle 
heirathet mer net!“ 

„So dumme Buabe gar net,” rief fie eilig. 

„0, jo? J kriag 's Mariele.” 

„Und wen kriag i?” fragte die Kleine Ängftlih und erwartungsvoll. 

„Du? Du kriagft ner!” ſchrie Paile mit beleidigendem Gelächter, „Du wirft 
'n alte Jongfer!“ 

Madele jah ihn zu Tode erfchroden an, ihre Unterlippe zitterte heftig, um- 
fonft wehrte fich der trogige Kleine Mund gegen das Schluchzen. Dann lief fie 


1) ihr. 2) Mäler. 3, Gonfirmandenunterridht. 


Was Gottes Wille if. 171 


zu der Wandbant am Ofen, ſetzte fich hart in die Ede, zog die kleinen Knie 
hoch herauf, mwidelte die Hände in den Schurz und verharrte fo, ein Bild ftiller 
Verzweiflung. „Der Zorn bringt mi faſcht om,” murmelte fie. 

Der Better fchnipfelte pfeifend mit feinem vielgeliebten Schnappmefjer an 
einem Holzipahn und fah ſich gar nicht um. Endlich hatte er fich in den Finger 
geſchnitten und hielt ihr die blutige tröpfelnde Wunde ganz nahe unter bie 
tummervollen Augen. 

„Haſcht net jo e leines Läpple? bloß e kloi's.“ 

Das Kind ſprang jogleih auf und juchte nad dem Verlangten. Endlich 
reichte ſies ihm mit abgewandtem Gelicht. 

„Haſcht net au en Trade, Madele?“ 

Sie widelte ihm das Läppchen um den dargebotenen finger und band auch 
den Faden feſt darum. Dabei mußte fie ihre verweinten Augen zeigen. 

„Biſcht e recht's Weibsbild! Weibsbilder müchet immer greine,“ jagte Paile 
gefühlvoll, und al diejer Troſt feinen Erfolg zu haben jehien, jchlug er fie er— 
muthigend auf die Schulter: „Grein’ net, Madele, i nemm uich älle Zwoi!“ 

„Was läßt Der träume, zwoi Frauft, des geht net,“ jagte die Aleine traurig. 

„Bei de Türke gehts jcho’; d’ Türke treibe nämlich Wielweiberei,“ berichtete 
Paile mit belehrender Miene. 

Ueber Madele's rofiges Geſichtchen flog ein Hoffnungsftrahl. Den Finger 
an die Lippen gedrückt, jah fie ihn nachdenklich an. 

„J werd e Türk,“ fchrie Paile, begeiftert von feinem eigenen Einfall; „no 
fa’ mer fo viel Weiber nemme al3 mer will. J nemm zwanz'g Stüd, fa’ ſei', 
oder meh.“ 

Da aber verwandelte ſich Madele's Bekümmerniß in plößlichen Zorn. „Ha, 
deiht e Schand,” eiferte fie, „jwanz'g Weiber iſcht e Schand.“ 

„Wann i jcho’ emal e Türk werd, no will i '3 au recht werde,“ prahlte 
der Bub, und Madele mußte fi mit der traurigen Ausficht zufrieden geben, 
daß fie einmal eine von Ziwanzigen fein werde. 

„En alte Jongfer, wo ganz ledig ifcht, deſcht no e größere Schand,“ meinte 
fie, und Paile beftätigte ihre Vermuthung mit lebhaften Kopfniden. 

„So eine, wie d’ Aeſchegruſele, wo mit Schäffzgeheu?) lauft und mit Beſe 
woiſcht, Madele?“ 

„Hu!“ machte die Kleine und kniff die Augen zu, „jo eine will i mei Lebtag 
net werde.” — 

Mariele's Konfirmation fam heran, ein von ihr mit unflarer Sehnjucht 
berbeigewünfchter Tag. Der Pfarrer hatte gejagt, da werde man in den Bund der 
Chriftenheit aufgenommen und zwar mit eigenem Berftand und Willen, nicht ala 
hülf- und vernunftlojes Wejen wie bei der Taufe Don diefem Chriftenbunde 
machte ſich Mariele eine feierliche und fremdartige Vorftellung. Alles, was in 
der Kirche vorgenommen wurde, hatte einen erhabenen Reiz für fie, wie ihr denn 
auch der Bau jeldft ſchon ſeit frühen SKindertagen das Schönfte und Höchſte 
war, was ihre Einbildungskraft beichäftigte. Der hochgewölbte ernfte Raum, 


) Zinnkraut zum Geſchirrputzen. 


172 Deuiſche Rundſchau. 


ſo ungleich den engen niederen Stuben daheim, der eigene Geruch nach Büchern 
und trockenem Staub, der hier herrſchte, und den Athem des Feldes und der 
Ställe nicht hereinließ, die feſtgefügten Kirchenſtühle, die auch der unbändigſte 
Burſch nicht vom Platze zu rücken vermochte, all' das gab ihr das unbewußte 
Gefühl, daß hier ein Zufluchtsort ſei vor allem Lauten, Grellen, Häßlichen und 
Gemeinen, das ihre junge ernſte Seele abſtieß. Hier verſtummten das rohe 
Lachen, das betrunkene Johlen, die übeln Klatſchereien, die neidiſchen Stichel— 
reden; hier ſprach der tiefe volle Orgelklang, hier ſprach der Angeſehenſte im 
Dorfe, der Pfarrer, ganz allein, und was er ſagte, wenn fie es auch nicht Allee 
im Zufammenhang beariff, waren hohe Worte, die draußen Niemand gebraudite. 
Die Worte: Liebe, Glauben, gottjeliges Leben, Heiligkeit und Frieden. Hier 
war das Gotteshaus, hier wohnte Gott. Kein Herd war hier, fein Geräth, das 
dem täglichen Leben dient, Alles ganz anders al3 daheim, denn hier diente man 
Gott. Wie ein Schauer zog e3 durch ihren Körper, wenn der Segen geiproden 
ward: „Der Herr ſegne und behüte dich — der Herr laſſe fein Angeficht Leuchten 
über dir und gebe dir Frieden.“ Sie wagte nit, die Augen zu erheben, aber 
fie fühlte e3 deutlich: dort oben leuchtete jein Angefiht über ihr, und Frieden 
fam über fie. 

Der Pfarrer ſah gern, während er redete, in ihr andädhtiges, von Schwärmerei 
verflärtes Gefihtchen. Schmal war es, und die Augen faft zu groß, dabei oft 
blielo8, ohne Glanz. Es gab aber Tage, wo e8 ihm faft zu viel ward. „Gut, 
daß fie jo viel Arbeit auf den Schultern Hat,“ dachte er dann, „Andadt ift 
ſchon recht, aber die könnte auf einen unrechten Weg gerathen.“ 

Der Tag der Gonfirmation erſchien. Mariele hatte die Nacht zuvor nidt 
geichlafen; fie jah noch bleicher aus als gewöhnlich, und als fie mit den Anderen 
in die Kirche trat, fiel es wohl Manchem ein, daß diefem jungen Gejchöpf das 
Leben nicht Leicht werden dürfe Hübſch war fie troß der verunftaltenden Haar: 
trat. Das reiche, Tchlichte, blonde Haar war ängſtlich feft von der weißen 
Stirn zurücgezogen unter einem ſchwarzen Sammetbande, und im Nacken hingen 
zwei lange ehrbare Zöpfe herunter, jo ftraff geflochten, daß fie fi beim Gehen 
faum bewegten. Mit hoher klarer Stimme beantwortete fie die an fie gerichteten 
Fragen, wobei jedesmal ein zartes Roth über ihr Geficht flog. Ganz ficher und 
ohne Stoden, aber in dem gedehnten Aufjageton, wie die Uebrigen auch, fagte 
fie ihr Hauptftüd aus dem Katehigmus, nur ein eriwartungsvoller, gejpannter 
Ausdruck lag auf ihren Zügen wie bei feinem der anderen Kinder. Während 
ber Predigt verwendete fie fein Auge von dem Pfarrer; er ſprach von dem neuen 
Leben, das num für die jungen Chriften anhebe. Da fah ihn das Kind jo groß 
und fragend an, daß es ihm faft Tätig war. Danad) fam die Einfegnung. 
Mit gejentten Köpfen Enieten die Kinder vor dem Altar. Der Pfarrer vertheilte 
die Sprüche und Verſe; jedes Kind befam den jeinen vorgeſprochen und dann 
ward er ihm gedruckt in die Hand gejchoben. Als Marie mit einer Kameradin 
an die Reihe kam, ſprach der Geiftliche mit jegnend aufgelegten Händen: „Einen 
fröhliden Geber Hat Gott lieb.“ Und dann den Anfang des Spitta’jchen 
Liedes: 


Was Gottes Wille ift. 173 


„Es geht ein ftiller Engel 
Durch dieſes Erbenlanb; 
Zum Troſt für Erdenmängel 
Hat ihn der Herr geſandt. 
In ſeinem Blick iſt Frieden 
Und milde ſanfte Huld. 

O folg' ihm ſtets hienieden, 
Dem Engel der Geduld.“ 

Als das Kind aufſtand, ſah es enttäuſcht und weinerlich auf das Blättchen 
in ſeiner Hand, und mit einer ſchnellen Bewegung trat es rückwärts. 

Der Pfarrer winkte. „Komm' nach Tiſche zu mir, liebes Kind,“ ſagte 
er gütig. 

Sie konnte die Stunde kaum erwarten, bis fie ſchüchternen Schrittes in das 
büchergefüllte Studirzimmer des Pfarrers treten durfte, der, in Wolken aus ſeiner 
langen Pfeife eingehüllt, langſam auf- und abſchritt. 

Prüfend jah er fie an, blieb ftehen und fagte: „Nun, Mariele, Du haft 
heut’, ſcheint's, nicht viel verftanden?“ 

Ihr heftige Kopfichütteln war nicht ohne Trotz. J weiß net — des 
mit em neue Lebe — i fa’ kei neu's Lebe a'fange“ — ftammelte fie furchtſam. 

„Sprid ohne Scheu, Kind,“ jagte der Geiftliche und nahm die Pfeife aus 
dem Munde. 

„J fa’ doch net” — fie drückte beide Hände zufammen, al3 müfje fie etwas 
darinnen feithalten; „i fa’ doc) net mei’ Mutter vergeſſe?“ flüfterte fie und jah 
mit flehenden Augen empor. 

Der Herr Pfarrer räufperte fih. „Das verlangt Niemand, Marie,” ſagte 
er, „aber bedenken ſollſcht Du freilich, daß Deine Kindespflicht nit nur der 
todten Mutter, fondern auch dem Lebenden, dem Vater, gehört. Das Eine thun, 
und da3 Andre nicht laffen, liebes Kind.“ 

J thue jcho’, was i mueß,“ fagte fie leife. 

„Ja, ja, ich weiß, brav und fleißig biſcht und ſparſcht dem Water eine Haus: 
bälterin. Aber wie fteht geichrieben? Ginen fröhlichen Geber hat Gott Lieb, 
Marie. Gib fröhlich, was Du gibſcht! Fröhlich jein, au) in Mühen und 
Sorgen, das iſcht es.“ 

„J han halt no immer 's Heimweh,“ ſagte das arme Kind mit fließenden 
Augen. 

Mitleidig und eifrig rief der Pfarrer: „Dei' Mutter, Mariele, iſcht wohl 
d'ran. Gönn' ihr die Ruh'! Was hat ſie gehabt bei dem zornigen Mann, der 
keinem was Guts,“ — er brach ab, über ſeine eigenen Worte verwirrt, und 
ſchloß ſanft: „Wann ſie vom Himmel drobe auf ihre Kinder ſieht, da 
möcht' fie 's freuen, wenn fie 's Mariele auch einmal herzhaft lachen hörte.“ 
Dazu lächelte er ſelber aus lauter Rührung und Hülfbereitſchaft, denn das 
Mädchen ſtand mit einem gar zu verlorenen Gefichte vor ihm. 

„Wnn’3 Gotts Wille iſcht,“ murmelte Marie, „i dank' recht ſchö, Herr 
Pfarier damit ſchlich fie hinaus. 

Der Pfarrer öffnete gleich hinterdrein die Thüre und rief ſeiner Frau, um 

ihr das ſeltſame Kind recht anzuempfehlen. 


174 Deutiche Rundicau. 


„3 Madele gfällt mir befjer, ’3 ijcht jo mögig und zuthulich,“ meinte die 
Pfarrerin. „'s Mariele faßt zu Niemandem ein Herz, s iſcht fcho recht brav, 
aber jo e Druckere!), der mer jedes Wort rauspreſſen muß.“ 

„Je nun,“ machte der Pfarrer. 

„J bin froh, daß fie emal den Paile Friegt,” ſagte die frau, „er iſcht zwar 
e bifjele e Trumpf?), aber doch eine ehrliche Haut, friſch und luſtig.“ 

„Sp, alfo der Paile wird emal der Mann? Ya des ijcht freilich e Trumpf,“ 
lachte der Pfarrer. „Das ift ja der Bub’, wo em König die faumäßig grobe 
Antwort gebe hat.“ 

„Wie? welche Antwort?” 

„ beißt, ex jei emal drunte bei Berg im e Gütle auf em Baum g’jefie, 
no iſcht der König vorbei gange und ruft ihn a’: ‚Aber, Büble, wie kann man 
auch die Zwetſchgen jchon eſſen, wann fie noch jo grün und Hart find!‘ ‚No‘ 
— hat der Paile g’jagt, — der Bub hat kaum recht ſpreche könne — ‚No 
wargelt?) mer3, du‘ — Mein Better, der Pfarrer in Berg, hat's gehört umd 
ſich nicht Schlecht entjagt über dem Flegel.“ 

„Ja,“ ſagte die Pfarrerin, nachdem fie ſich die Lachthränen abgewiſcht, 
„das ijcht der Richtige, der wird jchon aud) dem Pfarrbauern auf den Kopf fteige, 
dem geizige Filz.“ — 

Mariele wartete diefen Abend beflommen auf den Augenblid, da Petter 
und Schweſter jchlafen gegangen und fie mit dem Vater allein fein würde, Die 
Kleine hatte jonft immer früh Schlaf, weil fie den ganzen Tag wie ein Bogel 
hin und her hüpfte, aber grad heute war der Paul jo geſchwätzig, daß fie mit 
blanten Augen jien blieb, wie nacdhdrüdlich der Vater auch gähnte. Endlich 
ſcheuchte er fie Alle mit einem Machtwort hinaus. Marie aber kehrte um und 
fagte, näher herantretend, als fie ſich's ſonſt getraute: „Vatter, i möcht’ was 
fage.“ Ueber dieje Einleitung blieb dem Bauern der Mund in Vertwunderung 
offen ftehen, und Mariele jenkte die Augen, indem fie ftotterte: „Watter, der 
Herr Pfarrer hat g’jagt, einen fröhlichen Geber hat Gott lieb” — 

Der Mund des Bauern jhloß fi, daß e3 einen Rud gab. Dann that er 
fich wieder auf: „J moin, jezt könnteſcht g’nueg han; han i net dös ſchwarz 
Kloidle von deiner Muetter jelig hergebe? So e Mädle hat's guet, ißt u’g’jorgt 
Brot — aber do moinjcht glei, 's jei alle Tag Badtag!” 

Marie wurde roth. „So iſcht des Ding net, Vatter,“ jagte fie verwirrt, 
„ber Geber geht mi a’, i ſoll de fröhliche Geber made” — 

Der Bauer lachte auf: „Biſcht net g’jcheit, Mädle!“ Dann aber machte er 
ein argwöhniſches Geſicht und fuhr abwehrend fort: „Morge früah gehicht zum 
Pfarrer und frogicht en, was em g’hört, i han 's ſcho' —“ 

„Ja,“ ſagte Marie, „aber deſcht eppes anders, Vatter, i han ſage wölle, i 
will jezt met Pflicht Fröhlich tho““ — — fie ſtreckte ſchüchtern die Hand aus, 
um jeine zu berühren, ihre Augen quollen über. 

Aber der Vater jah weder ihre Hand noch ihr Gejicht, in dem der Schmerz 
zuckte, ſich nicht verſtändlich machen zu können. Er hatte ein Silberftüd aus der 


!) Schweiger. 2) Grobian. *) rollend drücken. 


Was Gottes Wille ift. 175 


Taſche genommen und drehte es hin und her, zog ein Stüd Papier hervor und 
twidelte es umftändlich hinein: „'s iſcht e Heidegeld für dia G'ſchicht',“ murrte er, 
„do möcht’ i glei’ au’ Pfarrer ſei'.“ Dann ſchob er’3 wieder in die Hoſentaſche: 
„3 hat Zeit bis morge, Du thäteſcht "3 Geld verliere,” jagte er. — 

Traurig ging Marie in ihre Kammer; Madele athmete ruhig im Schlaf. 
Sie ſchlüpfte unter die Dede neben ber Kleinen Schwefter und wandte fi mit 
ihrem Verſprechen an den Vater im Himmel, deſſen große ftrahlenhelle Augen 
ernft, aber freundlich über ihrem Bette ftanden, und ber fie fogleich zu verftehen 
ſchien, ohne daß fie den Mund öffnete. „Ach will's verfuchen, du weißt jchon 
was,“ fagte fie in ihrem Herzen, und unter jenem leuchtenden Antwortblid von 
oben jchlief fie ein. — 

Die Jahre vergingen, die Schweftern wuchſen einander zu. Seit der Vetter 
im Haufe war und die Arbeit nicht mehr einzig auf ihr lag, erftarkfte Marie 
körperlich; fie lächelte nicht nur, fie lachte auch, wenn Madele ihre Späße trieb, 
Aber innerlih war fie troß allem guten Willen unverändert geblieben. Sie war 
num einmal eine einfame Seele, fremd ging fie zwijchen den Altersgenoſſen um— 
ber, mit denen fie auf einer Schulbank gejeffen. Ihr tiefer Troft, der nie ver— 
fagte, war ihr nahes findliches Verhältniß zu Gott. Was kam, das nahm fie, 
al3 feine Schickung, fromm und ohne Murren hin; die böfe Laune des Vaters, 
Hagelichlag und Mißwachs, den Tod der Lieblingskuh, ja das Verdorren ihres 
Myrthenſtöckleins, was Madele für ein jchrecliches Vorzeichen erklärte, über das 
fie in mitfühlende Thränen ausbrach. Wielleiht war ihre Fähigkeit, zu leiden, 
durch den Tod der Mutter auf eine Zeit hinaus erſchöpft worden. Sie blieb 
gelafjen und wußte zu beruhigen, zu berathen, wenn Alles um fie wehtlagte und 
jammerte. 

Eintönig floß das Leben. Madele Elagte nicht jelten; zumal, als Paul in 
feinem neunzehnten Jahre al3 Freiwilliger eingetreten war, um feine dreijährige 
Dienftzeit abzumachen, beſchwerte fie fich weinend über Mariele's Schweigiam- 
feit, und daß man auch niemals „wohin“ komme, feinen Schritt aus dem 
Haus. Daraufhin wanderte Marie mit ihr am nächſten Sonntag nad) Fellbach 
zum Ohm, den fie jeit lange nicht mehr bejucht hatten. Die Tante fam ihnen 
nicht eben freundlich entgegen, ihre lauernden ſchwarzen Augen ftrebten den Zweck 
der Heimſuchung zu erforfchen, und Madele flüfterte der Schwefter empört zu, 
daß ja die Urſchi in einer zerriffenen Jade daherkomme und ihr Geſicht gewiß 
ion lange nimmer gewajchen habe. Die ſchwarzen Strobelföpfe ftanden an ber 
Wand wie zwei dunkel getvordene Schneemänner, wußten nicht, ob fie grüßen 
oder weglaufen follten, und nur der Kleinfte, etwa Sechsjährige ftellte ſich, den 
Finger im Munde, vor ihnen auf und ftarrte fie bewundernd an, denn Mtariele 
hatte ihm ein Gut3le!) mitgebracht, auf deifen Nachfolger er nun wartete. 

Endlich kam auch der Oheim in einem ſchmutzigen Hemde, ohne Rod herein 
und ſetzte jich ziemlich wortfarg den Mädchen gegenüber. Urſchi brachte Wein, 
dazu ein Brot. Auf dem ZTifche, in der Wirthöftube, wo fie jaßen, zeigten ſich 
noch die nafjen Ringe von Gläfern, die hier geftanden. Unzählige Fliegen und 


) Kuchen. 


176 Deutſche Rundſchau. 


Weſpen ſchwirrten um ihre Köpfe. Als es gar Alles ſo unappetitlich und un— 
ſauber ausſah, gewann Madele ihre Keckheit wieder und machte Alle lachen. 
Auch die Strobelköpfe verzogen ſchnell den Mund; ſowie man fie aber anſah, 
ftanden fie wieder wie die Schneemänner. 

Im Eck ſtand ein Milchkübel; Madele ſtieß die Schweſter an und zeigte ihr 
den grünen Schimmel, der darauf lag. Dann fragte fie die Tante: „Hee, wem 
iicht no des? g’hört des für d' Säu?“ 

„Du g’fallicht mer,“ brummte die Bäuerin mit einem jauren Laden, „des 
gibt en Butter.” 

„B’hüet’ mi Gott vor dem Butter!” jagte Madele offenherzig und drehte ihr 
Näjelein weg. 

Die Urſchi blieb nun ganz dahinten und überließ die Nichten ihrem Manne, 
der mit einem Gefiht, al3 möcht’ er freundlich fein, wiſſe aber nicht, wie '3 
anzufangen, hie und da ein Wort an fie richtete. 

„Kommet, Mädle, eſſet,“ ſagte ex endlih und öffnete den Badofen, der voll 
Birnſchnitz und gedörrten Zwetſchen war. Die Mädchen griffen zu, ſogleich aber 
ihrie Madele auf und warf den Schnik mit einer Gebärde des Efel3 von fid- 
„Jezt han i in en Schwobe 'nei’bifje!” Sie bückte fih und ſchaute in den Ofen, 
richtig da liefen Scharen von Schwaben und Ruſſen zwiſchen dem Dörrobit 
umber. Madele fing an zu jagen und zu vertilgen; die Strobelföpfe famen auch 
herzu; Mariele ging deriveil in den Garten, der in faft ebenjo verfommenem 
Zuftande war wie das Haus. Sie band fi ein Sträußlein Rejeden und frei 
chelte die Kate, die fie fcheu und fremd aus ihren grünen Augen anftarıte, als 
jei fie noch nie geftreichelt tworden. Zuletzt kam Madele ganz erhitt heraus: 
„Deiht mer en andrer G'nuß gweſe,“ rief fie, „i Han zum mtindefte zwei— 
hundert todtg'ſchloge!“ 

„J dent’, mer gehe heim,“ jagte Marie. 

„ezt bleibe mer no e bifile,“ meinte die Kleine, „mer fennet je doch net 
verzürne. 's iſcht immer der Vatter vom Paile.“ 

„Aus dem Haus iſcht er komme,” jagte Marie nachdenklich. 

Sie wurden zum Kaffee gerufen. Dean ſaß zu Achten um eine große 
Schüffel mit Kaffee; der Bauer ftampfte fein Brot ein, von allen Anderen ward 
eingetunft. 

„Der danke, mer trinket fein Kaffee,“ jagten die Mädchen, „'s Iupft') mi 
ganz,” flüfterte Madele. 

Als fie weggingen, begleitete der Ohm fie ein Stüd Weges. 

„Mei Paile friagt 's quet, beſſer als jet Vatter,“ jagte er zu Mariele. „Du 
biſcht e ſaubers Mädle worde.“ Seine Heinen Augen funfelten wohlgefällig über 
ihre Geftalt hin. „Wenn er heimkommt, iſcht Hochzig,“ fuhr er fort, „haſcht 
ſcho Zeitlang, gelt?“ 

„J fae ’3 v'rwarte,“ erwiderte Marie gelaffen, „b’hüet’ Gott, Ohm.“ — 

Es war Oftober, aber noch warm und hell, der Himmel tief dunkelblau 
und leuchtend gelb der Boden der Weinberge. Nur die Objtgüter, durd) bie fie 


1) übelt. 


Mas Gottes Wille ift. 177 


gingen, jahen erftorben aus; die meilten Blätter waren den Früchten nach— 
geflattert, fledig und mißfarben hingen die noch überlebenden an den bevaubten 
Heften. 

Die Schweftern jeßten ſich an einen Rain, dort blühte es noch von violetten 
Skabiojen und gelbem Herbftlöwenzahn. 

„Bud au d' Brummhummeler!) a',“ jagte Marie, „dia denket no a fein’ 
Wenter.“ 

„Belt Du, mer ziehe Hälmle?),“ und Mabdele fing an, Grashalme auszu- 
rupfen. 

„Hälmle ziehe? für was?” 

„Wer z/ericht g'heirat' iſcht.“ 

„Ha.“ jagte Marie lächelnd, „i werd’ z'erſcht dra’ glaube müefje, im e halbe 
Johr iſcht der Paile frei.“ 

„J fa’ ſcho gar nemme!“ jchrie Madele verwundert, „i han '3 längjchte! i 
komm z’ericht dra’.“ 

Und fie fing an zu hüpfen und zu laden, daß Marie mitlachen mußte. 

„Dumme Ding,” jagte fie, „Dir preſſirt's faicht zu arg; dent’, e halb's 
Sohr! jo bald ka’ 's faſcht net ſei'.“ 

„Da, worum net? worum willicht mer’3 net gonne?  gonn Div au, was 
Dei iſcht!“ erwiderte Madele beleidigt. Dann aber ließ fie den Kopf hängen. 
„J bi jo fo en arm's Tröpfle, '3 iſcht wohr,” jagte fie, „grad fallt mer's ei! 
J han gerften?) morge 's Salz verſchüttet, i han mei Lieb’ wegworſe, jez 
kommt ner meh.“ 

„Hab i net der Küeh, jo hab i au net der Müeh,“ tröftete Marie. 

Madele aber begann mit Heller Stimme zu fingen, daß es durch ben Wald 


klang: 
„Ei du mei liebes Herrgottle, 


Was han i dir benn bahn *) 
Daß bu mi mei Lebetag 
Net wit theurige?) la’n.“ 

Zornig ftieß Mariele fie fort: „Mad, dag D’ weiter kommſcht! So was 

fingt mer net! jo ka'ſcht net ſei; — komm, jez finge mer z’jäme*®): 
„So lang’ ich hier noch walle.“ 

Das wollte dem Madele lange nicht einleuchten, endlich fiel fie doch ein, 
und die Vorübergehenden wandten oft den Kopf nad dem hübjchen Schweitern- 
paar, da3 jo blühend und einträchtig dahintvandelte und am Sonntag jo fromme 
Lieder jang. 

„Bin i froh, daß i kei Stiafmuetter han,” jagte Madele Abends daheim ; 
„no thätet mer au im Dred verſticke, wie diea do.“ 

„Se hat en Paile arg plogt,” fiel Marie ein. 

„Ah der Paile! Denkſcht immer a’a Dein Paile! De ganze Tag hört mer 
immer no „mei Paile! mei Paile!“,“ rief Madele und zerrte heftig an einer 
verfnoteten Schnur. 


!) Hummeln. 2, wer ben längften befommt. 3) geftern. *) gethan. 
5) heirathen. %) zufammen. 
Deutihe Rundſchau. XVI, 4. 12 


178 Deutiche Rundſchau. 


„G'wiß net!" betheuerte Mariele verwundert. „Du haſcht Schlof, i g’ipür's 
au wohl, daß i müed ben.“ 

„Red net jo dumm derher" — fing Madele unwirſch an, brach aber ab 
und ftieg fchnell ins Bett, die heißen Wangen tief in die Kiffen verftedend. 
Plötzlich fuhr fie mit dem Kopf empor, ſchrie: „Mei’ Stiafmuetter biſcht Du!“ 
und legte ſich ebenſo jchnell wieder nieder. 

„Du wüeſcht's Ding,“ ſagte Marie gleihmüthig, „ſchlof Dei’ Räuſchle aus, 
morge wirſcht mer fage, was i Der ’thon han.“ — 

Aber am anderen Morgen hatten beide Schweitern ihren Zwiſt vergeffen. 
Mariele kam's einmal auf die Zunge, die Kleine mit dem geftrigen „Raufch“ zu 
neden, aber dann unterließ fie'3. Madele ward gar zu zornig, wenn dad Wort 
fiel und zwar darum, teil fie im lebten Sommer, während der Ernte, wirklich 
einmal einen Raufc gehabt. Alle waren fie auf dem Ader draußen geweſen 
zum Schneiden; die Sonne brannte, daß fie faft vergingen, und dazu ſchmählte 
der Water, ſowie fie nur ein wenig die Arme ruhen ließen. „Ya, was hent er 
denn für e lange Zipfel dahinte!),“ hieß es fortwährend. Sehnjüchtig wartete 
Madele auf den Ruf: „dev Moſcht iſcht gar?):“ dann mußte man einen neuen aus 
dem Keller holen und konnte ſich ein bischen im Haufe verruhen. Als es aber 
einmal wieder joweit war, da brachte das müde Kind den Moftfrug nicht 
mehr von den heißen Lippen, und erſt als die Durftenden lang ſchon ihrer ge 
wartet hatten, erjchien fie, aber unficheren Ganges und mit übermäßig glänzen- 
den Augen. Das gab ein Gelächter, ala das Madele behauptete, es jei auf 
einmal jo ein Nebel auf fie Heruntergefallen, daß fie den Weg zum Felde kaum 
babe finden können. Seitdem nannte fie der Vater: „dia, wo im Nebel verirrt 
iſcht“', oder „3 rauſchige Mädle“, und der Kleine Bosnidel Hatte ſchon viel 
Thränen über diefe Namen geweint. Gut nur, daß der Paile nicht dabei ge- 
weſen, jonft hätte wohl die Necerei gar kein Ende genommen. a, jeit jenem 
Tage hatte Madele eine Schauluft weniger; ſonſt hatte es ihr Spaß gemadit, 
jo einen Trunkenen auf dev Gafje hin- und herſchwanken zu jehen. Seht aber 
fürdhtete fie fi davor, und als einmal die Frau Pfarrerin ihr nedend zurief: 
„Madele, Dei Schurz iſch naß, do gibt’3 en rauſchige Dann,“ jagte fie er- 
ihroden: „Oje, no thät mer's grauje! i fa’ d’ Naufchige für mei’n Tod net 
leide'.“ 

Um Oſtern ward Paul frei und kam zurück, doch ſollte die Hochzeit erſt im 
Herbſt ſtattfinden; im Sommer gibt's zuviel Arbeit, da hat man keine Zeit zu 
Feſten auf dem Lande. 

Paile war ein ganz anderer Burſche geworden in der Militärzeit. Seine 
etwas knollige Naſe hatte ſich geſtreckt, ſeine Oberlippe zierte ein Schnurrbart, 
ſtrohblond wie ſein Haar; er warf ſich in die Bruſt und ging mit ſtattlichen 
Schritten und ſelbſtbewußter Miene. „Du kommſcht derher, wie e hoſeter 
Zauber“ ®), ſagte Mariele lächelnd, „Du biſcht emol e Kerle.“ 

Madele ſpiegelte ſich bewundernd in ſeinen blanken Knöpfen: 

„'s iſcht ſchad' derfür, daß Du d' Uniform wieder ausziehſcht,“ meinte fie, 
„ſo ſieh i Di gern.“ 


1) was zögert ihr. 2) alle. 2) Fauber mit befiederten Beinen. 


Mas Gottes Wille ift. 179 


Da fing er nun an zu erzählen von feinen Drangjalen und Pladereien, von 
ſeiner Schießkunſt und feinem übrigen Heldenthum: Wachpoften ftehen am 
Roienftein in ſtockdunkler Naht, von Paraden und Manövern, und endlich gab 
es Kaſernenwitze, die die Mädchen meift aber nicht verftanden, und die fie auch) 
nicht begriffen, als er fie ihnen erklärte. Er ging daher auch bald ins Wirths— 
haus, wo er ein verftändigeres Publicum fand, und Madele war jehr zornig 
auf ihn und prophezeite, daß er mit einem Raufche heimkommen werde. Diefe 
Borausjegung traf ein, und von Stund’ an wollte Madele fein Wort, wenig: 
ften3 fein qute8 mehr, mit ihm ſprechen. Sie madte ihm ein troßiges Geficht, 
two fie konnte, jehte ihn vor dem Vater herab und hätte auch Mariele gern 
aufgehetzt. 

Die aber ſagte: „Des hent d' Mannsbilder im Brauch! Deſcht en alte ©’- 
ſchicht. 's iſcht ſcho jo, dak mer hinnehme mueß, was Gott3 Wille ijcht.“ 

Die Ankunft des Bräutigamd Hatte fie wenig aus ihrer Ruhe gebracht; fie 
jorgte für ihn, faft wie eine Frau, ging aud Hand in Hand mit ihm am 
Sonntag durch die Felder fpazieren. Al er fie aber einmal Hinter einen Buſch 
ziehen und Kiffen wollte, meinte fie: „Dozue hent mer Zeit, wenn mer gheirath' 
ſend,“ und als er heftiger drängte, ftieß fie ihn ziemlich unjanft bei Seite: 
„Mad daß De weiter kommſcht, was willſcht von mer? i lauf Der net dervo', 
Paile!“ — 

„3 Mariele iſcht ſterch!),“ Elagte Baul einmal dem Vater, „do werd i mei 
liabe Roth Friage.“ 

Aber der Alte richtete feine gefrümmte Geftalt mit einem. Ruck auf, 
ihnalzte mit der Zunge und jagte: „Blitzſauber ifcht je! Wenn i Du wär” — 
Was net fauret, des ſüeßt au nete!“ Und feine Aeuglein blinzelten dem Sohne 
jo bedeutjam zu, daß Paile wieder der Muth ftieo. 

„J werd's ſcho' verzwinge,“ fagte er. 

„Ha PBaili! Du weiſcht: 's jend no?) drei quete Weiber gwe, de ei’ ijcht 
u3 der Welt gloffe, de ander’ ifcht im Bad verfoffe, de dritt jucht mer no’. ’3 
Güetle iſcht eineweg ſei zwanz'g Tauſend werth.“ 

„'s Güetle wär' recht, ſell iſcht wohr,“ beſtätigte der Freier zufrieden; „der 
Pfarrbauer iſcht halt en andrer Kerle als Du.“ — 

An einem Sonntagnachmittage im Auguſt gingen die Schweſtern Himbeeren 
leſen. Der Weinberg trug an der Mauer einen breiten Streifen, ganz mit 
Beerenſträuchern beſetzt, die auch in ungünſtigern Sommern, wenn die Trauben 
zurückblieben, einen guten Ertrag lieferten. Lange hatte ſich der Bauer ge— 
ſträubt, aber die Vorſtellungen des Pfarrers hatten ihn endlich zu dieſer einträg— 
lichen Neuerung vermocht. Doch bekümmerte er ſich nach ſeiner zähen Art 
wenig um die Anpflanzung; das war Sache der Mädchen, ſo gut wie die weißen 
Narziſſen, die fie im Weinberg an einem freien Eckchen erzogen. Die Mädchen 
waren gern bier oben, hoch über der Straße, hoch überm Nedar, deſſen grün 
liches Waſſer gerade an dieſer Stelle in Kleinen gligernden Stromjchnellen über 
verborgene Felstrümmer fprang. Lieblich war e8, hier im Frühling, wenn das 





1) ſtörriſch. 2) nur. 


180 Deutiche Rundſchau. 


ganze Thal in weißen Blüthen lag, unterm rofig jhimmernden Pfirfihbaum zu 
ftehen und auf den Lockruf der Amjel zu horchen, oder den Schwalben zuzufehen, 
wie fie bald mit jpitigem Flügel die Waſſerfläche zu rien, bald ſich wie Licht: 
pünktchen im böchften Blau zu verlieren ſchienen. Lieblih war e8 Hier heute, 
Alles durchſonnt und durchglüht, Alles Roth von der jcheidenden Sonne zu 
Purpur, alles Gelb zu Gold erhöht. Wieder jangen die Amjeln, aber die Lüfte 
beherrjchte heut fein zarter Frühlingsduft, — durch den ſonnenbeſchienenen 
Staub quoll von allen Seiten der ftarke leidenichaftliche Duft der weißen Lilie; 
in allen Gärten, in allen Weinbergen blühte fie, ftolz und wehrlos zugleich, wie 
die Schönheit jelber. Marie begoß ihre Lilien und jah nur zuweilen hinaus 
auf das fpiegelglatte Wehr. Madele ftand weiter unten und blidte auf bie 
Spaziergänger, die auf dem Pfade am Nedar, ftaubummwallt, fi ergingen, 
friſch und jauber die Ausziehenden, die Anderen mit Sträußen in den Händen, 
mit abgezogenen Hüten, in Hemdärmeln, roth im Gefiht und oft mit lauten 
Gejange. Madele redte den Hals. Nein, was für närrifche Hüte und Kleider 
bort unten fpazierten! Oſt lachte fie laut; mandmal flog auch wohl ein 
nedended oder beifälliges Wort zu ihr herauf. Das hübſche Kind auf feinem 
hohen Beobachterpoften, da3 braune Kraushaar umipielt vom Abendlicht, das 
reine kindliche Profil jcharf abgehoben vom dunfelblauen Himmel, gab denen 
unten ein anmuthiges Bild. Ein blutjunger Menſch, mit einem großen Mal— 
faften an der Hand, blieb qar ftehen, ſah ſcharf Hinauf und begann, jeine Ge 
räthſchaften auf dem ſchmalen Rajenftreif auszupaden. Madele blickte verwun- 
dert hinab, als fie aber aus dem Körbchen neben ſich eine rothgelbe Aprikoſe 
hervorholte und Hineinbißl, jchrie ihr der junge Menſch zu: „Stillhalte!“ und 
begann feinen Pinſel anzufeßen. Madele ward dunfelroth, warf die Frucht in das 
Körbchen zurüd und drehte ſich blikgefhtwind um. „Mariele, komm, jez geh'e 
mer,“ rief fie laut genug, „'s hat gar foviel Lausbuebe do unte.” Sie nahmen 
ihre Körbchen voll Himbeeren und Aprikofen, deckten fie jorgli mit Weinlaub 
zu und ftiegen hinter einander die lange ſchmale Treppe hinunter, die zwiſchen 
ben Weinberggmauern fteil abwärts führte und in einer Kleinen Seitenbucht des 
menfchenvollen Fußpfades am Nedar münbete. 

„Ro guck au, wia dia Melone ſcho goldgelb werde,“ jagte Marie und blieb 
ftehen, die glänzenden Bälle zu betrachten, wie fie mit den langen großblättrigen 
Ranten Kranzgewinde über die Mauer warfen. Und tie lebendig war dieſe 
Mauer jelbft! Zarte graugrüne Raute quoll aus jeder Ritze, und das zierliche 
Cymbelkraut überdedte ganze Flächen mit feinen bellvioletten Blüthchen. 

Madele war wie gewöhnlich vorausgelaufen; al3 fie den Fuß auf ben 
Boden fette, begrüßte fie ein unangenehmes Gelächter, und eine freche Stimme 
rief ihr entgegen: „So iſch' recht, Mädle, komm e biffle näher, Du willſcht 
mer's, jcheint’s, bequemer made, gelt?“ Es war der Kunſtſchüler von vorhin, 
der ihr jo unverſchämt zugerufen hatte. Er trug den Malkaften in einer 
Hand, mit der anderen jchob er feinen Zwicker zurecht. Madele ftarrte fein 
bartlojes Gefiht an, in dem ein widriges Grinfen zudte und ſagte: „Se jend, 
ſcheint's, verrudt, ſonſt könnte Se net jo u'verſchämt jei, mer de Weg z' ver» 
trette.“ 


Was Gottes Wille if. 181 


„Hoho, u'verſchämt! verrudt! Du bijcht e grob’3 Baureding,“ rief der junge 
Menſch, und er trat hart vor fie, jo daß fie nicht weiter konnte. 

„J bin net Ihr Du!” erwiderte das Mädchen und fidh zwei Stufen nad 
oben zurüctziehend, rief fie ihrer Schwefter zu: „Mariele, der Herr hat en Rauſch, 
fag’3 em, daß er uns durchlaßt.“ 

„En Rauſch? warum net gar!“ fchrie der offenbar Betrunfene, „wart, jeßt 
ſollſcht mer Abbitt Leifchte,“ und ex parte Dtadele am Arm, jo daß dem Körbchen 
einige Früchte entfielen und zu Boden vollten. 

„Sie werde jo guet ſei' und mei Schwejchter gehe laſſe,“ rief Marie, eilig 
berunterfteigend. Aber was half da3? In ihrem ſchmalen Engpafje, der immer 
nur Raum für eine Perſon bot, ftanden fie machtlos hinter einander gezwängt ; 
der free Jüngling verfperrte vollflommen den Ausgang. Bon den Borüber- 
gehenden blidte faum Einer ber, und wer es that, glaubte, e3 handle fi) um 
eine freundichaftliche Neckerei. 

Madele überfam ein großer Zorn. „Mach fort mit Dei’m dumme Ge- 
fries!),“ jchrie fie und gab dem Menfchen einen plößlichen Stoß vor die 
Bruft. 

Nur einen Augenblick wankte er, dann padte er Madele um den Leib und 
näherte jeine gejpigten Lippen ihrem nad rechts und links ausweichenden Ge— 
fit. Marie, die auf der Mauer entlang geglitten, verjuchte, ihre Schwefter zu 
befreien; es jah aus, als folle eine fürmliche NRauferei daraus werden. In 
dieſem Augenblick faßte eine Hand den angehenden Maler an der Schulter und 
eine Stimme rief: „J Han gemeint, ’3 fei Scherz, ſonſcht wär i früher 
komme; geh'n's uf d' Seit’, Herr,“ und mit einem feften Griff drängte er ihn 
von dem Treppeneingange. Der Angegriffene ftolperte rückwärts und trat dabei 
auf feinen Malkaften, der einen kurzen Krach gab. Erjchroden büdte er fich zu 
dem verjehrten Eigentum: „So,“ fagte der Fremde, ein junger Mann in 
ftädtifcher Kleidung und mit einem ernften angenehmen Geficht, „jeßt iſcht der 
Weg frei.” Die Mädchen Tießen fich das nicht zweimal jagen, fondern drängten 
eilends hinaus. Al fie ſchon ein paar Schritte gemacht hatten, drehte fich 
Mariele no einmal um und jagte mit ihrer janften Stimme! „J dank Ene?®) 
ebe recht,“ und „i dank au recht“ echoete Madele. Dann wurden fie Beide 
xoth, denn der Fremde hatte den Hut abgezogen und fie gegrüßt wie ein paar 
Fräulein. Madele wollte fi) auf dem ganzen Heimwege ausjchütten vor 
Lachen über den Herrn, der feinen eigenen Kaften zertreten hatte. „'3 hat mi 
arg g’freut,“ wiederholte fie immer wieder. „Aber der Andre war ordentlich, 
gelt?“ fuhr fie lebhaft fort, — „ei guck au, bo geht er no, Mariele, er wird 
im Stern eikehre.“ Mber der junge Mann ging an dem jchönen Sterngarten 
mit der grauen Ruine vorüber, auch an der Wirthidhaft, — die ſchlanke Geftalt 
verſchwand zuleßt zwiſchen den Häufern. „Er gebt, ſcheint's, auf B'ſuch,“ 
meinte Mabdele, „gelt, Mariele, jo Einer, jo e nobliger Herr und jo brav, deſcht 
jelte? So ein mödt i au!“ 


1) Häßliches Geficht. 2) Ihnen. 


182 Deutiche Rundſchau. 


„So treue Auge hot er g'hett,“ fagte Marie nachdenklich, „und daß er te’ 
u'nöthig's Mort g'ſchwätzt bat, des hot mer am beichte g’falle! ja dejcht emol e 
Braver.“ 

Sp kamen fie, plaudernd über ihr Abenteuer, heim, und Madele wollt’ «3 
auch gleich dem Wetter erzählen, al3 er vom Stern nad Haus fam. Er Hörte 
aber nicht groß Hin, fondern fagte gleichmüthig: „Da, deicht jo e Mädlesfüeßler 
give, fell kennt mer ſcho! In Stuegert Hot’3 viele. UF der Königftraß Taufet 
fe ume mit ere Ziwider uf d' Naf’. Eelle verihlägt mer de Kopf und fertig. 
Deſcht net g'fährli!“ Er fügte noch den guten Rath Hinzu, ihn ſofort zu 
rufen, wenn der Lapp noch einmal fommen follte, dazu reckte er läſſig jeine 
ftarken Arme. Bon ihrem Befreier zu reden, dazu kamen fie gar nicht mehr, 
Marie wußte felbft nicht twarım, aber es war ihr jo angenehmer. 

Am anderen Morgen ging fie mit ihren Himbeeren frühzeitig zum Schrei: 
ner, — es ift fo gejchict, den Saft in der Drehbank auspreſſen zu laſſen, part 
Geihirr und Müh. Der alte Diez hatte ihr auch immer gern den Gefallen 
gethan. Als fie aber Heut die Thür der MWerkftatt öffnete, ſah fie einen Frem— 
den dort arbeiten und blieb einen Augenblid überraſcht auf der Schwelle flehen. 
„Sicht der Meifchter net do?“ fragte fie zögernd. Der junge Gejelle kam mit dem 
Hobel in der Hand, um die fidh die hellen blanken Hobelloden kräuſelten, auf 
fie zu. Ka' i's met verrichte?“ fragte er beicheiden. Da ſahen ſie ſich ins 
Geſicht und erkannten einander. Heute trug ex keinen hellen Sommerrock, jondern 
ſchneeweiße Hemdärmel und bunte Tragbänder; aber jchlechter jähe er darum nicht 
aus, meinte Marie. Im Gegentheil, der ſchlanke bräunlicde Hals hob ſich fo 
frei und leicht auß dem weißen Hemde, das ſchwarze Furzlodige Haar lag fo 
dicht und glänzend um den feinen Kopf, daß Marie vor lauter Wohlgefallen 
die Rede vergaß und ihn lächelnd und erröthend anblidte. Ex bemerkte das 
aber nicht, denn er war ebenjo beichäftigt, fie zu muftern. Sie jah nicht aus 
wie ein Bauernmädchen; die Sonne hatte ihre Haut nicht gebräunt, die Arbeit 
ihre Züge nicht grob und gewöhnlich gemadt. Ein bischen leidend blicten die 
großen hellgrauen Augen; das ſchlichte Hellblonde Haar, die zarte Wangenblüthe 
und der ſchmale feftgeichloffene Mund vereinigten ſich zu einem lieblichen Gan- 
zen, das zugleich etwas Bewegliches hatte. So wenigftens ſchien e3 dem jungen 
Schreiner zu fein. Er nahm feine Blicke auch dann nicht von ihr, ala er ein 
bischen befangen anhub: „I ben em Meifchter fei Dot'!), und weil 'r jetzt e große 
Ausſteu'r z' mache hat und i bereits ſcho felbftändig ben, jo hot er mi do z' 
Hilf habe wölle; der Meifchter ijcht grad net do, — was habe Se denn?“ 

„Ha,“ fagte Marie lächelnd, „'s iſcht eigentlich kei' Schreinerg'ſchäft, — ı han 
do mei’ Himbeer, — jez, — ber Meifchter weiß ſcho B'ſcheid. J ka’ jcho warte.“ 
Aber e3 fand fich, daß auch der junge Meifter von der Kunft wußte, Himbeeren 
in der Drehbank zu zerquetichen, und er wollte, man ſah's ihm an, ſehr gern 
gefällig fein. 

„Meine Mutter madt 's au jo,“ ſagte er, während ex aufmerkjam zuſah, 
wie dad Mädchen die rothen Früchte aus dev Schüffel in ein weißes Tud 


1) Pathentind. 


Was Gottes Wille if. 183 


ſchüttete, auch hie und da eine darüber forthüpfende Beere einfing und mit 
ſpitzen Fingern zu den anderen legte. „Eſſet Se no,“ ſagte Marie zutraulid, 
„i han fe jelber brocdt, je fönnet Se mit Appetit verzehre.“ 

Nun ſchob er zumeilen eine Beere in den Mund, der ebenjo roth und friſch 
wie die Frucht unter dem ſchwarzen Bärtchen hervorfhimmerte. „Ei,“ dachte 
Marie, als fie eben diefe Bemerkung bei ſich gemacht, „ich jeh doch jonft die 
Mannsbilder nit jo an, — ich bin jcheint’3 recht unbeſcheiden!“ Und fie er- 
röthete vor fich felbft und wandte die Augen weg; aber nicht lange, der junge 
Menih kam ihr jo befannt vor, al3 hätten fie ſich jchon lange mitſammen 
unterhalten. 

Dabei jagte er nicht eben viel, nur fiel e8 ihr auf, daß er noch ein paarmal 
feiner Mutter erwähnte und immer ala einer Perjon von Wichtigkeit fo zu jagen, 
indem er einmal ihre Worte anführte, ein andermal erzählte, e8 fei ihr recht 
nah’ gegangen, daß er ſchon wieder habe von ihr fort müſſen; ſei's auch nur für 
ein halbes Jahr etwa, man könne nicht wifjen, was gejchehe, went Eins einmal 
tränflih und nimmer jung jei. 

Da3 Tuch mit den Beeren wurde num eingejchraubt, Mariele fauerte neben 
ihrer Schüffel auf dem Boden und jah den Saft Hell und jüß hineinlaufen. 
Der junge Schreiner drehte vorfihtig fefter und blidte dabei auf den blonden 
Scheitel unten, von dem das weiße Schattentudh in den Naden geglitten war. 
Die ganze Werkftatt war voll Himbeerduft, und Beide dachten: wären’3 nur noch 
zehnmal mehr Beeren! Das ift hier eine kühle gute Stelle, bejonderd wenn man 
nicht hobeln muß. Draußen ſcheint die Sonne faft zum Hitzſchlag kriegen, und 
jo ein Obftgejchäft ift eine rechte Wohlthat gegen alle andre Arbeit. 

Zulegt aber war's doch geichehen; das Züchlein mit den Kernen war zu 
einem rothen Lumpen eingejhrumpft, und da3 Mädchen bejah zufrieden ihre 
Schüſſel voll Saft. Sie meinte: 

„3 fieht lauter und klar wia Bluet, gelte Se?“ 

Zu ihrer Verwunderung erhielt fie feine Antwort, und als fie ihren freund» 
lichen Helfer fragend anblicte, jah fie erichroden, daß er blaß war und den Kopf 
hängen lieh. 

„Hättet Se des net g'ſagt,“ murmelte er, und ber ganz veränderte tief: 
betrübte Ton, mit dem er diefe Worte ſprach, ging ihr zu Herzen. „Jez iſcht 
mer mei Freud verdorbe,“ fügte er hinzu. 

„3 hat Leut, wo kei Blut jehe kennet,” jagte Marie halb zu fich jelbit. 

Der junge Menſch jchüttelte den Kopf. 

„3 iſcht e u'glückſelige G'ſchicht, i ben ſchuld, daß Bluet g’flofle iſcht, i han e 
Menſchelebe uf 'm G'wiſſe,“ ſagte er ſchwermüthig. 

Ein Schrecken durchfuhr das Mädchen. Gleich darauf aber entgegnete ſie 
mit Ueberzeugung: „Mit böſem Wille? Nei — des glaub i doch net —“ 
Und halb mechaniſch ſetzte ſie ſich auf den Hocker, neben der Drehbank, als ſei 
es noch nicht Zeit zu gehen. 

„X will's verzähle, wie 's hergange iſcht,“ ſagte der junge Meiſter, und ſtand 
mit geſenkten Augen, die Hand aufgeftüßt, vor dem fremden Mädchen wie ein 


184 Deutiche Rundſchau. 


Beihtender. „J Könnt kei'm ſage, aber Sia hent jo e G’fit, — no därf 
i wohl mei ſchwer's Herz ausſchütte. — Alfo, i han e Mädle gern g’hett, 's iſcht 
e Bäsle ame, drunte in Veihinge, e ſaubers brav Mädle. Seht, wia i 
faum G'ſell give ben, iſcht d' Militärzeit komme, i han verfpielt und han müeſſe 
deene'). Im zweite Johr, um Weihnachte, ben i auf Urlaub komme, und mer 
hent Verlobung g'hett, drunte in Eßlinge, wo ’3 Rikele bei ihrer Frau Dot’ gwe 
iſcht; vecht Iufchtig jei' mer gwe.“ Er fuhr ſich mit dem Handrüden über die 
Augen, in feinem Geficht zuckte es. „ezet, noch) eme halbe Johr bin i frei komme, 
ganz u’verhofft, als Belohnung für guete Führung, twia '3 in meim Zeugniß 
g’ftande ifcht. Ben i froh gwe! Yhan ner g'ſagt, kei Wörtle g’fchriebe, i han je 
überrafche wölle. Z'erſcht mei Muetter, in Veihinge drunte, no hot 's mi jo noch 
Eßlinge zoge, zum Rikele, daß i mi net e halbe Stund z' Haus verrubet Ban, 
immer han i ’3 Rifele im Sinn g’hett und die Freud und Verwunderung, daB 
i jo e Glüd Han. No bin i als nad) Eßlinge komme und uf de Markt g’jprunge, 
wo d’ Frau Dot’ wohnt. Jetzt wie no i von fern an d’ Fenſter no guet han, 
im zweite Stod drobe, no fteht 's Rikele halbe drinne, halbe drauße uf em 
Tenfterfims und pußt d' Scheibe.“ 

Er jeufzte ſchwer, Marie ja mit ängftlich aufgeriffenen Augen, die Hände 
gefaltet und horchte. 

„No gibt der böf’ Geift, wo immer feine Finger im Spiel hot, mer ei, daß 
i 'nauf ruefe thue ‚Rikele!‘ Blitzſchnell fährt ihr Köpfle ume, i g'ſpürs, wie fe 
mi berfennt, wie je roth wird und blaß und ihre Händle loslaßt. Fall net, 
Rikele!‘ jchrei i in Todesangſt, und fpring, was i fa, denn i jeh je jchwante, 
no ſchrei i in meina Herzesſeelenoth nomol, — no Liegt 's Rifele uf 'm Stei’- 
pflafter — —“ 

Der junge Menſch verdedte fich das Geficht, dem Mädchen Tiefen die Thränen 
herunter. „Sicht kei' Hilf! meh give?“ fragte fie leiſe. 

„Se hat je nemme q’rührt, noch emal g’jeufzt hat je, no iſcht je todt qiwe;“ 
und kummervoll fuhr er fort: „Hätt i g’jchriebe, ’3 U'glück wär net g’jchehe ; 
's laßt mer kei Rueh. Do han i ’3 erfahre, wer Herr ifcht über Tod und Lebe,“ 

„Der liab Heiland wird Ene Troft ſchicke,“ ſagte das Mädchen nach einer 
langen Pauſe. 

„J mein’, er hätt ſei Engele ſchicke jolle, daß fie ’3 arm Rikele hebe?),“ 
ertwiderte er in trübem Ton. 

„Es fallt kei Sperling vom Dad ohne fein Wille,“ fagte Mariele warm; die 
bibliſchen Worte und Borftellungen waren ihr geläufig und Hatten ihr nod 
immer Troſt gebracht. 

Aber der junge Meifter rief Haftig: „B'hüet Gott, daß i glaube müeßt 's fei 
jei Wille give! no könnt i nemme bete.“ 

Da verftummte Mariele vor fo großem Leid. Nur nach einer Weile flüfterte 
fie wie zu ſich felbft: „Arms Rikele.“ 

„Der Herr Pfarrer Hot freili g’jagt, e ſchö's End hab je g’nomme,“ er- 
zählte der junge Meifter weiter, „und wohr iſcht ſcho, fe iſcht dog'lege wie im Schlof 





i) dienen. 2) halten. 


Was Gottes Wile if. 185 


und g’lädelt hot je no im Särgle. Se hot fein Schred und fein Schmerze 
g’ipürt, hot der Herr Doktor g’fagt. Aber,” fuhr er in lautem Jammer fort. 
„daß i ſchuld ſei mueß, daß i er!) '3 junge Lebe g’nomme hab —“ 

Langſam ftand das Mädchen auf, nahm ihr Tuch und den Hafen mit Saft 
zufammen. „Jez gang i auffi,“ ſagte fie leije zu dem in traurige Brüten Ver— 
funtenen. Sie wollte noch etwas fagen, aber ihre Zunge ftocte. 

„Ach, gehet Se ſcho?“ fragte er. 

„sa, — b’hüet Gott,“ mehr brachte fie nicht Heraus. 

„B'hüet Gott und i dank Ene ebe reiht,“ erwiderte er und jah ihr mit tiefem 
Zutrauen in die feuchten Augen. 

„B’hüet Gott,“ wiederholte fie noch einmal und ging, anfangs langjam; 
ſchneller, al3 jie fi befann, daß es ſchon jpät jei, zehn Uhr, wie e8 eben vom 
Kirchthurm ſchlug. 

„Biſcht Du aber lang ausbliebe!“ ſagte Madele ſtaunend, als die Schweſter 
eintrat. „Der Paile hat ſcho zweimal g'veſperet und g'frogt, in welchen Brunne 
Du verſunke biſcht.“ 

„Iſcht mer ei's,“ ſagte Marie und ſtellte ihre Schüſſel auf den Tiſch. 

„So, biſcht beim Schreiner gwe! Was hat ex no fo lang g'ſchwätzt?“ fragte 
Madele neugierig. 

„Ner, er war erjcht net daheim,” kam die zögernde Antwort. Dann ging 
Mariele eilig in die Küche. Warum fie der Schtwefter nicht die Wahrheit gejagt, 
dachte fie bei fich jelber. Aber es war ihr jo gar nicht in den Sinn gefommen, 
Madele je zur Vertrauten zu machen. Wie hätte fie ihr dieſe Geſchichte erzählen 
follen! Sie erxöthete bei dem Gedanken, daß fie ihr feinen Namen nennen jollte. 
Ah, feinen Namen, — den wußte fie ja jelbft nit! Aber gleichviel, fein Ge— 
fit, feine Stimme gingen ihr nicht aus den Gedanken. „Armes Rikele,“ dachte 
fie, „Du Haft freilich ein Glüd verloren. Wenn ex nur nicht jo 'gar traurig wär, 
wenn man ihn mit was tröften könnt! Es ift doc gewiß Gottes Wille ge- 
wejen, aber er fann’3 nicht glauben, weil er fie gern gehabt hat.“ Marie dachte 
auch über das Gernhaben nach; in ihrer Familie gab es jo etwas nicht. Sonder- 
bar! Nicht einmal Madele var ihr recht zugethan. Es fiel ihr plößlich wieder 
ein, wie jie einmal gerufen: „Meine Stiefmutter biſcht Du.“ Und nachträglich ging 
ihr dies Wort wie ein Sti ins Herz. Gerade feit fie Beide älter geworden, 
waren fie auseinandergefommen. Wielleicht würde es beſſer, wenn auch Madele 
fi verheirathete, vielleicht hatte fie dann den Mann gern. — Sie mußte auch 
an Paile denten. Was der wohl gejagt hätte, wenn fie wie das Rifele zum 
Fenſter hinausgefallen wäre? Nein, das konnte fie fich nicht denken, denn über 
Paile's Kommen konnte fid) Niemand jo freuen, daß er aus dem enter fiel. 
Das war ja gar nicht möglih. Und ftaunend dachte fie, daß es eine Freude 
geben könne, jo groß, daß man an jo einer gefährlichen Stelle jeine Hände los— 
laffen und nicht achten würde, daß man falle, nur um zu winken, um ein Zeichen 
zu geben. Und Halb im Bewußtſein dämmerte es ihr herauf, wie fie ſich an der 
Mutter Sarg angeflammert und wie fie nur hatte bei ihr bleiben wollen, jelbft 
unten in ber falten Erbe. 





1) ihr. 


186 Deutfche Rundſchau. 


Den ganzen Tag ging fie wie im Traum umher. Cine Thür war vor ihr 
aufgethan, aber fie ftand noch auf der Schwelle, verwirrt und geblendet von 
der Helle da drinnen. Am Nachmittage, ſpät, im legten Sonnenlicht, ſchlüpfte 
fie in ihr Kämmerchen, two fie mit Madele jchlief, ſchloß ihren Kaften auf und 
nahm ein Schädhtelchen heraus. Das war ihr Schafäftlein, ihr Reliquienſchrein. 
Darin lag ihrer Mutter Gebetbudh, ein Ring von rothem Stein, den fie ihr 
einft vom Jahrmarkt mitgebracht, und der ihr längft zu eng geworden; ein 
trocknes Gichenzweiglein vom letzten Spaziergang mit dem Herrn Lehrer nach ber 
Gonfirmation; ein fleines enge3 Granatnufter), das ihr beim Tode von Pailes 
rechter Mutter zugefallen; ein Brief von dem Heren Lehrer, der, ald er verreifen 
mußte, einige ber Eleinften, zurücdgebliebenen Schüler dur fie im Lefen hatte 
unterweijen laffen. Sonft pflegte fie andächtig Alles zu betrachten, wenn fie in 
einem freien Augenblick über diefe Schäße gerieth; heut aber räumte fie das 
Schächtelchen mit eiliger Hand aus, warf gar den trocknen Lavendel und Wald— 
meifter achtlo8 auf den Boden, um jchneller zu den tief unten liegenden Andenten 
von der Konfirmation zu gelangen. Da waren fie endlid: ein roſenrothes feines 
Blättchen mit einem darauf gedrudten Bibelſpruch, dann ein andere Blatt mit 
einem Bildchen, unter dem Verſe ftanden. Die lad fie eifrig durch, obſchon fie 
fie auöwendig wußte, dann jann fie darüber, und dann holte fie ein Gläschen 
Zinte herbei, einen Bogen Papier und begann unter vorſichtigem Hinüber- und 
Herüberbliden mit fteifen ungeübten Buchſtaben abzuſchreiben: 

„Es geht ein ftiller Engel 
Durch dieſes Erdenland. 
Zum Troſt für Erdenmängel 
Hat ihn der Herr geſandt. 
An feinem Blid ift Frieden 
Und milde fanfte Huld — 
O folg’ ihm ſtets hienieden 
Dem Engel der Geduld.“ 

Oftmals verjchleierten fich ihre Augen unterm Schreiben, fie. wiſchte fie mit 
der Hand und merkte nicht, daß ihr Thränen aufftiegen. Einmal gingen Schritte 
an ihrer Thür vorbei, da erglühte fie heiß und wollte Alles zufammentwerfen. 
Aber fie gingen vorüber, und das letzte Wort der Verſe ftand fertig da. Was 
nun meiter? Sie bejann ſich lange, jchob ihr Briefblatt auf dem Fyenfterfims 
bin und her und ſah dabei gedankenlos hinunter in den Heinen Krautgarten, wo 
die Stangenbohnen noch feuerroth und weiß blühten und aus den friſch begoffenen 
Salatbeeten ein feuchter Erddunſt emporftieg. — Ein Brief follte dies ja auch 
nicht werden, nur wiſſen jollte er, daß fie dies ſchicke. So that fie denn mie 
bei den Stammbuchverſen, die fie manchmal hatte jchreiben müffen. Sie malte 
vorfichtig darunter: „Zum Andenken an Marie Deininger.“ Bei ihrem Namen 
verfuchte fie einen fühnen Schwung anzubringen, aber die Feder ſpritzte in ihrer 
ungeübten Hand und verjprühte einen ſchwarzen Tropfenregen um die Unter 
ihrift. Voll Bekümmerniß ftarrte fie das Unheil an, zweifelnd ob fie nicht noch 
einmal Alles abjchreiben folle. Aber es wurde ſchon dunkel, die Zeit hätte nicht 
ausgereicht, und morgen gab es twieder jo viel zu thun. So jchob fie denn das 


!) Halsband. 





Was Gottes Wille ift. 187 


mißglüdte Schriftftücf mit einem halben böjen Gewiſſen in ein vergilbtes aber 
leeres Couvert, — da3 einzige, da3 fie befaß, und überlegte die Adreſſe. Die ift 
num ſchwer zu finden, wenn man feinen Namen weiß! Sie hätte fi) wohl be— 
fragen können, aber da3 war ihr zuwider, fie wußte felbft nicht recht warum. 
So ſchrieb fie denn einfach: „An den jungen Herrn Schreiner wo beim Schreiner 
Diez zur Aushilf iſt.“ Mit der Poft freilich wollte fie nichts zu thun haben, 
nein, fie mußte ihren Brief jelbft abgeben. Aber wie? Sie beſann ſich darüber 
die halbe Nacht lang; früher noch als jonft war fie am Morgen aus dem Bette. 
Mit heigen Wangen und Elopfendem Herzen jhlich fie Hinüber nach der Schreiner- 
werkftatt. Dort war es noch ganz ftill. Sie ſchaute duch die ftaubblinden 
Fenſter in die ebenerdige Werkftätte, Niemand war darin. Das machte fie dreifter. 
Sie rüttelte ein bischen an den Fenfterflügeln. Da, einer war nicht ganz ge= 
Ichloffen worden in der warmen Naht, — er ließ fih aufftoßen. Die Dreh: 
bank, an der fie geftern geftanden, two ihr der fremde arme Menſch jeine traurige 
Liebesgefchichte erzählt Hatte, ftand nicht weit vom Fenſter. Wenn fie recht 
vorfichtig zielte, Eonnte fie ihr Briefchen vielleicht bi3 dahin werfen. Aber ihre 
Hände zitterten, und fie warf ungeſchickt, — da lag ihr Zroftlied zwiſchen den 
Hobeljpähnen unter der Drehbank! Mit langem Halſe fpähte fie hinein, beide 
Hände auf das Fenſterſims geftüßt, alle Vorficht vergeffend. Da knarrte eine 
Kammerthür, und ihr grad gegenüber trat in die Werkftatt der junge Schreiner 
mit den weißen Hemdärmeln, ganz jo wie fie ihm geftern gejehen. Ob er fie er— 
blickt? Es fuhr ihr der Schreden fo in die Glieder, daß fie nicht einmal auf- 
ihrie, jondern fi) plößlih unterdudte wie ein wilder Vogel; dann aber nahm 
fie fi zufammen und jprang jo flint davon, wie fie feit ihrer Kinderzeit nicht 
mehr gelaufen war. Die Fenſter der Werkftatt gingen auf den Nedar hinaus; 
wenn fie um die Hausecke lief, konnte fie nicht mehr gejehen werden. Aber fie 
hielt nicht an, fie eilte ſogleich bis nach Haufe und ward erft ruhig, als fie wieder 
in der Eleinen dbumpfen Hammer war, wo Madele mit Rofen auf den Baden 
noch feft ſchlief. Eilig, ald gelte e8 ein Unrecht wieder qut zu machen, ging fie 
in die Küche und zündete Feuer an. An der Thür des Holzftalles begegnete ihr 
Paile, der fie verfchlafen und verwundert fragte: „Wo bijcht no jcho in aller 
Gottsfrüeh gwe?“ 

Das Mädchen trat einen Schritt zurück — fo hatte Paile fie gejehen?: „Jmein', 
3 könnt Dir eis ſei,“ jagte fie, aber fie war doch etwas befangen. 

„Haft ſcheint's Dein Schatz b’jucht!” nedte Paile. 

„J han kein Schaf!” rief Mariele Haftig, „ſchwätz net ſo domm raus!“ 

„Aber i ben ’3 doch? i bin doch der Deinig’, gelt?” meinte Baile mit einem 
Verſuch fie zu umfafjen. 

„Du,“ jagte Mariele jeine Hand zurüdjchiebend, „Du wirſcht bald mei Ma’, 
wenn's Gott's Wille iſcht, — deicht eppes anders,“ ſetzte fie hinzu. 

„Ha,“ brummte Paile, „e gute Ausred’, ifcht drei Babe werth. Wo bifcht 
no big’loffe?“ Sein Gefiht nahm einen mürriſchen, mißtrauifchen Ausdrud an. 

In dem Mädchen ftritten Troß und Offenheit: „Beim Schreiner ben i give,” 
jagte fie zuleßt, „jez wirſcht beruhigt fei, gelt?“ Damit verſchwand fie im Holz: 
fall und rumorte dort drinnen unter den Scheiten, ala tolle fie fich ſelbſt nicht 


188 Deuiſche Rundſchau. 


hören, denn ihr Herz klopfte beflommen und doch froh, wie es ihr noch niemals 
gefehehen war. Den ganzen Tag jah fie die Stühle und Bänke im Haus darauf 
an, ob fie auch ganz und feiner Reparatur bedürftig jeien. Ya, es waren einige 
Schäden da, die längft hätten ausgebefjert werden jollen. Aber dann twagte fie 
doch nicht, fie zum Schreiner zu tragen, vor der Thür noch kehrte fie um. 

Am nächſten Morgen fand fie auf dem Sims vor ihrem Kammerfenfter 
draußen ein Sträußchen Liegen, Rojen und Rosmarin. Mit bebenden Händen 
fterfte fie ’3 unter ihr Halstuch, es war ja nur für fie, e8 jollte Niemand andres 
jehen. „Das ift für das Lied,“ dachte fie, „ad, wenn 's ihn nur recht getröftet 
bat!“ Und fie hätte ihn jo gern gejehen, aber ſie dachte, e8 wäre doch ganz un- 
möglich, daß fie noch einmal in die Werkftatt ginge. 

Am folgenden Tage lag wieder ein Sträußchen auf dem Fyenfterfims, und 
jo fand fie nun täglich eins, zivei Wochen lang. Einmal, als fie mit Mabdele 
vom Felde kam, die Hade über der Schulter, begegnete er ihnen; er jah io 
fauber und wohlgefleidet aus und grüßte jo höflich mit dem großen braunen 
Strohhut. Da ward e8 ihr heiß und bange, denn fie war beihmußt und erhikt 
von der ſchweren Arbeit, fie hatten den ganzen Nachmittag Schollen geklopft. Es jah 
aus, al3 twolle er auf fie zutreten, zögere aber, Madeles wegen, die ihn keck mufterte. 

„Hier ums Ed,“ ſagte Marie und zog ihre Schwefter ſchnell mit fich fort. 

„Dummes Ding,” entgegnete Madele unwirſch, „wie wenn der jaubre Bub 
beiße thät’! Er ijcht jo beim Diez drunte, Wilhelm Heißt er, — aber Du biſcht 
immer ei’blättlet wie e Raup’, mit Diar fa’ mer von fo was garnet rede.“ 

Marie hörte aufmerkſam zu und vergaß darüber zu antworten. Wielleicht 
wollte fie audy nicht. Madele plauderte weiter: „Schad, daß er e Schreiner ijcht, 
und Geld hot er kei's, jagt dem Diez fei' Beth"), ſonſcht thät er mer afalle! 
Buet! D’ Beth thät en au nehme, glei, aber je jagt, 3 Maul jei em fait 
zug'wachſe, ſchwätze thät er faſcht nex.“ 

„D' Beth iſcht argwüeſcht mit exe fchelfe?) Auge,” warf Mariele hin. 

„ Tags au!“ lachte Madele, „bei miar ſollt ex ſcho rede, i probiers emol.“ 

„J glaub gar! willſcht eppe?) em Bube nadjlaufe?“ rief Marie zornig und 
erſchrocken. 

Aber das ſtörte Madeles Uebermuth nicht im geringſten. „Von nachlaufe 
iſcht kei Red',“ lachte fie, „bloß ſehe, ob em 's Maul wirklich zug'wachſe iſcht! 
's wäre ſchad für en, jo e Bild vome Buebe.“ 

Kaum hatten ſie ſich daheim geſäubert und erfriſcht, ſo ergriff Madele einen 
zerbrochenen Stuhl und rannte unter übermüthigem Lachen aus der Stube. 
„Hand, Hand, beiß mi net! Zahn, Zahn, verreiß mi net!” rief fie Marie zu, 
die mit zufammengezogenen Brauen daftand, unſchlüſſig, ob fie fie nicht zurüd- 
balten jolle. Ja, warum denn? Madele war zwar ein ausgelaffener Wildfang, 
aber daß fie fich frech betragen würde, da8 war doch nicht zu glauben. 63 
dauerte ziemlich) lange, bis Madele zurüdtam, wenigftens für ihre Schwefter. 
Sie war nicht ganz jo aufgeräumt wie vorher, fondern machte ſich zuerft über 
den Moftkrug; der September brachte noch immer heißes, durftiges Wetter. 





1) @lifabeth. 2) fchielend. 3) etwa. 


Mas Gottes Wille ift. 189 


„Häa?“ fragte Marie zulekt, und machte ſich an der Tiſchlade zu ſchaffen, 
die fie aufzog und langjam wieder einjchob. 

„Häa?“ gegenfragte die Kleine, als ob fie gar nicht wiffe, was man von 
ihr verlange. 

„Haſcht en g’jehe?" Langjam zog Marie die Schieblade wieder auf. 

Madele nickte. „Worum net?” 

„Was hot er ala g'ſchwätzt?“ 

„Ha, wa3 mer halt jo ſchwätzt!“ erwiderte Madele lachend. „Vom Haus 
und em Better und em Paile und em Mohrle.“ Mohrle jprang bei Nennung 
jeines Namens ſchwänzelnd an feiner Herrin empor. „Wann er e Gütetle hätt,“ 
— jagte fie nachdenklich, „no künnt mer mit em rede, — er g’fallt mer recht 
guet.“ 

„Weiſcht au, ob Du em g'fallſcht?“ meinte Mariele etwas ſcharf. 

„Ba, i denk ſcho! i ben e args netts Mädle,“ rief Madele unſchuldig. 

Am nächſten Morgen lag kein Sträußlein auf dem Fenſterfims. 

Mariele blickte traurig auf die leere Stelle, — ſie wußt' es gleich, nun 
würde nie wieder eins kommen. eben Abend hatte fie das welke, das fie Tags 
über heimlich an fich getragen, in ihr Schächtelchen zu ihren Kinderichäßen ge- 
than; fie lagen ſchon hoch aufgehäuft darin, und jedes Blümchen hatte eine Freude 
bedeutet. Nichts auf der Welt hatte fie bis jetzt fo erfreut wie dieſer ftille Gruß. 
Aber es war wohl eine Sünde, dachte fie jet. Auch, daß der Geber ihr jo gut 
gefiel, jeine grade ſchlanke Geftalt, feine janften Augen, feine rothen Lippen, feine 
artigen Manieren, jelbft jeine Trauer und feine Thränen. Der Teufel geht um 
in allerlei Geftalt, da3 wußte fie genau; grade das, was und gefällt, ftammt oft 
von ihm, ift eine Verſuchung zum Böfen. Sie hatte zwar nod nicht viel Böſes 
gethan, aber fie Hatte doc Augen und Seele an ihm geweidet, dachte fie, — 
ſonſt hätte fie nicht jo viel Unruhe und Angft gefühlt, hätte ſich nicht gefcheut, 
jeinen Namen zu nennen oder von ihm zu ſprechen. Das war unrecht geweſen. 
Dort vor dem leeren Fleck auf ihrem Sims betete fie mit tiefer Inbrunſt, daß 
Gott ihre Seele von ihm abwenden möge, und dazwischen fühlte fie mit brennen- 
der Freude, wie lieb er war, wie nah und wie lieb, und daß fie ihn gar nie 
twieder vergefien fünne. 

Am nächſten Tage ward fie mit Paile zum erften Mal von der Kanzel „ge= 
worfen“. Sie ſaß jo, daß fie den Vetter deutlich jehen konnte. Er hatte noch 
immer dasſelbe ſommerſproſſige dummkluge Geficht wie al3 Bub. Kein Bruder 
fonnte ihr vertrauter ſein. Als jein Name genannt wurde, richtete ex fich ftraff 
auf, wie ein Schulfnabe, den man aufruft, oder war’3 von der Soldatenzeit her 
die Gewöhnung beim Apell. Verlegen jah er nicht aus, cher etwas proßig. Der 
Prarrbauer war einer der begütertften in Hofen. 

Am Nahmittage jagte Madele mit aufgeworfener Lippe: „Der Wilhelm ifcht 
nemme do, er häb älleweil in Stuegert z'ſchaffe, jagt d’ Beth; no, mir Fa’ ei's 
ei, er iſcht, ſcheints, ſo e Dockelmauſer.“ Und als Marie nicht antwortete, fuhr 
fie fort: „Er Hot kei’ Mädle a’führt, aber doch hot er e heimlichs Schäßle 
ghett. Sträußlen hab er brodt!) in aller Fruh und hab je forttrage, ſagt d’ Beth. 


) gepflüdt. 


190 Deutiche Rundſchau. 


Se hab3 zweimal g’jehe. No hab je 's em g’jagt, no Hab er fer Anttvort gebe! 
jo e Dodelmaufer!” 

Mariele hatte fi) tief auf ihre Nähterei gebüct, Trauer und heimliches 
Lächeln, Erbleihen und Erröthen wechſelten auf ihrem Geficht; fie war froh, 
daß der Water hereinfam und Madele abbrach. — 

Einige Wochen jpäter fam der Sonntag ihrer Hochzeit. 

Mariele hatte dafiir gekocht und gebaden, nad) Brauch und Recht. „Se 
madt immer glei e Schwenftwannen voll,“ jagte der Pfarrbauer zu jeiner 
Schwägerin, mit der er fi) bejonder3 qut verftand. Urſchi ſah noch gelber aus 
al3 gewöhnlid. Sie war ein paar Wochen lang Trank geweien. „J Han jo 
g’moint, i fomm do 'naus, uf d’ Kirchhof,“ ftöhnte fie, wie fie langjam zur 
Thür herein ſchlürfte und ſich jchwerfällig niederfallen Tief. Die Bank ächzte 
unter ihrem Gewicht. „'s jcheint aber, mer will mi no net,“ fügte fie mit 
ihrem ungernen Lächeln hinzu. 

„Nei, Du bifcht noch z' böſ'!“ rief Madele nedend; der Ohm lachte beifällig, 
aber Urſchi ſah fie nicht eben freundlich an. 

„Du biſcht a'putzt wie 's Dödele!) us 'm Lade,” jagte fie, „mer fieht faſcht 
net, wer d' Braut ifcht von ich zwoi.“ 

Marie ſah bleih und müde aus, fie hatte die ganze Nacht Teig gerührt, zu 
Gugelhopfen und Kranz und „Wefzgenejcht ?)," dann morgen? um vier jchon Alle 
zum Bäder getragen; Madele hatte zwar geholfen, aber fie war doch die An- 
ordnierin vom Ganzen. Freilich war's ihr eigener Wille jo, — fie wollte durd: 
aus nicht, daß die Hochzeit in Urſchi's Haufe in Fellbach ausgerichtet werde, und 
Madele Hatte ihr Eräftig beigeftanden. „An dere Sauwirthſchaft könnt i net e 
Bröckle eſſe,“ jagte Madele, jo deutlich wie möglich, nad) ihrer gewohnten offenen 
Art, und ganz unbekümmert darum, ob Paile etwa ein Geficht Hinmache, wenn 
er da8 fiber fein Elternhaus höre. Aber Paile machte gar kein Geficht; er fand 
e3 viel bequemer, zu bleiben, wo er jpäter wirthichaften ſollte, und jeine Eltern 
hatten erſt recht nichts dawider. Ein bischen lang wurden ihre Mienen freilich, 
als der Pfarrbauer fich die Koften auf Heller und Pfennig zurüdzahlen lie für 
die Anftalten, erft daheim, und fpäter im Sternwirth3haus; aber Urſula's Hoc: 
achtung dor dem Schwager wuchs eigentlich noch bei diefem Beweis feiner zähen 
Kargheit. 

„Der iſt profitlich!“ ſagte ſie bewundernd zu ihren Söhnen, den Strobel⸗ 
köpfen, „jo müeßt er3®) au mache. J moin’ faſcht, er habs von meiner Muetter, 
aber er hot ſe ja nemme g'ſehe! 's iſcht en args bravs Weib g'we, mei Muetter 
ſelig. Was net ſchlechter iſcht als e Laus, des müeßt er vom Bode ufhebe, hat ſe 
g'ſagt. Aelle Täg hat je des g'ſagt.“ Die Söhne kannten dieſe appetitliche 
Haushaltsregel ſehr wohl, denn auch ſie bekamen ſie alle Tage zu hören; ſie 
gähnten, ohne die Hand vor den Mund zu halten, aber ihre Augen fuhren glei” 
wohl gehorfam jpähend in alle Winkel der Hochzeitäftube, denn eben hier war 
es, two die Unterhaltung ftattfand. Auf den Wandbänten und den Stühlen jaß 
es voll von Gäften; die jüngeren ftanden in den Eden beifammen, aber Buben 


1) Puppe. 2) Weſpenneſt. 3) ihre. 


Was Gottes Wille ift. 191 


und Mädchen getrennt. Die Meiften jahen unbehagli aus, in ihren ſchwarzen 
Treiertagskleidern, nur die älteren Männer mit ihren dampfenden Pfeifen und 
die alten Frauen mit ihren Gefangbüchern hatten jenen ruhigen Gefihtsausdrud, 
der beweift, daß man eine Sache ohne Gemüthserregung an fi fommen läßt. 
Dieſe ſprachen fleigig dem Wein zu, den die Mädchen umhertrugen, — abgeftellte 
Gläſer, Geſangbücher, Sadtücdjer, und hie und da ein Blumenftrauß lagen zwiſchen 
den Schüffeln voll Gebäd auf dem Tiſch und den Fenſterſimſen. Aus der Mädchen- 
ee tönte manchmal ein Kichern, dann ſchloß ſich das Häuflein dort dichter zu— 
jammen, und wenn gerade Madele de3 Wegs kam, ward fie lachend mit in den 
Kreis gezogen. Mariele mußte immer an der Mutter Begräbnißtag denken, — 
jeit jenem Tag war es das erfte Mal, daß fo die ganze Verwandtichaft hier 
verfammelt war. Dann ftörte fie faft das Kichern au3 der Ede, als etwas, das 
doch damals nicht geweſen war. Die und da hörte fie auch die Stimme ihres 
Vaters, — die hatte damals geſchwiegen, — nun knarrte fie, ganz wie feine 
börnerne Schnupftabatsdofe beim Aufdrehen, unter den anderen Stimmen hervor. 
Er erklärte joeben, daß er feine Muſik, feine Bläfer und Geiger vorauf gewollt 
babe: „'s ko'ſcht glei weiter und in Stuegert fieht mer de3 au nemme.“ Der 
Pfarrbauer war jehr für den Fortſchritt, wenn Fortſchritt billiger war. — Der 
Vater de3 Bräutigam war hinausgegangen, „d’ Säu a’jehe.“ 

„No ka'ſcht glei dei Paile mit a’jehe,“ rief ihm Madeles fpikiges Zünglein 
nad, „der iſcht Älleweil noch am Miſchte'.“ 

Paile hatte ſich allerdings noch nicht blicken laſſen; es war ihm nichts ärger, 
al3 von der ganzen Verwandtſchaft angegafft zu werden. So machte er ſich da 
und dort zu thun, um draußen den Augenbli zu erlauern, two der Aufbruch zur 
Kirche ftattfinde, und fi dann ohne viel Worte dem Hochzeitszuge anzufchließen. 
Diadele hatte ihn aber gejehen und ihm ein jcharfes Wort überd andere gegeben. 
Mit der Kinderfreundichaft zwijchen den Beiden war es aus, wie mit dem Ver— 
trauen zwiſchen den beiden Schweftern. So unfroh wie jet war da3 Haus 
faum nad) der Mutter Tode geweſen. 

Der Ohm fam wieder herein in da3 heiße Zimmer und rief duch die 
grauen Tabakswolken, daß es nun Zeit jei. Hinter ihm folgte auch Paile, ſehr 
toth gewaſchen, auf der Stirn eine Molke, vielleiht von Madele's Sticheleien 
her, — übrigens trat fie jet an ihn heran, um ihm den Bräutigamzftrauß an 
den Rock zu Heften. Doc hätt’ e8 um ein Haar nod einmal Streit gegeben. 
63 fiel ihr nämlich ein, ihn auch an der Halsbinde zu zerren, mit dem Bemerfen, 
„was weiß en Ochs, warın Sonntag ijcht!" und fie loszufnüpfen. Nun hatte 
aber eben dieſe Halsbinde dem Paile heut ſchon eine Stunde lang Elend gemacht, 
darum jchlug er Madele grob auf die Hand, und erft Mariele gelang es, ihn 
zu bejänftigen. Doch grollten Beide nod) eine Weile fort, und jelbft auf dem 
Wege zur Kirche ſahen fte ſich mit gerungelten Stirnen und feurigen Augen an, 
jo daß eine der Brautführerinnen Madele anftie und ihr zuraunte: „Geh, 
Made, mac e Zörnle.“ Aber auch das alte Kinderwort brachte fie nicht mehr 
zum Lachen, Madele's Natur fchien gänzlich ins Säuerliche umgejchlagen. 

Mariele trat wie im Traum in die Kirche, — erft als die liebe vertraute 
Stimme de3 Pfarrers an ihr Ohr ſchlug, fahte fie fi zufammen und zwang 


192 Deutiche Rundſchau. 


fih, aufzumerfen und fein Wort von der Predigt zu verlieren. Der einzige 
Gedanke, der Har in ihrem Kopfe ftand, und fie bi3 vor ben Altar begleitet 
hatte, war der: „Weil’3 Gottes Wille iſt.“ Wenn das Bild bed Andern ſich 
eindrängen wollte, jedesmal hatte fie'3 zur Abwehr gejagt: „Gottes Wille.“ Und 
dann Hatte fie nachgeſonnen und fich Alles gründlich überlegt, „'s iſt meines 
Dater Wille, aber dem ift’3 um den Paile, weil er feinen Sohn Bat, umd der 
Paile Tann jchaffen für drei, und thut’3 auch; 's ift meines Oheim's Wille, aber 
dem ift’3 um mein Güetle; ’3 ift Urſchi's Wille, aber die will’, daß ihre Söhn’ 
auch erben; 's ift Paile's Wille, aber dem iſt's halt auch um's Güetle; aber '3 
ift meiner todten Mutter Wille, und die hat mich gern gehabt, und aljo iſt's 
auch Gottes Wille, und was Gottes Wille ift, das ſoll auch mein Wille fein.“ 

Nun ſpannte fie alle Seelenskräfte an, um zu horchen, ob das nicht Alles 
mit des Pfarrer3 Morten zufammenftimme Sie heftete ihre großen übernäd: 
tigen Augen feft und fragend auf fein gutes mildes Antlig, und er jah es wohl, 
und bald war’, al3 rede er für fie allein, eine jo lange Traurede war ihm jelten 
auf die Lippen gefommen. 

Er redete von der Liebe. Won jener höchften, die ihr Leben ließ für ihre 
Brüder, daß fie daran erfennten und erjähen, wer die größte Liebe habe. Und 
dann ging er über auf die Liebe in der menſchlichen Gemeinſchaft, und ſprach, 
daß er eine treue Tochter vor ſich Habe, die wohl wife, was es ſei um bie 
Mutterliebe, die da wache und jorge, jelbft über? Grab hinaus, und die aud 
für fie gejorgt, daß ihre Liebe, die fo früh der Tochter habe fehlen müſſen, erjegt 
werde durch die and’re, die eheliche Liebe und Treue, indem fie jelber den aus 
gewählt, der einmal ihre Marie heimführen jolle. 

Marie holte tief Athen, es ftimmte Alles. Freilich, fuhr der Pfarrer nad) 
drüdlich fort, heiße es bei aller Menſchenſorge: der Menſch denkt, Gott Ientt, 
bier aber jei e8 zufammengetroffen. Gott habe zum Willen der Eltern jeinen 
Segen gegeben, habe die Herzen der beiden jungen Vertvandten einander zugeneigt, 
daß fie fi) gern hätten, jo gern, daß er fein ander Weib und fie feinen andern 
Mann begehre. Dafür jollten fie ihm danken inniglid. 

Marie war erblaßt, fie ſah noch immer den Pfarrer an, aber fie hörte nicht 
mehr, was ex ſprach; bei feinen leßten Worten war ihr etwas Neues, Uner⸗ 
twartetes aufgegangen. War e3 jo mit ihr, wie der Pfarrer fagte? und wenn 
e3 nicht jo war, war es dann auch noch Gottes Wille? Dem Bräutigam ward 
die Trauformel vorgeſprochen: „Hierauf frage ih Euch,“ — aber fie erwachte 
erft aus ihrer Grübelei, als Paile's Stimme dicht neben ihr das „Ja“ ſprach, 
das ihr dumpf durchs Herz dröhnte. Und nun fam fie an die Reihe; aber fie 
folgte den Worten nicht, ins Leere gingen ihre Gedanken, ihre Blicke glitten an 
den Geiftlichen vorüber, und plötzlich Hafteten fie ſtarr und verzückt auf einer 
Ede hinter dem Altar, two ein fehmerzverzogenes bekanntes Gefiht wie aus der 
Wand hervor, angſtvoll auf fie ftarrtee Woher kam der auf einmal? Und 
warum blidte ex jo erjchroden, als ſei fie das Rikele, und werde hier vorsfeinen 
Augen aus dem Fenſter ftürzen? Ein Schauder lief ihr über den Rüden. War 
das Gottes Wille? Konnte das Gottes Wille fein, daß fie den Paile zum 
Manne nehme, und der Andere ftehe dort in der Ede und jähe aus wie der Tod; 


Was Gottes Wille if. 193 


und wenn ihr da3 weh thue im Herzen, ſei e8 wohl gar Sünde? Sie jeufzte 
laut auf, ihr Geſicht überzog ſich mit Leichenbläffe; fie wankte und taftete mit 
der Hand nad einem Halt. 

„So beftätiget die vor Gott und diejen Hriftlichen Zeugen mit einem aufs 
richtigen Ja,“ jagte der Pfarrer, und jah fie forjchend und feierlih ar. Mariele 
bebte nicht mehr, nur ihr Herz zitterte ihr in der Bruft beim Laut ihrer eigenen 
Stimme: fie hatte „Nein“ gejagt. 

„Was? was war dad? Nein?" Ein unruhiges Gemurmel lief durch bie 
Berjammelten ; der Ohm Bärenwirth rüttelte den Pfarrbauern, der eben tief in 
einer Berechnung des guten Herbftes ſteckte, rauh am Arm und ſchrie: „'s Mariele 
jagt Noi!” und „'s Mariele jagt Noi,“ pflanzte fich's weiter fort durch die Kirche, 
und Berwunderung und Verftörung malte fih auf allen Gefichtern. Paile, mit 
glührothem finfterem Geſicht murmelte: „Herr Pfarrer, je will mi net;“ Urſchi 
ballte die Fauſt in die Luft, und der Pfarrbauer mit dicken Zornadern auf der 
niedrigen Stirn fuchtelte mit den Armen, al3 wolle ex ſich thätlich an der Tochter 
vergreifen. Da bdonnerte plößlich die Stimme de3 Pfarrers: „Ruhel” und ala 
jofort Stille eintrat, fuhr er ganz ohne Zorn, aber auch ohne Freierlichkeit, in 
väterlichen Halbleijen Tone fort: „Madele, williht Du en?“ ") 

Jo!“ jchrie eine helle jchluchzende Stimme, und im Nu fühlte fi) Mariele, 
die Alles wie ein Lamm über fich ergehen ließ, von den Füßen, und zurüd 
zwifchen die wüthenden Alten gejchoben, und an der verlafjenen Stelle, neben 
dem Paile, ftand Mabdele, jo bereitwillig, mit jo freudigrothen Baden, als ſei 
fie von jeher zu diefem Werk entjchloffen gewesen. 

Ueber de3 Pfarrherrn Geficht ſchoſſen humoriſtiſche Lichter. Er ſprach nur 
noch ein Gebet, während Mariele ihrer Schwefter den Ring zuftedte, daß fie ihn 
mit Paile wechſele. Dann war die Freier beendet. Der Pfarrer verſchwand in 
der Sakriſtei; laut redend und lachend verließ das Traugefolge die Kirche. Noch 
hatten fi) die Neuvermählten feinen Blick zugeworfen; kaum aber traten 
fie aus der Kirchenthür, als Paile fih langſam umtmendete und das Dtadele 
ins Auge faßte, ala hab’ er es noch niemals gejehen. Und plößlich jauchzte ex auf, 
daß es jchallte: „Io! Mädle, mer zwoil* und er hob fie vom Boden auf, 
ſchwenkte fie hoch herum und feßte fie erft nieder, als fie ihn bittend, aber 
beharrlih, und mit ſchamrothem Gefichte an den Obren 309. 

Nun begann ein lautes Freudengeſchrei. „Jo!“ riefen die Burſchen; mit 
Gelächter und Händeklatſchen antworteten die Mädchen, und hoben fich auf die 
Zehen nach dem neugebadenen Paar. Es ward ein Hüpfen und Springen, als 
folle der Tanz ſchon mitten auf der Dorfgaffe anheben. Und woher fam nur 
die Mufit? Auf einmal war fie da, ganz wie gerufen, und die Geigen fraßten, 
die Flöten jubilirten, und unter dem fröhlichften Hochzeitsmarſch zogen die Jungen 
in den „Stern,“ aus deſſen dichtichattigem Garten ein luftiges Vogelgezwiticher 
ihnen entgegentlang. 

Die Alten freilih gingen als ein unheimlich geringelter Drachenſchwanz 
hinter dem luſtigen Volke drein, mit Groll und Empörung und gottjeliger Ent— 


') Hiftorifch. 


Zeutihe Rundſchau. XVI, 8. 13 


194 Deutſche Rundichau. 


rüftung über jolden Einbruch in den heiligen Ernft der Kirche und des väter- 
lichen Willens. Am lauteften ſchürte Urſchi, aucd gegen den Pfarrer, der den 
Ungehorjam unterftüßt, ftatt ihn gebührend zurechtzuweiſen. Das jollte man 
ana Gonfiftorium melden, da würde man dem Herin Pfarrer feinen Maien 
ftefen, eiferte fie — jet hab’ der Paile das Madele, die Schnäpperbüdhs am 
Hals, und Fein Güetle dazu, denn das ſei doch der Nelteften, nad) wie vor; jetzt 
folt’ der Pfarrbauer nur ins Ausdinghäusle boden, daß das Mariele ber 
Schweſter auszahlen könnt. Warum der Paile, der Dilledapp, fich nicht gewehrt 
habe, daß ihm der Pfarrer das Madele angetraut? — 

Der Paile und ſich wehren! eben flang jein Juchzer durch Urſchi's Rede: 
ftrom. Der PBaile war noch nie jo froh geweſen wie heut. Verwandelt war 
der Burſch, der bedädhtige, nicht leicht aus dem Gleihmuth Gebrachte — heut war 
er jung und audgelaffen, twie er es faum ala Bub geweſen. Aus allen Ecken 
tönte Madele’3 Lachen und Scelten; fie fonnte ſich faum jeiner eriwehren, immer 
wollt’ er den Arm um fie legen, immer fte an feiner Seite haben. Was kümmerte 
ihn das Schreien und Fluchen der Alten, die fich nicht jcheuten, laut dazwiſchen 
zu fahren, weil man die Sad)’ vielleicht noch rüdgängig machen könne. Das 
glückliche Paar lachte fie aus, that der Urſchi jogar den Aerger an, die Strobel: 
köpfe gänzlich) auf feine Seite herüberzuziehen, — bie folgfamen Söhne, von 
denen fie den einen in Gedanken, wenn Alles vecht gegangen, ſchon mit Madele 
verheirathet und neben Paile auf dem Deiningergüetle gefehen hatte. Gleich Licht: 
jcheuen Verſchwörern zogen fich die drei Alten in ein dunkles Hintergimmer im 
„Stern“ zurüd, mit der Ausficht auf die Dunglege und den Hühnerftall. Cine 
ungezählte Menge Sppoppen, die hineingetragen wurden, und je und je ein 
lauter Wuthausbruch bezeichnete ihren Schlupfwintel. — 

An der andern Seite de3 Gartens, unten am Abhang gegen den Nedar, 
gab e3 eine abgelegene Laube, und dort ſaß Mariele. Sie war no in ihrem 
ſchwarzen Brautfleide, aber den Kranz hatte fie Schon vor dem Altar abgenommen 
und ihrer Schwefter auf3 Haar gedrüdt. Die Hände vor fich auf dem morſchen 
Holztiſch gefaltet, den Kopf etwas geſenkt, ſaß fie nachdenklich da, fich befinnend, 
was nun ihr Schiejal fein werde in dem Haufe, aus dem fie fich jelbft vertrieben 
hatte. Bertrieben, das wußte fie qut genug, und der Water hatte ihr's ja aud 
noch in der Kirche zugeichrien: „So Einer gehöre ein Betteljad, er laſſe ſich nicht 
länger zum Narren halten, von jo Einer.“ 

Traurig aber war ihr nicht zu Sinn, jondern gehoben, ftark und frei: „Und 
jetzt weiß ich auch, wie 's dem Rifele zu Muth war, da '3 aus dem Fenſter 
fiel,“ dachte fie, und ein heimliche Roth ftieg ihr in die Wangen. 

Indem trat Madele herein und ſetzte fild neben fie. Auf ihrem Schelmen- 
gefihtchen ftritten Weinen und Laden. Sie nahm Mariele'3 Hand, lehnte ihre 
Bade darauf, und eine warme Thräne tropfte aus ihren Augen. „O weger, 
Mariele, jez iſch letzt), der Vatter jchreit, wer de Paile häb, der joll au’ '8 
Güetle han; jez bijcht um Aelles komme und i han's g'wunne.“ 


1) ſchlimm. 


Was Gottes Wille ift. 195 


Marie warf einen betrübten Blick nad) der Gegend, two ihr Vaterhaus lag, 
das Haus ihrer fteten Sorge und Mühe — aber fie jagte gefaßt: 

„Jhan mers denkt, Madele, 's iſcht ſcho recht, i widerjeg mi net; Gott'swille 
geht vor Menſchewille.“ Nach einer Pauſe fuhr ſie fort: „Haſcht aber em Paile 
net e biſſele z' ſchnell Dei Jawort gebe? J ben faſt verſchrocke drüber" — 

„O, der Paile iſcht mer lang ind Herz 'nei bache!)“, rief Madele betheuernd, 
„und i dank Dir ebe recht, daß Du en net g'nomme haſcht.“ Und ſie fiel ihrer 
Schweſter um ben Hals und küßte fie feurig. Das war ſeit Kindertagen nicht 
zwijchen ihnen gejchehen. Wie von einem plößlichen Licht erleuchtet, fagte Marie: 

„Gelt, jez bin i nemme Dei Stiefmutter?“ 

„J ben recht wüeſcht give,“ flüfterte Madele beihämt und drüdte ihr die 
Hand. „Ha, do fommt der Paile, er ſucht mi als; ex iſcht no a biffele wild, 
weil Du em e Nein gebe hafcht, und er iſcht jo dag’stande wie e pappeter Jeſus, 
— ade derweil, i hol Dir eppes 3’ efje und z' trinke.“ 

Mit Lächeln blickte Mariele ihr nad, wie fie Paile entgegeniprang. Sie 
verftand die Mleine mit Hülfe ihres eigenen Gefühle. „So alſo iſt's,“ dachte fie, 
„das Gernhaben ift Gottes Wille, und da muß man folgen; two aber fein Gern» 
haben ift, da will Gott nicht, daß Zwei zuſammenkommen!“ Und fie verjant 
in Staunen darüber, wie herrlich Alles geordnet fei; und dankte Gott inbrünftig, 
daß er fie hatte Nein jagen laffen. Dann blidte fie durch die Zweige ihres 
grünen Verſtecks und hatte Freude an Allem; an dem ziehenden Fluß, über dem 
in der Ferne duftiger Nebel aufftieg, an dem jpiegelnden Wehr und dem abend» 
lid vofigen Himmel; an den fruchtfchweren Rebftöcden in den Weinbergen; ja 
ſogar an ben vielen Herbftzeitlofen, die den grünen Raſen lieblih mit ihrem 
zarten Lila überftreuten. Sie find zwar giftig und ein ſchwer zu vertilgendes Un— 
fraut, über da3 der Water und der Schulmeifter oft genug ihren Zorn ergießen, 
aber da3 Auge weiß davon nichts, und Hat fie nicht auch Gott gemacht? Der 
Bater hatte ja auch ihre weißen Sterne und Lilien nicht leiden können, und 
vieleicht find die auch Gift für die Ziegen und Kühe. Es wächſt doch nicht 
Alles nur dazu, um von dem Vieh gefreffen zu werben. „Auf dem Lande ift’3 halt 
fo,“ dachte Marie, „wär's nicht um die Stuttgarter, die immer da herausfommen, 
fie hätten auch die Ruine oben im Sterngarten ſchon längſt heruntergerifjen. 
Aber ich hab's ja jelbft gehört, wie ein Herr zum Sternwirth gejagt hat, das 
ſchlanke graue Mauerwerk ſollt' ex in Ehren halten, Wein, aud) guten, gäb’3 vieler 
Orten, aber die Ruine hier am Nedar, das jei recht das Wahrzeichen von Hofen, 
jo etwas jei ſchon jeltner. Und,“ dachte Marie, „'s ift auch wahr, Fellbach 
bat feine, und ’3 wär ſchad dafür, wenn fie nimmer da ftände, und two jollt’ 
naher dad Grüntöffele geiften gehen, das jo viele Leut durch die Mauer haben 
aus⸗ und einjchlüpfen jehen, mit ihrem Schleppfleid und dem goldenen Schäpple 
und den jpißigen grünen Schnabelſchuhen, nad denen man e3 benannte.“ 

Und weil ihr Herz erlöſt war und ihre Augen müde, jo legte Marie den 
Kopf auf die Arme und jchlummerte leicht ein, und ihr träumte, fie fähe das 
Grüntöffele aus der Mauer hervorgehen und winken. Es winkte mit einem 





1) eingebaden. 
13 * 


196 Deutihe Rundſchau. 


goldnen Schlüffelbund, das fie in ihrer weißen Hand hielt. „Findſt en Schaf,“ 
fagte das Geiftchen; es war nur halb jo groß wie ein Menſch; fein Geſicht war 
fpib und weiß und rungelig und feine Stimme ganz hell, wie ein Flötenton. 

„Sa, Gria’töffele, wo denn?" fragte Marie verwundert. Da faßte das 
Geifthen fie an der Hand, daß fie in die Höhe fuhr und ſich umſah. Es war 
halbdunkel geworben; in ihrer linken Hand ftedte ein Sträußchen, das ihr in bie 
Naſe duftete. Und neben ihr jagte Etwas: „Grüeß Gott, Mariele.“ 

Ein bischen unficher und noch halb im Traum eriwiderte fie: „Grüeß Gott, 
wer iſcht do?“ 

„Du kennſcht mi ſcho,“ jagte die Stimme leife und zutraulich, eine tiefe 
Stimme, nit wie die vom Grüntöffele, Marie erkannte fie und verftedte ihr 
Geſicht in das Sträußchen, obgleich fie gar nicht zu jehen war; trotzdem wußte 
fie num ganz gut, wer da vor ihr am Tiſche ftand. 

„J wollt froge, Mariele, worum haſcht aber Nein g’fagt in der Kirch?“ 

„J han en halt net gern, nur jo —“ erwiderte fie mit zitternder Stimme. 
Eine Paufe folgte. Dann Klang e8, aber zaghaft und Eleinlaut: 

„Mariele, i han e ſchweres Herz und — e leichte Beutel, — aber — därf 
i morge wieder Sträußle brocke?“ 

„J gang in d’ Stadt, in Deenjcht,“ flüfterte das Mädchen. 

Wieder eine Pauſe. Dann kam es, noch demüthiger als zuvor: „Mariele, 
moinft, daß d’ mi gern babe könnteſcht?“ 

„J moin faſcht,“ und aus ihrer Stimme hörte er, daß fie lachte. Sie ſtreckte 
ihm über den Tiſch hinüber die Hand hin. 

„Gelt, Wilhelm heißeft ?“ 

„a, Wilhelm,” und er hielt ihre Hand feft mit feinen beiden. 

„Weifcht, mer merkt 's glei, wenn’3 Gott’3 Wille iſcht,“ jagte fie nachdent: 
lich und fröhlich zugleich, „mer g'ſpürts im Herze.“ 

„Wohl! wohl! ’3 ifcht mer fajcht broche gwe, wia i g’hört hab, Du heirathft 
en Andre, und heut Morge —“ 

„a,“ jagte Marie abiwehrend, — „aber Deine Sträußle älle Tag — 
„Und des jchöne Lied, Mariele, i fa’3 gar nemme vergeſſe, ‚es J ein 
ſtiller Engel! — weiſcht, des biſcht Du, Mariele.“ 

„Ha noi,“ rief das Mädchen erjchroden, „deicht ja die Geduld!“ 

„I han immer Dei Gfichtle g’jehe, wia D’ über mein U'glück Thräne ver: 
goſſe haſcht, — deſcht befjer ala bloß fo Geduld,” fagte der junge Mann. 

„Geh, Wilhelmle, daß Di Niemand ſieht,“ bat das Mädchen, „gut Nacht, 
ichlaf wohl,“ und wollte ihre Hand losmachen. 

„Guts Nächtle, jchlaf wohl, ’3 Lieb Herrgöttle jei Dei Wächterle, jo jagt 
mei Mutter,“ — ex hatte einen jo zärtlichen Ton dabei, daß Marie unwillkür— 
li fragte: 

„Halt Dei Mutter gern, gelt?” 

„I glaub3 wohl,“ lachte er verwundert, „mei Water ift jong g’ftorbe, drei 
Johr alt ben i gwe, no Hat je mi ufzoge, alleinig. E klei's Vermögele hat je 
von z' Haus Friegt, no hot je des G'ſchäft a’g’fange, des Goldſticke; 's bringt 


Mas Gottes Wille ift. 197 


ſcho was, denn des verfteht net e Jedes. Jez gang i und red mit er, daß fe ’3 
Dei'm Batter jagt.“ 

„Sa, aber er wird wild werde, und was wird Dei Muetter jage, wann ’8 
Güetle nemme mei’ ghört?“ 

„Da, je wird halt denke, daß mer's ums Mädle iſcht und net ums Güetle, 
— da fa’ mer ner made. Wann Dei Schwejchter Di naußzahlt, no iſch guet, 
wann net, no ſchafft mer reiht, — i fünnt kei Bauregüetle brauche —“ 

„Wann i 's G'ſchäft von Deiner Mutter Ierne könnt,“ meinte Marie. 

„Ha, worum net? aber 's wird net nöthig je, — i hab mei Sad 
glernt, i bin uf Schule gwe, und hab en Preis Friagt, vorgejchtern, in Stuegert 
uf der G’werbauäftellung.” 

„En Preis? ja für was?" 

„Für en eichene Eßtiſch mit g'ſchnitzte Drachefüeß, — halt, jez weiß i was 
— jez mach i no emal eine, aber en kleinere,“ und er lachte fröhlich in ſich 
hinein. Dann drückte er noch einmal ihre Hand feſt: „O Mädle, kennſcht 
des Lied, wo anfangt: ‚DO du mei ſchöne Sonneblum, i bau’ mei Herz um bi 
herum‘ — grad fo iſcht mir 3’ Sinn, Mariele.“ 


———— 


— Madele war nicht wenig überraſcht, in der dunklen Laube leiſes Sprechen 
zu hören, da ſie doch ihre Schweſter noch immer allein glaubte. Noch mehr aber 
erſchrak ſie, als ſie, mit Speiſe und Trank beladen, eintretend, an einen ſchlanken 
jungen Mann anrannte, der ſofort ein Streichholz entzündete, und es ſich ſelbſt 
vors Gefiht hielt. Wahrhaftig, der hübſche junge Schreiner! Madele ftellte 
baftig ihr Brett nieder und blidte aufmerkffam von einem zum Andern. 

„Jerum, Mariele, Du kennſcht en jo net!“ rief fie in hellem Erſtaunen. 

Marie erröthete und lachte: „Aa, ſcho.“ 

„Serum, Du weiſcht jo jein Name net!“ 

„Du haſcht en mer verrathe, Madele,“ neckte Marie. 

„Komm, ſei g’jcheidt, gib Deim Schwager e Pätjchle, und i dank D’r ebe 
recht, da De de Paile g’nomme haſcht,“ jagte der Schreiner zutraulich. 

Madele war drauf und dran, ein „Zörnle” zu machen, wie immer, wenn 
fie etwas nicht begriff. 

„Docdelmaufer!” murrte fie. Plötzlich aber brach fie in Tautes Lachen aus: 
„Der Batter wird feine Auge’ ufreiße! i ſieh's ſcho, die große feurige Rollauge!” 

Und die machte denn der Pfarrbauer in der That, al3 am nächſten Nach— 
mittage ein altes rauchen mit frühverwelktem, aber Elugem Geſicht, aus dem ein 
Paar großer, ein wenig kränklicher Augen blidten, bei ihm einrüdte. Sie trug 
reputirliche ftädtiiche Kleidung, einen grauen Rod und ein graues Shawltuch— 
graue Baumwollhandſchuh und einen hellen Strohhut mit grauem Band, und 
ihre Stimme war ebenfo weich, twie die Farben, die fie trug. Sie wußte aber jehr 
geſchickt und ungezivungen dad Geipräd auf ihren Sohn zu bringen, der dem 
Bauern wohl befannt jei, weil er eine Zeitlang beim Schreiner Diez ausgeholfen. 

„8 iſch mer leid, noi,“ jagte der Bauer kurz. 


198 Deutiche Runbichau. 


Das machte die rau nur wenig betreten, fie fuhr ganz gemädlid fort, 
von der Tüchtigkeit und dem Geſchick ihres Sohnes zu reden, der jet auch einen 
Preis auf der Gewerbeausſtellung gewonnen habe. 

„Sicht mer net bekannt,” hüftelte der Bauer. 

Aber die Frau fam nun ruhig und deutlich auf den Punkt, daß diejer tüch— 
tige Sohn de3 Pfarrbauern Mariele zur Frau Haben möchte. 

„8 iſcht mer leid, aber Geld hot je koi's,“ und der Bauer wollte ihr den 
Rücken zudrehen. 

Da aber fuhr die janfte Frau auf. Ob fie danach gefragt Habe oder nad 
dem Mädle? Ein Handwerker könne e8 freilich auch) brauchen, wenn die Frau 
etwas mitbringe, aber jo drauf verjeffen, wie die Bauernleut, das jeien fie nicht. 

's jei ihm leid, aber wer auf die Bauern ſchimpfen wollt, der jollt nicht in 
ein Bauernhaus kommen, war die exbofte Antwort. Dieſe aber überhörte die 
Mutter ganz und fuhr mit großer Lebhaftigkeit fort: fie Hab’ fi und ihren 
Sohn jahrelang mit Goldftiken ernährt, all die ahnen der Umgegend für 
Veteranen= und Kriegervereine wie für die Innungen, aud) viele Altardecken jeien 
von ihrer Hand geftict worden, — drum hab’ fie feine Angit, dat fie müſſe zu 
Grund gehen, wenn auch ihre Sohnesfrau feinen vollen Sädel mitbringe. 

„En leere!” unterbrach fie der Bauer. 

Sie aber fuhr fort: Und fo ein Mädelesherz, was in jo einer Verjuchung 
feine Treue bewähre, das ſei auch was werth; fie hab fein heulen müflen, als 
ihr Wilhelm ihr’3 erzählt hab’. 

Hier fuhr ber Deininger auf, 's fei aljo eine abgefartete Gejchicht geweſen 
mit dem Neinfagen? Gut, aber ex jage auch nein; feine Tochter jei eine Bauern- 
tochter und nicht für jo einen Schreiner, — ja, wenn er nod) Geld hätte, aber 
er hab’ ja nichts, jei ja ein armes Luder, — für Geld fünne man Alles haben, 
aber ohne — 

In diefem Augenblid trat Marie herein, die vor der Thür mit Herzklopfen 
dem Streite gefolgt war und jagte mit ermahnender und zugleich bittender 
Stimme: „Batter, wiliht Du no’ emal Chriftum verfchachere?” 

Ob fie jelber recht wußte, was fie jagen wollte, — ob der Vater fie ver: 
ftand, genug — es waren die richtigen Worte, der Bauer verftummte Ma— 
viele aber führte die Frau, die ganz erſchöpft auf die Bank geſunken war, in 
ben Garten, um fie zu beruhigen und zu erquiden. Sie hatten fich beim erften 
Erbliden lieb gewonnen, und während die rau aß und trank, erzählte fie von 
ihrem Wilhelm, wie brav der fei, und wie ex jchon als ganz Kleiner Bub auf 
jeines todtfranten Vaters Drechſelbank gefeflen und gejagt Habe: „X werd au e 
Spreiner, und wann i groß ben, bärf der Vatter nemme Baffe.“ 

Das war in aller Aufregung eine glückliche Stunde. 

Als fie wieder in die Stube gingen, hatten Madele und Paile aud am 
Ueberredungswerk geichafft. Der Vater jagte jetzt, feine Aeltefte habe fich in der 
Kirche betragen, daß es eine Schande jei fürs ganze Dorf; er ſei alleweil froh, 
wann fie fortfomme. 

Das war jein Jawort. Und nad vier Wochen ftand Mariele abermals 


Was Gottes Wille ift. 199 


vor dem Altar, aber diesmal in dem hochgelegenen gothiſchen Kirchlein von Berg, 
wo man weit hinausfieht über das grüne gejegnete Nedarthal. 

Es hieß, das Konfiftorium Habe das kurze Verfahren des anderen Pfarrers 
allerdingg monirt, — es ſchien ihn aber nicht angefochten zu haben. Sein 
Geficht glänzte, jo oft er dem jungen Paar begegnete. Als es das erfte Mal 
geſchah, winkte er Madele zu fi) heran und ſagte ſchelmiſch: „Gelt, Du, ich 
hab's recht gemacht?“ 

Und als Madele nur verlegen mit dem Kopfe nickte, flüſterte er: „Was ich 
noch ſagen wollte, — wer hat auch den Paile hinterm Zaun geküßt am Hoch— 
zeitmorgen?“ 

„O Herr Pfarrer, 's iſcht jo mei leiblichs Vetterle gwe!“ rief Madele hoch— 
erröthend. 

„Wohl, aber gelt, ſo iſcht's doch beſſer?“ lächelte der Pfarrer. — 

Im gothiſchen Kirchlein in Berg ſprach nun Mariele das gebräuchliche Ja, 
aber obgleich ſie dies bedeutungsvolle Wörtchen zu einer glücklichen Frau gemacht 
hat, iſt's eben ſeiner Gebräuchlichkeit wegen nicht ſonderlich ins Gedächtniß der 
Dorfgenoſſen gefallen. Jenes ihr Nein aber iſt ſprichwörtlich geworden, und 
wenn Jemand das gerade Gegentheil ſagt oder thut von dem, was man von 
ihm erwartet, da ſchaut man ſich an und ſpricht: „'s Mariele ſagt noi.“ 


Fürſt Dismark. 





Der 20. März 1890 bezeichnet einen Markftein in der Gejchichte des 
deutjchen Volkes: fühlbarer, deutlicher noch als der Heimgang Weiland Kaifer 
Wilhelm’3 jagt uns der Rücktritt des Fürften Bismarck, daß eine Periode großer 
Entwidlungen geendet und daß eine neue begonnen hat. Ein neues Geſchlecht 
und eine neue Zeit fommen herauf. Wir, die wir um unferer Ideale willen in 
unjerer Jugend gelitten und in unferen reiferen Jahren gekämpft haben, bis 
wir fie verwirklicht jahen in Kaifer Wilhelm und Bismard, wir treten jeht 
allgemach zurüd, und andere Männer treten hervor. Neue Fragen bewegen die 
Welt, neue Gedanken bredden fih Bahn, neuen Zielen ftrebt unſer Wolf, ftrebt 
die Menjchheit zu. Das ewige Geſetz der Bewegung ift es, dem wir gehorchen 
müſſen, dem wir una beugen. Es beherrjcht die Natur, es beherrfcht das Leben 
der Völker. Wir ſprechen von der guten alten Zeit; aber die nad) uns Fommen, 
Iprechen von der befjeren neuen. Wir bliden mit Wehmuth rückwärts, fie 
blicken mit Freudigkeit vorwärts, und ihnen, unferen Erben, gehört die Welt 
und die Zufunft. Es ift auf allen Gebieten glei” — auf dem der Wiſſenſchaft, 
two der Darwinismus und die Evolutionstheorie ihre letzten Gonjequenzen ziehen; 
auf dem der Kunſt und Literatur, wo der Naturalismus dem Idealismus tödt- 
liche Fehde angefagt Hat; auf dem der Erziehung, two der Humanismus von 
feinen mächtigen Angreifern aus PBofition nad) Pofition gedrängt wird; auf dem 
des Staates, two vor den focialen Problemen die politiſchen augenblicklich wie 
verblaffen und verſchwinden. Ein gemeinfamer Zug verbindet, bewußt oder un- 
bewußt, diefe Kräfte mit und untereinander, und ein innerer Zuſammenhang 
ihließt die Gadres, die jet noch ſcheinbar getrennt marſchiren, zur Phalanr; 
Weltanfhauung fteht gegen Weltanfhauung: jollen wir darum aber Klagen und 
an den Geſchicken der Welt verzweifeln, weil wir der Natur unferen Tribut 
gezahlt haben, weil wir alt geworden find, weil wir — mit unferem Willen 
oder ohne, ja jelbft gegen unjeren Willen — den Pla der Jugend räumen, mit 
der wir uns nicht mehr zu verftändigen wiſſen? 

Was der 9. März 1888 dunkel, ſchwermüthig angekündigt, das Gefühl, daf 
ein Zeitalter, unfer Zeitalter, das der bis jet herrſchenden Generation, zur 
Neige gehe, der 20. März 1890 hat es unwiderruflich bejtätigt, hat es zur um 
umftößlichen Thatjache gemacht. 


Fürſt Bismard. 201 


Und doch ift es noch nicht jo lange — denn dem Alternden ſcheinen die 
Entfernungen ſich zu verkürzen — bat Bismarck uns ein neuer Menſch erſchien — 
nit im gewöhnlichen Sinne ein homo novus, fondern Einer, von dem es 
ausgeht, wie da3 Wehen und der Athen einer neuen Zeit, einer jener Gewaltigen, 
die fich mit den erften Schritten vernehmbar machen. Und auch dad, was die 
Begleiterfcheinung aller wirklich Großen, lebermwältigenden zu jein pflegt, follte 
diefem nicht erjpart bleiben: weder der Hohn ber Menge, die ihn nicht verftand, 
noch die Kugel des Fanatikers, gegen welche die Hand der Vorfehung jelber die 
von ihr erwählten Männer ſchirmt. Ein ſolch providentieler Mann war Bis— 
mard, und die Wenigen erkannten ihn ſogleich, und fie, die zuerſt für ihn gezeugt, 
waren e3 aud, die aufrecht blieben, ala die Dienge vor ihm auf den Knieen lag. 
Nicht, daß fie feine letzten Ziele vorausgefehen — dazu hätten fie feiner eigenen 
Genialität bedurft oder tiefer in dieſer verjchloffenen Bruft leſen müfjen, als 
irgend einem Sterblichen verftattet tvar; aber von feinem erften Auftreten im 
Jahre 1862 an erivarteten fie Großes, etwas Ungeheures von ihm, und fie find 
in ihrer Bewunderung, und jpäter, als das Werk vollbradht war, in ihrer Dank— 
barkeit diejelben geblieben — unberührt von der blinden Anbetung des Haufens, 
wie vormal3 ungeſchreckt durch deſſen unwürdigen und widerwärtigen Troß. 

Auch auf diefer Zeitfchrift hat einmal die Hand Bismard’3 ſchwer gelaftet — 
und wer ihren eijernen Griff jemal3 empfunden, der vergißt e3 in feinem 
Leben nit. Dennoch — wenn wir e3 noch einmal zu jagen hätten, wir wür— 
den noch einmal jagen, daß wir bei der erften nicht nur, fondern bei mehr=, bei 
vielfach wiederholter Lectüre jener Publication immer nur den beftimmten Ein— 
drud gehabt hatten, al3 ob fie nur dazu dienen könne, die großen Männer, 
denen wir die Wiederaufrichtung des deutſchen Reiches verdanken, Jeden in jeiner 
Eigenart und Jeden in jeinem hellſten Lichte zu zeigen. Auf die Nechtäfrage 
gehen wir hier nicht ein. Aber bevor wir noch vor dieſelbe geftellt worden oder 
glauben konnten, daß wir vor eine jolche geftellt werden würden, hatten wir da3 
Gefühl, ein Hiftoriiches Aktenſtück von unendlicher Wichtigkeit in Händen zu 
baben, welches, da wir einmal in feinen Beſitz gefommen, der Welt aus Be- 
denken formeller Natur vorenthalten zu tollen, und ein Unrecht und ein Mangel 
an Plihtgefühl auf dem uns anvertrauten Poften gedüntt hätte. Daß wir an 
einen ftörenden Einfluß auf den Gang der actuellen Politif auch nicht im Ent- 
fernteften dachten, wird man, nad) unferer ganzen Vergangenheit, uns glauben. 
Alles, was, nad) unferem Empfinden, auch nur den Keim einer Verftimmung in 
ih tragen konnte, ward zu bejeitigen gejucht; und wollte man ung fragen, wes— 
wegen wir das Geſpräch de3 damaligen Kronprinzen mit Bismarck, deſſen Ver— 
öffentlichung nachher beſonderen Anſtoß erregt zu haben ſcheint, nicht unter— 
drückten, ſo würden wir, der Wahrheit gemäß, erwidern: daß wir, anſtatt das 
Anſehen Bismarck's dadurch verringert zu ſehen, ihm vielmehr zur größeren 
Ehre, zum höheren Ruhm anrechneten, wenn er, als praktiſcher Staatsmann und 
in ganz anderen Anſchauungen aufgewachſen, dennoch endlich mit der Kaiſeridee 
ſich ausgeſöhnt und fie zur Wirklichkeit habe machen helfen!). 


z ) Dergl. hierüber namentlih Delbrüd in den „Preußifchen Jahrbüchern“, October 1338, 
. 410, 





202 Deutſche Rundſchau. 


Nein, für uns war Bismarck immer der heldenthümliche Mann im Sinne 
Carlyle's, der jeden, im Widerſtand gegen die zähe Maſſe ſiegreich durchgeſetzten 
Wandel des Weltgeſchicks auf die Kraft der Perſönlichkeit zurückführt, und deſſen 
letztes Wort faft an feine Nation die Verkündung der Größe Bismard’3 war, 
an die man damals, beim Ausbruch des Krieges 1870, in England jo wenig 
glaubte, als man an fie vor Beendigung des Kriege von 1866 in Deutjchland 
geglaubt Hatte. „Wer von uns,“ hatte Garlyle ſchon 1867 gejagt, „erwartete, 
daß wir jelbft, ftatt der Kinder unjerer Kinder, [eben jollten, um es zu jchauen 
(nämlich die ftaatliche Einigung Deutjchlands); daß ein großherziger und glüd- 
licher Herr v. Bismard, deſſen Herabjegung (dispraise) in allen Zeitungen war, 
zu feinem eigenen Erftaunen die Sache thunlich fand, und fie that, ihrem weſent— 
lichen Beftandtheil nach. in wenigen der letzten Wochen?“!) Und im November 
1870 fügt er hinzu: „Bismard, wie ich ihn verftehe, ift feine Perſon von 
„Napoleoniſchen“ Ideen, fondern von Ideen, die denen Napoleon’3 weit überlegen; 
zeigt feine unbefiegliche „Länderluft”, noch ift er gequält von „gemeinem Ehr— 
geiz“, ꝛc., jondern Hat Ziele weit über jener Sphäre, und in der That jcheint 
mir mit ftarker Fähigkeit, mit geduldigen, großen und erfolgreichen Schritten 
nad einem Gegenftand Hinzuftreben , der jegensreich für die Deutjchen und alle 
anderen Menſchen ift“ ?). 

Uber nicht „zu jeinem eigenen Erftaunen“, wie Garlyle nad 1867 
gefagt; Bismarck war fein Jmprovijator. Seit er zum erjten Dale an dem 
grünverhängten Tiſche des Bundestages in Frankfurt a. M. geſeſſen, weiß er, 
worauf er hinaus will; jchon 1858, in einem Briefe vom 2. April, ſkizzirt er 
das deutſche Zollparlament, das erft zehn Jahre fpäter zufammentrat, und der 
Vorläufer des deutſchen „Wollparlamentes” war?); und lange, bevor er den in 
Avignon gepflücten Olivenzweig „der Volkspartei als Friedenszeichen“ anbot und 
in derjelben Budgetcommijjion das berühmte Wort „durch Eijen und Blut“ 
ſprach“), hatte er, als Gejandter, aus St. Peteröburg, am 12. Mai 1854 an 
den Minifter v. Schleinit gejchrieben: „Ich ſehe in unferem Bundesverhältniß 
ein Gebrechen Preußend, welches wir früher oder jpäter ferro et igni werden 
heilen müfjen“ °). 

Ein Diplomat war er, und einer, der die größten der Vergangenheit in den 
Schatten geftellt, aber vielleiht nur darum, weil er fie durchſchaut und früh: 
zeitig erkannt hatte, daß man das eigentlic” Große meiſtens nur troß der 
Diplomatie vollbringen fann. „Es jind lauter Lappalien, mit denen die Leute 
ſich quälen,“ ſchreibt er, nad) dem erſten Blick in da3 Palais der Ejchenheimer 
Gaſſe, jeiner Gemahlin (18. 5. 51); „fein Menſch, jelbft der böswilligſte Zweifler 
von Demokrat glaubt es, was für GCharlatanerie und Wichtigtduerei in diejer 
Diplomatie ſteckt“ °). 





!) „Shooting Niagara: and after?“ Eſſays, Bd. VII, ©. 201. 

2) „Latter stage of the French-German War“. Eſſays, Bd. VII, &. 251. 

3) Hahn, „Fürft Bismarck. Sein politiiches Leben und Wirken urkundlich dargeftellt ıc.* 
Bd. I, ©. 56. 

) Ebendaſ., E. 67. 

>, Ebendaf., ©. 52. 

6) Ebendaſ., ©. 43. 


Fürſt Bismard. 203 


Man Hat von der Menjchenveradhtung Bismard’3 geiprodhen und gewiß 
nicht ohne Grund; wer die Menfchen jo gekannt, jo kennen gelernt hatte, wie 
er, der konnte nicht viele von ihnen achten, und die es vielleicht verdient, hat er 
am eheften verfannt oder mißkannt und von ſich geftoßen. Treu feithaltend an 
den Freundichaften der Jugend, hat ex in feinem jpäteren Leben da3 Wort 
Chamfort’3 nur zu jehr beftätigt: daß, wer mit vierzig Jahren kein Mijanthrop 
jei, die Menſchen niemals geliebt habe. „A good hater“ hat ex fich jelbft ge— 
nannt, und leidenschaftlich in Allem, war er e8 auch in feinem Haß. Aber ohne 
Leidenjchaft fein Dämon, und ohne Dämon fein Genie. Daß es nichtadejto- 
weniger an Gemüth ihm nicht fehlt, geht aus Allem hervor, was wir aus feinem 
intimen und häuslichen Leben wiſſen, aus den vielen Eleinen Zügen guter Nach— 
barſchaft und patriarhaliichen Verhaltens gegen feine Diener. Wer einen folchen 
Humor bejitt, der muß auch Gemüth haben; ebenſo wie er, wenn fein Moet, 
d. h. feiner, der Verſe macht, doc; jicher eine poetiſche Natur ift. Wie hätte er 
jonft ein Schöpfer fein oder — um vom Großen auf Hleineres zu fommen — eine 
gewiſſe Vorliebe für Heine haben und offen eingeftehen können — für Heine, den 
Geächteten, für Heine, der mehr als cin Schmähgedicht auf Friedrich Wilhelm IV. 
verfaßt, deſſen erfte Schriften in Preußen verboten und deſſen lebter Band in 
den Berliner Buchhandlungen von der Polizei confiscirt ward. Aus eben diefem 
Bande citirt er (1852) in einem Brief an jeine Schwefter, Frau v. Arnim, „das 
befannte Lied von Heine: O Bund, du Hund, du bift nicht gefund” — mas 
freilih, außer Heine, nur noch Bismarck ſelbſt jo draftiich hätte jagen können, 
furchtlos, rückſichtslos, Feind jeder Phrafe, aller Convenienz jpottend. Es ift 
derjelbe Brief, in weldhem er „die Stimmung gänzliher Wurſchtigkeit“ 
ausfpriht!) — in dem Brief unterftrichen wie hier und jeitdem ein „‚geflügeltes 
Wort“, da an Glajficität mit irgend einem von Heine fi wohl mefjen kann. 
In diefen Briefen an jeine Schwefter und jeine Gemahlin Eopft fein Herz. In 
einem derſelben (an Lettere, vom 3. Juli 51) heißt ed: „Wenn ich mic) bei dem 
Einzelnen frage, was er für Grund bei ſich Haben kann, weiter zu leben, fich zu 
mühen und zu ärgern, zu intriguixen und zu jpioniven, id) weiß es wahrlid 
nicht. Schließe nicht aus diefem Gejchreibjel, daß ich gerade bejonders ſchwarz 
geſtimmt bin, im Gegentheile, es iſt mir, als wenn man an einem jchönen 
Septembertage das gelbwerdende Laub betrachtet; gejund und heiter, aber etwas 
MWehmuth, etwas Heimmeh, Sehnjucht nad) Wald, Sce, Wüfte, Div und Kindern, 
Alles mit Sonnenuntergang und —— gemiſcht ). 

Wir werden ſeine hohe Geſtalt in en Güraffieruniform, den Säbel an der 
Seite und die Linke auf dem Korb, nicht mehr unter uns wandeln, werden ihn, 
auf jeinen einfamen Wegen im Thiergarten, mit der Rechten an der Mütze, die 
jelten Begegnenden nicht mehr grüßen jehen. Aber in unferen Seelen, in unjerer 
Erinnerung wird ex fortleben, wie in der Geſchichte, die mit dem Tage jeines 
Rüdtrittes ein neues Blatt beginnt. 

27. März. J. R. 


1) ‚Set, Bd. I, S. 45. 
2) Shendal,, ©. 44. 


Homer's Blias. 


— — 


Von 
Herman Grimm. 


—ter r R— 


Zweiter Geſang. 

Auf dem Olymp wie im Lager der Griechen ſchlafen ſie. Nur Zeus vermag 
die Ruhe nicht zu finden. Während Here an ſeiner Seite — es wäre nicht 
unhomeriſch, zu ſagen — ſchnarcht, dreht ſich ihm die übernommene Verpflichtung 
im Kopfe herum. Soll es den Griechen ſchlecht ergehen, ſo muß mit den 
Trojanern gekämpft werden. Die Peſt, die Uneinigkeit der Fürſten und Achill's 
Entſchluß, haben die Griechen aber jo heruntergebracht, daß, fie zu einem plötz— 
lichen Angriffe gegen die neun Jahre fiegreich daftehende Stadt zu beivegen, faft 
unmöglich jcheint. Agamemnon muß Muth gemacht werden. Zeus beruft, wie 
Homer jagt, einen „böjen Traum“, befiehlt ihm in der Geftalt Neſtor's an des 
Königs Lager zu treten und ihm mitzutheilen, es werde, wenn die Griechen 
heute angriffen, Troja bald in ihren Händen fein. Der böje Traum richtet den 
Befehl aus und Agamemnon, erwachend und überzeugt von der Wahrheit der 
Verheißung, befiehlt Herolden, die Völker zur Berathung zujammenzurufen. 

Vor ihrem Beginne aber vereint er bei Neftor’3 Schiffen die Vornehmften 
zu einer engeren Worberathung. 

„Hört, Freunde,“ beginnt er, „im Traume ift mir Neftor erichienen und hat 
fo geſprochen: — Du ſchläfſt, Sohn des Atreus? Wer das entſcheidende Wort zu 
fagen hat, jollte nicht die ganze Nacht ſchlafen. Ich bin ein Bote des Zeus, der 
deinetiwegen befümmert ift. Heiße die Achäer fi) waffnen, denn Jlion wird dir 
nun zufallen. Die Götter haben es beichloffen, Here hat ihnen den Sinn ge 
wandt. Beherzige die wohl. So fprad) er und entwid. Nun aber auf, ob 
wir die Achäer zum Kampfe beivegen! ch werde fie zuerſt zu überreden ſuchen, 
wie recht und billig ift, mit den Schiffen die Flucht zu ergreifen, ihr aber haltet 
fie, jeder an feiner Stelle, zurück.“ 

Nah diefer Rede geichieht das Mleberraichende, daß Niemand das Wort 
ergreift, fi dagegen zu äußern. Nur Neftor jagt: 


Homer's Alias. 205 


„Freunde. Wenn ein Anderer von uns diefen Traum erzählte, würden wir 
ihn für einen Trug halten; nun aber bat ihn der erfte aller Achäer gejehen: auf, 
laßt uns die Söhne der Achäer zum Kampfe reizen.“ 

So ſprechend verläßt er die VBerfammlung, und Alle erheben fi, um auszu— 
führen, wa3 Agamemnon befohlen hatte. Und hinterher dann wird die allgemeine 
Berfammlung der Griechen eröffnet und mit ihren Wechjelfällen und in der 
(ebensvollen Breite befchrieben, wie nur Homer zu erzählen vermag. 

Wie jollen wir dieje Vorberathung der Fürſten verftehen? Agamemnon faßt 
einen jeltfamen Entſchluß und fie nehmen ihn als das Natürliche auf. Bei 
der Stimmung de3 Heered mußte, von und aus gefehen, Agamemnon’3 Ber: 
fahren doch jehr bedenklich erjcheinen. Warum ſprach feiner von den Fürften 
dagegen, two ihre Meinung doch gefordert wurde? Was Neftor jagte, Tonnte 
die Bedenken nicht erichöpfen, die ihnen nothwendiger Weiſe auffteigen 
mußten. 

Und warum bereitet dev Dichter uns auf diefe Wendung der Dinge nicht 
vor? Homer Hat gewiſſe Eigenthümlichkeiten , deren Gingreifen wir er- 
warten dürfen, weil darauf ein großer Theil der Wirkung feiner Gedichte be- 
ruht: zu ihnen gehört, daß er und niemals überrafht. Nie ftehen wir da und 
jagen: das verftehen wir nicht. Homer präparirt forgfältig, was gejchehen joll, 
und bier unterläßt ex e8 in flagranter Weiſe. 

Leicht ift zu berechnen, welche Fürften an der Borverfammlung Theil 
nahmen. Neben Neftor Menelaos, dann Idomeneus, die beiden Ajax, Dio- 
medes. Daß auch Odyſſeus nicht fehlte, mußten Homer’3 Zuhörer jehr gut: 
Odyffeus war als einer der bedeutendften Teldherren der Armee im erften Ge: 
fange jchon genannt worden. Freilich hat er bis dahin noch nichts gethan, das 
ihn als den Elugen, vorfichtigen Mann auftreten läßt, als der ex fich bald ent- 
hült, aber da3 Beitvort zoAvurzıs war ihm vom Dichter ſchon verliehen 
worden. Wie fam es, daß gerade Odyffeus den Traum ohne Weiteres als günftig 
annahm? Mißtrauen gegen Botichaften der Götter gehörte zu den natürlichen 
Eigenschaften des homerifchen Mannes. Worficht bei ſolchen Mittheilungen war 
dem Alterthume überhaupt geläufig. Ich erinnere an das Bedenken, mit dem 
Gideon (im Buche der Richter) den Befehl Gottes, die Medianiter anzugreifen, 
vielfach prüft, ob ex in der That ein Befehl Gottes ſei. Odyſſeus' Trage hätte 
fein müffen, ob die von Agamemnon empfangene Botſchaft nicht eine beabfichtigte 
Verführung geweſen jei. Wir wifjen, wie ungläubig Odyffeus fich verhält, als 
bei der Heimkehr nad) Ithaka im Augenblide der Lebensgefahr Leufothea mit 
dem Schleier ihm erjcheint, der ihn, wenn er fi mit ihm in die Fluth werfen 
tolle, erretten würde. Odyſſeus jcheut fih, der Göttin Glauben zu jchenken. 
In voller Ausführlichkeit aber trägt Homer ſpäter Odyſſeus' Anſicht vor, ala 
er ihn unerkannt mit Penelope über die Natur der Träume philojophiren läßt, die 
er in wahrhafte und trügeriiche eintheilt. 

Nehmen wir Agamemnon’3 rüchaltlofe Gläubigkeit ald einen Beitrag zur 
Gharakterifirung des König hin. E3 lag außerhalb feiner Art, anzunehmen, 
da Zeus ihn Habe betrügen wollen. Agamemnon’s Natur wird von Homer 
beinahe am feinften durchgeführt. Eine lebendige und überzeugende Miſchung 


206 Deutiche Rundichau. 


hoher und, ich ſage nicht, niederer, aber egoiftiicher Eigenſchaften finden wir als 
Beitandtheile ſeines complicirten Weſens einheitlich zufammengebradt. Immer 
wieder werden wir durch Kleine Züge daran erinnert, daß ſich Größe und Klein 
lichkeit bei ihm verbinden. Wir verftehen ihn befonders auch deshalb fo gut, weil, 
twie ich ſagte, Fein Olympier ſich perfönlich für Agamemnon intereffirt. Gr 
handelt ftet3 aus fich allein heraus. Einer der Züge des Königs ift hochmüthige 
Geradheit. Er befteht auf jeinem Vortheil, betrügt aber feinen. Er hegt Ver— 
trauen auf fein Recht und feine Stellung. &3 fällt ihm nicht ein, an Zeus’ 
Botſchaft zu zweifeln. Wie jollte ein Souverän dem anderen nicht beiftehen in 
einer Familienſache? Wie denn aber, fragen wir nun doch, käme Agamemnon 
bei diefer Gefinnung dazu, das Volk täufchen zu wollen? Und zwar als ob id 
da3 von jelbft verftehe? Und wozu? Hätte Agamemnon das aus fich allein ge 
than, wie den Worten Homer’3 zufolge doch angenommen werden müßte, jo 
würde der Dichter und gewiß die Gedankenarbeit des Königs erzählt haben, bie 
ihn zu diefem Entfchluffe führte Ausführlich und ſchön und glaublich wird doch 
geihildert, wie Agamemnon, nachdem der Traum ihn verlaffen bat, zwiſchen 
halbwachen Gedanken ſich hin - und herwälzt. Goethe hat darauf hingewieſen, 
mit welcher Kunſt der Dichter, indem er Agamemnon Stück auf Stück ſich mit 
Gewandung umgeben läßt, deſſen äußere Erſcheinung uns hier um ein gutes 
Theil lebendiger vor die Augen bringt. Und nun ſteht der König da zwiſchen 
den Bornehmften de3 Volkes, denen er in vertraulicher Art den Traum mittheilt. 
Da konnte doch nur Eines ihn bejeelen: Zuverfiht auf die Entichlüfje der 
Armee! Wozu da Winkelzüge und Künſte? Agamemnon’3 Gedanken nad 
mußten die Griechen dasſelbe Vertrauen auf Zeus’ Botſchaft haben, das ihn 
erfüllte. 

Und fpäter dann, al3, wie wir jehen werden, der Anjchlag des Königs miß— 
lingt, weil die Griechen, jobald fie von Heimkehr nad Haufe hören, zu ben 
Schiffen ftürmen ohne die Fürſten zu Worte fommen zu laſſen, warum ift nicht 
Agamemnon, ſondern Ddyfjeus hinterher derjenige, der über diefe Wendung der 
Dinge von Ingrimm verzehrt wird? 

Darauf num gebe ich diefe Antwort: deshalb nur kann Odyffeus nad dem 
ungünftigen Verlaufe der Volksverſammlung jo unglücklich daftehen, weil ex der 
geweſen fein mußte, auf deſſen Autorität hin Agamemnon dem Bolfe den Traum 
anders erzählte, al3 er ihn empfangen hatte, jo daß der große Fehlſchlag Odyſſeus 
zur Laft fiel, der die trügerifche Rede dem Könige in den Mund legte. Darum 
ift e8 in der Folge dann auch Odyſſeus, der die Dinge wieder ins rechte Geleiie 
bringt! Ich glaube, daß die Stelle unferes Gejanges, wo diefe Dinge breiter 
erzählt worden waren, verloren fer, und verfuche fie zu reconftruiren. 

Wir ftehen zu Anfang des zweiten Gejfanges aljo, wo Agamemnon bie 
Türften zur Borberathung berufen bat und ihnen den Traum erzählt. Ich 
übertrage, um meine Ergänzung mehr mit dem llebrigen in Zufammenhang zu 
bringen, zuerft Homer’3 Verſe mit der Anrede Agamemnon’3 an die Fürſten: 

Hört mich, Freunde! Im Schlafe erfchien mir Neftor, 
Der zu Häupten mir fland. Du jchläfft, o König? 
Eprad er mid) an, e3 darf, wer große Entichlüfie 


Homer’3 Ilias. 207 


Vor ſich hat, nicht die ganze Nacht durch fchlafen ! 
Jetzt wach auf: ich bin ein Bote Kronion's! 

Laß die Achäer zu ben Waffen greifen! 

Jetzt wird Ilion euch in die Hände gegeben ! 
Here’s Bitten hat bie Götter bewegt: 

Troja finkt: da erwacht’ ich — auf, denn, jorgt, 
Tab die Achäer fih zum Kampfe rüften! — 

Alfo ſprach er und ſetzte fich, aber Neftor 
Nahm wohldentend dad Wort, um fo zu reden: 
freunde, Fürſten, Führer des Volls! Wenn uns 
Nicht Agamemnon jelbfi den Traum erzählte: 
Jedem Andern würden wir ihn nidyt glauben, 
Und, ihn verlaffend, und zu der Heimath wenden. 
Do da der König es jagt: Auf denn! die Achäer 
So oder jo vielleicht zum Kampfe zu treiben! 


So weit Homer, in deſſen Gedichte ich Hier die Lücke beginnen laſſe, die ich, 
meinem Phantafiefpiel folgend, nun auszufüllen ſuche. 

Odyſſeus ergreift dad Wort. Wie Agamemnon und Neftor denten könnten, 
fragt er, daß die Griechen kämpfen würden. Niedergedrüct durch die Peſt und 
den Zorn des Achill, würden fie weder die Stadt angreifen wollen noch, wenn 
fie es verſuchten, die Oberhand behalten. Die Botſchaft des Zeus ſei eine 
trügerifche. Und nun würde Odyſſeus das etwa vorbringen, was er, der Odyſſee 
zufolge, viele Jahre jpäter der Penelope ausführt: 

Willen wir doch, dat der Palaft der Träume 
Doppelten Ausgang hat, daß nur die Träume 
Wahrheit bringen, bie aus der Pforte ausgehn, 
Tie von Elfenbein ift; doch aus der anderen, 
Hürnenen, fommen bie trügeriichen Tränme. 
Weißt du, aus welcher Thüre der beine herabfam ? 
Wenn aus der hürnenen nun? Und heute Abend 
Unſerer Schiffe Brand die Gewölte röthet! 

Und ala alle die Fürſten der Achäer 
Echweigend fahen, ſprach Agamemnon: Rebe, 
Wie des Kroniden Wille zu erſpäh'n jei. 

Tenn mir jcheint, dab Keiner dad Mittel kennt, 
Und ich felber am mwenigiten. Aber Odyfleus: 
Wenn die Achäer ſich verfammelt haben, 

Eprid dann, daß dir Zeus einen Traum gejenbet, 
Der und ermahnt, nad) Haufe zurüdzufehren; 
Und es jollen die Fürſten, wenn bu gerebet, 
Wider dich ihre Stimme dann erheben, 

Unb den Beginn bes Kampfes von bir fordern. 
Dielen wird dann bie Heimath ſüß ericheinen, 
Mebhreren aber die Schmady empfindlich fein, 
Ruhmlos heimzukehren. Wenn die Achäer 

Tann zu fämpfen begehren, ſei's ein Zeichen, 
Daß ber Wille Kronion's uns ber Troer 

Stadt in die Hände gibt. Doch wenn das Bolt 
Fort in die Heimath verlangt, jo war der Traum 
Zrügerifch, den du gefehen. Und Agamemnon: 
Nun mwohlan, jo will ich das Volk verfuchen. 


208 Deutſche Rundſchau. 


Fort in die Heimath, will ich zu ihnen ſagen, 
Sende uns Zeus, und wenn ich geredet, ſollt ihr 
Wider mich ſprechen: wollen die Griechen dann 
Fort mit den Schiffen: ſei es ein Zeichen, daß 
Mich ber Kronide betrog. Verlangen fie aber 
Dann in den Kampf, fo war, was ich gehört, 
Zeud’ untrüglicher Wille?). 

Hier nun tritt Homer wieder ein: 

Alfo fprechend ging er davon, und alle 
Eceptertragenden Fürften fanden auf, 

Um dem Hirten ber Völter zu gehorcdhen. 

Doc die Völker famen von allen Seiten, 

Wie die ſummenden Bienen, bichtgedrängt, 

Aus dem gehöhlten Felſen Schwarm auf Schwarm 
Ueber bes Frühlings Blumen fich ergießen. 

Damit eröffnet der Dichter die Verſammlung des gefammten Heeres, deren 
Verlauf ex jo herrlich darftellt. Won jet ab wieder ift Alles Har. Eine ber 
Urſachen, warım Ilias und Odyffee jo fiegreich durch die Jahrhunderte gegangen, 
und daß fie von allen Völkern aufgenommen find, al3 bildeten fie einen Theil 
ihrer eigenen Literatur, Liegt in dem Umftande, daß die den Handlungen und Reden 
aller darin handelnden Perfonen innewohnende allgemein menjchliche Vernunft fi) 
nie verleugnet. Wir brauchen uns, um die Dinge zu verftehen, nie zu jagen, das 
waren Griechen, die aus nationaler Gefinnung jo Bandelten, oder da3 geſchah 
in weit entlegener, anderd bentender Zeit, jondern wir jelber heutigen Tages 
würden jo empfinden und handeln wie die Menjchen Homer’3 thaten. Gerade 
deshalb muß es auffallen, wenn Stellen des Gedichtes diefe Eigenſchaft innerfter 
Durhfichtigkeit abgeht. Was Agamemnon, jobald wir feine Lüde in ber Er— 
zählung annehmen, in der Vorverfammlung der TFürften jagt, würde mit einer 
gewiſſen Mühe exft erklärt twerden können. Ich bin nicht der Exfte, der empfand, 
dat Wichtiges an diefer Stelle des zweiten Geſanges unausgeſprochen jei. 

Mit Bienen aljo werden die Völker verglichen. Um den Ziwiejpalt der inner 
halb de3 gejammten Volkes waltenden Meinungen zu bezeichnen, bringt Homer 
eine jener verſchwommenen Geftalten jet an, die, neben den Göttern hergehend, 
gleichſam Schatten darftellen, die noch zu feiner feften Perfönlichkeit gelangt find. 

An verfchiedenen Stellen der Ilias finden wir die „Oſſa“. Bald mehr ein 
bloßes Gedankenweſen, bald eine fefte Perjönlichkeit- Auch „Iris“ der „Traum“ 
und die „Aiſa“ und die „Ziwietracdht“, die den Kampf ſchürt, gehören zu dieſen 
Geſchöpfen, denen wir jpäter auch in der bildenden Kunft begegnen. So tritt 
Oſſa jeht ein, um da3 ungeheure Geſchwirr der Meinungen anzudeuten, das 
die Verfammlung erfüllt. Herolde ordnen die Völker, und Agamemnon ergreift 
da3 Wort. 

Wir fennen Homer’3 Art ſchon, wie er bei Uebergängen gewiſſe finnliche 
Mittel anwendet, fie unmerklich fühlbarer werden zu laffen. Jetzt ſoll dem allmälig 





!) Ich wieberhole, um jedes Mikverftändni unmöglich zu machen, dab mein Verſuch, bie 
nur meinem Gefühle nach hier vorhandene Lücke auszufüllen, nichts ala ein Phantafie- 
ipiel if. 


Homer's Ilias. 209 


eintretenden Schweigen, mit dem die Rede des Königs aufgenommen werden mußte, 
Zeit gegönnt werden, ſich zu völliger Stille zu geſtalten, und wieder wird die 
Entſtehungsgeſchichte des Scepters dazu benutzt, das Agamemnon führt. Kein ehe— 
maliger junger Baumſtamm, wie bei Achill's Herrſcherſtabe, ſondern ein Scepter 
von Gold, ein Werk des Hephäftos, das dieſer für Zeus' Gebrauch ſelber ge— 
ichmiedet Hatte. Aus Zeus’ Händen empfing Hermes den Stab und gab ihn 
dem Pelops, von dem Atreus ihn erhielt. Als deſſen Sohn führte jetzt 
Agamemnon ihn. Indem die Gejchichte des Scepters erzählt wird, jcheint es, 
als ob alle Blicke fih mehr und mehr dem Könige zuwenden und jedes Wort 
verftummt. Dies Scepter göttlicher Herkunft bildet die ideale Mitte gleichfam 
der am Ufer des Meeres jetzt verfammelten Armee. Gelehnt daran, beginnt 
Agamemnon eine breite ruhige Darlegung der Sachlage. Eine Rede, in ber er 
die Nothwendigkeit der Rückkehr nad) Haufe jo klar macht, daß wir die heim- 
lichen Gedanken beinahe vergeffen, die ex in fich begte. 
Hören wir: 

freunde, Helden, Danaer, Diener bed Kriegsgotts! 

Zeus hat mid mit jchwerer Trübjal gebunden: 

Vorher verhieß er mir einft der Stadt Zerftörung, 

Nun befiehlt er uns, ruhmlos heimzufehren. 

Denn zur Schande gereicht uns, ohne Erfolg 

Hier und herumfchlagen mit einem Feinde, 

Deſſen Macht zu gering ift, daß auf einen 

Troer zehn Achäer fih rechnen ließen. 

Aber es find neun Yahre doch nun vergangen 

Und das Holz an den Schiffen fault und das Tauwerk, 

Und unfre Frauen zu Haus und bie kleinen Kinder 

Sitzen und warten auf und, und unſer Wert 

Nimmt fein Ende, für bad wir ausgezogen. 

Vorwärts, fort in die Schiffe, zu dem geliebten 

Zanbe der Väter! fort! denn niemals wirb 

Priamos’ Stabt von und erobert werben! 

Alfo ſprach Agamemnon und rührte das Herz 

Allen zufammt, auch Denen, die ihn nicht hörten, 

Und die Berfammlung kochte wie Wellen bes Meeres, 

Die der Süd: und ber Oftwind beide empören, 

Oder, wie wenn der Wet, auf bie Saaten fallend, 

Tief in bie weiten Aehrengefilde fich einwühlt, 

Alfo wogten die Völker, mit Geichrei 

Hin zu den Schiffen ftürgend, daß ber Staub 

Aufgemwirbelt empor fi hob. Sie riefen 

Einer dem Anderen zu, Hand anzulegen 

Und die Schiffe ins Meer hinabzufchleifen, 

Zogen die Balken fort und hoben die Maften, 

Und zum Himmel empor drang das Geichrei 

Der Achäer, die in die Heimath wollten. 


Was aljo war gejchehen? So überzeugend hat wider jeinen Willen der 
Atride von Rückkehr geiprocdhen, daß die fich überftürzenden Griechen bie Fürſten, 
die gegen de3 Königs Meinung num hatten reden jollen, nicht zu Worte fommen 
laffen und zu den Schiffen ftürmen. Die Verſe, die von den vergeblichen An— 

Deutſche Rundſchau. XVT, 4. 14 


210 Deutiche Rundſchau. 


ftrengungen der Fürſten berichten, die Bewegung zu hemmen, ſuchen wir ver- 
gebens. Dageweſen müſſen auch fie fein, denn e3 würde wiederum zu fehr der 
Art Homer’3 widerfprochen haben, dieſe Verſuche der Yürften, die angekündigt 
worden tvaren, nicht auch zu fchildern. 

Hören wir weiter nun jedoch. Von jeht an fehlt feine Silbe an der Er- 
zählung deſſen, was fich ereignet. 


Damals war num über das Schidjal hinaus 
Heimtehr ben Griechen gewährt, wenn zu Athene 
Here jetzt nicht geiprochen: Wehe uns! 

Heimmwärts fliehn die Achäer, um berentwillen 

So viel fanten dahin auf troifcher Erbe! 

Aber Helena bleibt! auf! eile hinab, 

Halte das Heer zurüd! Und ihr gehoriam, 

Eilte Athene von des Olympos Gipfeln 

Zu dem Geftade hinab und fand Odyſſeus. 

Bei feinen bunfeln, wohlgefügten Schiffen 

Stand er zornig, ohne fie anzurühren, 

Weil ihm Trauer die Stirn und bad Herz erfüllte. 
Und fie begann: Erfindungsvoller Odyſſeus, 

Aljo flüchtet ihr nun? Und laßt den Troern 
Helena hier, um derentwillen jo viele 

Don euch fanten dahin! Auf, wehre bem Bolt, 
Mann für Mann mit Worten zurüd fie haltend! 
Und er erfannte, daß eine Göttin geredet. 

Warf von der Schulter den Mantel, den der Herold 
Eurybates, ber ihm von Ithaka folgte, 

Aufhob, eilt! Agamemnon aufzufuchen, 

Griff nach dem Scepter de3 Königs, dem weitererbten, 
Unvergänglicyen, und durch die Schiffe eilend, 

Mem er begegnete, Fürſten ober fonft wie 

Männern von Macht und Anfehen, an bie wanbt’ er 
Zeiler das Wort: Unfeliger, du empfinbeft 

Nicht die Schande, feige bavonzulaufen? Halte du Stand, 
Seht und die Anderen zurück! Weißt du, 

Was der Atride gemeint? Was er geiprochen, 

War nur gefagt, um zu fehn, wie das Volk gefinnt fei! 
Und bald werben wir feine Fäuſte fühlen! 

Was er gejagt, nur Wenigen war es verſtändlich! 
Den vermag er zu treffen, bem er zürnt, 

Er ift König, und Zeus beihüßt und nährt ihn! 

Und wo er aus dem Volke Einen antraf 
Laͤrmend und fchreiend, ben ſchlug er mit bem Scepter 
Drohenden Wortes: Unſeliger! ftillgeftanden ! 

Horde auf die, bie mächtiger find als bu! 

Du willſt im Kampf etwas gelten? bu im Rathe? 
Will denn ein Jeder hier den König fpielen? 
Einer befiehlt, nicht Alle zugleich, nur Einer, 
Dem Zeus in die Hände das Scepter legte! 

So durch das Heer. Und abermals zur Berathung 
Stürzten bie Bölfer von ben Schiffen wieber, 
Brüllend, wie wenn an das fyelfenufer die Welle 
Anftürzt, und es erbonnert das Meer. 


Homer's Ilias. 211 


Erinnern wir uns hier, wie Homer im erſten Geſange durch ſtufenweiſe in 
finnlicher Kraft ſtärker wirkende Scenen zu der Hauptſcene des Streites zwiſchen 
Achill und Agamemnon gelangt war. Mit derſelben Strategie bereitet er auch 
hier den Hauptſchlag vor: die durch Odyſſeus' Eingreifen erfolgende abermalige 
Berathung der Armee, in der über Gehen oder Bleiben anders nun beſchloſſen 
wird. Das Bisherige war nur Vorbereitung geweſen. 

Der Held dieſes Geſanges iſt Agamemnon. Leicht verfolgen wir Homer's 
Beſtreben, ihn handelnd und ſichtbar im Vordergrund zu halten. Um dies gleich 
beim Beginne der nun eintretenden zweiten Volksverſammlung zu erreichen, ſtellt 
er dem Könige Therfites gegenüber, der zu den genialften Schöpfungen der 
Weltdichtung gehört. Eine der populärften Figuren zugleih, die jemals ein 
Dichter Hat auftreten laſſen. Bisher haben wir Könige und Helden und Be— 
mwohner des Olymps vor Augen gehabt, Geftalten, denen bei aller Wirklichkeit 
ein idealer, jogar leiſer mythiſcher Firniß gegeben war: bei Therfites fommt der 
Realismus zu) feinem Rechte. Therſites ift der incarnirte kritiſche Geift der Armee. 
Es ift der, wo es fih um den Kampf mit Worten handelt, niemals fehlende, 
fatale Kerl, der, Flüger als die Andern und jchärfer beobachtend, mit unerbitt- 
licher Logik argumentirt. Der das zu formuliren weiß, was die Meinung ber 
Majorität ift. Diefe Figur ift vom Anfang der menſchlichen Dichtung an duch 
alle Jahrhunderte mitgegangen. Das Verwachſene des Körpers gehört dazu: 
in Aeſop Hat fie ihren Tiebenswürdigften, in Morolf ihren efelhafteften 
Repräjentanten. In Triboulet hat Victor Hugo, im Barbier Ludwig’3 des Elften 
Walter Scott fie aufleben Lafjen. 

Alle jahen nun. Jeder, wohin er gehörte. 
Nur Therfites’ Gekreiihe nahm fein Enbe, 
Der, unaufhörlich wild durcheinander fchwähend, 
Wider Fürften und Bolt was fie lächerlich machte 
Losließ. Hintend, fchielend, lahm und budlig 
Zog er nach Ilion aus; es ftanden die Schultern 
Eng ihm; die Bruft ihm vor; und auf dem fpiken 
Schädel ſpärlicher Haarwuchs. Der war Allen 
Midrig, aber Ahill und Odyſſ am meiften, 
Denn die bellt' er zumeift an; boch jekt wandt' er 
Gegen ben König fid. 

Nun Sohn, des Atreus? 
Was gibt’3 wieder, was bu erſchnappen möchteft? 
Fehlt's dir noch an Metall? an frifchen Weibern ? 
Die wir an erfter Stelle dir allein doch 
Bon ber Beute der Städte ftet3 zutheilen? 
Dder iſt's Gold diesmal? Das und ein Trojaner 
Brächte als Löfegeld, weil ich, oder ein Anberer, 
Ihm feinen Sohn gefangen und bu möchteft 
Nehmen was er herbeibringt? Nein, dir fehlt wohl 
So Eine, bie fein Andrer neben bir hätte? 
Etwas aparies für dih? Und ber will unfer 
Führer fein? Will diefem hochachtbaren 
Auswurf Griechenlands, nein, diefen griechifchen Weibern — 
Weiber find ‚wir ja doch nur — Gefeke geben? 
Hort nach Haufe! Laffen wir diefen hier 

14* 


Deutiche Rundſchau. 


9 
De 
t9 


Feiſt Fich freien an Hab und Gut, und jeh! er, 
Mer für ihn einfteht! Ober auch nicht! Da hat er 
Dem, der beifer ift ald das ganze Heer, 

Das genommen, was er im Streite doch felber 

Für fich erwarb! Ja unfer großer Achilleus! 

Säße der als ein Schwädling ohne Galle 

Thatlos nicht da: Du hätteft zum Ichtenmale 

Hier gefrevelt, Atride! 

Der Verſuch, diefe Rede in voller Wirkung zu überfegen, wird ftet3 daran 
ſcheitern, daß der eigentlid populäre Werth der vom Dichter angewandten 
Worte und Wendungen für immer verloren ift. 

Bemerken wir, wie Homer Therfites plößlich da fein läßt. Wie es ja erlebt 
wird: bei einer gefpannten Situation erhebt ſich aus einer Ede die durchdringende 
Stimme eines Menſchen, der und widerwärtig iſt, aber der jofort ala bie 
berrichende Macht fi documentirt. Wir toiffen nicht, was Therſites beim 
Heere thut. Er war weder vorher da, noch erjcheint er jpäter wieder. Gehörte 
er, wie wir bei Falftaff nie vergeffen dürfen, zu den vornehmeren Leuten? Ich 
bin zu verfchiedenen Zeiten verjchiedener Anſicht geweſen. Denn mag Therfites 
von Geftalt noch jo häßlich fein, immerhin ift er am kriege betheiligt und hat 
Gefangene gemacht, was freilih als Prahlerei aufgefaßt werden fönnte, aber 
doch in einer Art vorgebradht wird, die nicht? Ironiſches zu haben braudt. Als 
bloß jcurrilem Anhängſel der Armee würde man ihm vielleicht jede Kritik, nicht 
aber zugleich gejtattet haben, mit pofitiven Vorichlägen aufzuireten. Er verlangt 
Etwas: man joll nah Haufe. Siherli war er daran gewöhnt, nad allen 
Seiten hin Gehör zu finden, und es ift nicht das erfte Mal, daß er auftritt. Achıll 
und Odyfjeus, die beiden jchneidigften Redner, hatte er bis dahin zumeift an- 
gegriffen. Einen hellſtimmigen Redner nennt Odyffeus ihn. Jetzt macht Therfites 
ih an Agamemnon. Zwar trägt ihm jein Angriff gegen den König einen 
Schlag über den Rüden vom Scepter des Odyſſeus ein, daß er in Geheul aus— 
bricht; außerdem aber hatte ihn auch Odyſſeus reden laffen müfjen, Keiner 
ihm dad Wort verboten, Niemand ihn unterbrodden. Mit welcher Kunft der 
Dichter den unbequemen, lächerlichen, aber nicht ungefährliden Mann glaubhaft 
und ſichtbar Hinftellt! Keiner von den Helden wird jo ausgiebig und genau 
beichrieben. Wie mit niederländiihem Pinſel malt er ihn. ch erinnere 
daran, wie auf den Giebelfeldern des Tempel3 von Olympia neben den in ideal 
allgemeinen Gefichtszügen erjcheinenden Helden die Sclaven individuell menſchlich 
ausgeprägte Antli empfangen, damit ihnen der Anjchein des Heroifchen ge 
nommen werde, der nur höheren Naturen zufommt, weil nur einfache, große Ge- 
fühle ihn verleihen. Für mich ift die mit ficherer Hand gezeichnete Figur bes 
Therfites einer der Beweiſe dafür, daß Homer's Zeitalter bürgerlich nicht das 
heroiiche Gefüge hatte, das die Zuftände im Lager der Griechen zu repräfentiren 
jcheinen, jondern, daß ihnen nur fünftlich der ideal einfahe Schimmer verliehen 
worden ift, den fie in jo natürlidem Wachsthume zu tragen jcheinen'). 


) Auch darauf wollen wir hinweiſen, daß Homer, indem er Odyſſeus in berben Worten 
Hod und Niebrig hatte anfahren laflen, in gewiſſer Meife auf ben Ton, in dem Therſites dann 


Homer's Ilias. 213 


Wie glücklich leitet Therſites' freches Auftreten die Wiederaufnahme der 
Volksberathung ein. Seine Rede führt uns in medias res zurück und bewirkt den 
Gefühlsumſchlag der großen Maſſe, die immer günftig geſtimmt iſt, wenn ein 
folder Kerl an Ort und Stelle zum Schweigen gebracht wird. Therſites' un— 
ehrbietiger Angriff auf den König macht die Rückkehr zu den gewohnten Gefühlen 
des Gehorjams leiht. So völlig beherriht Odyſſeus jet das Herz des Volkes, 
daß bald das Getöfe der aufjauchzenden Achäer rings von den Schiffen wider- 
tönt. Wer das jo bejchreiben fonnte, mußte eigene Erlebniffe hinter fich Haben. 
Bergleihen wir mit diefer Veränderung der Volksſtimmung die Scene auf dem 
römischen Forum, in der Shafeipeare nad Cäſar's Tode Antonius mit feiner 
Rede Aehnliches vollbringen läßt. Antonius bewegt die Römer mehr dur) 
geiftreihes Gedanfenjpiel, während Homer in den nun auf einander folgenden 
Reden des Odyſſeus, Neftor und Agamemnon das ſachlich politiiche Element all» 
mälig vordringen und immer wirkſamer werden läßt. Wie janft und zus 
gleich doch mit jchneidender Berechnung weit Neftor den Unterſchied Derer zu 
ziehen, die feige und die tapfer find, wie findet eine höchfte Steigerung der 
friegeriihen Stimmung zulegt aber ftatt, al3 Agamemnon den gegen Adhill 
begangenen Fehler zugibt. 

Dies Geftändnig Agamemnon’3 war von Homer eingeleitet worden. Schon 
im eriten Gejange hatte Neftor ihm Unrecht gegeben und Agamemnon Neſtor's 
Rede als eine die Dinge jachlich vichtigftellende anerkannt. Brijeis wurde troß- 
dem hinterher aus Achill's Zelte fortgeführt, eine Handlung, die Neftor mit 
beleidigen mußte. Agamemnon, wenn er jet freiwillig erflärte, das Hinweg— 
nehmen der Brifeis ſei ein Fehler geweien, gab nicht nur Neftor damit eine 
ftille Ehrenerflärung, jondern erreichte noch mehr. Bemerken wir die Feinheit 
dieſes Spieles wohl. Agamemnon ericheint ala vollendeter Diplomat: er läßt 
durch jein Eingeftändniß das verjchwinden, was das Heer demoralifirte: Achill's 
zürnende Zurückhaltung. Denn feine unmittelbar nun bevorftehende Verjöhnung 
mit Achill mußte vom Heere ala etwas jelbftverftändlich ſofort Eintretendes 
aufgenommen werden. Das Gefühl hoffnungsreiher Kampfbegier, das bie 
Griechen wieder erfüllt, wird in uns jelbft beim Lejen der Verſe mächtig. Eine 
getoifje Feſtſtimmung ergreift uns, wie jo manchmal der Anblick großartiger, 





ausbricht, und vorbereitete. Empfing Odyſſeus aber durch feine grobe Art einen realiftiichen 
Schimmer, jo verichwindet diejer bei Therfites’-Ericheinen durchaus. Odyſſeus ift einer vonddenen, 
die im Bereiche der Iliasdichtung am complicirteften zu denken und zu handeln Haben, bie, un: 
gleich den Nebrigen, nicht immer in den nämlichen Licht: und Scattenmafjen ſich zeigen können. 
Ddyfi hat zuweilen etwas Beamtenmäßiges in feiner Art. Es Liegen ihm Dinge ob, zu deren 
Vollbringung e3 bürgerlicher Erfahrung bedarf. Solde Geftalten benöthigen innerhalb der 
Dichtung zuweilen fünftlicher Verftärkung des idealen Schimmer?, ben fie niemals/einbüßen bürfen. 
Wir ſehen in der Odyſſee im Hinblid auf die gleiche äfthetifche Forderung den Bettler Iros er» 
ſcheinen, eine an die Garicatur ftreifende Geftalt, bei deren Eintreten Odyſſeus, dem jelber der Anz 
ſchein eines Bettlers verliehen worden war, ſich über die Maste erhebt. Auch Iros ift in ber 
Odyſſee die am genaueften bijchriebene Figur, und dies der Grund, weshalb er und, die wir an 
das Realiftiiche gewöhnt find, gleich Therfites jo höchft fichtbar vor Augen fteht. Beide, Therfites 
wie Iros, erfcheinen nur einmal; als Geichöpfe niederer Ordnung, die, wie Thiere ober beliebiger 
Hausrath, ihre Dienfte leiften, ohne ſich zu entwideln. 


214 Deutihe Rundſchau. 


Tauſende von Menjchen fortreigender öffentlicher Kundgebungen auch den Fremden 
in den Strom theilnehmender Begeifterung mit fortreißt. ch verjuche, wiederum 
auf den bloßen Gedanteninhalt reducirt, den Gehalt der drei Reden Odyſſeus', 
Neftor’3 und Agamemnon’3 zu geben. 
Therfites alfo hat Odyſſeus willkommene Gelegenheit geboten, die günftige 
Wendung einzuleiten, und dieſer beginnt: 
Sohn des Atreus. Herrſcher. Du vor Allen 
Sollſt jeht beſchimpft daftehen. Dir haben die Griechen 
Erft mit Heiligem Schwur Heerfolge gelobt, 
Und nun tönt ein Gejammer durchs Heer, ald wären wir 
Weiber und Kinder, die nach Haufe begehren. 
Freilich, wer wird fich nicht nach den Seinen ſehnen? 
Und, wär’ er nur vier Wochen von Haufe fort, 
Ferne ber Frau nicht gedenken, wenn er im fahrzeug, 
Das die Stürme bed Winterd überfluthen, 
Rüdwärts benftt — und wir im neunten Jahre 
Sihzen und harren! — wer machte und zum Vorwurf, 
Daß wir trauern? — aber ich frage, wär’ es 
Nicht eine Echanbe, Teer jeht heimzukehren? 
Dauert, freunde, und haltet au. Es muß 
Klar fein endlich, ob, was Kalchas ſprach, 
Wahr fei oder gelogen: und ihr Alle — 
freilich Die nicht, die dad Schidjal feitbem 
Nieder zu Boben ſchlug, die wiſſen es nicht mehr — 
Alle erinnert ihr euch an Kalchas' Worte. 
Geftern,. ober ehgeftern war's — fo ift mir — 
Als nad Aulis wir mit den Echiffen kamen, 
Und an ber Quelle bort ben ewigen Göttern 
Heilige Opfer brachten. Unter dem Schatten 
Grünender Ahornbäume, wo das Gewäfjer 
Rein und ablig emporquillt, dort geſchah 
Jenes erfchredliche Zeichen. Am Altar 
Wand eine Schlange plößlich ſich empor, 
Bis zu des Baumes Geäft fih aufwärts windenb, 
Wo auf dem äußerſten Zweig ein Neft verſteckt lag 
Mit acht Jungen, und über ihnen der Vogel, 
Der bie Eier gelegt unb auägebrütet. 
Und die Schlange, bie Zwitichernden alle achte 
Fraß fie, während bie Mutter, laut auffreifchend, 
Flatternd über bem Neft um die Jungen klagte. 
Aber auch fie am Außerften Flügel erwifchend, 
Schlang das Gethier hinab. Da fagte Kalchas: 
Blidt empor! neun Jahre werben wir fämpfen, 
Doch im zehnten gewinnen wir die Stabt. 
⸗ Und ſo wird es geſchehen! — 
So ſprach Odyſſeus, 
Und die Achäer ringsum unermeßlich 
Schrien ihm jauchzend entgegen. 
Und Neſtor ſprach: 
Sind wir kindiſche Jungen hier miteinander, 
Die nicht wiſſen, wie es im Kriege zugeht? 
Haben wir denn nicht heilige Eide geſchworen? 
Mar denn Alles umfonft, und, was mühlelig 





Homer's Ilias. 215 


Durchberathen und endlich feſtgeſtellt ward, 

Geht es in Rauch jet auf? und Schwur und Handſchlag 

Eind in bie Luft gethan? Sei du, Agamemnon, 

König jeht und Führer des Danaervolfes, 

Und wenn Ein ober Zwei fich abjeits ſetzen, 

Um von der Heimkehr zu reben, laßt fie reden! 

Wir aber gehn micht, ehe wir nicht erfannt, 

Ob Kronion uns tänfchte oder fein Wort hält! 

Ich behaupte, er hat an jenem Tage, 

Als wir die Heimat mit den Schiffen verliehen, 

Gnäbig gewinkt, benn es blikte und bonnerte rechtshin. 

Epreche Keiner von Heimkehr, ber nicht vorher 

Ein trojanijches Weib in ben Armen gehabt, 

Ehe nicht Helena’3 Raub und ihr Seufzen gerächt ift! 

Doch will Einer durchaus nach Haufe fahren, 

Gut, fo befteig’ er jein Schiff: fein Loos wirb fein, 

Noch vor den Anbern zu fterben! Seht, Agamemnon, 

Lab die Männer ſich nach Gejchlechtern theilen, 

Daß bie Feigen fi von ben Tapferen fcheiden, 

Und offenbar jei, ob uns göttlicher Rathſchluß 

Oder menjchliche Furcht von der Stadt zurüdhält. — 
Und antwortend, begann jekt Agamemnon: 

Wieder befiegt bie Weisheit beines Wortes 

Alle Achäer. Heilige Götter, hört mich! 

Stünden Zehne wie bu mir Hier zur Seite, 

fallen müßte die Stadt, doch Zeus Kronion 

Sanbte verdberblichen Zank und Unheil nieder. 

Denn Achilleus und ich begannen zu ftreiten 

Um dad Mädchen, und ich fing an! — laßt uns 

Einig Beide wieder zuſammenhalten, 

Wehe dann den Trojanern! — aber jebt 

Stärken wir und mit Speiſe und Tranf, und bringen 

Waffen und Pferde in Ordnung! 


Den Gedanfengang ber drei Redner verfolgend, bewundern wir, wie der 
Dichter jeden von ihnen aus jeinem Charakter heraus die entjcheidenden Worte 
finden läßt, da3 Heer umguftimmen. Zumal Agamemnon, ber, wie jchon 
gejagt worden ift, wieder doch nur eine WVorjpiegelung eintreten läßt. Odyfjeus’ 
Rede ift ein Meifterftüd. Dieſe Art, jcheinbar Alles zuzugeben, um die Ges 
müther in die Hand zu befommen, ift nur Sache großer Redner. Der eingetvorfene 
Zwiſchenſatz, der in verſteckter Wirkung das entfräftet, was der Hauptjat ent» 
hält, ift Shafeipeare und Homer gemeinfam. Das heuchlerifche Anerkennen 
der Sehnſucht nah) Haufe, um fie fofort in anderem Lichte erjcheinen zu Laffen, 
erinnert an die Behandlung des Brutus, ben die Anerkennung, daß er ein ehren- 
werther Dann jei, nur um fo tiefer herabzieht. Der endliche Verlauf der Ver— 
fammlung ift uns nicht zweifelhaft. 

Beim Beginne der Volksverſammlung, die zu der echten Heldengefinnung 
ih nun zurücdwendet, hatte der Dichter dad Zuftrömen der Völker mit der 
Bewegung der Meereöwogen verglichen, fie kamen heran 


Brüllendb wie an das Felſenufer die Welle 
Anftürzt, und es erdonnert die weite Meerfluih. 


216 Deutiche Rundſchau. 


Beim Schluffe der Verfammlung kehrt er mit feinem Vergleiche zum Meere 
zurüd. Waren in den beiden obigen Verſen aber Fels und Meer in einfachen 
Stoß und Gegenſtoß geichildert worden, jo heißt e3 nad) Agamemnon’3 Rede: 

Alfo ſprach er, und das Gebrüll der Achäer 
Hallte empor, wie, wenn der fommende Sübwind 
Peiticht auf das Meer, bie Woge am übergebeugten 
Vorwärtöhängenden Vorgebirg', dem niemals 
Wind und Wellen, von allen Eeiten fürmend, 
Ruhe gewähren. — 

Welch prachtvolle Verftärkung der Anfangs leiſer angejchlagenen Mtelodie 
nun durch den eingreifenden Südfturm! Ein Gefühl unmwiderftehlicher Volks— 
fraft dringt aus dieſem Vergleiche und entgegen. 

Die Verfammlung alfo ift zu Ende. E3 erfolgt die Abhaltung des Opfers. 
Dann tritt Effen und Trinken und Borbereitung zur Schlacht ein. Und endlich 
wird berichtet, mit wie unendlicher Heeresmadht die Achäer den Zroern ent: 
gegenftehen. Einmal muß der Zuhörer denn doch erfahren, wer alles dabei war. 
Immer ift von dem Heere und den Schiffen die Rede geweſen: wieviel waren 
ihrer, die auszogen? Wir erinnern an die Einleitung der Tragödie des Aeſchylos, 
deren Inhalt der Untergang der Perjer ift: wie da in einem Chorgejange, ber 
wie ein Volkslied Elingt, die aufgezählt werden, die gegen Griechenland aus: 
gezogen waren und die Alle verderben mußten. 

Wirkſame Mittel werden jebt angewandt, den Auszug der Griechen zur Schladt 
mit Glanz zu umgeben. Agamemnon bildet die Mitte. Um ihn die Fyürften, 
jeder jeine Scharen ordnend. Mit ihnen Pallas Athene, die Aegis ‘haltend, deren 
bejondere Beichreibung die Wirklichkeit ihrer Erjcheinung bekräftigt. Immer wieder 
jehen wir den Dichter den Kunftgriff antvenden, durch genaue Darftellung einer 
Aeußerlichkeit die gefammte Erſcheinung, das Geiftige jogar mit eingejchlofien, 
und borzutäufchen, al3 jei das llebrige ebenfo real wie das eine Kleine Stüd, das 
er und in unantaftbar glaubwürdiger Wirklichkeit vor die Augen ftellt. 

Aber noch andere Mittel ftehen Homer hier zu Gebote. 

Das Zuftrömen zur Volksverſammlung hatte er mit dem Ausſchwärmen 
von Bienen vergliden, die in voll nachdringenden Maffen fich über bie 
blühende Wieſe verbreiten. Seht läßt er nicht weniger als vier durchgeführte 
Vergleiche dicht aufeinander folgen, um uns die Unermeßlichkeit des Gewühls und 
die Zahllofigkeit der griechiſchen Heerhaufen einzuprägen. 

Der erſte: 

Wie wenn Flammen die unendliche Waldung 

Hod auf dem Rüden bes Gebirgs ergreifen, 

Und in ber Ferne ber feurige Schein zu ſehn ift: 

So bie blintenden Waffen der Vorwärtsziehenden 

Leuchteten weithin fichtbar auf zum Aether. 
Ohne Uebergang eilt ex zum zweiten Bilde: 

Und wie fliegender Vögel viele Völker, 

Gänſe und Kraniche und lanahälfige Schwäne, 

Ueber fumpfige Wiefen am Flußgeſtade 

Flügelſchlagend und fchreiend die Luft durchtummeln: 

So von den Schiffen ergoffen ſich die Achäer 


Homer’; Ilias. 217 


In das Gefilde, daß des Stamandros’ feuchte 

Ebene zitterte vom Geftampf der Menichen 

Und ber Roſſe, und jo,am Ufer bes Fluſſes 

Traten Taufende da die Blumen nieder, 

Selbft wie des Frühlings Blumen und Blätter unzählbar. 

Aber auch das genügt ihm nicht, und ohme Uebergang ein neues Bild: 

Und wie unzählbarer Fliegen viele Völker 

Um bes Hirten Gehäge begierig ſchwärmen, 
Wenn im Frühling die Milch die Eimer anfüllt: 
Eo die Achäer voll Begierde, die Troer 

Auf dem Gefild im Kampfe zu vertilgen. 

Man bemerke, wie jedes Bild eine andere innere Handlung charakterifirt. 

Erft das Einherziehen des Heeres als ein Naturereigniß; dann das vorwärts 
fi) wälzende Gedränge, um an Ort und Stelle zu gelangen; dann die ertvachende 
Kampfbegier im Anblid de3 Feindes. 

Und zuleßt nun das Sichordnen zum Angriff. Auch dies letzte Bild ohne 
Uebergang den vorhergehenden angereiht. 

Und wie Hirten weidende Ziegenherben, 

Die ſich gemifcht, leicht ſondern, ftellen die Führer 
Ordnung ber für die Schladt: in ihrer Mitte 
Agamemnon der König, Blid und Haupt 

Wie der donnergewaltige Zeus! gegürtet 

Wie der Kriegägott! und mit gewaltigen Schultern 
Wie Pofeidon! und wie der Stier in der Herde 
Hocaufragend zwiſchen den Rindern hergeht: 

So verherrlichte Zeus ihn dieſen Tag, 

Daß er giöher erjchien ala alle Helden. 

Mit welder Stärke tritt und bei diejen vier Vergleichen das entgegen, was 
ih den mufitaliichen Gehalt nenne. Jedesmal von Neuem anhebend, Klingen fie in 
fanftem Fluſſe al3 VBerherrlihung des Königs aus. 

Bemerfen wir auch, wie Homer in diefen Bergleihen Himmel, Meer und 
Erde umfaßt. Zuerft jene kraftvollen beiden Bilder, die und an die Küfte 
führten, wo Wellen und Felſen im Kampfe find. Dann das Gebirge, auf dem der 
unabjehbare Wald in Flammen aufgeht. Dann das Reich der Luft, in dem 
die Vögel fi tummeln. Dann die Wieſe am Ufer des Fluffes, wo die Blumen 
fliehen. Dann die Milcheimer, die im Frühlinge nie troden werden, von ben 
fliegen umſchwärmt. Und endlich die Hirten mit den Ziegen und der friedlichen 
Rinderherbde. 

Erinnern wir uns, wie Homer den erften Gejang, der jo viel Stürme 
umſchließt, mit dem Gelage und dem Schlafe der Götter abſchloß. Bemerken 
wir, wie er hier jet mit dem friedlichiten aller Bilder zu der furchtbaren Schladt 
und überleitet, die jo viel Verderben und Unheil bringt. 

Welchem äfthetiichen Zwecke aber dient diejes Beftreben, die Phantafie mit 
landſchaftlichen Anſchauungen faſt bis zum Ueberfließen anzufüllen? 

Wir ſtehen erſt in der Mitte des Geſanges, deſſen zweite Hälfte in einigen 
hundert Verſen oberflächlichem Urtheile nach nun nichts mehr enthielte, was die 
Phantafie zu bewegen im Stande wäre. Dieſe zweite Hälfte des Geſanges, 
die die Aufzählung der griehiichen Streitkräfte vor Ilion bringt, bedurfte etwas 


218 Deutſche Rundſchau. 


Starkwirkendes, das für das Feſthalten dichteriſcher Stimmung vorhielt. Dazu 
ſollen die vier, die Welt umfaſſenden Landſchaftsbilder dienen. Sie haben ſich 
uns als Hintergrund eingeprägt, vor dem die Geſtalten der griechiſchen Helden 
nun in langer Reihe vorüberziehen, und die Städte und Burgen auch ſich zu 
erheben ſcheinen, die als die heimathlichen Wohnſitze aufgeführt werden. Homer 
hat unſeren Geſichtskreis abermals ausgedehnt. Bis jetzt kannten wir nur das 
griechiſche Lager an der troiſchen Küſte: es iſt Zeit, einen Blick auf das Land 
zu werfen, das den Griechen nun ſchon neun Jahre weit in der Ferne liegt. 
Wo ihre Frauen und Kinder fie ertvarten. Homer umfaßt immer da3 Ganze. 
Den Eindrud, den diefer zweite, fcheinbar troden referirende Theil unſeres Ge- 
fanges einft auf die Hörer gemacht hat, find wir heute am twenigften geeignet, 
nadhzuempfinden. Die Beichreibung des Baterlandes enthält er. So war einft 
die griechiſche Macht beichaffen. Das Meer ift die Heimath dieſes Volkes ge 
weſen. Was auf dem Meere, auf den Inſeln und rings umher auf dem Lande 
im weiten Kranze fich erhebt, bildet und umgibt da8 Vaterland der Griechen. 
Wie werden von den urjprünglicden Hörern Homer’3 die Einzelnen aufgemertt 
haben, wenn die Stelle, die von ihnen ſprach, an die Reihe fam! Und in allen 
jpäteren Zeiten: wie muß die nachlebenden Gejchledhter der Hinblid auf dieje 
ungeheure Fluth vaterländifchen Gewäſſers erhoben und an die Urzeiten erinnert 
haben, wo Welt und Griechenland Ein3 waren! So würden die Hörer heute 
aufhorchen, wenn in einem den Krieg von 1870 befingenden Gedichte die 
einzelnen Armeen und die Regimenter aufgeführt und charakterifirt worden wären. 
Bloße Namen und troden jcheinende Zahlenangaben werden in der Erinnerung 
ſich da beleben und mit friſchen Kränzen ſich wieder umwinden. Man jehe 
doch nur, wie der Soldat heute aufhorcht, wenn die Zahl feines Regimentes 
genannt wird. 

Lafjen wir uns diefe Verſe nun aber ala ein Loblied auf die Herrlichkeit 
de3 Landes der Achäer durch die Scele gleiten, welch' wunderbarer Nachklang, 
den der Dichter und an ihrem Ende liefert! Mit Agamemnon's Erjcheinung hatte 
da3 vierte jener großen Landichaftsgemälde abgejchloffen; feine Macht wird inner 
halb der griechiichen Heereskraft als die höchfte von allen gepriefen, Agamemnon’s 
Ruhm erfüllt den ganzen zweiten Gejang, ja, und felbft jet, wenn bei der Auf: 
zählung die Reihe an Achill kommt, wird nichts gejagt, was defjen Fyernbleiben 
vom Kampfe an diejer Stelle als verhängnigvoll erfcheinen Tiefe. Don Achills 
Schönheit nur ift nebenbei bier noch einmal die Rede. Nireus, einer der Heer: 
führer, der aus Syma fam, fei jchöner als alle anderen gewefen, nur Achill 
ſchöner al3 er; aber unkriegerifch ift Niveus und nur mit wenig Schiffen ge 
kommen. Bei Achill dagegen wird, als die Reihe an ihn kommt, jein Hummer 
um die verlorene Briſeis dadurch ftärker in den Vordergrund gebracht, daß erzählt 
wird, wie er fie in ſchwerem Kampfe einft errang, worauf ber Dichter in Auf 
zählung der Heerführer und der Schiffe und ber heimathlichen Gefilde fortfährt. 

Räumlich entfpricht diefe zweite Hälfte des zweiten Gejanges der bem Treiben 
der Olympier gewidmeten zweiten Hälfte de3 erften. Wie das Leben in ben 
Paläften der Götter und Göttinnen dort unfere Phantafie endlich jo einnimmt, 
daß die Schickſale der Griechen zurüdtreten, fo wird hier unſer Gedächtniß mit 








Homer's Ilias. 219 


der kein Ende nehmenden Aufzählung der Helden und Städte und Schiffe ſo er— 
füllt, daß wir durch eine finnliche Nöthigung uns von der troiſchen Küſte ab— 
und dem weiten Anblicke des damaligen Griechenlands hingeben. 

So weit aber wollte uns der Dichter nur haben, um mit wenigen letzten 
Worten Achill dann doch noch einmal einzuführen! 

Die Helden ſelbſt ſind aufgezählt, da fällt dem Dichter ein, noch ein Wort 
über die Trefflichkeit ihrer Roſſe zu ſagen. Die beſten ſind die des Eumelos, 
ſchnell wie Vögel, gleichen Haares, gleich alt, von gleicher Höhe über den Rücken 
hin, Stuten beide und Schrecken verbreitend, wenn ſie über die Ebene fliegen. 
Der ſtärkſte von allen Männern, fährt Homer fort, iſt der Telamonier Ajax, 
ſo lange als Achill zürnend ſich fernhielt. Denn Achill war ſtärker als alle, 
wie ſeine Roſſe auch ſtärker waren. 

Doch der ſaß bei den dunklen, die Wogen durchfurchenden 
Schiffen, dem Könige zürnend, und ſeine Völker 
Füllten am Ufer des Meeres mit Discuswerfen 

Und mit Bogen und Pfeil die Stunden des Tags aus. 
Aber die Rofje jelber riffen den Lotos 

Da und bort vom Boden ab mit ben Mäulern: 

Lotos und Eppich, bie in Sümpfen wachſen, 

Während die Wagen der Führer wohlverpadt 

Still in ben Zelten flanden, und ihre Herren 

Hier und dba im Lager herum fich treibend, 

Thatlos in der Stille ben Kampf erfehnten. 

Wie ift mit diefem Anblick Alles plögli in unferer Phantafie ausgelöfcht, 
was von freudiger Erwartung fi) wieder entzündet hatte. Die wenigen inhalt= 
reichen Worte breiten über Agamemnon mit jeinen Siegeshoffnungen wie einen 
dichten Nebel aus. Zeus’ böfer Wille gegen die Griechen — obgleih Homer 
hier nichts davon jagt — kehrt uns als das in die Seele zurüd, was die bevor- 
ftehende Anftrengung des Königs und feiner Helden zu vergeblichen Mühen machen 
wird. Ya, noch mehr: ein letztes Echo der Schmähungen des Therfites war uns 
unbewußt im Gedächtniß zurücdgeblieben und beginnt nun leife aufzutönen: 
ba3 Gefühl, daß, was Therfites gegen den König an Vorwürfen vorgebradt, 
doc) die lebte Grundftimmung des Volkes gegen Agamemnon zum Ausdruck 
bringe. Etwas Unzerftörbares lag in den dem Könige angehefteten Flecken. Eine 
unbejchreiblige, wie Krankheit fich ausdehnende Macht ſteckt in den die finftere 
Unthätigfeit Ahill’3 und das Umherlungern feiner Leute malenden Verſen. Aber 
auch ein Gefühl der Schuld weht und daraus ſchon entgegen, die Achill mit 
dem thatlofen Daliegen und Herumlungern, zu dem er fein Volk zwingt, ſich 
aufzuladen begonnen hat. — 

Der zweite Gejang ift, was die Griechen angeht, hier zu Ende. Wir erivarten 
im nächſten Gejange die Schladt. Bor ihrem Beginn aber will der Dichter 
neben den Griechen und den Göttern das dritte Element einführen, da8 am Kampfe 
theilnimmt: die Stadt de3 Priamos und die, die fie bervohnen. Nur drei Namen 
find von der troijchen Seite bis jeßt erwähnt worden: Priamos, Hektor und 
Helena. Aber fie werden eben nur genannt. Während das Lager der Griechen 
und das Meer und der Olymp uns in feften Bildern vor Augen ftehen, liegt 





220 Deutſche Rundſchau. 


die Stadt, deren Eroberung den Belagernden verſprochen worden war, noch wie 
in weiter, dunſtiger Ferne. 

Wir haben die Kunſt bewundert, mit der Homer im erſten Geſange den 
Schauplatz ſich verändern läßt: im zweiten gibt er uns neue Gelegenheit dazu. 
Von den Zelten des Agamemnon führt er uns zu denen des Neſtor. Das weite 
Feld thut ſich auf, wo die Griechen Verſammlung Halten. Mitten unter den 
Schiffen ſtehen wir dann, die ins Meer gezogen werden. Dann das ungeheure 
Panorama der griechiſchen Welt, das vorüberzieht, um uns endlich ins Lager 
des Achilleus zurückkehren zu laſſen. Homer's Princip iſt, die Phantafie land— 
ſchaftlich nie leer zu laſſen. Zu Ende des zweiten Geſanges bringt er uns mit 
einem Schlage jetzt mitten in die Stadt hinein, vor die Thore des königlichen 
Palaſtes. Entrückt ſind wir dem Lager der Griechen, das uns nun aus der 
Ferne nur gezeigt wird, wie die Troer es von den Mauern der Stadt herab 
vor Augen hatten. Schon im erſten Geſange hatte der Dichter uns aus dem 
Lager jo auf die Höhen de3 Olymp verjeßt. 

Homer wählt eins der Mittel, die ihm eigenthümlih find. Iris, eine 
Botin des Zeus, hat gejehen, was im griechischen Lager ſich vorbereitet, und fliegt, 
auf Zeus’ Gebot, windjchnell zur Stadt, e8 den Troern zu binterbringen. Nur 
eine kurze Scene empfangen wir jebt, aber fie ein Bild uns entrollend, da uns 
tief in die trojanifchen Dinge einführt. 

Gejagt wurde, wie der Dichter nur mit geringer Andeutung im erften 
Gejange verräth, wa3 die Griechen vor Troja führte. Beim Streite der Fürſten 
nennt Achilleus nebenbei die Zerftörung der Stadt als das Selbftverftändliche, 
um deifentwillen man das Vaterland verlafjen habe, und bier und da in gelegent- 
licher Erwähnung, wird weiter davon geſprochen, ohne aud dann zu jagen, aus 
welchem Grunde Troja zerſtört werden jolle. Auch werden Priamos und Priamos’ 
Söhne erwähnt. Aber jelbjt beim Gelage, im Palafte des Olymp, hören wir 
von feinem der Götter, daß er, im Gegenjaße zu Zeus, den Troern geneigt jei. 

ragen wir, warum der Dichter fo verfahre, jo jcheint die Antwort nahe 
zu liegen, daß Homer nicht erſt erzählen zu müſſen glaubte, was Jeder wußte. 
Diefe Antwort aber enthält vielleicht nicht da3 Zutreffende Heute wifjen wir 
Alle im Theater vorher, wie Hamlet endet: einen Tag aber gab es, wo das 
Publicum, das das Theater füllte, nur wußte, was der Dichter ihm von Scene 
zu Scene enthüllte. Auch dem Publicum Homer’3 müſſen die Kämpfe vor Troja 
einmal zum erſten Male gejungen worden fein, und e3 bat damals nichts 
gewußt, al3 was von Vers zu Vers ihm offenbart ward. Homer aber liebt 
es, das Kommende eine Zeitlang mit leijeren Tönen vorausklingen zu lafien. 
Erft dann jollte von den Troern in vollem Umfange die Rede jein, wenn ihre 
Scidjale in voller Kraft in die Ereigniffe einzugreifen begönnen. 

Here, ala fie Athene herabjendet, damit Odyſſeus der Flucht der Griechen 
Einhalt thue, nennt Helena zuerst, und in Nejtor’3, in der großen Verſammlung 
gehaltenen Rede ift unter den Griechen zum erſten Male von Helena die Rede, 
deren einfame Seufzer zu rächen den Griechen obliege. So überjegt Voß: es 
fann aber auch nur heißen: deren Entführung und Nöthe zu rächen jeien. Was 
bejeufzte Jie? Was hatten Priamos’ Söhne mit Helena zu thun? Noch iſt 


—— 





Homer'3 Alias. 29} 


Paris nicht genannt worden; aljo Hektor vielleicht, defjen Namen in Agamemnon's 
Rede ausgejprodhen wird? Nicht ruhen will Agamemnon, ala bi3 er diejem 
den Panzer gejprengt hat, daß er auf dem Antlitz Tiegend, knirſchend mit den 
Zähnen in den Staub beiße. Warum? GErft in der Aufzählung der griechischen 
Heerkraft, als die Reihe an Menelaos gefommen, erfahren wir, daß Mtenelaos von 
allen zumeift das Herz gebrannt habe, Helena zu rächen. 

Als jo wenig Wiffende führt Iris uns nun in die Berfammlung Derer ein, 
die innerhalb Troja's am Thore des priameiichen Palaftes Rath pflegen. Greije 
und Jünglinge, eine Verſammlung bildend. Die Thatſache Ion: daß Jung 
und Alt gemeinfam friedlich beräth, dat weder von Vornehm noch Gering 
die Rede ift, auch nicht Beichlüffe haftig gefaßt werden, jondern nur vom Wohl 
des Reiches ruhig geſprochen wird, führt uns in Verhältniffe ein, die von den 
griechiſchen verjchieden find. Wir athmen ftädtiiche Luft. Man lebt nicht in 
Zelten, jondern in Häufern und Paläften, Hinter feften Mauern. Man befindet 
fih im Kriege, aber die Gefahr jcheint draußen weitab zu liegen. 

Polites, einer der zahlreichen Söhne des Königs, war an jenem Tage aus— 
oefandt worden, die Feinde zu beobadhten. Auf der Höhe eines Grabhügels 
fitend, fieht ex die Achäer ſich heranwälzen. In der Geftalt diefes Polites erſcheint 
Iris am Thore des Palaftes, und ihre Anrede an den König malt Priamos’ 
geiftige Verfaffung. Ein Grei3, für den die Söhne handelnd eintreten. Iris 
beginnt mit einem Vorwurfe. „Greis,“ redet der jcheinbare Polites Priamos an, 
„immer haft du bei unkritiſchem Geſchwätz dich beruhigt, jo wie damals, ald du 
an den Krieg nicht glauben tollen, der endlos entbrannt iſt. Oft genug habe 
ih in blutigen Schlachten gekämpft, niemal3 aber ein Wolf gejehen wie die 
Griechen, die zahlreich twie die Blätter des Waldes oder wie der Meerſand auf 
die Stadt losziehen.“ Diele Bundesgenoffen habe die Stadt, fährt ex fort, die, 
bon verichiedener Sprache, einander nicht verftänden: jeder diefer Scharen folle 
ihr Herrſcher jet den Pla zum Kampfe anweiſen, Hektor aber die Bürger zur 
Shlaht ordnen. Das Wort Bürger Elingt ung ſeltſam in da3 Ohr. Damit 
hat Iris ihre Sendung erfüllt und die Scene bricht ab. Weder Helena nod) 
den don Priamos’ Söhnen, dem fie angehört, noch Hektor fehen wir. Der Ein- 
blik in Troja hört wieder auf, wie ein Sonnenftrahl die Wolken durchbohrend 
auf eine Minute ein Stüd der Landichaft hell macht und wieder in Schatten 
dann verfinfen läßt. Keine Worte fallen mehr. Aber auch die Troer ſetzen ſich 
in Bewegung. An einem vor der Stadt liegenden Hügel machen fie Halt und 
ftellen fi in Schlachtordnung. Der Reft des Gefanges ift der Aufzählung der 
ſtädtiſchen Heeresmacht gewidmet. Hier braucht der Dichter nicht breit zu fein. 
Seine Zuhörer ſtehen auf Seiten des eigenen Volkes, Keiner erwartet von den 
Trojanern zu hören, was ihn näher angeht. An erfter Stelle nennt Homer 
die Truppen Hektor's als die zahlreichiten und beten. So hieß «3 auch bei 
denen de3 Agamemnon. Nicht in gleichem Maße aber wird den Troiſchen das 
Lob zu Theil, wohlgeordnet zur Schlacht dageftanden zu haben. 

Noch einmal aber, am Schluffe der Aufzählung, wird Achill genannt. Bei 
Naftes, dem Führer der Karer, der, geſchmückt wie ein Mädchen, in die Schlacht 
ging. Aber jein Gold vermochte ihm nicht zu retten, heißt e3 weiter, das 


222 Deutiche Rundſchau. 


der ſtarke Achilleus al3 Beute davontrug. Naftes erinnert an jenen Nireus, deſſen 
Schönheit der Achill’3 gleich Fam, aber der unkriegeriſch war und mur mit brei 
Schiffen fam. Homer deutet eine zukünftige Zeit an, zu dev Achill wieder am 
Kampfe theilnehmen wird. — 

Der zweite Geſang Klingt nicht aus, jondern hört plößlih auf. Zuweilen 
meine ich, er habe bereit3 da ſchließen jollen, wo Adill’3 und der Myrmidonen 
unthätiges Dafigen geihildert wird, worauf mit dem Grjcheinen der Iris in 
Troja ber dritte Gefang dann einen ſchönen Anfang nähme Die dem zweiten 
Gejange auf diefem Wege fortgenommenen Hundert Verje würden bei biejer 
Anordnung auch räumlich dem dritten Geſange zu ftatten zu fommen jcheinen. 
Aber ich jage mir wieder, daß der Blick in die Stadt als Vorſpiel deffen, was 
der dritte Geſang bringen wird, eine Nothivendigfeit fei, jowie, daß er, an ben 
Anfang des dritten gebracht, deſſen Defonomie ftören würde. Ind was das 
Verſtummen des Dichters angeht, jo entfprechen dem die Abjchlüffe ſämmtlicher 
Gejänge des Gedichted, die wenigen ausgenommen, welche mit Ginjchlafen endigen 
wie der erfte. Da ift es, als ob Homer habe fortfahren wollen und ala ob er, 
inne werdend, daß für diesmal genug gejagt worden ſei, mitten im Flufſe der 
Rede ſich unterbrede. 

Dante’3 Gejänge ſchließen oft jo plöglid. Homer's Art, die Scene wechſeln 
zu laſſen, als feien nur Fragmente von Dichtungen verjchiedenen Urſprungs 
aneinandergereiht und da3 lebte Bruchſtück durch einen Zufall nur das letzte, 
finden wir nirgends jo deutlich wieder ala bei Shafefpeare, der das zufällige 
Zufammenwerfen von Scenen ba jcheinbar am jorglojejten walten läßt, two ber 
geiftige Faden am ftraffften angezogen ift. Im Wintermärden, in Cymbeline 
zum Beifpiel. Aus einem halben Dutend Dramen jcheint er da diefe und jene 
Scene, halb oder nicht einmal halb, ausgefchnitten und diefe Ausfchnitte roh in 
Verbindung gebracht zu haben: gehen wir auf da3 rein Geiftige aber, jo zeigt 
fi nirgends eine Naht, nirgends eine Lücke, nirgends ein Zuwenig oder Zuviel, 
fondern unter ſtizzenhaftem Anjchein ein vollendete Kunſtwerk. 


a 


Dritter Gejang. 


Im dritten Gefange verläßt Homer die panoramamäßige Behandlung der 
Dinge. Er reiht nicht mehr bloß die Scenen aneinander, ſondern entwidelt fie 
auseinander. Ich fagte oben, der erfte Geſang habe gleichſam zwei Ouvertüre: 
man könnte die beiden erften Gejänge wiederum eine doppelte Ouvertüre der ge— 
ſammten Ilias nennen. Es wird ein Vorgeſchmack deffen in ihnen gegeben, was 
toir zu erwarten haben. Sie enthalten mehr Thatſachen als zuſammenhängendes 
Thun, mehr Bilder, die frei auf einander folgen, als daß das Spätere vom 
Hrüheren gefordert würde. Der dritte Gefang erft führt uns in zufammenhängen- 
dem Berichte in die Urfachen des großen Krieges ein, der als vorhandenes Element 
ſtillſchweigend vorausgeſetzt wurde. 

Homer, eher er die Kämpfe beginnen läßt, die, Zeus' Verſprechen zu Folge, 
ohne Achill's Wiedereintreten zu Gunſten der Griechen nicht zur Entſcheidung 


Homer’s Alias. 223 


fommen jollen, muß die rau endlich fichtbar werden laffen, die an allem Unheil 
Schuld war. Ein übermächtiger Kunftverftand ſpricht aus des Dichter Art, 
Helena und vor Augen zu bringen. Sie ift zu ſchön, um beſchrieben zu werden. 
Er läßt und ihre Erfcheinung nur ahnen. Wie ein Künftler die Kraft des 
Sonnenlicht3 nur in der Helligkeit deſſen fich zeigen läßt, was es beftraßlt. 
Mit zwei Vergleichen leitet der Dichter unferen Gejang ein, jedem der beiden 

Völker einer gewidmet. Beide Bilder verfchmelzen in unferer Phantafie zu einem 
einzigen landſchaftlichen Gemälde. Bon der Stadt her kommen die Trojaner 
wie Scharen von Kranichen, die auf der Flucht vor den winterlichen Regengüffen 
chreiend dem Dcean zueilen und zum Kampſe mit den Pygmäen ſich herab» 
ftürzen. Schweigend fommen vom Dteere her die Achäer ihnen entgegen. 

Wie der Südwind auf des Gebirges Häupter 

Nebel Herabgieht, wenig bem Hirten erwünfcht, 

Aber bem Räuber gelegener ala die Nacht, 

Wo man jo weit fieht ala ein geworfener Stein fliegt: 

So erhob ſich unter den eilenden Füßen 

Staub in Wolken empor hin über die Ebne. 


Eine Landichaft fteht vor und, al3 erinnerten wir un ihrer. Links drohende 
Regenwolken, aus denen die Kraniche herabfommen; in der Mitte das Geftade 
des Meeres; rechts die vom Nebel bededten Berge. Staub fteigt auf. Himmel 
und Erde find erfüllt. Luft, Wolfen, Vögel, Meer, Gebirge, weidende Herden, 
Hirten und Räuber, und dazu da3 Getöje und Stampfen der beiden Heere. Und 
aus der breiten Maſſe dieſes Anblicks leuchtet die Geftalt deſſen heraus, der die 
Feinde ins Land gebracht hat: Paris, oder, wie Homer für manche Geftalten 
doppelte Namen bringt, der göttliche Held Alexandros. 

Der mit bem Fell des Panthers über den Schultern 
Mit dem gefrümmten Bogen und dem Schwerte, 
Und zwei erzbegipfelte Lanzen tragend, 

Seht die Beften ber Griechen zum Kampfe aufrief. 

Scheinbar ein heldenmäßiges Auftreten. Und wie verächtlich desſelben 
Mannes plößliches Verſchwinden beim Erſcheinen des Menelaos, al3 diefer, um 
endlich num feine Rache zu fühlen, feiner Herausforderung folgend, vom Wagen 

herabipringt. 
| So wie ein Löwe, größerer Beute begegnend, 
Hunde und Jäger verjcheuchend, fich auf den Hirſch 
Oder den Gemsbock wirft. 

Kampf und Unterliegen, nicht aber zitternde Feigheit des Räuber wird von 
und ertvartet. 

So wie ein Mann vor der Schlange zurückbebt, 
Die aus dem Didicht tief im Gebirge hervorſchießt, 
Zitterten Alerandros dba bie Glieder. 

Farblos und fahl verſchwand er unter den Andern. 


Und danach Hektor’3 Rede nun, in der er, wüthend vor Beihämung, feinem 
Bruder die Wahrheit jagt. Und dann die Untertvürfigkeit, mit der Paris Hektor 
anhört. ch verfuche, Hektor's höhniſche Worte diesmal in jambiſcher Form zu 
geben, jo etwa, ala ſei e8 eine Stelle aus Shafefpeare'3 Troilus und Greffida. 


224 Deutiche Rundſchau. 


„Sigrragıs“, „Unglüds- Paris“, nennt Hektor jeinen Bruder, wie man in 
Berlin „Pechſchulze“ gebildet hat. 

Pech-Paris! Fraunverführer! Schöner Mann! 
Du wäreft beifer unergeugt geblieben, 

Statt jammt bem Weibe, daß du heimgebradht, 
Don Troern und von Griechen mit Gelächter 
Begrüht zu werben. Wie du jämmerlich, 
Kraftlofer hübſcher Kerl, vor Allen baftehft! 
Moher nahmft bu den Muth nur, übers Meer, 
Das keine Ballen Hat, dir biefe frau, 
Kriegriicher Männer Schwägerin, zu ftehlen? 
Die deinem Bater, die ber Bürgerichait 

Zum Unheil, Troja's Feinden nur erwünſcht, 
Dir felbft zu ew'ger Schande hier erſchien? 

Du magteft nicht, den Gatten abzuwarten: 
Heimlich gingft du davon; der würde wahrlich 
Gezeigt bir haben, welchts Mannes Weib 

Du fortgeführt! Da hätten Aphrodite, 

Dein Saitenfpiel und dein geringelt Haar 
Dich nicht geſchützt: im Staube lägeft du 

Mit einem Rod von Steinen auf den Schultern! 

Man bemerkte den Unterfchied des Accentes zwiſchen Hektor's Rede und den 
Worten, die im griechifchen Lager zwiſchen den Fürſten zu fallen pflegen. Dieſe 
brüllen fi) mit natürlicher Grobheit an, als ob fie in anderem Tone nicht zu 
iprechen müßten. Soldatifche Rauheit tönt uns entgegen: aus Hektor's Munde 
empfangen twir den Ausbruch des Untoillens eines fonft ruhigen Mannes, den 
Indignation zu einer Sprache hinreißt, die nicht bloß andonnern, jondern mit 
jchneidenden Accenten ins Fleiſch dringen joll. 

Seine Abficht ift, Paris durch den Spott, den er über ihn ausgießt zum 
Kampfe zu bewegen. Beihämt und unterthänig gibt Paris dem Bruder Red, 
twagt aber doc daran zu erinnern, daß es ſich nicht um einen gemeinen Raub, 
fondern um die Annahme des Gejchenkes einer Göttin handele. Aphrodite's 
Werk war es gewejen, daß fo verführeriiche Schönheit Paris umjpielte. Eine 
Tochter des Zeus auf Geheiß einer Göttin zu gewinnen, war nidht3, das Vor— 
würfe verdiente. Dies deutet Paris dem Bruder an. Mit Helena’3 Gatten zu 
fämpfen, jei er bereit. Sammt ihren Reichthümern möge fie dem Sieger zufallen. 
Heltor übernimmt, den Zufammenjtoß der beiden Heere zu hemmen, und mit 
Menelaos beginnt die Unterhandlung wegen de3 Zweikampfes. Diefe Dinge 
werden Fraftvoll und mit der Breite ausgeführt, die Homer's Publicum für 
Beſprechungen diefer Art verlangte. Herolde gehen nad) der Stadt, um Opfer 
thiere zu holen und den alten Priamos herauszugeleiten, in deffen Gegenwart 
das Gotteurtheil feierlich vorbereitet werden joll. 

Und nun jehen wir Helena auftreten. 

Im erften Gefange war fte nicht, im zweiten einmal nebenbei erwähnt 
worden, in einer Art, die zu ihren Gunften vedet. Homer’3 Andeutungen weiſen 
die Auffafjung nicht ab, daß Helena reuevol ſich nach Haufe ſehne. Wir ver- 
urtheilen, aber wir haſſen fie nicht. Wie alle Frauen der Dichtung, erjcheint fie 
al3 niemals alternd im dauernden Befite jugendlicher Friſche. Mit unwider⸗ 


Homer’3 Alias. 225 


ftehlicher Liebenswürdigkeit ausgerüftet und in göttlicher Fügung übers Meer 
fommenbd, hatte ein Königsjohn fie zur Flucht bewogen. Ein ſchöner Fremdling, 
der aus dem afiatifchen Stadtleben im einfamen meerabgejchloffenen Peloponnes 
erſchien, dem gebirgigen Argos, wo die Frauen der auf ewigen Kriegsfahrten 
abwejenden Männer fich verlaffen dünkten. Paris läßt Helena höheren Lebens— 
genuß in ber Ferne ahnen. Nicht gemeine Schiffsbauer, ſondern Künftler hatten 
jeine Schiffe gerichtet. Mit all’ ihren Reichthümern macht die fürftliche Frau 
fih auf die Flucht. Wir denken an Gleopatra und Antonius. Als die Tochter 
de3 Zeus zieht Helena in Troja ein, wo Paris mit den vornehmften Architekten 
der Stadt jeinen Palaft erbaute. Aber die Zeit der Enttäufchung hatte begonnen. 
Dem troiichen Volke und der Familie des Priamos ift Helena verhaßt. Und fie 
jelbft muß an das zurüddenten, was fie verlaffen hat. Mit ſolchen Gefühlen 
für und gegen fie erwarten wir ihre Gegenwart. 

Wiederum fteht Iris dem Dichter zu Dienften, um ung aus der Mitte der 
beiden Heere, die zufammenftoßen wollen, in die Paläſte des Priamos und feiner 
Kinder zu verjegen. Wo e3 geräujchlos, wie wir die Wohnungen der Könige 
denken, hergeht und wo fie die Gattin des Paris am MWebftuhle findet. Solche 
Uebergänge vom Getöfe zur Stille liebt Homer. 

Bemerken wir, wie er durch das Hineinflechten dev Götter Helena’3 ſowohl 
al3 Alexandros' Veranttwortlichkeit mildert. Nehmen wir heute jogar doch in 
fataliſtiſchen Stimmungen neben der bewußten Verantwortlichkeit ein unbewußt 
mitgebietendes Schickſal an. Und nun werden wir fehen, mit welcher Kunft von 
Helena beinahe der lebte Reft einer Schuld abgelöft wird. 

Iris, wie zuweilen Götter und Götterboten thun, nimmt eine Maske vor. 
In der Geftalt der Laodike, der ſchönſten unter den Töchtern des Priamos, tritt 
fie ein und findet Helena ein Gewand webend, groß, zweimal einzufchlagen und 
purpurfarbig, in das fie Kampfjcenen aus dem Kriege hineinwirkt, der um ihre 
Perfon geführt wird. Dicht neben ihr ftehend, beginnt die verftellte Laodike: 
„Liebe Schwägerin,“ jagt fie, „mad Did) auf, wenn Du Trojaner und Achäer 
fämpfen ſehen willft; die Schlacht in der Ebene unten nimmt ihren Anfang. 
Jet aber ruhen fie plöglich Alle, auf die Schilde gelehnt und die Speere in den 
Boden geftoßen. Paris aber und Menelaos werden mit Lanzen um Dich kämpfen, 
und dem, der den Anderen befiegt, wirft Du zufallen.“ 

Alſo jprechend ließ ihr die Göttin Sehnſucht 
Sanft in das Herz einrinnen, und fie gedachte 
Ihres erften Gemahla, ihrer Stabt und ber Eltern. 
Und einen weißen Schleier um fich werfend 

Ging fie aus dem Gemach mit thränenden Augen, 
Und gelangte dahin, wo das ſtäiſche Thor war. 

*) Dort jahen Priamos, Panthoos und Thymoites, 
Lampos, Klytios, Hiketaon, Utalegon, 

Antenor: die Räthe des Volks, am Thore; 

Denen das Alter mitzulämpfen verjagte, 

Deren Stimme nur ſchwach, jo wie ber Grillen 
Zarted Gezirp ben Rand bes Waldes entlang 





*) Dort jähett Vriamos. 
Deutſche Rundſchau. XVI, 8. 15 


226 


Deutihe Rundichau. 


Aus dem frühlingagrünen Gebüfche herausſchwirrt; 
So nun fahen die Alten des Volta am Thurme. 
Doch ala fie Helena kommen jahn zum Thurme, 
Sprachen fie leife wilpernd untereinander: 
Wer will tadeln, dak Trojaner und Griechen 
Um ein Weib wie dieſe jo lange fämpien ? 
Der aus den Augen recht die Göttin herausfieht! 
Aber ſei's! und wenn fie noch jchöner wäre: 
Fort zu den Schiffen mit ihr, daß unjeren Rindern 
Und uns felber fein Unheil draus erwachie! 
Alfo fprachen fie. Priamos aber rief 
Helena zu fi: Hierher, jehe dich nieder 
Neben mich Hin, Liebes Kind, damit bu ben erften 
Gatten fiehft und die Freunde und die Verwandten — 
Du fannft nichts dafür, da? haben die Götter 
Auf dem Gewiflen, die mir den traurigen Krieg 
Mit den Achäern ins Land gebracht! — Seht ſage, 
Mer ift Jener von gewaltiger Größe? 
Zwar aud Andre ragen wie er empor, 
Aber feinen von folder Hoheit jahen 
Je meine Augen, und wie ein König geht er. 

Und die göttliche Frau: o lieber Vater, 
Vor dir muß ich mid ſchämen und du erfchredft mich! 
Ad, ich hätte fterben follen damals, 
Als dein Sohn hierher mich mit fich führte 
Und ich mein Bett und mein Rind und die freunde und bie 
Edlen Verwandten verließ. So follt’ es nicht fein! 
Ad, und ich weine darum. Doc weil bu fragft: 
Das ift Agamemnon, ber Sohn des Atreus! 
König, gewaltig und machtvoll und ftark im Kampfe! 
Ad, mein Echwager war er. Er iſt's geweſen! 
Aber Priamos ftaunend herabiehend rief: 
Shidjalbegünftigter, glüdlicher Sohn des Atreus, 
Wieviel Völker find dir jeht unterthänig! 
Einft ala ich jung war und nad Phrygien zog, 
Sah ich herrliches Volk dort; damals kämpft’ ich 
Gegen bie Amazonen jelber mit, 
Die wie Männer fi fchlugen — aber auch damals 
Sah ich fein Heer wie das ber Achäer heute! 
Aber Odyſſeus erblidend fragt’ er weiter: 
Set aber ber, liebes Kind, wer ift denn der dort, 
Höher noch ala der Atride, breiter die Schultern, 
Vor ihm liegen die Waffen auf ber Erde 
Und er jelber fchreitet durch die Männer 
Wie durch die Herde ein mächtiger Widder ſich durchdrängt. 


Das ift Odyffeus, erklärt Helena weiter. Und Antenor nimmt das Wort, 


um zu berichten, wie ex jelbft Odyfjeus in Troja mit Menelaos einft beherbergte, 
als Beide Helena’3 wegen zu unterhandeln in die Stadt gefommen waren. Und 
dann weiter erzählt er, wie fie ihnen damals erfchienen jeien. 


Stehend ragte höher empor Menelaos, 

Aber jahen fie Beide, jo war Odyſſeus 
Hochanſehnlicher; und wenn Beide ſprachen, 
Sprach Menelaos wenig und raſch und jcharf, 


Homer's Ilias. 227 


Denn kurz angebunden und auf die Sache 
War er gerichtet und weniger Jahre zählt’ er. 
Aber ald dann der ſchlaue Odyff fich erhob, 
Stand ber da und blidte vor fich nieder 
Starr auf ben Boden die Augen vor fich gerichtet, 
Und ber Stab in ber Hand bewegte fich nicht, 
Meder zurüd noch vorwärts, ſondern feft 
Stemmt er ihn auf, wie ein Mann, der nach Worten jucht, 
Und vor Erregung die Gebanten verloren. 
Dod wenn ihm dann aus ber Bruft die große Stimme 
Vordrang wie ein Schneegeftöber von Worten: 
Keiner wäre ihm ba entgegengetreten! — 
Da erft merkten wir, was der Mann bedeute! 
Doch zum dritten den Ajar jetzt erichauend, 
Wollte ber Greis von ihr willen: wer ift jener 
Andere achäiſche Mann, jo groß und kraftvoll, 
Der mit den Schultern über die Andern vorragt? 
Aber Helena: Jener von gewaltigem 
Wuchſe ift Ajar; und der Andere dort 
Iſt Idomeneus, ben Menelaoa und id) 
Oft beherbergten, wenn er von Kreta kam, 
Und jeine Leute ſind's, die ihn umgeben. 
Doch, was ift das? — ich erkenne fie Alle wieber, 
Und mit Namen könnt’ ich fie die bezeichnen, 
Nur Zwei jehe ich nirgends, meine Brüder, 
Kaftor nicht und auch Polydeukes nicht! 
Sind bie Beiden zu Haufe denn geblieben? 
Oder famen fie mit aus Laledaemon, 
Aber wollen nicht fämpfen, weil fie die Schande, 
Die ich auf fie gebracht, zu tief empfinden ? 
Doch die Brüder lagen ja beide Längft 
Tief in ber Erbe des lieben Vaterlandes. 


Niemand, der Geſchwiſter verloren hat, wird dieſe legten beiden Verſe Lefen, 
ohne erjchüttert zu fein. Diefe Scene, die mit einem Schlage hier abbricht, ift 
eine der ſchönſten, die menſchliche Dichtung hervorgebracht hat. Das ift ſchon 
oft empfunden worden. 

Bemerfen wir die intenfive Gewalt, mit der fie unſere Phantafie anrührt. 
Homer ftelt und die Dinge dicht vor die Augen. Hole Jeder aus der Erinnerung 
die Auftritte ans Licht, bei denen er am meiften von dem Gefühle beivegt ge= 
wejen ift, jelbft mitzuerleben. Sagen wir Ecenen aud Hamlet, oder aus Fauſt, 
oder aus der antiken Literatur die des Aeſchylos: wie Kaſſandra das Haus de 
Agamemnon nicht betreten will; oder Alcibiades’ Herausforderung des Sokrates 
im Gaftmahle des Plato; oder wunderbare Stellen aus pindariichen Oden: 
überall höchſt lebendige Gemälde, wo aber in jo wenig Worten die Sadje jelbjt 
wie hier? Man fühlt die Duadern des ſkäiſchen Thurmes, von dem die alten 
Männer herablugen, wie mit den Händen, man meint Helena heranfommen zu 
ſehen, im lichten Schleier, den fie vajc) umnahm. Und das leiſe Gewiſper ber 
Greife und die Freundlichkeit des alten Herrſchers, der wohl einfieht, daß die 


entzückende Schtwiegertochter der Spielball übermädhtiger Dämonen war. 
15* 


228 Deutſche Rundſchau. 


Ein entſchuldigendes Gefühl beſchleicht uns. Wir ſehen die Frau ihre 
Gewiſſenslaſt mit ſich führen. Im Ueberblicke deſſen, was die Ilias bis zu 
dieſer Stelle enthält, dringen wir, Achill ausgenommen, keinem der Mitſpielenden 
fo tief in die Seele als Hier Helena. Die vornehmſte und bezauberndfte Fürſtin 
des Erdkreiſes wird von den Göttern im Geifte verwirrt, Mann, Kind, Brüder 
und Vaterland zu verlaffen, um ein ihr jelbft unfaßbares anders geartetes Dajein 
zu juchen. Und nun hat fie es zu erdulden. Bon nun an enthält Homer's 
Gedicht neben Achill und Therjites die dritte Geftalt, von deren Dafein wir 
überzeugt find. 

Aber auch Menelaos, Agamemnon und Odyſſeus befiten wir num in realeren 
Bildern. Ich wies darauf Hin, wie e8 Homer’3 Art fei, uns allmälig mit den 
Zeuten bekannt werden zu laffen. Eins fommt zum Andern: plötzlich fteht die 
Geftalt fertig da. Dieſe drei ließ er bis dahin nur Handelnd auftreten, ohne 
ung ihren Anbli zu gewähren. Sie gehören nicht der außerlefenen Reihe Derer 
an, bei denen, wie bei Achill, zu jagen genügte: der ftärkfte und jchönfte von 
Allen! Sie brauden Etwas, da3 fie von Anderen unterjcheidet. Damit 
Agamemnon vor uns hintrete, muß Priamos ihn jet der Helena befchreiben. 
Bei den zwei Anderen fteigert fich der Dichter in der Kunft, nur jo nebenbei 
das MWichtigfte anzubringen, noch höher: einer der uralten Trojaner erhebt bie 
ſchwache Stimme, um von ihnen zu berichten. Diefe Porträts bezeugen die un: 
gemeine literariſche Eultur, die Homer umgeben haben muß. — 

Priamos war außerhalb der Mauern verlangt worden. Mit den „Söhnen“ 
allein, Hatte Menelaos erklärt, wolle er nicht? zu thun Haben. Wir erden 
fpäter den vollen Sinn diefer Worte erfahren. Priamos ift uralt und optimiſtiſch 
Er kämpft nit mehr mit und redet verföhnlid. Im vierundzwanzigften 
Gejange der Ilias exrft erleben wir die Vollendung diefer Geftalt, deren Wachs— 
thum im Laufe des Gedichtes langjam vorrüdt. Bemerken wir, wie Homer 
auch hier niemals fich wiederholt, nie Unnöthiges gibt, jondern Stein auf Stein 
das Piedeftal höher hebt, auf das er ben Vater Hektor's ftellen will. Immer 
ift Homer fich deffen bewußt, was vorher von ihm gejagt worden ift, und weih, 
an welcher Stelle dad dem Zuhörer noch Unbekannte zu geben jei. 

Mit Priamos verjeßt Homer ung wieder auf die Ebene draußen, wo bie 
Heere einander dicht gegenüber ftehen. Die Abmahungen kommen zu Stande. 
Paris, für gewöhnlid ohne ſchwere Rüftung nur als Bogenſchütze eingreifend, 
legt den Panzer eines feiner Brüder an. Von der Mauer herab nehmen bie 
troiſchen Männer und Frauen an den Dingen Theil. Die Loofe fallen, wer 
von Beiden den erften Speerwurf zu thun habe. Paris: die Spibe feines 
Speeres biegt fih um am Schildbuckel des Mtenelaos, der feinerfeits jet Paris 
tödtlich getroffen haben würde, hätte Aphrodite ihren Liebling nicht geſchützt. 
Von ihrer Hand wird er plöglid) in die Königsburg von Troja verſetzt. 

Jetzt ereignet fi) dort das, was Helena’3 Charakter höhere Weihe gibt und 
ihre Flucht und den quälenden Zwieſpalt ihres Gefühles erklärt. 

Paris eriheint Menelaos gegenüber diesmal mehr unglüdlid als ſchwach, 
denn jeine Schuld ift es nicht, daß die Spike feiner Lanze fi umlegt. Er 
hat im Allgemeinen zwar etwas Widerftandsunfähiges in der Natur, er gibt 


Homer’3 Alias. 229 


nad: mit feiner Unterfcheidung aber vermeidet Homer, ihn kraftlos erfcheinen zu 
laſſen. Er ftellt ihn ala eine Art Menſchen für fi Hin. Paris ift der im 
Wohlleben einer reichen Stadt aufgewachjene gute Schüße, ebenjo wenig dafür 
gemadt, einen der Söhne des Atreus zu beftehen, ala ein moderner Dann, dem 
man jeine Waffen genommen hätte, einem Wilden gegenüber mit einer Keule 
fi hinreichend bewehrt fühlen würde. Paris gehört einem fein civilifirten 
Volke an. Sehen wir ihn und Menelaos ſich gegenüberftehen, jo empfinden wir 
da3 Ungleiche; man gönnt diefem den leichten Sieg, aber man freut ſich auch, 
al3 im entjcheibenden Momente Aphrodite den Riemen de3 Helmes fprengt, an 
dem Menelaos den Räuber Helena's endlich padt, um ihn im Fortziehen zu er- 
würgen. Plößlih ift Paris verſchwunden! Was jeßt vorgeht, ift das Ent- 
icheidende für Helena’3 Charakter. 

Nieder jehte bie Göttin Paris im Zimmer, 

Das bes Wohlgeruchs Athem erfüllte, unb ging, 

Helena herzurufen. Unb die fand fie 

Auf des Palafles Dach, wo troifche Weiber 

Mit ihr ftanden in Menge, und am Gewand 

Beife fie fafſend ftieß fie fie an mit der Hand, 

Der uralten Schaffnerin gleih an Geftalt, 

Die jo ſchön die Wolle zu zupfen mußte] 

In Lakedaemon fchon, ala fie dort noch Haus hielt, 

Und bie Helena liebte. Dieſer gleichenb 

Rebet die Göttin Helena an: komm raſch! 

Paris verlangt nach bir: fomm mit nad Haufe! 

Wo er auf fchwellendem Lager deiner wartet, 

Strahlend in Schönheit! Niemand dächte an Kampf, 

Jeder an Tanz und an Wonne bei feinem Anblid! 

Aber Helena bäumte das Herz fich empor, 

Als fie das hörte; doch nun ſtand ber Göttin 

Machtvoll üppige Hoheit ihr vor Augen, 

Und die funfelnben Götterblide erfennenb 

Schrak fie zufammen und rief: Betrügerin, willft du 

Wieder jet mich verloden, jo wie damals? 

Soll ich durch bie phrygifchen Städte etwa 

Meiter hinweg, weil da oder dort bir Einer 

Lieb ift, und Menelaos jept meinen Mann 

Niederihlug, um mich armfelige Frau 

Wieder nad; Haufe zu führen? Da fchleichft bu wieber 

Liftig heran! jo geh’ du jelber doch hin, 

Gib dich Hin und die Götterwirthichaft auf! 

Und den Olymp betrete dein Fuß nicht wieder! 

Sondern quäle dich ab und lauf ihm nad), 

Dis er zur Frau dich, oder ala Magd bi annimmt! 

Ih zu Paris jet? Dem mad’ ich bad Lager ' 

Nicht mehr! Denn das ſchickte ſich nicht! Es würden 

Mich die troifchen Frauen alle tadeln, 

Und id) Habe genug in mir zu tragen! 

Aber in Wuth gerathend ſchrie Aphrodite 

Helena an: Bring’ mich nicht auf, Verwegene! 

Geh’ ich im Zorn jeht von bir, jo haſſ' ich bich 

Künftig eben jo glühend, wie ich dich Liebe; 


230 


Deutſche Rundichau. 


Und zwiſchen Troer und Danaer will ich Unheil 
Eien, das furdhtbar fein wird, und bu felber 
Gehft im großen Verderben mit zu Grunde! 

Und e3 erzitterte Helena, als fie das hörte, 
Sie die Tochter des Zeus! Sie nahm ben weihen 
Schleier zufammen und ging und fprad fein Wort mehr. 
Keine ber troifchen Frauen hatt’ es gemerkt, 
Denn ein Dämon war &®, der ihr vorausſchritt. 

Und fie famen zum ſchönen Palafte des Paris, 
Und die Mägde wandten fich raſch zur Arbeit, 
Und zum hohen Gemahle ging die rau, 

Und bie lieblich lächelnde Aphrobite 

Holte ben Seffel herbei, ihn ſelber tragenbd, 
Und gegenüber Paris rüdte fie ihn, 

Und des aegisſchwingenden höchften Gottes 
Tochter, Helena, ſetzte fi auf ihn mieder, 
Wandte die Augen ab und ſprach zum Gatten: 

Schon aus dem Kampfe zurüd? Am beften wärft du 
Unter ben Händen deſſen da geftorben, 

Der als ein Mann von Kraft dich niederwarf, 
Und ber mein erfter Gemahl war! früher freilich 
Mollteft bu ftärker als er fein, prahlteft bu, 
Ihn mit den eignen Händen zu befiegen. 
Geh’ doch Hin und ford're ihn wieder heraus! 
Nein, bleib’ lieber zu Haus und hüte dich wohl 
Dem blondhaarigen Menelaos nochmals 
Unter die Fauft zu kommen, denn fein Speer 
Würde dich tödten. 

Aber dad Wort aufnehmend 
Sagte Paris: Frau, nicht mit fo ſchwerem 
Vorwurf folft bu die Seele mir belaften. 
Hat Menelaos gefiegt, jo war Athene 
Hülfreih ihm; ich werde ihn wieder fordern, 
Und es ſtehen Götter auch uns zur Seite. 
Deshalb fomm, und ruhen wir miteinander, 
Friedſam, denn fo völlig hat nie bie Sehnſucht 
Mir die Sinne erfüllt, auch damals nicht 
Als ich dich fortgeführt aus Laledaemon 
Und auf der Flucht die Inſel Kranaë uns 
Ruhe zuerft gewährte und Bermählung. 
So wie damals ftehft du entzüdend vor mir! 
Alfo iprechend ging er zum Lager voran 
Und die Gattin folgte feinen Schritten. 

So nun ruhten fie Beide nebeneinander. 

Doc; der Atribe wie ein gereizted Raubthier 
Stürmte durch dad Gemwühl, ob er denn nirgends 
Den verfhwundenen Paris wo eripähte. 

Doc) fein Troer vermochte dem Menelaos 

Paris zu zeigen: hätte ihm einer geichn, 

Nicht aus Freundſchaft würd’ er verftedt ihn haben! 
Denn fie haßten ihn Alle in den Tod. 

Doc; Agamemnon rief: Trojaner, hört mid): 
Sieger war Menelaos! Gebt die Frau 

Und ihre Schäße zurüd und zahlt eine Buße, 


Homer’3 Jlias. 231 


Wie euch geziemt und die für alle Zukunft 
Teftgeftellt wird! So ſprach Atreus’ Sohn 
Und bie andern Achäer riefen Beifall. 

Ein großartiger Gegenſatz. Mitten aus dem. jchmeigenden Schlafgemade 
der verjöhnten Gatten werden wir in den Kampf zurüdgeriffen. Der dritte 
Gejang ſchien wie eine Symphonie in einem lang ſich hinziehenden ſüßen Tone 
ihließen zu wollen: mit einem Male bricht das wilde Gejchrei des Agamemnon 
wieder ein. 

Homer zeigt fi) bei Helena von einer neuen Seite. Er will nicht be= 
ihönigen, er will nur erklären. Die Scene zwijchen der Göttin, die Alles auf 
dem Getviflen haben würde, wenn etwas wie Gewiſſen in ihr lebendig wäre, 
und Helena, die ihrem Gewiſſen faft erliegt, ohne fich der Mächte eriwehren zu 
fönnen, die ihre Echuld immer noch vermehren, läßt uns ahnen, welde Er- 
fahrungen Homer jelbft gehabt haben könnte. So tiefe Symbolik fliegt dem 
Dichter nicht aus dem Nichts zu. Helena's Rede, mit der fie die Göttin abzu- 
weiſen fucht, und ihr Nachgeben und Unterliegen rehabilitiren fie beinahe. Sie 
jieht den Moment herannahen, two Mtenelaos, den fie heiß betwundert und hoch— 
ftellt, fie der Lage entreißen wird, deren Unwürdigkeit fie empfindet. Da fteht 
die DVerführerin wieder neben ihr! Als Aphrodite fie in Geftalt der alten 
Dienerin anrührt, wittert Helena nur eine Lijt. Sie vermuthet ein neues un— 
befanntes Abenteuer, zu dem jie mißbraudt werden jolle. Wieder, meint fie, 
jolle fie einem abgethanen Liebhaber ihrer Schwefter als Belohnung anheimfallen. 
Und nun erfährt fie, was thatjächlich fich ereignete. Das Blut des Zeus empört 
fih in ihren Adern. Sie weiß, daß die Trojanerinnen fie hafjen: nun aber 
würde fie von ihnen veracdhtet werden! 

Und melches Unterliegen! Wie viel, jagen wir wieder, muß der Dichter an 
GErlebnifjen in fich getragen haben, um die beiden Schweſtern jo nebeneinander 
zu ftellen. Wir wiflen, wie Chriemhild und Brunhilde, wie Elifabeth und 
Maria einander zu überbieten juchen, hier Haben wir das ältefte Berfpiel 
eines ſolchen Kampfes. Helena und Aphrodite brechen los gegen einander, und 
Rang und Macht tragen den Sieg davon. Selbft von der Familie des Zeus 
weiß Helena nur zu gut, daß man mit den olympiſchen Herrſchaften ſich nicht 
entziveien dürfe. Der Moment, two fie den Schleier zufammennehmend, ſchweigend 
folgt, iſt ein tragifcher. Noch einmal jucht fie dem Manne zu twiderftreben, den 
fie veradhtet — aber Aphrodite betäubt fie. Eine ber Stellen, die wie bittere 
Ironie Elingt, ift der Ver, wo Homer Helena, im Begriffe nachzugeben, die 
Tochter des Aegis-erſchütternden Zeus” nennt, Beitworte, die jonft nur Göttinnen 
zu Theil werden. 

Helena’3 inneres Schidjal Scheint Hier erfüllt zu jein. Und doch Hat ber 
Dichter eine Verſöhnung gefunden. Nur von zwei Leuten in Troja wird Helena 
verftanden: von Priamos, der jelbft in uralter Verwandtſchaft mit den Göttern 
verbunden war, und von Heltor, deffen bürgerlich reiner Edelmuth für die ein- 
ftand, die denn doc einmal nun einen Theil der Familie bildete. Helena erblickt 
in Hektor den einzigen Mann, der an Agamemnon und Menelaos und an ihre 
Brüder heranreiht. Es bildet ſich cine geiftige MWahlverwandtichaft zwiſchen 


232 Deutiche Rundſchau. 


ihnen, die Homer möglich macht, Helena in noch neuer Geftalt erjcheinen zu 
laſſen. 

Ich thue einige Schritte voraus. 

Im ſechſten Geſange wüthet die Schlacht zwiſchen den Troern und Griechen. 
Hektor eilt in die Stadt, um Paris herbeizuholen, der ſich vom Kampfe fernhält. 
Paris' Benehmen zeigt ihn hier von einer neuen Seite. Nachdem er Menelaos 
gegenüber eine ſo traurige Rolle geſpielt, findet er bequem, das Urtheil, das 
Freunde und Feinde über ihn fällen mußten, übel zu nehmen. Er hält ſich, 
als lebe man im Frieden, in feinem Haufe: 

Dann trat Heltor ein. Den elf Fuß langen 

Speer in ber Fauſt, deſſen erzene goldumfaßte 

Spike weithin blikte. Und er fand 

Paris, wie er mit herrlichem Waffenſchmucke, 

Schild und Panzer, zu thun fich machte, wie er 

Prüfend die frummen Bogen unterfuchte. 

Aber Helena unter ben Mägben ſihend 

Unterwies fie, wie fie zu weben hätten. 

Das erjehend rief er mit firafenden Worten: 

Menſch, jet willft bu Hier den Empfinblichen fpielen ? 

Deinethalben gehen bie Völker zu Grunde! 

Deinethalben lodert bes Krieges Gluth 

Rings um Zlion’3 Mauern: würbeft du nicht 

Den anfahren, ber jeht nicht kämpfen wollte? 

Auf, wenn Troja in Flammen jeht nicht ftehn fol! 
Und Alerandros: Hektor, nicht mit Unrecht 

Zabelft bu mich, boch irrft du, wenn du glaubft, 

Daß ich grollendb mich zu hier zu Haufe halte. 

Ja, ich hatt” es gewollt, doch dann bat mich 

Helena füß und befänftigend, mid an bem Kampfe 

Doc) zu beiheiligen, und meiner Meinung nad 

Sollt’ ich ed thun, denn mwechlelnd wendet der Gieg ja 

Dahin und dorthin fi. Ich Iege bie Waffen 

Gleich an, warte! — nein, geh’ lieber voran! 

Und ich eile dir nach und bin gleich bei bir. 
Hektor ftand flumm dba. Und Helena nahm 

Leiſe und ſanft das Wort. O Schwager, o id 

Hündin, bie ih an allem Unheil Schuld bin! 

Die dich mit Schauber erfüllt! O hätte damals, 

Als ich zur Welt fam, mich ein Sturm gefaßt 

Und über Berg und Thal ins Meer gejchleudert, 

Daß bie Wellen mich in die Tiefe zogen, 

Eh’ das Alles geſchah! Doc, da bie Götter 

Einmal wollten, daß ih am Leben bliebe: 

Hätten fie einem Manne mich nicht überliefert, 

Der gegen Schimpf und Schande ohne Gefühl ift! 

Doch den ändert jet nichts mehr! Komm body, Lieber, 

Jetzt auf ein Weilchen herein und fe’ dich nieder, 

Schwager, der du um mich hündiſches Weib 

Und Alexandros wegen fo viel erbulbeft, 

Denen Zeus fo vielfaches ſchweres Unheil 

Aufgebürbdet, daß die Menichen davon 

» Sagen und fingen werben, jo lange die Welt fteht. 


Homer's Ilias. 233 


Aber ber große helmumflatterte Heltor 
Sagte: Helena, nöthige nicht jo freundlich 
Mid zum Sihen, ich darf nicht; denn es treibt mich 
Fort in die Schlacht zu den Troern, bie nach mir 
Sehnſuchtsvoll ſchon ſchauten, ala ich hinwegging. 
Aber treibe du dieſen an, und ſelber 
Soll er ſich ſputen, daß er mich in der Stadt 
Noch erreichel Denn ich gehe zuvor 
Nun in mein Haus, um da meine liebe Frau 
Und mein Kind noch zu küſſen, denn wer weiß, 
Ob ich wieder zurück zu ihnen kehre. 

Damit wandte ſich Hektor und erreichte 
Bald ſein Haus. 

Drei Charaktere offenbaren ſich in dieſer Scene mit erſchreckender Deutlichkeit. 
Zuerſt Paris. Wir glauben ihn hier erſt kennen zu lernen. Er iſt weder feige 
noch kraftlos, aber er iſt zum Kriege als Handwerk weder geboren noch erzogen. 
Für ihn iſt der Krieg nur ein Sport. Liebe, Ehre, Vaterland, Wagenfahren, 
Mufit, Kunftgenuß und Umgang mit Künftlern ftehen für feine Anſchauung auf 
gleicher Stufe. Die Welt eriftirt jo weit für ihn als fie ihn gerade intereffirt. 
Unter dem Gelächter beider Armeen durch eine hohe Frau davongeführt, erachtet 
er es al3 da3 Bequemfte, die Sache als beleidigter Prinz übel zu nehmen und 
fih in feinem Palafte einzufchliegen. Selena, die längft weiß, daß mit ftarfen 
Worten nicht3 bei ihm auszurichten fei, hatte ihn fchmeichelnd dahin gebracht, 
in die Schlacht zurüczufehren. Aber dazu bedurfte e8 der Rüftung. Statt die 
erften beften Waffen anzulegen, beginnt Paris al3 Kunftfreund und Kenner feinen 
Beſitz an dergleichen behaglich zu muftern. Jedes Stüd betrachtet und betaftet er. 
Nah gewohnter Weije hört er Hektor's Vorwürfe ruhig an und gibt ihm Recht. 
Dann aber bemerkt er, wie Hektor ihn ja in ber Auswahl der beften Waffen- 
ftüde eben unterbrochen habe. Nur einen Augenblid, und er gehe mit ihm. 
Oder nein, verbeffert er fich: geh’ voran, ich bin gleich bei dir. 

Dieje legte Wendung ift bewunderungswürdig. Paris verlangt, man folle 
ihm Zeit laffen. Und Helena, begreifend, daß hier nichts zu machen jei, will 
fich jelbft wenigftend den Genuß verjchaffen, auf wenig Deinuten mit Jemandem 
zu verkehren, der in ihren Augen ein Dann ift. Sie nennen Paris nicht mehr 
bei Namen: Hektor jagt „diefer da“. Helena gibt ſich feinem Urtheil preis. 

In Betreff Hektor's ſpricht Homer das letzte Wort erft am Ende des 
Gedichte aus, Hier aber ſchon zeigt er ihn al3 den, deſſen Hände Ilion halten, 
und der nichts dafür in Anſpruch nimmt ala das Bemwußtjein, das Seine gethan 
zu haben. Paris’ Antwort auf Hektor's ftrafende Rede macht diefen ftumm. 
Mochte er tief in der Bruft über Helena denken wie er wollte, die Lage der 
rau befhämt ihn und macht ihn milde Die Art, wie er in ablehnender 
Höflichkeit ſich entſchuldigt, nicht eintreten und bleiben zu dürfen, zeigt die zarte 
Güte feiner Natur. Im Gefühle feiner Kraft findet er nur natürlich, daß das 
Schwerſte gerade ihm zufalle, Hierin Achill ähnlich, der ſich darüber nicht beflagt 
hatte, daß er die ſchwerſte Arbeit that. Hektor hat die Beicheidenheit Derer, 
bie etwas leiften. Er entjchuldigt fi mit Frau und Kind. Er bittet nur um 
Eins: daß Helena „diefen da” in der Stimmung erhalte, fich zu waffnen, und 


234 Deutſche Rundſchau. 


noch während er ſelbſt in Troja ſei, ſich ihm anzuſchließen. Hektor will nur 
das Eine erreichen: daß von ſeinem leiblichen Bruder nicht geſagt werden bürfe, 
er habe nicht kämpfen wollen. 

Helena aber erregt unſer Mitleid. Wir begegnen dieſer Art von Ver— 
zauberungen in modernen franzöſiſchen Romanen. Helena beurtheilt Paris ebenſo 
hart, wie Hektor thut, aber ſie läßt ihn, wie Hektor gleichfalls thut, gewähren. 
Sie trieb ihn nicht mit harten Worten in den Kampf: fie ſchmeichelte ihm ab, 
fi zu rüften und mit zu fämpfen. 

Faſſen wir an diefer Stelle, wo Helena am fichtbarften una entgegentritt, 
ihr Schickſal, wie Homer es in fi) trug, in voller Abrundung zufammen. 

Der merkwürdigſte Zug in ihrem Charakter ift die fie belebende Kritik des 
eigenen Verhaltens. Damit verbunden die Fügſamkeit dem gegenüber, was fie 
als ihr Schickſal nun einmal erkannt hat und hinnimmt. Beides aber nidt 
ohne die ihr Weſen beherrſchende Zumiſchung vollen Genufjes an ihrem Dafein! 
Die Verbindung diefer drei Elemente ift uns ebenjo verftändlich als anziehen). 
Ungemein menſchlich ericheint uns diefe Eriftenz, und der unverwüftliche Glanz 
föniglicher Hoheit, der fie umgibt, fteht ihr wohl an. 

Homer Hatte feine eigene Art, die Geftalten, die er jhafft, zu adeln. No 
einmal begegnen wir Helena bei ihm in der Lage, von jich jelbft zu reden. m 
legten Gejange der Ilias ericheint fie wieder. An Hektor's Leiche bricht fie in 
Jammer aud. Mit verziveiflungsvoller Reſignation Elagt fie um feinen Berluft. 

Hettor! Bon allen Echwägern mir der liebfte! 
Wäre ich, eh' Alerandros mit mir davonfuhr, 
Vorher Lieber geftorben! Zwanzig Jahre!) 
Bingen dahin, dak ich nach Troja fan, 

Aber niemals hört ich ein vorwurfsvolles, 

Böfes Wort von dir! Und wenn im Palafte 
Schwäger und Schwägerinnen und Schwiegermutter — 
Denn ber Schwiegervater allein war milde — 
Mich überfielen, hielteft du fie zurüd, 

Sanft einredend mit ruhigen edlen Worten. 
Deshalb wein’ ih um did. Denn in ganz Troja 
Iſt mir Keiner mehr gut und Keiner freundlich, 
Und es jchaubert jie Alle, die mich anſehn. 

Alle. Helena jcheint fi ihres Diannes gar nicht zu erinnern, um ihn 
auszunehmen. Ihr Schidjal ift befiegelt. Wieder eins von den Zeichen be 
inneren Abjchluffes, den Homer's Gedicht im vierundzwanzigften Gejange findet, 

Daß Helena die war, die am Kriege Schuld trug, kommt nicht mehr zur 
Sprache. Nur ald Alerandros’ Gemahlin und als Schwägerin Hektor's be 
jammert fie den Todten. 

Und troß alledem no ein Umſchwung! Abermals Jahre jpäter thront 
Helena im alten Sparta wieder, wohin fie nad) Troja's Zerftörung mit Menelaos 
zurücgefehrt ift. Hier nimmt fie den nad) feinem Water juchenden Telemad 
gaftfreundlid auf. Unverwüſtlich jung und ſchön ſitzt fie da wieder, ala habe 


!) Hier zwanzig Jahre, während es nur halb fo viel zu fein brauchten. Größere Zahlen 
bezeichnen immer nur im Allgemeinen eine lange Zeit. 


Homer's Ilias. 235 


fie ſich nie von der Stelle gerührt. Penelope ſah in Helena’3 Davongehen mehr 
einen Fehler al3 ein Vergehen, und von dem jungen Prinzen, den die Königin 
gütig behandelt, durfte fie nur Verehrung erwarten. Sie war ftrahlend wie 
ein Foftbarer Diamant, den Räuber einmal davongetragen haben, ber wieder 
eingebradjt worden ift und nicht3 von jeinem Licht verloren hat. Ihre trojanischen 
Zeiten bürfen nicht etwa nicht berührt werden; fie jpricht davon wie von einer 
großen Krankheit, in die der Wille der Götter einft fie hatte verfallen laffen. Homer 
deutet auf ſchöne Weiſe hier an, daß nur die Erinnerung an diefe vergangenen 
Dinge, nicht aber Kummer darüber ihr zurüdgeblieben fei. Denn indem wir 
Helena dem Telemach da3 fummervertreibende Mittel heimlih in den Wein 
werfen jehen, das ihr auf der Heimreije in Aegypten einft geſchenkt worden war, 
erfahren wir damit zugleich do nur, daß da3 Mittel an Helena jelbit früher 
ihon feine fummerverzehrende Kraft bewährt haben mußte. Bei diefer Gelegen- 
heit auch werben andere Erlebniffe Helena’3 in Troja von Homer erzählt, die 
die Einnahme der Stadt und Helena’3 Rückkehr zum exften Gemahl möglich 
madten, Umftände, deren es als zu berichtender Ereignifje für den Plan der 
Ilias nicht bedurfte, aber die in der Odyſſee ald Erzählungen aus weit zurück— 
liegender Zeit vorgebracht werden durften. Denn das beivundern wir wiederum 
in der Odyſſee, daß das Zurüdliegende auch hier gelegentlich eingeftreut wird, 
und daß die erften Gejänge diefer Dichtung, gleich denen der Jlias, und mit der 
Totalität des Gejchehenen wie zufällig in abgerifjenen Stücken befannt maden. 

So hätte ich die gefammte homerifche Helena nun vorgeführt: Zeus’ Tochter, 
die al3 ſterbliche Königin friedlich abſchließt. Von ihrem Vater her die Gabe 
bejigend, nicht3 zu erleben, das ihr nicht jeden Tag ein neues Dafeinsconto 
anzufangen erlaubte. 

Ueberfliegen wir mit hiſtoriſch betrachtendem Auge noch einmal die beiden 
Geftalten des phrygijchen Königsſohnes und der Argiverin. Soll ald unmöglich 
gelten, daß ein einziger Dichter die Charaktere diefeg Mannes und diejer Frau 
al3 abgerundete Erjcheinungen in fi trug, um fie in Geftalt von Fragmenten 
über die beiden großen Gedichte wie in einzelnen Tonjäßen auszuftreuen, die, an 
ihrer Stelle jedesmal in anderem Zujammenhange wirkſam, dann doch aber aud) 
wieder nur für fi) aneinandergereiht zu einer jchönen Melodie ſich vereinigen? 
Und nun, ein paar Taujende von Jahren nad ihrer erften Geburt aus 
Homer’3 Geifte wird Helena von Goethe in das Leben unferer Zeit verflochten. 
Die griechiſche Schattenkönigin beginnt, neue Leidenjchaften zu erregen und von 
ihnen bewegt zu werden. Bei Helena’3 Namen gedenkt Jeder von uns heute 
zuerjt doch des zweiten Theile des Goethe’fchen Fauſt's, wo die Königin ala 
Geipenft erſcheinend zum lebten Male berücdt und berüdt wird. Gin wunder: 
barer Zufammenklang dieſer letzten Hyperboreifchen Incarnation mit ber älteften 
Geftalt des griechiſchen Weibes, um das, von Göttern ftammend, Könige Krieg 
führten. Beide Auffaffungen der ſchönſten Frau, die urältefte und die mobernite, 
pafjen zu einander, ja, können ſich nicht mehr entbehren. 

Goethe nimmt ein ſeltſames Erperiment mit Helena vor. Es ift die fort: 
eriflivende wirkliche Helena, die Fauft umarmt: ein Gejpenft, dad Mephijto zur 
Oberwelt entführt, um Theater zu fpielen. Von dem Nechte aller Dichter, den 


236 Deutſche Rundſchau. 


empfangenen Mythos zu ändern, macht Goethe zugleich Gebrauch. Das jchidjals- 
mäßige Eingreifen der Aphrodite empfand er al3 ein unfer Heutiges Publicum 
im Theater nicht mehr padended. Das Wirken der Göttin, die Helena durd 
Ueberredung einſchüchtert, übertwältigt und bethört, fo daß ihre Flucht mit Paris 
etwas Schickſalsmäßiges empfängt, da den höheren Mächten und nicht Helena 
zur Laft fällt, erſchien Goethe zu mechaniſch: er läßt Helena’3 Verführung weder 
vom Willen der Göttin noch von dem Werben des Paris ihren Urfprung nehmen, 
fondern wendet die Dinge fo, daß Paris als ſchöner Jüngling von der erfahrenen 
Frau verführt wird. In dem magiſchen Schaufpiel, da3 Fauſt dem Kaiſer und 
dem Hofe mit Hülfe echter Gejpenfter zum Beften gibt, wird Paris ſchlummernd 
von Helena gefüßt wie Endymion von Diana. Und fo tritt auch neben Fauſt 
jpäter Helena mit der göttlichen Unbefangenheit einer Frau auf, welcher Schön 
heit und höchfter Rang erlauben, wie den Göttinnen felber, wenn fie, an Sterb— 
lichen Wohlgefallen findend, ſich zu ihnen Herabzulaffen. Denen Niemand bie 
immer neu beginnenden Abenteuer nachrechnet, jo daß bei dem Späteren de 
Früheren auch nur gedacht twerden dürfte. 

Helena gehört zu den unfterblichen Geftalten im Reiche der Dichtkunft. 
Mer weiß, welcher Dichter nah Taufenden von Jahren fie abermals neu be 
leben wird. 


Bofeph in Negypten. 


Bon 
Heinrih Brugſch. 


—ñ iN 


Wie eine koſtbare Perle leuchtet uns die Geſchichte vom Joſeph in Aegypten 
aus dem offenen Schatzkäſtlein der bibliſchen Ueberlieferungen des Alten Teſta— 
mentes entgegen. Sie iſt und wird für alle Zeiten ein unübertroffenes Muſter 
der morgenländiſchen Erzählungskunſt bleiben und durch Inhalt und Form ihre 
Wirkung auf die Seele des Hörers und Leſers niemals verleugnen. Selbſt ein 
Voltaire fühlte ſich von der Macht ihres Eindruckes zur Bewunderung hin— 
geriſſen und der Stifter des Islam, der Prophet Mohammed, bezeichnete ſie 
geradezu als die herrlichſte aller Geſchichten. Den geſammten Völkern des 
Morgenlandes erſcheint noch heute Joſeph als das unerreichte Vorbild eines ebenſo 
ſchönen als tugendhaften Jünglings, der nach dem Willen Gottes dazu auser— 
leſen war, die Mit- und Nachwelt durch den Liebreiz ſeiner äußeren Erſcheinung, 
durch die Anmuth ſeines Weſens und durch die Weisheit feiner Gedanken im 
vollften Sinne des Wortes zu bezaubern. 

Nicht nur die Dichter des ſpäteren mohammedaniſchen Morgenlandes haben 
in ihren Liedern den ſchönen Jüngling Joſeph mit Vorliebe zum Vorwurf gewählt 
und den goldenen Faden der uralten Erzählung, wenn auch nach der Darſtellung 
im Koran, in ihren Geſängen weiter geſponnen; auch die malende Kunſt bemäch— 
tigte ſich desſelben Stoffes, um mit Hülfe der Farbe und des Pinſels das Urbild 
idealer Liebe ihrem Volke vor Augen zu führen. Als ich im Jahre 1860 in der 
Stadt Ispahan das Haus eines der größten und verehrteſten Religionslehrer 
unter den Perſern beſuchte und in gaſtfreundſchaftlichſter Weiſe von dem vor— 
nehmen Jmam aufgenommen ward, fiel mein Blid auf eine3 der jonderbarften 
Gemälde, da3 die Marmorwand feines reich ausgeftatteten Prunfjaales bededte. 
Man ſah in der Mitte des Bildes die ſitzenden Geftalten eines jugendlich ſchönen 
Liebespaares, da3 in lebhafter Unterhaltung begriffen war. ch verrathe von 
vorn herein, daß ber Dialer die Abficht gehegt hatte, in dem links hodenden 
Jüngling Joſeph, in dem mit einer Königskrone geſchmückten Weibe zur Rechten 
die ſchöne Suleika, die Tochter Pharao's und die Gattin Potiphar’s, zur An— 





238 Deutiche Rundſchau. 


ſchauung zu bringen. Eine zahlreiche Geſellſchaft junger rothiwangiger Damen 
umgab die eben geſchilderten Hauptfiguren. ine jede von ihnen jchälte mit 
einem Meſſer einen Apfel, wobei aus den Fingern der linken Hand Blutstropfen 
auf den Erdboden fielen. Auf meine bejcheidene Frage nad der Urſache einer fo 
allgemein durchgeführten Fingerverletzung jah mich der Imam lange Zeit ver- 
wundert an, als jei er über meine Unwifjenheit im höchften Maße erftaunt und 
wolle mir einige Minuten gönnen, um meiner Denkſchwäche ein Ende zu bereiten. 
Bei allem Scharffinn, den ich auf die Löſung des malerifchen Räthſels verwandte, 
gelang mir das Kunſtſtück nach Feiner Richtung hin. „Mit Eurer Erlaubnik, 
diefer da,” unterbrady der Imam endlich mein verlegenes Schweigen, „ift der 
ſchöne Jojeph, über welchem der Friede jei!, jene da, Suleifa, die nicht weniger 
ihöne Tochter Pharao's. Beide befinden fich in geiftreicher Unterhaltung. Die 
verfammelten Hofdamen find von der Schönheit und dem Geifte des Pärchens 
fo entzüct, daß ihre Augen unverwandt nur auf ihnen ruhen. Was Wunder, 
wenn fie beim Apfelichälen es unbeachtet Lafjen, daß die Schärfe des Meſſers 
in das Fleiſch ihrer Finger einfchneidet und Blut fließen läßt.“ Ich war belehrt 
und Hatte einmal mehr die Gelegenheit gewonnen, die unergründliche Tiefe der 
morgenländiichen PBhantafie jogar bei einem Maler zu bewundern. Aber das 
Alles wurde mir jo ernfthaft gejagt, dab ich mich hütete, auch nur ein leiſes 
Lächeln zum Ausdrud zu bringen. Es genüge zu willen, daß Joſeph und jeine 
Geſchichte, jo ſehr fie au im Koran entftellt erfcheint, auf die Morgenlände 
einen Reiz ausgeübt hat, der bis auf den heutigen Tag nicht abgeftorben ift und 
immer neue Blüthen am Baume der dichteriichen und maleriichen Erfindung, 
fogar auf den bunten und ladirten Dedeleinbänden der perfiichen Bücher, treibt. 
Sa felbft die Werke viel jpäterer Namensvetter „Jufuf“ oder Joſeph, welde 
den erjten Epochen der Geſchichte der Völker des Islam angehören, wurden auf 
den biblischen Joſeph zurücgeführt, wofür ich als Beweis nur den jogenannten 
Joſephsbrunnen auf der Gitadelle in Kairo und den Joſephskanal in Mittel: 
ägypten zu nennen babe. i 


Die wundervolle Geihichte, die wir in den legten Kapiteln des erften Buches 
Mofes leſen, fpielt fich der Hauptfadhe nach auf dem Boden Aegyptens ab, genauer 
in der namentlich nicht aufgeführten Refidenz Pharao’3. Die eheliche Verbindung 
Joſeph's mit Aanath, der Tochter Potiphar's, des Mriefters zu On d. h. in 
der nad) ihrer ägyptiſchen Bezeichnung On, von dem Griechen Heliopoli3 genannten 
„Sonnenftadt”, verjeßt den Schauplat der Begebenheiten mit großer Wahrjdein- 
lichkeit nach der ſüdöſtlichſten Seite der unterägyptiichen Landichaft. Der alte 
beliopolitiihe Gau, an deſſen füblichfter Grenze die heutige Chalifenftadt Kairo, 
nicht fern von der alten Sonnenftadt, gelegen ift, ftieß an feiner nördlichflen 
Grenzmart an den von den Griechen in Arabia umgetauften Gau. Als feine 
ägyptiſche Bezeichnung haben die Denktmälerforfhungen den Namen Gojem mit 
aller Deutlichkeit nacdhgewwiefen. Dem letzteren entiprang die in ber Bibel als 
Goſen aufgeführte Landichaft, wofür die griechifche Ueberſetzung der Siebenzig 
auch die richtigere Form in der Geftalt Gejem hat. Die dazu gehörige Haupt- 
ftadt, der Mittelpunkt des Gaues Gofem, führte neben anderen fogenannten 


Joſeph in Aegypten. 239 


heiligen Bezeichnungen den volfsthümlichen Namen Pha:Gofjem, d. h. „zu 
Goſem gehörend”, neben welcher eine verkürzte Ausſprache, Pha-goſe, beftand; 
aus dieſer ift im griechiſchen Munde der wohl befannte geographiiche Eigenname 
Phakuſa hervorgegangen. Damit flimmt e8 volltommen überein, daß die Alten 
Phakuſa al3 den einzigen Hauptort im Gau Arabia kennen und nennen, gerade 
wie die griechifche Bibelüberjegung der Siebenzig in Einklang mit der koptiſchen 
da3 Land Goſen des ebräifchen Uxtertes durch: „das Land Geſem des arabiichen 
Gaues“ wiedergegeben hat. In Folge der jüngften Nachgrabungen des Dr. 
Naville (im Auftrage und auf Koften einer englischen Bibelgeſellſchaft), welche 
den Boden der ehemaligen Landihaft Goſem durchwühlt haben, ift gegen- 
wärtig die Lage von Phakufa durch aufgefundene Denkmäler mit Injchriften auf 
dad Genauefte beftimmt worden. Won Mlauerbefeftigungen umgeben, erhob fid) 
die Stadt, mit einer größeren Tempelanlage in ihrem Innern, in einer frudt- 
baren, von Kanälen durchſchnittenen Ebene, welche fich zwiſchen dem pelufijchen 
Nilarme und der bergreichen Wüſte im Oſten ausbreitet und deren norböftlicher 
Theil unmittelbar in das jchmale Thal des Wadi Tumilat Hineinführt. Die 
Ruinen der alten Stätte find in der Nähe der heute Saft (mit dem Zuſatz 
el-Henneh) genannten Oertlichkeit aufgedeckt worden, wenige Meilen im Often 
der einft hochberühmten Stadt Bubafti3, von deren Bedeutung für die Gejchichte 
Joſeph's weiter unten die Rede fein wird. 

Das Wadi Tumilat, welches der gegenwärtige Süßwaſſercanal von Kairo 
nad Sues in der geraden Richtung don MWeften nad Oſten durchfließt, war 
in den Zeiten de3 pharaonijchen Altertfums eine zum Gau Arabia gehörige 
Landſchaft, aljo das nad Often vorgejchobenfte Stück desjelben, durch welche von 
Morgen ber und jomit von der Wüſte der Landenge von Sues aus, auf der großen 
Karawanenftraße der Weg von Paläftina nad) dem Deltagebiet Aegyptens führte. 
In der Nähe des heutigen Tages mit der Linie des Sueskanals verſchmolzenen 
Krokodilſees (Birket et-⸗timſach), welcher im Alterthum die Spitze, das heißt 
den nördlichſten Buſen des „Schilfſees“ oder des Rothen Meeres 
bildete, befanden ſich Mauern, Feſtungen und Proviantmagazine mit ſtarken 
Umwallungen und Bejagungen, um die offene Grenzmark an diefen Stellen zu 
defen und den unbefugten Einzug und Auszug nad) oder von dem eigentlid) 
ägpptifchern Gebiete unmöglich zu machen. Unmittelbar am Kopfe der Straße, 
welde Hinter den Mauern ganz am Dftende des Wadi Tumilat, und in der 
Nähe des Krokodilſees, und zwar weftlich von demfelben, oder, wie es in ben 
alten Texten heißt: „am Munde de3 Gaues Arabia“, von den Kommenden oder 
Gehenden betreten werden mußte, hatte Ramjes II. der Große, zu feiner Zeit 
eine feftungsartige Stadt mit einem „Vorrathshauſe“ angelegt, welcher er den 
beiligen Namen Pi-tum („Stadt de3 Sonnengotte® Tum“) verliehen hatte, 
während fie im Volksmunde bei den Aegyptern kurzweg die Bezeichnung Ero, 
d. 5. „Vorrathshaus“, führte. Als die erften Griechen nad Aegypten ein- 
wanderten, und die öftlichen Gegenden außerhalb des Deltagebietes durch eigenen 
Beſuch Kennen Yernten, wandelten fie, wie es Herodot gethan, den heiligen Namen 
der Stadt Pitum zu einem Patumos um, während e8 Andere, in den jpäteren 
Zeiten, vorzogen, die volksthümliche Bezeichnung der Stadt Ero beizubehalten 


240 Deutiche Rundſchau. 


Es ift durch Beifpiele erwieſen, daß den Griechen die Sucht eigen war, in fremden 
Wörtern Anklänge an die eigene Sprache herauszufinden. So geihah es auf) 
mit Ero. Die Einen madten ein griechifches Hero daraus und die Anderen 
ichufen eine Polis oder Stadt des Namens Heroon, Heroonpolis. Die Verdrehung 
der Thatfachen ging jo weit, daß man jogar den Namen des ftäbtifchen jolaren 
Gottes Tum von Ero geradezu durch Hero wiedergab und in foldder Weiſe den 
Stadtnamen mit der Bedeutung von Vorrathäftadt auf den Gott felber übertrug. 

Nach den Angaben ber Alten lag die eben bejprochene Heroonpolis an dem 
nördlichften Buſen des Rothen Meeres, der nach ihr die Benennung des Heroon- 
politifchen Golfes empfing. Die aufgededte und ihren alten Namen nach twieder- 
gefundene Stadt Pitum oder Ero am Dftende des Wadi Tumilat, etwa eine 
Meile vom heutigen Orte Ismaelia entfernt, liefert jomit die untrüglichſten 
Beweiſe, daß noh um die Zeit des erften Jahrhundert? unferer era 
nicht der Buſen von Sueß, jondern der Heutige jogenannte Krokodilſee, etwa in 
dev Mitte des Suesfanales, die nördlichfte Bucht des Nothen Meeres darftellte. 

Die alte Karawanenftraße von Often her führte an der Spitze dieſer Bucht 
vorbei, lag aljo in der Nähe des biblifchen Schilfmeerrs. Hatte man damals 
„die Mauern“ an der Grenzmark als Freund oder Feind Hinter fich gelafien, 
jo gelangte man nad einer am Ausgang der Schlucht des Wadi Tumilat 
gelegenen Landichaft Namens Thukot; e8 ift das in der Bibel erwähnte Gebiet 
von Suffoth, in deſſen Mitte fich die befeftigte Vorrathsſtadt Pitum oder Ero- 
Heroonpolis, der eigentliche Schlüfjel zum Eingang nad) Aegypten, erhob. m 
vierzehnten Jahrhundert vor Ramſes IL, dem Adoptivvater Mofes, in em 
Proviantmagazin umgewandelt, blieb fie für Jeden unpaffirbar, dem nicht die 
pharaonifche Genehmigung zum freien Durchzug geftattet worden war. Hatte 
fi ein ſolcher vollzogen, jo mußte die an ber Grenze anſäſſige Behörde jofort 
einen amtlihen Bericht darüber einjenden, deſſen Faſſung folgender Rapport 
mehrerer föniglicher Grenzwächter in einem bi3 auf den heutigen Tag erhaltenen 
Papyrusbrief (im Britiichen Mufeum, Anaftafi VL, ©. 4) kennen lehrte: 

„Wir haben ben Schafu : Bebuinenftämmen aus bem Lande Edom ben Durchzug geftattet 
durch die Feſtung des Königs Menephthes (Pharao des Auszugs), welche zum Lande Suftoth 
gehört, nad den Eeen ber Stadt Pitum zu, welche im Lande Sufloth gelegen ift, damit fie 
Nahrung fänden für fih und ihr Vieh auf dem Grund und Boden Pharao’3, der ba ift eine 
Gutes ſpendende Sonne für alles Volt.“ 

Ausreißer, welche den umgekehrten Weg einfchlugen, um von Aegypten aus 
nad der öftlihen Wüfte zu entfliehen, wurden auf berjelben Straße verfolgt 
und Eonnten ſich al3 gerettet anſehen, ſobald fie jenjeits der Stadt Pitum und 
ber langen Feitungslinie „der Mauern“ diefelbe Wüſte erreicht Hatten. Ein 
gleichfall3 erhaltener Papyrusberiht (Anaftafi V., 19 fl.) meldet 3. B. bie 
Erfolglofigkeit de8 Schreibers, eines Beamten, der Perfonen von zivei geflüchteten 
Dienftleuten habhaft zu werden. Ex fchreibt: 

„3% Hatte mich auf ben Weg gemadjt von dem königlichen Palaft (in der Ramjesftadt) aus 
am neunten Zage bes elften Monats, gegen bie Abendzeit hin, hinter den beiden Dienftleuten ber. 
Ich kam nach ber Burg bes Landes Sutkoth am zehnten Tage des elften Monats, woielbft man 
mir fagte, daß jene fich berathen hätten in Bezug auf die (einzuſchlagende) fübliche Richtung, um 
zu fagen, fie wären am... . Zage bes eljten Monats durchgezogen. Ich machte mich auf dm 


Joſeph in Aegypten. 241 


Weg nad) der Schlüffelfeftung, wofelbft man mir fagte: ein Stallknecht, welcher von der Wüſte 
ber fam, habe mitgetheilt, daß fie bie fyeftungslinie nördlich von Migbol des Königs Menephthes 
durchbrochen hätten... ..... Kommt mein Bericht in eure Hand, fo gebt mir Nachricht 
über Alles, was (weiter) geichehen foll.” 


Die nad) ihren ägyptifchen Formen umjchriebenen Dertlichkeiten Thukot, 
Pitum und Migdol find für die ältere biblifche Geſchichte Hochbedeutungsvoll, 
denn fie rufen diejelben Namen in ihren ebräifchen Formen: Sukkoth, Pithom 
und Migdol in das Gedächtniß zurüd, welche in der Erzählung des Auszugs 
eine wichtige Rolle jpielten. Die Denkmäler lehren, daß Ramſes II. der Erbauer 
der Vorrathsſtädte Pithom und Ramſes war. Beide erjcheinen darum in den 
fteinernen Inſchriften und Papyrusterten der Rameſſidenepoche in fteter Wieder- 
holung und betätigen bi3 in das Einzelne hinein die ehrwürdigen biblijchen Ueber— 
lieferungen. Die oft in den ägyptiſchen Inſchriften erwähnte Ramjezftadt, fo 
genannt nad ihrem königlichen’ Gründer, lag auf dem Gebiete von Gofen und 
war an einem Kanal, der aus dem Nil in der Nähe von Heliopolis abgeleitet 
war und zu Ramfes II. Zeit durch das Wadi Tumilat feine Wafjerlinie 309. 
63 ift der ältefte Vorgänger des heutigen Süßwaſſerkanals, der genau die ehe— 
malige Richtung destelben verfolgt. 

Alle diefe geographiichen Angaben und Vergleihungen, twelche in gedrängter 
Kürze dem Lejer vorgeführt worden find, beruhen weder auf leeren Muth» 
maßungen, noch auf geiftreihen Combinationen. Die unerwarteten Entdedtungen 
in Folge der neuften Ausgrabungen auf dem Gebiete des alten Gofen haben mir 
jo wichtige Unterlagen für die Bibelforfhung, zunächft nad) der geographiichen 
Seite hin geliefert, daß ich unaufgefordert und gern die volle Verantwortlichkeit 
für die Sicherheit meiner Angaben übernehme. 


II. 

As Joſeph in Aegypten weilte, war feine Spur weder von Pithom noch 
von Ramjes vorhanden, denn beide Städte, wie erwähnt, wurden erft von Ramſes II. 
lange nach Joſeph's Zeit und während der Mojegepoche gegründet. Nur die 
geographifchen Bezeichnungen Goſem und On gehören der Joſephiſchen Zeit— 
geſchichte an. 

Wann lebte und wirkte der Held unſerer Geſchichte in Aegypten, mit andern 
Worten, unter welchem Königshauſe und unter welchem Pharao fanden die in 
der Bibel geſchilderten Ereigniſſe ſtatt? Dieſe Frage zu beantworten, muß die 
erſte Sorge ſein, um uns in den Stand zu ſetzen, alle übrigen Einzelheiten der 
Ueberlieferung einer näheren Prüfung zu unterziehen. 

Um das Jahr 800 lebte in Conſtantinopel ein ebenſo gelehrter Mönch als 
biſſiger Kritiker, der ſpätere Vicepatriarch Georg, gewöhnlich der Syncellus, d. h. 
Zellgenoſſe (des Patriarchen) genannt, welcher ſich der Aufgabe unterzog, die 
bibliſche Chronologie mit ſtrenger Gründlichkeit zu erforſchen. Indem er dabei 
auf feine Vorgänger zurückging, wurde er unbewußt zum Ueberlieferer mancher 
Stellen, die fonft verloren gegangen fein würden, aus den Werfen bedeutender 
heidniſcher und chriftlicher Geſchichtsforſcher auf chronologiſchem Gebiete. Gelegent- 
lid; macht ex einmal die Angabe, daß nad) einer allgemein verbreiteten Anficht 


Joſeph unter feinem einheimischen Pharao, jondern unter dem Könige Apophis 
Teutfche Rundihau. XVI, 8. 16 


242 Deutſche Rundſchau. 


aus einer Hykſos-Dynaſtie, mit anderen Worten in der Zeit der erſten und 
älteften Herrichaft fremder, ausländiicher Fürſten nach Aegypten gefommen und 
von demfelben zu hohen Ehren und Würden erhoben worden jei. 

Nach einer bibliſchen Weberlieferung, deren Werth von der Mehrzahl der 
Ausleger anerkannt wird, waren feit Joſeph's Zeit bi3 zum Auszug der Kinder 
Sirael 400 Jahre verfloffen. Daneben wird nach anderer, vielleicht gemauerer 
Berehnung die Zahl 430 angeführt. Da die wiſſenſchaftliche Denkmälerforſchung 
es feftgeftellt hat, daß Ramſes II. als der Pflegevater Moſes' und ala der Er— 
bauer der Städte Pithom und Ramſes angejehen werden muß, jo ergibt ich die 
Zeitgenoſſenſchaft Beider von jelber, nur mit dem Unterſchied, daß der Water 
einer Tochter, welche das im Schilfgebüfch ausgeſetzte Mojestind findet, ettva um 
dreißig Jahre jünger als das Kind geweſen fein muß. Die Denkmäler melden, 
daß der König al zehnjähriger Knabe den Thron beftieg und bis in jein fieben- 
undjechzigftes Negierungsjahr hinein gelebt hatte. Ramſes II. hatte ſonach ein 
Alter von fiebenundfiebzig Jahren erreicht. Die Unterfuchung feiner im Muſeum 
von Kairo aufbewahrten Mumie duch Herrn Virchow hat ein fo Hohes Alter 
an den äußeren Merkmalen, welche die Leihe an fi trägt, durchaus 
beftätigt. Da Moſes bereit3 fich eines Lebensalter von achtzig Jahren erfreute 
(rechnet man nad Meondjahren, jo würden dieje fiebenundfiebzig Sonnenjahren 
und zehn und einem halben Monat entſprechen), al3 er vor Pharao jtand, um 
ihn aufzufordern, die Kinder Iſrael nach der Wüfte ziehen zu laffen, jo kann 
Ramſes HD. unmöglid) der Pharao des Auszugs geweſen fein, fondern fein Sohn 
Menephthes, wie allgemein angenommen wird, oder bei einer vorausgejehten kur— 
zen Regierung desjelben, der nächſte Thronerbe des Lebteren. Nach den chrono» 
logiſchen Anſätzen der ägyptiſchen Königsgeſchichte, wie fie gegeriwärtig in ber 
Wiſſenſchaft ihre Gültigkeit haben, würden jene 400 Jahre de3 Aufenthaltes der 
Ebräer in Aegypten auf eine Zeit, d. h. die Epoche Joſeph's, zurückführen, in 
welcher thatjächlicy eine fremde Dynaftie mindeftens die ganze öftlihe Hälfte 
Unterägyptens befeßt hielt. Joſeph's Lebenszeit fiel zwijchen die Jahre 1800 und 
1700 vor Ehr., aus welcher wirklih Denkmäler mit dem Namen de3 vom Syn- 
cell erwähnten Königs Apophis vorhanden find. 

Die Fremden, unter welchen die bibliſchen Chronologen und Gejchichtsforfcher 
aus den erften Jahrhunderten, vom jüdiichen Schriftjteller Joſephus an, bald 
Araber, bald Phönizier, ſogar die Ebräer felber verftehen, wurden auf den ägyp- 
tiichen Denkmälern einfady als „Ausländer“ bezeichnet, jo daß ſich über ihre Her: 
kunft nichts jagen läßt. Auch ihre bei den Schriftftellern erhaltene Bezeihnung als 
„Hirten“ ift zu allgemein, um über da3 damit gemeinte Volk eine Aufklärung zu 
bieten. Erft die von Joſephus angeblich aus ägyptiſcher Quelle geſchöpfte Ueber— 
lieferung, daß jene Fremdkönige den Namen Hykjos (daneben Hykuſſos) geführt 
hätten, wofür ex die Ueberfegung „Hirtenkönige“ gibt, „die Einige für Araber 
hielten“, enthält allerdings einen näheren Hinweis auf die Herkunft de in Rede 
ftehenden Volkes, da im Altägyptiichen die anklingenden Worte Hik⸗Schaſu 
oder ⸗Schos fo viel befagen als „König der Araber“ oder eines jonftigen im 
Often von der ägyptiſchen Grenze an bis nad Edom und im Norden über Palä- 
ftina und Syrien Hin zerftreuten Wandervolfes von Beduinen. Auf alle Fälle 


Joſeph in Aegypten. 243 


waren die Fremden vom Often her gelommen, wie e3 eine bei Joſephus im 
Auszug mitgetheilte Stelle aus dem verloren gegangenen, griechiſch gejchriebenen 
Werte des ägyptiſchen Geſchichtsſchreibers Manethos betätigt. Auch die in dem 
oben mitgetheilten Papyrusbriefe erwähnte Einwanderung von Beduinenftämmen 
in der Richtung nad Pithom nimmt auf denfelben Namen Schafu oder Schos 
Bezug und läßt fie dem Lande Edom, Idumaea, aljo von Dften ber in das 
Wadi Fumilat mit königlider Genehmigung einziehen. Er aber waren jene 
Hik oder „Könige“ der. Schaſu? 

Die Dunkelheiten, welche auf der Herkunft ber Hirienkdnige lagen, haben 
angefangen ſich zu lichten, ſeitdem merkwürdige Denkmälerfunde in Unterägypten 
auf dem Gebiete der alten Städte Tanis und Bubaſtis und in der Landſchaft 
de3 ehemaligen Möris-Sees (im heutigen Fajum) Bildfäulen und Androjphynre 
von Hirtenfönigen an da3 Tageslicht gebracht haben. Ihre Geſichtszüge und 
der Knochenbau des Kopfes, welche zulegt noch unſer Meeifter Virchow einer 
gründlichen Prüfung unterzogen hat, Laffen über den turanifchen Urfprung 
der einſtmals Lebenden eine Zweifel mehr auflommen, und e3 ift ein richtiger 
Vergleich, wenn ein Gelehrter fie gleichſam mit einem Tederftrich ala die Tür- 
fen der Vorzeit gekennzeichnet hat. Der Name Apophis, nad) feiner ägyptijchen 
Umſchreibung Apopi, welchen ich vorher nad) alter Quelle mit der Gejchichte 
Joſeph's in Aegypten in Zuſammenhang gebracht habe, bededt die Mehrzahl der 
gefundenen Bildjäulen und betätigt, was ein ägyptiſcher Papyrus von der Eri» 
ſtenz dieſes fremden Herrſchers im unteren Aegypten gemeldet hat. Er hatte unter 
Anderem ſich die an dem Unterlauf des pelufifchen Nilarmes gelegene alte Stadt 
Haware (Auaris, Avaris der Schriftfteller) zu feiner Nefidenz ausgewählt, die 
ägyptiiche Sprache und Schrift und die ägyptiiche Kultur bis zur Hofhaltung 
hin angenommen, aber von den Äägyptifchen Gottheiten nur einer einzigen feine aus- 
ihliegliche Verehrung zugemwendet, dem Gotte Sutech oder Seth, welchem er ein 
bejonderes Hauptheiligthum aus Stein in feiner neuen Refidenz Haware weihte. 

Aber auch in Bubaftis, der jpäteren Kabenftadt, ließ derjelbe König dem» 
jelben Gotte eine Stätte der Verehrung gründen. Die Ruine diefer großen und 
vornehmen Stadt, mit deren Beichreibung der alte Herodot ſich ausführlicher als 
jonft nad) feiner Gewohnheit beichäftigt hat, führen noch heute den Namen des 
Tell el-Baft oder des „Hügel3 von Bubaftis”. In der Nähe des modernen Ortes 
Zagazig, den Reijenden ald Hauptftation an dem eifernen Schienenmwege zwiſchen 
Kairo und Sues befannt, haben vor faum zwei Jahren die wiederum von Dr. 
Naville geleiteten Ausgrabungen die Refte eines großartigen Tempelbaues aufges 
det, die in der vierten Dynaftie unter dem König Cheops, dem Erbauer der 
höchſten und jchönften Pyramide in Aegypten, angelegt, fi im Laufe der Zeit 
bis zu den PBtolemäern von Weften nah Dften hin anfehnlich erweiterte. Nach 
dem Tempel zu urtheilen, gehörte Bubaftis zu den umfangreichften und hiftoriich 
wichtigften Pläßen des Landes. Seine Geihichte ift gleihjam aus den Inſchriften 
auf den Steinwänden abzulefen. E3 Hat nicht geringes Erftaunen erregt, daß 
bor dem Thüreingange eines mächtigen Tempelſaales die aus ſchwarzem Granit 
gemeißelten Statuen von zwei Hykſoskönigen entdeckt wurden, mit allen oben er— 
wähnten Merkmalen des turaniichen Typus. Die eine davon (vor Kurzem nad) 

16* 


244 Deutſche Rundſchau. 


dem Britiſchen Muſeum in London übergeführt) trägt den Namen des Königs 
Apopi, die andere den des uns bisher völlig unbekannten Fürſten Re-ian oder 
Jan-re, beide dem Culte des Gottes Seth ergeben, deſſen Bilder und Namen 
unter den Ruinen des Tempeljaales aufgefunden worden find. Dr. Naville wurde 
untoilltürlih; bei dem einen an Apophis, nad chriftlicher Neberlieferung der 
Pharao Joſeph's, bei dem anderen Re-ian an den König Rian erinnert, ber 
nach arabijcher Tradition den Jüngling Joſeph zu feinem Wezir erhoben hatte. 
Eines muß daher als wahrjcheinlich gelten können, daß nämlich Bubaftis, weſtlich 
an die Landſchaft Gofen ftoßend, eine der Refidenzftädte der beiden Könige tura- 
nifcher Herkunft geweſen fein muß. Es find keilinſchriftliche Texte aufgefunden 
worden, aus denen hervorgeht, daß kurz vor der Joſephiſchen Zeit Turanier von 
Nordoften her die Euphratftaaten überfielen, Babylonien ausplünderten und ihren 
Weg nad) Aegypten richteten. Von jeher ftand Aegypten in dem verdienten Rufe eines 
reihen und durch feine Kulturhöhe ausgezeichneten Landes, und es ift erklärlich, 
daß vor Allem die Schaſu-Beduinen es waren, welche fich den fremden Er— 
oberern anſchloſſen und gemeinfam mit den Zuraniern die Oftmarf des ägyp- 
tiſchen Niederlandes überſchritten. Mit welchem Erfolge jene Horden „unrühm- 
lichen Gejchlechtes“, wie es in einer bei Joſephus erhaltenen Stelle des mane- 
thonifchen Geſchichtswerkes von ihnen heißt, fich des Landes bemädhtigten, davon 
haben ſelbſt die ägyptifchen Inſchriften jpäterer Zeiten die traurige Kunde er: 
halten. Salati3, Bnon, Apachnas, Apophi3, Jannas und Aſſis hießen nad) derjelben 
Quelle die erften ſechs Fürften, welche al3 Ausländer über Interägypten bis nad 
Memphis Hin 260 Jahre lang Herrjchten und im Laufe der Zeit Sitten, Sprade 
und Schrift der eingeborenen Aegypter annahmen, wie e8 in fpäteren Zeiten bie 
Fremdfürſten äthiopifchen Urſprungs in gleicher Weiſe gethan haben. Dafür 
liefern die gefundenen Denkmäler ihrer Epoche die beredteften Zeugnifje, wenn es 
auch die in ihren Dienften ftehenden Künftler es ſich nicht nehmen ließen, mit 
möglichfter Treue die turaniſchen Gefihtszüge auf den königlichen Statuen zum 
Ausdruck zu bringen. 

Auf Grund der altägyptiichen Denktmälerftudien ift e8 gelungen, in der Ge 
ſchichte Joſeph's, wie fie die biblifche Meberlieferung in ihren Einzelheiten erzählt, 
auf Schritt und Tritt echt ägyptiſchen Anſchauungen und Gewohnheiten bis zum 
Hofleben Hin zu begegnen, fol daß an die Glaubwürdigkeit der Ueberlieferung 
auch nach diefer Seite hin nicht der mindefte Zweifel gejtattet ift. Selbft wenn 
gemeldet wird, daß die Brüder Joſeph's die Getreidegeichente desjelben in Säden 
auf ihre Ejel geladen hätten, um fie von Aegypten nad) Paläftina zu überführen 
und jpäter, daß Joſeph feinem Water zwanzig mit Gut und Lebenszehrung be 
ladene Ejel für die Reife nach Aegypten entgegengefandt habe, jo find dieſe 
Stellen eine Beftätigung für die auch durch die Inschriften erfichtliche Thatſache, 
daß in den Zeiten der älteren Gejchichte der Ejel die Stelle des damals, wenigſtens 
in Yegypten, unbekannten und auch auf den Dentmälern niemals abgebildeten, 
Kameeles als Laftthier in der Wüfte vertrat. Noch in dev Epoche des dreizehnten Jahr 
hundert3 dor Chr. wurden die Kupfererze der Sinaihalbinjel auf Eſelsrücken den 
weiten Weg nad) Aegypten gejchleppt und für den Waarenverkehr auf der Wüften- 
jtraße zwiihen der Stadt Koptos am Nile und den Hafenpläfen am Rothen 


Joſeph in Aegypten. 245 


Meere diente nur das Grauthier als gewöhnliche Transportmittel. In einem 
Papprusbriefe aus dem dreizehnten Jahrhundert, welcher ſich eingehend mit der 
Beichreibung der Leiden eines ägyptifchen Lieutenants bejchäftigt, wird es bejon- 
ders hervorgehoben, daß ein Ejel den zum Feldzuge untauglich gewordenen Führer 
von Paläftina aus nach der Heimath zurücdtrage. 

Und dennoch führt eine genauere Prüfung der Joſephgeſchichte, wie fie ung 
heute in ihrem vollftändigen Zufammenhange vorliegt, jehr bald auf die Wahr- 
nehmung, daß der mit den ägyptifchen Dingen und Berhältniffen vertraute Ver: 
faffer mehrere Jahrhunderte nach den geichehenen Ereigniffen ſelber gelebt 
haben müfje, weil jeine Angaben in einzelnen Fällen nur für eine fpätere Epoche 
des mächtigen Kulturftaates am Nile zutreffend erjcheinen. In erfter Reihe find 
e3 die von ihm überlieferten ägyptiichen Namen und Worte, welche nad) diejer 
Richtung hin zum Verräter werden. Die mit wiffenfchaftlicher Unbefangenheit 
ausgeübte bibliſche Tertkritif hat in der That die Beweiſe geliefert, daß Moſes 
unmöglich der Verfaffer der unter feinem Namen laufenden fünf Bücher oder 
des jogenannten Pentateuchs gewejen fein kann. Ebenſo wenig möchte auf Grund 
eingehendfter Unterfuchungen die Behauptung aufrecht erhalten werden, daß die 
und vorliegende Redaktion der fünf Bücher Moſes gleihjam wie au8 einem 
Guß aus einer einzigen Hand hervorgegangen ift. Bleiben wir bei der Geneſis ftehen, 
deren Schluß die Geſchichte Jojeph’3 bildet, jo offenbart ſich auch darin zunächſt 
je nad) dem Gebrauch der Gottesname Elohim und Jehovah eine Scheidung in 
zwei Hauptquellen, welche dem lebten Bearbeiter jeiner Zeit zu Gebote ftanden. 
Diefer fügte der älteren leberlieferung häufig ergänzend hinzu, was einer fpäteren 
Epoche angehörte, ging aljo von Vorausſetzungen aus, die für die Vergangenheit 
durchaus nicht mehr zutrafen, weil fie nicht zutreffen konnten. Wenn beijpiel3- 
weije in der Geſchichte Joſeph's ſchon die Ramſesſtadt erwähnt wird, jo iſt das 
ein geihichtlich-geographiicher Irrthum, da erft beinahe vierhundert Jahre nach 
der Joſephiſchen Zeit der König Ramſes I. diefe Stadt aufführen oder eine 
ältere erweitern und nad) feinem Namen benennen ließ. 

Auch die ägyptiſche Denkmälerwelt Liefert, wie gejagt, werthvolle Beiträge 
zu der biblifchen Tertkritit und gibt Winke, die dem Bibelforjcher ala bedeutfame 
Ayingerzeige dienen müſſen. Hierzu gehören hauptjächlich zwei ägyptiſche Eigen— 
namen, deren Urfprung in eine verhältnigmäßig jpäte Zeit, mehrere Jahrhunderte 
nad Mojes, fällt, während fie nach den Angaben der Bibel auf Joſeph und 
feinen ägyptifchen Schwiegervater bezogen werden. Der Lettere, ein Hoherpriefter 
in der Sonnenftaat On: Heliopoli3, ſoll ſich Potiphera genannt haben, wofür die 
Siebenzig die griechiſche Umſchreibung Petephres einfegten. Der Name ift 
unbedingt ägyptiih. In der Sprache der alten Bewohner des Nilthales bedeutete 
Pu⸗-ti-phra jo viel als „das Geſchenk der Sonne“ (Ra, Re, oder mit 
dem Artikel Phra, Phre), paßt aljo vollkommen auf einen Hohenpriefter des 
Sonnengottes, allein jeine formale Bildung weift auf eine junge Epoche der ägyp- 
tiſchen Geſchichte hin. Eigennamen ägyptifcher Perfonen mit dem vorgejegten 
Worte Pu⸗-ti, Beste, „das Geſchenk“ und einem folgenden Gottesnamen da» 
hinter erjcheinen erft von der Zeit de3 neunten Jahrhunderts an und find in den 
früheren Perioden der altägyptiichen Gejchichte vollkommen unbekannt. Der Iehte 


246 Deutſche Rundſchau. 


Redakteur der Geſchichte Joſeph's, der im Uebrigen ſich bis zur Kenntniß der 
Sprache Hin als äußerſt wohl bewandert in ägyptiſchen Dingen erweiſt, wählte 
ſich für den Schwiegervater ſeines Helden einen Namen aus, der ſeiner Zeit an— 
gehörte und auf den Sonnenprieſter von On bezogen wurde. 

Zu demſelben Ergebniß führt eine nähere Prüfung des ſeltſamen Namens 
Sophnath Paneach, welden Pharao feinem zu Ehren und Würden befür- 
derten Wezir Joſeph beigelegt haben joll. Luther hat das Wort durch „heimlicer 
Rath“ überfett, während die jüdiſchen Ausleger darin einen „Offenbarer von 
Verborgenem” erfennen. Unabhängig von einander haben zwei ägyptologiſch ge 
bildete Gelehrte, die Herren Dr. Krall in Wien und Dr. Steindorff in Berlin, 
faft gleichzeitig den echt ägyptiſchen Urſprung diefes Eigennamens nachgewieſen. 
Aber erft vom neunten Jahrhundert an, und bejonders häufig im fiebenten, lieb: 
ten e3 die damals lebenden Aegypter, fih einen Namen beizulegen, deſſen Anfangs 
worte ja oder je „es ſprach“ der Eigenname einer Gottheit folgte, während da 
Wort efondh „er Lebe“ den Schluß der Zufammenjegung darftellte. Namen 
wie Sa-⸗Chons-ef-onch heißen daher „Es ſprach der Gott Ehonä: er 
lebe, nämlich der Namensträger, und nad) derjelben Bildungsweife Sa=-pnute: 
efrond: „Es ſprach der Gott: er lebe.” Wenn Joſeph ein jo echt ägyptiſch 
durchſichtiger Name auf pharaoniſchem Befehl beigelegt wurde, jo konnte in „den 
Gotte” wie in Taufenden ähnlicher Beifpiele nur der König jelber gemeint fein. 

Der Vers 41, 45 der Genefis gehörte allein Schon nad) diefem Namen zu 
urtheilen dem jüngjten Redakteur an und hat mit der älteften Redaktion der 
Geſchichte Joſeph's nicht? zu Schaffen. Im Uebrigen zeigen die jonft vorkommenden 
Titel, welche dem jungen Ebräer verliehen wurden, twiederum eine genau 
Kenntniß des Schreibenden nit nur in Bezug auf die altägyptiiche Spradk, 
fondern auch in Betreff der Rangverhältniffe am pharaonifchen Hofe. Joſeph 
wird von den Midianitern an Potiphar, einen „Kämmerer“, verkauft. Derfelk 
Ausdrud Saris, welchen der bibliſche Tert zur Bezeihnung diefer Würde, mit 
der Grundbedeutung von Verſchnittener, gebraucht, findet fih in mehreren äay 
tiſchen Anfchriften aus der Perſerzeit wieder, welche von zwei perfiichen Gou— 
berneuren der oberägyptiihen Stadt Koptos reden und worin jeder Einzelne als 
„Kämmerer aus Perfien“ mit Antvendung des Wortes Sari bezeichnet wird. 
Da mir andere Beifpiele nicht befannt find, jo dürfte man möglicher Weiſt 
nur von einem in bie ägyptiiche Sprache eingeführten Lehnwort reden. 

Anders verhält es fih um den ägyptifchen Titel, welchen Luther burd 
„Vater (Ab) dem Pharao” übertragen hat. Daß es fi nicht um das ım 
Ehräifchen Ab lautende Wort für den Water, fondern um einen ägyptilden 
Ausdruck derjelben Geftalt handelt, dafür treten die erhaltenen Denkmäler mit 
zahlreichen Zeugniffen ein. Mit dem ägyptifchen Worte Ab, deſſen Grundbedew 
tung dem Sinne von ftempeln, mit einem Siegel verichliegen entjpricht, bejeich 
nete man von den erſten Zeiten des Neuen Reiches, aljo etiva vom Jahre 170 
vor Chr. an, eine bejondere Klaſſe von Dienern im Haufe und von höheren 
Beamten am pharaonischen Hofe, denen das Geſchäft oblag, Küche und Kelle 
unter Siegel zu halten, mit anderen Worten durch ftrenge Ueberwachung von 
Speife und Trank den Gebieter vor Vergiftung und Verunreinigung durch un 





SHofeph in Aegypten. 247 


faubere Gerichte und Getränke zu ſchützen. Sie entſprachen in diefer Rolle den 
heutigen Abdar am perſiſchen Hofe, biß zu ihrer fremden, alſo nicht perfichen 
Abftammung Hin; denn es find Abkömmlinge des türkiſch-mongoliſchen Kadſcha— 
ren: Stamme3, dem die perfiihe Majeftät des Schahynſchah jelber angehört. 
Troß ihres beicheidenen Namens Abdar, der auf ein Waſſerſchenken hinweiſt, 
befleiden dieſe Hofbedienfteten hohe Aemter und Würden und genießen das 
vollfte Vertrauen ihres Gebieterd. In gleicher Weife verhielt es fi mit den 
Ab am Hofe Pharao’3, die wie Adolf Erman in feinem Werte „Aegypten“ 
(S. 156) es nachgewieſen hat, jelbft aus Kriegsgefangenen und Sklaven 
afiatiiher und Libyjcher Abkunft ausgewählt wurden, ihre heimifchen Namen 
beibehielten und mit den Mameluken der ägyptijchen Sultane pafjend verglichen 
werden Eönnen. Das wirft ein helles Schlagliht auf Joſeph, der gerade ala 
Fremder dem Pharao turanijchen Blutes näher ftand als jeder Aegypter am Hofe. 

Die Würde eines Ab ift nad) dem Gejagten durchaus mit dem vereinbar, 
was Sofeph felber feinen Brüdern über feine Stellung am Hofe ferner mit- 
teilt, daß ihn Pharao, wie Luther überjegt, zum Heren über all jein Haus 
und zum Fürſten in ganz Aegyptenland geſetzet habe. Der ebräiiche Text gibt 
an Stelle der Mebertragung „Fürſt“ da3 Wort Adon, dem im Aegyptiſchen 
ein durchaus gleichlautendes Wort Adon mit der allgemeinen Bedeutung von 
Stellvertreter in irgend einem höheren Amte entſpricht. Ein altägyptifcher 
General 3. B. beſaß ſeinen Adon oder Stellvertreter oder Nice» General, ein 
Nomarch oder Gaugraf in gleicher Weile jeinen Stellvertreter, wie ſchließlich der 
König jeinen Vertreter unter dem echt ägyptiichen Zitel eines „Adon des 
ganzen Landes“, der in den Dentmälerinjchriften genannt wird und Wort 
für Wort der höchften Würde Joſeph's nad) den bibliichen Tertworten gegen- 
überfteht. Bevor der jpätere König Horus, etwa ein Jahrhundert vor der Zeit 
Ramfes’ IL, auf den Thron erhoben wurde, bekleidete er das Amt eines Adon 
de3 ganzen Landes, das ihn zur nächſten Stufe eines Kronprinzen von Aegypten 
vorbereitete (fiehe meine Geſchichte Aegyptens Seite 440 fl.). Der biblifche Er— 
zähler zeigt fich auch hierüber auf das Genauefte in ägyptijchen Dingen unter- 
tihtet, jo daß man feine Angaben gleihjam wie von den Denkmälern herüber- 
genommen anzujehen verjucht wird. 

Selbft der vielfach beiprochene Gruß, welcher nad) des Königs Befehl dem 
Großwezir Joſeph von den Aegyptern entgegengerufen werden jollte, zeugt von 
der gründlichen Kenntniß des ebräijchen Verfaſſers mit der altägyptijchen Höf- 
lichkeitsſprache. Es handelt fih um das Wort Abref, für das Luther, vom 
Ehräifchen ausgehend, die Uebertragung braucht: „Der ift des Landes Vater“; 
Andere: „daß man die Kniee vor ihm beugen follte“, und welches wieder An— 
dere, auf die ägyptiiche Sprache zurückkommend, durch „wirf dich nieder!“ oder 
„beuge das Haupt” oder „freue dich!” oder „Haupt der Wiſſenden“ wiederge— 
geben haben. Alles das ift unbewieien geblieben, da die angeführte Grußformel 
in der Denkmälerſprache bisher feinen ftüßenden Beweis gefunden hat. Erſt 
dem englifchen Gelehrten Le Page NRenouf, dem gegenwärtigen Director der 
orientaliihen Sammlungen des Britifchen Mufeums in London, ift es vor 
Kurzem gelungen, in einem Papyrus der ägyptiſchen Abtheilung die wirkliche 


248 Deutſche Rundſchau. 


Grußformel nach ihrer echten altägyptiſchen Faſſung wieder zu entdecken. 
Sie lautete vollftändig: ab-re-k ſuza haak „erwünſcht bleibe dein Wort und 
gefund dein Leib“. Mit der Formel ab-re-f, die wie ein getreuer Abbrud 
des unerflärt gebliebenen Abrek in der Bibel uns entgegentritt, wollte man io 
viel jagen al3 „dein Wort oder dein Ausspruch ift für uns ein WVergnügen“, 
mit anderen Worten: „Wir find zu deinen Dienften bereit“, und damit find wie 
mit einem Schlage alle Schwierigkeiten gelöft und die biäherigen Vermuthungen 
in den Hintergrund gejchoben. | 

Aber auch fonftige Anſchauungen echt ägyptiichen Inhaltes find den Gr 
zählern der Gejchichte Joſeph's nicht fremd geweſen, und man wird es Taum als 
einen Zufall betrachten dürfen, daß die überlieferten einhundertundzgehn Lebens: 
jahre ihres Helden in vielen jungen und alten Stein und Papyrusinichriften 
al3 die Lebenszeit durch Gottes Gnade eine gerehten und Gott wohlge— 
fälligen Mannes aufgeführt werden. In einer der älteften Handichriften 
der Welt, dem jogenannten Papyrus-Priffe auf der Nationalbibliothek in Paris, 
werden dem angeblicden Verfaſſer, einem Prinzen aus der Zeit der fünften Dy 
naftie, die an feinen Sohn gerichteten Worte in den Mund gelegt: „Siehe! ein 
guter Sohn ift ein Geſchenk Gottes. Er thut mehr, al3 ihm von feinem Herm 
vorgejchrieben ward. Er handelt gerecht, indem fein Herz ihn zum Worwärts- 
ftreben drängt, gleich wie ich es als mein Ziel betrachtet hatte. Dein Leib wird 
wohl bleiben und der König wird gnädig fein bei Allem, was gejchieht. Dir 
werden die nicht wenigen Lebensjahre zu Theil werden, die ich auf Erden voll- 
endet habe; (denn) mir find einhundertundzehn Jahre in einem jchönen Leben be 
ſchieden geweſen.“ Der Wunſch, dasjelbe Lebensalter zu erreichen, zieht fich wie 
ein rother Faden durch alle Inſchriften und Texte der fpäteren Zeit hindurch, 
welche das Dafein eine frommen und gerechten Aegypters auf Erden bis zu 
feinem lebten Tage Hin berühren, ohne daß e3 der Wiſſenſchaft gelungen wäre, 
für die angegebene, nicht3 weniger als cyElifche Zahl 110 eine genügende Erklärung 
zu entdeden. 


II. 

In der Geihichte Joſeph's ſpielt die Epifode mit der jchönen Frau Poti— 
phar eine bedeutfame Rolle. Sie legt den Grund zu dem fpäteren Glüd des 
keuſchen Jünglings und bildet die eigentlihe Einleitung zu der Entwidlung 
feines jpäteren Schickſals bi3 zu feiner Erhebung am Hofe des Königs oder, um 
mid ägyptiſch auszudrüden, des Phar-ao d.h. „de3 Hohen Haujes“. 
Sin einem Märchen aus dem Neuen Reiche, welches in der Moſeszeit von den 
Aegyptern gern gelefen wurde, kehrt eine ganz ähnliche Geſchichte wie ein Vor— 
jpiel zu dem Hauptgegenftande der ganzen Erzählung wieder. Es handelt 
fi darin um zwei Brüder, Landleute, von denen der ältere und beweibte Na- 
men? Anepu den jüngeren Bata wie ein Vater feinen Sohn behanbelte. 
Die jpätere Erhebung Bata’3 zum Kronprinzen und fünftigen Regenten 
Aegyptens war eine Folge unkeuſcher Anträge der lockeren Schwägerin ihm 
gegenüber. Der no erhaltene Papyrıs mit dem Märchen von den beiden 
Brüdern erzählt den Hergang in folgender Weiſe: 


Hofeph in Aegypten. 249 


Die beiden Söhne von einem Vater und von einer Mutter lagen eines 


ihönen Tages der Tyeldarbeit wie gewöhnlich ob. 

Da gab ber große Bruber feinem Kleinen Bruber einen Auftrag, indem er alfo redete: „Begieb 
Dich von hinnen und bringe uns Ausfaat don dem Dorfe.“ Sein Heiner Bruber fjuchte bad 
Weib feines großen Brubers auf, und er fand fie fihend und bamit beichäftigt fih ihr Haar zu 
flechten. Und er ſprach zu ihr: „Stehe auf und gib mir Ausfaat, damit ich zurückkehre nad) bem 
Felde, denn mein großer Bruber hat mir geboten: Eile fchleunigft zu mir und verweile nicht!” 
Und das Weib redete zu ihm: „Gehe bin und thue ben Getreibefaften auf, damit Du Dir heraus: 
nimmft, was Deinem Herzen gefällt, bamit fich meine Flechten auf dem Gange nicht auflöfen.“ 

Da ging ber Jüngling in feine Kammer, um fich ein großes Maß zu holen, denn es lag 
in feiner Abficht recht viel Ausjaat zu tragen. Nachdem er ſich alſo mit Gerfle und Dinkel: 
weizen belaftet hatte, zog er von bannen mit feiner Fracht. Und fie ſprach zu ihm, indem fie 
ihm in den Weg trat: „Wie groß ift die Laſt?“ Er antwortete ihr: „Drei Scheffel Dinkelweizen 
und zwei Echeffel Gerfte, zufammen fünf Scheffel, die auf meinen Armen ruhen.” Alfo redete 
er zu ihre. Und fie (entbrannte in Liebe zu ihm) und ſprach aljo: „Es ift eine (große) Stärke in 
Dir und täglih hat man Deine Kraft geichaut,” wobei fie ihn erfahte und zu ihm ſprach: 
‚Komm, feiern wir eine Stunde bes Sclafes! Das Schönfte follft Du haben, und ich werde 
Dir Feierkleider ſchenlen.“ 

Und der Jüngling warb zornig wie der Panther aus dem Süden ob dieſes böſen Antrages, 
welchen fie zu ihm ausgeſprochen hatte, und fie fürchtete fi gar jehr, gar jehr. Und er redete 
fie an mit ben Worten: „Schaue doch! Du, o Weib, bift mir wie eine Mutter und Dein 
Mann ift mir wie ein Vater geweien, weil er älter ift als ich e3 bin und mich auferzogen bat. 
Das für eine grohe Sünde ift 8, jo Du zu mir geiprochen haft! Wiederhole mir bie Rede nicht ! 
Dann foll zu feinem Menjchen ein Wort darüber aus meinem Munde hervorgehen.“ 

Indem er feine Laſt emporhob, begab er fich nad; dem Felde und kam zu feinem großen 
Bruder, und fie hatten vollauf mit ihrer Arbeit zu thun. Nachdem inzwiichen der Abend herein: 
gebrochen war, kehrte jein großer Bruder nah Haufe zurüd und fein fleiner Bruder blieb Hinter 
der Herde, beladen mit allen guten Dingen des Feldes, damit er feine Herde heimgeleite, um fie 
in ihrem Stalle im Dorfe ausruhen zu lafien. 

Und fiehel Das Weib feines großen Bruders fürdhtete fich ob des Antrages, welchen fie zu 
ihm ausgeſprochen hatte und nahm einen Zopf Fett zu fi, und wurbe wie Jemand, ber vom 
Debeljein getroffen worden ift, ala ob fie dadurch ihrem Manne zu verftehen geben wollte, wegen 
Deines Bruders hat mich das getroffen. 

Am Abend kehrte ihr Mann heim nad; feiner täglichen Gewohnheit und trat in jein Haus 
ein, indem er fein Weib auf dem Lager ruhend fand und fterbenäfrant durch Unwohljein, ohne 
daß fie Wafler über feine Hand nady feiner Gewohnheit gegoffen, noch die Lampe vor ihm an: 
gezündet hätte, alfo da das Haus finfter war. Sie aber lag da und fpie. 

Ihr Mann fprad zu ihr: „Wer redete zu Dir!“ Sie antwortete ihm darauf: „Sein 
Einziger redet zu mir außer Dir und Deinem kleinen Bruder. Als er zu mir gelommen war, 
um Dir die Ausfaat zu tragen, ba fand er mich allein figen und fprach zu mir „Somm, feiern 
wir eine Stunde und jchlafen wir! Lege Dein Gewand ab.” Alſo redete er zu mir. Wber ich 
hörte nicht auf ihm (und fpradh): „Siehel Bin ih nicht Deine Mutter und ift Dein großer 
Bruder gegen Dich nicht wie ein Vater?“ Alſo redete ich zu ihm. Aber er (hörte nicht auf meine) 
Worte, jondern ſchlug mid), damit ich Dir feine Anzeige machen folltee Nun, läht Du ihn am 
Zeben, fo werde ich mir den Tod geben.“ 

Es iſt unnöthig auch nur ein Wort zu verlieren, um auf die biblischen 
Anklänge in diefem Theile des ägyptiſchen Märchens hinzuweiſen. Der keuſche 
Jüngling und das ſchuldige Weib treten als vollftändig gleiche Typen in beiden 
Schilderungen auf. 

Die ägyptiſchen Erinnerungen, welche in jo auffallender Weife in der bib- 
liſchen Geſchichte Joſeph's wiederkehren und in dem jüngften Erzähler faft einen 
in Aegypten anfäffig gewefenen Ebräer vermuthen laſſen, treten auch in den 


250 Deutſche Rundſchau. 


Träumen und Traumdeutungen, die mit dem Namen Joſeph's verbunden find, 
in den Vordergrund. Bon den mir bekannten Träumen, welche uns die Dent- 
mäler gelegentlich melden, mögen die folgenden als Beweisſftücke dienen. 

Der beichriebene Riejenftein von vierzehn Fuß Höhe, welcher ſich vor der 
Bruft de3 Sphinrkoloffes von Gizeh befindet, trägt eine Inſchrift mit dem 
Datum des erften Regierungsjahres Könige Thutmofis IV., deſſen Lebenzzeit 
zwei Jahrhunderte vor der Mtofes » Epoche anzufegen ift. Die darauf eingegra- 
bene hieroglyphifche Infchrift beginnt mit den folgenden Worten, welche den 
weitläufigen Titeln und Namen des genannten Pharao folgen: 

Im erften Jahre, am neunzehnten Tage des britten Neberichwenmungsmonates. Eiche! 
Er vergnügte fich mit der Jagd auf dem Gebiete des Gaues von Memphis nach feiner füdlichen 
und nörblichen Richtung Hin, um mit eherner Lanze nach dem Ziele zu ſchießen und bie Löwen 
bes Gazellenthales zu erlegen. Gr fuhr auf einem Magen, deffen Rofje fchneller ala der Wind 
liefen, begleitet von zwei Dienern. Niemand kannte fie. Und fiehe! trat die Stunde der Er: 
holung für feine Diener ein, jo pflegte er ben Lichtgott Harmachu (die Sphinrgeftalt) neben dem 
Gotte Sokar und anderer namentlich aufgeführten Gottheiten durch Opfergaben zu ehren. 

An einem diefer Tage geſchah es, nachdem ber König ala Prinz Thutmofis IV. um bie 
Mittagszeit auf feiner Reife angelommen war und fih im Schatten biefed Gottes (der Ephinr) 
zur Ruhe auögeftredt hatte, daß ihn der Schlummer überfiel. Im Augenblide, als die Sonne 
im Scheitelpunfte ftand, Hatte er im Echlaf einen Traum. Gr fand, daß die Majeftät dieſes 
herrlichen Gottes mit feinem Munde zu ihm ſprach, gleichwie ein Vater zu feinem Sohne rebet, 
und zwar mit folgenden Worten: „Schau mid) an, betradyte mich, mein Sohn Thutmoſis! Ich 
bin Dein Vater Harmadu, die Nacht:, Morgen- und Abendjonne Dir fei das Königthum ver 
lieben und Du ſollſt bie Krone von Ober: und Unterägypten auf dem Throne des Grdgottes 
tragen, das ganze Land, jo lang und breit es ift und fo weit es das Auge des Allherrn mit feinem 
Strahle erleuchtet, gehöre Dir an. Die Reichthümer aus dem Inneren bes Landes und bie 
Zribute aller Vöoller und eine lange Dauer von Jahren jeien Dir zu Theil. Mein Angeficht 
zubt auf Dir und mein Herz gehört Dir an. — Mich verfchüttet der Sand ber Wüfte, wo 
meines Bleibens if. Antworte mir, dab Du die Abficht haft den Wunſch meines Herzens zu 
erfüllen. Daran werde ich erkennen, ob Du mein Sohn und mein Helfer bifl. Zritt heran, lab 
mich Dig umarmen.“ 

Nach diefem (Traum erwachte ber Prinz, er wiederholte das Gehörte) und verftand die Rebe 
dieſes Gottes, indem er fie in feinem Herzen bewahrte. j 

Der Traum follte ſich erfüllen. Prinz Thutmofis ließ die damals ſchon 
(viertundhalb Tauſend Jahre vor unferer Zeit!) verfandete Sphinx freilegen und 
erhielt al3 Belohnung für diefes Werk Krone und Scepter Aegyptens. 

Al im neunten und achten Jahrhundert Fürften äthiopifchen Urfprungs im 
Nilthale Herrfchten, hatte der Traum feine alte Bedeutung nicht verloren. Einer 
diefer Könige Namens Bi-ke-re gelangte in Folge eines nächtlichen Geſichts zu 
dem Entſchluß, Aegypten zu erobern. Auf einem Dentmale aus feinem erften Re— 
gierungsjahre wird der Bericht darüber mit den folgenden Worten eingeleitet: 

Am erften Jahre feiner Ihronbefteigung ala König (von Nethiopien) jah Se. Majeftät ein 
Fraumbild in der Naht: zwei Schlangen, deren eine fih an jeiner rechten unb bie andere an 
feiner linten Seite befand. Nachdem er erwacht war, ſah er fie nicht mehr und er fprad: 
„Warum ift mir dies geworden?“ Man legte es ihm aus, indem man ſprach: „Oberägypten wirb 
Dir gehören und Du wirft Unterägypten in Befih nehmen. Das Doppeldiadem wird Dein Haupt 
ſchmücken, das ganze Land, fo lang und breit es ift, wird Dir verliehen werden u. ſ. mw.“ 

Der Erfolg, wie im Verlauf der einundvierzigzeiligen Inſchrift ausführlich 
es berichtet wird, beftätigte die Wahrheit der Traumauslegung, welche bie 
Traumbdeuter dem König geliefert hatten. 


Joſeph in Aegypten. 251 


Eine Reihe ähnlicher Beifpiele bejtätigt den Werth, welchen die Aegypter, 
und an ihrer Spite Pharao, auf Träume legten und erklärt die bejondere 
Gunft, welche der fönigliche Zeitgenofje Joſeph's feinem ebräifchen Traumbdeuter 
fortan zu Theil werden Tief. Noch gegen den Anfang unferer Zeitrechnung 
wurde den Träumen eine jo hohe Bedeutung zugemefen, daß man fie auf Pa— 
pyrus niederfchrieb, um fich ihrer gelegentlich zu erinnern. So enthält ein in 
ägyptiicher Volksſchrift abgefaßtes Papyrusftüd (jet in Bologna) ein jogar 
numerirtes DVerzeihnig von Träumen, die für jeden Anderen außer dem 
Träumer und Verfaffer, einem gewiſſen Apollonios, auch nicht das mindefte In— 
tereffe Haben Eonnten. 

In den Träumen, welche Joſeph dem Pharao feiner Zeit gedeutet hatte, 
offenbart fich ein ſymboliſcher Gedanke, wie er in gleicher Weife in dem Traume 
Königs Biere zum Ausdrud gelangte. Hier ftellen zwei Schlangen die Herr: 
Ihaft von Ober- und Unterägypten dar, dort find es fieben fette Kühe und 
Aehren neben fieben mageren, welche auf fieben fruchtbare und fieben Jahre der 
Hungerönoth gedeutet werden. Dazu da3 Auffteigen der Kühe aus dem Waſſer, 
und der Zufammenhang mit der Ueberſchwemmung liegt Har vor Augen. Von 
„Jahren de3 Hungers“ ift häufig auf den Dentmälern die Rebe und die mweijen 
Gaufürften, welche in ihren Grabjchriften von fich felber zur Nachwelt ſprechen, 
rechnen e3 ſich ala ein hohes Verdienſt an, in ſolchen jchlimmen Zeiten den 
Hunger der Bedürftigen durch die aufgefammelten Vorräthe geftillt zu haben. 
In einem der Gräber von Beni-Hafjan, aus der Mitte des dritten Jahrtaufends 
vor Ehr., rühmt fi ein damaliger Gaugraf, Namens Ameni, in der folgen- 
den Schilderung al3 Vater feiner Untergebenen: 

Nicht Hatte ich den Sohn eines Armen gepreht, nicht bie Wittwe bedrückt, nicht den Fiſcher 
beläftigt, nicht den Hirten fortgetrieben, noch gab es einen Befiker von fünf Hänben (?), dem id) 
feine Leute zu meinen Arbeiten entrifien hätte. Es gab feinen Elenden in meinem Gebiete und 
feinen Hungrigen zu meiner Zeit, wenn Jahre der Hungeranoth entftanden 
waren. Ich hatte alle Felder meines Gaues mit einem Pfluge beftellt bis zu feiner fübdlichen 
und nörblichen Grenzmart Hin. Ich nährte feine Inſaſſen und verfchaffte die Speife in ihm. 
Kein Hungriger war in ihm. Ich Hatte der Wittwe gleichwie ber Ehefrau gegeben und machte 
feinen Unterjchied zwiichen Groß und Klein bei Allem, was ich gegeben Hatte. Waren volle 
Ueberſchwemmungen eingetreten, jo blieben die Beſitzer von (Gerfte und) Dinkelweizen die Befiker 
bon Allem. Nichts forderte ich auf die Theilftüde des Morgen Landes hin. 

Daß Jahre der Hungerönoth im alten Aegypten auf einander folgen konnten, 
auh dafür bieten die injchriftlichen Ueberlieferungen beredte Zeugniffe. In 
dem Grabe eines gewilien Baba, in der Nähe des Heutigen El-⸗Kab genannten 
Ortes, erzählt der ehemalige Beier der antifen Anlage: 

Id, jammelte Getreide ein ala Freund des Erntegottes und war wachſam zur Zeit der Aus- 
faat. Als uun einmal eine Hungersnoth entftanden war, viele Jahre Hindurd, 
da jpendete ich Getreide an bie Stadt bei jeder Hungersnoth. 

Daß hierin auf ein beftimmtes Ereigniß angejpielt wird, dürfte außer allem 
Zweifel ftehen, und wenn ich früher dabei an die Zeit Joſeph's gedacht hatte, — 
denn bei einer Hungerdnoth Haben ſchon fieben Jahre die Bedeutung von viel, 
— jo führte mich zu diefem nahe liegenden Schluß die Thatſache, daß die Lebens- 
zeit jenes Baba in die Epoche des achtzehnten Jahrhunderts gefallen war, ala 
die Hirtenfönige in Unterägypten ihr Weſen trieben und Joſeph an dem Hofe 


252 Deutſche Rundſchau. 


eines derſelben zu Ehren und Würden erhoben ward, in Folge feiner Voraus— 
ſagung der ſieben fetten und ſieben mageren Jahre. 


IV. 

Und damit bin ich bei dem Hauptſtück meiner Studie über Joſeph in 
Aegypten angelangt, um eines merkwürdigen allerneueften Fundes zu gedenken, 
deſſen Bedeutung meine Leſer fofort erkennen und würdigen werben. Gin mir 
befreundeter amerifaniicher Gelehrter, Herr Chad. E. Wilbour, der, wohl vertraut 
mit den altägyptifhen Schriftarten und Alterthümern, alljährli den Winter 
über in Aegypten zu weilen pflegt und ſich dabei in der glüdlichen Lage be 
findet, die werthvolliten Denkmäler Leicht zu erwerben, gab mir unter dem 
28. Januar d. %. von Luxor, der öftlichen Seite des alten Thebens aus, bie 
briefliche Nachricht, er jei jo eben in den Beſitz eined der jeltfamften Steine ge 
kommen. Die qlatt gejchliffene Vorderfläche der Stele zeige zweiunddreißig Linien 
einer hieroglyphiſchen Inſchrift, in welcher zunächſt die Erwähnung eines biäher 
unbekannten ägyptiichen Pharao nah Namen und Titeln in den Vordergrund 
trete. Der Inhalt des mir theilweije abjchriftlich mitgetheilten Textes betrifft einen 
Chit-het genannten Dann, der in dem vierzehnten Regierungsjahre gedachten 
Königs manche geheimnißvolle Dinge vollzog und zwar, wie e8 wörtlich heißt: 
„wegen de3 jehr großen Unglüd3 in folge der während der Dauer 
von fieben Jahren nit eingetretenen Nilüberfhmwemmung.“ Die 
Morte find Har und deutlich gejchrieben und laſſen feine andere Auslegung zu. 
Die Stelle ift jo einjchneidend für Joſeph und die fieben Hungerjahre, daß eine 
fritiiche Prüfung der eben aufgefundenen Anfchrift geradezu geboten erjcheint. 

Die Fragen nad) der Echtheit und Abfaffungszeit des Tertes treten dabei 
in den Vordergrund. An der Echtheit dürfte der Fachkenner kaum zweifeln, 
um jo mehr dagegen an der Gleichzeitigkeit jeiner Abfaffung mit der Regierung: 
epoche des unbefannten Königs. Gewiſſe Eigenthümlichkeiten in der Schreibweite 
mancher hieroglyphiicher Wortgruppen verjeßen die Redaktion bi etwa in das 
vierte Jahrhundert vor Ehr., vielleicht jogar noch ſpäter. Damit ſtimmt es 
überein, daß in der Bezeichnung der königlichen Titel eine ungebundene db. 5. 
fehlerhafte Freiheit herrſcht, wie fie in den Zeiten der Ptolemäer gelegentlich 
zum Ausdrud kommt. Gin ganz ähnliches Beiſpiel bietet eine Inſchrift dar, 
welche von einer bejeffenen Prinzejfin in einem jonft nirgend bekannten Lande 
Bachten handelt, — freilich könnte man verjucht fein, dabei an Baktrien zu 
denken, — zu deren Heilung der thebanische Mondgott Chonju von Theben bis 
zur Heimath der Königstochter entjendet wird. Der Name de3 zu der Zeit über 
Aegypten herrfchenden Pharao, deſſen Gemahlin al3 die Schwefter der bejefjenen 
Tochter des Königs von Bachten bezeichnet ift, lautet wie der allgemein bekannte 
Familienname Ramſes, aber jeine Titel erfcheinen wie zufammengeftoppelt und ent— 
behren de3 hiſtoriſchen Hintergrundes. Schrift und Sprache, in twelcher der ganze Be— 
richt abgefaßt ift, verweifen auf eine ſehr fpäte Epoche, etwa taufend Jahre nad 
dem großen Ramſes. Die Folgerungen, welche die wiſſenſchaftliche Unterſuchung 
daraus gezogen hat, führen zu der Annahme, daß man alte Sagen benußte, 
um in jüngfter Spradhe den lebenden Zeitgenofjen die Macht des thebanijchen 


Joſeph in Aegypten. 253 


Mondgottes dur eine jcheinbar Hiftorifche wunderbare Thatſache vor Augen zu 
führen. Selbft die chriftliche Legende erfüllt in unſerer aufgeklärten Zeit an 
manchen Orten denjelben Zweck. 

Mir gelangen damit zu dem berehtigten Schluß, daß die auf dem neuen 
Denkmale angeführte Erinnerung an die fieben mageren Jahre aus einer längft 
vergangenen Zeit noch in den Jahrhunderten unmittelbar vor dem Anfang unferer 
Aera unter den Bewohnern des Nilthales Tebendig war und als Legende zu 
frommen Zwecken von den Prieftern verwerthet wurde. Aber die angegebenen 
Regierungsjahre des unbekannten König fcheinen mit einer abſichtlichen Berech— 
nung erfunden zu fein. Mit dem vierzehnten Jahre feiner Herrſchaft Hatten die 
fieben Jahre der fehlenden Nilfluth ihr Ende erreicht, da3 erfte magere Jahr war 
jomit in jeinem achten Jahre eingetreten, Die übrig bleibenden fieben Jahre 
entjprechen den erften jieben Jahren feiner Herrſchaft. Es find die fetten, in 
welchen der Nil feine gewohnte volle Schuldigkeit that, vom erjten Regierungs— 
jahre de3 gemeinten Pharao an. 

Legen wir ben zeitlichen Maßſtab an den König felber an, mit Berüdfich- 
tigung der Epoche Joſeph's, jo würde der gemeinte Fürſt zu der Dynaftie der 
fremden Herrſcher turanifcher Herkunft gehört und etwa um das Jahr 1800 
vor Chr. den Thron des Landes inne gehabt haben. Sein Name wird in der 
Anschrift genannt. Die Echriftzeichen, aus welchen ex zufammengejegt erjcheint, 
fönnen Ah-ſor oder Cha-ſor und bei der Flüffigfeit des ägyptifchen Buch— 
ftabens x au Ah: fol, Cha-fol gelefen und durch „kampfbereit“ übertragen 
werben. Ein folder Name ift in dem ägyptiichen Königsbuche bisher nicht nach— 
gewieſen worden, weder für einheimifche noch für fremde Herricher der Dynaftien- 
reihen. Wie jeder Pharao außer feinem Familien» und officiellen Namen einen 
bejonderen Thronnamen führte, jo fehlt es auch dem in Rede ftehenden an einem 
ſolchen nicht, und hier ergibt die Vergleichung mit befannten Königätiteln die 
überrafchende Lebereinftimmung mit denfelben Thronnamen, weldyen ein ur= 
alter König ded Landes aus den erften Dynaſtien auf einem einzigen übrig 
gebliebenen Dentmale aus jeiner Regierungszeit trägt. Es handelt jih um die 
Thür und die Thürinſchrift aus dem unterften Raume der größten unter den 
Pyramiden von Sakkara, welche Lepfius in den vierziger Jahren an Ort und 
Stelle losbrechen ließ. um ihr einen Pla im Berliner ägyptiihen Mufeum 
(U. Gräberjaal unter Nr. 91) anzuweifen. 

Das konnte unmöglich der Pharao Joſeph's gewejen fein, denn anderthalb 
Jahrtaufende trennen ihn von der Epoche des Lieblingsjohnes Jakob's. Aber 
die änyptifche Sage der Spätzeit bemädtigte fich feines Namens, um auf eine 
Borzeit zurückzugreifen, an welche auch jonft ſich Legendenartige Erzählungen von 
alten Königgnamen anfnüpfen. In den Auszügen aus Manetho’3 verloren ges 
gangenen Werten über die ägyptiſche Geſchichte erjcheinen wie Ueberjchriften zu 
alten Sagen oder wie Randbemerkungen fonderbare Zufäße, die aller Gejchichte 
Hohn fprechen und meift wie Märchen klingen. Der erfte König ded Landes ſoll 
bon einem Nilpferde weggeichnappt, unter feinem dritten Nachfolger eine Hungers— 
noth eingetreten fein, unter dem ſechſten vieles Wunderbare, aber aud) eine große 
Veit ftattgefunden haben, unter dem fiebenten Könige der zweiten Dynaftie das 
Nilwaſſer elf Tage lang mit Honig vermifcht geweſen fein und was dergleichen 


254 Deutſche Rundſchau. 


Sagen mehr ſind. Ich zähle unbedingt die auf dem Stein berichtete Geſchichte 
von ben fieben Jahren der ausbleibenden Nilüberſchwemmung zu dieſem Sagen- 
kreis. Sie hatte einen Hiftorifchen Hintergrund, der fi in der biblifchen Er— 
zählung vom Joſeph abfpiegelt, aber nur in ber lleberlieferung von Mund zu 
Mund erhalten, von den Negyptern der fpäteren Zeiten nad) berühmten Muftern 
auf einen uralten König bezogen wurde, defjen Name bei diejer Gelegenheit ber 
Wiſſenſchaft zum erften Male enthüllt wird. Wie mythiſch feine Perjon fern 
mußte, geht jchon aus dem Umftande hervor, daß jein Titel- oder Thronname 
in der Zeit der XXI. Dynaftie (vom Anfang des zehnten bis zum Anfang des 
neunten Jahrhunderts) auf den Apisftier in feiner Eigenichaft als König der 
heiligen Thiere des Landes übertragen wurde. 

Alles in Allem darf die Behauptung aufgeftellt werden, daß die auf dem 
entdeeten Steine erwähnten fieben mageren Jahre in Folge der ausgebliebenen 
Ueberſchwemmungen auf einer Hiftorifchen Thatſache beruhen, deren Einzelheiten 
bi3 zum Namen de3 Königs hin aus dem Gedächtniß gewiſcht waren, bis fie in 
dem letzten Viertel des Jahrtaufends vor dem Beginn unferer Zeitrechnung von 
ben Prieftern zu einer Sage umgewandelt wurde, in der man den längjt ver- 
gefjenen König jener Epoche von den alten halbmythiſchen Fürften der ägyptiſchen 
Vorzeit herholte. Solche Vorgänge wiederholen fi) in den Papyrus-Hand- 
Ichriften, und es würde deshalb ein arger Verftoß gegen alle geihichtliche Kritik 
fein, die darin erzählten Sagen für baare Münze zu nehmen. Dasjelbe trifft 
bei den Griechen zu, welche von ägyptifchen Hiftorien diefer Art zu erzählen 
wußten. Herodot’3 luſtige Gejhichte vom König Rampfinit und dem Baumeifter 
feines Schathaufes und das durch Strabo überlieferte und an unjer Ajchenbrödel 
erinnernde Märchen von der fchönen Rodopi3 und ihrem verlorenen Schuh 
reichen für fi allein aus, um als beredte Beifpiele der altägyptifchen Sage 
mit erfundenen Hiftorifchen Namen felbft in griechiſchem Munde zu dienen. 

Die Bedeutung, welche der aufgefundene fteinerne Bericht für die Geſchichte 
Joſeph's gewinnt, beruht jomit Tediglih auf der ägyptijchen Beftätigung eines 
wirklichen Ereigniſſes, das mit dem ungewöhnlichen Ausbleiben der Nilüber- 
ſchwemmung während eine Zeitraums von fieben Jahren in Zujammenhang 
ftand und mehr als taufend Jahre nachher in Geftalt einer priefterlichen Sage 
ben Aegyptern der jüngften Gejchichte des Alterthums in erbaulicher Weife aufs 
getiicht wurde. Der Fromme Chi-het, natürlich ein in magiſchen Künften wohl— 
erfahrener Mann, war einft im Stande gewefen, durch feine Gebete und Bes 
ſchwörungen den fieben mageren Jahren ein Ende zu bereiten. Dies Wunder» 
ftüd wollte man in Hiftoriiher Form melden. Dem fteht die einfache und 
natürliche Schilderung der biblijchen Darjtellung wie der Tag der Nacht gegen- 
über. Was beiden Berichten gemeinfam ift, die fieben theuren Jahre, das er— 
Icheint nothgedrungen als eine Begebenheit, die fich einft zugetragen hat und an 
deren Wahrheit nicht zu zweifeln ift. Der Stein von Luror wird daher für alle 
Zeit troß feines ſagenhaften Inhaltes ala das wichtigfte Beweisftüd für die einft 
wirflic eingetretenen ſieben theuren Jahre in der Geſchichte Joſeph's gelten 
müffen und die „Deutſche Rundſchau“ ſich des Vorzugs erfreuen, zum erften 
Male die genauere Kunde darüber in die Welt getragen zu haben. 








Nus dem modernen Dalien'). 





Don 
V. D. Fiſcher. 


— — 


Es gibt wohl kein Land auf dem weiten Erdenrund, über das Jahr aus Jahr 
ein ſo viel geſchrieben wird wie über Italien, und dennoch iſt von dem Italien, 
das mit uns lebt und mit uns arbeitet, wenig, viel zu wenig bekannt. Natur, 
Kunſt, Geſchichte — die Hauptziele für den immer ſtärker anſchwellenden Römer— 
zug der Fremden — bieten auch den hauptſächlichſten Stoff für die literariſchen 
Erzeugnifje, in welchen ein nicht geringer Theil der Reiſenden die Erinnerungen 
an da3 Land, wo die Gitronen blühen, niederzulegen pflegt. Die Zuftände der 
Gegenwart kommen meift nur nebenher und obenhin in Betracht, namentlich 
jeitdem der romantiſche Schimmer verblichen ift, mit welchem „der Bettler an der 
Engelspforten“, da3 malerische Gefindel der Lazzaroni, das Heer ber Mönche und 
ähnliche Staffagefiguren in den Augen de3 nordiſchen Beichauers früher umgeben 
waren. Auch in der wiffenihaftlichen Literatur überwiegen durchaus die äſthe— 
tijchen und die geſchichtlichen Intereſſen; wir befigen Feine deutſchen Arbeiten über 
das Italien unjerer Tage, welche fich in ihrer Bedeutung mit Jacob Burckhardt's 
Gultur der Renaiffance oder mit Gregorovius’ Gejchichte der Stadt Rom im 
Mittelalter annähernd vergleichen ließen. Mit vollem Recht konnte Carl Hille 
brand, jeldft einer der feinften Kenner Italiens, behaupten, kein Volk der Erde, 
die Italiener nicht ausgenommen, fenne Jtalien, feine Geſchichte, feine Kunft und 
feine Natur befjer al3 das deutjche, und gleichzeitig darüber Klagen, daß uns das 
lebendige, gegenwärtige Italien vielfach ein Räthjel bleibe. Bei diejer Klage hat 
es Hillebrand bekanntlich nicht beivenden laſſen; er unternahm den Verſuch, den 
Deutichen einen Einblid in das innere Weſen der italienischen Gegenwart zu ver= 
mitteln, indem er in feiner „Italia“ die politifche Wiedergeburt und den wirth« 
ſchaftlichen Aufſchwung des Landes, das ihm zur zweiten Heimath geworden war, 


) Sigmund Münz, Aus dem modernen Stalin. Studien, Skizzen und Berichte. 
Frankfurt a. M. 1889. — H. Mereu, L’Italie contemporaine. Paris 18388. — W. N. 
Beauclert, Rural Italy. London 1888. — Werner Sombart, Die römiiche Gampagna. 
Eine focialölonomifhe Studie. Leipzig 1838. — Ebmondo be Amicis, Sull’ Oceano. 
Milano 1889. 


256 Deutſche Rundſchau. 


ſeinen deutſchen Landsleuten in muſtergültigen Darſtellungen periodiſch zu dveran— 
ſchaulichen ſtrebte. Aber es gelang ihm nicht; die „Italia“ fand trotz der vor: 
züglichen Redaction des Herausgebers und troß der hervorragenden deutjchen und 
italienifchen Mitarbeiter, die fich ihm zugefellt hatten, keine genügende Theilnahme 
in Deutſchland und mußte nach vier Bänden — ber Iete ift 1877 erjchienen — 
eingeftellt werden. Für die Berichterftattung über die politifchen und wirt): 
ſchaftlichen Berhältniffe des modernen Italiens find wir feitdem, abgejehen von 
gelegentlichen Erwähnungen in periodischen Zeitfchriiten, vorzugsweiſe auf m: 
genügende Erörterungen in der Tagespreſſe angewieſen. Und doch Hat jeit einem 
Menjchenalter Jtalien Ummandlungen erlebt, wie fie in dem an Mechielfällen 
reihen Laufe feiner Geſchichte fi) noch niemals in einem fo kurzen Zeitraum 
zufammengedrängt haben. Einunddreißig Jahre find jetzt verfloffen, feit mit 
dem Neujahrsempfang in den Tuilerien und dem Schmerzensſchrei bei Eröffnung 
de3 jardiniihen Parlaments der Feldzug zur Befreiung Italiens von der 
Tremdherrichaft begonnen wurde. Während damals die öfterreichiichen Fahnen 
in Mailand und Venedig, die franzöfifchen auf dem Capitol wehten, im 
Süden die Bourbon, in den Sleinftaaten der Mitte habsburgiſche Nebenlinien 
ihre ſchwankende Herrſchaft mit fremder Hülfe frifteten, nimmt Italien, nit 
mehr ein geographiicher Begriff, ſondern ein unabhängiger und einiger Stau, 
gegenwärtig den ihm gebührenden Pla im Rathe der europäifchen Großmächte 
ein. Unter dem Scepter eine in Krieg und Frieden bewährten nationalen 
Herrſchergeſchlechts hat das italienische Volk politiſch durch die Errichtung di 
Einheitftaat3 eine Aufgabe gelöft, die vor dreißig Jahren jelbft im Italien den 
Muthigiten unlösbar erſchien. Die Neberbrüdung zwifchen Nord und Süd, an 
deren Gelingen jogar Cavour's Fühner Geift kaum zu glauben wagte, ift ein 
vollendete Thatſache; für alle Italiener ift „das Eine, female, meerumſchlungent 
Land“ jebt in Wahrheit da3 Vaterland. Eine freie Verfaffung gewährt den ver: 
ſchiedenen politiſchen Parteien den gejeßlich geregelten Antheil an der Staat! 
leitung; mit Erftaunen hat Europa wahrgenommen, daß in dem früher von den 
heftigſten Leidenichaften zerriffenen Lande, in der claffichen Heimath der Be: 
ſchwörer und de3 ftaatsfeindlichen Sectenweſens eine conftitutionelle Regierung 
möglich ift und daß fie die Autorität der Staatsgewalt in den Formen und 
Schranken des modernen Rechtsſtaats aufrecht zu erhalten vermag. Lange Jahr: 
hunderte hindurch die wehrloje Beute der Ausländer, durch Fremdherrſchaft und 
Pfaffenthum kriegsentwöhnt und verweichlicht, Hat Italien durch energiſche 
Aufraffen feiner Volkskraft innerhalb eines Menſchenalters auf der Grundlage 
der allgemeinen Wehrpflicht ſich eine Heeresmacht geſchaffen, welche ſich im 
Frieden als eins der wirkſamſten Förderungsmittel der nationalen Verſchmelzung 
und der Volkserziehung bewährt, und die auch für den Ernſtfall einen au— 
reichenden Schuß der zu Land und zu Waſſer langgeſtreckten Grenzen de 
nationalen Gebiet3 verſpricht; eine Heeresmacht, deren Tüchtigkeit Italien zu 
einem begehrenswerthen Bundesgenoffen für große europäische Militärmächte er— 
hoben hat. Eine geregelte, Fräftig functionivende Verwaltung, geordnete Recht: 
pflege, aufftrebende Verkehrseinrichtungen — ich erinnere nur an das innerhalb 
der legten fünfundzwanzig Jahre faſt von Grund aus geichaffene Eifenbahnnet und 





Aus dem modernen Stalien. 257 


an die Wiedereröffnung alter, langvergefjener Häfen wie Brindifi, Syracus und 
Girgenti — ein aufblühendes Unterrichtsweſen, endlich), und zwar nad) Ueber— 
windung ungeheurer Schwierigkeiten, erträgliche Finanz- und Geldverhältnifie: 
da3 find in rajchem Ueberblick einige der hauptſächlichſten Lichtjeiten, welche das 
italienifche Volk jeiner politiichen Wiedergeburt zu verdanken Hat. 

Daß diefer mächtige politiiche Fortichritt auch auf die wirthichaftliche Lage 
de3 Landes, auf die gefammten jocialen Verhältniffe von erheblichem Einfluß 
getvejen ift, Fällt auch bei flüchtigem Beſuch und oberflächlicher Beobachtung in 
die Augen. Bon Jahr zu Jahr weift die Verbrecherftatiftit günftigere oder doch 
minder ungünftige Ergebniffe auf. Es ift nicht Geringe, in dem Lande ber 
Vendetta und des Brigandaggio eine allmälige Verminderung der Verbrechen 
gegen das Leben, eine Zunahme der öffentlichen Sicherheit wahrnehmen zu können. 
Jedem, der Italien früher gekannt hat, Fällt beim Wiederjehen die Verringerung 
de3 Bettel3, die reinlichere Tracht, die Hebung de3 ganzen Auftretens der Be— 
völferung auf: in ihrer gefammten Erſcheinung prägt fich aus, wie viel die 
Staliener, namentlich aud) der unteren Stände, an Selbftgefühl und Selbſtachtung 
dem fremden gegenüber gewonnen haben. An die Stelle der örtlichen Abge- 
ichlofjenheit, jener municipalen Beengtheit, die früher ein charakteriftifches Merk— 
mal der mittleren und gebildeteren Klaffen der Bevölkerung war, ift ein frifches 
Leben getreten; der Gefichtäfreis hat fich Über die Grenzen der Stadt und ber 
Provinz erweitert; die Jtaliener beginnen fi in ihrem gefammten Waterlande 
heimisch zu fühlen, fie fangen an, wa3 früher eine Seltenheit war, in Italien 
zu reifen und find namentlich im Sommer eine ungemein angenehme und heitere 
Geſellſchaft für die allerdings wenig zahlreichen Fremden, welche fi) von dem 
Porurtheil, daß man Stalten im Winter beſuchen müſſe, glücklich losgemacht 
haben. — Wirthihaftlih Hat ſich die Befreiung des perjünlichen und gewerb- 
lichen Verkehrs von den Schranken und Pladereien der KHleinftaaterei mit ihrem 
heillojen Paß-, Zoll- und Polizeiunfug naturgemäß vortheilhaft geltend gemacht. 
Die Aufhebung der Binnenzölle im Innern, die Schaffung einer einheitlichen Ver— 
tretung des nationalen Wirthichaftsgebiet3 nad) außen hat eine wejentliche Kräftigung 
des Gewerbefleißes, eine nachhaltige Erſchließung neuer Hülfsquellen für die ge 
jammte wirthſchaftliche TIhätigkeit des Landes zur Folge gehabt. Nach Langer 
und ſchwerer Verſäumniß ift Italien von Neuem in den wirthſchaftlichen Wett- 
beiverb der Eulturvölfer eingetreten; fein Handel, jeine Schiffahrt find mit Erfolg 
bemüht, im Mittelmeer, im Orient, an den fernen Küften Aſiens und Afrika's 
die Erinnerungen an eine glorreiche Vergangenheit twiederzubeleben. Italieniſche 
Forſcher haben an dem heldenmüthigen Ringen aller gebildeten Rationen zur 
Erichliegung des ſchwarzen Erdtheils ehrenvoll theilgenommen; die italienijche 
Flagge hat fi an den Geftaden des Rothen Meeres und auf dem jonnenglühen- 
den Hodlande Abyſſiniens rühmlich behauptet; mit Umſicht und Ausdauer ift 
ber Anfang eines italienischen Golonialbefites erzielt tworden. 

Freilich fehlt es nicht an tiefen Schatten. Der Conftitutionalismus hat jid) 
vielfach auch in Italien als ein ſchweres Hinderniß, mindeftens ala eine erhebliche 
und bedauerliche Verzögerung für die Thätigfeit der Staatögewalt erwieſen. Noth- 
wendige Reformen, zu deren Durchführung es der ununterbrochenen einheitlichen 

Deutſche Rundſchau. XVI, 8. 17 


258 Deutihe Rundſchau. 


Action einer zielbewußten Einwirkung bedarf, find durch die Parteiſchwankungen 
des Parlamentarismus aufgeſchoben, verlangiamt und verfümmert worden. Man 
tagt, daß ber italienifchen Volksvertretung die Fractionsintereſſen den freien Weber: 
blie über die Bedürfniffe der Geſammtheit beeinträchtigen, daß Stellenjägerei und 
Nepotismus im Parlament nicht minder arg zu Haufe feien als früher an den 
Heinftaatlichen Hofhaltungen, daß es troß hochklingender Reden an einer wirt: 
famen PBertretung der ärmeren, hiülfsbedürftigen Klaſſen fehle. Der Gegenſaß 
zwifchen Stadt und Land, zwiſchen den Signori und der arbeitenden Land— 
bevölferung, der in Italien ſich ſchlimmer als anderwärts geltend macht, weil die 
Großgrundbefißer felten auf dem Lande wohnen, befteht in alter Schärfe und 
tritt politiſch mehrfach in bedenflichen Erfcheinungen zu Tage. In Sicilien übt 
die Maffia neben der Staatsgewalt eine gefürchtete Herrſchaft über die unteren 
Klaffen aus. Bon der Kriſe, welche die Vermehrung der Transportmittel und 
der dadurch ermöglichte Mitbewerb Amerika’3 und Indiens auf dem europäiſchen 
Markt für die Landwirthichaft unferes Welttheils herbeigeführt Hat, wird Italien, 
ein vorzugsweiſe, ja ausſchließlich adferbauendes Land, beſonders ſchwer betroffen. 
Ebenſo leidet Italien, der jüngfte und der ärmfte der europäiſchen Großftaaten, 
am ſchwerſten unter der Laft der Rüftung, welche die Erhaltung des Friedens 
dem Treitlande von Europa in immer jchneller fteigendem Maße aufzwingt. Die 
Koften für dad Heer und die Flotte haben im Verein mit den wachſenden Auf: 
gaben und Ausgaben der Staatöverwaltung in Italien zu einer Steuerbelaftung 
geführt, die fich als ein empfindliche Hemmnik für dringend nothiwendige Ber: 
beiferungen auf dem Gebiete der Induſtrie und der Landwirthichaft herausstellt 
und die insbejondere den Eleinen ländlichen Grundbefig bis an die Grenze feiner 
Leiſtungsfähigkeit Hart bedrüdt. Ungelöft endlich ift noch Heute die ſchon von 
dem Begründer der italieniichen Einheit fo ſchwer empfundene Kirchenfrage: ber 
Papft hält noch Heute den Anſpruch auf die Wiederherftellung feiner weltlichen 
Herrihaft mit vollem Nachdruck und unter Anrufung des Auslandes aufredt; 
er verharrt in feindfeliger Abneigung gegen das nationale Königthum und den 
nationalen Staat und verbietet feinem Clerus die Betheiligung an dem ftaat: 
lichen Leben: ne elettori, n& eletti lautet noch heute in Jtalien der Wahlſpruch, 
auf den die römiſche Curie ihre gefammte Gefolgichaft zu verpflichten ftrebt, umd 
der Einfluß, den die noch immer zahlreiche Geiftlichkeit über die umgebildetere 
Bevölkerung befit, wird nad dem Willen des Statthalter Chrifti wahrlich nidt 
zu Nuß und Frommen der ftaatlihen Ordnung ausgeübt. 


L 

Wenn nachſtehend der Verſuch gemacht wird, an der Hand einiger bemerkens— 
werthen neueren Schriften mehrere der joeben raſch berührten Licht: und Schatten: 
jeiten de3 modernen Italiens etwas näher zu beleuchten, jo darf bei den Leſern 
der „Deutichen Rundſchau“ auf die verftändnißvolle Sympathie gerechnet werden, 
welche man in den gebildeten Klafjen Deutſchlands für die ſtaatliche und wirth— 
ſchaftliche Entwicklung des ung feit jo Langer Zeit befreundeten, jet auch politiich 
eng verbündeten Landes und feiner liebenswirdigen Nation in reichftem Maße 
empfindet. 


Aus dem modernen Stalien. 950 

Dieſe Sympathie ift zu einem herzlichen, jugendlich lebhaften Ausdruck gelangt 
in dem anfprechenden Buche, deijen Titel mit dem des gegenwärtigen Aufiates 
übereinftimmt. Der Berfaffer, Herr Sigmund Münz, ein junger öfterreichifcher 
Gelehrter, Hat fich mehrere Jahre Hindurch in Rom mit geichichtlichen und Litera= 
riſchen Studien beſchäftigt; was er hier bietet, find nicht die Ergebnifje, jondern 
im Wejentlichen die Erlebnifje feiner Studienzeit, Beobachtungen und Porträts, 
zu denen ihm der Verkehr mit Politikern und Gelehrten aus dem ftaatlichen tie 
aus dem kirchlichen Lager Gelegenheit bot, Skizzen aus dem Volksleben in Rom 
und der römischen Umgebung, endlich Briefe in die Heimath mit zwangloſen Glofjen 
über die wichtigsten Tagesereigniffe des römiſchen Aufenthalts. Wie man fieht, 
alio feine ſyſtematiſche Schilderung des modernen Italiens, jondern die unbe= 
fangene Wiedergabe von perjönlichen Stimmungen und Eindrüden, wie fie in 
der Hauptftadt des modernen Italiens während einiger Jahre gewonnen find: 
ein Buch, deifen Vorrede wie die von Montaigne's Essais mit den berühmten 
Worten beginnen fünnte: „ce ey est un livre de bonne foy.“ 

Das Charakterijtiihe der Schrift von Herrn Dr. Münz ift ein Vorwiegen 
de3 Anterefjes an der römiſchen Kicche und ihrem Apparat. Nicht etwa in dem 
Sinne, als ob der Berfafjer ultramontanen Anſchauungen huldigte oder auch nur 
den religiöjen Standpunft des Katholicismus theilte: ex fteht diefen Fragen durch— 
aus als Freund der Gewifjensfreiheit und Verfechter de3 nationalen Staat3 gegen— 
über. Vielmehr jcheint die Beihäftigung mit den kirchlichen Einrichtungen und 
ihren Vertretern, insbejondere die Betrachtung de3 Kampfes, den Italiens Leitende 
Geifter jeit der Gründung des neuen Königreichs mit dem Oberhaupte der fatho- 
liſchen Kirche zu führen genöthigt find, einen Mittelpunkt feiner Studien ala 
Hiftoriker gebildet zu haben, und man darf annehmen, daß das hier Mitgetheilte 
nur al3 Vorläufer einer größeren Arbeit gelten will. Uebrigens ift dieſe Theil» 
nahme für da3 Papftthum ala geihichtlihe Größe und das Verſtändniß für die 
Bedeutung und die Macht der römischen Curie echt deutih. Sie hat ih, von 
Goethe'3 italienischer Reife an, Tange Zeit hindurch in den Aufzeichnungen deutjcher 
Romfahrer erhalten, die troß oft jehr ketzeriſcher Gejinnung* unbefangen genug 
waren, die Menjchenkenntniß, den politiichen Ueberblick und die vollendete Organi— 
jation zu bewundern, auf denen die Kirchliche Weltherrichaft des Knecht der 
Knechte Gottes beruht. 

63 werden darum in Deutichland auch diejenigen, die in dem Papſt nicht 
den Statthalter Chrifti, jondern das Oberhaupt einer jehr großen und fehr Klug 
geleiteten Priefterfchaft erbliden, mit Theilnahme das Lebensbild betrachten, 
welches der Verfaffer von Leo XII. entwirft. Leopold Ranke Hat in feiner 
„Beichichte der Päpfte“ einmal auf die große Mannigfaltigfeit von Charakter- 
föpfen hingewiejen, welche bei raſchem Thronwechſel zu Trägern der dreifachen 
Krone berufen wurden; die päpftlihe Wahlmonardhie biete bei ftrengem Feſt— 
halten an der Einheit des Grundgedantens oft die Möglichkeit, durch den Nach— 
folger das zu ergänzen, wa3 von dem Vorgänger minder qut vertreten geweſen 
ji. So haben in früheren Jahrhunderten friegsliebende Päpfte mit Mäcenen 
der Fünfte und der Literatur, jchlaue Diplomaten und weltfremde Heilige, Eluge 
Lebemänner und fanatiſche Keberverfolger abgewechielt, nicht jelten Einer das 

17* 


260 Deutiche Rundſchau. 


Gegenftücd des Andern, und doch alle Träger des weltherrſchenden Gedankens der 
päpftlichen Suprematie. Sicher ift auch bei der Wahl Joachim Pecci's zum 
Nachfolger des neunten Pius die Abficht des heiligen Collegium3 darauf gerichtet 
gewejen, einen Pontifer zu finden, der die Anfprüche der Curie mit gleicher Un— 
verbrüdjlichkeit, aber mit größerer Geichäftsgewandtheit und Weltflugheit zu ver 
treten vermöge, al3 feine Vorgänger, Der Gegenjat zwiſchen dem faltigen, blafien 
Diplomatengeficht des jeigen Papftes und den jovialen Zügen des ftattlichen nod 
al3 Greiß jchönen Pio nono ift ein treuer Ausdrud von dem Unterjchiede ihres 
ganzen Weſens. Wenn fi in Pius IX. vor Allem die Repräjentationzluft und 
die Darftellungsfähigkeit des Jtalieners, jeine Lebhaftigkeit in Blick und Gebärde, 
daneben auch die Spottfucht, nicht jelten die Buffonerie des heiteren Südens ver- 
förpert hatten, jo tritt und in Zeo XIII. die tiefgründige Feinheit, die Welt: 
und Menſchenkenntniß entgegen, die von jeher einen Charakterzug der italieniichen 
Diplomatie gebildet hat. Im Gegenfaß zu der heiter bewegten Jugend jeines 
Vorgängers, hat der jehige Papft, ein Sohn der rauhen Volskerberge, ſich von 
früh an durd) ernfte Studien für den Beruf eines kirchlichen Politikers vor- 
bereitet; er hat ſowohl in dev Verwaltung des Kirchenftaats ala in der Diplo- 
matie der Curie Jahre lang praktiſch gearbeitet und jpäter während einer mehr 
al3 dreißigjährigen Verwaltung des Bisthums Perugia vollauf Zeit und Samm- 
lung gefunden, um in der Rube und Abgejchloffenheit diefer umbriſchen Landichaft, 
die man nicht mit Unrecht das Galilea von Italien genannt hat, zu einer durch— 
aus jelbftändigen, in fich gefeftigten Perjönlichteit heranzureifen. Ein wohl: 
geſchulter Theologe, ein überzeugter Anhänger der Icholaftiichen Weltanſchauung 
und ein begeifterter Lobjänger der heiligen Jungfrau, der er in feinen Muße 
ftunden Lateinifche Diftichen widmet, hat fi Papft Leo in nun mehr als zehn: 
jähriger Verwaltung feines hohen Amtes als ein ruhiger Realpolitifer erwieſen, 
der nicht nur die reinen Höhen des Weltgeiftes kennt, jondern auch die Niederungen, 
wo die Intereſſen des Tages walten, und er Hat bei zahlreichen und jchiwierigen 
Verhandlungen zum Wortheil der von ihm vertretenen Sache gezeigt, daß bie 
Unverföhnlichkeit des principiellen Standpunkte fi mit Hlugem Erkennen de 
praktiſch Erreichbaren ſehr wohl vereinigen läßt. Auf diefem Wege iſt es ihm 
gelungen, mit Deutichland, mit Rußland, mit England einen Ausgleich in Fragen 
herbeizuführen, die ſich unter feinem Vorgänger zu heftigen Conflicten verjchärft 
und verbittert hatten. 

Mit Italien hat Leo XIIL einen ſolchen Ausgleich) nicht gefunden. Wohl 
tritt ex dem jungen Königreich, der Perfon und der Familie des Monarchen umd 
den Staatsmännern, die ihm zur Seite ftehen, nicht mit jo verlegender Unhöflic- 
feit entgegen, tvie dies jein Vorgänger zu thun pflegte; allein ſachlich Hat er an 
deijen Politit Jtalien gegenüber nicht? geändert. Vom Anfang jeines Pontifi- 
cat3 an hat ex feierlich verkündet, daß die Kirche fich jelber aufgebe, wenn fie den 
Anipruc auf Rom fallen laffe; ev hält daran feft, daß der Papſt al3 geiftlicher 
Weltherrſcher über äußere Machtmittel verfügen und fich demnad als der ihm 
zufommenden Jnftrumente zur Ausübung feiner geiftlichen Rechte beraubt anfehen 
müſſe, jo lange er den Befit feines Staates, feiner Armee, feines Territoriums 
nicht wieder erlangt habe. Er fährt fort, fich gleich feinem Vorgänger als Ge 


Aus dem modernen Stalien. 261 


fangener im Batican zu betrachten, und gleich ihm ruft ev von der Höhe dieſes 
goldenen Gefängniffes von Zeit zu Zeit in Hirtenbriefen und Allocutionen die 
Welt zum Zeugen und zum Rächer de3 der Curie twiderfahrenen Unrechts an. 
Diefe Protefte haben die italienische Regierung nicht gehindert, fi) in den nahezu 
zwei Jahrzehnten, welche jeit dem Ginzuge durch die Breſche bei der Porta Pia 
vergangen find, in Rom nad) Kräften einzurichten Sie läßt ſich in dem ſchwierigen 
Werke, die Stadt der Päpfte zur Refidenz eines modernen Großftaates umzuge— 
ftalten, weder durch die zornigen Verwünſchungen der Curie noch durch die Klagen 
der Freunde der Vergangenheit ftören, welche mit Bedauern den eigenthümlichen 
Zauber jchwinden fehen, der dieje Stätte umgab. Ohne die Mißgriffe zu ver— 
theidigen, die im Einzelnen begangen fein mögen, wird man den Italienern das 
Recht nicht beftreiten fönnen, auch in Rom für die Bedürfniffe ihres Staat3- 
weſens, für die lebendige Gegenwart zu jorgen. Sie haben fich bejchieden, über 
da3, was man vor fünfundziwanzig Jahren die römiſche Frage nannte, und was 
die Curie ala ſolche mit dem ganzen Rüftzeug ihres geiftlichen Arjenal3 und ihrer 
weltgewandten Diplomatie wieder anzufachen bemüht ift, einfach zur Tagesord— 
nung überzugehen. Nach dem Ausſpruche des energiichen Mannes, der jet die 
politiichen Geſchicke Jtaliens lenkt, eriftixt für die Jtaliener keine römische Frage mehr. 

In Erispi, dem Sicilianer, ift zum erften Male feit dem Beftehen de3 
neuen Königreich, ein Südländer an die Spitze der Regierung gelangt- Daß fich 
die Nord » taliener, namentlich die Piemontejen, jeit nunmehr zwei und einem 
halben Jahre — in Italien eine lange Zeit für ein Miniſterium! — feiner Zeitung 
fügen, ift einerfeit3 ein vollgültiger Beweis für die innere Verfchmelzung zwiſchen 
den verjchiedenen Beftandtheilen der Nation, andererjeit3 aber jpricht es für die 
Thatkraft und die Geſchicklichkeit des Meinifterpräfidenten. Crispi ift einer der 
wenigen noch Lebenden, welche jeit dem Beginn der italienischen Einheitsbewegung 
an allen ihren Wechjelfällen activ theilgenommen haben: feine Lebensgeſchichte, 
die ihn vom Geheimbündler, politiichen Flüchtling und Verſchwörer zum General- 
ftabsofficier und Staatzfecretär Garibaldi’3, dann ins italienische Parlament und 
vom Deputirtenjeffel ins Minifterfauteuil geführt hat, ift eine höchſt bezeichnende 
luftration des MWerdeganges, den Italien don revolutionären Anfängen durch 
fundamentale Erſchütterungen hindurch zum Rechts- und Verfaffungsftaat durch: 
zumachen gehabt Hat. Grispi ift zugleich noch einer der Wenigen, die ji) auf 
diefer an Stürmen fo reichen politifchen Odyſſee die volle Freiheit und Unab— 
hängigfeit von allem Parteitreiben bewahrt haben. Herr Dr. Münz theilt in 
dem anziehenden Leben3bilde, welches er neben anderen italienischen Staat3- 
männern auch von Erispi entwirft, einen hübfchen Zug mit, der die Selbftändig- 
keit ſeines Weſens gegenüber dem Fractions- und Cliquenweſen ins Licht ftellt. 
Al der Sieilianer 1861 zu Turin feinen Sit auf der Linken des neuen italie— 
nischen Parlaments eingenommen hatte, fragte ihn ein College: „Herr Grispi, 
find Sie Mazziniſt?“ — „Nein!“ — „Herr Grispi, find Sie Garibaldiner?” 
Nein!" — „Was find Sie denn?“ — „Ich bin Crispi!“ : 

Daß fich im Nathe der italieniichen Krone Männer befunden haben und 
noch befinden, die einjt mit Mazzini Verſchwörungen angezettelt haben, wird von 
den Stalienern jelbft al3 ein Denkmal de3 hervorragenden Antheils betrachtet, 


262 Deutſche Rundichau. 


welchen die nationale Dynaftie an dem großen Drama der vaterländijchen Be 
freiung genommen hat. Sie erbliden in der Theilnahme früherer Revolutionäre 
und Republitaner an dem geordneten Staat3leben ihres Königreich zugleid) ein 
Kennzeichen von dem wohlverdienten Anjehen, deffen fi) der Träger der Monardie 
in dem früher von Parteien fo furchtbar zerriffenen Lande allgemein erfreut. Sie 
ertennen in dem Beftehen der Monarchie eine Bürgjchaft ihrer nationalen Un— 
abhängigkeit und verhalten fi in ihrer großen Mehrzahl den republifaniichen 
Anwandlungen einzelner Starrföpfe gegenüber ebenfo ablehnend, wie Giufti in 
den Anfängen der nationalen Wiedergeburt jeinen Landsleuten warnend zus 
gerufen hatte: 

Kleine Pillen, kleine Stüdchen, 

Siebenhundert Republitchen 

San Marino kriegen wir... . 
Und das Brot, fo klein zerhauen, 
Iſt's nicht Leichter auch zu kauen 
Für die Herr'n aus Oefterreich? 

Diefe Auffaffung iſt allerdings nicht im Mindeſten nad) dem Geichmade des 
franzöfifchen Autors, der unter dem Titel „’Italie contemporaine“ vor Kurzem 
eine umfangreiche Strafpredigt gegen Jtalien und die Jtaliener veröffentlicht hat. Er 
erblickt in der inneren Umwandlung, welche die italieniſchen Staatsmänner nad) 
dem ganzen Gange der politifchen Entwidlung ihres Landes naturgemäß und 
nothiwendig durchzumachen gehabt haben, nichts al3 Charakterſchwäche, Mangel 
an Muth und an Glauben. Für ihn find Benedetto Cairoli, der heldenmüthige 
Vertheidiger feines Königs, Francesco Erispi und jo viele Andere, die im ihrer 
Jugend für die Befreiung ihre Landes gefämpft und geblutet haben und in ihrem 
Alter den Steinwürfen demagogiſch aufgeregter Meuchler ausgejegt find, nichts 
ala Abtrünnige und Verräther, und zwar zu Gunsten einer Sache, die doch nicht 
zu halten ift. Denn für Herin 9. Méreu (oder wer immer Hinter diefem Namen 
ftehen mag) unterliegt es feinem Zweifel, daß die Zukunft Jtalien3 der Republit 
gehört. „Wird das morgen eintreten? Oder in zehn Jahren, oder in einem Jahr: 
hundert? Vielleicht morgen, vielleicht in zehn Jahren; aber jedenfalls kann man 
darüber ficher fein, daß die Morgenröthe des zwanzigjten Jahrhunderts da3 
Banner der Kepublit vom Thurme de3 Capitols flattern jehen wird.“ 

Ind worauf vermag der Verfaſſer der „l’Italie contemporaine* dieje zuver— 
fihtliche Weisfagung zu ftügen? Zunächft auf die Revolutionsluft der lateiniſchen 
Race im Allgemeinen, die an rajche Veränderungen und plößliche Ummälzungen 
gewöhnt ift. Sodann teil der conjtitutionellen Monarchie in Jtalien die geichicht- 
liche Ucberlieferung, die Volksthümlichkeit fehlen fol. Abgejehen von Piemont, 
ihrem Stammlande, fei die Monarchie für Italien lediglich ein Nothbehelf,, der 
zu gegebener Stunde einer volllommeneren Staatsform Pla zu machen beftimmt 
ſei. Und diefe Stunde hält M. Mereu für nahe bevorftehend. Denn nie ſei 
Italien von Parteien jo tief zerriffen gewejen wie heute; Crispi's bekanntes 
Wort: „die Monarchie einigt und, während die Republik uns theilt“, jchlage 
daher ind Gegentheil um. 

In diefem Tone der unbedingten Verurtheilung alles in Jtalien Bejtehenden 
ift da3 ganze Buch gejchrieben. Quirinal und Vatican, Parlament und Diplomatit, 


Aus dem modernen Italien. 263 


Armee und Flotte, Juftiz und Unterricht: nichts findet Gnade vor den Augen des 
franzöfiichen Rhadamantus, der überall nur Rückſchritt, Untergang, beftenfalls 
Stagnation erblidt. Wenn e3 eine Einrichtung gibt, in welcher fi) das Erſtarken 
de3 italienischen Wolksgeiftes jeit der Wiedererrihtung des nationalen Staat3- 
weſens am finnfälligften offenbart, jo iſt e3 die Armee. Selbft dem flüchtigen 
Bejucher jällt die gute Haltung, die Regſamkeit und die Thätigkeit der italie- 
niſchen Truppenabtheilungen auf, die er unterwegs zu beobachten Gelegenheit hat. 
Wie oft Hat den Schreiber diefer Zeilen in frühefter Morgenſtunde der Klang 
der Hörner gewedt, welche die Kleinen Garnijonen der Grenzorte in den italie- 
nijchen Alpen zu Uebungsmärjchen riefen: überall trifft man dieſe vegjamen, 
wohlgekleideten fröhlichen Menjchen auf dem Poften und in Bewegung; allent- 
halben jieht man, wie die Heeresverwaltung fich beftrebt, die militärischen Ein— 
rihtungen zu vervollfommnen und volfsthümlich zu machen. Das italienijche 
Dfficiercorps kann e8 an Bildung, Pflichteifer und Selbftgefühl mit jedem anderen 
aufnehmen; ihm anzugehören erachten die Söhne der Ariftocratie wie des reichen 
Bürgerthums für eine Ehre; die allgemeine Wehrpflicht Hat auch nach diejer 
Richtung hin troß der verhältnigmäßig kurzen Zeit ihres Beſtehens bereits tiefe 
Wurzeln in der gefammten Bevölkerung gefchlagen. 

Sorgfältige Beobachter der ländlichen Verhältniffe Italiens ftimmen darin 
überein, daß der Heeresdienft fi al3 ein wichtiges Hülfsmittel für die geiftige 
Hebung der Landbevölterung bewährt hat. Was madt Herr Mereu daraus? 
Ich will die Stelle wörtlich citiven: 

‚Der Mangel jedes Princips ber Erziehung in der italienischen Heeresverwaltung bringt 
andere nicht minder verderbliche Wirkungen hervor. Die Gemüther der Dienftpflichtigen werben 
nicht nur nicht gebildet, ſondern fie unterliegen ber Anftedung der Brutalität, die fie tagtäglich vor 
Augen haben. Der Soldat, ber von feinen betrehten Vorgeſetzten mitleidslos mißhandelt worden 
ift, und der überdies etwas gejehen, ein wenig leſen und fchreiben gelernt hat, kehrt vollftändig 
umgewanbelt, aber zum Schlimmeren verwandelt, in jein Dorf zurüd. Er hat fich Laſter an: 
gewöhnt, die er verbreitet und die vor der allgemeinen Dienftpflicht in der ländlichen Bevölkerung 
unbefannt waren; ber lächerliche Firniß des Drilld, der ihm beigebracht worden ift, hat ihn fo ftolz 
gemacht, daß er feine Angehörigen mißachtet und fie hochmüthig behandelt ..... Das find für bie 
Gegenwart die fihtbarften Folgen der italienijchen Militärorganijation, wie fie zur Sicherung bes 
Thrones hat eingerichtet werden müſſen. Was thut’3, dat die Kaſerne eine Zuchtichule der Ent: 
fittlichung ift, dab der Soldat, ftatt fid) während des Aufenthaltes unter ber Fahne zu bilden, 
dort jchlimme Gewohnheiten annimmt und fich in regionaler Gehäffigfeit verbittert? Das Wejents 
liche ift, dak das Regiment nad dem Schnürchen marſchirt und zu jeglicher Verrichtung bereit 
ift, und dazu ift es nothwendig, daß der Soldat weber Herz nod Kopf hat!“ 

Gin zweiter Punkt, bei welchem der Fortſchritt Italiens für jeden unbe— 
fangenen Beobachter Klar in die Augen jpringt, ift das Unterrichtsweſen. Beim 
Zuſammenbruch der Kleinftaaterei hatte ſich der Volksunterricht überwiegend in 
einem Zuftande unglaublicher Verwahrlofung befunden; die Unmiffenheit der 
unteren Klaffen war in mandem Particularftaat geradezu Regierungsgrundjag 
gewejen. Es hatte einfach der Wirklichkeit entſprochen, wenn Giuſti's ſatiriſche 
Muſe dem Herrjcher eines der kleinſten damaligen Baterfändchen, dem Herzog 
von Modena, die Worte in den Mund legte: 

„Wird aus unfern blüh'nden Ländchen 
(Das Wir, Gott fei Dank, am Bändchen 
Lenken in der Finfternik) 


264 Deutſche Rundſchau. 


Kraft ausdrücklichen Decretes 
Wer hinfort des Alphabetes 
Sich verdächtigt, weggejagt - - - 
Um ber Aufflärung zu fleuern, 
Sorg’ ih, daß von meinen theuern 
Schäflein feines leſen lernt . 

Hier Wandel zu fchaffen, die ungeheuren Ungleichheiten zu ebnen, welche zwiſchen 
den einzelnen Yandestheilen, namentlich ztwijchen Norden und Süden beftanden 
hatten, die Fundamente für eine einheitliche nationale Volk3bildung zu legen: ift 
eine wahre Herkulesarbeit für die Regierung des neuen Königreich geweſen, eine 
Aufgabe, deren an fich überaus große Schwierigkeit noch tejentlich vermehrt 
wird einerjeit3 durch die ftumpfe Paffivität der Geiftlichkeit, welche fich jede Mit: 
wirkung bei diefem großen Culturwerke verjagt, andererjeitö durch den Mangel 
an Stabilität, der durch den andauernd rajchen Wechjel in der oberen Zeitung 
der Unterrichtöverwaltung hervorgerufen wird. Italien hat in den noch nicht 
dreißig Jahren feines Beſtehens als Ginheitsftaat zwanzig oder gar fünfund- 
awanzig Unterrihtsminifter gehabt. Und wenn aud die Antwort, die mir einft 
der Sectionächef einer anderen italienischen Verwaltung auf die Trage, wie fie 
denn bei jo häufigem Minifterrvechjel vorwärts fommen könnten, lächelnd ertheilte: 
„i ministri siamo noi“, nicht unbegründet ift, jo leuchtet doch ein, wie jehr gerade 
auf dem Gebiete des Unterrichtsweſens das Schwanken in der oberften Leitung 
hemmen und verlangjamen muß. 

Was ift nun feit 1861 in Italien für den Volksunterricht geleiftet worden? 
Das von der unermüdlich thätigen und freigebigen Generaldirection ber Statiftik 
in Rom herausgegebene „Annuario statistico italiano* für 1887.88 enthält dar: 
über ausführliche, auf forgfältige Erhebungen geftüßte Mittheilungen, denen 
folgende Ergebniffe zu entnehmen find. 


Die Zahl der öffentlichen Volksſchulklaſſen betrug: 
1861—1862: 21353 mit 885152 Schülern, 
1884—1885: 42595 = 1955264 >» 


Daneben beftehen für den Volksunterricht: 
1861—1862: 2803 Abenbichulen mit 108 170 Sch.; 495 Eonntagsichulen mit 16 031 Schülern, 
1884— 1835: 73 066 : «= 2900795 = 6652 : « 189788 :» 

Die Claſſen- wie die Schülerzahl der Volksſchulen hatten ſich aljo in fünf- 
undawanzig Jahren nahezu um 100 Procent, die der Abendihulen um rund 
200 Procent vermehrt; die Sonntagsjchulen waren al3 eine wejentlid neue 
Schöpfung hinzugetreten. 

Dank diejer nahhaltigen Vermehrung der Unterrichtsanftalten hatte fich die 
Volksbildung wie folgt gehoben: 

* Zahl der Analphabeten hatte betragen bei den Volkszählungen von 
1861: 78,06 Procent der VEREINE s2,21 Procent der Kinder von 6—12 Jahren, 
1871: 13.96 : ; 75,66 2 ⸗ ⸗ ⸗ —— 12 
1881: 67,6 64.00 . 6-12 : 

Im Jahre 1861 waren von je Hundert italienischen ——— 69,46 des 
Leſens und Schreibens unkundig; dieſe Ziffer hatte ſich 1886 auf 53,31 Procent 
vermindert. Im Jahre 1866 waren von 100 Rekruten 64,01, im Jahre 1886 
44.42 leſens- und jchreibensunfundig. A 


Aus dem modernen Italien. 265 


Dieſe Ziffern laſſen ficherlich noch viel zu wünſchen oder vielmehr zu thun 
übrig. Allein fie reichen Hin, um die bedeutenden Anftrengungen zu charakteri- 
firen, welche das italienijche Volk für die Verbeſſerung feines Unterrichts macht, 
und fie verdienen in feiner Weiſe den Spott und die Geringichäßung, mit welcher 
M. Mereu auch Über dieſe Seite des italienischen Volkslebens abſpricht. Seiner 
Schilderung, die der italienischen Schule den Vorwurf macht, die ideale Seite 
des Interrichts, die Bildung de3 Gemüth3 und des Charakters, gegenüber einer 
utilitariftifchen Anhäufung von SKenntniffen zu vernadläffigen, werden gewiß 
auch viele deutjche Leſer die gemüth: und herzvolle Darftellung entgegenhalten 
fönnen, welche Edmondo de Amicid vor einigen Jahren in feinem trefflichen 
Volksbuche „Cuore“ von dem Leben und Treiben in der italienifchen Volksſchule 
entworfen hat. 

Aber laſſen wir Herrn Mereu und ſein Buch. Er iſt hier Lediglich als 
harakteriftiiches Berfpiel von der Ueberhebung und der Oberflächlichkeit angeführt 
worden, mit der ein Theil jeiner Landsleute troß der ſchlimmen Erfahrungen 
von 1870 über benachbarte Nationen abzuurtdeilen liebt, al3 ein Beifpiel davon, 
wie bedenklich und wie unfruchtbar es ift, in allgemeinen Redewendungen über 
ein ganzes großes fremdes Volk richten zu tollen. 


II. 

Von dieſem Fehler haben ſich die Verfaſſer der beiden Schriften, die ſich 
mit einer Lebensfrage des modernen Italiens, mit dem Zuſtande der Landwirth— 
ſchaft beſchäftigen, in bemerkenswerther Weiſe freizuhalten gewußt. Sowohl 
Herr Werner Sombart, der in ſeiner ſocialökonomiſchen Studie über die 
römiſche Campagna einen alten ſchweren Schaden der Apenninen-Halbinſel mit 
Freimuth und Sachkenntniß erörtert, als Mr. Beauclerk, der in feinem 
„Rural Italy“ eine auf perſönliche Anſchauung geſtützte Ueberſicht über die Er— 
gebniſſe der großen italieniſchen Ackerbau-Enquéête gibt, ſtehen durchaus auf 
objectivem, wiſſenſchaftlichem Standpunkt. Frei von Vorliebe und Abneigung 
laſſen ſie die Thatſachen reden, auch da wo ſie dem Bilde nicht entſprechen, das 
unſere Sympathie für das befreundete Volk ſich zu entwerfen gern geſchäftig iſt. 

Italien, wie bereits geſagt, iſt ein vorwiegend ackerbautreibendes Land und 
wird es, da ihm die Haupttriebfedern der modernen Großinduſtrie, Kohlen und 
Eiſen, auf eigenem Boden verſagt ſind, vorausſichtlich auch in Zukunft bleiben. 
Von der Geſtaltung der Landwirthſchaft hängt daher in Italien das Wohl und 
Wehe des ganzen Staates in noch höherem Grade ab, als bei anderen europäi— 
ſchen Culturvölkern. Die Erkenntniß dieſer Sachlage und das Bewußtſein von 
den ſchweren Uebeln, mit denen die italieniſche Landwirthſchaft zu kämpfen hat, — 
Uebel, die ſich durch den Wettbewerb Amerika's, Aſiens und Auſtraliens auf dem 
europäiſchen Markt naturgemäß erheblich geſteigert haben, — hat bekanntlich in 
Italien bereits vor längerer Zeit zu dem Entſchluſſe geführt, die geſammte Lage 
der Landwirthſchaſt und der ländlichen Bevölkerung einer umfaſſenden amtlichen 
Unterſuchung zu unterziehen. Die Verhandlungen der zu dieſem Zwecke durch das 
Geſetz vom 15. März 1877 ins Leben gerufenen Enquéte-Commiſſion liegen ſeit 
einigen Jahren in nicht weniger als vierumdzwanzig Bänden in Großquart vor; 


266 Deutiche Rundichau. 


eine Ueberſicht über ihren reichen Inhalt ift deutjchen Fachkreiſen durch die im 
neunundzwanzigften Bande der Schriften des Vereins für Socialpolitik veröffent- 
lichte Arbeit von Herrn Profeffor K. TH. Eheberg: „Agrariſche Zuftände in 
Italien“ bereit? im Jahre 1886 ermöglicht worden. Während der deutjche 
Nationalötonom die Ergebnifje jener riefigen Arbeit, im Weſentlichen im Anſchluß 
an die Rubriken des von der Commiſſion aufgeftellten Fragebogens, nad) fachlichen 
Geſichtspunkten zujammengefaßt hat, folgt der engliſche Diplomat in feinem 
„Rural Italy‘ der regionalen Eintheilung, welche die Commiffion für die Löfung 
ihrer Aufgabe gewählt hatte, und jchildert demgemäß den Zuftand der Land: 
wirthichaft der Reihe nad) in zwölf großen Kreifen, die von Süden beginnend 
bis zum Nordoften je eine Gruppe von Provinzen der amtlichen Landeseintheilung 
umichliegen. Ein jo ungeheure Material, wie da3 durch die italieniſche Ader- 
bauunterfuchung zu Tage geförderte, verträgt nicht nur, jondern verlangt jogar 
eine mehrfache und von verjchiedenen Angriffftellen ausgehende Bearbeitung; die 
englifche bildet in manden Punkten um jo mehr eine mwillfommene Ergänzung 
der deutjchen, als Mr. Beauclerf vermöge feines mehrjährigen Aufenthalts in 
Italien in der Lage war, in den meiften Streifen von, den Zuftänden der Land- 
wirthſchaft perſönlich Kenntniß zu nehmen. 

Das Bild, da3 beide Berichterftatter entwerfen, ift fein heiteres. Der 
italienifche Boden, zwar in einzelnen Niederungen ungewöhnlich fruchtbar, bleibt 
im Allgemeinen an Ertragsfähigfeit hinter dem anderer Gulturländer weit zurüch 
Nahezu ein Fünftel des gefammten Bodens ift gänzlich uncultivirt; von dem 
Ueberreſte wird die Hälfte als wenig ergiebig bezeichnet. Millionen von Hektaren 
werden durch die teilen, jpärlich bewaldeten Abhänge der Alpen und der Apen— 
ninen bedeckt, andere Millionen durch Verfumpfung oder als Weidegrund dem 
Pfluge entzogen. Die Folgen der von fünfzig Generationen rückſichtslos be: 
triebenen Waldverwüftung machen ſich ſowohl in der Bodenbeichaffenheit, als 
im Klima und in der Gejundheit des Landes bemerklich; weite Streden, die 
früher rei bebaut waren, find durch die Neberichtvemmungen ber jchlecht ge 
regelten Wafferläufe verfumpft und zu Brutftätten der Malaria geworden. Die 
ungleihe Bertheilung des Bodens, die hier ungeheuern Grundbefiß in einzelnen 
Familien zujammenhäuft, dort zu einer unglaublichen Zeriplitterung geführt hat, 
jteht in beiden Fällen einer intenfiven fapitalsfräftigen Bewirthichaftung hindernd 
entgegen. Ebenſo haben ſich die Formen, in denen die Bewirthſchaftung durch 
Andere bewirkt wird, Pacht, Theilbau u. dergl., vielfach überlebt. Es fehlt 
nahezu durchgehends an intelligenten und leiftungsfähigen Landwirthen, die auf 
eigene Rechnung und mit eigenen Mitteln wirthichaften. Ernſtliche Anftrengungen, 
eine den Bebürfniffen der Yandwirthichaft entiprechendere Bodentheilung herbei 
zuführen, find bisher vom Staate nit gemacht worden, in erfter Linie, weil 
man grundjäglich von einem Gingreifen der Gejeggebung in die Eigenthumsver- 
hältnifje und in privatrechtlihe Pachtverträge zurüdicheut, ſodann aber aud) 
wegen der Koften, die jede einigermaßen wirkſame Staatsthätigkeit auf dem 
Gebiete der Landescultur verurfadhen würde. Die günftige Gelegenheit, welde 
die Einziehung und Veräußerung der Kloftergüter darbot, ift ungenußt vorüber: 
gegangen, weil von wirkſamen Beichränfungen der Käufer im Intereſſe de 


Aus dem mobernen Htalien. 267 


kleinen und mittleren Grundbeſitzes abgejehen wurde; der „natürliche Lauf der 
Dinge“, auf den man fi allzu optimiftiich verließ, hat den größten Theil der 
geiftlihen Güter dem ſchon übermächtigen Befigftande der Großgrundbefiger 
noch Hinzugefügt. 

Neben diejen Mißverhältniſſen, welche ſich aus der Beichaffenheit und aus 
der Bertheilung des Bodens für die italienische Landwirthſchaft ergeben, macht 
al3 ein weiteres ungemein ſchweres Hemmniß für jede Verbefferung ihrer Lage 
der harte Steuerdrud ſich geltend, mit welchem der Grundbeji in Italien be 
laftet ift. Die Grundftener, die theils als Staatsfteuer, theils in Zuſchlägen 
zur Staatöfteuer fir die Gemeinden und die Provinzialverbände erhoben wird, 
ift an fich fehr hoch; zufammen mit der Gebäudefteuer beläuft fie fich auf über 
300 Millionen Lire jährlich; in feinem anderen Lande wird ein jo großer Theil 
des landwirthſchaftlichen Reineinfommens durch diefe Steuern abjorbirt wie in 
Ytalien. Diefer Drud wird noch erhöht durch die Ungleichheit, in welcher die 
Grundfteuer von den einzelnen Provinzen aufgebraht wird. Da «8 an einem 
ducchgreifenden, auf übereinftimmenden Grundlagen beruhenden Katafter mangelte, 
jo hat die Ausgleihung dev Verjchiedenheiten, die fich bei Errichtung des neuen 
Königreichs auch in diefer Hinficht zwiſchen den einzelnen Landestheilen vorfanden, 
nur jehr ſummariſch vorgenommen werden können; e3 wird bei Aufbringung der auf 
die Provinzen repartirten Steuerquoten im Weſentlichen noch die alte Einſchätzung 
zu Grunde gelegt, und es ergeben fid) daraus jehr beträchtliche Ueberlaſtungen 
einzelner Diftricte, die die heftigiten Klagen hervorrufen. Während auf den 
Kopf der Gefammtbevölferung durchſchnittlich 9,15 Lire an Grundfteuer und Zus 
ihlägen zu derſelben entrichtet werden, fteigt diefer Durchſchnittsbetrag in der 
Lombardei auf 12,13 Lire, in dev Provinz Cremona jogar auf 18,55 Lire, fo daß 
fi) die Abgabe dort auf nicht weniger als 60 Prozent des Neinertrages, aller: 
dings nad einer alten, Hinter dem wirklichen Ertrage zurückbleibenden Ein— 
ſchätzung, beläuft. 

Die wirthichaftlie Lage de3 Heinen Grundbeſitzers, des Kleinen Pächters 
und Theilbauer® und des zahlreihen auf Zagelohn angewieſenen ländlichen 
Proletariats ift dieſen Verhältniſſen entſprechend im Allgemeinen nicht3 tweniger 
al3 erfreulih. Sie haben neben dem Steuerdrudf mit einer wachſenden Schulden» 
lait zu kämpfen; der landwirthichaftliche Kredit ift ungenügend organifirt; es 
fehlt an Betriebskapital, das Inventar ıft mangelhaft, nicht felten noch überaus 
primitiv. Fortſchritte im Betriebe durh Anwendung von Maſchinen, von 
tationellen Wirthihaftsmethoden, dringend nöthige Verbeſſerungen in Cultur— 
zjweigen , die für die Gefammtwirthichaft des Landes vom höchiten Belang find, 
wie im Weinbau, in der Delgewinnung, müfjen aus Mangel an Mitteln zurück— 
geftellt werden. Die Wohnungen, namentlid” der ärmeren Landbevölferung, 
bleiben hinter den allereinfadhiten Anforderungen der Gejundheit und des An- 
ftandes vielfach weit zurück; fie gewähren jelbft unter diefem milden Himmel 
oft nur unzureichenden Schuß gegen die Einwirkungen der Witterung. Ueberaus 
dürftig ift e3 endlich mit der Nahrung beftellt; fie veicht troß der durch das 
Klima begünftigten großen Bedürfnißlofigkeit der italienischen Landleute häufig 
nit aus, um ihren Hunger zu ftillen, bietet nicht hinlänglichen Erſatz für die 


268 Deutiche Rundſchau. 


in harter Arbeit verbrauditen Kräfte und xuft durch ihre Gintönigfeit und 
Dürftigkeit — nichts als Polenta, und zu wenig Polenta, wird in amtlichen 
Berichten al3 Nahrung der Landbevölferung in verjchiedenen Provinzen bezeichnet — 
Krankheiten hervor, die ſich in fteigendem Maße einniften und recht eigentlich) 
am Marke des Landes zehren. Den Abjchnitt, welchen Der. Beauclerf am 
Schluſſe feines Buches der Entftehung und der DBerbreitung der Pellagra 
widmet, die namentlich in den öftlichen Theilen von Oberitalien zu einer 
itehenden Plage der Landbevölterung geworden ift, wird Niemand ohne herzliche 
Theilnahme lejen. 

Gegenüber diejen ſchweren Schäden und Gefahren, welche die ernftefte Für- 
forge erheifchen, darf allerdings auf manche Vorzüge hingetwiefen werden, welche 
die italienische Landwirthichaft vor anderen Ländern bejißt. Die herrliche Sonne, 
da3 reichte und unerichöpflichite von den natürlichen Hülfsmitteln Italiens, 
zeitigt früher und mühelofer als in minder begünftigten Himmeläftrichen bie 
Früchte des Feldes und des Gartend, und fie bringt Erzeugniſſe hervor, die in 
diefer Güte und Fülle anderen Ländern verjagt find. 

„Beben?’, wie Sonnenwärme wirb zum Weine, 
Bereint mit Saft, der aus ber Rebe flieht, * 
läßt Dante im 25. Gejange des Tregefeuer den Statius ſprechen; ihm ftand 
auch in der Verbannung das Bild der toscanischen Rebenhügel vor Augen, die 
noch heute den exportfähigften der italienijchen Weine erzeugen. Und wie viel 
andere tmeingejegnete Landſchaften laſſen fich daneben nennen, von den Ab— 
dachungen der Alpen an, auf denen in Venetien, in der Lombardei und in Piemont 
edle8 ZTraubenblut gedeiht — ber feurige Walpulicella, der kraftvolle Barolo, 
der rothſchäumende Nebbiolo, der goldig jprudelnde Afti, e tutti quanti — bis 
zu den Vorgebirgen der trinakriſchen Inſel, die rebenumfränzt in die ſchimmernde 
Meeresfluth Hinabfteigen. Gewiß ift Italiens Weinbau verbefferungsfähig; jo- 
wohl die Pflanzung und Behandlung des Weinftodes als die Kelter der Trauben 
geichieht vielfach nad) altväterlihem Brauch, ohne die Fortſchritte anderer wein: 
bauender Länder zu benußen; die Aufbewahrung und Pflege des Weins ift eine 
mangelhafte, ſchon weil es vielfach ar geeigneten Kellern fehlt. Aber troß diejer 
Mängel ift der italienifche Wein ein mächtiger Reichthum des Landes, er hat 
fi) namentlich) in den Jahren, in denen der franzöfiiche Weinbau mit der Reb- 
laus zu kämpfen hatte, zu einem Ausfuhrartifel von hoher Bedeutung entwidelt, 
und er ift noch weiterer, ſehr erheblicher Entwidelung fähig, wenn auf die Ab- 
jtellung der vorhin berührten Mängel mit Nachdruck und Nachhaltigkeit hin- 
getwirkt wird. Wehnliches wäre von dem Delbau und von den Südfrüchten zu 
jagen, deren Gultur namentlih in Liqurien, den calabriichen Provinzen und 
Sicilien mit fteigender Intenfität und gutem Ertrage betrieben wird. Zu einem 
ungemein wichtigen und einträglichen Nebengewerbe der Landwirthſchaft hat ſich 
ferner die Seidenraupenzucht entwidelt, die vor Allem in der lombardiichen Hügel- 
region zu hoher Blüthe gelangt ift. Nachdem es dem thätigen Eingreifen ber 
Regierung, der landwirthichaftlichen Vereine und der reichen Seideninduftrie ge 
lungen ift, die ſchweren Kriſen, welcher diefer Zweig der Landwirthichaft mehr- 
fach durd) verheerende Erkrankungen der Seidenraupen ausgeſetzt geweſen ift, durch 


Aus dem mobernen Italien. 269 


die Einfuhr japanischer Eier, ſowie durch befjere Zucht und forgfältige Behand» 
lung der Raupen zu überwinden, hält fich ber Jahresertrag der italienischen 
Cocons gegenwärtig auf der jehr bedeutenden Höhe von durchſchnittlich 40 Mil— 
lionen Kilogramm; er liefert damit nicht allein der nationalen Seideninduftrie 
da3 erforderliche Material an Rohjeide, fondern bildet auch einen werthvollen 
Ausfuhrartikel, der in der Handelsbilanz von Italien Hoch zu Buche jchlägt. 

Hervorzubeben ift ferner, daß die alte Cultur des Landes ſich doch an vielen 
Stellen in einer anderwärts faum erreichten Antenfität feiner Bewirthſchaftung 
ausprägt. Die gartenähnliche Bebauung ber terra di lavoro in den Umgebungen 
von Neapel, die Sorafalt, mit welcher die jchmalen, wein- und olivenbepflanzten 
Terraſſen an den Felſenufern der Riviera culturfähig erhalten werden, die Citronen- 
haine an den Geftaden der ſchönen Seen von Norditalien bilden hervorftechende 
Züge unter den auch dem flüchtigen Bejucher des Landes zugänglichen Eindrüden. 
Die lombardiiche Ebene hat vermöge ihres, aus dem frühen Mittelalter ftammen- 
den Bewäſſerungsſyſtems einen Anbau erreicht, der, wie Mr. Beauclerk mit 
Recht Hervorhebt, in der ganzen civilifirten Welt kaum feines Gleichen findet. 
Die vereinigten Wirkungen von Sonnenjdhein und Wafler zeigen fi in dem 
erftaunliden Wahsthum von Reis, Mais und Wiefengräjern; hier, zum Theil 
in der unmittelbaren Nähe von Mailand, liegen jene herrlichen Wiefen, die ſechs, 
fteben, ja neunmal im Jahre gemäht werden, und deren Heuertrag die geradezu 
unmwahricheinliche Höhe von 250 Gentnern auf den Hektar erreicht. 

Vielleiht den größten Vorzug der italienifhen Landwirthichaft bildet in- 
defien ihr Menjchentapital. Ueber das Worurtheil, das im Auslande früher viel» 
fach über die Trägheit und Läſſigkeit der Staliener beftand, Lohnt es fih faum 
noch ein Wort zu jagen, jeitdem italienische Arbeiter in ganz Europa für die 
ſchwerſten und mühevollften Tunnel, Kanal» und Eifenbahnbauten allenthalben 
begehrt und als bejonder3 nüchtern, fleißig und jparjam geſchätzt werden. Es 
ift eins der erfreulichften Ergebniſſe der italienijchen Aderbau:Enquete, die aus: 
gezeichneten Eigenjchaften der Landbevölterung in allen Berichten übereinftimmend 
in das rechte Licht geftellt zu haben. Bei immer noch jehr mangelhaften Unter: 
richt, bei oft Fraffem Aberglauben und bei mitunter ſchwach entwicdelten Recht— 
Lichteitäbegriffen — Trelddiebftahl gilt vielfach nicht al3 Unrecht, nad) dem be= 
zeichnenden Sprihwort: „la roba che & nei campi & di Dio e dei Santi* — 
erweift ſich der italienijche Landarbeiter doch faft durchgehends als ein ganz her- 
vorragend tüchtiges und brauchbares Material; feine Anftelligkeit, feine Ausdauer, 
feine Bedürfniklofigkeit, meift auch der Frohſinn und die Zufriedenheit werden 
von den Berichterftattern aus allen Diftricten gleihmäßig gelobt. „Sober, hard- 
working, parsimonious“: dieſe Ausdrüde ehren zur Charakterzeichnung der 
italieniſchen Landbevölkerung faft in allen Abjchnitten des Beauclerk'ſchen Buches 
wieder; es ijt deutlich erkennbar, einen wie großen Eindrud insbejondere die 
Anjpruchslofigkeit in der Nahrung auf den in bdiefer Hinficht freilich an ganz 
andere Berhältnifje gewöhnten Engländer gemadt hat. 

Darf nad) alle dem „Rural Italy“ als ein ſchätzenswerther Beitrag zu 
einer allgemeinen Ueberſicht über die agrariichen Zuftände Italiens willlommen 
geheißen werden, jo haben wir in der Schrift von Herrn Werner Sombart 


270 Deutſche Rundſchau. 


über die römiſche Campagna eine auf den eingehendſten und gründlichſten ört— 
lichen Selbſtſtudien beruhende Darſtellung eines der ſchwierigſten Specialprobleme 
der italieniſchen Landescultur zu begrüßen. Von gleich hohem Intereſſe für den 
theoretiſchen Nationalökonomen wie für den praktiſchen Landwirth durch werth— 
volle Aufſchlüſſe für die in der Campagna herrſchenden Wirthſchaftsformen und 
ihre Ergebniſſe, verdient das kleine, aber inhaltreiche Buch des jungen deutſchen 
Forſchers weit über den Fachkreis feiner Berufsgenoſſen hinaus als ein äußerſt 
belangvoller Zuwachs unſerer Kenntniß von der Landeskunde und von den 
ſocialen Verhältniſſen Italiens die allgemeinſte Beachtung. Denn die römiſche 
Campagna iſt trotz der charaktervollen Eigenart, mit der nicht nur ihr Land— 
ſchaftsbild, ſondern auch ihre Bewirthſchaftungsweiſe ſich jedem Beſucher Roms 
ſogleich und für immer einprägt, keineswegs eine Ausnahmserſcheinung, ſondern 
wirthſchaftlich und ſocial ein Prototyp für weite Gebiete der Apenninenhalb- 
injel; das Latifundium und die nomadifirende Weidewirthſchaft, welche die Gam- 
pagna beherrichen, dominiren auch in den Südprovinzen und auf weiten Flächen 
der mittleren MWeftküfte. Ueberdies greift die Weidewirthſchaft der Campagna 
und der ihr verwandten Provinzen mit ihrem Wirthichaftsorganismus in große 
Theile von Mittelitalien hinüber, injofern die Almen auf den Bergen der 
wanbdernden Herden als Sommerweiden dienen. Sodann aber erftredt das 
focialpolitifche Problem, das in den Zuftänden dev Campagna vorliegt, ſeine 
Bedeutung weit über die Grenzen ihres Gebiet? hinaus. Dies Problem if 
um es furz zu jagen, fein anderes, als die Löjung des Conflict zwiſchen ben 
allgemeinen und den Privatintereffen, dev hier in einem wahrhaft claffiichen 
Beiipiele, in einer geradezu muftergültigen disharmonie &conomique in die Gr: 
iheinung tritt. Endlich haben die Forſchungen von Herrn W. Sombart aud 
für die Wirthichafts- und Nechtsgeichichte des Landes ungemein reihhaltige Aut: 
ſchlüſſe zu Tage gefördert, welche über die wirthſchaftliche Entwicelung Italiens in 
vieler Hinficht ein neues wichtiges Licht verbreiten, nicht nur vermöge der ſorg— 
fältigen Benußung der ausgedehnten Literatur — es eriftiren nicht weniger al: 
zweitaufend Bücher und Schriften jedweden Anhalt, welche die römische Can: 
pagna zum Gegenftande haben —, fondern aud durch die Bearbeitung eine 
umfangreichen, zum Theil noch unbefannt gewejenen archivaliſchen Quellenmaterial:. 

Noch in der römischen Kaiferzeit ein blühendes Gefilde von intenfivfte 
Gultur, umgibt die römiſche Kampagna jeit Jahrhunderten Rom mit einer Ein 
öde, deren großartig ernſte Wellenlinien zwar von jeher das Entzüden der Male 
und Dichter gewefen find, die aber mit den wirthſchaftlichen Anforderungen an 
die Umgebung einer modernen Großſtadt im grellften Widerfpruche fteht und 
für das Gedeihen der Dietropole de3 neuen Königreich eine ernfte Gefahr bilkt. 
Die Gefundung und die Wiederbelebung der Gampagna, il risanamento ed | 
bonificamento dell’ Agro Romano, ift, nachdem Rom Landeshauptftadt gemworder 
war, von der italienifchen Regierung alsbald in? Auge gefaßt worden; du 
königliche Decret, welches zu diefem Zwecke eine bejondere Commiſſion einſebtt, 
datirt vom 20. October 1870, ift alfo gerade einen Monat nach dem Einzu 
ergangen. Seitdem find Reformprojecte aufgetaucht, es haben fich Geſellſchaften 
zur Melioration dev Campagna gebildet; Roms Bevölkerung hat fich nabaı 


Aus dem modernen Stalien. 271 


verdoppelt: aber die Campagna ift immer ftiller, bder, menjchenleerer getworben. 
Inmitten eines Landes, da3 an liebervölferung leidet, in welchem der Mangel 
an Lebensunterhalt jährlich Hunderttaufende über den Ocean treibt, dehnt ſich 
um die Hauptjtadt eine Wüſte aus, die für mehrere hunderttaufend Menichen !) 
Raum bieten könnte, während ihre ftändige Bevölkerung, nad) der amtlichen 
Volkszählung von 1881, fi) auf wenige hundert Verwalter und Hirten bejchränft. 
Wenn die von Sombart mitgetheilte, unglaublich) geringe Zahl von 764 ftändigen 
Bewohnern richtig ift, jo meift die Gampagna von Rom eine Bevölkerungsziffer 
von 0,264 Menichen auf den Quadratkilometer auf (Deutichland 82, Italien 94, 
Merico 5): ein Saß, der an Niedrigkeit etwa dem der Pampas von Argen- 
tinien gleicht. 

Als die Urſachen diejes umerhörten Zuftandes hat man ſeit langer Zeit 
theil3 die natürlichen Bedingungen der Gampagna, theils ihre vechtlich-politifchen 
Verhältniffe zu betrachten fi) gewöhnt. Die Sombart'ſche Schrift tritt den 
Nachweis an, daß Beides unrichtig if. Die Bodenbeichaffenheit der Gampagna 
ift zufolge ihrer geologifchen Structure und ihres Waſſerreichthums eine günjtige; 
neben dem fetten Alluviallande de3 Tiberthal3 und am Mteeresftrande findet ſich 
vorwiegend guter Mittelboden, der feine Spur von Erihöpfung zeigt, wie denn 
überhaupt die Anficht, als ob Südeuropa abgewirthichaftet und feiner Berjün- 
gung fähig jei, durch die glänzenden Entgegnungen Unger's, Hehn's, Theobald 
Fiſcher's u. U. als endgültig widerlegt angejehen werden fann. Für die Game 
yagna findet Sombart noch immer den Ausſpruch Columella’3 richtig: „Non 
fatigatione et senio sed nostra inertia minus benigne nobis arva respondent.“ 
Ebenſowenig jet das Klima der Campagna ihrer Wiederbebauung ein wirkliches 
Hinderniß entgegen. Zwar ift ein großer Theil ihres Gebiet3 von fiebererzeugen- 
der Malaria heimgefucht. Allein die neueren Forſchungen über die Urjachen und 
dad Weſen der Malaria haben dargethan, daß fie von der Cultur oder Nicht: 
culture de3 Bodens gänzlich) unabhängig ift; nicht nur auf den römiſchen und 
apulifchen Steppen, jondern auch in dem blühenden Garten der Campagna felix 
um Neapel, in den fruchtbaren Gefilden der Poniederung jchleicht dies Gefpenft 
umber: nach den Ergebniſſen des großen Werkes von Sforza und Gigliarelli 
„La Malaria in Italia“ (Roma 1885) ift mehr al3 die Hälfte der gejammten 
besperifchen Halbinfel von diejer Krankheit inficirt. Man darf als munmehr 
feftgeftellt betrachten, daß intenfiver Anbau nicht genügt, um die Gegend vom 
Fieber freizuhalten; daß aber andererjeit3 die Malaria keineswegs eine von 
Kleinbauern ausgeübte intenfive Cultur hindert. Für irrig hält Sombart ferner 
die Meinung, als jei die Verödung der Campagna dur die Mißwirthſchaft 
der Päpfte verſchuldet; er ftellt ihr die Thatſache gegenüber, daß große Theile 
des früheren Kirchenſtaats unter den Päpften vortrefflich angebaut geblieben find, 
und daß andererjeits ähnliche Zuftände wie in der Campagna auch in anderen 
weiten Gebieten Italiens vorliegen, die niemal3 zum Kirchenſtaate gehört haben. 
Endlich weift der Verfafjer nad, daß auch die rechtliche Gebundenheit des Bodens 
nicht als die Urſache des Uebels angejehen werden könne, und daß die weſentlich 


— — 


') Sombart's Ziffer, zwei Millionen, muß auf einem Drud: oder einem Rechenfehler beruhen. 


272 Deutſche Rundſchau. 


auf völlige Befreiung des Grundbeſitzes von rechtlichen Schranken der Veräuße— 
rung gerichtete Maßnahmen der italieniſchen Regierung das Elend der Campagna 
nicht beſeitigt, ſondern eher noch verſchlimmert haben. 

Die wahre Urſache der immer weiter um ſich greifenden Verödung der 
Gampagna liegt nad) Sombart’3 Ueberzeugung darin, daß die Steppenwirthichaft, 
welche dort in immer größerem Umfange und unter allmäliger Zurüddrängung 
des Aderbaues betrieben wird, von rein privatwirthichaftlihem Standpunkt jo 
wohl für die wenigen Großgrundbefiter, denen der Boden gehört, als für die 
noch Kleinere Zahl von Großunternehmern, durch welche er bewirthichaftet wird, 
ebenjo ficher als mühelos und einträglich ift. Sombart führt den Nachweis, dat 
nad dem Wirthihaftsbetriebe, wie er fi in der Gampagna im Wejentlichen 
bereit3 jeit dem fünfzehnten Jahrhundert ausgebildet hat, die Schafzucht, die 
den allergeringften Aufwand an Menſchen- und Betrieböfapital erfordert, am 
rentabelften, die Großviehzucht Schon weniger einträglich, der Ackerbau endlich, 
dev die meifte Menſchen- und Kapitaläkraft verlangt, am menigften gewinn- 
bringend ift. Die Pacht, welche die Großgrundbefiter der Campagna von ihren 
faft ausſchließlich als Schafweide benußten Latifundien beziehen, erreicht an- 
nähernd den Durchſchnittsſatz der preußiichen Domänenpadten; jie ift jeit hun— 
dert Jahren um mehr ala hundert Procent geftiegen und gewährt in vielen "Fällen 
dem Eigenthümer eine Bodenrente bis zu zehn Procent, während andererjeits 
die Großpächter, die mercanti di Campagna, für ihr ſehr geringes Anlagefapital 
eine vollfommen ausreichende Verzinſung herauswirthichaften, weil ſich die Pro— 
ductionsfoften bei größerer Ausdehnung des Betriebes immer mehr einjchränten 
lafjen. Der Großpächter Ferri, deffen Haus feit lange die Latifundien der Fa— 
milie Torlonia pachtweife bewirthichaftet, kommt auf einer Fläche von 15,000 
Hektaren mit einem Perfonal von 15—20 Menſchen aus. „Vom privatöfono- 
mijchen Standpunft aus betrachtet ift die Campagnawirthſchaft eine der idealften 
Productionsweifen, die ſich, zumal heutigen Tages, denken laffen; in dev That, 
während beinahe da3 ganze übrige Wefteuropa in einer fürchterlichen Kriſe 
ächzt und ftöhnt, während allerort3 die Pacht» und Kaufpreife ſinken, die Sub- 
hajtationen von Gütern an der Tagesordnung find, floriren Eigenthümer und 
Pächter der römiſchen Campagna; für fie ift es die befte der Welten, in welcher 
fie leben.“ 

Dem gegenüber ftehen nun die ungeheuren volkswirthſchaftlichen und focialen 
Schäden und Gefahren, die fi) aus dieſem Zuftande ergeben: volf3wirtbichaft- 
lid die unerhörte Vergeudung weiter Gebiete, welche, ftatt durch intenfive Gultur 
zur Vermehrung des Nationalvdermögens nußbar gemacht zu werden, nun im 
Dienfte einiger weniger Eigenthümer das kiimmerliche Futter für eine verhältnif- 
mäßig geringe Zahl von Schafherden hervorbringen; jocial aber die Aus 
beutung des ländlichen Proletariats, welches als Hirten, Wald» und Feldarbeiter 
die Tagelohnarbeiten zu verrichten hat, und deifen materielle Lebenshaltung jeit 
einem Bierteljahrtaufend jo gut wie unverändert geblieben, ja jogar in biefem 
Zeitraum ſich vielfach verjchlehtert hat. In diefen Feldtagelöhnern, die jahraus 
jahrein, vom Hunger getrieben, aus den Bergen Umbriens, Samniums und 
Apuliens in die Steppen und Sümpfe der Campagna hinabfteigen, um dort 


Aus dem modernen Stalien. 273 


acht Monate lang bei kärglichem Lohn und jchlechtefter Nahrung größtentheils 
obdachlos oder in Erbhöhlen und Ruinen niftend harte Arbeit zu verrichten, 
erblicken einfichtsvolle Italiener die wahre Italia irredenta; dieſe körperlich 
geiftig und moralijch verfommenen Mafjen aus ihrem Elende und ihrer Ver— 
wilderung zu exlöfen, bezeichnen fie ala ein Werf der Barmderzigkeit und als 
eine patriotifche Prlicht. 

Die Maßregeln, welche die italienische Regierung bisher zur Abftellung 
diefer jchweren Mebelftände ergriffen hat, werden von Herrn Sombart einer 
ſcharfen Kritif unterzogen. Sie find bisher im Wejentlihen auf die Verbeſſe— 
rung des Klimas — dur Austrocdnung von Sümpfen, Regelung von Wafjer- 
läufen — und auf Befreiung des rechtlich) gebundenen Bodens? — Aufhebung 
der Fideicommiffe und Majorate und Einziehung de3 Beſitzes zur todten Hand — 
gerichtet geweſen und, da hier der Urſprung des Uebels nicht liegt, wirkungslos 
geblieben. Richtiger hat die im Jahre 1880 eingeſetzte Commiſſion für Agrar- 
reformen gejehen; fie erkannte, daß nur durch feftes und zielbewuhtes Eingreifen 
in den cireulus vitiosus der bisherigen Campagnawirthſchaft wirkſame Abhülfe 
zu erreichen ift, und fie ſchlug zu diefem Zwecke die Anfiedelung von Kolonien 
in vier ftaat3jeitig anzulegenden Dörfern im Bereiche der Haupteifenbahn vor, 
denen der Staat den Grund und Boden durch Enteignung der bisherigen Befiber 
fowie das nöthige Betriebafapital vorzufchießen hätte. So wäre der Anfang zu 
einer Durchbrechung jenes Ringes, welchen das Privatinterefie der Großgrund— 
bejiger und Großpächter jeht den Forderungen des öffentlichen Wohls entgegen= 
jegt, gemadt und die Bahn einer pofitiven Agrarreforın eröffnet worden, tie 
fie durch den hochverdienten Vater de3 Verfaſſers unferer Schrift bekanntlich bei 
uns zur Stärkung des bäuerlichen Grundbeſitzes mit Erfolg bejchritten worden 
ift, und wie fie die preußiiche Staatsregierung, unter Wiederaufnahme eines von 
den größten brandenburgifch= preußifchen Herrichern eifrig betriebenen Landes— 
culturtverkes, durch die Anlegung deutſcher Bauernfolonien in den polnijch reden- 
den Zandestheilen neuerdings kraftvoll eingefchlagen hat. Allein die Abneigung 
ber leitenden Kreiſe Italiens gegen ftaatlihe Eingriffe in den natürlichen Lauf 
der Privatwirthichajt ift zur Zeit noch jo groß, daß jene pofitiven Vorſchläge 
ion in den Gejeßentwurf über die Verbefferung des agro romano nur arg ver: 
ftümmelt bineinfamen, in dem Geſetze jelbft aber ganz bejeitigt wurden. Da 
das Boniftcationsgejeß jtatt des nothtwendigen feften Eingriffs im Mejentlichen 
an dem quten Willen der Privatintereffenten appellirt, fo wird e8 nad Herrn 
Sombart’3 Ueberzeugung vorausſichtlich ebenjo wirkungslos bleiben wie feine 
Vorgänger. 


III. 


Eine ungemein bezeichnende Yluftration der Nothlage, in welcher ein be= 
trächtlicher Theil der italienischen Landbevölkerung fich befindet, zugleich aber 
eine dringende Aufforderung zu wirkſamer und jchleuniger Abhülfe ift in dem 
Anjchwellen der Auswanderung gegeben, bie in ben leßten Jahren einen ganz 
ungewöhnlichen Umfang angenommen hat. Der Menjchenreihthum Italiens und 


der Mangel an Induſtrie haben allerdings ſchon ſeit Langer Sn einen Ueber⸗ 
Deutihe Rundſchau. XVI, 8. 


274 Deutſche Rundſchau. 


ſchuß an Arbeitskräften zur Folge gehabt, der im Auslande Verwendung zu 
ſuchen genöthigt war. Indeſſen pflegten die Italiener, welche im Frühjahr ihre 
Heimath verließen, um in Italien, Oeſterreich, Deutſchland, der Schweiz als 
Erdarbeiter, Steinhauer, Maurer u. ſ. to. Arbeit zu ſuchen, im Beginn der rauhen 
Jahreszeit nach Haufe zurüczufehren, ihre Familien blieben überhaupt dort zurüd; 
es fand alfo keine eigentliche Aufgabe, fondern nur ein zeitweiliges VBerlaffen des 
Vaterlandes ftatt; die Fälle wirklicher Erpatriirung gehörten zu den Selten- 
beiten. Jetzt hat fich das Verhältnig völlig anders und ungünftiger geftaltet. 
Während die temporäre, innereuropäifhe Auswanderung jener Arbeitägänger 
fich jeit zehn Jahren auf gleicher Höhe — durchſchnittlich 90,000 Köpfe — er- 
halten hat, ift die permanente, überjeeifche Auswanderung, welche ſich vor zehn 
jahren auf 20000 Perſonen beſchränkt hatte, im Jahre 1886 auf 85000, 1887 
“auf 127000, 1888 fogar auf 196000 Perſonen geftiegen. Sie hat damit eine 
Höhe erreicht, hinter welcher Deutichland mit feiner um fünfzig Procent ſtärkeren 
Gejammtbevölferung und feinem altgermanifchen Wanbertriebe bei weitem 
zurücbleibt. 

Unter den überjeeifhen Auswanderern, die Italien im Jahre 1888 verliehen, 
haben ſich 68000 Berfonen weiblichen Gejchlechts und 48000 Kinder unter vier- 
zehn Jahren befunden; diefe Ziffern beftätigen, daß zwar noch immer die Zahl 
der arbeitsfähigen Männer, welche ihr Glück jenjeit3 des Oceans zu ſuchen ent» 
Ichloffen find, weitaus übertviegt , daß aber die Familien nachzufolgen beginnen, 
und es läßt dies für die Zukunft auf ein weiteres erhebliches Wachsſsthum der 
Auswanderung jchließen. 

Das Hauptziel der italienifchen Auswanderung ift Südamerila. Das fub- 
tropiiche, an Italiens Himmel erinnernde Klima der Südprovinzen Brafiliens 
und der Republifen am Rio de Ia Plata jcheint dazu den ftärkjten Anreiz zu 
geben. Bielleiht tragen auch die Stammverwandtichaft mit den dort heimiſchen 
Abkömmlingen der lateiniſchen Raſſe, fowie die Handeld- und Schiffahrtäbezie 
hungen, die namentlich zwischen Ligurien und jenen Strichen von Alters her 
beitanden haben, dazu bei. Der Nizzarde Joſeph Garibaldi war ſchon vor 
1848 in Uruguay anfällig geweſen und hat bekanntlich an den Unabhängigkeits— 
kämpfen dieſes Freiſtaats ala Soldat und als Seemann lebhaft Theil genommen. 
Grunderwerb, dad A und O für die meiften Einwanderer, ift in den fruchtbaren 
Gebirgathälern von Südbrafilien und auf den unermeßlichen Ebenen von Argen- 
tinien nicht ſchwieriger und nicht ungünftiger zu erhalten, als in den Weftftaaten 
von Nordamerika. 

So ſchwimmt denn alljährlid in fteigendem Maße eine Fülle von italies 
niſcher Volkskraft und Betriebfamkeit von der Apenninenhalbinjel über den 
Dcean nad) jenen fernen Geftaden, um lohnendere Arbeit, veichlicheren Lebens: 
unterhalt und freieren Grundbefiß zu fuchen. Das ftatiftiihe Bureau in Rom 
hat mit der ihm eigenen Sorgfalt eingehende Exrmittelungen über diefen Ziveig 
der Bewegung der Bevölkerung veranftaltet und veröffentlicht, in denen u. N. 
der Verſuch gemacht worden ift, den Beweggrund feftzuftellen, welcher die Aus— 
wanderer in die fremde zieht. Unter den Antworten, welche auf den amtlichen 
Fragebogen extheilt worden find, kehrt feine jo häufig wieder als miseria und 





Aus dem mobernen Stalien. 275 


mancanza di lavoro, namentli in den Provinzen, wo bie ländliche Austwande- 
zung übertviegt. 

Die Landbevölkerung ift es überhaupt, die den weitaus ftärkften Antheil 
zu diefem Menſchenſtrome hergibt. Unter den Auswanderern des Jahres 1888 
werden in der amtlichen Statiftif fiebzig Procent als agricoltori aufgeführt; 
es ift nicht unwahrjcheinlich, daß auch don dem Refte, unter welchem 11,79 Pro- 
cent ald Erd» und Feldarbeiter, 5,20 Procent al3 Maurer und Steinhauer be 
zeichnet find, ein nicht unbeträchtlicher Theil zur Landbevölferung gehört. Unter 
den Aderbauern überwiegt die Zahl der Theilpächter und Lohnarbeiter, jedoch 
werden einzelne Provinzen genannt, in denen auch Grundbefißer in beträchtlicher 
Menge auswandern. Aus der Provinz Udine wanderten im Jahre 1887 unter 
2600 Aderbauern 900 ländliche Eigenthümer aus. 

Eine jo auffallende Erſcheinung, wie dies plößliche und fteigende Anfchwellen 
der überfeeifchen Auswanderung, erregt naturgemäß in Italien das Yebhaftefte 
Aufjehen und beihäftigt in hohem Maße die öffentliche Meinung. Bereits im 
vorigen Jahr hat Luigi Bodio, der hochverdiente Leiter der italienijchen Statiftit, 
in der Academia dei Lincei, der vor hundert Jahren auch Goethe als Mitglied 
angehört hat, einen Vortrag über dieſes Thema gehalten, in welchem er auf die 
Dichtigkeit der italienischen Bevölkerungsziffer, ſowie auf den jehr hohen Ueber— 
ihuß, den die Geburten über die Todesfälle in Italien alljährlich ergeben, hin— 
wies, indeffen anerkannte, daß die Auswanderung in einzelnen Theilen Italiens 
eine beunruhigende Höhe erreicht hat. — Unterm 30. December 1888 ift ein 
neues Austwanderungsgejeß erlaffen worden, da3 an dem Grundjaße der Aus— 
wanderungsfreiheit jefthält, aber dem Mißbrauch und der Ausbeutung dieſer 
Freiheit durch die Ausſchließung aller nicht conceffionirten und fcharfe Ueber— 
wachung der concejftonirten Vermittler entgegenzutreten jucht. 

Inzwiſchen hat Edmondo de Amicis, der fih nicht nur in feinen bes 
liebten Reiſeſchilderungen, jondern auch in feinen Darftellungen aus der Heimath 
ala ein feiner Beobachter zeitgenöffiichen Lebens bewährt hat, in feinem neueften 
Buche „sull’ Oceano* die italienische Auswanderung zum Gegenftande einer um— 
faffenden Studie gewählt. Er beichreibt von der Einjchiffung in Genua bis 
zur Landung in Montevideo die Fahrt des „Galileo“, eines mächtigen Dampfers, 
der, außer den Geſchäfts- und Vergnügungsreifenden der erften und zweiten 
Gajüte, ſechzehnhundert Zwiſchendeckpaſſagiere, faft lauter italienische Auswanderer, 
übers Meer führt. Sn ficheren Strichen wird die Scenerie gezeichnet und das 
Perſonal vorgeführt: im Salon und den Gabinen de3 Hinterded3 die elegante 
Gejellichaft, die der Zufall hier zufammengebradht Hat und durch vier Wochen 
unausgefeßter Tiſchgenoſſenſchaft und gleihmäßiger Beihäftigungslofigkeit in 
mehr oder minder intime Beziehungen bringt; auf dem Vorderdeck das dichte 
Gewimmel der Auswanderer, eine ftändige Volksverſammlung, in welcher alle 
Leiden und Leidenschaften, alle Abneigungen und alle Triebe der unterften Be— 
völkerungsklaſſen auf das mannigfaltigfte vertreten find und im bunteften Wechfel 
zur Anſchauung gebracht werden. inmitten beider Dede als neutrale Gebiet 
die Kommandobrüde de3 Schiffscapitäns, eines ligurifchen Seebären, der indeſſen 
ſchließlich dem Verdachte nicht entgeht, für Frauenhuld zugänglich zu fein, und 

18* 


276 Deutjche Rundſchau. 


die Gabine des Polizeikommiſſars, dem die jchwierige, mit unendlicher Geduld 
und unvergleihlidem Humor gelöfte Aufgabe obliegt, Ordnung und Ruhe unter 
diefen müßigen Menfchenmaffen aufrecht zu erhalten. 

Von dem Beobachtungspoften der Commandobrüde aus, den Gommiljar 
als Rathgeber zur Seite, muftert unfer Reifender jein Studienfeld. Das Ded 
de3 „Galileo“ gleicht einem Dorfplage, auf dem ſich die ganze Bewohnerſchaft 
zufammenfindet, um fitend, liegend, ftehend, auf: und abgehend den Sonntag« 
vormittag zu verbringen. Wie dort auf der Kicchentreppe und vor den Haus: 
thüren, jo Haben fic Hier längs des Schiffsbords, zwiſchen Waarenballen und 
Taubündeln allerorten Gruppen von Familien und Bekannten niedergelaffen; 
man frühftüctt, man bejorgt die Kinder und auch die eigene Toilette mit italie: 
niſcher Unbefangenheit, man tauſcht die Schieffale der Vergangenheit, die Eleinen 
Erlebniffe der Gegenwart mit füdlicher Plauderluft aus. Bei ruhigem Meer 
und unter dem Einfluß der friichen Seeluft echeitern fi die Gemüther; es 
werden Scherze laut, einige hübſche Mädchengefichter finder Iebhafte und ftille 
Bewunderer, die Charakterköpfe einzelner Originale machen ſich bemerflich. Allein 
im Ganzen ift der Anblick doc ein trüber. Es ift dem Beobachter nicht zweifel— 
haft, daß ſich unter diefer großen Zahl von talienmüden Viele befinden, denen 
e3 daheim ganz leidlich ergangen ift und die nur austwandern, weil fie mit ihren 
bejcheidenen Berhältniffen unzufrieden find; viele Andere laſſen leichtſinnige 
Schulden und einen fchlechten Ruf zurücd und gehen hinüber, weil fie drüben ein 
günftiges Feld für ihre Trägheit und ihre Unredlichkeit zu finden hoffen. Aber 
den Meiften ift es auf die Stirn gejchrieben, daß fie der Hunger aus dem 
Lande treibt, nachdem fie Jahre lang unter dem Joche des Elends für ihr Da- 
jein gefämpft haben. Hier fieht Amicis Tagelöhner aus Vercelli, die mit Weib 
und Kind in härtefter Arbeit e3 nicht fertig bringen, fünfhundert Lire im Jahr 
zu verdienen, wenn fie überhaupt Arbeit finden; dort jene Tyeldarbeiter aus dem 
Mantuaniſchen, die in der falten Jahreszeit die Schwarzen Schneden am Poufer 
jammeln und kochen, um nicht im Winter Hungers zu fterben,; Reisbauern aus 
der lombardijchen ZTiefebene, die für eine Lira täglich ihren Schweiß vergiehen, 
unter der Gluthjonne, das Fieber im Leibe, mitten in den giftigen Ausdünftungen 
des Sumpfwaſſers; Landleute aus Pavia, die, um ihre Hypothekenzinſen aufe 
zubringen, von Jahr zu Jahr in ſchlimmere Schuldfnecdhtichaft gerathen, aus der 
fie Schließlich nur der Tod oder die Flucht befreien kann. Mit Trauer nimmt 
er ferner jene Galabrefen wahr, die ihren Hunger mit einem faft ungenießbaren 
Gebäck aus wilden Linfen zu ftillen gewohnt find und in ſchlechten Jahren das 
Unkraut de3 Feldes, ja rohe Weideniproffen verzehren ; jene Ochjentnechte aus 
der Bajilicata, die, ihr Adergeräth auf dem Nüden, tagtäglich fünf oder ſechs 
Miglien gehen müffen, um an ihre Arxbeitsftätte zu kommen, und die mit dem 
Vieh zufammen auf dem nadten Erdboden in jämmerlichen Steinhütten ohne 
Kamin und ohne Feuerung übernachten; nicht wenige von jenen Stleingrund- 
befißern, die durch die Laft der ihnen auferlegten Steuern viel ſchlimmer daran 
find, als die Proletarier und die fih in Behaufung und Ernährung den ärgften 
Entbehrungen ausjeßen, um fi) und ihre Familien durchzubringen. 


Aus dem mobernen Stalien. 277 


Es wird unſerem Reiſenden nicht leicht, mit einzelnen Auswanderern Ge— 
ſpräche anzuknüpfen oder gar ihr Zutrauen zu gewinnen. Denn die Meiſten 
von ihnen ſind von einem tiefen Mißtrauen gegen Alle erfüllt, die in ihren 
Augen zur Klaſſe der „Herren“, zu ihren Unterdrückern gehören. Noch lebt in 
ihrem Gedächtniß zu friſch all die Plage, die ſie von Gutsherren, Großpächtern, 
Verwaltern, Advokaten, Gerichtsvollziehern zu erdulden gehabt haben. Als 
de Amicis ſich unter das Gedränge auf dem Vorderdeck miſcht, ruft eine höhniſche 
Stimme hinter ihm: „Platz für die Signori!“, und als er die Hand ausſtreckt, 
um ein Kind zu ſtreicheln, entzieht es ihm die Mutter mit einem finſtern Ge— 
ſicht. „Und ich mußte mir ſagen, daß dieſer Groll nicht unverdient iſt, daß an 
dem Elend dieſer Menſchen unſere Hartherzigkeit und Selbſtſucht einen großen 
Theil der Schuld trägt: ſo viel gleichgültige Grundbeſitzer, die ihr Landgut 
lediglich auf einige Tage zum Vergnügen beſuchen, und die das kummervolle 
Daſein ihrer Arbeiter für nichts als hergebrachte Klagen utopiſtiſcher Humani— 
tärier halten; ſo viele Pächter ohne Rückſicht und Gewiſſen, ſo viele Wucherer 
ohne Herz und Rechtsſinn; der ganze Schwarm von Unternehmern und Geſchäfts— 
leuten, die auf jede Weife verdienen wollen und die ihr Vermögen einer endlofen 
Reihenfolge von Knickereien, von Kleinen Betrügereien und Kleinen Gaumereien ver: 
danken, dem Bilfen Brot und den Heller, den fie denen entziehen, die nicht jatt 
zu efjen haben. Und wenn mir die anderen Taufende in den Sinn famen, die fi 
Baumwolle in die Ohren fteden, ſich die Hände reiben und vergnüglich trällern, 
dann muß ich mir jagen: das Elend ausbeuten und verachten ift ſchlimm, aber 
noch ſchlimmer ift e3, fein Vorhandenfein abzuleugnen, während es vor unjerer 
Thür jammert und Ichluchzt.“ 

Im Bewußtjein diefer füdlich Iebhaft empfundenen Mitſchuld bleibt unfer 
Verfaſſer gelaffen und nachſichtig, und e3 gelingt ihm allmälig mit einzelnen 
weniger Verbitterten befannt zu werden und Einblick in ihre WVerhältniffe zu 
gewinnen. Im Schiffslazareth erzählt ihm ein alter, magerer Bauer aus 
Pignerolo, daß fein jüngerer Sohn vor drei Jahren nad) Argentinien gegangen 
und ihm jeßt, nad) dem Tode des älteren, einen Bon zur Ueberfahrt geichickt 
hat; er weiß jeine Adreffe nicht, aber er hat einen Zettel mit dem Namen eines 
Dorfes in der Provinz Buenos: Ayres, wo er bei einer piemontefifchen Familie 
bleiben joll, bi3 ein Landsmann, ein Kamerad fommen wird, um ihn zu feinem 
Sohne, „'I me Carlo“, zu geleiten. — In einem Winkel des Vorderdecks hat 
fi) eine Bauernfamilie aus der Umgegend von Meftre eingeniftet, Mann, rau 
und drei Kinder (ein viertes wird mährend der Meberfahrt geboren). Sie hätten 
von einem Onkel ein Stüdchen Land geerbt, gerade genug, um durchzukommen, 
wenn man tüchtig arbeitet. Aber er hatte eine Hypothek darauf und dann die 
Steuern, und gleih im Anfang zwei ſchlechte Jahre, kurz, er und feine rau 
hatten fi fünf Jahre lang abgequält, waren aber immer mehr in Schulden 
gerathen, dabei nur Polenta und immer Polenta, und die Kinder fielen täglich 
mehr ab, endlich Krankheiten: e allora, buona notte, So Hat er denn verkauft, 
was er noch hatte, und will num jehen, ob man nit in Amerifa mit qutem 
Willen und fleißiger Arbeit weiter fommen kann. — Ein Anderer erzählt, tie 
man ihn abgerebet hat, Stalien zu verlaffen, wie man ihn auf alle die Ver— 


278 Deutiche Rundſchau. 


befferungen Hingewiejen hat, die für die Landwirthichaft geplant werben, die 
Bonification in Sardinien und den Maremmen und im agro romano, die Spar» 
öfen und bie Darlehnafaffen: „aber was hilft mir das, se intanto mi non magmo, 
wenn ich inzwijchen nichts zu effen habe?“ 

Die italienifche Kritit hat de Amicis vorgeworfen, daß fein Bild zu einfeitig 
und zu büfter jei; fie vermißt die Heiterkeit und den Frohſinn, die den Italiener 
auch in trüber Lage jelten ganz verlafjen, und fie hat auch an der Compoſition 
des Buches, das abwechjelnd Scenen aus dem Salon und Erlebnifje aus dem 
Zwiſchendeck vorführt, Manches auszufegen gefunden. Es mag dahin geftellt 
bleiben, wie weit diefe Ausftellungen zutreffen. Ohne für alle Einzelheiten ein- 
treten zu wollen, darf die Schilderung der Auswanderer, aus der hier nur ein- 
zelne Züge mitgetheilt werden konnten, im Großen und Ganzen al3 treue AWieder- 
gabe eigener Erlebniffe anerkannt werden. Sie wird die Verdienfte, welche ihr 
Autor fih um jein Vaterland erivorben hat, vermehren, wenn fie dazu beiträgt, 
auch in Italien da8 Gefühl der Verantwortung zu ftärken, welche den Mohl- 
habenden und Gebildeten an dem Looſe der Armen und Ungebildeten überall 
obliegt. 





Zeitgenöffifhe Hedankenſtrömungen. 





Bon 
Lady Blennerhaffett. 





Wer in diefen Tagen Umſchau Hält in den höher gelegenen Regionen der 
zeitgenöffiichen Literatur, den mag ein Gefühl beichleichen, ähnlich” demjenigen, 
da3 den Zeugen eines furdhtbaren Naturereigniffes, eines Erdbebens etwa, oder 
einer verheerenden Hochfluth, mit ahnungsvollem Grauen erfüllt. 

Jahrzehnte hindurch Hat der Forſcher, dad Mikroſkop oder das Scalpell in 
der Hand, dem verborgenen Walten der Natur im unermeßlichen Reich des un- 
endlich Kleinen nachgeſpürt, die Atome in Atome zergliedert, die Stoffe aufgelöft, 
da einen Mikrokosmos gefunden, wo die Vorfahren nur das Stück Kohle oder 
den Steinblod vor fich jahen. Der Entdeder hat untergegangene Welten erweckt, 
da3 Erſcheinen eines Himmelskörpers am vorgeichriebenen Punkte vorausgejagt, 
geheimnißvolle Kräfte entjeffelt, au dem anfcheinend todten Material die jchlum- 
mernde Seele hervorgeloct, die räumlichen Entfernungen jo gut wie überwunden, 
die menschliche Stimme über den Ocean, den lichten , elektriſchen Funken bis in 
die Tiefen der Erbe geleitet. Und in dem Maß, als die fichtbare Welt reicher, 
die Kraft fih unerſchöpflicher erwies, iſt das Univerfum relativ erreichbarer, 
annäherungsweife verftändlicher getvorden. Wir wiſſen heute, daß Welten, Die 
in nächtlicher Pracht unferem Auge erkennbar find, aus chemiſchen Subftanzen 
beftehen, gleich denjenigen, aus welchen der Erdball zufammengejeßt ift, daß fie 
denjelben phyſiſchen und mechanifchen Gejegen gehorchen wie dieſer, daß die 
Möglichkeit des Dafeins für menſchliche Organismen keineswegs auf unjeren 
Heinen Planeten bejchräntt ift. Nach wie vor vermag die Einbildungskraft die 
Entfernungen nicht zu faffen, die zwijchen diefen Welten liegen, aber die Wiſſen— 
ihaft hat Mittel gefunden, fie zu beftimmen; fie iſt ebenjo verſchwenderiſch mit 
dem Raum tivie mit der Zeit geworden; ihre Hypothefen jchreden vor feinen 
Zahlengrößen mehr zuxüd, und auch vor ihrem Blie find die Jahrtaufende wie 
ein Tag. 

Diefelben eifernen Gejee, welche von Anbeginn die Welt regieren, find, fo 
wird von allen Seiten behauptet umd wiederholt, auch im Menſchen thätig. 


280 Deutſche Rundſchau. 


Ebenſowenig wie in den uns umgebenden Phänomenen iſt in unſerem individuellen 
Leben Spielraum für den Zufall, für das Eingreifen eines höheren Willens. 63 
ift Alles vorausbeftimmt, nothiwendig, unabänderlid. Ebenſo wie der Stein 
oder die Pflanze, oder der Wurm, der fich unter feinem Fuß krümmt, ift der 
Menſch geworden, nach unzähligen Anläufen der Natur, nach ungemefjenen Zeit: 
räumen, nad unabläffig ſich wiederholenden Zerftörungsproceffen und immer 
neuen Combinationen, nad) einem Durcheinanderſchütteln der Würfel, bis endlid 
die Nieten verſchwanden und in diefem ungeheuren Ringen um das Sein der 
Treffer, der Herr der Schöpfung blieb. Aber die Bedingungen ſeines Daſeins 
find die Bedingungen feines Entſtehens. Es ift für immer vorbei mit jeinen 
anthropocentrifhen ZTraumgebilden, vorbei mit der Vorausjegung, als ob um 
diefes Atom ein Univerfum gravitirte, vorbei mit dem kindiſchen Wahn, als ob 
jemal3 ein menjhliches Flehen, ein irdiſches Gebet etwas über die kosmiſchen 
Kräfte vermocht hätte, deren Schaffen wir belaufchen,; al3 ob jemals ein fterb: 
liher Wille in das Räderwerk unerbittlicher Geſetze eingreifen fonnte, das 
nimmermehr, jeit Menjchengedenfen, aus dem Takt gelommen, nimmermehr durch 
eine wahrnehmbare höhere Einwirkung beeinflußt worden ift. Ebenjo gewiß 
ala daß, im Lauf von Neonen, die Mifroben Continente bauen und zerftören, 
oder in der Spanne weniger Secunden da3 Dafein hervorrufen und wieder ver- 
nichten, ebenjo gewiß find die Erfcheinungen, die wir als Krankheit und Ge 
fundheit, als Leben und Tod bezeichnen, bloße Wandlungen, die den gleichen 
Urſachen ihr Entftehen verdanken, und die ihrerjeit3 twieder auf die Zuftände zurüd- 
wirken oder fie direct hervorrufen, die wir bis jet ald Aeußerungen eines höheren, 
leelifchen Lebens zu betrachten getwohnt waren. Nicht etwa dem Herzen ober 
dem Gefühl, dem Phyfiologen nur ift es erlaubt, zu jagen, was Liebe ſei, umd 
durch welches Spiel der Organe, durch welche Regungen der Nerven oder der 
Sinne die Empfindungen eine Caliban von denen eines Hamlet ſich unter- 
jcheiden. Eine faum wahrnehmbare Veränderung in den Windungen des Gehirns, 
ein faft unmerkliches Mehr oder Weniger von der grauen Maſſe, in welcher die 
Gedanken fich erzeugen und ſchlummern, die leiſeſte Verlegung der eleftrijchen 
Batterie, die fie in und vermittelt, und ftatt eines General Gordon, eines Pater 
Damien3 wird der Welt ein Troppmann oder Jad the Ripper geboren werben. 

Kaum mehr als fünfzig Jahre find es her, daß die quite Eleine Brigg the 
Beagle, mit Charles Darwin an Bord, 1836 von ihrer 1831 begonnenen Fahrt 
um die Welt zurückkehrte. Dann dauerte es weitere zwanzig Jahre, bis die 
Beobachtungen über den Urſprung der Arten zur Evolutionstheorie auf Grund 
der natürlichen Zuchtwahl ſich entwicelten. Wie jo manche andere große Ent- 
deckung Hat auch dieſe fich faft gleichzeitig dem geiftigen Auge zweier Forſcher 
enthüllt. Man weiß, twie zwölf Monate vor dem Erjcheinen der „Origin of 
Species“ Charles Darwin die langfam in jeinem Geiſte gereifte Theorie mit 
neidlojfem Erjtaunen in einem Manufeript von Wallace wiederfand. Auch dieſes 
weiß man, weil er es jelbjt erzählt, daß er lange in Zweifel blieb, ob er ber 
Welt die Ergebniffe einer epochemachenden Entdeckung oder einer bloßen Mono— 
manie zu bieten habe. Das Urtheil darüber ift nicht lange zweifelhaft geblieben. 
Auf wiſſenſchaftlichem Gebiete find ſeitdem Groberungen gemadt und Siege 


Zeitgendjfiiche Gedantenftrömungen. 281 


errungen worden, deren Tragweite und Bedeutung dem Stimmberechtigten 
nicht geringer als die Reſultate der Gedankenarbeit von Darwin erſcheinen. 
Allein eine Rückwirkung gleich der ſeinigen auf die Anſchauungen der Zeitgenoſſen 
hat feine derjelben geübt. Vergebens haben die Größten, die Urtheilsfähigſten 
zur Vorficht gemahnt, vergebens ift der Damm des Pofitivismus auch gegen 
gewagte Hypotheſen und unberehtigte Schlußfolgerungen aufgerichtet worden. 
Der Cynismus der ftet3 vorhandenen materialiftiichen Strömungen und Tendenzen 
auf der einen, die Hoffnungslofigkeit der nicht weniger in der menschlichen Natur 
begründeten und fat gleichzeitig mit dem Darwinismus wieder zum Syftem 
ausgebildeten peſſimiſtiſchen Lebensauffaffung auf der anderen Seite verſchworen 
fi, um dem Erfolg die Wege zu bahnen, der die Einen von den unerträglich 
gewordenen Feſſeln des Pflichtgebots befreite, den Anderen wie die Probe der 
längft geftellten Rechnung erichien, nach welcher Alles, was befteht, werth ift, 
daß es zu Grunde geht. 

Auch dieſes iſt verftändlih und im Welen der Dinge begründet, daß eine 
folche Lebensauffaifung in dem Maße fühner und zuverfichtlicher auftritt, als fie 
an wifjenfchaftlicher Berechtigung und intellectueller Vertiefung verliert. In die 
Sprade des Winfelblattes und der pornographiichen Literatur übertragen, er— 
fcheint der Kampf um das Dafein als die wilde Sättigung der Begierde, die 
Rechtfertigung des brutalen Inſtinctes, die Freiiprehung der Sünde von ber 
Verantwortung, des Verbrechens von der Strafe. Höher oben, in einer gebildeten 
Sprache und mit jubtilerer Sophiftif wiedergegeben, wechjelt zwar der Ausdrud, 
die Doctrin aber bleibt diejelbe. Sie verwirft die religiöfe Disciplin, untergräbt 
alle ethifchen Begriffe, erichüttert die Erziehung in ihren Grundfejten und ftellt das 
Geſetz in Frage. Ihr kämpft, jpricht fie zum Priefter, zum Lehrer, zum Erzieher, 
nicht etwa gegen einen freien, bewußten Willen, jondern gegen einen blinden und 
eben deshalb unmiderftehlichen Inſtinct, der ftatt des Selbftbeftimmungsrechtes 
de3 Individuums nur das Bedürfniß der Gattung fennt. Ihr vermeßt euch, 
im Namen einer Gottheit zu ſprechen, die nicht exiftirt, eine Moral zu predigen, 
die ihr erfunden habt, und da3 Joch fittliher Verpflichtungen uns aufzuerlegen, 
die unfere beſſere Erkenntniß von heute in Vorurtheil, Eitelkeit, Menſchenfurcht 
und Aberglauben zergliedert. Ihr beruft euch auf die Vergangenheit und Enechtet 
die Natur: wir verwerfen die Erfahrung und befreien die Zukunft. Sie wird nur 
wiſſen, nit glauben, jede Autorität ablehnen und für jede eurer Behauptungen 
den wiſſenſchaftlichen Beweis von euch fordern. Dann werdet ihr das cerebrale 
Thänomen, den Intellect, nicht mehr mit dem Schattenbild eurer Phantafie, 
der Seele verwechſeln, und den ftärkften aller Triebe al3 das erkennen, was er 
ift, als die Manifeſtation des einen, unbewußten Willens zum Zweck der Fort— 
pflanzung des Geſchlechtes. Wie die Pflanze oder das Thier, jo ift der Menſch 
ihm unterworfen. Wie feinen Magen, jo erhält ex feinen Charakter fertig mit 
auf die Reife, und e3 iſt an der Zeit, die Gefängniffe in Spitäler zu verwan— 
deln und ftatt des Henkers den Arzt zu rufen. Er wird euch jagen, daß, was 
ihr ald Verbrechen bezeichnet, nichts Anderes als eine Krankheit ift, ein Ergebniß 
des Zufalls und der Heredität, die mit dem Blut auch das Laſter oder die 
Tugend in die Adern gießt und mit dem Bewußtfein der Schuld auch den Be— 


282 Deutſche Rundſchau. 


griff der Neue aufhebt, bis von ber ſittlichen Verantwortung des Ethikers und 
des Theologen kein anderes Reſiduum zurückbleibt, als der pathologiſche Fall. 


L 

Wer geneigt wäre, diefe Auffaffung der Dinge parteiifh und die aus ihnen 
gezogenen Schlußfolgerungen ungerechtfertigt zu finden, der nehme einen der 
piychologiichen Romane des Tages, etwa „Le diseiple“* von Paul Bourget zur 
Hand. Dort rechtfertigt Robert Greslou feine Niedertracht durch den Hinweis 
auf „Die Theorie der Leidenfchaften“ und „Die Anatomie des Willens“, zwei 
Werke jeines Lehrers, Adrien Sirte, die laut herausſagen und wiſſenſchaftlich 
zergliedern, was auch der letzte der Verbrecher vor ſich ſelbſt zu verbergen ſucht. 
Dder er jchlage eine der großen engliſchen Revuen, das „Nineteenth Century“ 
zum Beifpiel, auf, und leſe, wie Würdenträger der Kirche und de3 Staates, 
voran Mr. Gladftone, es nicht verichmähen, neunzehnhundert Jahre religiöfer 
Bildung und Enttwidelung, chriſtlicher Gedankenarbeit und Liebesthätigfeit alles 
Ernftes gegen eine Dame in Schub zu nehmen, die für gut gefunden hat, die 
Leetüre einer Anzahl von Werken der deutichen Hiftorifchen Kritik in einem drei» 
bändigen Roman zu veriwerthen. Die Gentralfigur diefe® Romans, — die her: 
gebrachte Bezeihnung „Held“ ſei mit Abficht vermieden, denn fie würde in diefem 
Tall Klingen wie eine graufame Ironie — die Gentralfigur alfo, Robert Elsmere, 
Geijtlicher der anglifanischen Kirche, geräth durch Zufall in die Bibliothek eines 
englifchen Sonderling3, unterliegt widerftandslos den dort angehäuften, in Deutid- 
land geichliffenen Waffen gegen das Chrijtenthum, für welches Niemand als das 
Ewig-Weibliche in Gejtalt jeiner Gattin plaidirt, und beſchließt die Conſtruirung 
einer Religion der Zukunft, ganz nad) dem Recept von Renan: 

„Die beiden fundamentalen Säbe des Glaubens, Gott und bie Unfterblichkeit, find rationell 
nicht zu beweilen, obwohl fi aud; nicht behaupten läßt, dab fie abjolut unmöglich find. 
Der Religion gegenüber bleibt die logische Stellung des Denters dieſe, fich fo zu verhalten, als 
ob fie wahr wäre. Man muß handeln, ala ob Gott und die Seele exiftirten. Damit tritt bie 
Religion in die Reihe jener zahlreichen Hypotheſen, wie der Aether, die eleltrifchen, caloriichen, 
luminofen und nervofen Fluida, wie dad Atom felbft, von welchen wir wohl willen, daß es nur 
Symbole, nur bequeme Mittel zur Erllärung ber Phänomene find, und bie wir dennoch aufrecht 
erhalten. Gott, bie Welt in Folge tieffinniger Berechnungen erfchaffend, ift eine recht rohe 
Formel; aber die Dinge tragen fich ziemlich fo zu, als ob das wirklich ſich ereignet hätte. Als 
felbftändige Subſtanz gedacht, ift die Seele nicht vorhanden, und dennoch ändert das am Kauf 
ber Dinge wenig. Keiner menichlichen Bereinigung ift jemals eine überirbifche Botfchaft zur 
geflommen; tropdem ift die Offenbarung eine Metapher, beren die Religionsgeſchichte nicht ent» 
behren fann. Das ewige Paradies, das bem Menſchen veriprochen wurbe, erweift fich ala Täufchung, 
und doch müfſen wir handeln, ala ob es beftände, und diejenigen, die nicht daran glauben, müſſen 
Diejenigen, die daran glauben, an Güte und Hingebung übertreffen... ..... Das Endergebuik ift 
biefes: das Vorhanbenfein eines dem Univerfum überlegenen Bewußtjeins ift viel wahrfcheinlicher, 
ala die individuelle Unfterblichkeit. In Bezug darauf haben wir feinen anderen Grund für unlere 
Hoffnungen, ala die wahricheinliche Vorausfekung von der Güte de3 höchften Weſens. Alles wird 
ihm eines Tags möglich fein. Hoffen wir, er werde bann auch gerecht fein wollen und ben 
jenigen, bie den Eieg bes Guten förberten, das Gefühl und das Leben zurüdgeben. Es wird das 
ein Wunder fein. Aber das Wunder, das heit das Eingreifen eines höheren Weſens, melde 


jet nicht ftattfindet, fann eines Tags, wenn Gott bewuht geworden ift, der normale Zuftand bei 
Univerfums fein.“ 








Zeitgenöffifche Gebantenftrömungen. 283 


Dieſes Citat von Renan ift einem Aufſatz entlehnt, der unter dem Namen 
„Examen de conseience philosophique* im vorjährigen Auguftheft der Revue des 
deux mondes abgedrudt ift. In diefer Form find die Denkrefultate des franzöſiſchen 
Gelehrten demjelben Publicum zugänglich gemacht, das eben noch den geiftvollen 
Roman von Paul Bourget lad, oder den „Robert Elsmere“ von Mrs. Humphrey 
Ward durchblätterte; und ebenfo mühelos, wie im erjteren jeine Ethik, im Leßteren 
jeine Theologie, kann e8 vom größten lebenden Profaiften der lateinischen Race 
feine philoſophiſche Weltanſchauung beziehen. 

Es kann nit Wunder nehmen, wenn jehr viele Leute gegen diefe Art, die 
folgenſchwerſten und entjcheidendften Probleme zu behandeln, proteftiren zu müſſen 
glauben. Sie erjcheint ihnen, wenn auch nicht ftet3 al3 ein Aergerniß, jo doch 
nod immer al3 eine Thorheit, und Renan insbeſondere hat in den lebten Jahren 
den Vorwurf der Frivolität geradezu provocitt. 

Der Einwand, daß nur Jgnoranten oder Gegner der freien Forſchung über: 
baupt einen ſolchen Proteft erheben, ift durchaus nicht ftihhaltig. Denn einerjeits 
hat Niemand eindringlicher als der gewifjenhafte Forſcher, Darwin jelbit, vor 
der Gefahr gewarnt, bloße Hypotheſen al3 feitgeftellte Thatſachen auszugeben, 
oder da, wo die Thatjachen feftjtehen, vorjchnelle oder zu weitgehende Folgerungen 
aus denjelben zu ziehen. Sein Syſtem, jagt er ausdrücklich, „hat feinen Auf- 
ihluß über den Urſprung geiftiger oder vitaler Kräfte zu geben”. Andererjeits 
ift die Wiffenichaft weder für die Logik der Abbesse de Jouarre nod) für die 
Pſychologie von Nana verantwortlid. Sie hat im Gegentheil allen Grund, fi) 
bon beiden loszuſagen, gerade jo wie fie fi) weigert, dem Unverſtand des 
Patienten Morphium oder Arjenik in die Hand zu geben. 

Dagegen wird die Wiſſenſchaft jederzeit der ernften Polemik Rede ftehen, die 
den Werth der Thatjachen anerkennt und bereit ift, fich ihnen zu unterwerfen, 
unter der einzigen Bedingung, daß ein Zweig der Erkenntniß nicht dem anderen 
geopfert werde, daß der Forſcher, deſſen Gebiet die Phänomene des organischen 
Lebens find, das Recht des Forſchers nicht beftreite oder beeinträchtige, der ſich 
den metaphyſiſchen und pſychiſchen Problemen zugewendet hat. Das ijt der 
Standpunkt des Franzoſen Brumetiere unter Anderen, der, ebenfalls in der Revue 
des deux mondes, auf die ſchönen Worte von Pascal fich ftüßt: 

„Aus allen Körpern aufammengenommen wird man niemald auch nur einen kleinen Ge: 
banken gewinnen; das ift unmöglich und zu einer andern Ordnung gehörend. Aus allen Körpern 
und Geiftern wird man niemals eine Regung ber Liebe (charitas) gewinnen; das ift unmöglich 
und zu einer andern, der übernatürlichen Ordnung, gehörenb.” 


Und im Anſchluß an Pascal fährt der franzöfiiche Denker fort: 

„Dhne jebe beleidigende Abficht ſei es geſagt: feit jechstaufend Jahren haben fo viele und 
große Fortichritte uns um feine Spanne weiter in ber Kenntniß unſeres Urſprungs, unferes 
Weſens, unſeres Zieles gebradyt. Das genügt. Denn jo lange die Wiffenfchaft keine Antwort 
auf diefe Fragen zu geben hat, wirb fie, wie die Religionen, die fie erjeßt zu haben glaubt. nichts 
Anderes als ba3 fein, was Pascal „un divertissement“ nennt, d. h. ein Auskunftsmittel, das ung 
verhindern foll, an bie einzigen fyragen zu denken, die von höchfter Wichtigkeit für uns find, das, 
mit anderen Worten, ben Schmerz unferer Seele täufchen fol. Unter ſolchen Bedingungen ift 
aljo nicht zu befürchten, daß die Wiſſenſchaft jemals zur Univerfalherrfchaft gelange, die man ihr 
jedesmal veripricht, wo fie den Eilmagen durch die Eifenbahn, oder die Colchicumtinctur durch 
das Salicyl erfeht. In biefer Hinficht beruhigt, erfreue ich mich, wie ed einem Bürger bes 


284 Deutiche Rundſchau. 


neunzehnten Jahrhunderts geziemt, ber neuen Hülfsmittel, die fie mir verſchafft (auf bie Geiahr 
bin, daß dieſe, wie man verfichert, mir das Leben verkürzen), meiner Machtbefugnifle, die fie er 
weitert, der Zerftreuungen, mit welchen fie mich faft erbrüdt, und ber weiten Horizonte, bie fie 
mir eröffnet.“ 

Diefelbe Meberzeugung von der Berechtigung nicht nur, fondern von der 
abſoluten Unentbehrlichkeit des Fefthaltens an einer höheren Ordnung der Dinge 
durchdringt die Gedankenarbeit des Engländer William Samuel Lily. Er iſt ſich 
wohl bewußt, wohin die Strömung geht, wie der Gedanke mehr und mehr der 
herrichende werde, daß die Wiſſenſchaft allein Gewißheit verſchaffen könne, daß 
außerhalb diejer rationalen oder experimentalen Gewißheit überhaupt keine jolde 
eriftire und daher jchließlih die Vernunft und der mathematijche Beweis bie 
Welt zu regieren beftimmt jeien. 

Morauf Damon, ber, in einem Dialog des bedeutendften Buches von Lilly, 
„Ancient Religion and modern Thought“, da3 Wort für den Verfaſſer führt, 
unter Anderem diejes entgegnet: „Es gibt Argumente, die, obwohl an fi nicht 
entjcheidend, dennoch eine folche Getwißheit erzeugen, daß die Menſchen willig für 
fie in den Tod gehen. Dieſe Gewißheit ift nicht bloß das Refultat eines ethiſchen 
Proceſſes: ein anderes Element tritt dazu, und da3 ift daß Element des Glaubens.‘ 
„D, meine prophetiſche Seele,“ ruft Pythiad, Damon’ Antagonift,, und citirt 
Rabelais: „Il n’est rien creu si fermement que ce qu’on scait le moins, nf 
gens si assurez que ceux qui nous content des fables.“ Alles hat zwei Seiten, 
lautet Damon’3 Ertoiderung, und das ift die Kehrſeite einer großen Wahrheit. 
Am Unumftößlichften fteht uns feft, was wir niemals beweiſen fünnen. „Nichts,“ 
fagt Plato, „ift jo gewiß und Har für mich al3 diejes, daß ich jo gut und edel 
fein muß, als in meinen Kräften fteht, e8 zu fein.” Dieſe Ueberzeugung ift 
nicht da3 Ergebnig eines Vernunftſchluſſes. Die Schönheit des Sonmenunter 
ganges, die Heiligkeit de8 Schmerzes, der Edelmuth eines Regulus find Dinge, 
die ſich nicht beweiſen lafjen. 

63 iſt mit anderen Worten der Standpunkt, den Newman ſich angeeignet und 
in dem Sab ausgedrüdt hat, daß Wahrjcheinlichkeit die Führerin durch das 
Leben fei. 

— logiſche Folgerung iſt nicht die Methode, die uns befähigt, zur Gewißheit über 
das Concrete zu gelangen, aber nicht minder gewiß iſt, welche Methode dazu eigentlich nothwendig 
ſei. Es iſt dies die Cumulation von Wahrſcheinlichkeiten, unabhängig von einander, und aus 
ber Natur und ben Umſtänden des bejonderen Falles fich ergebend, welcher ber Prüfung unterliegt; 
Mahricheinlichkeiten von zu feiner Unterjcheidung, ala daß jede für fich den Ausſchlag geben könnte, 
von zu fubtiler und umfchreibender Art, um fie in Syllogiämen umzufeßen; zu zahlreich und 
unter fich verfchieden, um zu einer ſolchen Uebertragung, felbft wo eine jolche möglich wäre, ſich 
zu eignen... ,. 63 ergibt fi) aus der Natur der Sache und aus ber Zujammenfekung de 
menfchlichen Geiftes, daß Gewißheit dad Ergebniß von Argumenten ift, die buchftäblich, und nicht 
ihrem vollen, implieite miteinbegriffenem Sinne nad) genommen, bloße Wahrjcheinlichkeiten find“ ') 

Nicht minder gewiß ift diejes, und hier überlaffen wir dem oben genannten 
Autor das Wort: wenn das Chriftenthum, wenn der Katholicismus insbejondere 
bernunftwidrig wären, wenn fie nur unter der Bedingung, von unjeren Vernunft: 
und Verſtandeskräften ihnen gegenüber weiter feinen Gebrauch zu machen, an 
genommen werden könnten, dann wäre ihr Schicjal befiegelt, und es bliebe nichls 


— — 


Y John Henry Newman, „Grammar of Assent“, 281, 286, 324. 





Zeitgenöfiiche Gedankenftrömungen. 285 


übrig, ald die Todten ihre Todten begraben zu laffen. Und hier kann ſich der 
Verfaſſer die Schönen Worte eines Glaubens und Berufsgenoffen aneignen: 

‚Ih bin ein Chrift, und gerade heute, wo das Belenntniß jo Vielen ala ein jchimpfliches 
gilt, will id e8 um fo lauter ablegen. Zugleich aber bin ich ein Gelehrter, und ala folder 
fenne ich feine chriftliche oder nichtchriftliche Wiſſenſchaft. Wiſſenſchaft ift für mich nur eine, und 
fie bedarf feiner andern Bezeichnung ala ihren Namen, der alle theologifchen Fragen, als ihrem 
Gebiete fern liegend, ausſchließt, und deren Diener alle aufrichtigen, gewiffenhaften Forſcher find, 
weil Glaubens fie jonft auch jein mögen“ ?). 

Das Gebiet, welches der Verfaffer von „Ancient Religion and modern 
Thought“ fich gewählt hat, ift das der vergleichenden Religionswiffenichaft, welcher 
durch Veröffentlichung dev „Sacred Books of the East“ ein zugleich jo mächtiger 
und jo lange exjehnter Impuls gegeben worden ift. Auch ohne unter die Bahn— 
brecher zu zählen, ift es möglich, auf diefem Felde viel des Wiſſenswerthen und 
Anziehenden zu Tage zu fördern, wenn ein geiftreicher Beobachter wie diejer 
fi der Aufgabe unterzieht, und insbejondere der Imftand Hinzufommt, dag ihm 
der Orient durch einen langen Aufenthalt in Indien nahe getreten und lebendig 
geworden ift. Auch auf ihn Hat jene tieffinnige, beichauliche und betrachtende 
Religion den Zauber ausgeübt, der ſeit num mehr als zweitaufend Jahren uns 
gezählte Millionen Menjchen ihr gewonnen hat. Noch heute, wo fich nicht mehr 
behaupten läßt, daß der Buddhismus Profelyten gewinnt, kann ebenſo wenig 
nachgewieſen werden, daß er in Verfall begriffen ift. Lilly leitet feine Studie 
über die Offenbarung des Cakia-Mouni mit einer foldhen über Schopenhauer 
ein, defjen Bedeutung als Denker wie als Schriftfteller er um jo mehr anerkennt, 
al3 er die are Schönheit der Proja des deutfchen Philofophen in der urſprüng— 
(ihen Form zu würdigen vermag. Daß er gegen dieſe Philojophie jelbft jeine Be— 
denten hat, braucht nicht exft gejagt zu werden. Auch ihm ift die Wahl nicht zweifel— 
haft zwiſchen dem orientalischen Weifen, deſſen Lehre noch) heute zwiſchen vierhundert- 
fünfzig bis fünfhundert Millionen Seelen beherrſcht und begeiftert, und dem abend» 
ländiſchen Sonderling, der an jeinem gewohnten Tiſch im Ruſſiſchen Hof zu Frankfurt 
niemal3 auch nur eine Tafelrunde von Anhängern unter der Bedingung um ſich 
bereinigt hätte, fie zur praftifchen Uebung defjen, was ex predigte, zu verpflichten. 
Die Lehre Schopenhauer’3, bemerkt Lilly, ift dev Buddhismus ohne die Poefie 
und ohne die Metaphyſik desſelben, das heißt ohne die beiden Elemente, welche 
die Quellen feiner Größe und feiner erftaunlichen Triumphe find. Der Buddha 
ift fein philanthropifcher Philoſoph, ex ift der legendäre Erlöſer, der jo viele 
Menjchenalter hindurch in den Herzen feiner Gläubigen gelebt und in denjelben, 

wenn auch nur in unbeftimmten und halb verwiſchten Zügen, ein Bild feiner jelbit, 
einen Schatten wenigſtens feiner außerirdiſchen Majeftät zurüdgelafien hat. 

Vom Weſen des Buddhismus urtheilt der Verfaffer, daß er weder ein Theismus 

no ein Atheismus oder ein Antitheismus fei. Sein Grundgedanfe ift dev von 
der Unrealität der Erſcheinungswelt. Seine höchſte Weihe und Bekräftigung 
wird ihm durch jene unfichtbare, überfinnliche Wirklichkeit verliehen, die wir 
unter dem, und von allen Seiten einhemmenden Staubgewande nicht gewahr 
werden. Eher könnte man den Buddhismus als Pantheismus bezeichnen, weil 
er den Nachdruck auf die Einheit alles Lebens legt. Bon der höchften, ſchöpfe— 


ı) Francois Lenormant, „Les Origines de l’Histoire d’apr&s la Bible“. 


286 Deutſche Rundſchau. 


riſchen und perſönlichen Gottheit der großen ſemitiſchen Religionen dagegen weiß 
er nichts. Die unbeſchränkte Macht, die Götter und Menſchen beherrſcht, iſt das 
Geſetz, das unerbittlich gerechte, abſolut vollkommene Geſetz. 

Wie die Religion des Zoroaſter, jo war auch der Buddhismus eine Reform, 
zugleich im ethifchen und im religiöfen Sinne, auf den Begriff des „Karma“ 
oder den Willendact, durch welchen die Secle ihr eigenes Schidjal enticheidet, und 
auf die verfchiedenen Wiedergeburten begründet, durch welche dieſes Schickſal fich 
vollzieht. Allein der Buddhismus war noch mehr als dad. Er war ein Zurüd- 
greifen auf ältere und reinere Elemente. Wie dem Berfaffer der „Upanishads“, 
jener Perle der heiligen Bücher der Hindus, gilt aud) dem Buddha als Höcjftes 
dag Wiſſen, die Hare Erfenntniß nicht des Abjoluten, jondern der Facta, aus 
welchen jeine dreifache Welt befteht, fowie des wahren und eigentlihen Sinnes 
des höchſten Geſetzes und der Uebereinſtimmung mit ihm. 

Der Buddha verfündet mit allem Nahdrud die freie Selbitbeftimmung und 
moraliſche DWerantmwortlichkeit des Menſchen. Bon einem ähnlichen hohen Zuge 
zeigen fi) die Avefta und Veda durchdrungen, beide der Wiberhall einer und der— 
jelben Stimme, der Abglanz de3 gleichen Gedanfens. Beider Quelle ift die Religion 
der gemeinjamen Vorväter der Jramanen und der Hindus, jene indosiramanifche 
Religion, die auf den beiden Grundbegriffen beruhte, daß in der Natur ein Geſetz 
waltet und ein Kampf ftattfindet, aljo einem latenten Monotheismus und einem 
unbewußten Dualismus. Bor faum mehr als einem Menjchenalter wurde Schopen- 
bauer durch eine jchlechte lateinische Meberjehung des Franzoſen Anquetil-Duperron 
mit den „Upanishads“, der myjtifchen Doctrin und Religionsphilofophie dev Veda 
befannt; auf diefem Wege hat er fie zu einer der Grundlagen feines Syftems 
gemacht, und Jahrzehnte jpäter hat Dar Müller in Bezug darauf von Schopen- 
hauer geurtheilt wie folgt: „Es möchte jcheinen, al3 ob er fi von der Be— 
geifterung für das weniger Bekannte zu weit habe fortreißen laſſen . . . Für 
die dunklen Seiten ber „Upanishads“ ift er blind und vor den lichten Strahlen 
erviger Wahrheit in den Evangelien verſchließt er wifjentlich fein Auge.“ 

Seitdem diefe Worte gejchrieben worden find, ift eigenthümlicheriveile ein 
ähnlicher Vorwurf gegen Mar Müller felbft erhoben tworden, und zwar bei 
Anlaß feines Beitrags zu den Gifford Leetures, in welchem er jeinem eigenen 
Geftändnig nach nichts Geringeres bezweckt, al3 in Bezug auf feine Stellung zu 
der religiöfen Frage überhaupt das Werk jeined Lebens zufammenzufafien. Wei 
diejer Gelegenheit ift die Deutung, die Mar Müller vom Weſen des Buddhis— 
mus gibt, in den Spalten der Londoner „Quarterly Review“ gleichfalls als durch— 
aus unzutreffend bezeichnet und ihm Folgendes entgegnet worden: 

„Der Bubdhismus, als philofophifches Syſtem betrachtet, ignorirt die Gottheit vielmehr, ala 
er fie verneint. In der Praris erkennt er, nach dem Zeugniß aller Stimmberedhtigten,, viele 
Götter und viele Gebieter an. Wir bejchreiben Nirwana als eine Vernichtung, der Bubdhifl er- 
wartet es als das fommende Paradies. Wir bezeichnen dieſe Religion ala ein weites Gebiet des 
Atheismus, allein bie dreihundert Millionen bubdhiftifcher Bekenner find ihrer eigenen Neberzeugung 
nad durchaus nicht ohne Gott in der Welt. Die moralifche Macht des Buddhismus mit feiner 
Lehre vom Karma bietet viele ber wejentlichen Kennzeichen einer Religion, insbefonbere, wen man 
biefe mit der Thatſache der Deification des Buddha felbft zufammenhält. Auch Hier trifft die 
Aeußerung des Profefjor Thiele zu. In feinem Grundriß der Geſchichte der Religionen fagt er: 
„Die Behauptung, daß es Völker oder einzelne Stämme gibt, die feine Religion befifen, beruht 


Zeitgenöffiiche Gedantenftrömungen. 287 


entweder anf einer ungenauen Beobachtung ober auf einer Verwechſelung ber Begriffe. Kein 
Stamm, fein Volk unter allen bis jet befannten entbehrt des Glaubens an das Vorhandenfein 
höherer Weien, und Reifende, welche ein folches Vorhandenfein in Abrede ftellen, find Hinterher 
durch die Thatjachen ihres Irrthums überführt worden.” 

Don ſolchen Controverſen mag der Laie den Eindruck behalten, daß es auch 
heute no, mit allen Hülfamitteln des modernen Verkehrs, nach der Gedanken— 
arbeit und den Beobadjtungen von Jahrhunderten der Forſchung, durchaus 
nicht leicht ift, fich ein zutreffendes Bild von und jo fern liegenden geiftigen Zu— 
ftänden und Verhältniffen zu machen. Wie mächtig aber der Zauber gerade der 
bubdöhiftiichen Weltanſchauung auf die ihr anfcheinend jo fremde abendländifche 
Gultur wirkt, jo daß es jcheinen möchte, als ſei eben die ftille, beſchauliche Ruhe, 
die der Lehre des indischen Werfen zu Grunde liegt, dem raftlojen Thätigkeits— 
trieb de3 Dccidentalen zum unmiderftehlichen,, inneren Bedürfniß geworden, das 
beftätigt unter Andern eine höchft merkwürdige Studie von Emile Bournouf, 
der, unter dem Titel „Der Buddhismus im Abendlande”, in der Revue des deux 
mondes vom 15. Juli 1888 erichienen, durchaus nicht an die gelehrte Welt, 
jondern an ein weitere, wenn auch gewähltes Publicum fi) wendet. In 
diejer Studie num wird der Buddhismus geradezu al3 die Umiverjalteligion, ala 
„das Gejeh der Gnade für Alle“ gefeiert, ohne Unterichied der Kafte, der Ab— 
ftammung, der Nationalität, der Farbe, des Geſchlechtes. E3 wird daran er— 
innert, daß die bubddhiftiichen Mönche den Brahmanen nicht weniger überlegen 
find, als die Chriften den Heiden, daß die freiwillige Armuth, die Ehelofigteit, 
die Demuth, die Nächftenliehe, die Brüderlichkeit, das Weſen ihrer Lehre und 
der Vorſchrift und Uebung ihres Lebens find. „Mie fol ih mich in Bezug 
auf die rauen verhalten?“ fragt der Lieblingsjünger den fterbenden Buddha. 
„Wenn fie jung ift,“ antwortet diefer, „jo nenne fie Schweſter; iſt fie alt, jo 
fage ihr Mutter!“ Bournouf verfolgt die Wege de3 Buddhismus vom Ort feines 
Urſprungs aus, jenen Thälern des Ganges in der Imgegend von Benares, von 
two jein Stifter die einundjechzig auserwählten Jünger auöfandte, um der Welt 
„den Buddha, das Gejeh, die Verſammlung“ zu verkünden. Er verweilt mit 
Vorliebe bei dem Gonftantin der neuen Lehre, dem weijen und in lebter Zeit 
jo vielgenannten König Acoka, defjen im Jahre 250 v. Chr. erfolgte Bekehrung 
die äußern Scicdjale der Lehre entſchied, und jchildert Hierauf, wie diejelbe 
durch die ſtark von ihr beeinflußten Eſſäer das vermittelnde Glied, gleihjam 
die geiftige Brüde, zwijchen den Nabbinen, den jüdifchen Gnoftifern, den 
Platonikern und Pythagoräern einerjeit3 und den Parſees und den Buddhiften 
andererjeit3 gebildet hat. Der Name jelbft der Eijäer, jchreibt Bournouf, be— 
deutet „Täufer“. Sie übten den Brauch de3 heiligen Bades, der Taufe, wie die 
Brahmanen und die Buddhiften; wie der Buddha und die Synagoge verurtheilten 
fie die blutigen Opfer, verfündeten fie die Gleichheit; fie verurtheilten die 
Sklaverei, beobachteten das Faſten, die Gütergemeinſchaft wie diefe. Die erften 
Chriſten, Johannes der Täufer, waren Eſſäer; Jeſus Chriftus „s’affile à eux*. 
Der Manichäismus ift ein effäiiches Reis, das dem ifraelitiichen Copulirungs— 
proceß zu entgehen geſucht hat. Seine letzte Phaje findet fid) bei den Albigenjern 
wieder, bei denen wie ein ferner Nachklang indiicher Vorftellungsart und Ge» 
danfenmwelt vernehmbar ift. In unferen Tagen hat der ausſchließlich jüdiſche Begriff 


288 Deutjche Rundſchau. 


eines einzigen, perjönlichen Gottes die Oberhand gewonnen: das bubddhiſtiſche 
Element der Liebe, der Charitas, Hat fich verhüllt. Seine Anziehungskraft und 
Berechtigung aber find nicht vermindert, nicht verloren gegangen. Zahlreiche 
Gemeinden, nicht nur in der abendländijchen Welt, jondern über dem Ocean, 
im modernften aller Staatsweſen, wirken in feinem Geifte fort. 

So hat fi im Jahre 1875 zu New-York eine jogenannte theojophiiche Ge 
ſellſchaft gebildet, twelche die Freiheit und Unabhängfeit des individuellen Strebens 
nah Wiflenihaft und Tugend verkündet. Das Gentralcomits der Gejelliait 
ift in Madras, und dev Präfident desfelben redigirt den buddhiftiichen Katechis— 
mus. hr ausgefprochener Zweck ift die Bekämpfung des Lafter3 und der Selbit- 
ſucht. Sie ftrebt nad Vereinigung und Unificirung der Religionen und zählt 
heute bereit3 158 Zweiggejellichaften oder Gantone. Sie kennt fein höheres Ziel 
al3 die jelbftlofe Erforichung der Wahrheit, die Begründung einer allgemeinen, 
über alle Länder und Völker ſich erſtreckenden Brüderlichkeit. Der Politik ift 
fie gänzlid fremd. In zweiter Reihe Hat fie fid) das Studium der arifchen und 
orientalijchen Religionen und Literaturen zum Zweck gejeßt. Ihre Organe find 
in Paris der „Lotos“, in London der „Lucifer”. Ihr gilt der Buddhismus 
nicht als eine Sefte oder eine Religion, fondern als eine moraliſche und intel- 
lectuelle Reform. Sie ift vor Allem die Reaction gegen den Kampf um das Dafein. 

Soweit Emile Bournouf. „Den Buddhismus mag er fennen, aber das 
Chriſtenthum, wenn er es überhaupt jemals kannte, hat ex vergefjen,“ meinte 
eine kluge Frau, nachdem fie den eben beiprochenen Aufjat gelefen Hatte. Die 
jelbe Quelle uralter Weisheit, die den inmitten der driftlichen Gultur aufge 
wachjenen Franzoſen in die immer noch halb verichlofjenen Tiefen des Orients 
lodte, hat einen modernen Reformator de3 Brahmaismus der hriftlichen Welt: 
anſchauung näher gebracht. Ueber ihn, den 1774 in Indien geborenen Rammo— 
hun Roy, unterrichtet am beiten Max Müller jelöft. 

„Sin Mann,“ jagt er, „ber in feiner Jugend ein Buch „Gegen die Jdolatrie in allen Re— 
ligionen“ jchreiben konnte, und ber jpäter in Haren Worten feinen Glauben an die göttliche Au— 
torität Chrifti ausgeſprochen hat, war ficherlich nicht geneigt, irgend etwas von bem heiligen 
Büchern feiner eignen Religion beizubehalten, e3 jei denn, baf er dort diefelbe göttliche Autorität 
vertreten fand, die er in ber Lehre Jeſu Chriſti wiedererfannte. Er verwarf die Purämas; die 
Autorität der Gejehgebung von Manu oder jelbft der heiligen Zerte der Vedas würden feine 
Ueberzeugung nicht erfchüüttert haben. Er war über alles diejes erhaben. Allein er fand im ben 
Upaniſhads und in ben fogenannten Bebänta etwas von allem Uebrigen durchaus Verſchiedenes. 
Etwas, das bewahrt zu werben verdiente unb ba3, recht verftanden, das Erbreich vorbereitete, in 
welchem allein bie wahre Religion, ja das wahre Chriftenthum in Indien Fuß faffen und ſich 
ausbreiten fonnte, fo wie es ſchon einmal auf Grund ber Philofophie bes Origenes und Eynefis 
der Fall war... .. Der Tod diejed wahrhaft großen und guten Mannes, ber 1833 in England 
erfolgte, war einer ber empfindlichften Schläge, die jemals bie Ausfichten auf die Zukunft in 
Indien trübten. Allein fein Werk, deſſen bin ich gewiß, ift nicht umfonft gethan worden. Wie 
ein Baum, deſſen erfte, frühe Schößlinge der Froft verbrannte, hat es andere, ftärfere Zweige 
getrieben, und in einer oder der andern Form, unter einem oder bem andern Namen wird @ 
wieder aufleben und dauern” !). 

E3 ift hier von Gedankenftrömungen die Rede. Während Rammohun Roy 
durch indifche Kosmogonien und Religionzfyfteme hindurch zum Glauben an 


1) F. Mar Müller, „The Upanishads“. Sacred Books of the East, Vol, I, Intro» 
duetion, LXIT- LXIV. 


Zeitgenöffiiche Gedantenftrömungen. 289 


Jeſus Chriftus den Weg fi) bahnt, ſprach Schopenhauer im Vorwort zur erften 
Auflage des Buches: „Die Welt als Wille und Vorftellung“ die Erwartung aus, 
der Einfluß der Sanskrit» Literatur auf unfer Denken und Leben werde nicht 
geringer fein, als es dereinft, im viergehnten Jahrhundert, die Wiederauferwedung 
griechiichen Geiftes gewefen ıft. Seitdem ift mehr al3 ein halbes Jahrhundert 
verftrichen, und obwohl buddhiftiiche Ideen einzelne geiftige Richtungen dev gegen= 
wärtigen abendländifchen Givilifation ohne Zweifel beeinflußt haben, ift feine Aus— 
fit vorhanden, ala ob unſere moderne Welt gejonnen ſei, in ihren herannahenden 
alten Tagen plößlich buddhiftiich zu werden. Es ließe fich vielmehr mit ungleich 
größerem Recht behaupten, daß die Weltanſchauung der Gegenwart dem diametral 
entgegengejeßten Pol zufteuert, demjenigen nämlich, defjen durchaus pofitiviftiichem 
Ideal nicht etwa das träumerifche Indien, ſondern das nüchterne China entſpricht. 
„Denn,“ tie ein gelehrter Kenner altchineſiſcher Literatur ſich ausdrückt, „die alten 
Chineſen waren lauter Diesfeiter, von einem Jenſeits wußten fie nichts; Himmel 
oder Hölle, Belohnung oder Beftrafung nad diefem Leben, davon ift nie die 
Rede“ '). Diefe Aeußerungen beziehen ſich auf die Lage der Dinge im Reich der 
Mitte vor viertaufend Jahren. Allein feit diefer Zeit hat fih, in Bezug darauf, 
nur wenig verändert. Als das gefuchte Muftervoll, dem die Vernunft als das 
Höchſte gilt, „ein Volk von Bauern“, erwedten fie die Betvunderung der Fran— 
zojen des achtzehnten Jahrhunderts. Nicht nur die Anhänger der phyfiokratifchen 
Doctrinen, ſondern alle gefühlvollen Herzen ſchwärmten für fie, und den Pariſern 
Ludwig's XV. wurden die Chinefen al3 Vorbilder gepriefen. Auch Hat jelbft- 
verftändlich in der Proceffion von Vertretern aller Völker der Erde, die Anacharſis 
Gloot3 der Conftituante vorführte, der weiſe Schüler des Lade nicht gefehlt, 
deſſen Rolle wohl ein in der Nähe wohnender Haarkünftler übernommen haben 
mag, weil ihm der Zopf am nächſten hing. 

Dann allerdings fam ein Rückſchlag. Zuerft entdedte man, „daß dieſes 
wunderbare Volt weder athmete noch ſich bewegte, noch überhaupt Iebte, daß 
jeine ganze Weisheit nichts Anderes erzielt hatte, als kunſtvolle Automaten zu 
ſchaffen. Zunächſt deshalb, weil dort der Menich eines fich jelbfl überlegenen 
Ideales beraubt ift”. Und hierauf, mit den peinlichen Erfahrungen, welche der 
Gultur des Weſtens von San Francisco bis tief nach Auftralien hinein in 
Bezug auf John Chinaman vorbehalten waren, traten noch andere, hier nicht 
näher anzugebende Gründe hinzu. Trotz Allem aber ift die von Gonfucius vor— 
gefundene und von ihm weiter ausgebildete Lehre, nach welcher der Menſch ur- 
iprünglich gut und alles Böje auf dev Welt die Frucht jchlechter Erziehung oder 
ſchlechter Gejehe ift, jo daß der Staat Heilend einzugreifen hat, von demjelben 
utilitarifchen Zug durchdrungen, der am Schluß diejes Jahrhunderts die moderne 
Weltanſchauung zu beherrichen droßt. 


!) Dr. Blath, „Zwei Sammlungen chinefiicher Gedichte.“ Situngsbericht der bayrifchen 
Alademie ber Wiſſenſchaften, 1869, S. 245. 
(Ein Schlukartifel im nächften Heft.) 


Deutſche Rundigau. XVI. 8. 19 


Franz Pingelftedt. 
Blätter aus feinem Nadlaf. 


—— — — 


Mit Randbemerkungen 
von 


Julius Rodenberg. 





IV. Der Ausgang der Stuttgarter Zeit. 


Die Zeit war ſtiller und die Welt ruhiger geweſen, als einmal, während 
jenes Ausflugs nad Holland, deſſen er in dem Brief vom 8. September 1845 
an feinen Vater Erwähnung thut und den er hernach in feinem „Jusqu'à la 
mer“ !) fo reizend bejchrieben, Dingeljtedt an einem Sommernahmittag im Hang 
vor dem Kaffeehauje jaß, von welchem aus der Blick auf den Buitenhof geht. 
Der Zufall Hat e3 gewollt, daß ich jelber, auf einer Reife nad) England, einen 
Tag dor dem 15. Mai 1881, an welchem mein unvergeglicher Freund feine Augen 
für immer ſchloß, an derjelben Stelle mich befand. Vor mir lag das alter 
graue Gemäuer, welches, mitten in der heut jo behaglichen, baum- und garten- 
reihen Refidenz, die düftren Zeiten des 16. und 17. Jahrhunderts zurüduuft. 
Erſt einige Tage jpäter, al3 die Todesnachricht in London mich erreichte, gewann 
mit jo vielen andren Reminiscenzen, welche grade da Iebendig wurden, ihre volle 
Bedeutung auch dieſe. Im Rückblick auf das nun abgefchloffene Leben, ward dies 
Stück Vergangenheit ein ſichtbares Theil meiner eigenen Erinnerungen an ihn; 
feine Schilderung belebte den wafler-umjchloffenen, feftungsartigen Bau mit jeinen 
mannigfadhen Flügeln, Stodwerten, Erkern, Winkeln, Brüden und Thorbögen, 
aus welchen Dingelftedt einft zwei Geftalten hervortreten jah, zwei Schatten: 
den de3 Statthalter der niederländiichen Union, des Oraniers, mit dem Bei: 
namen des Schweigjamen, und den des Großpenfionärs, Jan's von Dlbenbarne: 
veldt. Diefe Figuren, die der Einunddreigigjährige geſchaut, hat ex feftgehalten; 
der Eindrud war jo mädtig, daß er fich ſogleich vor feinem Auge dramatiſch 

!) Jusqu’ä la mer. Erinnerungen an Holland. Bon Franz Dingelftedt. Leipzig, J. I- 
Weber. 1847. — Erſchien zuerft in der „Novellen Zeitung” und ift in bie „Sämmtlichen Werte“ 
nicht aufgenommen. 


Franz Dingelftebt. 291 


geftaltete, wie e3 denn auch in feinen Reifenotizen von damal3 heißt: „Wenn 
Hugo Grotius und jeine Flucht ein Stoff für dad Gymnase dramatique in Paris 
wäre, jo fteht dagegen die Gedichte der Söhne Oldenbarneveldt’3 wie eine fertige 
Tragödie da, für deren Bearbeitung ich mir eine glüdliche Stunde und eine ge- 
Ihicte Hand wünſche“1). Diesmal blieben beide nicht aus, und ihnen, ſowie 
den Studien, welche Dingelftedt mit gewohnter Gewiffenhaftigkeit an Ort und 
Stelle machte und die fich, unter dem Niederjchreiben, zum vollftändigen Scenarium 
enttwidelten?), verdanken wir „Das Haus des Dldenbarneveldt, Trauerfpiel in 
fünf Aufzügen.” Es ift das einzige dramatifche Werk im hohen Stil, welches 
wir von Franz Dingelftedt befiten, — nicht von jenem gewaltigen Zuge, der 
über alle Bedenken fiegreich Hinwegreißt; in den Motiven nicht völlig ficher: die 
Gattin Wilhelm’ Tiebt deifen Bruder und opfert ihn doch, um ben ungeliebten 
Gemahl zu retten; nicht durchaus original: der Mtalaie Siad erinnert fehr an 
den Mohren in Schiller’3 „Fiesko“ — dennoch ein Stüc von theatralifch ftarker 
Wirkung, in zahlreihen Aufführungen erprobt, und, wenn man e8 als den An- 
fang einer dramatiihen Production betrachtet, voll großer Verheißungen für die 
Zukunft. Aber auch ihnen war Erfüllung verfagt. Außer dem allerliebjten 
Feitipiel zur Enthüllung der Weimarifchen Dichter-Standbilder „Der Erntekranz“ 
und den höchft verdienftlichen Bearbeitungen von Shafejpeare’3 „Sturm“, „Winter- 
märchen“ und „Königsdramen“, ſowie von Moliere'3 „Geizigem“ und „Figaro's 
Hochzeit“ von Beaumarchais, hat Dingelſtedt dev Bühne nichts weiter gegeben 
— und diefe Bearbeitungen jelbft entiprangen eher dem Bedürfniß des Directors, 
al3 dem des Dichterd. Auch hier Hat Dingelftedt mehr verſprochen, als gehalten, 
und abermals fragt man fich, wo, bei feiner unzweifelhaften Begabung, feinem 
ftarfen Willen und unermüdlichen Fleiß der Defect zu juchen fei, ber ihn immer, 
im legten Augenblick, beftimmte, den Teichteren Erfolg demjenigen vorzuziehen, 
der mit einer gewiljen Entjagung verbunden war? Das Tagebuch de3 Knaben, 
welcher fiegreih um die höchften Preife der Schule wirbt und zugleich fih am 
Gomödiejpielen ergößt, beanttwortet dieje Frage nicht oder läßt fie wenigſtens 
offen; aber wenn man das Gonvolut von Papieren in Dingelftedt'3 Nachlaß 
betrachtet, auf welches er mit Rothftift und in den großen Zügen feiner jpäteren 
Sahre: „Dramen-Stoffe” gejchrieben hat, dann hat man doch das Gefühl, ala 
ob er, mit einem halb fchmerzlichen, Halb jpöttiichen Lächeln, Abſchied nehme 
von den ſchönen und Hohen Träumen feiner Jugend. Und auch das war Reſig— 
nation, und eine größere vielleicht als die, welche den Abftand zwiſchen Wollen 
und Vollbringen ausfült. Denn Hier finden ſich vereint all’ jene dramatijchen 
Entwürfe, welche, zum Theil bereit3 in ziemlich ausgeführter Geftalt und ſchon 
vor diefer Stuttgarter Zeit angefangen, ihn weit über diejelbe hinaus bis in 
die Weimarer begleitet, und immer wieder, in längeren oder fürzeren Abftänden, 
beihäftigt haben: hHiftorifches Trauerjpiel, Tragödie, Schaufpiel, Luftipiel, Con- 
verjationd- und Volksſtück mit Gejang — Nichts hat er unverfucht laſſen wollen 
und nichts fertig gemacht. Die beiden Sujet3, welche ihm vor Allen am Herzen 





!) Jusqu'à la mer, S. 131. 
2) Daf., S. 131 —137. 


292 Deutiche Runbichau. 


gelegen und auf welche ex die meifte Zeit und Arbeit verwandt hat, find Milton 
und Andre Chenier — die große englifche und die große Franzöfifche Revo- 
lution. Daneben liegt, aber offenbar aus einer früheren Periode ftammend, ein 
Plan zu „Caglioſtro“, wie denn überhaupt, bei dem Fehlen jedes anderen 
ficheren Nachweiſes, die hronologifche Reihenfolge hier einzig aus den fuccejfiven 
Veränderungen der Handſchrift und gelegentlichen Erwähnungen gleichzeitiger Er⸗ 
icheinungen fi annähernd beftimmen ließe. Was aber diefen Blättern, welde 
die Spuren fo vieler Jahre tragen, einen ganz eigenthümlichen Reiz verleiht, ift 
der Umftand, daß Dingelftedt fie zur Begutachtung einigen Freunden mittheilt, 
von denen einer, der fih „G.“ unterzeichnet, wahrſcheinlich der Hofichaufpieler 
Grunert war, auf deffen Urtheil (laut den Tagebüchern) Dingelftedt viel gab, 
während die beiden Andren der Identität ihrer Perfon nach unzweifelhaft feit- 
geftellt werden fünnen: Eduard Devrient, der verdiente Gejchichtichreiber 
der deutſchen Schaufpielfunft und feit 1852 Leiter des Karlsruher Hoftheaters, 
der Eine, F. W. Hadländer, der Verfafjer einiger feiner Quftipiele, welche die 
beutjche Bühne heut noch zu ihren Repertoirftücden zählt, dev Andere. Die Zeit, 
in welcher dieſe Notizen gemacht worden find — Devrient jchreibt mit Blei: 
feder, Hadländer mit Tinte — kann nach den oben angedeuteten Merkmalen nur 
ganz im Allgemeinen al3 das Decennium vom Ende der vierziger bis zu dem ber 
fünfziger Jahre bezeichnet werden; doc kommt es darauf nidht an, um dieſe 
Blätter zu einem literariſchen Guriofum zu machen und bem vertraulichen 
Meinungsaustaufch dreier Männer Werth zu verleihen, welche jo vortrefflide 
Dramaturgen waren, wie Dingelftedt, Devrient und Hadländer. 

Wir beginnen mit Milton, welcher fi, nad mannigfacdhen Abwandlungen 
des Plans und de3 Titels, in dem legten Brouillon: „Ein blinder Seher, Schau: 
jpiel in fünf Aufzügen“ überjchrieben findet. „ft der Stoff nicht zu kitzlich im 
Augenblid und auf dem Hoftheater?” fragt Dingelftedt. Darunter jchreibt 
Devrient: „allerdings“. 

Dingelftedbt: „Sinb die Dramen, beren Helden in ber Literaturgefchichte ſtehen, nicht 
Nococo ?* 

Devrient: „Je nachdem.“ 

Dingelftedt: „Jamben oder Proja?“ 

Devrient: „Jamben.” 

Dingelftebt: „Wird bie hier nothwendige puritaniiche fyarbe nicht als Gopie ber 
temonftrantifchen bei Barneveldt erjcheinen ?“ 

Devrient: „Wenn der Stoff einmal angegriffen wird, jo darf man fi — mein’ id — 
vor allen möglichen Aehnlichkeiten nicht ſcheuen.“ 

Dom „Chénier“ haben wir drei Vorlagen: ein kurz gefaßtes Expoſé und 
zwei Scenarien mit dem veränderten Titel: „Ein Opfer der Zeit, Trauerjpiel in 
fünf Aufzügen,“ das erſte mit vollftändigem Perfonenverzeihnig und erheblid 
breiter ausgeführt als da3 zweite, welches in feiner knappen Faſſung die zum 
ersten gemachten Ausftellungen theilweife ſchon berücdfichtigt. 

Wir betrachten zunächft jenes. 

Dingelftedbt: „Doch wohl Jamben?“ 

Devrient: „Ich glaube nicht. Dieſe Zeit darf man dem Boben ber Wirklichfeit nicht 
entheben.“ 

j Dingelftedt: „Iſt diefe Zeit jchon wieder möglich auf ber Bühne?“ 


Franz Dingelftebt. 293 


Devrient: „Ich Halte fie überhaupt noch für zu früh, indeß käme es auf den Tichter an.“ 

Dingelftedt: „Sind die Dichter als dramatische Helden nicht Rococo?“ 

Devrient: „Der Dichter dürfte eben nur dem Menjchen ein jchöneres Golorit geben.” 

Dingelftedbt: „Iſt das Publicum unbefangen genug, um ein Gedicht Hinzunehmen, das fich 
feſt auf royaliftiiche Seite ftellt?* 

Devrient: „Das müßte e& doc nicht. Joſeph Chénier mühte doch die republitaniiche 
Idealität aufs Glängenbfte repräfentiren.” 

Dingelftebt: „Ter Brüder Bruch ſchließt den Aufzug. — Iſt das (ober fcheint es) Copie 
aus Barneveldt ?“ 

Devrient: „Die völlig verjchiebenen Motive werben die Aehnlichkeit ſchon ausſchließen.“ 

Der Gedanke, die franzöſiſche Revolution in dem Conflict der beiden Brüder 
darzuftellen, von denen Andre, der ältere, Girondift und Joſeph Convents— 
mitglied war, muß an ſich ein ſehr glüclicher genannt werden ; wenn freilich aud) 
beide Scenarien zeigen, daß Dingelftedt ji nur in den äußeren Umriſſen feines 
Trauerſpiels an die hiftorifchen Vorgänge zu halten gedachte, während namentlich 
die Figur feines Helden dem rührenden und idealen Bilde wenig gleicht, welches 
der hiſtoriſchen Wahrheit entiprochen Haben würde. Faſt jcheint ed, als ob 
Dingelftedt einige von den weſentlichen Zügen desjelben in tendenziöjer Abficht 
verändert hätte, worauf auch der in einer der obigen Tragen ausgedrücdte Zweifel 
hindeuten mag: es ift André's leidenichaftliche Liebe zur Königin, die diefen ins 
Verderben ftürzt. Um ein ſolches Motiv möglich und annehmbar zu machen, 
mußte jein notorifches Verhältniß zur Frau von Lecouteur, der „Fanny“ feiner 
Dden, völlig aus dem Spiel gelafjen und die reizende Vtademoijelle de Coigny, 
Herzogin von Fleury, der er fein Schwanenlied, „La jeune captive* gejungen bat, 
in André's Milchſchweſter, Gabrielle, verwandelt werden. Der Schaus 
plaß des erften Actes ift das Gut des Heren von Chenier, des Vaters, in Süd— 
frankreich, und die Zeit der Sommer 1789. Dan feiert das Nojenfeft; die Liebe 
Gabrielle'3, die von Andre nicht erwidert wird, während Dominique, der im 
Dienfte der Chenierd fteht, vergeblih um fie wirbt, offenbart fi), ala plötzlich 
Sofeph erſcheint und die Nachricht von der Erftürmung der Baftille mitbringt. 
Begeiftert von dem erften Aufflammen der Revolution folgt Andre dem Bruder 
nad Paris, und weinend entblättert Gabrielle ihren Rojenkranz. Hier menden 
wir und zum Scenarium Nr. I 

Dingelftebt: „?. Scenenfolge fehlt mir noch, während fie in ben vier anderen Aufzügen 
gegliedert und lebhaft vor mir ſteht. Ich bitte um Hülfe.“ 

Devrient: „Kann fi) nur der Autor jelbft gewähren, weil ſich's hier nicht um Gruppirung 
der Handlung, jonbern um Anlage der Charaktere handelt, von denen Niemand weiß ala der 
Autor.“ 

Don unbetannter Hand (gleichfalld mit Bleifeber): „Derjelben Meinung.“ 

Dingelftedt: „Soll Gabriellens Mutter zum Schluß eine Vifion haben, die Anmwejenden 
ohne Köpfe, ihre Tochter mit blutigen Roſen gekrönt ſehen? Soll die Alte überhaupt verlommen? 
Die Folge braucht fie eigentlich nicht; ich meine aber, da3 junge Mädchen bürfe nicht allein in 
das Stüd hinausgeſtoßen werben?!“ 

Devrient: „Sch bleibe dabei, daß die Alte eine überflüffige und bloß theatralifche 
Figur ift.“ 

Bon der unbetannten Hand: „Die Alte könnte jchon kommen, aber ohne Pifion.“ 

Der zweite Act jpielt in Paris, in Chenier’3 Haus, 1792. Dominique, 
welcher der fiegenden Sache ſich angeichloifen, ift Gefängnigtmärter geworden ; 


294 Deutſche Rundicau. 


und von Gabrielle zurückgewieſen, Hat feine Wuth gegen Andre fi aufs 
Aeußerfte gefteigert. Diefer, „im Stillen der ſchönen Königin einen ritterlichen 
Gult weihend,“ ift ganz auf die Seite der Befiegten getreten, ala Ariftofrat jchon 
verdächtig geworden und in einer „visite domieiliaire* jucht man ihn im Haufe 
feines Vaters, wo der erwähnte Bruch mit dem Bruder erfolgt. 

Dingelftedbt: „Soll ber Act am 10. Auguft felbft ſpielen?“ (Es ift der Tag, an welchem 
ber Pöbel bie Tuilerien flürmt und die königliche Familie gefangen genommen wirb.) „Andre 
fommt mit gezüdtem Degen aus ben Zuilerien, bie Verfolger hinter ipm? Draußen Gemehrfeuer?* 

Devrient: „Ja wohl!” 

Act drei ſpielt im Temple, 1793, im Vorzimmer des zum Tode verurtheilten 
Könige. Andre Chenier dictirt Gabriellen den „appel au peuple“, mit 
welchem der König fi an die Nation wenden joll. Gabrielle beſchwört ihn, von 
dem gefährlichen Unternehmen abzulafjfen: er jchreibe fein eignes Todesurtheil. 
Aber, „tiefglühend für Marie-Antoinette,” ftürzt Chenier ab, um jein Werk dem 
König und deſſen Vertheidigern vorzulegen. 

Dingelftebt: „Gabrielle hat einen Monolog, in Gebet auslaufend.“ 

Devrient: „Ja keine preghiera!“ 

Andre kommt zurück, verklärt, bejeligt — die Königin hat ihm ihr Tafchen- 
tuch gejchentt. 

Dingelftedt: „Vielleicht könnte der Dauphin hier felbft flüchtig und nur mit drei Worten 
ericheinen?“ 

Devrient: „Ich glaube nicht. Der Dauphin darf nicht für einen bloßen Moment ber 
Theaterrührung mißbraucht werben.“ 

Der Het ſchließt damit, daß ein Deputirter eintritt, der den Bürger Chenier 
im Namen de3 Geſetzes verhaftet. 

Dingelftebt: „Graufen, inftinctmäßige. Wer war ber Mann? — Marimilian 
Robespierre!“ 

Devrient: „Noch weniger Nobeapierre; ich bleibe babei, fein Zufchauer wird zufrieden jein, 
ihn bloß ala Statiften für einen blinden Theaterconp verwendet zu ſehen.“ 

Von ber unbelannten Hand: „Sehr wahr!“ 

Die beiden lebten Acte des erften Scenariums jpielen im Gefängniß von 
St. Lazare. Der vierte zeigt und im Beginn das Leben der Gefangenen, von 
denen Einige, jo dicht vor dem Tode noch, Proben echt gallifchen Leichtfinns, 
Andre Beifpiele hohen Heldenmuthes geben. Man hört den Henkerskarren heran- 
rollen; der appell nominal, die Opfer de3 Tages bezeichnend, wird von Dominique 
verlefen, und die Hefatombe fährt ab. Andre bleibt zurück. Robespierre, in ben 
furchtbaren Kämpfen, die feinem Sturze vorangingen, hat ihn vergeiien. Ta 
tritt, ganz zerichmettert, der alte Chenier ein: er fommt von Robespierre. Durch 
jeine Fürbitte hat der Unglücdliche den Tyrannen an fein Opfer erinnert und das 
Leben, das er retten wollte, dem Untergange preißgegeben. Wenn Gabrielle nicht 
noch zu helfen vermag, ift keine Hoffnung mehr. 

Devrient: „Es ift eine Graufamkeit, den alten Bater in feiner Liebe den Tod dei Sohnes 
verſchulden zu laffen. Welch’ ein fittliches oder tragiiches Moment ſoll dadurch lebendig werbn? 
Ich finde e3 nicht. Zudem ift dadurch num das eigentliche Stüd zu Ende, ber äußere Aufichub, 
ben das Publicum aus Gabriellens Vermittlung hoffen fol, ift ein mechanifcher, d. h. er geht aus 
der Idee des Stüdes, aus der Entwidlung der Charaktere nicht organifch hervor. Es ift ein 
Theaterhülfsmittel für die Virch- Pfeiffer, nicht für Franz Dingelftedt.“ 


Franz Dingelftedt. 295 


Diefer Scheint das Bedenken Devrient’3 anticipirt zu haben: da, wo zum 
Schluß, Dominique erjcheint, um Andre vor das Revolutionstribunal zu citiren, 
und über den Worten Gabrielle 3 „Rette ihn, umd ic bin die Deine!“ der 
Vorhang fällt, Schreibt Dingelftedt: 

„Dber fol Dominique jagen: „Wenn ih Did) noch will?" — Oder foll er „ſich's über: 
legen?” — Die Spannung zum fünften Aufzug muß bier ftarf gemacht werden; wie — ? —)“ 

Der fünfte Aufzug fpielt zwei Tage vor dem 9. Thermidor und in 
André's Zelle. 

Devrient: „Wefentlich ift biefer Act nur bie Fortſetzung des vorigen, d. h. in Entwidlung 
ber eigentlichen Materie; Beweis, daß der vierte Act nicht richtig ift und neu erfunden werben 
muß, ein befferes, aus der Anlage des Stüdes mehr organifch hervorgehendes Glied ber Vers 
längerung der ‘Peripetie, damit die Kataftrophe dem lebten Act rein verbleibe.“ 

Andre ſchlummert auf feinem Lager, der Morgen jeiner Hinrichtung ift an— 
gebrodhen. Sein Schwanengefang liegt neben ihm. Der Bater und Joſeph 
treten leife herein. Das Lied von der „jeune captive“ wird verlejen, Andre 
erwacht und lieft e3 jelber zu Ende, legt die Hände von Vater und Bruder zur 
Berjöhnung ineinander und nimmt Abjchied, als Dominique und Gabrielle her— 
zufommen. Sie hat das Opfer gebradht, der Gefangenwärter will den Gefangenen 
in feiner Uniform entfliehen laffen. In diefem Augenblik erhält — etwa un- 
glaubliher Weife! — Andre Kunde von der (beveit$ dor länger als einem 
halben Jahre erfolgten) Hinrichtung dev Königin: nun will er die VBorangegangene 
nicht überleben, ex überliefert fi) dem Henker, und Gabrielle erfticht fich zu feinen 

üßen. 
* Devrient: „Ich weiß nicht, mit welch” einem Intereſſe der Dichter Gräber begaben müßte, 
daß dieſer Tod nicht ganz nebenfächlich ſcheinen follte.“ 

Dingelftedt jelber war übrigens zweifelhaft; nah dem Worte „Schluß“ 
jchreibt er: 

„(Zt der Selbfimorb des Mädchens nöthig? — Nah meinem Gefühl: unbedingt ja. — Ich 
möchte nur für Andres Tod ein anderes Motiv, aber welches?! Phrajen, daß die Welt zu 
schlecht ſei zc. genügen im fünften Aufzuge nicht; ich brauche eine That.)“ 

Devrient: „Hier frantt es eben, das fühlt der Autor; mit kleinen Mitteln ift aber nicht 
zu helien, die Architektonik der beiben leiten Acte muß gefunden werben.“ 

Seltjam, daß weder Dingeljtedt noch Devrient ſich hier des hiſtoriſchen 
Factums erinnert haben, nach welchem Chénier in den Tod ging, indem ex fid) 
vor die Stirn jehlug mit den Worten: „C'est dommage, il y avait quelque chose 
la!“ Das hätte wohl ein befjeres Motiv ergeben! 

Eine Hand, in der wir diejenige Hadländer’3 erkennen würden, auch wenn 
die Zeilen nicht mit einem „H.“ unterzeichnet wären, jchrieb an den Rand des 
Bogens: 

„Bon allen Bemerkungen be3 Herrn Devrient Scheint mir feine einzige jchlagend.“ 

Dennoch ift Dingelftedt den Winken Devrient's in einigen Hauptpunkten 
gefolgt. Abweichend vom erften Scenarium, in welchem Robespierre am Schlufje 
de3 dritten Actes nur auftritt, um ſogleich wieder zu verjchtwinden, führt der 
vierte de zweiten Scenarium3 und direct in „die Höhle des Löwen“, und Dingel- 
ftedt bemerft dazu: 


296 Deutſche Rundſchau. 


„NB. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß Robespierre fein Griepenferl!) iſt; er ſpricht im Profa, 
wenig, kurz, kalt, in unerbittlicher Logik.“ 

Auf dieſe Weiſe waren in der That denn die beiden letzten Acte gänzlich 
umgeſtaltet: was im erſten Scenarium nur referendo mitgetheilt wird, begibt 
ſich hier in lebendiger Handlung vor den Augen der Zuſchauer. Der alte 
Chénier und Robespierre ſtehen ſich hier perſönlich gegenüber. Zwar das von 
Devrient ſo hart getadelte Motiv, daß der Sohn durch den Irrthum des Vaters 
fällt, konnte nicht beſeitigt werden, und Dingelſtedt beruft ſich zu ſeiner Recht: 
fertigung auf Alfred de Vigny, der in feinem „Stello“ die Scenen zwiſchen 
Chénier, Vater und Sohn, und Robespierre Thon erzählt hat. Aber Gabriele 
gibt ſich nicht ſelbſt den Tod. jondern geht unter in einem verunglüdten Mord: 
verſuch auf Robespierre. Diejer erfcheint no einmal am Ende des fünften Auf: 
zugs in André's Zelle: der Drache hat den Schwan überwunden, die Perfpective 
auf den 9. Thermidor ſchließt das Stüd. 

Devrient’3 lebte Bemerkung lautet: 

„sm Uebrigen ſchließe ich mich der Anficht an, daß dad Gtüd, welches vortrefflich werden 
gann, jet nicht den Theatern anzubieten ift, und aljo ala ein Mittel, Sie zur Zeit auf ber 
Bühne zu Habilitiren, nicht zu betrachten ift. Dichteriſch ift der Stoff ſehr zu empfehlen, praftiih 
ar nicht. 

a o Das Belte, dad Du willen fannft, 
Darfft Du den Leuten jetzt nicht jagen. 
Ed. Di.“ 

Es folgt nun eine Reihe dramaticher Entwürfe, deren Annotationen, nad 
dem „SH.“ der Unterjchrift und dem Ergebniß der Schriftvergleihung von feinem 
Andren, als Hadländer herrühren können. Das erfte der hier in Rede ftehenden 
Stüde jollte „Der Ungar und jein Kind“ heißen; und jchon der „Schauplat: 
„Ungarn 1849” deutet darauf hin, um was es ſich handelt. Bei feinem Anden 
der literariichen Generation, zu der er gehörte, oder der Schule, von der er aus— 
gegangen, drängt ſich die politiiche Tendenz, die Neigung für das, was „zeit: 
gemäß“ ift, immer jo fehr in den Vordergrund, wie bei Dingeljtedt, der es an 
mehr al3 einer Stelle feiner Briefe ſowohl als gedrudten Schriften ausfpridt, 
welchen Reiz für ihn die Laufbahn eines Staat3manns oder Diplomaten gehabt 
haben würde. Nachdem er die Handlung feines Stüdes entwicelt, macht er den 


Zuſatz: 
NS 


„Diejer Plan liegt mir fehr nah und faft mehr als jeder anbere in meiner Sphäre. €: 

fragt fih nur: 

„1. Ob der Berluft aller öfterreichifchen Bühnen jebes Falls, vielleicht der meiften deutſchen 
Hoftheater, nicht wichtig genug ift, um — namentlid am Anfang einer Garriere — 
von beijen Behandlung abzubringen? 

„2. Ob die ungarische Revolution nicht noch zu dicht vor uns flieht, um behanbelber 
zu fein? 


') Robert Griepenterl, Profefjor der Literatur an ber Braunfchweiger Gadettenanftalt, hatte 
damals eben, zu Anfang ber fünfziger Jahre, durch feine beiden, nach heutigem Geſchmack etwas 
ſchwülſtigen, aber durch bie Bewegung der Zeit getragenen beiden Trauerfpiele „Marimilien 
Robespierre* und „Die Gironbiften", zu welchen Litloff eine lärmende Ouvertüre gefchrieben, 
großes Auffehen erregt. 


Franz Dingelftedt. 207 


„Derjelbe läßt fich auch öfterreichiich umkehren: Mikloſch und Wilma werben Tiroler, 
Bäarday ein Wälfchtiroler, Fürftin Weißenfels eine Belgiojofo. Dann hätte das Stüd in Wien x. 
ſpecifiſches Schidfal, vielleicht aber in Deutjchland feinerlei Sympathien. Man müßte dann 
„jodeln“ darin! 

„Endlich ift er auch möglid in ber Vendéec. Mikloſch und Wilma werben xoyaliftiiche 
Bauern, Bürday ein mit der Revolution (1830!) ralliirter Edelmann. — Diefe Wendung fagt 
mir jedoch am wenigften zu!!). 

„Das Hauptmotiv: Gegenjah der Bolksthümlichkeiten innerhalb des öfterreichiichen Kaiſer— 
ftantes, möchte ich nicht verloren gehen jehen!” 

Darunter jchreibt Hadländer: 

„Bon biefem Gegenftand rathe ich ab.“ 

Der nächſte Stoff ift noch fragwürdiger und — ſcabröſer. Auch ohne daß 
Dingelftedt neben den Titel: „Armida“ mit Rothftift in kräftigfter Fractur 
(Lola!“) gejet Hätte, würde man, durch die leichte WVerjchleierung, die wahren 
Figuren erfennen: die jpanifche Tänzerin und ben deutjchen Fürſten. Abweichend 
von der Wirklichkeit, die doch nur eine Farce war, hebt der Dichter den Vor— 
gang in die tragische Sphäre von „Kabale und Liebe" — obwohl er an der be= 
treffenden Stelle bemerkt: „feine Nahahmung der Milford-FFerdinand-Scene, 
weil moderner!” und läßt das Stüd al3 Trauerſpiel enden: der Erbprinz, um 
dad Land zu befreien und feine Mutter zu rächen, zugleich im Conflict mit der 
eigenen Leidenſchaft, erftiht die ehemalige Tänzerin, die Mätrefje des Herzogs, 
jeineg Water, zu deſſen Füßen. 

Dazu bemerkt Dingelftedt: 

„NB. Mein Lieblingeplan. Zeitgemäheft. Aber — unmöglichl?! — — —“ 

Bon unbefannter Hand: „Ganz nur nach innerer Mahnung.“ 

Hadländer: „Der Stoff ift jehr gut, muß aber durchaus jo behandelt werben, daß ber 
Prinz in dem abenteuerlichen Weibe, das fi ihm fo geheimnigvoll nähert, erft jehr fpät und im 
entiheidenden Moment die Geliebte ſeines Vaters erkennt. (Hier ift, zum beſſeren Verſtändniß, 
einzufchalten, dab ſchon bei Dingelftebt der Erbprinz als aus ber Fremde heimkehrend gebadht 
wird.) Das ift auch leicht zu machen, indem der Armiba jelbft daran liegen muß, unerfannt zu 
bleiben, jo lange es geht, ba fie mit dem Inſtinct ber Gefallenen wohl ahnt, wie ber in erfter 
Liebe für fie erglühte Jüngling fie betrachten wird, wenn er weiß, wer fie if. Sie fpielt daher 
fortwährend Verſteckens mit ihm, fieht ihn überall, nur nicht bei fich, und läßt ihn ruhig feine 
Träumen fpinnen und rathen und meinen. Je mehr er fie nun in feiner Phantafie zum deal 
der Weiblichkeit fleigert, die Fremde, Geheimnißvolle nämlich, deſto tiefer finft bie 
wirtlide Armida in feinen Augen, jo da er ihr überall aus dem Wege geht und nirgenba 
ericheint, wo er fie erwarten darf. Der Dichter darf jogar eine fühne Scene wagen, wo er 
flütigft mit ihr zufammentrifft, und, da fie ſich raſch abwendet, gar feinen Verdacht ber Iden⸗ 
tität faßt, ſondern nur mit ber Natur hadert, daß fie ihre ebelften Formen nicht beſſer zu 
Rathe hält. Wenn nun der Enthufiaamus auf der einen und ber fanatifche Abjcheu auf ber 
anderen Seite ben höchſten Grab erreicht haben, die Kataftrophe. Große Scene mit dem Vater; 
Kampf, aber für die Mutter; Armiba erfcheint; der Prinz wird furchtbar enttäufcht und 
erfticht fie und ſich.“ 

Einen allexliebften Luftipielftoff erzählt der Entwurf: „Herr Oberfellner!“ 
Graf und Baron treten, um zu frühftüden, in das Gaftzimmer eines Bade— 
orte3, während im Hintergrunde der Oberfellner den Speijezettel enttwirft. Der 


1) Den Papieren Liegt ein Brouillon bei, in welchem dieje „Wendung“ dennoch verjucht 
wird: „Angelifa. Trauerfpiel in fünf Aufzügen. Zeit: Frühjahr 1832. Ort: Vendée, 
Paris, Marſeille.“ Unnöthig zu fagen, dab ber eine Plan jo wenig wie der andere zur Aus: 
führung gelommen if. 


298 Deutſche Rundſchau. 


Graf vertraut dem Baron, daß er heut und Hier feine Zukünftige erwarte, die 
Tochter eines reichen Landedelmannes, die ex jeit ihrem zehnten Jahre nicht mehr 
gejehen hat, aber, feiner derangirten Lage wegen, zu heirathen entſchloſſen 
ift. Ihm graut vor dem erften Begegnen. Der Baron, um dem Freunde Ge— 
Yegenheit zu geben, die Braut unbefangen fennen zu lernen und mit einer Poſſe 
in die Eheftandstragödie einzutreten, räth ihm, mit dem „Herrn Oberfellner“ 
Kleider und Rolle zu taufchen. Dies geihieht. Die Braut jedoch, die das Bild 
des jeit der Kinderzeit geliebten Jünglings treuer im Herzen beivahrt, erkennt 
unter der Maske den ihr Beftimmten: und um Gleiches mit Gleihem zu er: 
widern, führt ihrerjeit3 fie mit der Zofe dasjelbe Spiel auf. Das Reſultat er- 
räth ſich: zwei Liebespaare, der vermeintliche Oberfellner mit der vermeintlichen 
Zofe und der wirkliche Oberfellner mit der wirklichen Zofe beſchließen das Stüd. 

Dingelftedt: „Wenn die Beichäftigung mit einem ſolchen Stoff und Plan nicht ein zu 
tiefer Fall oder Rüdichritt von den Anläufen zu hoher Tragödie ericheint, jo habe ich nicht übel 
Luft, zu eigener und fremder Erheiterung dies „Gonverjationsftüd“ recht bald auszuführen. Es 
fehlt fo durchaus an Komödien, daß hier auch das Werth: und Weſenloſe guter Aufnahme faft 
überall gewärtig fein darf. Ich denke dabei an beitimmte und vortreffliche Darfteller an ber 
Wiener Burg, wo Wilhelmi den alten Edelmann — Luiſe Neumann feine Tochter — die Wildauer 
ihre Zofe — Fichtner den Grafen — Meirmer den Oberfellner ſehr hübſch machen würden.“ 

Hadländer: „Der bloße Stoff degrabirt ben Werth eined Dramas nie und nimmer, und 
ich fenne feinen glüdlicher gewählten. Dies Stüd lönnte ein treffendes Abbild umferes ganzen 
modernen Lebens werben; was hinderte den Dichter 3. B., bei einem Rahmen, der feiner Ratur 
nach breit jein muß, auch die in Wirthöhäufern aus: und einftrömenben Nomadenfiguren der 
Reifenden zu benußen und jo die Symbolifirung unferer Zeit zu vollenden? Mein Rath märe: 
daran! Und das jobald ala möglich!” 

Ber Gelegenheit eines „Volksſtückes“, welches den Titel „Muſikaliſche Zwil- 
linge“ führen joll, wird die frage nad) Anwendung des Hans-Sachſiſchen 
Senittelverfes auf der modernen Bühne, und anläßlich eines Schaufpieles „Vier 
Jahreszeiten” die Berechtigung des Künftlerdramas erivogen. Die vier Jahre: 
zeiten gruppiren fid) jo, daß im Frühling, dem exften Akt, Ellinor, das Mit 
glied einer in England umberziehenden Gomödiantentruppe, dem Sohn eines 
Friedensrichters, Frank, zuerft begegnet und zugleid; von dem Impreſario der 
italienifchen Oper in London, der fie das Lied der Ophelia im „Hamlet“ fingen 
hört, „entdeckt“ wird. Der zweite Alt, Sommer, zeigt fie im Zenith ihres 
Nuhmes, ald Königin der Saifon — „(Poſition A la Lind!)“ bemerkt Dingel— 
ſtedt dazu. Sie beichließt ihre Carriere damit, daß fie der Werbung eines 
Lords Gehör gibt; und Frank, der ihr gefolgt iſt, verflucht fie für ihren 
doppelten Verrath: 1. an der Kunſt, 2. an der Liebe. Im dritten Alt, Herbſt, 
erbliden wir Gllinor mitten in der Welt der Herzoginnen und Gräfinnen. 
Sie ift unbefriedigt, und im vierten Akt, Winter, Echrt fie zur Bühne zurüd, 
unterliegt aber den Intriguen einer Nebenbuhlerin und endet in ihrer alten 
Mutter und Frank's Armen, 

Dingelftedt: „Sollten Künftlerdramen nit noch eine Weile ruhen?" 

Hadländer: „Diefe Art Rüdfichten fommen nicht in Betracht; das Vortreffliche ift zeitlos. 
Aber das Thema ift, jo weit der flüchtig aufgezeichnete Plan ein Urtheil geftattet, zu äußerlich 
gefaht. Gin Künftlerdrama entfteht nur dann, wenn das Schickſal des Menichen ber unmittels 
bare Ausfluß feiner Künftlernatur if. An diefer Wechielbeziehung fehlt es aber, fie müßte er— 
funden werden und troß bes allgemeinen Fundaments ganz ins Individuelle verlaufen. Lieben 


Franz Dingelftebt. 299 


bürfte die Heldin ben frank auf feinen Fall, wenn fie fpäter einen Lorb heirathen foll; fie müßte 
ihn nur zu lieben glauben oder vielmehr in ihrer unbewußten Naivetät gar nicht wiſſen, ob fie 
liebt oder nicht. Den Lord dagegen müßte fie allerdings lieben, während er jelbft nur die 
berühmte Künftlerin im Auge hat und feinen Stolz darein jet, diefe ber Deffentlichkeit zu ent⸗ 
ziehen und hinter feinen Theetifch zu ftellen. Das gäbe eine tiefe piychologifche Verlreuzung nad) 
allen Seiten und eine Reihe echt dramatiſcher Scenen; zwijchen ihr und Frank, der fie zerfchmettern 
will und von ihr zerfchmettert wird, da fie, zur Erkenntniß ihrer felbft gelangt, fich auf bie 
Naturmacht berufen kann; zwiichen ihr und dem Lord; ja, in einem Monolog, zwifchen ihr unb 
ihrem Gewiflen jelbft, das ihr ben Treubruch an der Kunſt vorwirft, die Zurüdnahme des einmal 
gelobten Opfers. Die Kataftrophe wäre dann fo herbeizuführen. In der Ehe geht es, wie es 
nicht jelten gebt: ber Lorb wird nad) und nad warm, weil er einfieht, daß ein edles Weib 
immer noch mehr ifl als bie größte Künftlerin; fie aber wird kalt, weil fie erfennt, daß ein 
einzelnes Individuum ihr für die reiche große Welt, bie fie aufgab, nimmermehr Erfah zu leiften 
vermag. Nun fucht fie in einer Nüdkehr zur Bühne eine Vermittlung, bie er natürlich ver: 
abichent. Sie läßt fich nicht zurüdhalten , er will fie nicht aufgeben, und fpielt ihr nun jelbft 
aus befter Abficht all’ die Intriguen, bie fie vernichten. So hat man überall tragiſche, b. 5. 
unlösbare Gegenfähe; die Mijere darf nicht wiederkehren.“ 


Das merfwürdigfte der zu dieſer Kategorie gehörigen Blätter ift vielleicht 
dasjenige, weldhes „Keime zu Dramen“ überjchrieben iſt, mit dem Hinzu— 
fügen: „[NB. Des Meifters Auge möge entjcheiden, welche triebkräftig find und 
jeiner Zeit gelegt werden jollen.]* Diejes Blatt ift Beiden, zuerft Devrient, dann 
Hadländer unterbreitet worden, und der biäherige Dialog entwidelt ſich Hier 
ftellenweife zum Dreigejpräd). 

1. Ludwig ber Fromme. (Ein deutjcher Lear!) 

Dingelftebt: „Liegt er nicht zu fern?” 

Devrient: „Grabe, daß er jern liegt, gibt ihn dem Dichter zu freiem Schalten.“ 

Dingelftedt: „Darf man auf die ewige beutfche Wunde (Zerfplitterung) die Hand Legen?” 

Devrient: „Man fann e8 nicht genug thun, glaube ich.“ 

Hadlänber: „Würde fich ſchon aus dem Grunde fehr gut cignen, weil man doch vor 
ber Zerfplitterung noch das Ganze jehen könnte.“ 

2. Roufjeau in Motierd. Der Weife unter dem Pöbel. Wahre und 
falſche „Freiheit“. 

Hackländer: „Widerftrebt wohl der dramatiſchen Behandlung, indem ber Weiſe ſich fo 
wenig barftellen läßt, wie die reine Linie eine Geftalt gibt. Wir müffen überall das Krumme 
aufjuchen, um es grade zu biegen.“ 

3. Florian von Geyer. (Bauernkrieg.) 

Dingelftebt: „Führt wohl zum Zendenzdrama? Iſt die Concurrenz mit bem „Propheten“ 
zu Halten? Die gleichftoffigen Stüde von Bauernfeld und Mofen jcheinen vergeſſen.“ 

Devrient: „FA ein ſehr jchöner Stoff; ich fenne ihn genau, da ich ihn für Mendelsjohn 
zur Oper bearbeiten wollte. Goncurrenzen muß man nicht fcheuen; ift der Stoff ergibig, fann 
er immer wieber gebraucht werden.“ . 

Hadländer: „Ohne Zweifel höchſt ergibig; die Klippe wird fein, daß ber Dichter hier mit 
der bloßen Realität nicht ausfommt, da fie zu wüſt war und fich auch nicht in ben Idealismus 
verlaufen darf. Doc das wäre eben das Problem.“ 

4. Catilina. Claſſiſcher Spiegel für moderne Zeit. (In Cicero die 
Uebermadt des Wortes!) 

Hadländer: „BVortrefflicher Griff; Cicero könnte bis in die franzöfiichen Kammern hinein 
fpiegeln.“ 

5. Heinrid der Löwe. (Kaijer und Fürft, Reich und Land.) 

Hadlänbder: „Hier hätten wir unfer altes Reich ala Mittelpunkt, e3 nimmt fich aber nur 
als Hintergrund erträglich aus. Ich wäre nicht dafür.” 


300 Deutihe Rundicau. 


6. Goethe's Wahlverwandtihaften. Dramatifirt. 

Hadländer: „Kaum! Wohl zu erwägen!“ 

7. Eine Epifode aus den deutjchen TFreiheitäfriegen, etwan Körner, unter 
dem Titel „Leier und Schwert”. 1. Akt: Sein Wiener Theaterleben. 2. Akt: 
Am Lager der Freiwilligen, Lützow's wilde veriwegene Jagd. 3. Akt: Kampf 
und Tod. 

Hadländber: „Wiürbe etwas geben; nur mühte hinter dem guten Hörner, der gar nicht 
wußte, was eigentlich in ber Welt vorging, eine höhere Potenz flehen, ein Staatömann, ber ihn 
magnetifirte, ohne daß er's merkte“ !). 

8. Der deutſche Figaro. Ein Barbier als politiicher Agitator. Satire 
auf 1848, 

Hadländer: „Sold’ ein Etüd, das all! die Erfahrungen jenes Jahres über die In: 
verwüftlichkeit der Vanfennatur?) auffummirte, wünjchte ich mir, mur bürfte es nicht bei der blohen 
Satire ftehen bleiben, jondbern müßte, wern auch nur wenig, ind Tragiſche fallen.“ 


9. Ein politijher Fauft, der die Freiheit judt. Von Mephiſto 
begleitet und — enttäufcht, durchtvandert er Europa vom 24. Februar 1848 (in 
Paris) bis zum..... (Termin der Entſcheidung in Paris.) 

Borjpiel im Himmel: Sturm der Titanen (Strauß, Teuerbad, 
Hegel 2.) gegen den alten Gott. Borjpiel auf dem Theater: Jetzige 
Theatermijere, (zwiſchen Dichter und Schaufpieler erörtert) Prolog, von 
Goethe'3 Schatten an unfere Zeit geſprochen. 

Einzelnheiten: In Auerbach's Keller die politifche Lyrit — Walpurgisnadt 
im Meßkatalog. Straßentampf in Wien, Dresden, Berlin. 

Dingelftedt: „Nicht für das Theater, fondern für bie Literatur?“ 

Hadlänber: „Nur für die Literatur; theatraliich-dramatiich würde es jchwerlich ausfallen.‘ 


Daß wir ftatt all’ diefer Dramen, oder doch einiger davon, nur ein geift: 
reiches Trrag- und Anttwortipiel haben, mag ganz im Charakter Franz Dingel: 
ftedt’3 jein; aber es ift nicht weniger jchade darum, bejonder3 wenn man fieht, 
wa3 er aus ſolchen Anfängen zu machen wußte, ſobald er es ernft damit nahm 
und nicht fi begnügte mit dem bloßen Einfall. Inter den Entwürfen if 
einer, aus dem etwas geworden, fein Drama zwar, aber ein Roman und jein 
befter: „Die Amazone”. Hier, im Brouillon, wo der Dichter noch an die dra- 
matiſche Geftaltung dachte, lautet der Titel „Kreuz » Mariage”, der fpäter, im 
Roman, in der Ueberſchrift des zehnten Capitels als „partie carrde* wieder zum 
Vorſchein fommt. Die Skizze, wie wir im Nachlaß fie finden, ift bezeichnend 
für Dingelftedt’3 Verfahren bei der Arbeit. Von einer fortlaufenden, oder nur 
einigermaßen firirten Handlung ift in diefen Blättern feine Rede; jo daß e— 
fcheint, wenn man da3 zu Stande gefommene Wert mit ben vielen nicht zu 
Stande gefommenen vergleicht, al3 ob fein Intereſſe am Stoffe ſich mit dem 


I) Hier können wir freilich, in der Auffafjung der hiftorischen Bewegung, welche damals bie 
ganze Jugend ergriff, mit dem guten Hadländer nicht übereinftimmen, der doch ſonſt immer, in 
theatralibus, ben Nagel fo ziemlich auf ben Kopf traf. 

2) Diefe Anipielung auf dem „ſchlechten Kerl" in Egmont klingt jaft wie eine Gonfeffior 
Hadlänber’s und bezeichnet die Stimmung in gewiffen Kreifen unmittelbar nad) 1848. 

Anm. des Herausg. 


Franz Dingelftedt. 301 


Vergnügen des Fabulirens und Erfindens erſchöpft habe. Keine Geſchichtserzäh— 
lung, wie in den oben mitgetheilten Entwürfen. Dagegen finden fich die dra- 
matis personae ziemlich ſcharf umriffen, und jede hat ihr eigenes Blatt, ganz 
und gar, die Kreuz und Quer, mit raſch hingeworfenen Aphorismen und Glofjen 
bedeckt, aus denen alle weſentlich individuellen Züge der Figur hervorfpringen 
— mit Scenenanjäßen und Dialogfragmenten untermifcht, twelche diefem Embryo 
Ihon einen Pulsſchlag dramatiichen Lebens verleihen. Diefe Blätter, mit den 
Figuren darauf, jehen ſich an wie die Blätter eines Kartenjpiels, welche hernach 
Hug zu combiniren, Sache des günstigen Augenblids ift. Aber an den Figuren 
jelbft ift fein Zweifel; man würde fich ein Bild von- ihnen machen künnen, auch 
wenn man fie nicht aus dem Buch fennen Iernte; fie ftehen feft und deutlich in 
dem dramatischen Entwurf aus den fünfziger Jahren, wie wir jie fpäter in dem 
Roman vom Ende der jechziger Jahre!) wiederfinden mit all den raſch Hin- 
gejchriebenen Bemerkungen, welche zumeilen im Entwurf noch exrpreifiver find als 
im Roman. So 3. B. wenn der Diplomat der alten Schule, Guftel Wallenberg, 
„Le Comte Auguste de Wallenberg, Chambellan et Ministre de... und jo 
weiter, zwei Reihen voll ftolger Titel” zu feinem Attachs fagt, dem Fürften Paul 
Seh zu Neuje » Seffenheim, der „der jüngften Jugend unjerer Zeit“ angehört: 
„Ihre Mutter hat meine Erziehung gemacht; das war die qute Zeit, als man 
noch im Salon und durch Frauen erzogen wurde.“ Oder wenn er, im Entwurf, 
ihm vertraut, was Dingelftedt nachmals im Roman ihn Klüglich verſchweigen 
läßt: „Die Völker wollen ſchon lange nicht3 mehr von uns (den Diplomaten) 
wiſſen; wenn num die Fürſten erſt anfangen, ihre Gejchäfte jelbft zu machen, dann 
Gut-⸗Nacht unfere ganze Herrlichkeit." — Ebenfo der Maler: „Nach Cornelius, 
Kaulbach — Landfeer, fajhionable Maler in Paris und London”; Seraphine, 
„die leidenſchaftliche Künſtlerin“, Armgard, „das wohlerzogene, ſchlaue Weltkind“, 
und deren Vater, der reiche Bankier und self-made man, „ein jehlichter, einfacher 
Bürger”, wie er bei jeder Gelegenheit wiederholt — „der Herr Principal”, wie 
er fih nad alter quter Sitte von feinem Gomptoirperfonal nennen läßt — 
Geldftolz gegen Adelftolz, mit dev Devife: „Time is money* und ber Erklärung 
für den heutigen Weltſpruch „Ora et labora“: „Die eine Hälfte herrſcht, indem 
fie betet, die andere, indem fie arbeitet.” — „Arbeite ich nicht?“ fragt der Künft- 
ler. „Sa, ja, jo, jo,” antwortet der Kaufmann; „die Leinwand, welche die 
deutichen Maler verbrauchen, reicht hin, um die ganze deutſche Handelsmarine 
mit Segeltuch zu verjehen.“ Ein Mann, der fi) fühlt; „was ift Bildung?“ 
ruft er aus. „Das ftolze Modewort de3 Tages — 75% Einbildung und 25% 


Nahbildung.” 
Das Problem ift die Künſtlerehe. „Eine Primadonna heirathet man nicht.” — 
„Warum nicht?” — „Sängerinnen find Fresken; man bewundert fie von 


Weitem, man betet fie an, man liebt fie meinethalben bis zum Wahnfinn. 
Aber heirathen? Nie!” ... „Sie, Roland, der Mann einer Sängerin, ein 
QDueen-Gonjort, ein Schatten? Ueberall im Genitiv ftehen? ...“ 


1) Die „Amazone* erichien zuerſt 1868. 


302 Deutiche Rundſchau. 


Aber Dingelftedt wußte, daß e3 auch jehr glüdliche Künftlerehen gibt, jelbft 
wenn bie Sängerin nicht eine „Geborene“ war, eine verfappte Gräfin aus 
Schottland, wie Seraphine, die Amazone, jondern ein einfaches Bürgermädel aus 
Prag, wie Jenny Lutzer. 

Roland und Seraphine, der Maler und die Sängerin, auf der einen, Guftel 
MWallenberg und Armgard, der vornehme Herr und da3 Bankierdtöchterlein, auf 
der anderen Seite, dazwiſchen, feinen Segen ſpendend, Hans Heinrich Krafft, der 
Millionär aus dem „ff“ — fürwahr, es würbe fein übles Tableau getvejen jein 
zum Schluß des fünften Aktes. Doc) die Frage beifeit gelafjen, ob Dingelftedt 
vermocht, es auf der Bühne jo vor ung hinzuftellen, wie e8 im Romane jet vor 
ung fteht: diefer hat durch feine Genefis eine dramatiſche Lebendigkeit und ftellen: 
weiſe jogar eine ſceniſche Anichaulichkeit gewonnen, die jetzt exjt, jeitdem der 
Entwurf vorliegt, auf ihren legten Grund zurücgeführt werden kann. 

Tür das dramatiiche Können indefjen gibt „das Haus des Barneveldt“ 
vollgültiges Zeugnig. Das Stüd, vom 27. April bis 31. Juli 1850 gejchrieben. 
machte raſch jeinen Weg über die großen Bühnen Deutſchlands. Am 20. Or 
tober 1850 berichtet Dingelftedt feinem Freunde Vogel über eine „jehr günſtig 
ausgefallene Darftellung in Dresden“, und jendet ihm zugleich ein Eremplar für 
die Stadttheater-Direction in Nürnberg. „Es wird mich freuen, wenn es dort 
ebenfall3 recht bald zur Aufführung gelangt. Du kannſt meine Stelle dabei ver- 
treten, aud) das nad) dortiger Hebung zu bemefjende Honorar für mich einziehen 
und brüderlich mit mir theilen.“ Am 26. October an denjelben: „Ueber die hiefige 
(Stuttgarter) Aufführung will ih Dir eine Originalcorrefpondenz ſchicken; nod 
werthvoller wäre mir’3, wenn Du über die Münchener eine ſolche brächteſt. Da 
ih dann wahrjcheinlich jelbft nad; München gehe, werde ich Dich entweder dorthin 
einladen, oder dafür jorgen, daß der „Correſpondent“ qut bedient ſei. Ach will 
und bedarf feine Gevatterbriefe, aber perfönliche Feindfeligkeiten, in Kritiken 
maskirt, wie die de3 Dresdener Journals, muß ich mir auf einem ohnehin 
ſchwierigen Wege und bei den erften Schritten auf demjelben doch vom Hals zu 
halten und durch wahrheit3gemäße Berichte zu balanciren juchen. Ueber 
die Wiener Aufführung halte Dih an den Lloyd... . Nah Wien gehe id 
noch nit, in die Neichäzeitung am wenigften. — Du nah Schmalkalden? 
Das wäre ſcheußlich; ich würde Dir meinen väterlichen Fluch (portofrei) nad 
jenden.” 

Um 9. December gleihfall3 an Vogel: „Mein Stüd bricht fi Bahn. Am 
5. diejes war es in Mannheim; Oberregiſſeur Düringer fchreibt mix, „es habe 
tiefften Eindrud gemadt.“ In München, wohin ich morgen früh gehe, joll es 
am 15. oder 17. fein. Won dort aus werde ic) Dir vertraulich fchreiben .. . 
Am beften wär's, Du fämft jelbft, um zu jehen und gejehen zu erden.“ 

Hier num beginnt die Zeit der „Münchener Bilderbogen“, in welchen es, 
©. 15, heißt"): 

„Mittwoch, ben 18. December, ging das Haus bes Barneveldt endlich glüdli in Scene. 
Glücklich: denn der Grfolg war ein echter, voller, nicht einmal durch das Decrescendo des Stüdes 
beeinträchtigter, der die ſtärlſten Accorde im erften Aufzug anſchlägt. Wie viele Epigonen können 





!) Münchener Bilderbogen. Von franz Dingelftedbt. Berlin, Gebrüder Paetel. 1879. 


Franz Dingelftedt. 303 


einen fünften Act fchreiben? Wie oft ift er ben Heroen, ben Glafjifern geglüdt? Der verehrte 
Dichter wurde dreimal gerufen und erichien mit liebenswürbiger Bereitwilligfeit, an ber linken 
Hand feine „Mutter", Fräulein Denker, an ber rechten feine „Heldin“, Fräulein Damböd, galant 
vorführend. Nachdem der Vorhang gefallen, große Gratulationscour auf den Brettern, und bann 
fibele Kneiperei im „Stubenvoll* der Maler. Mitternacht war längft vorüber, ala mich Freund 
Zeichlein zum Baprifchen Hof geleitete. Aber ich war und blieb nüchtern, wie mir auch hinter 
ben Gouliffen weder ein tüchtiges Kanonenfieber noch eine trunfene Siegerftimmung gelommen war.“ 

Aber dennoch flogen die folgenden Tage in Saus und Braus dahin; „id 
ließ mic feiern und ging von ber einen Hand in die andere, aus dem Salon in 
die Kneipe, vom häuslichen Heerd zur feftlichen Tafel,” und am 31. December, 
immer noch in München, erhielt ex ein von Pfiftermeifter unterzeichnete Cabinets- 
ſchreiben, des Inhaltes: „Seine Mtajeftät der König, mein allergnädigfter Herr, 
haben unter dem heutigen Sich zu entichliegen geruht, die Leitung des Königlichen 
Hoftheaterd dahier Ihnen . . . zu übertragen.“ Am 1. Januar 1851 fuhr Dingel- 
ftedt, zum legten Male, nad) Stuttgart heim. Das erfte Blatt des Tagebuches 
von 1851 enthält die Worte: „Neujahrsgeſchenk: Intendanz. 11 Uhr früh von 
Münden. Kurze Raft in Augsburg. Von 3—11 nad) Ulm. Einer der ſchönſten 
Tage meine? Lebens ;" und am 3. Januar, „am Tage der Erlöfung“ , jchrieb 
er folgendes Gedicht, tweldhes wir aus dem Nachlaß mittheilen: 


Meiner Jenny. 
Harre noch ein kleines MWeilchen 
In dem bumpfen, büftern Haus, 
Und wie diefe Winterveilchen 
Wieder blühend fchlägft Du aus. 
Günftiger ald Schwabens Boden 
MWird ber bayriſche Dir fein; 
Friſcher Lüfte freier Odem 
Ladet dort erwedenb ein. 
Auferfteh’n, ja auferftehen 
MWirft Du aus dem engen Grab, 
Das mit Kämpien und mit Wehen 
Hier Dein Leben rings umgab. 
Drum ein Weilchen noch geduldig, 
Liebes Weib, im alten Haus. 

Diel ift dad Geſchick Dir ſchuldig, 
Und Dein Gatte zahlt es aus. 

Nach der Poeſie die Profa; jedoch eine von Frohſinn und freudigem Lebens— 
muth überfprudelnde: Dingelftedt lädt die Schwefter jeiner zweiten Mutter, 
das alte treue Hausmöbel ein, aud im neuen Heim zu München ihre Stelle 
wieder zu übernehmen. Sie hatte früher ſchon, als Jenny Dingelftedt, während 
der Satjon von 1847 in London neue Lorbeeren erntete, bie Stelle der Haus- 
frau zu Stuttgart vertreten, die Kleinen Kinder verhätſchelt und die „Rekruten“ 
berangebildet, nämlih Köchin und Stubenmädchen ... „jene Künftlerin beſitzt 
ſchon meine ganze Hochachtung, und Sie wiſſen, das will was heißen. Dann 
war fie nach Hefjen zurückgekehrt, in die ftille, Ländliche Heimath unter den 
Kloftermauern von Möllenbeck, die Dingelftedt mit feinem Water, dem Herrn 
Kloftervogt, in den Kinderjahren jo manchmal beſucht Hat. Ihr, und durch fie 


304 Deutihe Rundſchau. 


den Seinen, theilt er num die große Neuigfeit mit, indem er ihr zugleich, durd) 
die Schilderung der Verhältniſſe Luft zu machen juht, mit nah München zu 
fommen. Und wenn Dingelftedt fih auf Bitten und Schmeicheln verlegte, da 
fonnte gewiß fein Herz ihm twiderftehen, am wenigſten da3 einer alten Tante. 
Hier iſt der Brief: 

Ich begrüke Sie liebe Tante, mit herzlichem Neujahrswunſch und mit einer jehr, ſehr jrohen 
Nachricht, an welcher Ihre treue Seele ben lebhafteften Antheil nehmen wirb. 

Geftern bin ih von München zurüdtehrt und zwar ala Intendant be3 dortigen 
Hoftheaters. Ihnen Jenny's Freude und Glüd zu ſchildern verfuche ich gar nicht: wiffen 
Sie doch, wie dad arme Weib nad einer Erlöfung von hier fich jehnte. Eine ſolche hätte ihr 
in angenehmerer Weiſe ala durch meine neue Stelle nicht werben können: biejelbe ift 1) fehr 
glänzend, weil ich das ganze, große Theater unter mir habe, unmittelbar unter dem König ſtehe 
und thun fann was ich will; fie ift auch 2) jehr vortheilhaft, weil ich ein höheres Gehalt als 
hier, geficherte Penfion, Umzugskoſten u. ſ. w. kriege; fie ift endlich 3) jehr angenehm, weil 
München eine reizende Stabt ift, babei nicht theuer, mitten in der Welt gelegen. Zu arbeiten 
wird es freilich geben, manches auäzuftehen auch; indeß das Ziel ift der Mühe wert. Sobald 
ich meinen Abſchied hier erhalten habe, breche ich auf, wahricheinlih ſchon in vier Wochen. 
Jenny mit den Kindern folgt zu Georgii im April. — Gott wirb feinen Segen zu bem neuen 
Leben geben, welches wir dort beginnen werben! 

Daß ih an Sie die Nachricht fchide ftatt an den Vater oder an Auguften, benen Eie 
biefelbe jebocd gleich mittheilen werben, hat feinen beſonderen Grunb. 

Ach flelle nämlih an Sie nun die wiederholte Bitte und frage, ob Sie nicht zu ums 
zurüdtehren wollen, bürfen, können? Ach fpreche Ihnen nicht davon, wie lieb dies uns perfönlic 
fein würde, lafjen Sie mich vielmehr darauf Hinweifen, dba Sie es in München umenblich befjer 
bei una finden, als in Stuttgart. Wir müßten bort ein Haus machen, beifen Führung Jenny, 
die wieder Weltdame werden muß, Ihnen unbedingt in die Hände legt; Sie werben mitten in 
einen luftigen, prächtigen Kreis treten, ber Ihnen Unterhaltung bieten wird, nicht blos Arbeit, 
Einjamfeit, Sorge. Unſere Reifen hören auf, alſo aud Ihre Verlafienheit. — München bat 
Ahnen auf ber Durchreife gefallen, es wird als Aufenthalt Ihnen noch befjer behagen — vom 
bayrifchen Bier nicht zu reden, von Fränzchen, Jella und Willi auch nicht, die Ihnen jetzt ſchen 
unendlich mehr Freude ala Laft machen werben, von meinem Theater auch nicht, gegen welches 
ba3 hiefige eine Hütte ifl. Für heike Sommermonate haben Sie das bayrifche Hochland im ber 
Nähe, das wir in allen feinen Reizen kennen lernen, bejuchen, genießen werben. — Laflen Eie 
fich verführen, liebe Tante; denken Sie nicht blos an bie Mama, für beren Pflege Sie ja bort 
wohl die rechte Hand finden werben, benten Sie vielmehr zunächſt an Ihr Leben, an Ihre Zu: 
tunft, die Sie mir vertrauensvoll anheimftellen dürfen, und ein bischen an und, bie wir, im ber 
neuen Lage, bei jeder Wendung Sie vermiffen und bedürfen werben. Wenn Sie irgenb können, 
fo beichwöre ich Sie, meiner Einladung zu folgen, und zwar fo bald als möglich, etwan Embe 
März, damit Sie meiner Frau bei der Mobilmachung des Hauſes Hilfreiche Hand leiften. Ich 
werde faum wieder von München fort können, um fie zu holen: eine furdptbare Maſſe von Ger 
ichäften wartet dort auf mich, und in ber erften Zeit werde ich für Weib und Kind nicht auf 
ber Welt fein. Ueberlegen Sie ſich, ich bitte dringend darum, die Sache genau und jagen Eie 
recht bald mir Beicheib: können Sie nicht — was id) indeh nicht annehmen mag — jo mühte 
ih in Münden für eine fremde Stellvertreterin forgen. Mein ganzes Haus aber erwartet und 
rehnet auf Sie!! — 

Neues weiß ich nichts Hinzugufügen: Jella und franz fpielen unter ihrem Ehriftbaum, 
Willi Schläft mit der Uhr ein, welche ex feiner Nana (Karoline) beicheert hat. —- Ich war wieder 
auf Ehriftabend fern von Haus, aber wir haben geftern Abend das Verfäumte nachgeholt und 
einander fchön befchenkt. Ihr Zeller liebe Tante, bleibt leer bis zum nächften Jahr. 

Herzlichſte Grüße an die Unſrigen; jagen Sie dem Alten: der Sohn, auf weldyen er am 
wenigften gehalten, werbe ihm am meiften Ehre und Freude machen! 

Ihr 
Etuttgart 4. Jan. 51. Franz Tingelftebt mp. 


Politische Rundſchau. 


— 





Berlin, Mitte April. 


Eine hiſtoriſche Begebenheit vollzog ſich am 29. März auf dem Lehrter Bahnhofe 
zu Berlin, als Fürſt Bismarck nach ſeinem Rücktritte ins Privatleben die Reichshauptſtadt 
verließ, um ſich nach Friedrichsruhe zu begeben. Als ob die Dankbarkeit des deutſchen 
Volkes für die unauslöſchlichen Verdienſte, die Fürſt Bismarck um ſein Vaterland ſich 
erworben hat, in einem hochbedeutſamen Acte zuſammengefaßt werden könnte, lieh 
die hauptſtädtiſche Bevölkerung ihren Sympathien für den Staatsmann, deſſen Wirken 
und Schaffen in goldenen Lettern in den Annalen der Weltgeſchichte verzeichnet 
ſteht, beredteſten Ausdruck. Sind Kaiſer Wilhelm I. und Kaiſer Friedrich, die Be— 
gründer der deutſchen Einheit, vom Tode abberufen worden, jo weilen die beiden 
Männer, welche an dem großen Werke der nationalen Wiedererſtehung in hervor— 
ragendſter Weiſe mitwirkten: Fürſt Bismarck und Graf Moltke, glücklicherweiſe noch 
unter uns, allein ſie ſind von dem Schauplatze abgetreten, auf dem weltgeſchichtliche 
Thaten zu verrichten ihnen beſchieden war. 

Im Gegenſatze zur Heldenverehrung Thomas Carlyle's möchten wir jedoch daran 
feſtgehalten wiſſen, daß ſelbſt die größten Männer einer Nation nur deren eigene 
Tüchtigfeit widerfpiegeln,, jo daß das deutjche Volt, welches im Jahre 1870—71 
zugleich mit feiner Opferwilligfeit auch feinen inneren Werth an den Tag legte, nur 
ſich felbit geehrt hat, ala es dem Fürſten Bismard beim Abjchiede in ergreifender 
Weiſe feine Erkenntlichkeit befundete. Wer, wie der Schreiber diejer Zeilen, an jenem 
dentwürdigen Juliabende des Jahres 1870 den patriotifchen Scenen beimohnte, die 
fi) damals vor dem Palais des Königs Wilhelm, vor den Minifterien der Aus— 
mwärtigen Angelegenheiten und des Krieges abipielten, ala dem Könige jowie feinen 
treueften Ratbgebern, dem Grafen von Biömard und dem Sriegäminifter von Roon, 
in enthufiaftiicher Weile zugejubelt wurde, befitt den Maßſtab für die Beurtheilung 
des Abjchiedes vom 29. März 1890. So darf denn von einem Augen» und Obren- 
zeugen dieſes Abjchiedes auf dem Bahnhofe jelbft — die Vorgänge in den Straßen 
bildeten nur die Ginleitung der Hauptbegebenheit — verfichert werden, daß die fran— 
zöfifchen Blätter nicht übertrieben, die in ihren Berichten hervorhoben, daß Aehnliches 
in Berlin noch nicht erlebt worden fei. Die Hauptjtädtiiche Bevölkerung wollte feinen 
Zweifel über ihre Werthichägung des Fürſten Bismard beftehen laſſen. Die Gefinnungen, 
welche fich gewiffermaßen mit elementarer Gewalt an jenem denfwürbigen Tage kund— 
gaben, bieten aber auch die volle Bürgichaft, daß des früheren Reichskanzlers Ausſpruch 
in Bezug auf die Furchtlofigfeit der Deutichen in vollem Maße berechtigt ift. Nicht 
von bangen Zweifeln zeigten fich die Theilnehmer an jenen Kundgebungen dantbarer 
Sympathie ergriffen; vielmehr gelangte auch das berechtigte Selbjtvertrauen eines in 
barter Schule erzogenen, durch bedeutfame Lebenserfahrungen gereiften Volkes zum 
harakteriftiichen Ausdrude. 

Deutihe Rundſchau. XVI, =. 20 


306 Deutſche Rundſchau. 


Daß die Widerſacher Deutſchlands, die jedes politiſche Ereigniß in ihrem Sinne 
deuten, fich beeilten, den Rücktritt des Fürſten Bismarck als ein Symptom für den 
bevorftehenden Zufammenbruch des europäifchen Friedensbündniſſes, der ZTripelallianz 
zu bezeichnen, kann nicht überrafchen. In folchen Fällen zeigt ſich eben am bdeut- 
lichten, wie unbequem und verhaßt diefes Bündniß allen Störenfrieden in Europa ift. 
Um fo empfindlicher muß daher die Enttäufchung diefer Elemente fein, wenn fie nun— 
mehr der Weberzeugung fich nicht verjchließen können, daß die Friedenspolitik, welche 
den Kern der Allianzverträge Deutjchlands mit Jtalien und Defterreich-Ungarn bildet, 
auch in Zukunft maßgebend bleiben fol. Deshalb wurde auch in dem Grlafie, in 
welchem Kaifer Wilhelm II. das Demiſſionsgeſuch des Fürften Bismard genehmigt, 
vor Allem der Hinweis mit Genugtduung begrüßt, in welchem die Verſicherung, den 
Frieden nach Kräften zu wahren, von Neuem enthalten ift. Es heißt dajelbit: „Was 
Sie für Preußen und Deutjchland gewirkt und erreicht haben, was Sie meinem Haufe, 
meinen Vorfahren und mir gewejen find, wird mir und dem deutjchen Volke in dank— 
barer, unvergänglicher Erinnerung bleiben. Aber auch im Auslande wird Ihrer weiien 
und thatlräftigen Friedenspolitit, die ich auch künftig aus voller Ueberzeugung zur 
Richtichnur meines Handelns zu machen entjchloffen bin, alle Zeit mit ruhmvoller 
Anerkennung gedacht werden.“ 

Da die chauviniftiichen Organe in Frankreich, jowie die panjlawiftiichen Blätter 
in Rußland nicht ermangelten, aller Welt zu verfündigen, der von ihnen dem Kaiſer 
Wilhelm II. zugefchriebene ungeftüme TIhatendrang könnte den nunmehr feines beften 
Rathgebers in der auswärtigen Politik entbehrenden Souverän zu kriegerischen Abenteuern 
verleiten, jo darf im Zufammenhange mit den mitgetheilten Abjchiedsworten an den 
früheren Reichskanzler auf die feierliche Verpflichtung Hingewiejen werden, die Kaiſer 
Wilhelm II. nach feiner Thronbefteigung in der Thronrede zur Eröffnung des deutichen 
Reichdtages freiwillig übernommen hat. Dieje bedeutfamen, ſelbſt die zaghaiteften 
Gemüther beruhigenden Worte lauten: „In der auswärtigen Politik bin ich entichlofien, 
Frieden zu halten mit Jedermann, jo viel an mir liegt. Meine Liebe zum deutfchen 
Heere und meine Stellung zu demjelben werden mich niemals in Verfuhung führen, 
dem Lande die Wohlthaten des Friedens zu verfümmern, wenn der Krieg nicht eine 
durch den Angriff auf das Reich oder deſſen Verbündete uns aufgedrungene Noth— 
wenbdigkeit ift. Unſer Heer ſoll uns den Frieden fichern und, wenn er uns dennoch 
gebrochen wird, im Stande fein, ihn mit Ehren zu erfämpfen. Das wird es mit 
Gottes Hülfe vermögen nad) der Stärke, die e8 durch das von Ihnen einmüthig be 
fchloffene jüngfte Wehrgeieg erhalten hat. Diefe Stärke zu Angriffsfriegen zu benußen, 
liegt meinem Herzen fern. Deutjchland bedarf weder neuen Kriegsruhmes noch irgend 
welcher Eroberungen, nachdem es fich die Berechtigung, als einige und unabhängige 
Nation zu beitehen, endgültig erkämpft hat.“ 

„Ein Kaiferwort ſoll man nicht drehen noch deuteln“ — jo daß alle freunde 
bes europäischen Friedens, infofern Deutjchland in Betracht fommt, der Zukunft um 
jo ruhiger entgegenjehen können, als die vom Kaiſer Wilhelm II. in großem Stile 
geplanten jocialen Refdrmen die Aufrechterhaltung des europäifchen Friedens zur erften 
Borausjegung haben. Diejenigen, welche dem deutjchen Kaiſer behufs Irreführung 
der öffentlichen Meinung gefliffentlich kriegeriſche Beſtrebungen zuſchreiben, laſſen ſich 
denn auch ſelbſt von nicht gerade lauteren tactiſchen Erwägungen leiten. Iſt in dem 
verbündeten Dejfterreich - Ungarn fogleich nach dem Nüdtritte des Fürſten Bismarck 
deutlich erfannt worden, daß dieſes Ereigniß troß feiner politischen Tragweite keines» 
wegs im Ffriegerifchen Sinne aufgefaßt werden dürfte, jo ift diejelbe wohlberechtigte 
Meinung auch in den maßgebenden Streifen Italiens zur vollen Geltung gelangt. 
Nicht verhehlt werden darf, daß, wie in Italien feit geraumer Zeit die Franzoſen⸗ 
freunde bemüht find, an der Tripelallianz zu rütteln, auch der jüngjte Anlaß zu folchen 
Verſuchen benußt werden follte. Will die weit überwiegende Mehrheit der italienischen 
Bevölkerung das europäifche Friedensbündniß erhalten jehen, fo richtet fich der Aniturm 
der weniger zahlreichen ala geräufchvollen Widerfacher insbefondere gegen den leitenden 


Politifche Rundſchau. 307 


Staatsmann, den Gonjeilpräfidenten Crispi. Wird diefer num auch mit Recht feiner 
Züchtigkeit und Zuverläffigleit wegen vom Fürften Bismarck als Staatdmann und 
perlönlicher Freund hochgeſchätzt, jo verbürgt doch gerade das Berbleiben Crispi's in 
feiner leitenden Stellung, jowie ala Minifter des Auswärtigen, daß, wie in Deutjch- 
land und Defterreich- Ungarn, auch in Stalien eine ausgeprägte Friedenspolitif nach 
wie vor die Richtſchnur bilden fol. Daß parlamentariiche Schwarzfeher den durch 
liberale Diffidenten unter der Führung Nicotera’8 herbeizuführenden Sturz des gegen- 
wärtigen italienischen Gonfeilpräfidenten prophezeien, ändert an der friedlichen Situation 
um fo weniger, al3 längjt befannt ift, daß, jelbjt wenn Nicotera wider Erwarten in 
abjehbarer Zeit berufen fein jollte, die Leitung der Staatögeichäfte zu übernehmen, der 
Charakter der Tripelalliang nicht im geringſten abgefchwächt werden würde. Nur die 
Sranzojenfreunde wären um eine Enttäufchung reicher. In diefem Zufammenhange 
darf auch betont werden, daß Diejenigen irren, welche dem europäifchen Friedens— 
bündniffe eine Lediglich dynaſtiſche Bedeutung beimefjen. Vielmehr entipricht es zu- 
gleih auch in vollem Maße den Lebensinterefjen der betheiligten Staaten und Völker. 
Hieraus erklärt fich der Haß, mit welchem die Tripelallianz, der ſelbſt alle Angriffs- 
bejtrebungen fern liegen, von den Gegnern bedacht wird, jo daß jedes geringfügige 
Symptom, das auf eine bevorjtehende Störung des Bünbdniffes fchließen laffen könnte, 
zu einer Haupt und Staatsaction aufgebaufcht wird. 

Bedürjfte es aber noch eines weiteren Beweifes für die Ihatfache, daß Kaifer 
Wilhelm II. feine unzweifelhaft friedliche Gefinnung auch in Werten des Friedens 
zum Ausdrude bringen will, jo braucht nur auf die am 29. März d. 9. gejchlofjene 
Berliner Arbeiterfchuß >» Conjerenz hingewieſen zu werden. Selbſt Diejenigen, welche 
in ihrer Stepfis jo weit gehen, daß fie daß von der Gonferenz erzielte Ergebniß für 
bedeutungslos erachten, müſſen zugeftehen, daß die Einberufung der Gonferenz von 
einer durchaus jriedfertigen Gefinnung vollgültige® Zeugniß ablegte, und daß eine 
Verwirklichung ſolcher Socialreformen ſelbſt in beſcheidenem Maßſtabe, wenn überhaupt, 
nur in tiefem Weltfrieden möglich iſt. Wie charakteriftifch erſcheinen in dieſer Hinſicht 
die Vorgänge, die fich mach der Unterzeichnung des Schlußprotocoll® der Berliner 
Conferenz abipielten! Sämmtliche Delegirte zollten der Anfprache des Vorſitzenden, 
des preußiichen Handelsminifters von Berlepſch, Beifall, ala eines der von der Konferenz 
erzielten GErgebniffe dahin formulirt wurde, daß eine Grundlage gefunden wäre, auf 
welcher der Gedanke, der arbeitenden Glaffe in den induftriellen Staaten Europa's 
einen erhöhten Schuß, eine größere Sicherung ihrer materiellen, phyſiſchen, moralifchen 
und intellectuellen Kräfte zu gewähren, fortleben und weiter ausgeitaltet werden könne. 
Nicht minder wurde in der Ansprache hervorgehoben, wie die Feſtſtellung gelungen 
jei, daß es einheitliche internationale Gefichtspuntte gebe, nach denen die Löfung 
der Trage des Arbeiterſchutzes von den Regierungen der einzelnen Länder ins Auge 
geiaßt werden könne, natürlich unter Berüdfichtigung der eigenthümlichen Berhält- 
niffe ihres Landes. freilich verhehlte der Worfiende der Gonferenz andererfeits 
nicht die Schwierigkeiten, die in Betracht fommenden Fragen des Schubes der Arbeit 
durch deren Beichränkung nach Art, Zeit und Dauer auch nur von einem einheitlichen 
Gefichtspunkte aus zu betrachten. Sicherlich ſprach dann der englifche Vertreter, Sir 
Hohn Gorft, zugleich allen übrigen Delegirten aus dem Herzen, ala er das erfreuliche 
Ergebniß der Berliner Gonferenz dahin zujfammenfaßte, daB diefe Zujammenkunft 
Hoffentlich nicht die lebte fein, und daß man fich jpäter nur mit Dankbarkeit der 
Spnitiative des Kaiſers Wilhelm II. erinnern werde, wenn Millionen von Kindern 
dem Elend entzogen und ebenjo viele Frauen dem häuslichen Leben wiedergegeben 
fein würden. Die Solidarität der Delegirten der verfchiedenen Staaten war auch 
bereit3 am Abende vorher zum erfreulichen Ausdrude gelangt, ala unter Anderen ber 
Vertreter Dänemarks, Tietgen, und derjenige Frankreichs, Jules Simon, die menjchen- 
freundlichen Beitrebungen der Berliner Gonferenz in den Vordergrund rüdten. Nur 
Utopijten können wähnen, daß durch diefelbe alle politiichen Gegenſätze aus der Welt 
gebracht werden könnten; immerhin bleibt aber die Thatſache beftehen, daß es außer 

20* 


308 Deutfche Rundſchau. 


den Gegenſätzen im Leben der Völker auch verjöhnende, bindende Elemente gibt, und 
daß deren Pflege und Ausgeftaltung wiederum der Givilifation, den Werten des 
Friedens dient. Mögen auch die volkswirthſchaftlichen Autoritäten in überzeugender 
Weiſe Hlarlegen, daß eine internationale Regelung der Arbeitözeit der Ertwachjenen im 
Hinblide auf die Verfchiedenheiten der Production, des Klimas u. ſ. w. unmöglich 
iſt, jo erfcheint doch nicht ausgefchloffen, daß in Bezug auf die Regelung der Aıbeit 
in Bergwerfen, jowie der Kinder: und Frauenarbeit dankenswerthe Reformen erzielt 
werden. Man braucht nur an die in Emile Zola’3 Roman „Germinal” gejchilderten 
Mibftände im Bergbau zu erinnern — don Sachverftändigen wurde beim Erſcheinen 
diefes „Sittenromans“ die Treue mancher Schilderung zugegeben — um zu zeigen, 
daß es fich bei den geplanten Reformen des Arbeiterfchußes nicht etwa um ein fpecielles 
Intereſſe Deutjchlands Handelt. 

Die Arbeiten der Berliner Arbeiterfchuß-Eonferenz werden unzweifelhaft zunächſt 
in der Vorlage fich fruchtbar erweifen, welche dem auf ben 6. Mai einberufenen deut- 
ſchen Reichätag in der bevorftehenden oder einer jpäteren Seſſion unterbreitet werden 
fol. Der neue Reichskanzler von Gaprivi, der in parlamentariichen Berhältnifien 
bereitö wohlerfahren und von der Zeit her, in welcher er mit der Leitung der Admi— 
ralität betraut war, wegen feiner Pflichttreue und feines Entgegenfommens allgemein 
geihägt ift, wird in einer der erften Seffionen des deutjchen Reichstags auch Gelegenheit 
haben, eine neue colonialpolitifche fowie die militärifchen Vorlagen zu vertreten, welche 
leteren unter Anderem eine wefentliche Verſtärkung der Feldartillerie bezweden. Im 
der Sitzung des preußifchen Abgeordnetenhaufes vom 15. April entwidelte der neue 
Reichskanzler und Minifterpräfident feine allgemeine Auffaffung der Lage. Er lieh 
der Ueberzeugung Ausdrud, daß das Gebäude, das unter der hervorragenden Mit- 
wirkung des Fürſten Bismard, feiner genialen Kraft, feines eifernen Willens , jeiner 
tiefen Baterlandäliebe entjtanden, jet genug gegründet und gefügt ift, um auch, wenn 
feine jtüßende Hand fehlt, Wind und Wetter wibderftehen zu können. Iſt an diefer 
Stelle ftet3 von Neuem darauf hingewiejen worden, daß das Staatswohl durch öden 
PBarteizwift nicht gehindert werden kann, jo durfte in der Rede des Reichskanzlers der 
jenige Theil mit bejonderer Genugthuung begrüßt werden, in welchem hervorgehoben 
wurde, daß die Regierung das Gute nehmen würde, von wo und durch wen es aud 
fomme, und daß diefem Guten Folge gegeben werden folle, wenn dies mit dem Staats 
wohle vereinbar wäre. 

Was die auswärtige Politik betrifft, jo Liegen bereits authentifche Kundgebungen 
des zugleich mit der Leitung des Minifteriums des Auswärtigen betrauten neuen deutjchen 
Reichskanzlers vor, aus denen erhellt, daß das Bündniß Deutjchlande mit Italien 
und Oefterreich- Ungarn auch in Zukunft die fichere Grundlage der auswärtigen Politik 
Deutichlands bilden wird. Die Schreiben, welche General von Gaprivi an die leitenden 
Staatsmänner der verbündeten Monardhien, an Crispi und den Grafen Kalnoky, ge 
richtet hat, laſſen über die Herzlichen Beziehungen zwifchen Deutjchland, Defterreich- 
Ungarn und Italien auch nicht den geringften Zweifel .beftehen. Wie ſehr dieſes 
Bündniß der Aufrechterhaltung des Friedens dienen ſoll, erhellt auch daraus, daß die 
dem italienischen Gonfeilpräfidenten nabeftehenden Organe einftimmig verfichern, die 
Tripelalliang werde keineswegs freundnachbarliche Beziehungen Italiens zu Frankreich 
verhindern. Gegenüber den Verſuchen eines Theils der franzöfiichen Prefie, die Politik 
Crispi's als eine agreffive darzuftellen, darf auch auf den Act internationaler Höflich- 
feit bingewiefen werden, welcher ſogleich nach dem Bekanntwerden der Abficht des 
Präfidenten der jranzöfifchen Republit, bei Gelegenheit feiner neuen Rumdreife fih in 
der Nähe der italienischen Grenze aufzuhalten, bejchloffen worden ift. Ein italienisches 
Geſchwader begrüßte bei diefem Anlaffe Herrn Garnot, ein Act der italienifchen 
Negierung, welcher nicht verfehlt hat, auf die maßgebenden Sreife in Frankreich den 
günftigften Eindrud zu machen. Die aus Princip Uebelwollenden werden allerdings 
auch durch jolche friedliche Vorgänge nicht eines Befjeren belehrt werden. 


Politiſche Rundichau. 309 


Daß es fi in der That in den Betrachtungen vieler Schwarzjeher auf dem Ge- 
biete der auswärtigen Politit um einen grundfäßlichen Peſſimismus handelt, ergibt 
ih auch aus der Fülle völlig grundlojer Gerüchte, die ſich an die Erſetzung des 
Fürften Bismard durch einen General fnüpften. Ein Theil der auswärtigen Preſſe 
verwechjelte offenbar den an ftrenge Pflichterfülung und Disciplin gewöhnten, zugleid) 
im parlamentarifchen Verkehr bewährten preußifchen General mit eigenen Muftern. 
Beinahe hätte man glauben können, daß jenen Organen die fprichwörtlichen cosas di 
Espaüa vorjchwebten, welche gerade in diefen Tagen durch das an ein Pronunciamiento 
anflingende Rundjchreiben des Generals und Senator? Daban dabei wieder ind Ge- 
dächtniß gerufen wurden. Durch rafches und energifches Eingreifen hat dag Minifterium 
Sagajta zwar die augenblidliche Gefahr bejeitigt und der militärischen Disciplin Achtung 
verschafft; da jedoch General Daban zugleih Mitglied des Senates ift, wurde die 
Angelegenheit auch zu einer parlamentarifchen Streitfrage aufgebaufcht, welche in 
Spanien das gefammte öffentliche Intereffe in Anjpruch nahm. General Daban, der 
als einer der Theilnefmer am Pronunciamiento von Sagunt zu Gunjten der Wieder- 
beritellung der Monarchie unter Alfons XII. fih auf feine royaliftifche Gefinnung 
beruft, forderte in dem erwähnten Rundjchreiben die übrigen Generale auf, gegenüber 
einer Reihe von Vorlagen des Minifteriums Stellung zu nehmen. So befämpfte er 
die Abänderung der Regierungsgewalten in den Golonien, die Aufhebung der dajelbit 
beftehenden Generalcapitanate, die Veränderung des Truppenbeftandes in den Colonien 
u. j. w. Hätte General Daban feinen Widerfpruch gegen diefe Vorlagen im Senate 
zur Geltung gebracht, jo würde dagegen ficherlich nichts einzuwenden gewejen jein. Der 
General forderte aber mit Haren Worten zu einem formellen Protejte auf, indem er 
betonte, daß Diejenigen, welche Eraft des Geſetzes mit einem öffentlichen Charakter be— 
fleidet wären, der gefchädigt werden würde, falls die Pläne der Regierung zur Aus- 
führung gelangten, im Hinblik auf die in Zukunft für das Land und die Stärke des 
Heers zu befürchtenden Folgen nicht ruhig bleiben könnten. Noch entjchiedener richtete 
fi) das Rundfchreiben des Generald Daban gegen andere von der Regierung in den 
Eolonien geplante Reformen, durch welche der Givilgewalt ein maßgebender Einfluß 
gefichert werden foll. Hier forderte der Urheber des Rundfchreibend an die Generale 
diefe direct zur Auflehnung auf, indem er hervorhob, daß Generale von anerkannter, 
durch langjährige Dienfte erworbenen Urtheilsfähigkeit fich nicht den Befehlen von 
Männern fügen werden, deren Bedeutung in den meiſten Fällen eine jehr geringe oder 
gar feine Gewähr für die großen Verantwortlichkeiten bieten könne, die mit den höheren 
Regierungsftellen in den überjeeifchen Befigungen verbunden find. Durch die gegen 
den General Daban wegen feines Rundjchreibens verhängte Digciplinarftrafe ſpitzte fich 
bie Angelegenheit fogleich auch zu einem parlamentarifchen Gonflicte zu, in welchem 
die Oppofition heftig den Standpunkt der Regierung befämpfte. Bedenklicher ericheinen 
muß, daß eine Anzahl Generale das Verhalten deö Generald Daban, abgejehen von 
der conjtitutionellen frage jelbit, ob ein Mitglied des Senats ohne Befragen dieſer 
parlamentarifchen Körperjchaft disciplinarifch bejtraft werden könnte, vollitändig billigte. 
General Salzedo 3. B. ergriff in einem fpanifchen Blatte für General Daban durchaus 
Partei, worauf die Regierung das Berfahren gegen ihn einleiten ließ. Die heftigen 
parlamentarifchen Scenen, die fih in den Kammern abfpielten, find ebenfalla von 
fomptomatifcher Bedeutung. Andererjeitd muß zugeftanden werden, daß Gagafta die 
Zügel der Regierung bisher nicht aus den Händen verloren hat, jo daß gehofft werben 
darf, dieſer militärifche Anjturm werde feine ernfteren Folgen haben. Immerhin 
wird die Regierung in Spanien wohl daran thun, das Treiben der noch immer zu 
Pronunciamientos neigenden Generale nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Gegen- 
ftüd zu dem Verhalten der Generale bildeten die Ruheftörungen in Valencia, die zu— 
nächft gegen den Karlismus gerichtet waren. 

Während in Spanien, dem claffiichen Lande der Pronunciamientos, die höchſt— 
geftellten Officiere für die in der Armee herrſchende Disciplin durch ihr eigenes Verhalten 
ein jchlechtes Zeugniß auaftellten, und ein Theil der Berölferung von Valencia die 


310 Deutſche Rundſchau. 


ſchlimmſten Ausſchreitungen beging, haben auch in einigen Vororten Wiens nach den 
Oſterfeiertagen arge Ausſchreitungen ſtattgefunden, die allerdings mit einem Maurerſtrike 
in der öſterreichiſchen Hauptſtadt in Zuſammenhang gebracht wurden, in Wirklichkeit 
aber lediglich als Exceſſe des Pobels angeſehen werden müſſen. Die „Baſſermann'ſchen 
Geſtalten“, welche bei dieſen Ausſchreitungen den Pöbel zur Plünderung, ja ſelbſt zur 
Brandſtiftung aufforderten, haben ſicherlich andere Intereſſen als die am Maurerſtrike 
betheiligten wirklichen Arbeiter. Andererſeits würden die Maurer ſelbſt nicht nur vor 
verbrecherifchen Acten zurückgeſchreckt fein, fondern vorgezogen haben, ihre Demonftrationen 
am 1. Mai d. J. zu infceniren. Soll doch an diefem Tage auf Grund eines Beſchluſſes 
des vorjährigen in Paris gehaltenen internationalen Socialiftencongrefjes eine allgemeine 
Demonjtration der jocialdemokratifchen Arbeiter aller Länder ftattfinden. Dieje Hunde 
gebung bezwedt, im deutlichiter Weife das Feithalten der Arbeiter an der Forderung des 
achtjtündigen Arbeitätages jowie des internationalen Arbeiterfchuges zu betonen. Wie 
wenig einig und zielbewußt die Theilnehmer an dem Beichluffe des Parijer inter 
nationalen Socialiftencongrefjes ſelbſt geweſen find, erhellt daraus, daß fie über die 
Ausführung ihres Bejchluffes keinerlei beftimmte Vorſchriften machten, vielmehr Alles 
den Arbeiterorganijationen der verjchiedenen Länder überließen. Daher kann es nicht 
überrafchen, daß die jocialdemokratifchen Parteien der einzelnen Staaten keineswegs in 
der Auffaffung der von Paris her ertheilten Loſung übereinjtimmen. 

Diefer Streit der Meinungen jehte fi dann innerhalb der jocialdemofratijchen 
Partei eines jeden Landes fort; die radicalen Elemente verlangten, daß der 1. Mai zum 
Arbeiterfeiertage gemacht werde, damit der Bourgeoifie die Symbolik eines ſolchen Feſt— 
tages in deutlicher Weife zu Gemüthe geführt werde, während die befonneneren Mitglieder 
der Partei die allgemeine Demonftration der Socialdemofratie auf Mafjenverfammlungen 
und Feitlichkeiten bejchränft willen wollen, jo daß die Arbeit jelbft an diefem Tage 
nicht ruhen würde. In den Verfammlungen follen Beichlüffe gefaßt werden, in denen 
die Forderung des Parifer internationalen Arbeitercongrefjes zu Gunjten des acht— 
ftündigen Arbeitätages und des Arbeiterſchutzes aufrecht erhalten wird. Zunächft 
leuchtet ein, daß, wenn die Socialdemofraten von Anfang an in einer jolchen Ans 
gelegenheit in Streit gerathen, diejenigen, welche durch die Großartigfeit und All 
gemeinheit der Kundgebung belehrt und befehrt werden jollen, feine Veranlafjung 
haben, die internationale Tragweite der Parifer Beſchlüſſe anzuerkennen. Hierzu kommt 
dann, daß gerade innerhalb der deutichen Socialdemofratie die in Bezug auf dieje 
Beichlüffe beitehenden Gegenſätze am deutlichjten zur Ericheinung gelangt find. Mögen 
nun auch die focialdemofratiichen Parteiführer wie Liebfnecht, wenn fie fich gegenüber 
dem „Weltfeiertage” ablehnend verhalten, durch taktijche Erwägungen beftimmt werden, 
weil fie das Fehlſchlagen einer univerjellen Kundgebung fürchten, jo ijt doch in hohem 
Grade bemerkenswerth, daß die von den focialdemokratiichen Organen bei jeder Ges 
legenheit gerühmte Parteidisciplin in demjelben Augenblide verfagte, in welchem der 
internationale Charakter, die Solidarität der Socialdemokratie aller Länder die Feuer— 
probe bejtehen jollte. Bier zeigt fich auch in draftiicher Weife, wie die Parteigenofien 
jogleich unter einander in den heftigiten Conflict gerathen würden, falls es ihnen in 
der That einmal wider alles Erwarten irgendwo in der Welt gelingen follte, ihren 
Staat verwirklicht zu jehen. Fehlte doch jetzt nicht viel, und die rückſichtslos an— 
jtürmende junge Socialdemofratie hätte die biäherigen Führer zum „alten Eifen“ ger 
worfen, weil diefe, anitatt einen unmöglichen „Weltfeiertag” zu organifiren, fich zu— 
nächft auf eine Reihe platonifcher Refolutionen und minder platonischer FFeitlichkeiten 
beichränten wollten. 


Literarifhe Rundſchau. 





Neue Actenſtücke zur Revolutionsgeichichte. 





Collection de Documents inedits sur l’Histoire de France, publies par les soins du Ministre 
= l’Instruction eng Recueil des Actes du Comite du Salut public, publi& par 
. A. Aulard. Paris, Imprimerie nationale. 1889. — Tome deuxieme, 1890. 

— F. A. Aulard, einem Hiſtoriker, der an der Pariſer Univerſität über 
Revolutionsgeſchichte lieſt und bereite Verſchiedenes über dieſen fpeciellen Gegenjtand 
feiner Studien veröffentlicht hat’), wurde vom franzöfifchen Unterrichtsminifterium der 
Auftrag ertheilt, die Acten des Wohlfahrtsausſchuſſes zu veröffentlichen. Die beiden 
eriten ung vorliegenden, von der Staatödruderei mit aller Sorgfalt ausgeftatteten Bände 
diefer Publication umfaffen den Zeitraum zwiſchen der thatjächlichen Gründung des 
erjten Comit& du Salut public, nach dem 10. Auguft 1792, bi8 zum 31. März 1793, 
und enthalten, nebft den genannten Actenftüden, die officielle Gorrefpondenz der in die 
verjchiedenen Provinzen gejfandten Volksvertreter und ein Regijter der Verhandlungen 
de3 prodiforifchen Executivcomites. Nicht alle diefe Documente find den Forjchern 
bis jet unbefannt geblieben, denn Vieles wurde während des Gonvents von der 
Regierung ſelbſt veröffentlicht, Anderes den Zeitungen mitgetheilt oder von den Nächit« 
betheiligten in bejonderen Schriften verwerthet; insbefondere enthält unter Anderem 
der Rechenſchaftsbericht Danton's und feiner Gollegen über ihre Miſſion in Belgien 
bereitö ſolche Briefe der Commiſſäre des Convents, die einen genauen Einblid in die 
Art und Weife geftatten, wie diefe „Miffionäre von 1793“ ihren Beruf auffaßten und 
durchführten. Dagegen beanjprucht die Veröffentlichung von Aulard das Berdienft 
möglichſter VBollftändigfeit und Genauigkeit in Bezug auf die Wiedergabe von Terten, 
die er jelbft alö die Grundlage der ganzen Regierungägefchichte Frankreichs unter der 
Herrſchaft des Nationalconvents bezeichnet. Mit der Einfchränkung freilich, daß zu 
verfchiedenen Zeiten, und ganz befonders unter der Herrichaft der Thermidorianer, ver— 
ſchiedene Mitglieder dee Wohlfahrtsausfchuffes aus Rückſicht auf die eigene Sicherheit 
allen Grund Hatten, die wichtigften Documente aus feinen Archiven verjchtwinden zu 
machen. Bon diefem Auskunftsmittel iſt denn auch jo auögiebig Gebrauch gemacht 
worden, daß die Actenftüde für ganze Zeitabjchnitte fehlen, während die Berathungen 
deö allgemeinen Sicherheitsausfchuffes überhaupt nicht zu Papier gebracht wurden. 

Weit lüdenhafter ala dieſe, theils auf die innere Verwaltung, theils auf die 
Vertheidigung des Landes bezüglichen Weröffentlichungen, erweift fich der zweite 
Abjchnitt der vorliegenden Sammlung, die Gorreipondenzen nämlich der Commiſſäre 
des Gonvent3, die mehrfach in den Originalen, öfter jedoch in Copien oder bloßen 
Analyſen und unter den verjchiedenften Rubriken, ſich im Nationalarhiv und in den 
Archiven der einzelnen Minifterien vorfanden. Dollftändig aber ijt feine diefer Samm— 
(ungen, und nur in einzelnen Fällen ift e8 Herrn Aulard gelungen, fie durch Briefe 
und Actenftüde zu ergänzen, die, im Privatbefig befindlich, fich bis heute den Nach» 
forfcehungen der Gelehrten entzogen Hatten und zum großen Theil noch entziehen. 

Aus diefer dreifachen Duelle hat der Herausgeber feine Documente gewonnen, in 
Hronologifche Ordnung gebracht und mit erläuternden Noten, meift biographifchen 
Inhalts, verjehen; allein er hat noch mehr als diejes gethan, und in feiner Einleitung 
auf die Entwidlung der Dinge zurüdgegriffen, wie fie vom Augenblid an fich geftaltete, 
wo die Legislative, durch Einjegung der Commission des Douze, der Erecutive auf 
diefe vorläufig indirecte Art und Weiſe fich zu bemächtigen fuchte. Das geichah am 


1) F. 9. Aulard, „La Revolution frangaise“ Revue —— par: „L'éloquence parle- 
mentaire pendant la Rövolution frangaise. Les Orateurs de l’Assemblee constituante“. 1 Vol. 
„Les Orateurs de la Legislative et de la Convention“. 2 Vol. Paris, Poitier. 1882, 1885. 


312 Deutfche Rundſchau. 


9, März 1792, unter dem Gindrud der Panik, die der Ermordung des Maire von 
Gtampes folgte, und damit war der erjte Schritt zur Gründung des Wohlfahrts- 
ausschuffes getan und die revolutionärfte aller Maßregeln durchgeführt, wonach die 
Träger ber gejeßgebenden Gewalt zugleich mit der Ausführung der don ihnen erlaflenen 
Geſehe betraut wurden, und zwar nicht als verantwortliche Minifter der Krone oder 
der Verfammlung, fondern ala Mitglieder oder Bevollmächtigte, zuerft einer provifo- 
riſchen Erecutive, und dann jenes MWohlfahrtsausfchuffes, der die Kriegsgefahr aus— 
beutete, um die Herrichaft des Schredens zu begründen und die Volksvertretung nicht 
weniger als die gegnerifchen Parteien terrorifirte.e Unter folchen Umftänden war an 
eine objective Darftellung der Verhältniffe durch die Commiſſäre des Gonvents, les 
commissaires patriotes, wie fie bezeichnend genannt wurden, gar nicht zu denken. Sie 
fungirten ala geheime Agenten, ald Spione, nicht nur der Bevölkerung, fondern mehr 
noch den Regierungsorganen gegenüber, und ihre officielle Miffion bot nur den Bor: 
wand für diefe ihre eigentlichen Zwecke: „Um die Sicherheit von Meb verbürgen zu 
können,“ fjchrieb der dortige Maire Anthoine am 30. Auguft 1792, „brauche ich drei 
patriotiſche Commiffäre, um im Einverftändniß mit mir auf das Volk, die Garnifon, 
die Armee einzuwirken, und dem Minifterrat Bericht zu erftatten.” Das Vorgehen 
der Municipalität von Sedan, die bekanntlich die Commiſſäre der Legislative, Antonelle, 
Kerfaint und Peraldy, am 14. Auguft 1792 verhaften ließ, um die Gegen: 
bewegung zu unterftügen, die La Fayette zu Gunften der gejtürzten Conftitution an 
der Spitze der Nordarmee verfuchte, blieb in den Annalen der Revolutionsgejchichte 
vollftändig vereinzelt. Der General entlam mit genauer Noth über die belgifche 
Grenze, wo er den Defterreichern in die Hände fiel. Die Behörden, die zu wider: 
ftehen verfucht Hatten, wurben fuspendirt, dann abgejegt und verfolgt, und neue 
Commiſſäre emannt, die kraft ihrer VBollmachten jede gegnerifche Regung zu unterdrüden 
wußten. Die Erecutive von Danton aber, durd die Erfahrung gewarnt, ſprach ſich 
durch ein befonderes Decret vom 27. Auguft 1792 das Recht zu, ohne jede weitere 
Formalität und Verzögerung überallfin, wo fie es für nützlich und zweckdienlich 
erachtete, Agenten in geheimer oder bejonderer Miffton abzufenden. „Il faut nous 
montrer terribles, c’est du caractere qu'il faut pour soutenir la liberts,“ erklärte 
Danton unter dem Beifall jeiner Eollegen, als er die Abfegung von Montesguion 
decretirte, welcher mit der Südarmee nach Savoyen vordringen follte, jedoch ala 
Eonftitutioneller den Machthabern des Tages längjt verdächtig geworden war und ihrer 
Rache zum Opfer fiel, obwohl aus den Actenftüden nachgewiejen ift, daß in feinem 
Tall jelbft die Commiſſäre feinen militärifchen Fähigkeiten ein glänzende® Zeugnif 
gaben. Ganz anders Elangen die Berichte aus dem Lager von Dumouriez, der, dem 
Anscheine nah, ſich noch im vollften Einverftändniß mit der Erecutive in Paris 
befand. Don feinem Heere jchrieben die Abgefandten, es erjcheine ihnen wie eine 
Verſammlung von Brüdern, eine wahre Gejellfchaft von Freunden der Freiheit und 
Gleichheit, von echten Republifanern. Die Nation könne feine wärmeren Bertheidiger 
des Vaterlandes fi) wünſchen. Als die Commiſſäre in den Reihen diefer Tapferen 
zwei Frauenzimmern, den Bürgerinnen Fernig, begegneten, fannte ihr Enthuſiasmus 
vollends feine Grenzen mehr. „Dieje beiden jungen Mädchen,“ fchrieben fie, „find ftets 
in den vorderen Reihen am gefährlichiten Posten zu finden, und in diefer Armee von 
jungen Bürgern genießen fie nur Achtung und Verehrung. Dad war ftetö der Lohn 
wahrer Tugend. Es wird dem Nationalconvent nicht entgehen, daß unter der Regierung 
ſtarl's VII. ein beroifches Mädchen den König auf den Thron zurüdführte. Nun 
befißen wir deren zwei, die für umfere Befreiung dom vielhundertjährigen Joch der 
Tyrannei kämpfen.“ Die Schweitern Yernig, deren Spuren die Gejchichte zu wider: 
holten Malen gefolgt ift!), rechtiertigten diefe Erwartungen ſehr unvollftändig. Sie 
verfhwanden vom Schauplag, nachdem fie fich einige Male ganz tapfer geichlagen 
hatten: den Ruhm von Jeanne d’Arc verdunkelten fie nicht. 


1,9. Bonhomme, „Melle — de Fernig, Aide-de-camp du general Dumouriez. 
Correspondance inedite*, Paris, Mesnil. 1878. 


Literariihe Rundſchau. 313 


Eine andere Art, das Wohlgefallen ihrer Auftraggeber zu erweden, vernachläffigten 
die Commifjäre ebenfo wenig. Sie fchilderten in den jchwärzeften Farben das Ver— 
halten des Feindes und berichteten unter Anderem nach der Beſetzung von Lille, am 
6. October 1792, wie die Grzherzogin Chriftine, Schwefter der Königin Marie 
Antoinette, perfönlich Gefallen daran gefunden Habe, mit eigener Hand Kugeln in die 
verhaßte Stadt zu werfen. Die Defterreicher werden in dieſen Berichten nie anders 
als Barbaren, Briganten, Räuber und Plünderer genannt. Schlimmer noch freilich 
erging es den politiichen Gegnern. Pier derjelben, die in Lille während der Be— 
lagerung eine Adrefje an den König unterzeichnet Hatten, wurden augenblidlich ver— 
haftet: „Ils avaient sign& une flagorneuse et feuillantine adresse,“ jchrieben die 
Gommiffäre, die im königstreuen, ruhigen Flandern ganz bejonders viel zu thun fanden, 
bis der Widerftand gebrochen war. Ein von ihnen unterzeichnete Actenſtück, vom 
7. November 1792, aus Lille datirt, beweift wie ſehr fie jelbft fich überwacht und 
in Gefahr wußten, jelbft wieder verdächtigt zu werden; und es ift bemerfenawerth, 
daß zwei derfelben, Delmas und Duquesnoy, ſpäter durch Selbftmord ums Xeben 
famen. Grfreulicher ala eine Thätigkeit, die fie dazu verurtheilte, zuerjt die Angeber, 
dann die Verräther und Berfolger jo vieler ihrer Mitbürger zu werben, gejtaltete fich 
ihre Aufgabe, jo lange fie von republifanifchen Siegen zu erzählen hatten. In ihren 
Berichten wird die Kriegsgeſchichte manche Aufklärung einzelner Thatjachen und 
Epifoden finden. Für Diejenigen aber, die fich der Mühe nicht unterziehen können, 
das hiftorische Material aus erjter Quelle zu beichaffen, hält H. Wallon ein Werk 
bereit, das unter dem Zitel: „Les Representants du peuple en mission“ die vor— 
liegende Documentenfammlung zum anjchaulichen Bilde zufammenfaßt und verwerthet. 


— — — 


Erinnerungen eines Schleswig-Holſteiners. 


Erinnerungen eines Schleswig-Holſteiners. Bon Rudolf Schleiden. Neue 

Folge. 1841—1848. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1890. 

Den „Jugenderinnerungen“ Rudolf Schleiden's, welche vor vier Jahren erſchienen 
find, folgt nunmehr eine Fortſetzung, welche die Jahre 1841—1848 behandelt und 
an Intereſſe der erjten Folge nicht nachiteht. Schleiden hat diefe Jahre verbracht 
zuerft als Amtejecretär in Reinbeck an der boljteinijch - Hamburgifch » lauenburgifchen 
Grenze, dann als Auslultant und ordentlicher Gommittirter an dem General-Zollkammer— 
Gommerzcollegium in Kopenhagen; alfo anfänglich in ziemlich jubalternen, bald aber in 
höheren und einflußreichen Stellungen. Bon Anfang an bewährte er fich als tüchtiger, 
auch den jchwierigiten Arbeiten gewachjener Jurift; es ift daher wohl begreiflich, daß er 
frühzeitig in die Hauptftadt und in die Gentralverwaltung gezogen wurde und bier 
als Gommittirter, d. h. ala Stellvertreter des Sectionschefs verwendet ward. 

Entjprechend diefer amtlichen Stellung Schleiden’3 liegt das Intereſſe des Buches 
guten Theild darin, daß wir einen genauen Einblid in die Verwaltung Holjteing, 
bezw. Dänemarks, wie fie im fünften Jahrzehnt diefes Jahrhunderts war, erhalten. 
Unmerflich verbindet ſich aber mit dieſen ftaatsrechtlichen und verwaltungstechnifchen 
Dingen doch ein weiterreichendes Interefje; es formen fich vor unferen Augen Gultur- 
bilder aus jenen Tagen, da das Dänenthum den Verfuch machte, ſich die Elbherzog- 
thümer für immer anzugliedern. Schleiden’s ebenjo fachliche als den Stempel einer 
marligen, zielbewußten Perfönlichkeit tragenden Aufzeichnungen führen uns von dem 
Umkreis in den Mittelpunkt jenes geträumten Gejammtjtaates, gegen welchen 1848 
der erfte, 1863 der zweite — und dann fiegreihe — Gegenftoß erfolgte. Wir 
lejen von der bänifchen und deutſchen Gejellichait in Kopenhagen und verftehen es 
volltommen, wenn Schleiden fi) nur in letzterer wahrhaft heimiſch fühlte: „in der 
ersteren wurde ein viel größeres Gewicht auf die materiellen Genüffe gelegt, und die 
Zahl der Auftern, welche man dort verzehrte, überftieg häufig diejenigen der quten 


314 Deutiche Rundſchau. 


Gedanken, welche man zu hören befam .... Vielleicht fam mir das aber nur jo 
vor, weil ich dort meiflena nur bei größeren Vergnügungen bingezogen ward; denn 
in dem einzigen dänifchen Haufe, in welchem ich jehr viel und gern ein» und audging, in 
demjenigen meine® verehrten Kammerdirectors Bluhme, herrfchte, wenn es nicht gerade 
zu repräfentiren galt, ein jo behaglicher Ton ala möglich... . Erfreulich war es, 
daß in den Gefellfchaiten, wo Deutjche und Dänen zujammentrafen, jedes Geipräd 
über die politifhen Differenzen möglichft vermieden ward. Denn jo gerne meine 
Greunde und ich uns über die unfeligen Berhältniffe ausgefprochen Hätten, hielten 
wir es doch für geboten, uns einftweilen zurüdzuhalten, um nicht durch unzeitiges 
Reden die Möglichkeit zu verlieren, künftig in einflußreicher Stellung für das 
Wohl des Baterlardes wirken zu können. Wir wußten, daß die dänifchen Politiler 
fein Mittel jcheuten, ihre vermeintlichen Gegner zu Falle zu bringen.“ Die angedeutete 
Möglichkeit ſchwand freilich völlig durch den „offenen Brief" König Chriſtian's VIII. 
(8. Yuli 1846), welcher die Ueberzeugung des Königs befundete, daß für Schleswig 
und Lauenburg diejelbe Erbfolge gelte wie für Dänemark, und nur für einzelne Theile 
von Holftein dasjelbe nicht mit gleicher Beftimmtheit ausgeſprochen werden könne; der 
König verhieß aber, daß er unabläffig bejtrebt fein werde, die vollitändige Anerkennung 
ber Untrennbarfeit des däniſchen Gefammtftaates zu Wege zu bringen. Ueber die Ent 
ftehung des offenen Briefes macht Schleiden (S. 148 fi.) ſehr intereffante Angaben, 
aus welchen erfichtlich wird, daß derſelbe im allererjter Linie des Königs eigenfter 
Gedanke geweien ift: in faſt dreivierteljtündiger Nede hat er in einem großen Krontath 
feine Anficht von der Nothwendigkeit einer folchen Erklärung begründet, mit welcher 
er den Plan feines Ahnheren Friedrich's IV. vom Jahre 1721 zur Ausführung bringen 
und den Wünfchen der Roeskilder Ständeverfammlung entjprechen wollte. Der Eindrud 
der Rede des Königs war jo mächtig, daß alle dänijchen Mitglieder des Kronratbs 
bis auf drei dem Monarchen beipflichteten; die Deutjchen aber, der Minijter des Aus: 
wärtigen, Graf Heinrich Rewentlotw -Griminil und fein Bruder Graf Joſeph, der 
Kanzleipräfident, blieben ftandhaft dabei, daß ohne vorausgehende Verhandlung mit 
den Großmächten eine jolche Erklärung höchſt bedenklich fei. Graf Joſeph „Itand da 
bei da wie eine Eiche“. Wenn troßdem der Minifter und der Präfident im Amte 
blieben, jo geichah e8 nach Schleiden, um die Aufregung in den Herzogthümern nit 
durch ihren Rücktritt noch mehr zu fteigern, in welchem Falle ein Aufruhr zu be 
fürchten war; Graf Heinrich hat jpäter, kurz bevor er am 9. April 1848 der vorläufigen 
Regierung Schleawig-Holfteins jeine Dienfte anbot, bezeugt, daß er eine Verftändigung 
auf dem Boden der Perfonalunion und der Erbfolge der Verwandten ohne gewaltjamen 
Umfturz immer noch für möglich gehalten habe, was aber durch den Tod des Königs 
(am 20. Januar 1848) allerdings ganz ausgejchloffen wurde. Chriſtian's VIIL 
Sohn, Friedrich VII., ließ fich von der populären Agitation vollends ergreifen und 
erflärte am 24. März 1848, wo die von Paris ausgehenden Wellen auch Kopenhagen 
überfluthet hatten, daß Dänemark und Schleswig durch eine freie Verfafjung vereinigt 
werden, Holjtein dagegen ala deutjcher Bundesftaat feine eigene freie Berfafjung haben 
folle. Aljo Dänemark bis zur Eider: angefichts dieſes Sieges des national-däniſchen 
Fanatismus hielt e8 Schleiden für feine Pflicht, feine Entlaffung zu nehmen, „da et 
unter den gegenwärtigen Umftänden dem König nicht mehr mit dem Gifer umd der 
Hingebung dienen könne, welche Allerhöchitdiefelben mit Recht von ihren Beamten 
verlangten“. Noch am gleichen Tage verließ er nebſt zahlreichen Landsleuten Kopen- 
bagen und fuhr nach Kiel: ohne feinen Koffer mitzunehmen, reifte er ab; eine Anzahl 
Frauen hatten all’ ihr Gepäd in ihrem Arbeitsbeutel beifammen: der Boden des eid- 
brüchig getvordenen Dänemarks brannte allen Deutjchen unter den Füßen. 

Damit fchließen die „Erinnerungen“ ; wir dürfen einem dritten Bande wohl ent- 
gegenjehen, welcher von den zugleich jo ftolzen und jo traurigen Schidjalen Schleimg- 
Holfteins in den Jahren 1848—1851 berichten wird: ein rechter, pflichttreuer, maß- 
voller, aber im Gefühl des Rechts unbeugfamer Mann hat ung die vorliegenden jchmud- 
lojen und doch fo anziehenden Blätter gegeben. m. 





Literarifche Rundſchau. 


«3. Sociale Wohlfahrtdeinrichtungen im 
Etaate, in der Gemeinde und im Fabrik: 
betriebe. Bon C. 9. Zander. Düffel- 
dorf, E. Kraus. 1890. 

Die Erlaffe Kaifer Wilhelm’s II. vom 

4. Februar d. J. haben eine Fluth von Bro- 

Aurenliteratur hervorgerufen, die felbft für 

den mitten in diefen fragen Stehenden ſchwer 

” bewältigen ift. Ein großer Theil der: 

elben ift allerdings zu jehr der Abficht ent- 

fprungen, durch den Titel Käufer anzuloden, 
als daß es fich lohnte, auf den Inhalt einzu- 
gehen. Eine Neihe anderer beaniprudt ein 
rg Intereffe, und zu dieſen gehört die 
ier in Rede jtehende Schrift, jhon um 
desmwillen, weil fie der Feder eined aus dem 

Arbeiterftande hervorgegangenen Autors ent- 

ftammt. Der Berfafler ift Werfmeifter, Vor— 

figender des Deutichen Werktmeifterverbands, und 

fein Elaborat ftellt die Ausarbeitung eines im 

Bergiichen Berein für Gemeinwohl gehaltenen 

Vortrags dar. Derfelbe ift nicht nur geeignet, 

im Allgemeinen zur Drientirung über bi 


der Discuffion jtehenden Arbeiterwohlfahrts- 
beftrebungen zu dienen; er bringt auch bead)- 
tenswerthe und aus der praftiihen Erfahrung 
geichöpfte eigene Gedanken des Verfaſſers, na- 
mentlich über die Fragen der Einigungsämter, 
Arbeiterfammern und ähnlicher Inſtitute, wie 
fie feitens einiger weniger Gemeinden — Bres— 
lau, Kempten in Bayern, Dffenbah und vor 
Allem Frankfurt a. M. — in den legten Jahren 
mit Gtüd eingeführt find. Die Statuten von 
muftergültigen Einrichtungen diefer Art find 


der tüchtigen Schrift im Wortlaut eingefügt, | 
und dadurd dürfte Mandem das PVerftändniß 
Inſti—⸗ 


für ſolche durchaus erſtrebenswerthe 
tutionen näher gebracht werden. Im Sinne der 
Kaiſerlichen Erlaſſe legt der Autor überhaupt 
das Schwergewicht ſeiner Erörterungen auf die 
Schaffung geeigneter Arbeitervertretungen, ſei 
es gegenüber Staat und Gemeinde, ſei es 
gegenüber dem Arbeitgeber, obwohl er nicht 
verkennt, daß gerade letztere ſowohl ſeitens des 
Arbeitgebers, als auch beſonders ſeitens der 
Arbeiter ein jo hohes Maß von Einſicht, Opfer- 
willigfeit und Mäßigung vorausfegen, daß 


es eingehender Erwägung bedarf, ob ihre Ein- 


führung zur Zeit jchon möglich it. 


a. Stanley au secours d’Emin-Pascha. Von 
A. J. Wauters, Chefredacteur des „Mourve- | 


ment geograpbique*. Paris, Maifon Quantin. 
189%. 


Es war vorauszufehen, dab nad) der glück— 
lihen Rückkehr Stanley’s in Begleitung Emin 
Paſcha's, Cafati’s und des Gefolges des Erfteren 
alsbald eine Beſchreibung diejes in den Annalen 
der Afrifaforihung ewig denfwürdigen Zuges 
im Drud erjcheinen würde. Man kann fich be- 
glückwünſchen, daß der Erfte, welcher es unter: 
nommen hat, der Eulturgefhichte diejes Blatt 
einzuverleiben und um das Haupt des fühnen 
und erfolgreichen Neilenden den erften Yorbeer 
zu winden, fein Anderer ift, als der Chefredaf: 
teur des „Mouvement göographique“, welcher 
durch feine Stellung ſowohl wie feine Ber- 


die 
fpringenden Punkte der heute im Mittelpuntt | 


315 


trautheit mit afrifanifhen Berhältniffen ins— 

bejonders zu obiger Aufgabe berufen erjcheint. 

Während wir dem Werke, in welchem Stanley 

felbjt, gleih Xenophon, feinem claffiihen Vor— 

gänger, feinen Zug durch Afrifa zur Befreiung 

Emin Paſcha's beichreiben wird, mit berech— 

tigter Spannung entgegenjehen, dürfen wir eine 

vorgängige kurze Schilderung, wie fie uns in 
dem vorliegenden Bude geboten wird, mit um 
fo arößerer Freude begrüßen, alö die in ver» 
ſchiedenen Blättern zu verichiedenen Zeiten ver- 
öffentlichten Briefe Stanley’8 an Männer der 

ı Wiffenichaft oder an deffen Gönner und freunde 

dem intereffierten Publicum ein überfichtliches 

Bild nicht gewähren können. 

Wir müflen zunädhft danfbar anerkennen, 
daß der Berfaffer in der Widmung feines 
Buches und in der Borrede zu demfelben un- 
'ferem Zandömann, Dr. Junker, ein ehrendes 
Denkmal gejegt hat. Denn diejer darf für fich 
in Anfpruch nehmen, zuerft die Aufmerffamteit 
der Welt auf jenen anderen berühmten Sohn 
Deutichlands, Dr. Schnitzer, beſſer befannt unter 
dem Namen Emin Bafcha, Hingelenft zu haben, 
welcher als Gouverneur von Wadalai im Sudan 
das letzte Bollwerk der Eivilifation gegen die 
Barbarei vertheidigte. — Das Werken ſelbſt 
behandelt in den ſechs eriten Kapiteln kurz zu— 
fammengefaßt die Gefhichte des Sudan in den 
legten zehn Jahren, den Siegeszug des Mahdi, 
den Fall Chartums, die Ernennung Dr. Schnitzer's 
zum Gouverneur von Wadalai, die Rüdfehr 
Dr. Junters nah Sanfibar; in eindringlicdher 
Meife beleuchtet es dann den Gedanken einer 
Erpedition zur Befreiung Emin Paſcha's, 
um endlih den Zug Stanley’s mit beredten, 
oft begeifterten Worten zu ſchildern: er lieſt 
ſich wie ein Indianerroman Cooper's. Hat 
man an der Hand dieſer Darſtellung Stanley 
bi8 nad Bagamoyo begleitet, dann begreift 
man, wie er von Mioua aus jchreiben konnte, 
daß er fich wie ein Arbeiter fühle, der nach ge- 
thaner Arbeit am Sonnabend nad Haufe fommt, 
feinen Lohn in der Taſche und im Gedanken 
ichwelgend, daß der nädfte Tag ein Sonntag 
jet. — Das Bud ift mit den mwohlgelungenen 
Bildniffen Stanley’s und Emin Paſcha's, ſo— 
wie mit mehreren er ge von Sand und 
Leuten und einer vorzüglichen Karte der Marſch— 
route Stanley's veriehen. 

x. Brandenburg:Breufens Kolonialpoli: 
tif unter dem Großen Kurfürften und 
feinem Nachfolger (1647—1721) von Dr, 
Shüd. Xeipzig, F. W. Grunow. 1889. 

Das Werk, das mit einer Borrede des Geh. 
Legationsraths Paul Kayier verjehen ift, ver- 
dankt feine Anregung einem Bortrage, den 
Kayier im Frühjahr 1887 in der „Juriſtiſchen 
Geſellſchaft“ über die Nechtöverhältnifje der 
„Deutichen Kolonialgeſellſchaft“ gehalten, und 
ift gerade im gegenwärtigen Augenblid mit 
Freude zu begrüßen, da es bisher an eingehen- 
den Unterjuhungen über die Colonialpolitif des 
Großen Kurfürften und ebenfo an einer um— 
faffenden Benutzung der zahlreichen, diejelbe 
betreffenden Urkunden, die die Archive bewahren, 
gefehlt Hat. Ohne Zurüdgreifen aber auf jene - 








316 


Zeit bleiben alle Schilderungen der entfprecdhen- 
den heutigen Unternehmungen ohne das ge 
nügende Fundament. Diezeitgenöffiihen Schrift- 
fteller, vor allen Dingen der Hiftoriograph des 
Großen Kurfürften, Bufendorf, berühren faum 
jene Materie, fo daß bereits die Zeit Friedrich's 
des Großen umfaffende Arbeiten über dieſe 
interefjante Epifode aus der Geichichte des 
Großen Kurfürften vermißt. Damals hatte denn 
auch F. Hertzberg (1755) eine „Geſchichte der 
Marine und der Mfrifaniichen Compagnie 
Preußens“ verfaßt, die im Manufeript in der 
Königlihen Bibliothef zu Berlin aufbewahrt 
wird. Spätere Verfuche unjeres Jahrhunderts 
* ungenügend geblieben, und erſt unſerem 
erfaſſer iſt es gelungen, eine wirklich prag⸗ 
matiſche Geſchichte der Colonialpolitik des Großen 
Kurfürſten zu ſchreiben. Vor allen Dingen iſt 
die Entdeckung eines Convoluts im Geheimen 
Staatsarchiv, das von der Hand des damaligen | 
Arhivard den Vermerk trägt „Project einer | 
Afrikaniihen Compagnie mit dem Haufe Defter- 
reich“, das Berdienft von Schüd. So er- 
möglichen die von ihm neuaufgefundenen Ur- 
funden eine Ergänzung der bisher ſchon be- 
fannten und geben ein nad allen Richtungen 
bin klares Bild. Ganz befonderö werthvoll 
ift der zweite Theil des Schück'ſchen Werts, 
welder das im erften Theil in ſyſtema⸗— 
tiiher Darftellung Borgetragene urkundlich be: | 
legt; denn mag man aud) jenen Ausführungen, 
die oft genug das Beftreben verrathen, die 
heutige Colonialbewegung mit der der Ver- 
gangenheit in Zufammenhang zu bringen, nicht 
überall folgen wollen, und felbft den, wie 
Kayſer meint, „auf jelbftändigen wirthichaftlichen 
und politiihen Grundlagen“ erwadienen An- 
fängen eines deutichen Colonialreihs nicht ganz 
ohne Vorbehalt gegenüberftehen, jo wird doch 
für jeden denkenden Leſer und zumal den 
Hiftorifer eine Durchficht diefer Documente vom 
höchſten Intereſſe fein, von denen neben 46 
bereits früher abgedrudten, 167 an dieſer Stelle 
um erjten Mal veröffentliht werden. War 
* das gedruckte Material zum Theil ſchwer 
zugänglich, ſo haben wir nun eine vollſtändige 
Sammlung, in welcher auch die Neudrucke mög— 
lichſt genau collationirt find. Dem immer 
größer werdenden Publicum, das fich eingehend 
mit der brandenburgspreußiichen Geſchichte be- 
jäftigt, darf die qut durchgeführte Arbeit von 
r. Schüd angelegentlih empfohlen werden. 
xo. Die Gefangenen und die Verbrecher 
unter dem Einfluffe des Chriftenthums, 
Geſchichtlicher Ueberblid, umfaffend die erſten 
fiebzehn Jahrhunderte. Bon F. A. Karl 
Krauß, Gefängnißgeiftlicher in Freiburg i. Br. 
(Separatabdr. aus den „Blättern für Ge— 
fängnißfunde“). Heidelberg 1889, G. Weih. 
Zu den Aufgaben der Humanität und 
Eultur, weldhe der antiken Geſellſchaft als folche 
faum zum Bewußtiein gelommen, welche das 
Mittelalter wohl geahnt, oder ſich aud aus- 
drüdlich geftellt hat, deren Ausführung der 
Staat aber meift der Kirche und der Privat- 
thätigteit überließ, aehört die Ausbildung des 
Strafrechtsweſens und fpeciell die Behandlung 








Deutſche Rundichau. 


der Gefangenen. Erft in der neuejten Zeit it 
unfer Rectäftaat fih der auf ibm rubenden 
Verpflichtung nad diefer Seite völlig bewußt 
geworden und hat er jeither Anftalten getroffen, 
um diejer Pflicht nachzukommen. Es ıft jelbits 
verftändli, daß die mit der Ausführung dieler 


Aufgabe betrauten Factoren ſich die Frage vor: 


legen, was nun in diefer Richtung in frübern 
Seiten geichehen ift, wad wir von der Ver: 
gangenheit zu lernen haben. In unierer Yite: 
ratur war die Thema noch nicht zufammen- 
hängend und ex professo behandelt worden: es 
war daher ein glüdliher Wurf, daß ein Seit 
langen Jahren auf dem Gebiet des Gefängnii- 
weſens praftiih thätiger Geiftlicher ſich die 
biftoriiche Darlegung deffen zum Vorwurf nahm, 
mas unter dem Einflufle des Chriſtenthums in 
alter, mittlerer und neuerer Zeit zu Gunften 
einer humanen und erziehenden Behandlung der 
Gefangenen geichehen war. Die Schrift dei 
Herrn A. K. Krauß zeigt nach der fritiichen und 
biograpbiihen Seite einige Unebenheiten, die 
übrigend ohne Belang find. Was er leiften 
wollte, hat er geleiitet, und das in einer alles 
Lob verdienenden Weife. Niemand wird ohne 
Nutzen die Kleine Schrift aus der Hand legen, 
in der jeder Sa dafür zeugt, wie tief der trefl« 
lihe Berfaffer von feinem Gegenſtande ergriffen 
ift und wie warm fein Herz für die Yeiden 
jenes unglüdlihen Theiles der Gejellicait 


ſchlägt, an dem fi die Sünden der legten 


felbft nur rächen. Es gereiht uns zu mwahrem 

Vergnügen, die Lectüre des Buches weiteren 

Kreiſen zu empfehlen, und wir hoffen, der Ber- 

faffer werde diefe Studien fortjegen und zu 

einer größeren, auch die legten zwei Jahrhun— 
derte umfaflenden Daritellung erweitern. 

?. Reus Descartes’ philofophifche Werke 
überfegt und erläutert von 3. 9. von Kird: 
mann. Dritte Abtheilung: „Die Principien 
der Philoſophie“. 2. Auflage. Heidelberg, 
Georg Weiß’ Verlag. 

„Die Principien der Philoſophie find das 
Wert, in welchem daß erfte Mal, feit die Welt 
ftand, eine wirkliche Philoſophie der Natur den 
Menſchen geboten worden if. Es ift ein Werl, 
befien Größe, Harmonie und Confequen im 
Rückſicht der Zeit, zu welcher es erfchien, nicht 
genug bewundert werden fan. Hier wird 
zuerft ber Berfuh gemadt, mit Ausſchluß 
aller Wunder und aller geheimnißvollen Ouali- 
täten aus wenigen einfachen Principien bie 
Welt ſowohl in ıhrem organifchen wie umorga- 
nifhen Theile zu erllären und alles Einzelne 
mit mathematifher Strenge und Genauigleit 
daraus abzuleiten.” Mit diefen Worten gibt 
I. 9. von Kirhmann felbft der von ibm ver 
anftalteten vorliegenden Ausgabe des Descartes: 
ſchen Hauptwerles das Geleit. Man wird feiner 
Anfiht von der eminenten Bedeutung dieſes 
Wertes im Wefentlihen nur beiftimmen fünnen; 
e8 verdient im weiteften Kreiſen gelefen zu wer- 
den, und die Kirhmann’fche Bearbeitung gibt 
jedem Gebildeten die Gelegenheit, fich mit dem— 
felben vertraut zu machen, an die Hand. Eine 
befondere Empfehlung diefer Bearbeitung if 
überflüffig; die Kirhmann’ihen Ausgaben älterer 


Literariſche 


philoſophiſcher Werle mit ihren, dem Tert bei— 

— erläuternden Anmerkungen, die ben 
tandpunlt des Herausgeber präcifiren und 

auch bem, ber biefen Etanbpunft nicht theilt, 

willlommen fein werben, find längft in weiten 

Kreifen rübmlichſt befannt. 

Bxy. Kunftfritifche Studien über italie- 
nifche Malerei. Die Galerien Borgheſe 
und Doria Banfili in Rom. Bon van 
Xermolieff. Mit 62 Abbildungen. Xeipzig, 
% A. Brodhaus. 1890. 

Der Berfafjer, deffen Name ein Pjeudo- 
nym iſt, gilt feit längerer Zeit als ausgezeich— 
neter Kritiker der europäifchen Galerieen. Eben- 
jo befannt ijt, daß er verſchiedene Kunftgelehrte, 
um ein indifferentes Wort zu brauchen: nicht 
mag. Anfangs erwedte dieje Gegnerſchaft ein ge- 
wifjes Intereſſe bei den Lejern der Werke Lermo- 
lieff's, dann erregte fie Verdruß, und endlich hat 
fie zur Folge gehabt, daß man feine neu erfchei— 
nenden Schriften nicht gern in die Hand nimmt. 
Eeine trodene, fatale Ironie entipricht weder 
dem Ernſte wifjenjchaftlicher Forſchung noch 
dem natürlichen Wunfche, über die Werke großer 
Künftler mit unfchuldiger, freudiger Begeifterung 
reden zu hören. Ein Bud fann noch fo geiftreich 
und gelehrt fein, es darf uns mit feinem un- 
behaglichen Gefühle erfüllen. 

Denen, welche Lermolieff's Schriften fennen, 
ift wohl erinnerlich, daß ihm zumal die Herren 
Crowe und Gavalcajelle widerwärtig find. Er 
hat jih jchon früher in allerlei Tonarten gegen 

te verjucht. Wir wollen den Ruhm der beiden 
Forſcher 
beeinträchtigen, daß wir ſie hier in Schutz nehmen. 
Die europäiſche Kunſtwelt ift ihnen Dank ſchuldig 
und hat dies Gefühl nie verleugnet. Greift ſie 
jetzt ein Italiener an, fo iſt das deſto ſchlimmer 
für ihn. Wenn L. ſich C. und CE. gegenüber 
jedod) einfad) als Macht gegen Macht ausfpielt, 
fo waltet bier ein Unterichted, den zu erörtern 
angemeilen ericheint. 

Lermolieff gibt jeinem Buche Geipräde zur 
Einleitung und Ausleitung, und verleiht ihm 
fo eine gewiſſe Einheit. Aber es befteht, gleich den 
meiften uns bekannten Arbeiten feiner jeder, aus 
einer Auffammlung zufälliger Gedanken. E. und 
E. dagegen behandeln die italienifhen Künftler 
von einheitlichen, großen Gefichtspunften aus; 
ihr Buch ift ein Stüd italienifcher Geſchichte; 
fie beurtheilen die Gemälde als Producte 
bedeutender Charaktere und befchreiben fie. 
Sie find pofitiv fchöpferiich zu Werke gegangen. 


Sie haben literariihe Werthe geihaften. Um | 


es zu wiederholen: fie find Geſchichtſchreiber. 

Yeuten, die fo ungeheuere Mafjen von 
Stoff zu umfaffen, zu ordnen, und zuleht orga- 
niſch neu zu beleben hatten, Irrthümer nachzu— 
weiſen, mag ein verdienftliches Beginnen fein, 
ift feines aber, das den, der fich deſſen unters 
fängt, auf gleiche Höhe mit ihmen erhöbe, noch 
den Werth der ſchönen Reihe ihrer Bände irgend 
berminderte. Das, was den Erfolg eines echten 
pofitiven Geſchichiswerkes bedingt, wird von 
boshaften Kritifern entweder nicht berührt oder 
nicht gefannt. Zurüd- oder Zurechtweiſung wäre 
bier überflüffig. Aber man will denn dod) ein- 
mal ausſprechen, wie die Dinge liegen. 


und Geihichtichreiber nicht dadurd) | 


Rundichau. 317 


Dagegen muß eine Feindſchaft anderer Art 
ernfter zur Sprade fommen: L.'s Stellung zu 
Berlin und Norbdeutichland, die ihm ebenfalls 
fatal find. Der von 2. gemadjte Unterfchied 
zwifchen Berlin fammt Norbdeutichland und den 
übrigen Theilen unſeres gemeinfamen Baterlandeö 
eigt, wie er den veralteten Standpunkt noch 
innehält, auf Unfrieden und Eiferfucht im eigenen 
Haufe bei uns zu rechnen. Wer fich mit Kunft- 
aeihichte befchäftigen will, muß mit unfchuldiger 
freude an die Dinge herangehen. Und wer 
dies ald Deutfcher thut, wird fich vor bös— 
artigen nfinuationen, von wo aus fie aud) 
über die Gebirge importirt werden, zu hüten 
willen. 

Das Buch hat 62 Abbildungen, meiſt im 

| Facfimiledrud reproducirter Handzeichnungen, 
\fo daf, wo der Verfaſſer Behauptungen aufs 
ftellt, das Material oft glei zur Stelle ift. 
| Befondere intereffant find L.“s Aeußerungen 
über Handzeihnungen Raphael’s, Blätter, Die 
er zum Theil anderen Meiftern zufchreibt. Da 
er die Meinungen Anderer beipricht, jo ge— 
winnt der Anfänger zugleich von dieſer Seite her 
Einblid in das, worauf es bei folchen Streitig- 
feiten anlommt, und jieht, wie immer wieder 
auf das eigene Gefühl als das Enticheidende von 
ihm ſelbſt recurrirt werde. Wechſelt dieſes 
„Gefühl“, wie nicht jelten der Fall tft, fo ftür- 
zen die kritiſchen Yuftichlöffer zufammen, um 
in anderer Geſtalt oft fotort wieder aufjuitehen. 
Diefe deftruirende und reconftruirende Arbeit 
aber ift eine nothwendige. Die Werfe der 
Er Meifter und der von ihnen abhängigen 
rbeiter müſſen immer von Neuem in Betracht 
gezogen werden, wenn ihre Eigenjchaften in 
vollem Umfange erfannt werden follen. Falſche 
und richtige Meinungen find hier beide werth- 
voll. Der fritifche Blick ſchärft fih. Und was 
für den, der fich diefen Bemühungen widmet, 
zuerſt nur ein perfönlicher VBortheil war, fommt 
mit der Zeit einem fich ftetS vergrößernden 
Kreife zu Gute In diefem Sinne ift aud 
Lermolieff's mit Scharfjinn geichriebene® Bud 
eine Erfcheinung, die fördernd wirken wird. Viele 
Seiten darin wurden ohne böfe Nebengedanten 





niedergejchrieben, und man freut fi, bier 
mit X. übereinftimmen zu dürfen. So bei 


dem, was er ©. 251 über den einft in der 
Sammlung Borgheie fihtbaren Heiligen Ba er 
nus des Francesco Francia fagt, dasjenige Werf 
des Meifters, das allein die volle Kenntniß 
feiner Kunſt gewährt und das, in den großen 
Untergang jo vieler Reihthümer vielleicht bereits 
mit bineingeriffen, im Palaſte Borgheſe zu 
Rom nicht mehr fichtbar ift. „Wenige,“ jagt 
der Verfafler, „bauhen jo voll das Arom 
jener goldenen Kunftblüthe aus, mie jener 
Stephanus.“ 
Warum muß in dem Buche neben jo ſchönen 
Säten fo Widriges ftehen? 
dry. Maffael- Studien mit befonderer Bes 
rüdfichtigung der Handzeichnungen des Meifters 
von Dr. ®. Hoopmann. Mit 36 Abbil- 
dungen, darunter 21 Abdrüde nah Hand— 
jeihnungen Naffael'S in der Größe der 
Driginale. Marburg, Elwert'ſche Berlagd- 
buchhandlung 1890. 





318 Deutſche Rundicau. 


Eine hübſch ausgeftattete Bublication. Will | Wir begreifen nicht recht, warum ein (do& 
ein beginnender Verehrer Raphael's dem Meifter er jüngerer?) Schriftfteller nicht lieber eine 
in genauerem Studium nadgehen, jo möge er Geſchichte der Jugendzeit Raphael's geſchrieben 
diefe Beobachtungen eines ſehr vorfichtig auf: | hat, die, ohne vielleicht größeren Umfang zu 
tretenden Forichers in die Hand nehmen. Aber | beanipruden, feine Leſer und ihn jelbit mehr 
er muß, was durchaus nothwendig ift, Wort für | befriedigt haben würde. 

Wort aufmerkfam verfolgen. Er wird dann lernen, | 6. Brinz Noſa Stramin. Bon Eduard 
wieviel die liebevolle Betrahtung eines Hunft:| Helmer. (Ernit Koh.) Fünfte Auflage. 
liebhaber8 aus Bandzeichnungen eines großen) Mit einem Geleitswort. Kaſſel, Georg 9. 
Meifterd herauszulefen im Stande je. Db| Wigand. 1890. 

wir mit dem in dem Hefte Vorgebracdten s ift des Defteren ſchon in dieſen Blät- 
einverftanden feien (mad wir nicht find), fommt | tern von Ernjt Koch die Nede geweſen und 
bei diefer Würdigung der Arbeit deö Herrn | feines Buches „Prinz Roſa Stramin“ Erwäh— 
Dr. Koopmann nidt in Betradt. — | rung gethan worden, welches lange nur in der 

Wasman „wiflenichaftlihe Methode“ nennt, | engeren Heimath des Tichters, in Kurheſſen, 
ift nur ein anderer Ausdrud für „Anwendung | gefannt und geſchätzt ward, und auch dort zu— 
der gefunden Vernunft“. Bei der ungemeinen | erft nur von Wenigen. Ein trauriges Geihid 
Fülle des mit Raphael's Thätigfeit in Ver- | hatte Ernft Koch feinem Vaterlande entfrembdet, 
bindung gebradten Materiales nöthigt die ge- | und weit weg von demielben iſt er vorzeitig 
funde Vernunft, unter den ihm zugeichriebenen ragen fcheinbar vergeflen, wie fein „Prinz 
Arbeiten diejenigen zufammenzulegen, welche Roja Stramin*. Da nahm ſich, im Jahre 1872, 
dur Inſchrift oder durch glaubwürdige Nach- ein poetifch reichbegabter Landsmann, Karl 
richten fih als ihm und feinem Anderen zu- | Altmüller, des Büchleins an, deſſen eigent- 
gehörig ermweilen. Treffen wir bei Raphael liches Yeben nun erit, vierzehn Jahre nad 
diefe Auswahl, jo findet ſich, daß die ficheren | dem Tode feines Verfaſſers, begann und fort: 
Gemälde und Zeichnungen gewiſſe gemeinfame |an aud die Namen der Beiden lebendig er— 
Eigenfchaften haben, die als ihre Befonderheit | halten wird, deffen, ber es fchrieb, und deſſen, 
erfennbar find. Die nächte Frage wird fein, ob | der es der Welt zum zweiten Male gab; denn 
unter den übrigen, nicht fo ganz ficheren Werfen auch dieſer ift jung geftorben. Es braudite 
einige diefe Befonderheit gleichfallsverrathen. Aus | zweiundzwanzig Jahre, bis die zweite Auflage 
diefen wird dann eine zweite Nategorie zu bilden erſchien; jet, nach weiteren ſiebzehn Jahren, 
fein. Als dritte Operation bietet fi darauf liegt die fünfte vor. „Prinz Roſa Stramin’ 
dar, den gefammten Beftand der Raphael zu= | ift ein Haushaltsbud in öeffen geworden, und 
geichriebenen Arbeiten auf die Aehnlichkeit ge- wir jehen nicht ein, weshalb es den Platz, den 
wiſſer Sachen unter fih zu prüfen, ꝛc. Dies | es verdient, fich nicht auch im übrigen Deutid- 
fchafft Gelegenheit zu weiteren VBermuthungen. | land gewinnen ſollte. Denn wir haben nidt 

Es gibt aljo eine Straße der Erfenntniß. | jo viel qute neue Bücher, um nicht gern zu den 
Mill man im Herauserfennen der Werke Raphael’S | guten alten zurüdzugreifen, zu denen, die nicht 
fich größere Freiheit geftatten, jo wird man fich |veralten. Ein folhes Bud ijt „Prinz Roſa 
mehr und mehr ind Neich des Ungewifjen ver- Stramin“, das in feiner gegenwärtigen Geftalt 
lieren. Wer an fih jelber alaubt, fühlt fich ſich gar gefällig präfentiert und immer mehr 
auf dieſer verlängerten Strafe vielleiht am |iympathiichen Zefern auf feinem Wege begeanen 
wohliten und — am fiherften! Denn ohne die | möge. 
ſelbſt ertheilte Erlaubniß, aus perfönlicher o. Gefpenfter im Sonnenfchein. Mertwür- 
Neigung Vermuthungen auszjufprehen und an dige Alltagsgefchichten von Ernit Wechsler. 
ie zu glauben, wird Niemand jich funfthiftori»- | Yeipzig, Wilhelm Friedrich. 
den Unterfuhungen bingeben wollen. Wir In einem hübſchen Bud über „Wiener 
nehmen es Keinem alfo übel, wenn er jene Autoren“, das wir an diejer Stelle früher be- 
Straße vom abjolut Sicheren zum abfolut Un: reits angezeigt haben, jpricht Ernft Wechsler 
fiheren jomweit als möglich verfolgt. Aber wer ſich höchſt verftändig über die feuilletoniftiice 
das thut, muß die eben angedeuteten drei IInter- Production aus, der, auf Koften der eigentlid 
fhiede wenigitens kennen. Wir find nicht ganz | poetiihen, das Bedürfniß der Tagesblätter und 
überzeugt, daß der Verfafler unferer Raphael» | die Gunſt des Bublicums entgegentommen. Den— 
Studien fhon jo weit gefommen jei. 'felben Gedanfen, aber in das Gewand des 

Wir haben noch ein Anderes dem Verfaſſer Märchens gekleidet, nimmt der junge Schrift 
nicht gerade vorzumerfen, aber doch als Eigen- |jteller in der erften der Stizzen wieder auf, 
Schaft feiner Arbeit anzumerfen. Ueber die welche, die vorliegende Sammlung einleitend, 
meiften der von ihm befprochenen Werte befteht | zugleich fein äfthetiiches Glaubensbekenntniß ent: 
eine Yiteratur, die fie zum Theil ik ange- hält. Als „die Töchter der Muſe“, denen Beifall 
legentlich befpridt und no in Fluß ift. Herr und Yohn der Menge gehören, werden Feuilleton 
Dr. Koopmann discutirt die Meinungen feiner und Operette dargeftellt, während die hoch und 
Mitforſcher nicht, nennt deren überhaupt jo qut |einfam im Wolkenſchloß Thronende nur menia 
wie feinen. Wir haben nicht die Abficht, dies von den fubftantiellen Freuden diejer Welt zu 
zu tadeln, glauben aber, er würde, wenn er bieten hat — ein geiftreiches Capricio, jchillernd 
nur die Schriften Derer z. B. eingehend be- von Farben und Gejtalten, und mit einem 
handelt hätte, die fih mit dem venezianiichen | bitteren Kern von Wahrheit. Diejelben Züge 
Skizzenbuche beihäftigten, feinen Studien fefteren des Vhantaftifhen und Sroniichen, bald mebr 
Grund und Boden unterbreitet haben. ind heiter Spielende gewandt, bald mehr ins 











Xiterarifhe Rundichau. 


düfter Grübelnde, finden fid in den übrigen 
Stüden des Bandes wieder. Nicht alle And 
von gleichem Werth; aber den erniten Sinn, 
der den bedeutenden Fragen des Dafeins nicht 
gleichgültig vorbeigeht und auch in den bejchei- 
denen Eriftenzen jeine Poefie zu finden vermag, 
erfennt man in allen, und fat alle haben eine 
Pointe. So die Fabel, oder wie man es nennen 
mag, vom „Zuhören“: „Es ift ein trauriges 
Factum, daß in Gejellihaft jo unendlich viel 
geiproden, und jo unendlich wenig zugehört 
wird“; fo ferner, in dem jonft ein wenig carri— 
fierten Vortragsabend eines ‚mufitafifchelitera- 
riichen Familienvereins“, das überaus treffende 
Wort: „Selig find die Einfältigen und — 
die Dilettanten“. Wahrhaft frappant wirft der 
Schluß der Heinen Geſchichte „Drei Schneider“ ; 
aber worin die Überrafchung bier befteht, wollen 
wir dem Leſer nicht verrathen, um ihm das 
Vergnügen nicht vorwegzunehmen. Aus einer 
mehr oder minder handgreiflichen Realität her— 


‚wohlwollende common-sense aus 





vorgehend oder fie fpiegelnd, jcheinen dieſe „Ge— 

fpenfter im Sonnenſchein“ durd ihren Titel an- 

deuten zu wollen, daß — in Yeben und Did 

tung — von den Gebilden der Naht nur das 

Licht befreien fann. 

07. Herr Paulus. The Inner House. 
By Walter Besant, Taucnig » Edition. 
2541/42. 2553. Leipzig, B. Tauchnitz. 1888. 

Mr. Belant ift einer der eifriaften und 
betriebiamften engliihen Romanjchriftiteller, und 
in Bezug auf feine Arbeiten, jowie die Pünft- 
lichkeit ihres Erjcheinens der Nachfolger von, 

Anthony Trollope, mit dem er jonft auch einige | 

Aehnlichkeit befigt. Erft die Verbindung mit | 


betannten Romanfirma BesantandRiceführte 
ihn diefem Beruf zu, deſſen er nunmehr allein 
pflegt. Seinen vielfeitigen praktiſchen Inter— 
eſſen entipriht es, daß er fidh gerne fociale 
Probleme der Gegenwart zum Vorwurf wählt, 
wie vordem Charles Reade, und mit Erfolg, 
was man aus der Errihtung des Vergnügungs- 
ortes für arme Yeute The People's Palace 
in London jchließen darf, welcher gemäß feiner 
Schilderung in der Erzählung All Sorts and 
Conditions of Men erbaut wurde. Auch 
in den vorliegenden Bänden greift Beſant ähn— 
liche Aufgaben an. 
die kurze Laufbahn eines amerifaniichen Ge- 
danfenlejerd und Hypnotifeurs in der Yondoner 
Gejellihaft und benugt die Gelegenheit, jehr 
verſchiedene Typen aus fpiritiftiichen Kreiſen 
vorzuführen. Der aufſteigende Theil der Ge— 
ſchichte iſt ſpannend geſchrieben, der zweite Band 
fällt dagegen ſehr ab und wird in Erfindung 
und Darſtellung häufig trivial. The Inner 
House iſt ein polemiicher Roman, der in Ge 


einem ſeither verftorbenen Freunde zu der wohl— | 
1 





‚rinnen etwas gefichtet wurde. 
Herr Baulus beichreibt | 





ftalt eines wunderlich phantaſtiſchen Zufunfts- 


319 


reien, ſowie gegen die Wünfche nach dauernder 
Verlängerung des menjchlihen Lebens Fehrt. 
Diefes Buch ift jedenfalld geiftreih und an- 
vegend, obgleich es, wie das vorgenannte, der 
forgfältigen Compofition und damit des rechten 
fünftleriihen Werthes ermangelt. 
o8y. Concerning Men and Other Papers. 
y Mrs. Craik. London, Macmillan & Co. 
1888. 
Diefe Auffäge enthalten das Letzte, was 
die vortreffliche Verfafferin von John Halifar, 
Gentleman geichrieben hat. Wir erfennen 
fie auch hierin wieder. Mag fie über die Ehe 
reden, über den Kryſtallpalaſt, über eineSommer- 
friihe für Londoner Ladenmädchen, oder von 
einem jchottiichen Volksfeſt und Shafefpeare- 
aufführungen erzählen, immer fpricht derielbe 
ihren 
Eifays, die wahre Menfchenfreundlichkeit, die 
Milde ihres Wejens. Nicht ohne Heine Schwächen 
natürlid. So überfieht fie, wenn fie vom 


Müßiggang in Jrland fpricht, daß diefer vor 


Zeiten dem Volke durch die engliiche Regierung 
aufgezwungen worden tft; daß die Habgier der 
Fabrifanten von Mancheſter und Liverpool ver- 
mitteljt der hohen Sätze eines Zwiſchenzolles 
die einft blühende iriſche Hausinduftrie (wer 
wüßte nicht von irländifcher Yeinwand ?) ſyſte— 
matiſch zerftört hat. Das wird jedoch dem Buche 
nit abträglid, ruft uns nur die Liebens— 
würdigfeit und Thatlraft der begabten Er— 
zählerin ins Gedächtniß, der auch in Deutſch— 
land viele Leſer qute Stunden verdanken. 

). Deutſcher Literatur:ftalender auf das 
Fahr 1890. Herausgegeben von Jojeph 
Kürfhner Zwölfter Jahrgang. Stutt- 
gart, of. Kürfchner’s Selbftverlag. 

Früher als jonft und in erweitertem Um— 
fang liegt dieſer Jahresalmanach, der für 
jeden mit der Yiteratur in Verbindung Stehen- 
den unentbehrlich ift, vor und erfreut uns von 
Neuem durch die Sorgfalt und Umficht feiner 


 Zufammenftellung wie durh den Reichthum 


jeines Inhalts. Der Letztere ift zur Ges 
nüge befannt; erwähnen wollen wir nur, daß 
der Drud größer geworden ift und das Adreſſen— 
verzeihnii der Schriftiteller und Schriftſielle— 
Wir haben dies 
mit befonderem Vergnügen bemerkt, denn fo 
angenehm in diefem Falle auch ein Biel ift, jo 
ftörend wirft ein Zuviel, und und dünft, daß 
die legten Jahrgänge des Kalenders hieran ge- 
litten. Der Herausgeber verjpridt, daß er 
auch ferner mit „dem großen Kehrbejen durd 
die Spalten feines Buches jchreiten wird“; wir 
find gewohnt, daß er jeine Verſprechungen er- 
füllt, ja, zumeift noch übertrifft; das jehen 
wir am deutlichiten bei einem Vergleich des 
neuen Yiteratur-flalenders mit feinen Bor» 


bildes fich aegen die fommuniftiichen Schwärmer | gängern. 


vor 


Menger. — 





320 


Bon Neuigkeiten, melde ber 
12. April augegangen find, verzeihnen wir, näheres 
her nah Raum und Gelegenheit uns 
ebaltenb: 
Anne-Paule-Dominique de Nonilles, marquise de 
Montai Nouvelle edition. Paris, E. Plon, 
Nourri & Cie. 1800 
Bauer. — Naturalismus, Nihilismus, —— in der 
ruiflihen Dichtung. eiteratur-biftorl de und fritifche 
Streifziige von Erwin Bauer. Berlin, Hans Lüften 
öber, 1590, 
Bergmann. — Die letzte Stiftung der Kaiserin 
Augusta von Ernst von Bergmann. Berlin, August 
Hirschwald. 1%. 
Bibliothek dentwürdiger —— reiſen, heraus⸗ 
gegeben von C. Fallenhorſt Lfrg. 1. Stuttgart, Union. 


—— 
— Erg . Bas nun? Blide in die 
ber —— von Aurt von Breslau. Berlin, 
ffirer & Danzige 
Correspondance 0 Icielle des Pachas ot des Deys 
d’Al pr avec la Cour de France. 1579-1833. Re- 
eueillie dans les depöts d’archives des affaires 
etrangeres, de la marine, des colonies et de la 
chambre de commerce de Marseille, et publiee 
avec une introduetion, des eclaireissements et des 
notes — Eugene Plantet. 2? tomes. Paris, Felix 
Alcan. 
David. — ee Hofe Recht. Eine Erzählung von J. J. 
David. Dresden und Leipzig, Heinrich Minden. 
Dollinger. — Atademiſche erg von X. von Döllinger. 

Eriter Band. Zweite Auflage ünden, €. 9. Beide 
Verlagsbuhhandlung (Tscar Bed), 18%. 
bner » @fhenbad. — Unſuhnbar. Srrählung von 
Marie von Ebner-Eſchenbach. Zwei Theile in einem 
Bande, Berlin, Gebrüder Partel. 1890 

irdofi’d Königebuh (Schahmame), 
Friedrib Nüdert. Aus dem Wa . a ag mean 
von €. 4. Bayer. Sage I—- XII. Berlin, Georg 
—— 1890. 

rapan. — Zwiſchen Elbe und Alſter. Hamburger 
Novellen von Alle Arapan, Berlin, Gebrüder Paetel. 
Ko. 
Fulda. — 


—— von Ludwig Fulda. Berlin, F. 
ontane. 


Fürft —ãA— * Politik jeit Begründung 
des neuen Reiches. Bon B. von U. Yeipiig, Dito 
Spamer. 
Gautlier. — Daniel Cummings, 
Paris, E. Plon, Nourrit & Cie. 
@erof, — Troſt und Weihe. Neden und Predigten von 
Karl Gerot. Stuttgart, Karl Arabbe. 1890. 
@erot. — Vor Feierabend. Karl Gerot's legte Pre- 
biaten. Stuttgart, Karl Arabbe. 180 
Dadye. — Aus dem deutihen Walde, Alle Zeit bereit | 
fur des Waldes Herrlichkeit! Stimmungsbilder und 
Erzählungen aus dem Walde von Hermann Hadıs. 
Gajiel, €. Nidharg. 1800. 
Bildebrandt. — Dbne Bismard, Eine nüdterne Be- 
78 der Lage von Wartin Hildebrandt. Berlin, 
u ein 


"überfegt von 


1890, 
Par Henri Gaullier. 


1800 


Kinder-Gartenlaube. Band 5. Nürnberg, Verlag der | 


Kinder-Wartenlaube, 

fllein. — Schmerzlide Wonnen. Roman von Ostar 
Klein. Elberfeld, Verlag bes Beriaflers, 

veber. — Nepetitorium ber Geſchichte der Philoſophie. 
ton Dr. Raphael Koeber. Stuttgart, Carl Conrabi. 
180, 

Kohut. — Ein Liebesarchlv und mandes Andere. Von 
Dr. Adolph Kohut. Leipzig, Georg Meyet's Berlan. 
180 


Levbekomw, — Aus ben Erinnerungen eines Schleswig 
geiheintiden Dffipiers von A. von vevegom, 1. Kfrg. 
Schleswig, Julius Bergas. 1890. 

Maltan, — Der tobntampf. Bolksjhaufpiel in fünf 
Aufzügen von Hermann freiberen von Malgan. Olben— 
burg, Schulze ſche ——— A. + age 180, 

as bürgerliche Recht und 

losen Volksklassen. 
eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche 


Reich von Dr. Anton Menger. Tübingen, H. Laupp'- 


sche Buchhandlung. 1890. 


Redaktion bis zum | Müller «Guttenb 


Bröll. — Bogelbeeren. Kleine 
Reclam’d Univerfal:Bibl 


1890 
von Subel. - 


Zolftoj. 


Warnow. — Chauvinismus., 
Weitbredht. — 


Zander. — Sociale 


Zeit⸗ umd Gtreitfragen, deutliche. 





die besitz- | 
Eine Kritik des Entwurfes ' 


Teutihe Rundichau. 


runn. — Das Biener Tbeaterleben. 
et Adam Müller-Guttenbrunn. Leipzig, Otto Epamer, 
aaff. — Aus dem Dornbuſch. 7*8 vom — 


N 
Fee Auquit Naaff, Dresden 


dmer. — Raijer Wilhelm a die ee a: Elife je Hab 
X und die Kaiſerin Augufta, Mit Bri bes 
"at Wilhelm. Herausgegeben von Gneomar Emft 
von Nagmer. Berlin, Gebrüder Paetel. 1890. 
chichten und Plaube- 
ans Yilftendber. 1890, 
28 Eolo»Epiele, 
—— und ie, Dec von Gar! fr. Bittmann. 


reien von Karl Pröll. Berlin, 


1I. Bohn. Leipzig, Pb. Reclam jr. 

— Grillparzer’d Aunftpbilojopbie von Dr. Emil 
Reid. Wien, Manz'ſche t. f. Hofe, Verlags⸗ und Uni«- 
— —— 

he —*5* ology of — By Th. Ribot. 
—— Open Court Pub. Co. ] 


Richter — Bus Deutſche Keic. Zune Baterland#- 


tunde. Bon Yrofeflor Dr. J. Dtto Richter. Mit 
ne artenbeigaben, 532 Otto Spamer. 
1 


h. — Adolf Diefterweg, ber Reformator bes 
— en Volksſchulweſens im neunzehnten Jahrhundert. 
Feftichrift zur Feier feines bundertjäbrigen Geburts— 
tages, den 29. October 1890, von —— Rudolph. 
—— Nicolai’jche Berlagsbuchbandlung Strider. 


Schaff. — Literature and poetry. Studies on the 


english language: the poetry of the bible; the dies 
irae; the stabat mater; the hymns of St, Bernard; 
the universit ancient and modern; Dante Al- 
lighieri ; the divina commedia. By Philipp Schaff. 
New York, Charles Seribner's Sons. 1890. 
warzkopf. — Moderne Tupen. Rovelliftiihe Studien 
von Guſtadv Schwarzkopf. Stuttgart, Aboli Bons 


& Comp. 

- Die Begründung des Deutſchen Reiches 
Vornehmlich nad den preußiihen 
einrih von Subel. Bierter Band. 
—— Minden und Leipzig, 


durch Wilbelm 1. 

Staatsacten von 

ao. unveränd 
Oldenboura. 


——— Umateur: tograp 
— * von für N. Biete. ——— —— Rudoelf 


uctenberger 

— die a onate. Don Leo Tolftoj. Weber: 
fegt vom Bibliographiiden Bureau zu Berlin. Wit 
einer Einleitung von Raphael Lömenfeld. Berlin, 8, 
Bebr'3 Buchhandlung. 


Volz. — Geſchichte Deutihlands im neungehnten Jabr- 


um Zobe 
. Abtblg. 


Ein Zeitbild von Aranz 
Barnom. Dresden und Yeipsig, Seintid Minden. 

Sonnenwende. Neue Dichtungen von 
Earl Weitbredt. Etuttaart, Adolf Bon; & Comp. 1. 


hundert vom Xuneviller Arieden an bis 
Kaiſer Wilhelms I. Von Dr. Bertbold Volz. 
veipzig, Dito Spamer. 18. 


Wilbrandt. — Der Meiiter von Palmyra. Dramatiſche 


Dichtung in Fünf Aufzügen von Adolf Wilbrandt. 
Stuttgart, X. G. Cotta’jde Buhbandlung, Nabfolger, 
1889 


Wilkinson. — The brain of an BT: — ze 
y 


account of the german general Sta ucer 
London, Maemillan and Co. 
Wohlfahrts- Einrichtungen im 
Staate, in der Gemeinde und im Fabrikbetriebe 
von ©. H. Zander. Düsseldorf, C. Kraus. 189%. 
pp. — im neuen Eparta. Roman von Artbur Jarp. 
Berlin, a Edftein Nadfolger (dammer & Runge). 
Begründet von 
gran von Holgendorfl, berausgegeben von Nürgen 
ona Meyer. Neue Folge. Vierter Jahrgang. Heft 
59: Eittenlehre und Strafredt. Bon Conrad Tblmmel. 
Heft @0,61: Neber litterariſge Aälfhungen, Bon Dr. 
Herm. Hagen. Heft 62: Ueber Budgetredt. Bon Dr. 
. — Hamburg, Verlagsanftalt und Truderei. 
an 
— Die Hobenzollen in Rumänien. Cine 


Wilkinson. 


3 N nottitiee Koßanklunn von Dr. A. Th. Zingeler. 


Bonn, Emil Etrauß. 18. 








Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin. 


Drud der Piererjchen Hofbuchdruderei in Altenburg. 


für die Redaction verantwortlih: Paul Lindenberg in Berlin. 


Unberechtigter Abdrud aus dem Inhalt diefer Zeitfchrift unterfagt. 


Ueberfegungärechte vorbehalten. 


Zwiſchen Kirche und Daflorat. 


Novelle 
von 


Mite Aremnitk. 








Die Kreisiynode tagte in der Kirche zu Brinkhof. Es war ein regneriſcher 
Augufttag, und alle Wege der Umgegend aufgeweicht; trogdem waren die Paftoren 
mit ihren Synodalen vollzählig erjchienen: wichtige Fragen follten discutirt und 
der Jahresbericht zufammengeftellt twerden. Auf dem breiten Chor, der fi an 
der einen Seite ber großen Kirche hinzog, ſaßen jogar einige Damen. 

„Wer find die Damen, Jenſen?“ fragte ein älterer Geiftlicher mit langem, 
weißen Haar und glatt rafirtem Geficht Teije jeinen Nachbarn, einen jungen, 
Ihlanfen Mann, deffen unteres Geficht ein ſich kräuſelnder Vollbart bederfte und 
deſſen blaue Augen einen faſt erfchredend idealen Ausdrud hatten: Augen, bie 
verflärt ausſahen, al3 jeien fie nicht von diefer Welt. 

„Es find meine Schtweftern,“ entgegnete der Angeredete lächelnd. 

„Ah richtig, ich erkannte fie nicht in den großen Hüten“ — er grüßte 
hinauf — „aber die Andere, die Kleine mit dem runden Gefiht, den frifchen 
Farben und den lustigen braunen Augen?“ 

„Ich glaube, e3 ift die Nichte de3 Propftes,” antwortete er erröthend. 

Trat ihm das Blut in die Wangen, weil er „ich glaube” gejagt, obgleich 
er es doch genau wußte, oder weil er bisher nicht hinaufgeichaut Hatte? Auch 
jet that ex es nicht, jondern nahm feinen Pla unter dem Chor ein, biß er ala 
Schriftführer heraustreten und fih an den Tiſch vor den Altar ſetzen mußte: 
der Jüngſterwählte der Propftei fungirte immer als Schriftführer; Jenfen war 
erſt jeit zehn Monaten im Amte. 

Der ältere Herr, Paftor Hinderjen, blieb auf der Seite der Kirche fißen, 
die ihm geftattete, die jungen Damen zu jehen; als eifriger Botaniker liebte ex 
die Blumen in jeder Form. Er war der einzige der anweſenden Paftoren, ber, 
obgleich zwanzig Jahre Lang verheirathet geweſen, nie Kinder gehabt hatte. Viel— 
leicht gefiel ihm darum die kindlich anmuthige Nichte des Propftes jo gut. In 


der Paufe erfundigte er fi) darnach, wer fie jei? Ihr Vater — —— als 
Deutſche Rundſchau. XVI. 9. 


322 Deutſche Rundſchau. 


Regimentskommandeur von Königsberg in eine Garniſonſtadt der Herzogthümer 
verſetzt worden, und ſie war ſeit drei Wochen in Brinkhof zum Beſuch. Sie 
ſollte ſchon vierundzwanzig Jahre alt ſein! Das war nicht zu glauben, fie ſah 
wie ſechszehn aus mit ihrem frifchen runden Gefidht. 

Nachdem er fie eine Weile angejehen, wußte er auch, woran fie ihn erinnere: 
an die Mohnblume. Ihre Augen waren der reife, Schwarze Stern, die reizende 
weiche Form der Wangen entſprach dem rundlichen Kelche. 

Unterdeß hörte er nur mit halbem Ohre auf den Bericht über eine Kirchen— 
reparatur, welche von den Bauern einer Gemeinde aus eigener Initiative vor: 
genommen war, und auf die fi) daran fnüpfende Discuffion, ob dies Factum 
in den Jahresbericht aufzunehmen fei oder nit. Dann begann Paftor Peterin 
einen Vortrag über „die Mittel zur Bekämpfung der Bagabondage“. 

Die Fräulein Jenſen droben auf dem Chor langweilten fi; fie hatten über 
dies Thema ſchon oft im Haufe ihres Bruder reden hören und fanden die Land 
ftreicher eine große Plage, doch unintereffant. Fräulein Hartmann aber wohnte 
gern einem Wortrage bei; in Königsberg, als ihr Vater dort noch geftanden, 
hatte fie bei feinem wiſſenſchaftlichen Vortrage gefehlt; einmal in Berlin war fie 
fogar im Reichsſtag gewejen. Eine Verfammlung wie die gegenwärtige amüftrte 
fie außerordentlich, jaft jo jehr wie eine Parade. Männer in Uniform batte fie 
bisher eigentlich) vorgezogen, nur in leßter Zeit Hatten fi) unangenehme Gr: 
innerungen mit der Uniform vermifcht: Premierlieutenant von Klee Hatte ihr 
den ganzen vorigen Winter jo auffallend den Hof gemacht, daß fie von Tag zu 
Tag auf jeinen Antrag gewartet; im Mai hatte er ſich aber mit feiner reichen 
Goufine verlobt. Das war ein harter Schlag gewesen, der Johanna nur dadurd 
erleichtert wurde, daß, ihr Vater in derjelben Woche jo weit weg verjett wurde. 
Mit ihrer Stiefmutter ftand fie ſchlecht; vor ihr hatte fie daher ihren Kummer 
verbergen müſſen; ihr Vater war ein Falter, harter Dann. 

Als fie nun in die neue Heimath gefommen, war es natürlich, daß fie einmal 
zum Bruder ihrer verftorbenen Mutter auf3 Land ging. Sie hatte fich bei ihm 
denn auch für den Monat Auguft angemeldet, während ihr Vater feinen Urlaub 
benußte, um mit feiner Frau eine Harzreije zu machen, und Johanna war auf 
das Freundlichſte von ihrem Onkel in Brinkhof empfangen worden. Schon am 
erften Sonntage hatte fie den Paftor des Nachbardorfes, Mlaus Jenjen, getroffen, 
und hatte im Lauf dev Woche mit ihrer Tante feine Schweftern aufgeſucht, die 
mit ihm in dem jchönen Paftorate lebten. Ihn Hatten fie nicht zu Haufe ge 
troffen, da er gerade einen Krankenbeſuch im Dorfe machte; aber am Sonntag 
darauf war er mit feinen Schweftern nad) Brinkhof gefommen. 

Seht jah Johanna ihn zum dritten Male, und fie war fich ganz Klar, daß 
fie Herrn von Klees über ihn vergäße. Ja, fie dachte zum erften Male: „Wir 
gut, daß nichts daraus wurde!” 

Es war jo wunderfchön auf dem Lande! Sie hatte bisher nur in der 
Stadt gelebt, und jet war ihr zu Sinn, als könnte fie nie twieder fort, als 
müßte es ein Himmel auf Exden jein, nur zwiſchen Kirche und Paftorat jein 
Leben zu verbringen. Natürlich war der Onkel Propft und feine Frau jehr er: 
freut über ihr Entzüden, das fie nur auf ihr Heim bezogen. Auch fie waren 


Zwifchen Kirche und Baftorat. | 323 


immer gern auf dem Lande geweſen, waren aber doch ſchon etiwas gleichgültig 
geworden gegen die Reize desjelben; Johanna brachte ihnen, jo zu jagen, erſt 
wieder ind Bewußtſein, wie herrlihd am frühen Morgen die Sonne durd bie 
Linde ſchien, und wie thaufriich der Blumengarten war. Sie ſahen jebt Alles 
wieder jung durch ihre jungen Augen. Es war ja aud) feit langem fein junges 
Mädchen im Haufe geweſen: die beiden Töchter Hatten ſich früh verheirathet; 
zwei Söhne ftudirten, und der jüngfte war noch auf dem Gymnafium in 
Schleswig. 

Johanna ſah hier die Religion zum erften Dtale in [ebensvollem Lichte. Sie 
war nie unfromm getvejen, nein, fie tvar fogar regelmäßig zur Kirche gegangen, 
aber nur aus gedanfenlojer Gewohnheit. Die Religion hatte ihr tägliches Leben 
nicht durchdrungen. Seht, jeitdem fie in Paftor Jenſen's Augen geblict, war 
fie jo leidenfchaftli Fromm, da ihr bei jeder Kleinen Beichäftigung Bibelſprüche 
einfielen, über die fie den ganzen Tag nachdenken mußte. 

Die Kirchenluft war es, die ihr auch die Synode jo beſonders anziehend 
machte. Sie war jo aufmerfjam, daß fie der Feder des Schriftführer mit den 
Augen folgte. Er hatte noch gar nicht zu ihr hinaufgefchaut. Hielt er es für 
unpafiend in einer Kirche? 

Das ältefte Fräulein Jenſen ließ jet deutlich merken, daß fie fortgehen 
wolle; Johanna konnte ihr nicht zureden, zu bleiben, da fie doch bie Wirthin 
jpielte. Sie wußte zwar, daß die Tante noch mitten in den Vorbereitungen 
zum Mittageffen ſteckte, aber es war doc nicht zu ändern, und fie konnte ja 
mit den jungen Mädchen etwas muficiven. Die Fräulein Jenſen, ohne ſchüchtern 
zu fein, fühlten fich nicht wohl mit Johanna, die ihnen in Kleidung und Bee 
nehmen zu jtädtijch war: beſonders der modiſche Schnitt de3 Anzugs beunruhigte 
fie. Da Johanna immer nur mit Officierddamen verkehrt hatte, verwandte fie 
viel Sorgfalt auf ihre äußere Erſcheinung, und befonders heute hatte fie ſich 
jehr Schön gemadt: fie trug eine rothbraune Sammettaille, die ihre mädchenhafte 
Geitalt eng umſchloß, und einen Gachemirkleiderrod von derjelben Farbe, reich 
mit Sammet bejett. E3 ſaß alles adrett und elegant, während die Fräulein 
Jenſen, welche fi) ihre Kleider immer ſelbſt arbeiteten und fi) außerdem ganz 
gleich anzogen, etwas Typifches an fi) hatten: Ein Kleid jah immer aus wie 
das andere, da es ftet3 denjelben Schnitt hatte und meift diejelbe unbeftimmte 
Farbe, und wer fie nur einmal gefehen, erkannte fie daran jchnell wieder. Die 
Aeltere aber Hatte die Geihmadlofigkeit in der Kleidung zum Princip erhoben, 
weil fie meinte, daß man in einem Paftorate de3 guten Beifpield wegen nicht 
einfach genug fein könnte: die Bauerfrauen jeien fo wie jo ſchon zu pußfüchtig, 
und fie brannte eigentlich darauf, dieje ihre Meinung Johanna zu jagen; es wäre 
eine Art Proteft gegen die beneidete rothbraune Sammettaille geweſen! 

Der Weg zwiſchen Kirche und Propftei war kurz, aber in dem Weichen 
Lehmboden doc nicht Schnell zurüczulegen, obgleich der Regen gerade ausgeſetzt 
hatte. Die Uhr zeigte ſchon dreiviertel Zwölf, als die Mädchen ins Haus traten, 
und das Eſſen war auf halb Eins feſtgeſetzt. Die Herren ſpeiſten gemeinjchaft- 
lich drüben im Wirthshauſe. Johanna nahm ihren Gäften Hut und Mantel ab 


und führte fie in das bejte Zimmer, wo das Piano ftand. 
21* 


324 Deutiche Rundichau. 


„Spielen Sie Clavier, fingen Sie nit etwa?” Dieje Vorfragen wurden 
erledigt, und die beiden Fräulein Jenſen entichloffen fi, da fie feine Handarbeit 
mitgebracht hatten und nicht gern ftille jaßen, etwas Vierhändiges vorzuipielen. 
Die Heine Frau Propftin, eine ſchon jehr bejahrt ausjehende Dame, mit grauen 
Löckchen vorn im Gefiht und einer jaubern weißen Haube, kam aud) ins Zimmer 
und hörte zu. Sie war vor ihrer Heirat Gouvernante geweſen und hatte fih 
daher auch viel mit Clavierfpielen abgegeben. Zwölf Jahre lang war fie verlobt 
geweſen, und bis ihr Mann eine Pfarre gefunden, Hatte fie fich in fremden 
Häufern ihr Brot verdient. Darum war fie doch eine jehr praktiſche Hausfrau 
geworden und hatte daneben ihre beiden Töchter allein unterrichtet. Der Propft 
erzählte da3 jo gern — jo eine Frau, wie er, hätte wirklich ſonſt Niemand! 

Kohanna achtete nicht auf das ſehr mittelmäßige Spiel ihrer Gäfte, mur 
machten die Töne fie unbewußt traurig; fie jaß am Fenſter und jah auf bie 
Kirche. Wenn er doch herausfäme und den Kleinen Pfad entlang ginge! Aber 
es war jehr unwaährſcheinlich; erft nad) dem Meittagefjen würde er auf einen 
Augenblid fommen, jeine Schweftern zur Heimfahrt abzuholen, und dann war 
der Tag vorbei, auf den fie ſich jo lange gefreut hatte, und ihr geſchwelltes Hey 
würde wieder flein werden! Sie würde ihn gewiß nicht allein Sprechen. Ad, 
die beiden glücklichen Mädchen, die mit ihm in fein Haus fahren durften, bie 
immer um ihn waren, die ihn jtet3, wenn fie wollten, jehen konnten ! 

Johanna trat an die Tante heran und fragte fie leife, ob fie allein wohl 
noch einmal in die Kirche gehen dürfe? Die Mädchen hätten fich gelangweilt, 
ihr hätte e3 aber jehr gefallen, und fie Hätte fort müfjen, noch ehe der Ontel 
das Wort ergriffen. Die Tante nickte, und Johanna ging, jo glüdfelig, da fie 
am liebften gefprungen wäre. Es wäre beinahe wie mit ihm jpredden, ihn 
immerfort anjehen zu fünnen — noch dazu ohne dat es Jemand merkte; denn 
er jaß neben dem Propft, auf den fie doch blicken mußte! 

War er ganz bei feiner Beichäftigung des Schreibens? Hatte er nicht ge 
merkt, daß fie wieder da ſei? Der ältere Herr mit dem glattrafirten Geſicht 
und den langen weißen Haaren hatte es doch gleich gefehen und fie angelächelt! 
Warum fonnte er denn nicht ein einziges Mal aufbliden? Sie ſuchte ihn mit 
ihren Augen dazu zu zwingen, allein e3 gelang ihr nicht, und nun mußte fie 
au, daß er nicht wollte. Warum nit? Wie ſchön jah er aus! Wie ein 
Chriftusbild. DO, ihr war, als möchte fie die beiden Arme ausftreden und io 
vor ihm niederfinfen, um fi von ihm jegnen zu laffen. 

63 regnete wieder ftark, und der Wind jeßte ein; eine große Trauerweide 
dicht an der Kirche ſchlug mit ihren naſſen Neften hart an das Kirchenfenfter, 
jo dat Johanna erfchroden zufammenfuhr. In demjelben Augenblick jchaute er 
unwillkürlich auf, und eine Secunde trafen ſich ihre Augen. — Er erröthete bis 
in die glatte Stirn, und Johanna's Herz klopfte laut. Der Propft ſprach weiter, 
und der Regen rauſchte ftarf und einfürmig nieder, fo daß ihr ganz traumhaft 
zu Muthe wurde. War fie es wirklich, die hier jo allein auf dem Chor ber 
Dorflirhe ja? ES war fo anders als ihr bisheriges Leben, ganz als ob fie 
eine Kindergejhichte von dev Wildermuth exlebte, oder ala ob fie eine Heldin 
aus Marie Nathufius’ Romanen geworden jei. Bejonder das merkwürdig ge 


Zwiſchen Kirche und Paftorat. 325 


ſpannte Gefühl in ihr, die zitternde Erregung, in der Gott, Kirche und der 
Diener der Kirche in Eins verſchmolzen, in der fie nicht wußte, ob es heilige 
Schauer waren, die fie erfaßten, wenn fie den Prediger mit dem jchmalen, 
durchgeiftigten Geficht anblicte, oder ob e3 nur der Mann war, den fie in ihm 
liebte. Aber wie liebte fie ihn! Sie konnte fi nie anderd vor ihm ala Enieend 
denten; fie jah ihn auf der Kanzel ftehen und fi darunter, zu ihm hinauf: 
blickend. Dabei kannte fie feine Kirche noch nicht einmal. Würde fie ihm je 
dort jehen? 

Plötzlich fiel ihr ein, daß die Zeit verrönne, ja, al3 fie nach der Uhr jah, 
merkte fie, daß fie ſchon über die feftgejehte Eſſensſtunde ausgeblieben, und jchnell 
eilte fie in die Propftei zurüd. Die Tante war nicht böfe über ihre VBerfpätung, 
zumal da Johanna jagte, fie hätte nicht mitten in der Rede des Propftes auf- 
ftehen wollen. 

„Richt wahr, eine ſolche Stimme twie der Onkel hat feiner?“ meinte die 
bewundernde Gattin, und Johanna flimmte ihr gedantenlos bei. Das ältere 
Fräulein Jenſen meinte, auch Paftor Hinderjen Habe ein recht anfprechendes 
Organ, und als Johanna bemerkte: „Ihr Bruder fpricht gewiß jehr ſchön?“ 
bejahten die Schweitern e3 fühl. 

63 war merkwürdig, welche Feindſeligkeit Johanna in den beiden Fräulein 
Jenſen jpürte; fie juchte diefelbe auf jede Weiſe zu befeitigen und überhäufte fie 
mit Freundlichkeiten, denn ihr Herz zog fie warm zu ihnen hin — e8 war ums 
ſonſt. Die Pröpftin merkte e3 nicht; fie war in Gedanken nur damit beichäftigt, 
ob ihr Dann fi auch nicht erfälten würde, da er ſechs Stunden lang in ber 
feuchten, falten Kirche fiten mußte, und ob das Efjen im Gafthaus durch Die 
Verzögerung nicht ungenießbar geworden wäre? Auf Ein Uhr war es angejeht 
worden, aber nad) der Länge de3 zu diöcutirenden Programms konnte ed Drei 
werden, ehe die Herren frei waren. Sie hatte eigentlich Luft, nach dem eigenen 
Mittagefjen, das jchon faft beendet, einmal zur Krugwirthin Hinüberzugehen ; der 
Regenguß war ja vorüber. 

Die jungen Mädchen fprachen jet über einen neuen Stih in der Woll- 
ftidferei, und Johanna verſprach, denjelben den beiden Fräulein Jenſen zu lehren ; 
außerdem hatte fie kürzlich eine Art Patentftriden gefehen, das viel dauerhafter 
al3 das gewöhnliche fein ſollte. Das ältefte Fräulein Jenſen meinte, ihr mache 
nur Klöppeln Freude, weil Johanna nicht? vom Klöppeln verftand; als nun 
letztere bat, e8 fie zu lehren, wenn fie einmal zu ihnen käme, antwortete Marie 
Senjen, da3 ſei zu umftändlid. Die jüngere Schwefter Anna aber verabredete 
fich ſchließlich mit Johanna auf den nächften Tag, und wenn Marie auch meinte: 
„Du weißt, Anna, wir haben morgen den ganzen Tag mit der Wäſche zu thun,” 
fo ließ Johanna ſich doch nicht abjchreden. Die Ausfiht, in das jchöne Dorf, 
in da3 Pajtorat von Klaus Jenſen zu gehen, war zu verlodend, auch auf Koften 
ihrer Eigenliebe. So lag ein Morgen vor ihr, wenn der heutige Montag grau 
zu Ende dämmerte! 

Allein das Wetter jchien anderer Anficht getvorden zu fein; um vier hr 
fam die Sonne heraus, und gleich darauf trat der Eleine Propft mit dem jchlanfen 
Baftor Jenjen auf den Kirchpfad, der zum Haufe führte. Johanna jah fie und 


326 Deutiche Rundſchau. 


wechſelte die Farbe: jeht fam ex! Was würde er mit ihr ſprechen? Würde er 
lange bleiben oder nur die Schweftern abholen? 

„Sie find den Verhandlungen mit großem Intereſſe gefolgt, Fräulein Hart: 
mann!“ jagte Paſtor Jenſen lächelnd, nachdem er Alle begrüßt. 

Sie hatte ihren Pla am Tyenfter wieder eingenommen, er ftand ihr gegenüber 
in ber Fenſterniſche. 

„Meinen Sie etwa, daß ich nicht im Stande fei, dieſe Verhandlungen zu 
verftehen ?” entgegnete fie, zu ihm aufblidend. 

„Wie gefalfühtig fie ift,“ dachte Marie Yenjen, die gerade mit dem Propft 
ſprach. 

„Nein,“ meinte der junge Paſtor, „mich wundert nur, daß Sie verwöhnte 
Stadtdame Gefallen an unjern Angelegenheiten finden.“ 

„Aber wir find doch auch Chriften!“ 

„Iſt die Kirchenverwaltung darum intereffanter ?“ 

„Dich intereffirt Alles, was mit der Kirche zufammenhängt, das Aeußerliche 
und da3 Innerliche.“ 

„Hoffentlich nicht gleich jehr?“ unterbrach. mit jcharfer Betonung Fräulein 
Marie. 

„Natürlich nicht,” lachte Johanna, die fich über nichts ärgern konnte, wenn 
Klaus Jenſen in ihrer Nähe war. „Wäre ih ein Mann, ich würde ficher Lande 
paftor geworden jein.“ 

„Und doch wifjen Sie nicht, wie ſchwer da3 gleichförmige einfame Leben 
mit den harten Anforderungen des Tages Jhnen geworden wäre; Ihre Natur 
eignet fich nicht dazu.“ 

„Was wiffen Sie von meiner Natur?” fragte fie übermüthig. 

„Run, die ift doch in Allem ausgeprägt, in der Erſcheinung“ — jein Blid 
glitt über ihre elegante Kleidung — „in der Stimme... ." 

„Der Kern der Menfchennatur verbirgt ſich aber doch ſcheu vor Anderen,“ 
fagte fie leifer. 

Er ſchwieg einen Augenblid. Es war höchſt reizvoll, ihr gegenüberzuftehen. 
In ihren zierlichen Fingern hatte fie eine Stiderei, arbeitete aber nicht daran, 
fondern ftecte die Nadel immer nur Hinein und holte fie wieder heraus. Sie 
war bei ihren letzten Worten roth geworden, und er ftand da und ſah fie um- 
verwandt an, ohne eigentlich zu wiſſen, daß er e3 that. 

„Wollen Sie fi) nicht ſetzen?“ fragte fie ſchließlich. Er rückte fich einen 
Stuhl heran und fragte fie, was fie arbeite? Ahr brannte das Blut in den 
Wangen, troß der Unverfänglichkeit der Frage; fie wußte nur, daß e8 wunderbar 
wohlig war. 

„Eine unnüße Arbeit, die man madt, nur um etwas in der Hand zu haben.” 

Fräulein Marie trat an die Beiden heran und meinte: man dürfe nie etwas 
Unnöthiges arbeiten, wenn fo viele Leute zu dem Nöthigften nicht die Zeit hätten 
und des Nöthigften entbehrten. Johanna erwiderte: „Sie haben gewiß Recht.“ 
Der junge Mann aber jagte: „Dein Puritanismus ſchickt fich nicht für Alle“ 

„Wollen Sie mich damit herabjegen ?" fragte Johanna, ihn groß anblidend, 
al3 ob jeine Schwefter nicht piquirt daneben ftünde. Wenn fie mit ihm ſprach, 


Zwiſchen Kirche und Paftorat. 327 


waren ihr alle Uebrigen jo gleichgültig, als Hätten fie weder Augen noch Ohren. 
Gr erwiderte ihren Blick, ohne auf das, was ſie jagte, zu anttworten, und fie 
la3 nur Bewunderung und Liebe in feinen Augen. Nach einer Weile jagte er 
plöglih: „Ich glaube, Sie könnten fi) an unfer hausbadenes Leben nicht 
gewöhnen.“ 

„Wie können Sie die leibhaftige Poefie nur hausbaden nennen! In einem 
Paftorat ift Alles durchleuchtet vom Glanz, den der Sonntag auf die ganze 
Woche wirft! Hausbaden ift das Stadtleben. Die gewöhnlichfte Verrichtung, 
Grünzeug pußen und Schweine füttern, fieht auf dem Lande, in der weiten, 
freien Luft, äſthetiſch aus — zumal wenn man an die engen, büftern Höfe der 
Städte denkt. Sie wiſſen gar nicht, wie gut Sie es haben.“ 

„Aber nur Arbeit, nie eine Zerftreuung!” fiel Marie ein. 

„Ist ein Tag wie der heutige feine Zerftreuung? Iſt ein Beſuch in der 
Nachbarſchaft nicht mehr, al3 ein Koncert oder ein Ball?“ 

„sa, nachdem man fich jatt getanzt hat,“ entgegnete Marie; fie wurde ganz 
unruhig: jo etwas Unverfhämtes war ihr noch nie vorgekommen! Diefes Fräulein 
Johanna warb förmlich öffentlih um ihren Bruder, und der ſaß da, als müfle 
e3 jo jein! — Sie wandte ſich darum an ihn: „Klaus, es ift Zeit, aufzubrechen !“ 

Langjam und träumeriſch zog er jeine Uhr umd ſchob fie wieder in die 
Taſche, ohne gejehen zu Haben, wie jpät es jei. 

„Warum find Sie jo eilig, Fräulein Jenjen? Sie haben doch feinen weiten 
Weg, und noch ift Niemand abgefahren,“ fragte Johanna. 

„Ich habe zu thun; morgen wird gewaſchen, und da will ich heut Abend 
noch einweichen, ehe e3 dunkel wird.“ 

„Waſchen Sie jelbft ?” 

„Natürlich; meinen Sie, die Magd würde allein damit fertig ?“ 

Johanna jah unwillkürlich auf ihre Finger und erfchrat vor ihren Gedanten. 
Der junge Paftor war ihrem Blick gefolgt und Hatte leicht gelächelt. Johanna 
empfand dabei einen fcharfen Schmerz — aber fie konnte doch nicht jagen: „Für 
Sie fünnte ih Alles lernen!” Er hatte ihr ja eigentlich nie ein Wort von dem 
gejagt, wa3 ihr jo natürlih und unausbleiblich ſchien — von ihrer gemeinjamen 
Zukunft! 

Marie wandte ſich zu ihrer Schweſter, um den Aufbruch zu betreiben, und 
Johanna ſagte bittend zu Klaus: 

„Wollen Sie nicht noch ein bischen bleiben; die Sonne ſcheint jetzt, und wir 
könnten die halbe Stunde bis ans Meer gehen.“ 

„Ich möchte wohl und habe auch Zeit, wenn aber die Schweſter nicht kann —“ 

Johanna war verleßt. Ließ er fi) jo von der Schwefter beherrſchen? Das 
wäre jehr traurig! 

„Bitte, bitte,“ begann fie noch einmal, als handele es fi um etwas von 
höchſter Wichtigkeit. 

„Alfo auf morgen, jo um fünf Uhr,” fagte Anna, an Johanna herantretend. 

„Oder übermorgen, wenn e3 Ihnen befjer paßt?“ entgegnete diefe. 

„ja, übermorgen wäre noch beſſer!“ 


328 Deutſche Rundſchau. 


„Wißt Ihr,“ ſagte Klaus, als die Schweſtern auf dem Wagen ſaßen, den 
ein Bauer des Dorfes ſelbſt kutſchirte, „ich werde zu Fuß nachkommen; ich will 
noch einmal zu den Herren in den Krug gehen; vor acht bin ich ficher zu Haus.‘ 

Damit gab er dem Bauer-das Zeichen zum Abfahren, jo daß die Schweitern 
nicht3 mehr einwenden fonnten. 

Der Propft fand es viel verftändiger, daß Jenſen zu Fuß ginge, nachdem 
er den ganzen Tag ftill gefeilen hätte; die Frau Pröpftin wurde mit einem Mal 
nachdenklich, als fie Johanna's ftrahlendes Geficht jah. 

Paftor Jenſen ging allerdings zuerft in den Krug, Tehrte aber bald zur 
Propſtei zurüd und ſchlug nun den Spaziergang and Meer vor, die Wege wären 
ſchon ganz aufgetrodnet. Als er aber ſah, daß die alten Herrichaften keine große 
Luft hatten, war er e3 aud) ganz zufrieden, im Zimmer zu fiten. Er raudte 
nit und konnte daher Johanna helfen, verhedderte Wolle zu entwirren; und 
als der Propft fich zurückgezogen Hatte, las er den Damen ein Rückert'ſches 
Sonnet vor; fpäter begleitete, auf Vorfchlag der Tante, Johanna ihn zu einem 
Schubert'ſchen Liede, das er jehr hübſch fang, obgleich ihm Singen wie Rauden 
eigentlich verboten war. Johanna wollte die Augenblide fefthalten, aber fie 
hatte fein rechtes Bewußtjein davon; fie fühlte nur Eins: daß er geblieben war, 
weil fie ihn darum gebeten! 

Als die Pröpftin am Abend zu Bett ging, fragte fie ihren Mann, ob er 
glaube, daß e3 was werden Könnte zwiſchen Jenjen und Johanna? Er lächelte 
und erzählte feiner Frau, daß Paftor Hinderjen jo begeiftert von Johanna's 
Geficht geweien ei, daß er nächſten Sonntag gewiß vorſpräche; er wäre nur 
aus Angft vor Marie Jenſen heute nicht in die Propftei gefommen. Darüber 
lachten Beide und jchliefen leicht ein. 

Johanna aber war von ihrem Glück wie in Banden gehalten. „ch liebe 
Dich, Klaus,” jagte fie einmal leiſe, verfteckte fi) dann aber fchnell im ihr 
Federbett, und am nächſten Morgen wußte fie nicht, ob fie überhaupt geichlafen 
hatte. 


—— — — 


Am zweiten Tage darauf brach Johanna etwa um vier Uhr Nachmittags 
auf, um bei Anna Jenſen das Klöppeln zu erlernen. Es war ein herrlicher 
Sommertag, ein jo wolfenlojer Himmel, dag man traurig werden konnte im 
Gefühl der ſeeliſchen Unzulänglichkeit, ſolche Schönheit ganz zu genießen. Der 
Meg führte zwijchen den hohen, itppigen Heden entlang.und geftattete nur jelten 
Ausblide auf das wogende grüne Land. In den Heden blühte noch da3 gelb: 
liche Jelängerjelieber, deſſen ſüßer Duft ſommerlich beraufcht; doch die grünen 
Hajelnüffe waren ſchon groß in der febrigen Hülle, und die Hedenrofen, lange 
vom Winde verweht, hatten fich zu den ftachlichen, noch nicht reif-rothen Hage 
butten geformt. Johanna achtete nur auf das Selängerjelieber; Anfangs ver: 
fuchte fie, fi) einen Zweig davon abzubrechen, als fie aber nicht heranreichte, 
fagte fie fih, es jei auch jchöner dort, wo es fich zwiſchen das volle Buſchwerk 
hindurch rankte: es gehöre ihr auch jo, und brauche fie e8 in der Hand zu halten, 
um ſich daran zu freuen? 


Zwiſchen Kirche und Paftorat. 329 


Der Gedanke aber machte fie traurig: mande Dinge muß man durchaus 
in ber Hand halten, um das Gefühl des Beſitzes zu erlangen — nachdem fie 
eine WViertelftunde weiter gegangen, verfuchte fie doch twieder, ſich eines Zweiges 
Selängerjelieber zu bemächtigen. Es war ihr ein Symbol geworden; und ala 
fie die graziös gewundene Blume in der Hand hielt, jchritt fie noch einmal fo 
froh den Hedenmweg meiter. Sie wollte nicht jchnell gehen, um die freude bes 
„untertvegs“ zu genießen, und doch trieb etwas fie eilig vorwärts. 

Da lag das Haus. Sie ftand ftille; es ſah unreal ſchön aus; nicht als ob 
Arbeitshände es nach eines Bauführer® Plan gemacht, nein, als wäre eines 
finnigen Künftler3 höchſte Schöpferftimmung dort verkörpert worden: das hohe 
Strohdach, das ſich wie lebendig, wie ein bewußt Schirmendes und Schützendes, 
auf den weißen Mauern aufbaute — die Baumgruppe dahinter, die wunderbare 
Linde vor dem Haufe und daneben der gepflegte Garten, theilweiß verborgen 
durch die dichte Rothdornhede, über die nur eine zarte Blutbuche Hinausragte 
und einige hohe Nofenftöcde ihre weißen Blüthen ftredten. Das Hofthor ftand 
gaftlih offen, aber Hof und Haus waren unbelebt. Johanna ſchaute auf dies 
Bild, bis ihr die Thränen in die Augen traten. Ja, dort wohnte er, und old) 
ein Haus gehörte zu ihm, wie er zu dem Haufe. Vor Klaus Jenſen war fein 
Vater dort Paftor geweſen; nad) ziwanzigjähriger Unterbredung war er ihm jet 
gefolgt und wohnte wieder in dem Haufe, in welchem er geboren var. 

Als Johanna jo vor dem Paftorate ftand und es betrachtete, wurde ihr 
da3 Herz jo ſchwer, daß fie daran dachte, wieder umzufehren. Aber fie jchalt 
fich thöricht und legte den Reſt des Weges jchneller zurüd, jo daß ihre Wangen 
glühten, al3 fie die leiſe Elingelnde Hausthür öffnete. Anna kam ihr entgegen, 
und gleich darauf erihien Marie. — Johanna war die Nichte ihres Propftes, 
und wenn fie ihr auch nicht ſehr willkommen war, zeigte fie es doch nit im 
eigenen Haufe. 

„Wir haben den Kaffeetiih in der Laube zurecht gemacht,“ fagte fie und 
führte ihren Gaft in den Garten hinaus; „Unna, rufe Klaus!“ 

Bis diefer fam, betrachtete Marie Johanna’3 Anzug mit tadelnden Gedanken: 
e8 war nur ein Kattunfleid, aber die Hellxofa Farbe, der Schnitt und die 
große, jeidne Schärpe gaben demjelben den Anftrih höchſter Eleganz; es jchien 
ihr die ſchönſte Toilette, die fie je gejehen! Dazu Eleidete Johanna der weiße 
Strohhut, der wie ein umgekehrter Korb jchühend über den Kopf geftülpt und 
mit einem Kranz wilder Rofen garnirt war, ganz ausgezeichnet. 

Klaus blieb einen Augenblid an der Gartenpforte ftehen, al3 ex die rofige, 
liebreizende Erſcheinung in der grünen Laube jah; ex wurde noch bleicher, als er 
ſchon gewejen, ging dann aber auf fie zu. 

„Was ift Ihnen?” fragte fie erichroden, „find Sie nit wohl?“ 

„Doch, ganz wohl,“ meinte ex, trübe lächelnd. 

„Aber Sie haben ſich jeit vorgeftern jo verändert!" Ihre Karen braunen 
Augen jahen ihn ganz verzweifelt an. 

„Ihr Kaffee wird kalt,“ unterbrah Marie fie jchnell, und in Johanna 
entitand das Gefühl, ala jei Marie an der Veränderung des Bruders Schuld. 


330 Deutſche Rundſchau. 


Das Geſpräch wollte nicht recht in Fluß kommen. „Haben Sie die Kirche 
ſchon geſehen?“ fragte der Paſtor. 

„Nein,“ antwortete Marie an Johanna's Statt; „aber wenn wir jetzt nicht 
mit dem Klöppeln anfangen, wird e3 wieder zu ſpät.“ 

„Wir können ja am Freitag fortfahren, wenn Sie dann zu und kommen 
wollen? Die Tante läßt ſchön darum bitten,” jagte Johanna. 

„Bis Freitag ift noch lange,“ meinte Marie außweichend und jah ihren 
Bruder an, der ſich erhoben Hatte. 

Johanna und Anna ftanden auch auf, Marie blieb zurüd, und nur die Drei 
chritten den Weg zur Kirche hinauf. 

Die Kirche ftand auf einem Hügel, von dem aus man einen ſchönen Umblid 
über die Gegend hatte. Das Kleine Gotteshaus jelbft erſchien unendlich rührend; 
aus großen ineinander gefügten Steinen errichtet, hatte es noch das Gepräge 
alter Zeiten; dev Glodenthurm ftand daneben, er war aus Holz und der Kirche 
fpäter angebaut. 

Sie fanden die Thüre verjchloffen: „Ach, Anna, bitte hole den Schlüflel 
vom Küſter,“ jagte der Paftor. „ZH zeige Fräulein Hartmann unterdeß bie 
Gräber.“ 

Er ging um die Kirche herum, die jet zwijchen ihnen und dem Dorfe lag, 
vor ihnen erftredte fich die wellige grüne Ebene im Sonnenſchein. Die meiften 
Gräber waren baumlos, der Wind Haufle hier oben gar zu jehr, nur dicht am 
Gotteshaus lag ein durch mehrere Trauerweiden bejchatteter Platz. Klaus Lehnte 
ih an die Kirchwand und fagte: 

„Hier ruhen meine Eltern.“ 

Ein leifes „Ah“ entfuhr Johanna’3 Lippen. Sie trat heran und las bie 
Inſchriften der beiden Leichenfteine: „Klaus Jenſen“ — — „Johanna Jenſen.“ 

Der junge Paftor ftand noch immer ruhig an die Kirchwand gelehnt, dod 
hatten jeine Augen mit den ihren die goldenen, halb verwaſchenen Lettern gelefen, 
und nun jah er auf fie, die lebensfriſche, jugendliche Geftalt, die bei dem Namen 
Johanna, der auch der ihrige war, eine kleine Bewegung verrathen hatte. „So 
jung haben Sie Ihre Mutter verloren!” jagte fie, und Thränen traten in ihre 
Augen, ala fie fi zu ihm umwandte. 

„Ich war drei Jahr alt,” erwiderte er in demjelben ruhigen, hoffnungsloſen 
Ton, der fie heute bei ihrer erften Begrüßung jchon erfchredt Hatte, „und ſechs, 
al3 mein Vater ftarb.“ 

„Dh, Sie armer Mann,” fagte fie ergriffen. 

„Auch Sie haben Ihre Mutter früh verloren —“ 

„Ich war do ſchon fünfzehn.“ 

„Sie wird wohl an derſelben Krankheit geftorben jein, bie mir meine Eltern 
nahm; fie war ja auch aus unſerm Lande!“ 

Ueberraſcht blickte fie ihn an. „Meine Mutter ftarb am Nervenfieber,“ 
entgegnete fie. 

„So?“ war Alles, wa3 er erwiderte. Sie beugte fich über die Gräber und 
zupfte ein Kleines gelbblühendes Unkraut aus dem Epheu heraus. Er jah ihr 
zu, und fie fühlte e3 wie ein heilige3 Band zwifchen ihnen, daß fie am Grabe 


Zwiſchen Kirche und Paftorat. 331 


feiner Eltern jäten durfte. Der Schref und die Angſt vergingen ihr in dem 
Schweigen, da3 jet eingetreten war, und die mächtige Glüdsftimmung über 
twucherte Alles, gehoben durch den Heiligen Ort. 

Er fagte noch immer nicht3, weil er jo viel zu jagen hatte und wunderte 
fih nur, daß Anna noch nicht zurückkäme, obgleih er ihr Kommen fürdhtete. 
Anna aber jaß vorn auf den Kirchthürſtufen und fpielte gedankenlos mit dem 
großen Schlüffel. 

„Man kann von hier aus da Meer jehen,” begann er endlich; „mir ift der 
Bli jo lieb, mit dem lichten Streifen im Hintergrunde. Es jollte und Menjchen 
allen ein Symbol jein: jenfeit3 der Erde die lichte Ewigkeit!” 

„Aber die Erde davor ift auch ſchön,“ entgegnete fie, glückjelig lächelnd. 

Er jah fie an, und einen Moment zudte es um feinen Mund und jchien 
fein Auge fi zu verdunfeln. Schnell aber wandte er ſich wieder der Andeutung 
de3 Meere zu, die er am Horizont zu ſehen meinte. Sie blieb mit den Augen 
an ihm hängen; dann, ohne weitere Befinnen, ergriff fie janft feine Hand und 
fagte: „Was ıft Ihnen feit vorgejtern gejchehen? Warum find Sie jo verändert?“ 

„Ich danke Ihnen für Ihre Theilnahme,” entgegnete er. „Wir wollen aber 
jeßt die Kirche bejehen.“ Damit ging ex einige Schritte weiter. 

Sie blieb ftehen, und zivei Thränen vannen ihr über die Wangen. Und 
doch wollte fie ſich zuſammen nehmen; fie hatte ihm ja nichts vorzuwerfen, es 
war Alles ihre eigene Einbildung geweſen; nie hatte ex ihr ein Wort von Liebe 
geſprochen, ihr eigen Gefühl hatte fie irre geführt. 

Er ftand unſchlüſſig etwa zehn Schritt von ihr entfernt; fie jah ihn gar 
nicht mehr, fie jah nur die grünen Blätter dev Trauerweide dicht vor ſich und 
fühlte, daß fie die Thränen verſchlucken mußte, um jeden Preis. Plötzlich ftand 
er dicht neben ihr, ja, er hatte ihre Hand mit beiden Händen ergriffen: „IK 
darf nicht, Johanna, ich darf nicht,” flüfterte er. 

In demfelben Augenblid ertönten Schritte; Johanna fauerte fich neben die 
Trauerweide nieder, und Anna fragte, was fie jo lange dort machten? Dann, 
al3 fie die Thränen auf Johanna's Geficht jah, Iegte fie den Arm um fie: 

„Wir find täglich hier, da find die Gräber ung vertraut und erichüttern 
una nicht mehr,” jagte fie. 

„ya, es ift beffer, wenn die Todten mit uns fortleben,” meinte der junge 
Paftor. 

„Meine Mutter ift in Neifje begraben, wo mein Vater früher ſtand; ich 
babe ihr Grab nie wieder gejehen,” jagte Johanna, „aber mit mir fortgelebt 
bat fie doch.“ 

„ft dies nicht ein reizender Plaß,” begann Anna nad einer Weile; fie 
ſchien aufzuthauen, wenn die ftrenge ältere Schwefter fern war. 

Der Paftor ging einige Schritte weiter, an ein ganz friſches Grab: „Hier 
habe ich vor acht Tagen eine junge zweiundzwanzigjährige Frau beerdigt, die jo 
gern gelebt hätte!“ 

„War fie glücklich?" fragte Johanna, die ihm folgte. 

„Sehr glücklich. Sie Hinterläßt ein zmweijähriges Kind; die Krankheit brach 
erft nach deifen Geburt aus; vor ihrer Heirath war fie ſtark und blühend.“ 


332 Deutihe Rundſchau. 


„Die Krankheit” — darunter verftand er die Schwindſucht, Johanna hörte 
die Bezeihnung zum zweiten Male, und plötli jah fie ihn mit ftarren Augen 
an. — a, nun verftand fie Alles! Ya, gewiß, das war der überirdiſche Aus— 
drucd feiner Augen; jeine beiden Eltern waren daran geftorben, auch jene 
Schweſtern hatten die bruftlofe Geftalt und gebeugte Haltung: fie würden daran 
fterben, und ee au! — — — Aber was machte da3? Noch lebte er ja, nod 
war er da, und ihr endlofes Schnen nad ihm würde ihn am Leben erhalten! 
Menn er nur ber Ihre würde — ein Anderes fürchtete fie nicht, gewiß nicht 
den Tod, der hier inmitten al’ der Gräber fie umgab. „Wie heit der jchönfte 
Bibelſpruch?“ wandte fie fih an ihn und ſah ihn mit ftrahlenden Augen an: 
„Liebe überwindet auch den Tod!” 

Er nickte leiſe: „Die richtige Liebe, die entjagen kann!“ Damit jchloß er 
die Kirchthüre auf und ließ fie vorangehen. Die Heine Kirche war intwendig 
mit hellblauer Waflerfarbe gemalt, nur über dem Altar hellrofa; dem Maler 
mußten Wolfen, von der Sonne durdpleuchtet, vorgejchtmwebt haben. Es war 
wenig darin zu bejehen, außer dem alten romanifchen Taufftein. 

Klaus war, während die Mädchen die fteifen Reliefbilder desjelben ftudirten, 
unbemerkt zur Orgel hinaufgeftiegen und jpielte zu ihrer Ueberraſchung erft einige 
Aecorde, dann „Ein’ fefte Burg ift unfer Gott“. Johanna blieb regungslos 
ftehen,, die herabhängenden Hände loſe gefaltet, als die vollen Orgelklänge durd 
den Eleinen Raum tönten. Anna jegte fi in einen Kirchſtuhl, nachdem fie 
Sohanna zugeflüftert: „Jetzt befommen wir ein ganzes Kirchenconcert; wenn 
Klaus fich einmal daran fett, hört er jobald nicht wieder auf.“ 

Nach einer Weile ftieg Johanna leije die Stufen zum Chor hinauf, Anna 
im Worübergehen jagend, daß fie fi die Orgel in der Nähe betrachten wolle. 
Anna lächelte darüber; fie hatte eine unerflärliche Freude daran, dat Klaus und 
Johanna ſich Lieb Hatten; fie begriff nicht, wie Marie jo erbittert gegen dies 
freundliche Mädchen jein konnte: fie, Anna, hatte fi) immer eine Frau Paftorin 
gewünſcht; e8 war ja Pla genug für Alle im Paftorat, jelbft wenn fie Beide 
nicht heivatheten, was doch eigentlich nicht außgejchloffen war. Marie war zwar 
ſchon einunddreigig Jahre alt, aber fie, Anna, erſt fiebenundzwanzig, nur ein 
Jahr älter als Klaus. Marie dächte gewiß; daß die verwöhnte Johanna eine 
fchlechte Hausfrau werden würde; aber jo lange die Schweitern im Haufe twären, 
brauchte fie ih um nichts zu kümmern. Und tie reizend würde es fein, das 
Haus voll Kinder zu haben, wie drüben bei Detlefz! 

Johanna war unterdeß langjam die Stufen zur Orgel binangeftiegen. Sie 
wußte genau, was fie ihm jagen wollte; feitdem fie verftanden hatte, was ihn 
quälte, war fie fo muthig, gar nicht mehr das junge Mädchen: fie kam ſich vor 
wie der Mann, der den erften Schritt thun muß. 

Freilich, als fie ihn erblicdte, ſchwand der Muth, und fie blieb wie müde an 
der leßten Orgelpfeife ftehen. Er hatte fie bemerkt, und da er ihr nicht jagen 
durfte, was er fo gern wollte, jpielte er immer weiter, einen Choral nad dem 
andern; mandmal fang er mit leifer Stimme dazu — es war doch der Schein 
einer.Unterhaltung; aber ihr Hang e3 wie Grabgefang. Und während die Töne 
fie jo umſchwirrten, ward ihr zum erften Diale die Vergänglichkeit des Seins Hat, 


Zwiſchen Kirche und Paftorat. 333 


daß die Menjchen über die Erde Hingefegt werden, wie Spreu vor dem Winde, daß 
die Stimmen der Lebenden fo jchnell verhallen, wie die Klänge der Orgel, daß 
um diefe Kirche herum jchon Generationen begraben lagen, welche fich dasjelbe 
gewünjcht, Alle dasjelbe gelitten Hatten, wie fie, und daß die unendlichen Jahre 
Hunderte der Zukunft immer das Gleiche bringen würden! — Aber gerade darum 
wollte fie da3 Leben mit Treudigkeit genießen, wie der Herr es in fie gelegt; 
jo lange er ihr das Leben ließ, geihah e8 doch nur, auf daß fie fich desjelben 
freute! — Wie war e8 möglich, daß Klaus, der ein Paftor war und in feiner 
Bibel lebte, diefe Anſchauung nicht hatte? 

Wer weiß, wie lange Klaus fortgejpielt hätte, wenn Marie des Warten 
nicht überdrüjfig geworden wäre. Anna hatte fi) genug gewundert, dat Klaus 
nicht aufgehört zu jpielen, obgleich Johanna zu ihm hinauf gegangen war; ala 
fie ihre Schwefter eintreten jah, wußte fie, daß für die Beiden die Möglichkeit, 
allein und ungeftört mit einander zu reden, num vorüber war. Klaus und 
Johanna fühlten das auch; jet war es zu fpät, und eine kalte Traurigkeit 
legte fih auf Johanna's Geficht, unter der jelbft ihre rothen Wangen verblaßten. 

Sie gingen zufammen in Pfarrhaus zurüd, Klaus in feine Stube, aus 
der er nicht mehr zum WVorfchein kam; die Mädchen ſetzten fich mit ihrer Klöppel— 
arbeit in die Laube. Johanna hatte viel gejelichaftlihen Schliff, der half ihr, 
fich zu überwinden. 

Als fie wieder in? Haus trat, um fi Jade und Schirm zum Fortgehen 
zu holen, fiel es ihr auf, wie feucht die Luft drinnen war. Marie aber, gegen 
die fie diefes äußerte, entgegnete ganz verlegt, es gäbe fein trodeneres und ge- 
fünderes Haus al3 das ihre. Sie wären Alle ganz wohl, ihnen hätte dort nie 
ettva3 gefehlt! 

Johanna brauchte lange Zeit zu ihrem Heimmwege. Sie mußte immer bie 
vom Winde gejagten dien Woltenmafjen anfchauen, die vor ihr hereilten und 
nur verſchwanden, weil neue Maffen fie drängten. Noch hielt dev Wind den 
Regen ab, der fi immer drohender über ihrem Haupte zufammenzog und exft 
begann, al3 fie jchon mit dem Onkel und der Tante beim Abendbrod ſaß. Nach 
demjelben las der Propft aus Fri Reuter vor, und Johanna lachte jo laut über 
die Scherze, daß ihre Verwandten fich beruhigten — bei Tiſch war ihnen das 
Kind gar zu einfilbig und bleich vorgefommen: Marie Jenſen jei fein quter 
Umgang, jo hart und bitter, wenn auch eine außerordentlich tüchtige und brave 
Perſon. 

Johanna war froh, als endlich Schlafenszeit war. Denken konnte ſie nicht, 
wie fie im Giebelzimmer in ihren Federbetten lag; fie war todtmüde, und der 
Wind heulte jo ums Haus, während der großtropfige Regen an die Kleinen 
Scheiben klatſchte, daß fie weinen und weinen mußte, bi3 fie einjchlief. 

Um nächſten Morgen war Alles grau, jo viel Nebel und Regen, daß man 
nicht bis ans Ende des Gartens jehen konnte. Johanna verſpürte zum erjten 
Male hier feine Luft aufzuftehen. Ach, wie kannte fie dies Gefühl von zu Haufe 
her, wenn fie am Abend mit ihrer Stiefmutter einen Auftritt gehabt hatte, welcher 
mit ein paar harten Worten ihres Vaters über ihren Undank gegen dieſe aus— 
gezeichnete Frau zu endigen pflegte. Er verehrte an der „ausgezeichneten Frau“ 


334 Deutiche Rundſchau. 


hauptſächlich den Stammbaum — benn andere Reize Hatte die ihm an Jahren 
etwas überlegene Gräfin Grufa nie gehabt. Wie oft hatte Johanna hören müſſen, 
daß ihre Mutter, die einfahe Paftorstodhter, der Stellung ihres Mannes nicht 
recht gewachſen geweſen wäre, daß deſſen gejellfchaftliches Leben erft mit ber 
zweiten Frau begonnen hätte. Wie ſchal fam ihr jet dies ganze Treiben vor; 
ihr fiel da8 Bibelwort ein: „Denen, die Gott lieben, müſſen alle Dinge zum 
Beften dienen!" Die Gehäffigkeit ihrer Stiefmutter hatte ihr zum Beften gedient; 
nie wieder konnte fie in ihre alte Welt zurüd, nachdem fie Klaus Jenſen gefehen! 
Sie hatte das Gefühl, ald ob fie bisher ftet3 in der Verbannung gelebt ober nur 
im Traum gewandelt hätte, plöblich aber zum wirklichen Leben erwacht wäre. 
Und tie fie fich dies Alles überlegte, wurde ihr auch das Aufftehen nicht ſchwer; 
nod war fie ja auf dem Lande, in feiner Nähe, und das lähmende Gefühl, 
das ihre Glieder bedrüdt hatte, hob ſich von ihr. 

Es war ein richtiger Regentag, bald mehr Regen als Wind, bald mehr Wind 
al3 Regen, wie im November, oder wie hier den größten Theil des Jahre. 
„Unfer Land ift hübſch,“ jagte der Probft, „aber unfer Klima —“ ex Tächelte, 
„ein Klima haben wir eigentlich überhaupt nicht!“ 

Johanna Half der Tante, welche nur eine Magd Hatte, beim Reinigen der 
Zimmer; wenn fie der Arbeit auch ungewohnt war, jo ging ihr diefe doch ſchnell 
von der Hand, denn mit jeder Tagesftunde wuchs ihre Freudigfeit, und bei der 
häuslichen Beihhäftigung, jo, wenn fie Efjen austheilte, um welches die Kranten 
de3 Dorfes ihre kleinen Sprößlinge gejendet Hatten, lebte fie fi) in die fühe 
Illuſion ein, fie jei jelbft ſchon eine Paſtorsfrau. 

Nachdem Alles ſchön in Ordnung gebracht war, fetten fi) Tante und Nichte 
ins Wohnzimmer, und während die eine ftricdte, las die andere englifch vor, immer 
abwechſelnd. Sie laſen einen von Macaulay’3 Eſſays, denn die Frau Pröpftin 
hatte fih ihre Geſchmacksrichtung aus der Zeit ihrer Lehrthätigkeit bewahrt. 
Johanna war in einer guten Schule aufgewachſen und in Sprachen recht be- 
wandert, was der Tante viel Freude machte; ihre beiden eigenen Töchter Hatten, 
feitdem fie ſich verheirathet, alle geiftigen Intereſſen verloren; mit ihnen konnte, 
wenn fie zum Bejud da waren, die Mutter nicht einmal mehr ein englisches 
Bud) leſen. 

So verging ber Tag, ohne daß Johanna ſich über irgend etwas klar geworden 
wäre, außer über ihren Wunsch, daß morgen, am Freitage, ſchönes Wetter ſei, 
damit die beiden Jenſens zu ihr könnten — felbft wenn ex fie nicht abholte, 
würde fie doch Nahricht von ihm befommen. 

Aber das ſchlechte Wetter hielt an, und erft am Sonntage, nad) der Kirch— 
zeit Elärte e3 fih auf. Johanna glaubte, der liebe Gott habe ihr Gebet erhört 
und war ganz ftolz und triumphirend, als während de3 Eſſens ein fahler Sonnen: 
ftrahl in die Suppe fiel. Nah Tiſch Ichliefen Onkel und Tante, und fie jehte 
fi in ihr Giebelzimmerchen an das Fenſter, von dem aus fie ein Stüd Weg— 
überſchauen konnte. Die Straße war ganz leer, und fie ſchloß die Augen und 
jah fein Haus vor ſich Liegen: fo beängftigend ſtill, nicht einmal ein Hund auf 
dem Hofe unter der Linde, jo ſchön, daß es wie ein Phantafiebild immer weiter 
und weiter zurückwich. 


Zwiſchen Kirche und Paftorat. 335 


Jetzt jchien die Sonne ganz heiß und trodnete die Wege. Nüftete ex ſich 
zum Gange oder jaß er an feinem kleinen Tannenſchreibtiſch in der niedrigen 
Stube, in die fie nur einmal einen kurzen Blick geworfen, al3 er die Thür geöffnet 
hatte? Es war gar nicht wie ein Herrenzimmer, da fein blauer Tabaksqualm 
aus ihm Herausdrang. — „Johanna“ hatte er fie einmal genannt, fie wußte es 
wohl, aber es war in einem Augenblide jo großer Trauer gemwejen, daß fie 
nicht daran denken mochte. Sie hatte überhaupt keine Gedanken mehr, nur das 
Sehnen, an feinem Halſe zu hängen. 

Es war ſchon drei Uhr. Vielleicht ging ihre Uhr vor? Nein, vom Kirch— 
thurm ſchlug es gerade. Drei war nicht jpät; er war neulich erft gegen vier 
geflommen. Sie mußte aber hinunter, um den Kaffeetifch zurecht zu machen. Sie 
fämmte ihre feinen braunen Haare noch einmal über und fprang dann die fteile 
Treppe hinab. 

Wieder trug fie jenes tofa Kleid, und ihre runden Wangen wurden dunfel- 
roth, ala ein Wägelchen anfuhr. 

Daß ein anderer Beſuch al3 der erwartete kommen konnte, nein, daran Hatte 
fie nicht gedacht, und obgleich es der freundliche Paftor Hinderfen war, der ihr 
in der Kirche während der Synodal-Verſammlung zugelädelt — enttäufcht war 
fie do! Er war groß und ftarf, und jah troß feiner langen weißen Haare in 
der Nähe, vielleicht wegen feines jovialen Lächelns, nicht fo alt aus, wie er 
Sohanna in der Kirche erjchienen. Er war aud) erſt zweiundfünfzig Jahre alt 
und ein fräftiger, gefunder Mann, der allgemein beliebt, da er jo gern lachte und 
lachen machte. 

Der Propft und er erzählten fi Schnurren aus dem Jahre 1848, wo aud) 
er den Feldzug troß feiner Jugend mitgemadt Hatte, da er als Holfteiner ein 
großer Dänenfeind geweſen war. Gegen die „Preußen“ hatte er allerlei, jo 
deutſch er war, und als er denjelben das „ih“ in Stod und Stein nachſprach, 
blinzelte ev nach Johanna hinüber, ob fie es auch nicht übel nähme? Johanna 
aber lachte und rühmte fich ihres Altpreußenthums, was ein Quell von Nedereien 
zwiichen ihnen wurde. Paſtor Hinderfen Hatte noch nie ſolch ein Mädchen er— 
blidt; da er jeit drei Jahren Wittiver war, jah er gar nicht ein, warum er ſich 
nicht verlieben jollte; übrigens war er jchon verliebt, feitdem er auf der Synode 
entdeckt Hatte, daß fie einer Mohnblume glich. Als er ihr das jagte, entgegnete 
fie: „So, alfo flatterhaft bin ih?“ Worauf er meinte: „Nein, beraufchend tie 
Dpium.“ Hätte fie noch vöther werden können, wäre fie e8 wohl geworden; 
aber Paftor Hinderjen’3 Scherze, zufammen mit dem Rauch feiner ftarken Cigarren, 
hatten ihr alles Blut ſchon ins Geficht getrieben, daneben auch der unausgeſetzte 
Gedanke: „Er kommt nit! Er kommt wirklich nicht!“ 

Ueber diefem Gedanken merkte fie gar nichts von Paſtor Hinderjen’3 ernftlichen 
Abſichten. Er ſah aus wie ein Mann, der mit Jedem ſcherzt — daß er e3 mit 
ihr bejonders gern that, das war ihr feinen Augenblid aufgefallen. 

Um ſechs Uhr fuhr Paftor Hinderjen wieder fort, jeine Pfarre lag über zivei 
Stunden weit ind Land hinein. Die Pröpftin war ganz unglücklich, daß er nicht 
zum Abendefjen bleiben wollte, fie hatte vom beften Schinten und von der Zunge 
aufgefehnitten und die letzten Erdbeeren gepflüdt. Aber er jagte, fi vor Lachen 


336 Deutiche Rundſchau. 


ichüttelnd, ſeine Wirthichafterin würde ihn jonft die ganze Woche jchelten, wenn 
er jie umjonft mit dem Nachtmahl warten ließe, er müfje wirklich heirathen, denn 
fie tyrannijire ihn zu ſehr. 

Johanna war froh, daß er ging, denn fie hoffte immer noch, daß Jenſen's 
kämen: vielleiht hatte ein Beſuch oder irgend eine Amt3handlung Klaus abge: 
halten. O, möglich war e& noch, fie fühlte e3 in ihrem Herzen. 

Aber ihr Herz betrog fie; e3 wurde fieben, acht, neun, und um zehn Uhr 
gingen fie zur Ruh'. Was jollte nun werden? Sie ſaß halbentkleidet auf der 
Bettlante und dachte nad. So weiter leben mit dem Bangen, mit dem Unauf— 
geklärten zwifchen ihnen, nein, das ging nicht! Der liebe Gott Hilft nur Denen, 
die fich jelber Helfen — jie wollte ſich Helfen! Klaus Hatte ihr gejagt, daß er 
nicht dürfe: fie aber, fie durfte, und fie wollte auch! Und zwar gleich, morgen früh! 

Am nächſten Morgen ftand fie früh auf, in der Abſicht, ind Nachbar: Paftorat 
zu gehen und zu fragen, warum bie „Eleinen Jenſens“, wie man fie troß ihrer 
Größe nannte, nicht wie verabredet am Freitag gefommen wären? Sie jah aber 
die viele Arbeit, welche dann der Tante allein verblieb, und gerade als fie 
ſchwankend geworden war, fam der Onkel aus dem Schlafzimmer und fagte, die 
Zante fühle fih jo unmwohl, daß er Luft hätte, zum Doctor zu ſchicken, obgleich 
fie dagegen wäre. 

Der Propft wollte Yohanna’3 Meinung hören; er that nicht gern etwas 
felbftändig und ſah ungern die ſchlimme Seite ber Dinge. 

„Es ift gewiß nur eine Erkältung,“ ſagte Johanna, nachdem fie bei der Tante 
fi umgefehen. „Wenn fie fich heute jtill hält, geht e3 gewiß jchnell vorüber!“ 

Dem Propft fiel ein Stein von der Seele. „a, das meine ih auch,“ jagte 
er. Johanna veiftand von Krankenpflege gar nichts, aber der gute Wille Half 
ihr. „Morgen ift fie wieder ganz geſund,“ vief fie dem Propſt noch zu, der ein 
paar weitab wohnende Pfarrfinder zu bejuchen Hatte Dann brachte fie der 
Tante eine von den Hausmitteln, welche die Pröpftin für alle ſolche Gelegen- 
heiten vorräthig hielt. „Es ift gewiß zu was gut”, jagte Johanna fich dabei, 
„daß ich heute nicht von Haufe fort kann,” und in dem Gefühl, der Himmel 
habe direct in ihre Herzensſorge eingegriffen, war fie fo fröhlich wie noch nie, 
jo daß die Tante ihre befondere Freude an ihr Hatte. 

„Wir find dur) Johanna ordentlih ein umſchwärmtes Haus geworden,“ 
hatte fie am Abend vorher zu ihrem Manne gejagt; „mich wundert, was das 
werben fol! Wenn PBaftor Jenſen nur nicht jo viel mit feiner Geſundheit zu 
thun hätte!“ Der Propft hatte gemeint, ihm fehle ja gar nichts, ex fähe nur jo 
ſchmal aus, weil ex feine Frau hätte, die ihn ein bischen pflegte, und teil feine 
Schweſter zu hart wäre. „Sie hat eine gar zu ftarre Richtung, bei ber dem 
beiten Mann unbehaglid) wird; fie hält fogar das Tanzen für Sünde!” 

Johanna's Fröhlichkeit war diesmal wirklich eine vorahnende geweſen. Um 
drei, als der Propſt noch bei ſeinem Mittagsſchlafe war, klingelte die Thür, 
und als Johanna ſchnell auf den Hausflur trat, um zu verhüten, daß man in 
des Onkels Stube ginge, ſtand Paſtor Jenſen vor ihr. 

Ob ſie ſich „Guten Tag“ geſagt, wußten ſie nicht, jetzt ſaßen ſie Beide vor 
dem Sophatiſch, Johanna an der langen, Klaus an der ſchmalen Seite. 


Zwifchen Kirche und Paftorat. 337 


„Es ift Sehr Schön draußen, faft heiß!” meinte er, indem ex fi) mit dem 
weißen Zuch über das Geficht fuhr. „Was lajen Sie?” Sie wurde roth, als 
er da3 Bud in die Hand nahm. „Heine’3 Lieder,“ fuhr er fort, nachdem er 
hineingeſchaut. 

Sie wollte etwas über Heine ſagen, aber das Blut klopfte ihr ſo in den 
Schläfen, daß fie fein richtiges Wort fand. 

„Meine Schweiter würde Heine’3 Werke ind Teuer werfen,“ fagte er weiter 
und blätterte darin. 

„Wodurch ift fie fo engherzig und befangen geworden?“ fragte fie. 

Er antwortete nad) kurzem Befinnen: „Ich glaube, für ihre energifche Natur 
ift e8 ein Glück, daß fie dieſe Geiftesrichtung nahm, fie wäre font jehr unglüdlich 
geworden. Sie hatte einmal Jemanden jehr Lieb, durfte ihn aber nicht Heirathen, 
weil ſie dem feierlich ausgeſprochenen letzten Willen des Vaters, daß keins feiner 
Kinder heirathen möchte, nicht zuwiderhandeln mwollte.“ 

Einen Augenblic hielt ev an, dann, aufjtehend, fuhr er fort: 

„Dein Vater muß jehr viel gelitten haben, um das zu wünſchen — ich 
glaube, er hatte meine Mutter jehr lieb, jie befam die Krankheit erft durch ihn 
und ftarb doch vor ihm — langjam, in unendlichen Leiden, befonders feelifchen: 
jie wollte ihren Mann und ihre fleinen Kinder noch nicht verlaffen — —“ 

Die Uhr tickte laut im Zimmer; der Paftor ſchwieg, und Johanna hielt den 
Athem an. Er ſpielte mit dem Buche, das er noch in der Hand hielt. 

„Aber Ihr Vater Hatte Unrecht,“ brach fie plötzlich aus. „Des Menſchen 
Leben iſt kurz und voll Leid, aber darum dürfen wir es doch nicht vernichten! 
Wir ſollen es ſo leben, wie es uns beſchieden iſt! Er hatte Unrecht, ganz gewiß, 
dies Verbot durfte er nicht ausſprechen!“ 

„Lange habe auch ich das geglaubt, ſonſt hätte ih — —“ er ſchwieg cine 
Weile. „Uber meine Schwefter findet e3 gewilfenlos, wenn man Andere in fein 
Unglüd verftridt ....“ 

„In fein Unglüd ...“ wiederholte fie, und ihre Lippen zitterten. „Wenn 
nun das Unglüd die höchſte Seligkeit ift ... .?" 

Sie konnte ihn nicht anjehen, fondern jtand auf und blickte zum Fenſter 
hinaus. Vor dem Fenſter ftand eine Kirjchrothe Malve im Sonnenjcein; deren 
Blüthen zählte Johanna mehrere Male. Sie wußte nicht, was fie gejagt, ach, 
fie hätte jo gern etiwa3 Ungeheures gejagt, ein Wort, das ihrem hämmernden 
Herzen entſprochen: es gab gar nichts, was fo ftarf war wie ihre Sehnſucht 
nad ihm! 

Er ftand jet am Ofen und konnte ihr rundes Gefichtehen durch den Spiegel 
jehen; fie ahnte das nicht. 

„Aber die junge Frau, die ich in voriger Woche begrub,“ fuhr er fort — 
feine Erregung hatte ihn weiß, wie blutlos gemacht — „die hatte ein Kind... .!” 

Johanna's Kniee zitterten plößlich jo ftark, daß fie fich feit an die Wand 
lehnen mußte. Natürlih, fie wußte, daß man Kinder habe, wenn man ver— 
heirathet ift; aber dies Wort aus feinem Munde war etwas jo Schauriges, die 
Befinnung Raubendes, daß e3 ihr vor den Augen jchiwindelte. Er ſah fie jeßt 
direct an, nicht mehr durch den Spiegel; er hatte ihr jagen wollen, m fie an 


Deuiſche Rundſchau. XVI, 9. 


338 Deutſche Rundſchau. 


die Zukunft denken müßten, daß ſie die Krankheit nicht fortpflanzen dürften — 
ja, was hatte er nicht Alles jagen wollen! Den ganzen ſchönen Heckenweg ent: 
lang hatte er e3 ihr in Gedanken gejagt: er war gefommen, um für immer 
Abſchied von ihr zu nehmen — nun aber, num fagte er nur: „Johanna!“ und 
hielt fie in feinem Arme. Sie ſchmiegte ih an ihm mit jo inniger Leidenſchaft, 
als ftünde der Tod ſchon hinter ihnen, und als müßte fie ſich ſchützend zwiſchen 
ihn und den Gelichten ftellen. 

Sie hatten abgemacht, daß — * ſhrer Vaters Einwilligung erbitten 
ſolle, ehe ſie es den Anderen mittheilen würden. Aber als der Propſt ins Zimmer 
kam, war Johanna ſo glühend roth und die Erregung auf den Geſichtern Beider 
jo offenbar, daß fie es ihm nicht verſchweigen konnten, und er theilte es natür— 
lich gleich) der Tante mit. „Es ift viel Schneller gekommen, als ich dachte — der 
arme Paftor Hinderjen!“ meinte er lächelnd. Seine rau jedoch erklärte, ehe 
die Einwilligung des Vaters da fei, wage fie nicht, fich zu freuen. Auch Jenſens 
Schweftern dürfe erft dann etwas gejagt tverden. 

Wie gut, daß des Oberften Urlaub — Yohanna wußte e3 genau — gerade 
vor zwei Tagen abgelaufen, und er wieder zurüd war; fie fonnten alfo ſpäteſtens 
übermorgen die Antwort haben. 

Der Onkel Propft empfahl Johanna, dem Bater gleich zu jagen, daß Paftor 
Jenſen von zarter Gefundheit fei. 

Da Johanna wußte, daß es ihrer Stiefmutter fehr lieb fein würde, fie ver- 
heirathet zu wiſſen, jo zweifelte fie feinen Augenblid an ihres Vaters freudigem 
Ja; fie ging deshalb gern auf der Tante Bedingung ein, daß fie Pastor Jenſen 
vor der Zuftimmung des Vaters nicht wiederjehen folle: fie hatte ja das Leben 
vor fih und jo überwältigende Glüd in fi — ein Jahr lang hätte fie davon 
auch ohne neue Nahrung zehren FANDEN: 


Oberft Hartmann hatte ſich etunbigt und mit feiner Frau Raths gepflogen. 
Dann ſchrieb er feinem Schwager einen fühlen Brief, zwijchen deſſen Zeilen zu 
leſen ſtand, daß er bedauere, ihm jeine Tochter anvertraut zu haben. Er, ber 
Oberft, habe nicht die Mittel, nach Verlauf einiger Jahre feine Tochter als 
Wittive, womöglich mit einer Reihe kränklicher Kinder zu ernähren; zu der Ber- 
bindung Johanna's mit Paftor Yenfen, wiewohl er ein ehrenhafter Mann fein 
jolle, könne er darum feine Einwilligung nicht geben. Paftor Jenſen's Familie 
jei ſchwindſüchtig, Eltern und Großeltern früh geftorben; höchſt wahrſcheinlich 
würde auch er nicht alt werden und könne, dba er vermögenslos fer, jeine Wiltwe 
nicht in zufrieden ftellenden Verhältniſſen zurüdlaffen. 

Seiner Tochter jchrieb der Oberſt nur wenige Worte: das jeien Narrend- 
poffen, und fie folle jo ſchnell als möglich nad) Haufe zurückkehren. 

Der Propft und feine Frau waren aufridhtig betrübt und verlegt, durften 
e3 aber Johanna nicht zeigen, da ihnen die Autorität des Vaters unantaftbar war. 

Johanna hatte ihren Brief im Garten gelefen; der Propft brachte es nicht 
übers Herz, ihr den jeinigen zu bringen, jondern beauftragte feine Frau, Johanna 
das Wichtigſte daraus vorzulejen. 


Zwiſchen Kirche und Paftorat. 339 


Johanna ſaß in der Laube, den Kopf auf die Hand geftüßt, und preßte die 
Lippen feft zufammen; der Tante ftanden die Tränen in den Augen, während 
fie de3 Oberften Worte vorlad. Johanna ſchwieg jo lange, da der Tante 
An gjt wurde. 

„Das ijt eine ſchwere Prüfung, mein armes Mädchen! Onkel hat joeben 
an Paftor Jenſen gejchrieben; der Kleine Junge don Lorentzens ſoll den Brief 
Hinbringen.“ 

Johanna ſchwieg noch immer; es war ihr recht, daß Klaus e3 durch den 
Onkel erfuhr, denn was fie jelbft ihm zu Jagen Hatte, wollte fie ihm jpäter jagen. 

„Du geftatteft do,“ fuhr fie plöglih auf, „daß auch ih an Klaus ein 
paar Worte jchreibe?" — Als die Tante, welcher der Vorname anftöhig war, 
noch überlegte, ſetzte fie Hinzu: „Wenn Du willft, magft Du meinen Brief leſen.“ 

„Nein, nein,“ entgegnete die Pröpftin beivegt, „jchreib’ nur, mein armes 
Kind; der Junge kann fo lange warten.“ 

„Ih bin gleich fertig,“ rief Johanna, ind Haus eilend. 

„Bitte, fommen Sie heute um zwei Uhr auf den Kirchhof!“ ſchrieb fie mit 
Bleiſtift, weiter nichts, ſchob das Blatt in ein Couvert und gab ed dem Jungen. 

Als derfelbe fort war, fragte fie ih, ob Klaus auch verftehen würde auf 
welchen Kirchhof? 

Die Tante war vertvundert darüber, daß Johanna nicht weinte, ſich nicht 
in ihr Zimmer einſchloß, jondern ihr, tie jeden Vormittag, bei der Arbeit zur 
Hand ging, daß fie jogar draußen im Garten, wo der Propft fich zu thun 
machte, ein ganzes Beet im grellen Sonnenſchein jätete. 

Ihre Wangen glühten mehr al3 gewöhnlid, und in ihren Augen brannte 
ein unruhiges Licht, aber bei Tiſche ſprach und jcherzte fie wie font; nur während 
des Tijchgebetes hatte fie einmal aufgeſchluchzt. 

Der Propft war höchſt erfreut darüber, er jah jo gern nur die fröhliche 
Seite des Lebens: „Sie ift ein ſehr vernünftiges Mädchen,” ſagte ex zu feiner 
rau, „fo einfichtsvoll, daß fie uns nicht darunter leiden läßt. Sie ift das 
gerade Gegentheil ihres altpreußiſchen Vaters — wie meine Schwefter ben 
heirathen fonnte, habe ich nie begriffen; fie wird's auch genug bereut haben,“ 
ſchloß er den Sat. 

Gleich nah Tiſch, ſowie Onkel und Tante fich zurückgezogen hatten, brad) 
Sohanna auf. Sie war jchon oft fpazieren gegangen, ohne fich vorher die Er- 
laubniß erbeten zu haben. Heute jah fie nicht von den Schönheiten des Hecken— 
weges, nicht3 von dem jonnigen, grünen Lande, fie ging mechanijch weiter, ihrem Ziele 
zu, an feinem Haufe vorbei, ohne in den Hof zu ſchauen oder daran zu denen, 
ob wohl Jemand fie bemerkt habe. 

Noch war es nicht zwei Uhr, als fie fich Hinter der Kirche unter die Trauer- 
weide ins fpärliche, verwehte Gras ſetzte; kaum aber hatte fie Athem geſchöpft 
nad dem raſchen Gange, da hörte fie Schritte: er war «8, fein Geficht jah fo 
ihmal aus, und in feinen Augen lag etwas, das ihr die Thränen hervortrieb. 
Aber was fie zunächſt an ihm merkte, war, daß er twiderwillig fam. Warum 
hatte fie auch nicht bedacht, wie peinlich es für ihn, den Geiftlichen, fein mußte, 
hier am Grabe jeiner Eltern eine heimliche Zufammenkunft zu haben? „Kann 


22° 


340 Deutſche Rundſchau. 


ich zu Ihnen ins Haus kommen?“ fragte fie ſchnell, als er ihre Hand erquiff 
„Oder wollen Sie mich zurüdbegleiten ?“ 

„Lieber das Lebtere,“ entgegnete er, und ſchon gingen fie den Hügel hinab. 

Eine Zeit lang ſchwiegen Beide. „Mir ift es nicht unerwartet gekommen,” 
begann er mit gepreßter Stimme; „jo leicht erwirbt man jein Glüd nidt. Aber 
Ahre Bitten — Deine Bitten, Johanna, werden doch wohl etwas vermögen — 
nur darf es nicht zu lange dauern: wer weiß, die Zeit unſeres Glüdes ift viel: 
Yeicht kurz bemeffen ... . .“ 

Sie fah ihn erftaunt an. Was halte der Onkel ihm gefchrieben, um das 
Nein ihres Vaters zu motiviren? Dem Ontel ſah es ähnlich, daß er die harte 
Wahrheit hatte mildern wollen. 

„Meine Bitten vermögen niht3, Klaus; Du kennſt meinen Vater nidt, 
aber ich bin feft entichloffen, mir mein Recht zu holen — ich bin vierundzwanzig 
Jahre alt!” Sie ftieß das hart und triumphirend heraus; er ftand ftille und 
jah fie an. Sie waren längft am Pfarıhaufe vorüber und auf dem Feldwege. 

„Sie wiſſen es vielleicht nicht,“ fuhr fie erröthend fort, „aber ein Mädchen 
von bierundziwanzig Jahren kann auch ohne ihres Vaters Einwilligung heirathen. 
Das hat mir meine Freundin Ella erzählt — es gehört nur eine Kleine redt- 
liche Formalität dazu.“ 

Er war weiter gegangen, und ſie ſah ihn ſcheu an; eine große Angſt ſchnürte 
ihr die Bruſt zuſammen, zum erſten Male ergriff ſie eine Ahnung davon, daß 
ex vielleicht doch für fie verloren wäre — das aber könnte fie nicht ertragen! 

Ihre Augen hingen an jeinem Profil, doch wie er fie num voll anblidte, 
brach fie in Thränen aus: es war nicht nöthig, daß er ſprach, in jeinem Blide 
lag Alles — „id, ein verordneter Diener des Herrn, der dba predigt: des Vaters 
Segen bauet den Kindern Häuſer — ich jollte mein eigen Weib beladen mit 
dem Fluche ihres Vaters in mein Haus führen? Ich, das Vorbild meiner Ge 
meinde, follte durch richterliden Spruch mein Glüd erzwingen?“ 

Er jagte kein Wort, fie hatte ihn ja verftanden; aber die Tiefe feine 
Schmerzes und ihres Jammerd ergründete fie nicht jo fchnell. Neben einander 
gingen fie den ftillen Weg entlang; fie weinte, er ergriff ihre Hand und führte 
fie weiter. Che fie ans erſte Gchöft des Dorfes famen, blieb er ftehen. „Sie 
fehren um?” fragte fie ſchluchzend. — 

„Iſt es nicht beſſer?“ 

„Nein, jagen Sie mir im Haufe Adieu,“ entgegnete fie; „morgen ſchon 
reife ih nad) Haus“ — fie trocknete fich ihre Thränen. 

63 war Niemand im Wohnzimmer; Johanna nahm ihren Hut ab, warf 
ih in die Sophaede und fagte, indem fie ihr Geficht mit beiden Händen bededt 
hielt: „Ich kann nicht, Klaus, ih kann nicht!“ 

Er ftand am Fenſter, ihm that es leid, hereingefommen zu fein — fie 
durften fich ja nichts mehr jagen, durften nicht einmal ihren Schmerz gemein« 
ſam tragen! 

Plötzlich Huftete er, zum erften Dale in Johanna’3 Gegenwart. Sie hordle 
auf und trat an ihn heran. „Klaus,“ fagte fie — fie begriff nit, daß er jo 





Zwiſchen Kirche und Paftorat. 341 


kühl und fremd war — „Klaus, denke doch nah! Gibt es feine Rettung für 
und? Können wir nicht wenigſtens zuſammen ſterben?“ 

Wußte fie, auf welche Folter fie ihn fpannte, wenn fie ihn jo anjah, wenn 
fie feine Hand zwifchen ihre Heinen, weichen Finger nahm? Bedachte fie denn 
nit, daß auch er ein Menfch, daß er ein Leidenjchaftlich Liebender” Mann war; 
daß alles Leben in ihm zuckte, fie in feine Arme zu jchließen und fie nie wieder 
frei zu geben? 

Sie-fchmiegte fi an ihn, als horche fie auf feinen Herzihlag; krampfhaft 
ergriff fie ihn an der Schulter und zog feinen Kopf zu ſich herab; er küßte fie 
ein, zwei Mal, dann führte er fie jachte, wie ein Water fein Kind, ans Sopha 
zurüd, und ehe fie wußte, wie ihr geichehen, hörte fie die Hausthür-Glode gehen 
— er war fort. 

Sie blieb auf dem Sopha liegen, ihr Gefiht in den Kiffen vergraben; al3 
fie aber im Vorzimmer Geräufh hörte, fchredte fie auf, eilte in ihr Giebel- 
zimmer hinauf umd warf fich faſſungslos auf ihr Bett. 

Am nächſten Tage reijte fie nah Haus zurück. 

„Sie ift doch nicht jo vernünftig, wie ich glaubte,“ jagte der Propft zu 
feiner Frau; dieje aber antwortete ihm: „Was glaubft Du denn eigentlich, daß 
Liebe jei? Sie Hofft vielleicht, ihren Vater umftimmen zu können.“ 

Am Tage darauf fuhr Pastor Hinderjen zufällig an der Propftei vor. Er 
war jo erfchroden über Johanna's Abreiſe, daß es den Propft dauerte und der— 
jelbe ihm geſprächsweiſe andeutete, es ſei auch Johanna jehr jchwer geworden. 
„Sie liebt das Landleben über Alles, zumal diefe Gegend — gewiß mütterliches 


Erbtheil!” 
„Könnten Sie das reizende Kind nicht gelegentlih ausholen, wie fie über 
mic denkt — oder fcheint es Ihnen lächerlich, wenn ich in meinem Alter..... r 


„Durhaus nit! Sie könnten ja mein Sohn fein. Und Johanna ift zur 
Raftorin wie gemacht.“ 

Kurz, noch am jelben Abend fchrieb der Propft jeiner Nichte, daß Paftor 
Hinderfen um fie anhalte; zwei Tage darauf fam Johanna's Antwort: fie ge- 
dächte fich nicht zu verheirathen, was der Propft feinem Gollegen folgendermaßen 
überjeßte: Johanna müſſe e3 ſich noch überlegen, fie bäte um eine Friſt zum 
Bedenken, er möge nad) einiger Zeit wieder anfragen. „Denn,“ ſagte ex jpäter zu 
feiner Frau, „hätte ich Hinderjen alle Hoffnung genommen, er twäre, heftig wie 
er ift, im Stande geweſen, feine Haushälterin vom Fleck weg zu heirathen! Die 
tradjtet fo wie jo danad), und was wäre das für eine Schande für die ganze 
Propfteii Wer weiß, ob es nicht noch Johanna's Glück wird!“ 

Die ganze Landſchaft war tief verjchneit; jeden Morgen lag der vom Winde 
friſch angehäufte Schnee jo hoc) vor der Thür von Klaus Jenjen’3 Paftorat, daß 
man fi einen Weg zum Leutehaus drüben ſchaufeln mußte. Dabei war e3 erft 
Anfang December. Seit vierzehn Tagen hatten die Fräulein Jenſen mit 
Niemanden außer dem Haufe gefprodden, nur zur Kirche waren fie gegangen. 
So vieler und tiefer Schnee war eine Seltenheit, zumal jo früh im Jahre, und 
Anna hatte ihrer älteren Schwefter zu deren großem Nerger erklärt, daß dies 


342 Deutſche Rundſchau. 


von übler Vorbedeutung ſein müſſe. Marie konnte ſelbſt im Scherz feinen Aber— 
glauben leiden, während Klaus die halb ernſten, Halb ſcherzhaften Vorbedeutungs- 
theorien Anna's nur mit leijem Lächeln hinnahm. 

„Du bift gar fein richtiger Paftor, wenn Du ſolches Geſchwätz duldeſt!“ 
ſagte Marie, die im Grunde ihres Herzens jedoch große Achtung vor ihm hegte. 

Der Roftbote war drei Tage lang ausgeblieben; dafür brachte er heute 
einen ganzen Stoß Zeitungen und für Marie einen Brief. Klaus ſaß in feinem 
Zimmer, als Marie mit unverhohlener Empörung die Thür aufriß’ und ihm 
zurief: „It es nicht unglaublid, Klaus? Paſtor Hinderjen Hat ſich vorgeftern 
mit Johanna Hartmann verheirathet!“ 

„Was ift daran jo unglaublich?“ entgegnete er ruhig. 

„Nun, ic meinte ..... “ begann fie heftig, ſchwieg aber plötzlich; es lag 
etwas auf des Bruders Geficht, was ihr das Weiterreden unmöglich madte: er 
hatte es aljo ſchon gewußt, es mußte in dem Briefe, den er neulich aus der 
Stadt erhalten, geftanden haben. Wie qut Tonnte er fich verftellen! Die Ver: 
ftellung jet eines Paftors unmwürdig, und wenn er ed ſchon fo lange gewußt, 
mwarıım habe er «3 ihmen nicht gejagt? Statt ihm jedech diefe Vorwürfe zu 
machen, ftieß fie heraus: „Uebrigens an einem fo gefallfüchtigen Mädchen 
wundert mich nichts, fie twollte eben nur unter die Haube!“ 

Ihre Stimmung war eine jo gereizte, daß fie dem Bruder abjolut etwas 
Kränkendes hatte jagen müfjen. 

Klaus’ Stirn färbte ih roth, mit ftarker Anftrengung aber beherrichte er 
feine Heftigkeit und erwiderte: „Marie, ich bitte Dich, jchweige von Johanna; 
ich dulde nicht, daß Du derartig über fie jprichit!” 

„ber die Mahrheit mußt Du vertragen können — Du mußt Ddieje Liebe 
aus Deinem Herzen reißen — — die Liebe zu der Frau eines Anderen!” fügte 
fie hinzu. 

Er ftand auf: „Was ih muß, brauchſt Du mir nicht zu jagen,“ antwortete 
er, nahm fie feft bei der Hand und öffnete die Thür: „ch Habe für morgen zu 
thun, Su weißt, es ift Sonnabend.“ 

Als fie fort war, jehte er ſich nicht an feinen Schreibtiih, jondern warf 
ih in jein Sopha zurüd. Ja, gewußt Hatte er es feit faft einem Monat. Sie 
hatte ihm gejchrieben — ad, ſolch einen Brief! Er Hatte ihn verbrannt , weil 
er ihn zu oft Hervorgeholt und immer wieder gelefen hatte. Sie könne da3 
Leben im Vaterhauſe, wo fie wie ein Sträfling behandelt werde, nicht mehr er: 
tragen. „Ich bin jelbft daran ſchuld, denn anfangs Wollte ich mir bie 
Zuftimmung meines Vaters ertroßen.“ Dann habe fie verfucht, ſich eine 
Gouvernantenftelle zum 1. October zu verichaffen; ihr Water aber habe ihr er- 
Hört, ev jähe fie lieber todt, ald daß fie ihm, einem Oberſten der preußiichen 
Armee, jolde Schande anthäte. In diefem Zeitpunft jei plöglih Paftor Hinderien 
erihienen und habe ihre Lage noch erſchwert! Beiden Eltern habe er jehr ge 
fallen, außerdem jei es ja augenblidlih in höheren Kreiſen jehr Stil, ältere 
Geiftliche zu heirathen. — Klaus ſolle ihr doch rathen! Solle fie Paftor Hinderſens 
rau werden oder nicht? „Glauben Sie nicht, daß ich mir die Lebenslaft 
dadurch erleichtern till, nein, ich will ihm dienen, will für ihn forgen und all 


Zwiſchen Kirche und Paftorat. 343 


Arbeit freudig auf mich nehmen, und ich will ihm Alles bekennen, was ich auf 
dem Herzen habe — wenn Sie e8 mir geftatten ..... “ Mein, da8 hatte er 
nicht geftattet, jondern fie gebeten, da8 Geheimniß ihrer Liebe begraben zu Laffen ; 
es Fromme Hinderjen nicht, es zu kennen, wenigſtens jet noch nicht. — Hätte 
er diefen Wunjch vielleicht nicht äußern jollen? Ex Hatte freilih Hinzugefügt, 
daß ihr eigenes Herz das entjcheiden müſſe. Am Mebrigen Hatte er fi von 
feinem Gefühl leiten laffen und nur an ihr Beftes gedacht, al3 er rieth, Ya 
zu Jagen. 

Darauf hatte er noch einmal einen kurzen Brief von ihr erhalten: „Willen 
Sie, woran ich immer denke? An den lichten Streifen am Horizont, auf den 
wir von ben Gräbern Ihrer Eltern blidten; das Land zwifchen mir und jemer 
Ewigkeit jcheint mir jet nicht mehr blühend, ſondern eine öde Ebene; darım 
ſchaue ich nur noch hin auf jenes glänzende Meer.“ 

Sie war jeßt wirklich verheirathet! Litt er darunter? Nein, er glaubte 
fie gut geborgen, viel beffer, al3 im Elternhaufe. Sie war gefund und blühend, 
fie würde Segen ausſtreuen, und e8 war taufendmal jchöner jo, ala wenn fie, 
glei ihm, einfam verfümmern follte. 

Doch aud er verfümmerte nicht, er hatte doch noch mehrere Jahre ſegens— 
voller Arbeit vor fih! — Mit dem Gedanken jeßte er fi an feine Advent— 
Predigt, zu deren Text er Johanna's Lieblingswort wählte: „Liebe überwindet 
den Tod.“ 


—î — — — 


Die nächſte Synode fand wieder im Auguſt in Brinkhof ſtatt, und Paſtor 
Hinderſen fuhr ſchon früh Morgens dorthin, weil er in der Propftei zu thun 
hatte, und weil er fich jeit drei Tagen vor freudiger Erregung nicht laſſen 
konnte: die Pröpftin war zur Pflege feiner rau bei ihm, aber er hatte eine 
Fülle von Aufträgen wirthichaftlicher Art an den Propft und die Magd zu 
überbringen. 

Vor der Kirche ftand jchon -ein halbes Dubend Paftoren, welche Hinderjen 
mit Glüdwünjchen empfingen. „Nicht wahr,” entgegnete er ihnen ftrahlend, 
„noch in meinem Alter, und fol’ ein Junge! Die Pröpftin jagt, man folle 
meinen, ex fer jchon drei Monate alt; und ich verfichere Sie, er lächelt ſchon!“ 

Paftor Peterfen, an den er ſich gewendet, jehüttelte ungläubig den Kopf 
er war Vater von neun Kindern: „Vor dem erften Vierteljahre laden fie nie!” 

„Do, mein Junge lat! Das ift eben dad Merkwürdige,“ antwortete 
Hinderjen. „Das hat er von feinem Vater, jo alt der ıft!” 

Nun trat er in die Kirche und blicdte zum Chor hinauf, wo er fie zuerft 
gejehen, und dann aufs Altarbild und faltete unbewußt die Hände: einen glüd- 
licheren Mann gab e3 auf der weiten Welt nicht, und ihm rannen zwei Thränen 
über da3 breite gute Gefidht. 

„Wie geht es der Frau Paftorin?“ fragte Klaus Jenſen, al3 er an Hin— 
derſen Herantrat. Diejer jchüttelte ihm die Hand: „Dante, jehr gut! Sie wird 
gewiß wieder ganz die Alte werden; die lebten Monate ging es kümmerlich, ja, 
ziveimal hatten wir den Arzt von Queren bei und. Sie war viel zu thätig, 


344 Deutſche Rundicau. 


Jenſen, viel zu pflichtgetreu, die Eleine Mohnblume — wer Hätte das gedacht 
nicht, Jenſen?“ 

Klaus ſchwieg. 

„Nun wollen die Schwiegereltern durchaus ſchon über drei Mochen zur 
Taufe fommen, denn der Oberft kann fpäter nicht fort; da muß fie hurtig 
wieder wohlauf fein, fie will fi) doch vor der „rau Gräfin” als gute Hausfrau 
zeigen! Und Sie mit Jhren Schweftern werden doch auch zur Taufe kommen 
niht wahr?“ 

Der Propft erſchien, und die Eynode wurde eröffnet. Jenſen war nid! 
mehr Schriftführer, da jeither zwei neue Paftoren in der Propftei eingeſeht 
worden waren; er jaß dicht Hinter Hinderfen und mußte, fo oft er aus jeinen 
Gedanken aufſchreckte, immer den breiten Rüden jeined Vordermannes anſchauen 
— war Johanna’3 Hand über den ſchwarzen Tuchrock gefahren, als Paftor 
Hinderjen fi) heute Morgen vor der Abfahrt über ihr Bett gebeugt hatte, um 
ihr Adieu zu jagen? 

Klaus hatte Johanna nicht twiedergefehen. Der Winter war hart umd lang 
gewejen; Johanna war freilich einmal mit ihrem Manne zu Schlitten auf fein 
Paftorat gefommen, aber Klaus mar gerade zu einer Hochzeitöfeier im Dorf ge 
weſen, und als feine Schweftern den Beſuch erwiderten, war er nicht mitgefahren. 
Hier auf dem Lande hielt man nicht jo auf die Formen, und Hinderjen wohnte 
faft zwei Stunden weit von ihm. 

„Wie gut Jenſen fi hält!“ bemerkte ein Paftor zu feinem Nachbarn. 
„Wenn der bi3 in die Dreifig kommt, führt er’3 am Ende weiter.” 

„Sein Vater fam aud in die Dreißig, d. h. er ftarb mit Einunddreißig ...“ 

Man ſprach über die Trunkſucht; Jenſen hätte in der Discuffion Mande 
zu jagen gehabt, allein ev war jo müde, wie feit Jahren nicht, die Luft war 
dumpf, und der Chor hing ihm ſchwer über dem Haupte. 

Er ging hinaus und wanderte auf dem Kleinen Pfade zwiſchen Kirche und 
Propftei auf und ab. E3 war fein Wind heute und fein Regen; die Luft war 
jo ftill, al3 ruhe fie fi) aus vor einem Sturm. 


WW u 


Klaus ging nit zur Taufe des kleinen Hinderjen, wohl aber jeine Schweſtern; 
er konnte an dem Tage nicht abkommen, denn der alte Detlef lag im Sterben, 
in dem Haufe gleich link? auf dem Wege nad) Brinfhof, und der bejahrte Mann, 
dem ſchon Jenſen's Vater die erften Kinder getauft hatte, Hammerte ſich jürm- 
lich an ihn an. Ä 

Marie und Anna kamen jehr zufrieden von der Taufe heim; es wäre ein 
tvenig fteif geweſen durch den Oberften, der fich übrigens ſehr angelrgentlid 
nad ihrem Bruder erkundigt habe; die „Gräfin“ dagegen ſei eine höchſt liebens— 
wiürdige Frau. Auch das Efjen ſei gut geweſen, und wenn Johanna nicht bei 
Tiſch einen Ohnmachtsanfall bekommen hätte, jo wäre Alles ganz glatt abge 
laufen. Die Pröpftin habe ihnen erklärt, daß Johanna fich zu viel zugemutde: 
fie babe ftet3 nach Allem ſelbſt ſehen wollen, fo viel fie auch abgemahnt; doch 
würde die junge Frau ſich Schnell erholen, wenn erſt die Eltern heimgereift wären. 








Zwiſchen Kirche und Paftorat. 345 


Klaus fragte, ob Johanna unverändert ausfähe? „DO ja,“ meinte Marie, 
aber Anna fiel ihr in? Wort und jagte: „Das ift nicht wahr! Sie fieht noch 
immer jehr gut aus, vielleicht beſſer als früher, und ihre rothen Baden hat fie 
auch noch, aber fie ift fehr mager geworben!“ 

Marie entgegnete: „Natürlich, der Kleine ift ja noch nicht vier Wochen alt.“ 

Klaus ging nad) einer Weile au dem Zimmer; e3 hatte fi vor dem 
Fenſter ein Rojenftod losgeriſſen, den band er wieder an feine Stüße und ſetzte 
fi dann zu feiner Arbeit nieder. 

Die Tage vergingen. Es war eigentlich geboten, daß er ſich einmal nad) 
Johanna's Gejundheit erfundigte, und doch ſchwankte er, weil er nicht wußte, 
ob es nicht nur die Sehnſucht fer, fie einmal twiederzufehen. Durfte er hin— 
gehen? 

Es wurde Ende September; ſchon Tießen fich einige gelbe Blätter, des langen 
Kampfes mit dem Sturme müde, vom Winde durch die Heckenwege tragen; und 
immer noch war Klaus nicht dort gemwejen. Da bejtellte er ſich zum nächſten 
Sonntagnadhmittage Peterjen’3 Wägelchen, und ohne den Schweftern zu jagen, 
wohin, fuhr er zu Paftor Hinderjen. Um drei Uhr war er dort. 

Das fonntäglich faubere Mädchen fam vor die Thür, als der Wagen hielt 
und jagte, ber Herr taufe im Dorfe, fie wolle es der Frau jagen. 

„Wie geht'3 der Frau Paftorin ?* fragte er. 

„O, & geht jo jachte befjer, nur bewegen kann fie ſich noch nicht. Wir haben 
eine Kranfenpflegerin aus Kiel hier.“ 

„Liegt fie zu Bett?“ 

„Nein, meiften? auf dem Rollftubl, den die Frau Oberft der Pflegerin 
mitgegeben hat.“ 

Johanna hatte den Wagen vorfahren Hören und wunderte ſich über die 
lange Unterhaltung; fie ließ durch die Pflegerin fragen, ob der Beſuch nicht ein— 
treten wolle ? 

Klaus legte Hut und Meberzieher ab und ging in da3 ebenerdige Zimmer. 
&3 war niedrig, und nur durch Eleine, mit Blumen verſetzte Fenſter ſchien die 
Herbitfonne. Johanna's Stuhl war den Fenftern zugewandt, jo daß das Licht 
vol auf fie fiel; neben ihr ftand der Kinderwagen. 

„Wenn Sie auch heute nicht geflommen wären, jo hätte ich Ihnen morgen 
geichrieben —“ damit empfing fie ihm und ftredite ihm ihre beiden Hände ent- 
gegen, bie heiß und feucht waren. „Ich muß Ahnen doch mein Glüd zeigen!“ 
fie wandte fi) nad) dem jchlafenden Kinde um. 

Klaus war in fafjungslofer Bewegung: das ift fie — und doch iſt fie es 
wieder nit! — Auf den erften Blick hatte er ihre Krankheit erkannt, o, er 
Hatte jo Viele daran fterben jehen — aber fie, wie fam fie dazu? War es mög- 
lich? Nein, daran hatte er nie gedaht! Ihm fiel ihre Mutter ein. War es 
Doch ererbt? 

Dabei trat er an das Hind heran, von dem er wenig fehen Konnte, jo ſehr 
war e3 eingepadt, und ſprach, ohne zu wiſſen, was er fagte, von dem jchönen 
Gefihtchen desſelben; auch fie fand er prächtig ausſehend, und fie lächelte erfreut 
und meinte: „Mir geht es auch täglich beffer, und ich bin fo froh darüber; 


346 Deutſche Rundichau. 


denn, jehen Sie, jeßt, jeitdem mein Knabe da ift, jet ift die Ebene, die zwiſchen 
mir und ber Ewigkeit Liegt, nur grünendes, blühendes Land! Man muß nur 
Geduld haben, der liebe Gott ift viel gütiger, al3 wir es je verdienen können — 
Sie Huftete — „diefe Erfältung! Jh muß fie noch vor dem Winter los wer— 
den, damit ich mit meinem Kleinen an bie Luft darf, ehe der Schnee fommt. 
Wie viel Schnee haben wir im letzten Winter gehabt! O Klaus, das war ein 
ſchwerer Winter! Nun erzählen Sie mir aber von Ihnen! Die Schweften 
haben jchon gejagt, dat Sie viel Fräftiger geworden jeien, ich finde Sie aber 
ſehr bleich. Es war auch nicht Yeicht, nicht wahr? Wie oft Habe ich geglaubt, 
mein Theil wäre das härtere, aber nun fage ich das nicht mehr —“ fie griff 
nad dem Wagen. „Als mein Knabe geboren wurde, da habe ich meinem Manne 
Alles gejagt — nit Alles, nicht, wie ſchwer e8 mir geworben ift, ſeine Frau 
zu jein — da3 kann doch der liebe Gott nicht wollen, daß man Jemanden jo 
kränkt? —“ Klaus nidte. „Aber das Andere, daß wir uns jehr gern gehabt 
hätten — war e3 Unrecht, da3 zu jagen? —“ 

Wie fie fiebertel Ihre Augen glänzten, daß fie ihn beinah’ blendeten. 

Er beruhigte fie: was fie gethan, ſei gewiß das Rechte geweſen. Er ſprach 
mit ihr nur noch wie mit einer Kranken; es war nicht mehr das geliebte 
Mädchen, es war eine fterbende rau, die vor ihm lag — das gab ihm bie 
große Selbftbeherrichung. 

„Und weil ich immer an Sie dachte, bei jeder Arbeit, jo Habe ich arbeiten 
fönnen! Was habe ich Alles gelernt: ich habe manchmal heimlich eine Nat 
durchgewaſchen — e3 ging mir jchiwer von der Hand — und ich hätte Ihnen 
dann jo gern meine Finger gezeigt — jebt jieht man es nicht mehr, — aber 
Klaus, ic) wäre Dir eine fo qute Frau geworden! Hier war e3 fein Verdienft, 
daß ich mich quälte: je elender ich wurde, defto glüclicher fühlte ih mid, id 
wollte jo gerne fterben! Aber gewiß war auch mein Zuftand daran ſchuld, def 
ich jo verzweifelt war, und ich bereue es fo jehr! Es war Sünde gegen Gott! 
Nicht wahr, Sie glauben, daß Er mir verziehen hat?“ 

Klaus beruhigte fie wieder. 

„Wa3 am jchwerften war, das war die alte Wirthichafterin,, die ſich no 
im Dorf aufhielt und mir die Magd immer abipenftig machte; aber mın if 
fie fort, und ſchließlich find es ja alles Kleinigkeiten, die gar nicht werth find, 
daß man jo viel darüber weint! Aber mein Mann hat e3 nicht gemerkt, und 
jet weine ich nie mehr, weil ich den Kleinen habe!“ 

Sie jah wieder zu Klaus auf. „Einmal bin ich auch auf dem Kirchhofe 
gewejen, aber dad Meer jah ich nicht, denn e8 war dunkler Schneehimmel; ich 
meinte, Sie ſollten meine Fußtapfen erkennen . .... 

Er ſtand auf und blickte aus dem Fenſter. „Wiſſen Sie, daß das Ihte 
Lieblingsftellung ift, jo am Fenſter zu ftehen?“ fragte fie lächelnd. „So habt 
ih Sie oft geſehen!“ 

„Ja, Jeder hat feine Angewohnheiten, von denen er nichts weiß,” e 
twiderte er; er wollte von Gleihgültigem ſprechen, und es kam ihm zu Hilfe, 
daß gerade Paftor Hinderfen zurückkehrte. Diefer freute ſich aufrichtig, ihn da 
zu jehen; Jenſen tranf mit ihnen den üblichen Kaffee, hörte das Kind noch 


Zwifchen Kirche und Paftorat. 347 


jchreien — was es fonft nie thun jollte — bewunderte die blauen Augen des— 
jelben und war vor Abend daheim. 


— — — 


In derſelben Woche fuhr plötzlich Paſtor Hinderſen bei ihm vor, und ehe 
er ihm entgegengehen konnte, war der alte Herr ſchon in ſeinem Zimmer, two 
er ſich auf den erſten Stuhl hinſetzte. Klaus jah ihn an und fühlte, daß fi 
in feinem Herzen etwas zujammenzog, aber eine Frage konnte er nicht hervor— 
bringen. 

„Ich glaub's nicht,“ begann der ältere Dann. „Der Doctor hat e3 geftern 
gejagt, aber ich glaub’3 nicht! Dieje rofige, Fräftige Frau und Schwindſucht! 
Glauben Sie es?“ 

Jenſen nidte. 

„Aber wie ift da3 möglih?” fuhr Paftor Hinderfen auf. „Eine Frau in 
dem Alter, mit den Kräften muß doch zu retten fein?“ 

Was jollte Klaus jagen ? 

„Sie wiſſen nicht, wie gejund ſie ift,“ fuhr Hinbderjen fort. „Immer die 
Erſte auf und die Lebte zu Bett, immer heiter — wie hat fie mid) gepflegt! 
Und nie eine Predigt verfäumt: ich predige doch zweimal Sonntagg — in 
jedem Wetter ..... Er brach in Thränen aus. „Und nun jagt mir der 
Arzt, ich joll fie vorbereiten —“ 

Klaus wurde lebhaft: „Ach würde das nicht thun! Johanna's ganzes 
Leben war Vorbereitung, und fte ift jo glücklich und lebensfroh, Tafjen Sie fie 
unbewußt hinübergleiten!” 

Hinderjen jah ihn an. Wie Klaus vom Tode ſprach! Als ob e3 nicht der 
Tod wäre. „Ih Hatte Sie bitten wollen, Jenſen, mit mir zu fommen und 
meiner rau und mir das Abendmahl zu reihen — —“ 

Einen Augenblid durchzuckte Klaus der fjelbftfüchtige Wunſch, noch einmal 
mit Johanna zufammen zu fein und zwar in den heiligften, legten Augenbliden. 
Aber nein, nein, für fie war es beffer, wenn e3 ihr eripart blieb! Und auch 
für ihn. — Ihm war fie ja nicht mehr Johanna! Sie war die Mutter ihres 
Kindes, die Frau Paftor Hinderfen’3, deren heiligfte Lebensinterefjen ihm fremd 
waren: fie war nicht mehr mit ihm Eins, wie fie e8 in jenen Sommertagen 
geweſen. 

Nach einer Stunde fuhr Paſtor Hinderſen heim, entſchloſſen, ſeiner jungen 
Frau kurze Lebensfreude nicht zu trüben. 

Klaus fand im Hauſe keine Ruhe und ging auf den Kirchhof. Es war ſo 
klar, wie es nur in der ſcharfen Herbſtluft iſt, leuchtend lag das Meer da; 
nicht nur als lichter Streif am Horizont — als breiter Silbergürtel umſchlang 
es die Erde, die ſo farblos vergilbt vor ihm ſich ausbreitete. Und wie er dort 
an die Kirche gelehnt ſtand, ſchien ihm das Meer immer glänzender, immer 
leuchtender zu werden. 

In derſelben Stunde, noch ehe ihr Gatte heimgekehrt, war Johanna ahnungs— 
los, mit glücklichem Lächeln in jene Ewigkeit eingegangen. 


Stammbuchblätter aus Goethes Nachlaß 


Mitgetheilt 
bon 


Dr. Walther Vulpius, 





Am 15. April 1885 ftarb während eines längeren Reifeaufenthaltes in Leipzig 
Walther von Goethe, der ältefte, aber lettüberlebende von Goethe's Enkelkindern. 
Seine Conftitution war von Geburt an eine äußerſt zarte geweſen, und ſchon 
frühzeitig hatte er unter den Symptomen einer chroniſchen Lungenerkrankung zu 
Yeiden gehabt, der er Schließlich in feinem achtundjechzigften Jahre erlag. 

Faſt will e3 naturgemäß erjcheinen, daß mit diefem Enkel ſchon im der 
zweiten Generation das Geſchlecht erloſch, welches Goethe’3 gewaltiger Genius an 
Schaffenskraft und Lebensenergie erſchöpft hinterließ. 

Uber das Hinſcheiden dieſes letzten Nachkommen bat das Intereſſe an 
Goethe's Verlaſſenſchaft nicht gemindert, ſondern iſt im Gegentheil die Urſache 
einer neuen Belebung und Vertiefung desſelben geworden. 

Das Teſtament Walthers Hat gezeigt, worin beide Enkel ihre vornehmſte 
Lebensaufgabe erblickt — denn unähnlich an Geſtalt und Erſcheinung, waren ſie 
auch an Charakter verſchieden; zwei vorwaltende Züge jedoch waren Beiden 
gemeinſam: mimoſenhafte Feinfühligkeit und tiefſinnige Pietät. Wie jene aber 
unter der Wucht des großen Namens, der ihnen — ein nicht beglückendes Erb— 
theil — geblieben, ſich manchmal als Empfindlichkeit zeigte und als ſolche von 
Mitlebenden getadelt wurde, ſo gelangte auch dieſe erſt zu allgemeiner Anerkennung 
bei der Teſtamentseröffnung Walthers von Goethe. Manch ungerechten, wenn 
auch nicht immer übelmeinenden Vorwurf Hatten die Brüder ſtillſchweigend er: 
tragen, als fie die Vorſchläge des deutjchen Bundes zum Ankauf des Haufes 
und der Sammlungen zurückgewieſen hatten: fie fühlen fi) gleichſam ala Ver— 
walter eines Gutes, welches der Nation nicht durch Kauf, fondern ala Erbe zu: 
fallen follte. So ging dies Amt in demjelben Sinne über an den weimarijchen 
Staat und feine hochherzige Fürſtin, und beide wetteiferten, fi) de3 Vertrauens 
würdig zu erweiſen, welches der Zeftator in fie gejeßt. 

Diefem Beftreben verdankt das deutiche Volk die Begründung des Goethe 
Nationalmufeums und des Goethe: Archivs. 


Stammbuchblätter aus Goethe's Nachlaß. 349 


Nur was der eine oder der andere der Entel als jeinen perfönlichen Beſitz 
betrachtet, fiel den Anteftaterben zu, worunter auch eine Reihe Stammbücher, 
theil3 Goethe, theil3 jüngeren Yamilienmitgliedern gehörig. 

Zwei derfelben liegen vor mir und erzählen von Epifoden — gegenjäßlich 
verichieden wie Krieg und Frieden — deren eine dem Dichter die fchiwerften 
Wirrſale feines fonft jo harmonisch verlaufenden Lebens, ja jelbft Bedrohung 
beöjelben brachte, die andere den heiterften, beſchaulichſten Genuß feiner jpäteren 
Tage gewährte. 

Schon die äußere Erfcheinung der Bücher trägt den Stempel dieſes Gegen- 
ſatzes; das ältere, befjen lebte und intereffantefle Einträge im Jahre 1806 gemacht 
find, ift ein Kleiner, fechzig Seiten ftarker Band in Queroctavformat mit Gold» 
ichnitt. Der Einband von braunem Leder, mit einer zweifachen, ſchmalen Gold- 
druckkante verziert, ift alt, vergriffen, nachgedunkelt und an einigen Stellen von 
Holzwürmern angefreffen,; ein rothes Rückenſchildchen trägt die kaum noch les— 
baren Worte: Souvenir d’amitie. Der Einſchlag befteht aus groß marmorirtem, 
altmodiihem Papier, mit vortviegend grauen und blauen Feldern. 

Troß vieler unbefannter Namen aus früherer Zeit mußte Angeficht3 der 
Einträge von 1806, wenigftens für oberflächliche Betrachtung, die Vermuthung 
nahe liegen, daß Goethe jelbft der urfprüngliche Eigenthümer bes Albums gewejen 
jei; bei näherem Eingehen jedod erwies ſich diefe Annahme bald ala irrthümlich, 
und ſchließlich gelang es, nad) mancher vergeblichen Konjectur, den erſten Beſitzer 
feftzuftellen in der Perſon des Secondelientenant3 Charles Marc Antoine Crayen, 
geboren zu Leipzig am 12. Mai 1785 ala Sohn von Augufte Guillaume Erayen, 
in deſſen Haus Goethe laut einer Tagebuchnotiz vom Jahre 1797 freundichaftlich 
verkehrte. Im weimariſchen Staatshandbuch wird der damals ziwanzigjährige 
Charles zuerſt im Jahre 1805 al3 Secondelieutenant aufgeführt. Der verhängniß- 
volle October de3 kommenden Jahres findet ihn wahrjcheinlich durch eine jpecielle 
Drdre an eine hervorragende Perjönlichkeit gefefjelt, welche der unglüdlichen 
Schlacht von era und Auerftedt fern blieb. Diefer unfreiwilligen Muße ver- 
danfen wir jene Albumsinjchriften, Niederichläge aus einer wildbewegten Zeit, 
welche wunderbar berühren durch die Nahbarichaft von Freundes- und Fyeindes- 
hand, jene hoffnungsfreudig vor der großen Entſcheidungsſchlacht, dieſe ſieges— 
trunten nach derjelben, Beide aber auf den Gebdenkblättern friedlich vereint in 
dem Beflreben, dem jungen Dann ein dauerndes Zeichen ihrer ſchnell erworbenen 
Achtung und Freundichaft zu Hinterlaffen. Am Ergreifendften jedoch wirkt auf 
ein deutjches Gemüth in dieſer Gejellfchaft die Handſchrift der Königin Louife, 
welche „Weimar am 8. October 1806“ !) folgenden Eintrag madt: 

„Auch auf Thronen kennt man häuslich Glüd! 

Dieſes fchrieb 
zur Erinnerung 


Ihre 
wohlaffectionirte 
Rouife FH. v. Pr. 


1) Die Oris- oder Zeitangabe muß, wie es bie Aufregung jener Tage leicht erflärlich er: 
jcheinen läßt, irrthümlich fein. Denn, nachdem die Majeftäten auf der Reife von Naumburg nad) 
Erfurt flüchtig am 4. October in Weimar gefrühftücdt hatten, famen fie erft am 11. October mit 
ber Berlegung des Hauptquartier? von Blanfenhain nah Weimar zurüd. 


350 Deutiche Rundſchau. 


Welch’ rührende Apologie enthalten diefe jchlichten Worte gegenüber der von 
Napoleon und feinen Anhängern gerade in jener Zeit häufig erhobenen Be: 
ſchuldigung, die Königin Louiſe mifche fich in unberufener und unmeiblicher Weiſe 
in das Getriebe der Politik; ein Vorwurf, den auch Gent nad) der am 9. October 
ihm gewährten Audienz und langen Unterredung mit der Königin al3 ungeredt- 
fertigt zurückweiſt. 

Räthieldaft bleibt es, wie der junge Officier dazu fommt, der Königin fein 
Album zu präfentiren; war ex bei ihr zu perfönlicher Dienftleiftung befohlen, fo 
kann er dieſes Ehrenamt nur kurze Zeit bekleidet haben; denn während bie 
Königin am 13. October ſich zu ihrem erften Verſuch, von Weimar nad Berlin 


aufzubrechen, beftimmen ließ, finden wir vom jelben Datum folgende Einträge: 
Mer vor der Nadelſpitze flieht, 
Bleibt nicht vor Degen ftehn. 


Marichauartier Um Ihr ſtets freundichaft: 
Weimar liches Andenten bittet Ihr Freund 
ben 13. Octbr. 1306. Carl Morik von Lüftom. 


K. Pr. Lieutenant des hochlöbl. 
Dragonerregimentö dv. Prittwiß. 


und: 
Mer nicht liebt Wein Weiber 
und Gelang, 
Der bleibt ein Narr fein Leben lang! 
Martin Luther. 
Marichauartier Eben jo denkt 
Meimar Ahr wahrer Freund 
ben 13. Octbr. 1806. Adolph v. Winning 
Cornet beym K. Pr. Hufaren Rest. 
v. Moeck (?) 


Eine Nachricht des Herzogs von Braunſchweig von der in der Richtung nad 
Auerjtedt zu erwartenden Schladht ſcheuchte die Königin noch einmal nad) Weimar 
zurüd, und erft am folgenden Morgen verließ fie endgültig die Stadt, über 
Mühlhauſen, Braunſchweig und Magdeburg, der Trauerfunde vorauseilend, die 
fie erft kurz vor Berlin erreichen jollte: die Schlacht war verloren! 

Nachdem man in Weimar von frühen Morgen an die Stunden in quälen: 
der Ungewißheit hingebradht hatte, immer von Neuem erregt durch widerjprechende 
Nachrichten, war e3 der Major von Hinzenftern, der al3 Gouverneur des Prinzen 
Bernhard (Carl Auguft’3 Sohn) mit diefem in der dritten Nahmittagsftunde 
ins Schloß geiprengt fam und bei dem eiligen Wiederaufbruch noch auf der 
Treppe mit den Worten: „Kinder, es ift Alles verloren!“ jeden Zweifel benahm 
und jede Hoffnung knickte. Gine Stunde darauf rüdten die Franzoſen in bie 
Stadt ein und hatten ſich Abends, zum Theil wenigſtens, jchon jo weit häuslich 
eingerichtet, daß einer ihrer Generäle Muße fand, in unjer Album folgenden 
Eintrag zu maden: 


Nulle rose sans &pines 


Weimar Souvenez vous en 
le 14 Oct. 1806 lisant ces lignes 
au jour de la grande de votre ami 
bataille de Jena. Charles Desjardins 


General de l’armee francaise 
et chef du 14 Regiment d’Infanterie. 


Stammbuchblätter aus Goethes Nachlaß. 851 


Dom folgenden Tag finden twir: 


Vaincre ou mourir! 


Weimar Monument d’amitie 
le 15 Oct. 1806. de 
le jour apres la grande Charles Leval 
defaite des prussiens General de Division et 
pres de Vierzehnheilig. Chef du 24me Rögt. d’Infan- 


terie de Ligne. 

Am weiteren Verlaufe der Napoleoniihen Unternehmungen nahm Crayen, 
nunmehr Officier eines verbündeten Truppencorps, mehr thätigen Antheil. Aus 
einem im Jahre 1811 abjchlägig bejchiedenen Entihädigungsgefuh für Unkoften 
eine ſechswöchentlichen Aufenthaltes in Perpignan entnehmen wir, baß der 
Premierlieutenant Grayen (jeit 1810) mit der Leitung eines Anvalidentransportes 
aus atalonien betraut tar. 

Im ruffiichen Feldzuge theilte er das tragische 2008 jo vieler Taufende, die 
in einem Kriege ohne Begeifterung einen Tod ohne Ruhm fanden, gleichſam der 
Dünger einer erſt feimenden Saat der Befreiung und Vergeltung. Crayen erlag 
feinen Wunden in Wilna am 15. März 1813. 

Seine Verlaffenihaft wurde, da er unverheirathet ftarb, verzettelt; aus ihr 
wahrjcheinlich ertvarb Goethe das Album, welches ihn hauptſächlich wegen des 
Autograph3 der Königin Louiſe intereffiren mochte; finden wir doch in einem 
am 13. Januar 1812 an Friderike, Prinzeffin von Solms» Braunfchweig, die 
Schweſter der Königin, gerichteten Brief den Wunſch ausgeſprochen: „Einige 
Zeilen von der Hand der verflärten Königin würden mich glücklich machen.“ 

Wenn jene Büchlein Goethe gleichzeitig an den früh verblicdenen Sohn 
einer befreundeten Familie und an die ſchweren Stunden erinnerte, wo er nur 
dem energifchen Auftreten feiner nahmaligen Gattin die Rettung aus drohender 
Lebensgefahr von Seiten franzöſiſcher Marodeurs verdantte, jo werden um fo 
freundlichere Bilder und Vorgänge in feinem Gedenken wieder aufgelebt fein 
beim Durhblättern des zweiten Albums. Es ift von gleicher Stärke und Größe 
wie da3 vorige, aber Hochformat. In gelbes, geripptes Leder gebunden, mit 
polirten Stahleden, :Schild und -Schlößchen, und den Einſchlag von citronen= 
gelber Moirsejeide, macht da3 wohlerhaltene Bändchen ſchon äußerlich einen an- 
mutbhenderen Eindruck. Merkwürdiger Weiſe ift auch Hier Goethe nicht der 
urfprüngliche Befiter geweſen; der unterfchriftslofe Eintrag ohne Orts- und Zeit- 
angabe: „O Fritz, toll bin ich, aber Ihr Freund,“ welcher ſich auf der fechften 
Seite befindet, fcheint auf den Oberforftmeifter Fri von Stein (von Nord» und 
Dftheim) Hinzubeuten, alle übrigen Anfchriften, die nur eine kurze Zeitipanne 
umfafien, beziehen fi) auf Goethe. 

Den Wunjch, nad) fiebzehnjähriger Abweſenheit Frankfurt einmal wiederzu— 
fehen, äußert Goethe zuerjt in einem am 22. Februar 1814 an Fri Schlofjer 
gerichteten Brief; er dankt darin den Frankfurter Freunden für die freundliche 
Aufnahme, welche kurz zuvor fein Sohn bei ihnen gefunden, „der und noch 
mancherlei Angenehmes zu erzählen weiß, und den Wunfch, meine Vaterftadt zu 
jehen, in mir rege erhält.“ 


352 Deutſche Rundſchau. 


Als um die Mitte des Jahres das Project feiner Reife in die Rhein, 
Main: und Nedargegend zur Reife gelangte, wurde e3 von allen dortigen Kunft 
freunden mit lebhafteftem Beifall begrüßt, und an jeine Ausführung die größten 
Hoffnungen auf Förderung und Anregung gefnüpft — Erwartungen, toelden 
dann auf jeglichem Gebiete im vollfien Make entiprochen wurde. Aber aud 
für Goethe ſelbſt erwies ſich diefe Reiſe al3 eine große Wohlthat, indem fie 
ihm förperlih wie geiftig friſche Epannkraft und neues Leben jchenkte; „fe 
unterbrach die rejervirt eintönige weimarifche Lebensweiſe, die zwifchen ihm und 
dem Bürgerthum feine Verbindung eröffnete. Nun aber: Bejuche machen und 
empfangen, bedeutende Menjchen in ihrem eigenen Dafein beobachten, an den 
Meßbuden fih nah Waaren erkundigen, zu Dorf: und Gartenwirtbichaften 
gehen, bei Volksfeſten fi unter die Mienge miſchen — da3 waren Dinge, die 
er feit Jahrzehnten faum geübt Hatte. Zudem waren die Reifetage, ja bie 
nächften zwei Jahre, fo liederreih wie faum eine Jünglingsperiode; mitunter 
famen ihm drei, vier und mehr Gedichte an einem Tage.” (Creizenach, „Goethe 
und Marianne Willemer.”) Den Grundton jener glüdlichen Epoche vernehmen 
wir am Hlarften und fräftigften in der herrliden Schilderung Goethe's: 
St. Rochusfeſt zu Bingen, einer Miſchung von erhabener Heiterkeit und menjd: 
liher Innigkeit im Beſchauen aller Lebenserſcheinungen. 

Mas ich dort gelebt, genoffen, 
Mad mir all dorther enifproffen, 
Welche Freude, welche Kenntniß, 
Wär ein allzu lang Geftändnip. 
Mög es Jeden fo erfreuen, 
Die Erfahrenen, die Neuen! 
(Gedichte: Rhein u. Main.) 

Nach viertägigem vorläufigen Aufenthalte in Frankfurt fuhr Goethe am 
29. Juli zum Kurgebrauch nad) Wiesbaden. Außer mit Bergrath Cramer und 
Zelter verkehrte ex vielfach) in einem Bekanntenkreiſe, der aus folgenden im Album 
Eingetragenen beftand. 

Die Schwefter de3 oben erwähnten Oberforftmeifterd von Stein jchreibt: 

Möchte zuweilen dieſer höhere Blick, 
voll Ruhe, Geift und Größe hier 
verweilen, 
Und Sie leife den tiefen Wunſch 
meines Herzens zum Allfehenden 
für lange, heitre, jegenävolle 
Tage vernehmen; 
Ewig mit wahrer Verehrung und Liebe. 


Miesbaben Eleonore v. Stein 
d. 19: Auguft | Aebtilfin im Stift 
1814. Waizenbach 


(Waizenbach iſt ein adeliges Fräuleinſtift in Unterfranken, bei Hammel—⸗ 
burg gelegen.) 

Es folgt eine Verwandte ber Vorhergehenden, welche wahrſcheinlich Stifts— 
dame in Birke bei Bayreuth war: 


Stammbuchblätter aus Goethe's Nachlaß. 353 


Christiane von Stein 
Der Name einer aus treuem und 
Dankbaren Herzen fie innigft 
Berehrenben. 
Wiesbaden d. 20 Auguſt 1814. 


Trerner eine Verwandte des in den Tagebüchern öfters genannten Grafen 
Hendel: 
Darf ih ala junge Freundin aud) 
bitten für Zukunft und ikt, 
dab bdiefer Name nicht ganz verſchwinde 
unter denen der Bittenden alle 


um Anbenten und Gunft. 
Wiesbaben 


b. 20ten Auguſt 1814. Luiſe von Wildungen. 


Und Lotte von Bobenhaufen, ebenfalls Stiftsdame in Waizenbach: 
Dergebens flehte ich Apollo Hülfe an 
Die Krone ber jchönen Geifter nad 
Würde zu befingen; doch immer wäre mein 
Lieb nicht würdig gewelen, vor Ihrem 
Throne zu ericheinen, benn mir fehlen 
jelbft Worte, ben einzig frohen erhabnen 
Genuß auszudrüden, ben die Augenblide 
Ihrer Gegenwart auch mir gewährten. 
Die Erinnerung berfelben wird meine 
Zukunft erheitern, umb nur mit meinem 
Seyn ſchwinden; fo wie mein tiefes 
Dankgefühl, mich hier nennen zu bürfen als 
Ihre hochachtungsvollſte, innigfte Verehrerin 

MWiesbaben am 20ten 7. (2) Lotte von Bobenhaufen. 
1814. 
Der folgende Eintrag rührt wahrjcheinlih von bem oben erwähnten Grafen 
Hendel her, doch ift die Namensunterjchrift nicht deutlich zu erkennen: 
Wie vermag ich Ihnen der Ber: 
ehrung und bes Dantes Gefühle zu 
ſchildern? — Wie lann ich es mehr, 
als wenn ich es laut belenne, wie 
ich des eignen Strebens bewußt, 
Doch deutlich erkenne: daß durch Ihrer 
Lehre geiſtvolle Helle, ich erlannt des 
Lebens innerſte Quelle, ſo weit mir das 
Erkennen beſchieden iſt. — Und wie vermag 
ich es beſſer zu zeigen, daß ich gefaßt 
Ihrer Lehre erhaben liebevollen Sinn, 
Als wenn ich noch heute Ihnen und der Gottheit 
gelobe, daß ich feſt entichloffen bin: 
Nicht mit Kummer und ängſtlich forgenb oder 
zagend, aber mit Muth und thätiger Kraft, 
nicht allein das beichiedene Loos zu tragen, 
ſondern auch zu jchaffen und zu wirken 
aus ali meiner eignen Kraft, jo weit unb 
fo viel, als des Schidiald Güte es geftatten mag. 
Wiesbaden Henckel (?) 
d. 22ten Yug. 1814. 
Deutliche Runbihan. XVI, 9. 23 


— 


354 Deutſche Rundſchau. 


Am 28. Auguſt betheiligte fich Goethe an einem Déjeuner des Herm 
von Holzhauſen; in ſeinen Aufſätzen über Kunſtſchätze am Rhein, Main und 
Neckar rühmt er ihn als den Sproß eines Geſchlechtes, „deſſen wohlerhaltene 
Familienporträts einen Begriff ſeiner Würde und der Kunſtliebe ſeiner Ahnen 
geben.“ Seine Gemahlin entſtammte der Familie Ziegeſar (auf Drakendorf), 
die Goethe feit langer Zeit in allen Verzweigungen kannte und jchäßte, und 
deren gejellig Heiteres und behagliches Leben bei feinem Aufenthalte in Garlabad 
er in den Annalen von 1808 mit bevedten Worten ſchildert. Die Gatten jchreiben: 

Das Glück, Sie zu sehen, verdanke 

ich dem Himmel, Ihnen den Genuss: 

dass der Eindruck ihrer hohen 

Würde mit der laengst empfundenen 

tiefen Verehrung und Liebe unaus- 

löschlich in mir lebt. 

Wiesbaden Caroline v. Holzhausen 
d. 30. Aug. 1814. geh. v. Ziegesar. 
und: 
Welcher Eindrud auf ein 
jugenbliches Gemüth fann 
Wohl ftärker und bleibender ſeyn, 
ala das ſchon längſt ala Ideal 
bed Reinen, Weifen und Guten 
Aufgeftellte num in Ihrer fo 
werthen Perfon jo ſchön und 
edel perfonificirt zu ſehen! 
Gerade der Verein einer 
erhabenen Seele, eines fo 
hell erleuchteten Geiftes, 
mit einem liebevollen, 
mittheilenden, fich jo ſchön 
berablaffenden Aeußeren 
ift dad, was mein Gemüth fo 
unausfprechlich arreizt, 
fefthält und zu allem ſtärkt. 
Wiesbaden d. 1 Septbr. 1814. Earl von Holzhaujen. 


Ueber feine Unternehmungen in der erften Septemberwoche fchreibt Goethe 
(Im Rheingau, Herbfttage) „Das Iebendige Schauen der nunmehr zu be 
ihreibenden Dertlichkeiten verdanke ich der geliebten wie verehrten Familie 
Brentano, die mir an den Ufern des Rheins, auf ihrem Landgute zu Winkel 
viele glückliche Stunden bereitete.” Das Haupt diefer Familie war Franz 
Domin. Maria-Joſeph Brentano, Schöff und Senator don Hrankfurt, ein Sohn 
erfter Ehe des nachmals mit Marimiliane von Laroche vermählten Kaufherm 
Peter Anton Brentano, aljo ein Halbbruber von Bettina d. Arnim. Seine 
Gemahlin Johanna Antonie Joſepha erbte die vortreffliche Gemäldefammlung 
ihres Vaters, des k. £. Hofraths Johann Melchior dv. Birkenſtock, welche dieſer 
während feines lebenslänglichen Aufenthaltes in Wien zufammengebradt hatte; 
Goethe rühmt die gute Aufftellung derjelben in Brentano's Haus zu Frankfurt 


(Kunftihäte). 


Stammbucdblätter aus Goethes Nachlaß. 355 


Das Brentano’ihe Ehepaar machte folgende Einträge: 
Winkel im Rheingau. 
Hier ftand die Natur, da fie aus 
reicher Hand über Hügel und Thal 
belebende Schöpfung gok mit ver: 
weilendem Tritte fill — bier gefiel 
es auch Ihnen acht ichöne Tage zu weilen, 
und Ihrer Gegenwart Sonnenblid 
ſchien mir der Anmuth Bollenbung. 
b. 8. Sept. Antonia Brentano 
1814. gebohrene Edle von Birkenstock. 
und: 
Sp wie das wohlthätige Jahr 1811 
bier ben eblen Rebenfaft zum 
Nectar erhob, jo verberrlichte 
in biefem Jahr Ihr freundlicher 
Beſuch unfre Gefühle! 
Das Andenfen daran wird mir 
unvergehlich bleiben. 

Winkel im Rheingau d. 8. Sept. 1314. Franz Brentano. 

Die Weinleje des Jahres 1811 war ſowohl nad) Maſſe ald Güte des Er— 
trages eine beſonders gejegnete geweſen: Goethe berichtet, daß in diefem Jahre 
achthundert Stüd Wein in Winkel gebaut wurden, und fügt feinen Aufzeichnungen 
über die Herbfttage im Aheingau die fröhlice Wendung an: „Und jo hätten 
wir denn abermal3 mit dem glüdlichen Rundworte gefchloffen: Am Rhein, am 
Rhein, da wachſen unſre Reben.“ 

„Auch die Kleinen ließen Sie zu ſich fommen,“ trägt die folgende Albumjeite 
als Ueberfchrift in ſchöner, aber fteifer, unausgefchriebener Kinderhand, worunter 
die Namen der Kinder des Haufe: 

Georg Brentano 
Maximiliana Brentano 
Josephine Brentano 
Franciska Brentano 
Carl Brentano. 

Der Name des damals einjährigen Carl und die Unterfhrift: „Winkel im 
Rheingau, den 8. Sept. 1814“, find von der Hand der Mutter. 

Auf der folgenden Seite: „Auch wir gehören zu den Kleinen“, darunter die 
Namen der Frankfurter Vettern und Goufinen: 

Claudine Brentano 

Sophie Brentano 

Franz Brentano 

Ludwig Brentano 
mit der mütterliden Freundin ihres Haufes, von den Kindern „die gute Tante“ 
genannt, Claudine PBiautaz, welche ſchon im nächften Jahre berufen tar, Mtutter- 
ftelle an den verwaiften Seinen zu vertreten. 

Aber Kinder find Ketzer, und die Verehrung, welche ihre Hände hier dem 
geihäßten Gafte bezeugen, ift feiner Zeit wohl nit ganz aufrichtig geweſen; 
dern das wilde Völkchen fühlte fi) durch die für den hohen Beſuch auferlegte 
Rüdfihtnahme mannigfach beeinträchtigt. Herr Anton Brentano, der nahmalige 

23* 


356 Deutiche Rundſchau. 


Gemahl von Joſepha, dev Tochter des Haufes, deſſen Güte ich alle näheren 
Notizen über dieje yamilienbeziehungen verdanfe, jchreibt Hierüber in einem 
Briefe: „Die Lieben Kleinen haben fi gar nicht gefreut, wenn ber Gefeierte 
Mintel ala Gaft beehrte; fie mußten dann jehr brav und jehr ftill fein, durften 
nicht auf dem großen Speicher fpielen u. j. w. Dagegen hatten fie bei den 
Spaziergängen nebenher zu trippeln, um dem hohen Herrn die Steine, Muſcheln 
u. ſ. w. aufzulefen, die ex mit feinem Stod bezeichnete und mit feinem Bergmannz- 
hämmerchen unterfuchte.“ 
Als letzte Genoffen dieſes Kreiſes folgen noch der Haußlehrer: 
ÖOmne tulit puncetum qui miscuit 
utile dulei 
Vinicellae 
8 Sept. 1814 Wildieyr. 
(Jedweden Schickſalsſchlag verwinbet, 
Wer Tüchtiges mit Lieblichem verbindet) 


und Pauline Serviere, eine der Schweſtern, welche „ſich in den geiſtig hervor— 
tretenden Kreiſen des Frankfurter Lebens auszeichneten“, und unter den vertrau— 
lien Namen „Paule” und „Lotte“ in freundichaftlichften Beziehungen zu den 
Brentano'ſchen Familien ftanden, Beziehungen, die wohl ſchon in der zweiten 
Generation gepflegt wurden, da Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ bereits 
„die Geftalt einer wohlgebildeten, obgleich nicht jungen Frau, mit Namen Serviere* 
erwähnt, welche zu dem engeren Tyreundeszirfel von Peter Anton und Marimiliane 
Brentano gehörte. 
„Pauline“ jchreibt: 
Sonft konnt ich zu Gedanken Worte finden, 
Doch nun, ba ich fo nahe bei Dir wohne 
Traf mich ein Strahl aus Deiner Sternenfrone, 
Ich wurde ſtumm und fühlte mich erblinden. 
Ah, wer kann Deinem Zauber fich entwinden! 
Ich wag e3 nicht, dem guten Geift zum Hohne 
Mir würde Spott und Schande bald zum Xohne, 
Wollt ih mit Schwachheit fühnen Trotz verbinden. 
Ich jchleiche zum Parnak ala armer Kranter 
Da ſuch ich num mit tiefbewegtem Herzen 
Und vierzehn Helfern Linderung meiner Qualen 
An Deiner Güte lieg ich hier vor Anker, 
Ein freundlih Wort heilt alle meine Schmerzen 
Doch kann ich nie der Wohlthat Freuden malen. 
Winkel, d. &ten September Pauline Serviere. 
1814. 

Am 9. September fündet Goethe in einem Briefe an jeinen Neffen Frik 
Schloſſer, Oberſchulrath und Director des Frankfurter Lyceums, fein Kommen 
nah Frankfurt an: „Wermelde zugleih, daß ich Montag den 12. Abends bei 
Ihnen einzutreffen und in Ihrer Gegenwart noch einige Tage zu genießen hoffe. 
Unter vielen Empfehlungen an Yhre theure Frau Mutter und den lieben Bruder 
wünſche das Allerbefte.” 

Während des nun folgenden zweiwöchentlichen Aufenthaltes in Frankfurt — 
der erfte längere nad) dem Tode feiner Mutter (September 1808) — haben nur 


Stammbuchblätter aus Goethe's Nachlaß. 357 


die Schloſſer'ſchen Verwandten, in deren Haus er lebte, Einträge gemadt. Zuerft 
die Wittwe feines verftorbenen Freundes Hieronymus Peter, der ältere von den 
in „Dichtung und Wahrheit“ geichilderten Brüdern: 

Mit Heiterem und danfbarem 

Herzen werbe ich jeder Zeit ber 

Tage gedenken, welche Sie, Theuer: 

fter Mann, unter unſerem Dache 

zuzubringen bie Güte hatten. 

Morge uns noch zuweilen ein 

glüdliches Wiederjehen verliehen 

feyn, und Ihre Güte und immer 

freundlich zugewandt bleiben. 

Frankfurt den 20. September 1514. 
Margarethe Schloſſer. 


Wie jehr e3 die vortreffliche Frau verftanden Hat, durch ihr herzliches Weſen 
das Gefühl des jchmerzlichen Verluftes zu Iindern, und dem Dichter die Heim— 
gegangene zu erjeßen, geht aus dem Danfesbrief hervor, den er kommendes Neu= 
jahr von Weimar aus an fie richtete: „Und jo muß ich denn vor allem befennen, 
daß ich Frankfurt feit einigen Jahren fürchtete und vermied, weil ich meine 
Mutter dajelbft vermifjen würde, ohne welche ich mir diefe Stadt niemals ge= 
dacht Hatte. 

Wie jehr bin ich Ahnen alfo, verehrte Frau, den aufrichtigften Dank ſchuldig, 
da Sie mir in Ihrem Haufe, an Ihrer Vorjorge, Thätigkeit und Langmuth, nicht 
fowohl im Bild dasjenige gaben, was ich verloren hatte, jondern es meinem 
Gefühl vollkommen erſetzten.“ 

Vom ſelben Datum find die Einträge des Rathes Schloſſer, der ſeit der 
Erbſchaftsregulirung der Frau Rath in allen Frankfurter Angelegenheiten Goethe's 
treuer Sachwalter war, ſeiner Gemahlin Sophie (geb. Dufay) und ſeiner Ge— 
ſchwiſter Suſanne und Chriſtian: 

Schnell eilen die Tage vorüber, in welchen 
Sie, geliebteſter Mann, una mit Ihrer freund: 
lichen und erhebenden Nähe beglüdten. Nie 
aber wirb Ihr theures Bild und das Anden: 
fen dieſer köftlichen Tage in unſern Her: 
zen erlöſchen. Und fo möge auch Ihre Güte 
ber dankbaren Liebe und Verehrung, womit 
wir gegen Sie erfüllt find, zuweilen eine 
freundliche Erinnerung ſchenken. 
Frantfurt ben 20. Sept. 1814. 
Sufanne Schloſſer. — — 
und: 
.... Auf Gnade 
Sey es gethan! — 
Möchten Sie immerfort 
uns Ihre Güte bewahren, und wir 
biefer großen Güte werth werden, 
Frf. 20ten Tber 
1814. C. F. Schloffer. 


358 Deutſche Rundſchau. 


An Begleitung von Chriſtian Schloſſer reifte Goethe am 24. September 
nad Heidelberg und mwidmete fih dort in Sulpiz Boiſſerée's Gejellichaft ein- 
gchendfter Kunftbetrachtungen, kehrte aber am 10. October wieder nad) Frankfurt 
zurüd. Hier hatte fi während feiner Abweſenheit die Vermählung zwiſchen 
Marianne Jung und Geh. Rath Willemer vollzogen, im näheren Verkehr mit 
dem jungen Paar entwicelte fi die Freundſchaft zu Marianne, der wir die 
buftigften Blüthen der Goethe'ſchen Spätlyrif verbanfen. 

Bon den nun folgenden Einträgen find nicht alle in Goethe's Anweſenheit 
gemacht; das Album blieb nach feiner Abreife in ben Händen feiner Freunde 
und wurde ihm wahrfcheinlich erft im December nah Weimar geihidt. 

Am 20. October ging er nad Hanau), wo er im Mineraliencabinet des 
Geh. Rath Leonhardt Studien machte und fi mit der Induſtrie des Ortes 
beihäftigte, und traf am 27. October twieder in Weimar ein. 

Hiernach kann man leicht erfehen, welche von den Einträgen, die ich im ber 
Reihenfolge wiedergebe, wie fie in den Albumblättern vorliegt, in des Dichters 
Gegenwart gemadt find. 

Johann Iſaak Freiherr von Gerning eröffnet den Reigen in) dieſer letzten 
Abtheilung. Ein ſchätzenswerther Mäcen und vielfeitiger Sammler von Kunſt⸗ 
ſchätzen, hegte er auch den verfehlten Ehrgeiz, als Dichter glänzen zu wollen; 
Goethe erwähnt ihn fchon in der Schweizerreife ala bei jeder Gelegenheit Verfe 
machend und berichtet jpäterin „Kunftichäte”, daß er das Taunusgebirge zum 
Gegenftand feiner Dichtungen vorzüglich ‚gewählt Habe. Sein Hauptwerk auf 
diefem Gebiete ift ein großes Lehrgedicht in vier Gefängen über die Heilquellen 
de3 Taunus; Goethe's Wiesbadener Kur mag ihm wie eine Nutzanwendung des⸗ 
jelben erjchienen fein. Er jchreibt ins Album: 

Taunus! gedankt sei Dir und Deinen 
verjüngenden Quellen, 

Dafs wir jegliches Jahr wieder den 
Einzigen seh'n. — 


Frankfurt Zur Frinnerung an 
am 13ten gber frohe „Wiederkehr 
1814. von Ihrem 
dankbaren Freund und 
Verehrer, 
Gerning. 


63 folgt Goethe’3 alte Tante mütterlicherjeit3, von deren originellem , leb— 
baftem und entſchiedenem Wejen er in „Dichtung und Wahrheit” eine anziehende 
Schilderung entwirft, mit ihrem Sohn, dem Dr. D. Melber, ehemaligem Arzt 
der Frau Rath, und deſſen Tochter Jacquette: 

Nur die Hoffnung bes Wieberfehene 
linbert bie Schmerzen, bie Ihr Scheiben 
Allen bereitet, welchen vergönnt warb, 
in Ihrer Nähe zu weilen: 

Wird ber durch Sie geehrien Daterftabt 
das Glück, daß fie bald wieder Ihrer 


Stammbuchblätter aus Goethes Nachlaß. 359 


fich erfreut, nur dann werben jene 


geftillt. 


Ffurt. d. 12ten Oct. Mit innigſter Verehrung 


von 

Ihrem ergebenſten Vetter 
3.6. D. Melber; med. Dr. 
Schon ala Kind, ald Yüngling 
liebte ich Sie; ald im Mannes: 
alter bie ganze Welt Sie 
hodhichäßte, blieb ich Hinter meinen 
Zeitgenoffen Hierin nicht zurüd. 
Nichts bleibt mir zu wünſchen 
übrig, ala Gott laſſe Sie jo 
alt werben und jo gefund bleiben, 


ala 
Ihre Sie liebenbe 
im 81. Jahr noch immer lebhafte 
ihres Lebens Tante 
1814 b. 14. 8br. Johanna Maria Melber 


gebohrene Textor. Wittib. 
Gleich bem ruhigen Bach, der 
ſegnend bie Ufer benetzt, fliehe 
im Schoße bes Glücks Ihr Leben 


freudig bahin. 
Nehmen Sie Theuerfter bie: 
je wenigen Zeilen mit jo gu⸗ 
tem Herzen auf, als es mir 


Frankfurt, den 14. Vergnügen machen wirb, in 
October 1814. Hhrem gütigen Andenken zu 
ſeyn. 


Ihre Sie liebende Nichte 
Jacquette Melber. 


Die Eltern der vier Kinder, die wir als Beſuch in Winkel angetroffen 


haben — er: der älteſte Sohn von Peter Anton Brentano aus ſeiner zweiten 
Ehe mit Marimiliane von Laroche, fie: eine geborene Schröder, ſchreiben: 


und: 


Ihre freundliche Erfcheinung in 
meiner famille gab unferer 
unauslöfchlichen Verehrung 

das lieblichfte Bild, möchte es 

doch bald mwieber unter uns 

treten, möchten Sie doch bey 

Ihren im nächſten Jahr vorhabenden 
Wanderungen auf ben Taunus 

unfer Landhaus am Fuße beöfelben 
Zum Ruhepuntt wählen. 


Frankfurt d. 24. ber. 1814 


George Brentano Laroche. 


Meine Wünfche ſtimmen mit ben 
obigen zujammen, von Ihrer Güte 
hoffe ich, daß fie in Erfüllung gehen 
werben. 
Marie Brentano Laroche. 


360 Deutiche Rundſchau. 


Eine jüngere Schwefter des PVorigen: Marie Magdalena E. %. Brentano, 
gewöhnlich Meline genannt, war mit Georg F. von Guaita, und deren Tochter 
Ludovica mit Carl Jordi3 vermählt; diefem Familienkreis jchließt ſich die bereits 
erwähnte Charlotte Serviere an. Ihre Einträge lauten: 

Belieben Sie fi bey dem Namen bei 
unterzeichneten eines Ihrer aufrichtigften 
Derehrer zu erinnern. 
Frankfurt, d. 24 October 1314 
G. F. v. Guaita Brentano. 


Auch ich möchte nicht von 


Ihnen vergeflen werben. 


Meline v. Guaita 
Brentano. 


„Einen Kuß in Ehren 

Kann Niemand verwehren * 
Mir gab ber große Göthe drey, 
Wofür er hoc) geprieien ſey, 
Und fommt ex wieder über's Jahr, 
Grbitte id; mir noch ein Paar. 


Frankfurt d. 24 Sbr. 
1:14 


— v.v 


Möchte immer weiter ſchweifen, 
Weil dad Gute nicht mehr nah; 
Wollte gern dad Glüd ergreifen, 
Wär das Glück nur immer da! 

Iſt ein ſchöner Stern verſchwunden, 
Der uns mild und freundlich ſchien, 
Möchten gerne nach ihm ziehn, 

Doc es hält uns Zwang gebunden; 
Können nicht vom Schmerz gefunden, 
Weil nach fernem Gut wir greifen, 
Weil nicht alle Blüthen reifen. 

In der Ortichaft voller Mängel 
Treibt uns dann ein böfer Engel, 
Möchten immer weiter ſchweifen. 

Logik will nicht immer frommen, 
Ob uns glei die Schwefter lehrt, 
Dak nur fie den Sinn befehrt, 

Der im Schmerz fid) übernommen: 
„Mub doc Feder zu fich kommen, 
„Bleibt noch immer Hoffnung ba; 
„Was auch Trübfinn ſich erſah, 
„Wär’ es unrecht zu erzittern, 
„Zuft und Freud ſich zu verbittern, 
„Weil bad Gute nicht mehr nah.“ 


Ludowica Jordis 
Brentano. 


— — 


Wohl iſt es nicht ganz verſchwunden, 
Bleibt Erinnerung zurüd: 
Läßt fie und das Hohe Glüd 
Unvergeblich ſchöner Stunden! 
Hat bad Herz fie tief empfunden, 
Will es nicht mehr weiter jchweifen, 
Sieht die ſchönſte Blüthe reifen: 
Uns verjöhnt ein guter Engel 
Mit der Ortichaft voller Mängel; 
Wollen gern bad Glüd ergreifen. 

Hat fi; dann das Gerz ergeben 
In ein bittres Mikgeichid, 
Bleibt ihm doch ein ftilles Glüd 
In dem tiefen inneren Leben. 
Nur nad) einem will es ftreben, 
Das es tröftlich fich erſah: 
Mann dad Gute nicht mehr nah, 
Will es jehnen fih und bangen, 
Will es wünſchen und verlangen: 
Wär das Glüd nur immer ba! 

Franlkfurt den 26ten Sber 
1814 
Charlotte Serviere. 


Willemer's freundſchaftliche Beziehungen zu Goethe reichen über mehr als 
zwanzig Jahre in das verfloſſene Jahrhundert zurück; Düntzer vermuthet, daß er 
nad ſeiner erften Vermählung mit Marianne Magdalene Lang aus Berlin zurück— 


Etammbucblätter aus Goethe's Nachlaß. 861 


tehrend, am 22. Februar 1781 mit feiner jungen Frau bei dem Dichter in 
Weimar vorgefprochen habe. Der literarifch vieljeitig gebildete und jelbftthätige, 
für das Theaterweſen lebhaft intereffirte Mann war ein enthufiaftifcher Verehrer 
der Goethe'ſchen Mufe, aber erjt feine dritte Frau Marianne, geb. Jung, ver— 
mochte durch ihr bezaubernde Weſen und ihre Hohe Begabung den Dichter mit 
den Banden innigfter Freundſchaft an Willemer’3 Haus zu feffeln. 

Drei verheirathete Töchter erfter Ehe: Rofine (Rofette), Amalie (Dteline) 
und Marimiliane gehörten zu dem engeren Familienkreis, der fi) in den Sommer- 
monaten auf der Gerbermühle, einem der Stadt Frankfurt abgepacdhteten, eine 
halbe Stunde mainaufwärt3 gelegenen Beſitz zujammenfand. Beſonders die 
ältefte Tochter Rofette, verwittiwete Städel, war dem Dichter ſympathiſch durch 
ihr warmherziged, gediegenes Weſen, während auch fie fich in einer Aufzeichnung 
voller Begeifterung über den Eindrud äußert, den Goethe'3 perjönliche Bekannt: 
ihaft auf fie machte. „Den 18. September 1814. Tag mit Goethe auf der 
Gerbermühle.. Weld’ ein Mann, und welche Gefühle bewegen mi! Exit den 
Dann gejehen, den ich mir als einen fchroffen, unzugänglichen Tyrannen gedacht, 
und in ihm ein liebenswürdiges, jedem Eindrud offenes Gemüth gefunden, einen 
Mann, den man Eindlich lieben muß, dem man fich ganz vertrauen möchte.” — 

Willemer ſchreibt: 

Der Wein begeiſtert den Verſtand, 
Die Liebe das Herz, 
Goethe beide, 
laßt uns trinken, lieben, Goethes 
Werke lejen, und ihn fennen. 
Hranff. aM. d. 9, Dec. 1814. Willemer. 

Das reizende Gediht Mariannes, welches nun folgt, ift offenbar während 
Goethe's Anweſenheit in Frankfurt geichrieben. Es wird hier zum erften Male 
aus der Originalniederfchrift mitgetheilt, und die zierliche Handichrift ift zu klar auch 
in der Orts- und Zeitangabe, ala daß Creizenach's Bermuthung (in „Goethe und 
Marianne Willemer*), das Gedicht jei erſt nach Goethe’3 Abreiſe entftanden, 
noch ftatt haben könnte; auch jcheinen mir die Gründe für diefe Annahme durch— 
aus nicht jo zwingende: denn es ift wohl eine berechtigte Licenz, wenn Marianne, 
troß der Gegenwart de3 Freundes, die Vorftellung und das Gefühl dev bevor- 
ftehenden Trennung poetiſch präjumirt (in den drei lebten Verſen der zweiten 
Strophe): 

Zu ben Kleinen zähl ich mich, 
Liebe Kleine nennft Du mich; 
Willſt Du immer fo mich heißen, 
Werd ich ftetö mich glüdlich preifen. 
Bleibe gern mein Leben lang, 
Zang wie breit und breit wie lang. 


Als den Größten fennt man Did, 
Als den Beften ehrt man Dich, 
Sieht man Did, muß man Dich lieben, 
MWärft Du nur bei uns geblieben; 
Ohne Dich jcheint uns die Zeit 
Breit wie lang und lang wie breit. 


362 Deutihe Rundichau. 


In's Gedächtniß prägt’ ih Dich, 
An dem Herzen trag ich Dich, 
Nun möcht’ ich ber Gnade Gaben 
Auch noch gern im Stammbud; haben; 
Wär’ auch nur ben alten Sang: 
Zang wie breit und breit wie lang. 


Dod in Demuth ſchweige ich, 
Des Gedicht? erbarme Dich; 
Geh’ o Herr nicht in's Gerichte 
Mit bem ungereimten Wichte; 
Find es aud Barmherzigkeit 
Breit wie lang und lang wie breit. 
Frankfurt &M. 
b. 11 &ber 1814. Mariane Willemer geb. Jung. 

Zur Erklärung des Refrains in dem launigen Erguß jehreibt Creizenach: 
„Breit wie lang, lang wie breit“ war ein Lieblingsausdrud des Dichters; er 
fommt ſchon in den fiebenziger Jahren vor, in einer fpäter ausgeſchiedenen Scene 
des Jahrmarktsfeſtes zu Plunderöweilern, aber aud ein Epigramm aus dem 
Jahre 1815 ift überjchrieben „breit wie lang“. 

Der folgende Eintrag von Roſette Stäbel bezieht ſich auf die in Goethe's 
Gemeinschaft verlebte erſte Gedenkfeier des 18. October. Mit Glodenläuten 
und Ghorälen von den Thürmen ward ber feftlihe Tag begonnen, und jollte 
einer Anregung von Ernſt Mori Arndt zu Folge mit abendlichen Feuern auf 
ben Bergen beichlofjen werden. Goethe genoß das herrlide Schaufpiel in 
MWillemer’3 Familienkreis vom Weinbergtfurm am Haineriweg aus; Marianne 
hatte auf einer Karte die Freuerftellen mit rothen Pünktchen verzeichnet. 

Melde Gefühle mögen bei diejer Feier in der Bruft des Dichterd gewogt 
haben. In feinen Annalen von 1813 befennt er, wie er aus ber ihm unerquid=- 
lien politii den Spannung flüdhtend, fi) in das Studium des chineſiſchen 
Reiches vertieft habe, und gerade am Tage der Schlacht bei Leipzig jeinen Prolog 
zu Eifer dichtete. Als ein wunderbarer Zufall in ihm die Ahnung von Napoleon’s 
Sturz erwedte: ein eines Gipsmedaillonbild des Kaiſers war gerade am Schlacht- 
tage ohne erflärliche Urfadhe von feinem Nagel gefallen und dabei ein Stüd des 
Randes ausgeſprungen — bezeugte ex dem ſinkenden Heros noch feine Bewunderung 
durch die Umfchrift, welche er dem beſchädigten Reliefbilde gab: „Seilicet immenso 
superest ex nomine multum.“ (Bon Deinem unermeßnen Ruhm bleibt Großes 
noch beftehen.) Und jet jicht er ſich, nach Jahresfrift, durch die warme vatriotiiche 
Begeifterung ihm lieber Menſchen mit fortgeriffen in den Freudentaumel über 
den Sturz des Gewaltigen. 

Zur Erinnerung an dieje eier ſchrieb Roſette: 

So oft fortan die Feuerzeichen 

bes achtzehnten Octoberd dankbar 
zum Simmel lodern, gedenkt 

ein fleiner Kreis guter Menichen 
eine? undergeblichen Abends. 
Mögen doch auch Sie fich zumeilen 
wohlwollend jenes Abends erin: 
nern, und möge bann unter den 


Stammbuchblätter aus Goethes Nachlaß. 363 


Bildern, die fi Ihnen darftellen, 
da3 einer innigen Berehrerin 
nicht ganz verwiſcht fein, bie 

Sie früher bemunberte, nun 

aber lieben barf, und dieſe 
freude um feinen Preis hingäbe. 


Frankfurth Rosette Stadel 
den 9ten geb. Willemer. 
Dez. 1814. 


Den Schluß bilden Einträge ber beiden jüngeren Töchter Willemer’s: 
Wenn Frankfurts Freunde 
an Ihrer Erinnerung vorüber: 
eilen, jo ſchenken Sie auch 
einen Blid dem Namen 
ber Sie innigft verehrenden 


Frankfurt Meline Scharff 
d. 12ten Der. geb. Willemer. 
1814. 


— — 





Ein freundliches Geſicht 
erhielt ich vom großen Goethe 
für einen Honigluchen. 

Kann ſich doch Manches, 
bad ‚größere Gabe gege⸗ 
ben, befjen nicht rühmen. 

Mar. Anbreae 
Millemer. 

Das Album ift nicht weiter benußt worden, und jomit die große Mehrzahl 
ber Blätter unbejchrieben geblieben. Aber wenn man fie auch füllen wollte mit 
glei überſchwänglichen Ausdrüden von Bewunderung und Verehrung, wie bie 
meiften der vorliegenden Ginträge, jo wäre doch Alles nur ein ohnmächtiges 
Dankesftammeln gegen das gütige Geſchick, welches in Goethe’3 Genius dem 
deutſchen Cultur- und Geiftesleben einen unerihöpflichen Born der Schönheit 
und Wahrheit erichloffen. 





Zeitgenöſſtſche Gedankenftrömungen. 


Don 
Lady Blennerhaffett. 


— — ⸗ 


II. 

Zu wiederholten Malen und auf überzeugende Weiſe iſt ausgeführt worden, 
daß die Parole der großen Revolution, deren hundertjähriges Wiegenfeſt ſoeben 
begangen wurde, einen unlösbaren inneren Widerſpruch enthält, und daß Frei— 
heit und Gleichheit zwei Begriffe find, die fich weder vereinigen lafjen, nod in 
ihre vermeintliche Syntheje, die Brüderlichkeit, aufzulöjen pflegen. 

Aehnlich verhält es ſich merfwürdiger Werfe mit der neuen fittlichen Welt 
anſchauung, welche nad) jo Vieler Urtheil die alte Ordnung erjegen joll, und 
gleichfall3 zu ganz anderen als den erwarteten Kefultaten geführt Hat. Der 
Grundbegriff, auf welchem diefe alte Ordnung beruht, ift vor Allem diejer, daß das 
menjchliche Herz, von Natur aus zum Böfen geneigt, durch göttlich vorgefchriebene 
Geſetze ſchützend eingehemmt ift. Der Begriff der Sünde und einer zu fühnenden 
Schuld durchdringt und erklärt die ganze hriftliche Lehre von der Willenzfreiheit 
und der Gnade, der Erlöfung und Heiligung. Das Chriſtenthum hat diejen Be 
griff vorgefimden. Er liegt dem antiken Fatum zu Grunde, und der Yrrthum, 
als ob die älteften, uns befannten Religionen ihn nicht gefannt hätten, ift längit 
widerlegt worden. Neuere Forſcher bezeichnen die allmälige Entfaltung der 
Lehre von der Sünde als eines der wichtigften Ergebniffe, dad unter Anderen 
aus dem Studium der Hymnen des Rig-veda gewonnen tworden ift!). Aller: 
dings aber ift das ChriftenthHum eben diejenige Religion, welche ohne dieſe Lehre 
völlig unverftändlich bliebe, jo daß es mit Annahme oder Verwerfung derſelben 
fteht und fällt. Als das „Leben Jeſu“ von Renan erſchien, urtheilte über diejes 
Bud) ein feiner Geift: „Charakteriftiich für diefe Analyie des Chriftenthums ift 
e3 vor Allem, daß die Sünde dabei gar feine Rolle fpielt. Und doch wäre es am 
Platz geweſen, einer Religion eine religiöfe Deutung zu geben und dem centralen 


1) Max Müller, History of ancient Sanskrit Literature. 'Second edition, 1859, 
p. 540 segq. 


Zeitgenöffifche Gedantenftrömungen. 365 


Problem nicht gefliffentlich aus dem Wege zu gehen.“ Im innigften Zujammen- 
bang mit diefem Glauben an die geftörte Harmonie zwiſchen dem Schöpfer und 
feinem Gefhöpf und eben dadurch zwijchen dem Menſchen und ber ihn um- 
gebenden Natur fteht die Lehre von der Sühne und Buße, der entfchlofiene Ver— 
zicht auf jo Vieles, das allein dem gewöhnlichen Menjchen wichtig und begehrens- 
werth ericheint, die Verherrlihung der Armuth, des Gehorfams, der Demuth, 
die Verklärung des Schmerzes. Solde, die da8 Weſen des Chriftenthums ent- 
tweder gar nicht oder doch nur höchſt unvollkommen verftehen, haben ihm oft 
genug zum Vorwurf gemacht, daß e3 das Leben verbüftert und die Leiftungs- 
fähigfeit beeinträchtigt habe. Die Prüfung der Thatſachen und die Ergebniffe 
der Erfahrung würden fie bald davon überzeugen, daß das gerade Gegentheil 
davon der Wahrheit viel näher kommt. Ja, es darf geradezu behauptet werben, 
daß Denjenigen, die dem chriſtlichen Ideal am Nächſten ftehen, eine trübe und 
vejfimiftiiche Deutung des Lebens durchaus fremd geblieben ift. Sie, die ihr 
Leben al3 eine Pilgerfahrt betrachteten, die fie auf dornigen und gefahrbrohenden 
Pfaden ‚duch die Wüfte diefer Melt hindurch der beſſeren Heimath zuführen 
jollte, haben in der Vollftändigfeit diefer Entfagung den Frieden ihrer Seele 
gefunden. Wie ein Verfühnungsgruß an die erlöfte Kreatur dringt der Sonnen- 
gefang de3 heiligen Franz von Aſſiſi durch die Jahrhunderte. Im gleichen Licht, 
geführt von ihr, in der ſich ihm ber höchſte Begriff der Liebe darftellt, Hat 
Dante’3 zornige Seele verzeihen gelernt. Ein anderer geborener Peſſimiſt wie 
Dante, Blaiſe Pascal, der fi, jchon todkrank, den härenen Gürtel um bie 
Hüften preßte, um für die Verirrungen eines Lebens zu büßen, das wir heilig 
nennen würden, hat unter dem gleichen Einfluß de3 ChriftenthHums die Worte 
niedergejchrieben: „Niemand ift glücklich, al3 der wahre Chrift, Niemand ver: 
nünftig, gut und liebenswerth wie ex.” Aber freilich theilt Pascal die Anficht 
feines Lehrers Saint-Cyran, „daß die Ehriften, jo zu jagen, nur eine Handvoll 
Leute find,” daß zu allen Zeiten da3 Chriftenthum viel weniger herrichte und 
fiegte, al es den Anjchein Hat. Nicht hundert Jahre waren nad) dem Zod von 
Pascal verftrien, als das achtzehnte Jahrhundert fein Heil in einer Welt- 
anſchauung juchte, die im diametralen Gegenfaß zu den chriftlichen Ideen ftand. 
„Es ift Alles gut; jorgt, daß Alles beſſer werde;” im diefe Worte läßt ſich der 
Optimismus von Voltaire zufammenfaffen, ber übrigens die Chimäre hakte und 
icharffichtig genug war, wenn die Leidenſchaft nicht mitſprach. So in den Verſen, 
die, gegen Shaftesbury und feine Schule gerichtet, durchaus peifimiftifch gefärbt find: 
„Ainsi du monde entier tous les membres gemissent 
Nés tous pour les tourments, l’un par l’autre ils perissent: 


Et vous composerez, dans ce chaos fatal, 
Des malheurs de chaque ötre un bonheur general!“ 


Dder wenn er in die Worte ausbrah: „Wie das ewige Leben beichaffen ift, 
weiß ich nicht; dieſes aber ift ein ſchlechter Spaß.“ 

Aus diefer Welt, die Voltaire einen jchlehten Spaß nannte, eine Stätte 
de3 Wohlergehen: und des Genuffes zu machen, ift fortan die Aufgabe der 
materialiftiichen Doctrinen. Sie wachſen und gedeihen in einer Atmojphäre 
ipottender Negation, die Leifing 1751 zur Neuerung veranlaßt: „Es wird eine 


366 Deutiche Rundſchau. 


andere Zeit fommen, und es wäre jchade, wenn fie nicht fommen jollte, da es 
der Wohlanſtändigkeit gemäß fein wird, ein guter Chrift zu beißen, jo wie es 
jet die Artigkeit erfordert, ſich für nichts Schlechteres als einen Atheiften, jo 
lange man gejund ift, halten zu laſſen.“ Die Generation, über welde Leifing 
fo urtheilte, erklärt die Revolution und bereitete fie vor. Gedankenarm und 
innerlich erſchöpft, war fie nicht mehr fähig zur That. Dieſe blieb dem durch leiden- 
ſchaftliche Rhetorik vermittelten Fanatismus überlaſſen. Seine Lehre, nach welcher 
der natürliche Menſch glücklich und gut und die Gejellichaft für alles Uebel ver- 
antwortlich ift; die das Individuum freifpricht und die AInftitutionen belaftet, 
die den materiellen Fortſchritt der Raſſe mit dem moralifchen Yortichritt des 
einzelnen Menjchen verwechielt und das ganze Problem, ftatt in die Tiefe der 
Seele, nad) Außen verlegt, dieje Lehre ift jelbft die Revolution. Mit Shakeſpeare's 
Edmund jpricht auch fie: 

Thou, Nature, art my Goddess; to thy law 

My services are bound. 

Im Anflug an diejes Naturevangelium wurde der Menjchheit die Ausſicht 
auf ungeahnte Erfolge, ungezählte Güter, auf Ueberiwindung des Schmerzes, der 
Krankheit, ja ſelbſt des Todes eröffnet. Niemals ſchien das irdiſche Millenium 
fo nahe, die Herrſchaft des Optimismus fefter begründet. 

Der Sturm fam. Als er fich verzogen hatte, zeigte das Bild ſich völlig 
verändert. An der Schwelle des neuen Jahrhunderts, des unfrigen, fteht „Rene, 
der Werther nad) der Revolution,“ leidenſchaftlich, einſam, enttäufcht, ein Kind 
des Zweifel und verzweifelnd wie diefer. Wehe der Frau, die ihn liebt, denn 
jein Schmerz ift unheilbar, und der Beweis feiner Größe ıft ihm eben in diejer 
Unfähigkeit, fich zu tröften, gegeben. Man hat „Rense“ das Sterbelied einer ver- 
ſchwindenden Gulturepoche genannt. Allein er, der nie Vater fein wollte, ift 
vielmehr der geiftige Ahnherr einer ganzen poetifchen Generation geworden. 
Manfred und Lara, Lelia und Jacques, Adolphe und Rolla, Shelley, Heine, 
Lenau und wie fie Alle heißen, die großen Enttäufchten, ex kann fie nicht ver- 
leugnen. Denn Züge von ihm Haben fie Alle entlehnt, felbft der fromm 
refignirte Lamartine in einigen feiner Meditationen, in der berühmten Stelle 
unter Anderem: 

Quel crime avons-nous fait pour meriter de naitre? 
L’insensible neant t’a-t-il demandé l’ötre, 
Ou l'a⸗t· il accepte? 
Sommes-nous, ö hasard, l’oeuvre de tes caprices? 
Ou plutöt, Dieu cruel, fallait-il nos supplices 
Pour ta felicite ? 

Biel tiefer als diefe Schwermuth greift der tragifche Peifimismus von Leo- 
pardi, deſſen unfterbliche Klage in Aller Erinnerung ift, der dem trüben Be: 
tenntniß der antiken Welt, e3 fei eine Gnade der Götter, jung zu fterben oder 
nicht geboren zu werden, die moderne Faſſung gegeben bat: 

Mai non veder la luce 
Era, credo, il miglior. 

Ale dieje Aeußerungen bewahren jedoch das Gepräge einer rein perjönlichen, 

oft auch jehr vorübergehenden Empfindung. Sie find nicht frei von krankhafter 


Zeitgenöffiiche Gedantenftrömungen. 367 


Erregung und jubjectiver Laune. Der Peifimift Hobbes gefällt fi in politiichen 
Paradoren und reagirt gegen ben Mißbrauch, der mit Formeln und Theorien 
getrieben worden ift. Larochefoucauld, alt und grämlich geworden, verwirft den 
Genuß, nachdem er ihn erichöpft hat, und verallgemeinert die Züge des Höflings 
zum Begriff des Menſchen überhaupt. Byron hat die Gejellichaft herausgefordert ; 
er ift ein Empörter, vielmehr al3 ein Verzweifelter. Dem größten der engliichen 
fatyrifhen Dichter, Thaderay, fehlt es an verjöhnenden Zügen und Lichtblicen 
in das Menſchendaſein nit. Zum feften Syftem und zur abgeichloffenen Theorie 
wird ber moderne Peſſimismus erft dann, als ihm Schopenhauer die philoſophiſche, 
die neue Entwicklungslehre die wiſſenſchaftliche Grundlage verleihen. Eindringlich, 
aber in den meiften der Fälle, die hier in Betracht kommen, auch völlig vergebens, 
ift eingewendet worden, daß die Doctrinen von Schopenhauer feine andere ala 
eine lediglich jubjective Wahrheit beanjpruchen können, daß ex jelbft, der fie lehrte, 
fie durchaus nicht geübt hat, daß fie ich theils auf perfönliche Exlebniffe, theils 
auf phyfiiche Urſachen zurüdführen laffen und die tägliche Erfahrung den meiften 
feiner Behauptungen aufs Schroffite widerſpricht. Ebenſo hat man von berufener 
Seite entgegnet, daß, wie auch hier Schon betont, alle Entdeckungen auf naturwifjen- 
Ichaftlichem Gebiete die ewigen Probleme des Menſchenlebens, die ragen nad) 
dem Ziel und Ende, unangetaftet lafjen; daß es ganz unberechtigt ift, die dort 
getvonnenen Refultate auf die moralijche Welt zu übertragen, und ber bloße Ver: 
fuch, es zu thun, die Verwirrung ind Unendliche fteigern würde. 

Die Verwirrung ift da, und zunächſt ift es an der Literatur, uns zu jagen, 
welche Verheerungen fie auf ihrem Gebiete angerichtet hat. Dieje find jelbit- 
verftändlich nad) den äußeren Einflüffen und nationalen Eriftenzbedingungen jehr 
verichieden, und von diefen ausgehend, kann es faum Wunder nehmen, daß e3 
die Franzoſen find, die ih am Stärkjten von der pejfimiftiichen Strömung 
tingirt zeigen. Die Namen Sully-Prudhomme, Leconte de Lisle, Jules Lemaitre, 
Paul Bourget braucht man nur zu nennen, um Beiſpiele einer büfteren, ver— 
ftimmten, nicht jelten bis zur herausfordernden Verzweiflung ſich fteigernden 
Lebensanſchauung zu gewinnen. Die Klage wiederholt ſich jo beftändig, daf fie 
faft monoton Elingt. So ſchließt ein Sonnet der „Poömes tragiques* von 
Leconte de Liöle, an einen todten Dichter gerichtet, mit den Worten: 

Que ton siecle banal t'oublie ou te renomme, 
Moi, je t'envie, au fond du tombeau calme et noir, 
D’ötre affranchi de vivre et de ne plus savoir 
La honte de penser et l’horreur d’ötre un homme. 

Gegen den Willen zum Leben des deutjchen Verkünders des Peſſimismus find 

die Zeilen von Sully-Prudhomme gerichtet: 
Reste dans l’empire innomm& du possible, 
O fils le plus aime qui ne naitras jamais .... · .. 

Das allermerkftwürdigite Phänomen auf diefem Gebiete ift jedoch eine Frau, 
Madame Louife Adermann. Die äußeren Greignifje ihres Lebens Hat fie in 
ſchlichten Worten jelbft erzählt. Am Jahre 1813 als das Kind von Pariſer 
Bürgersleuten geboren, war fie die ältefte von drei Schweftern. Auf dem Lande, 
wohin ihre Eltern fich zurückgezogen hatten, durchlebte fie eine freudenloje Jugend, 
zwifchen dem Vater, der Voltairianer war, und der Mutter, die fich langweilte 


368 Deutihe Rundihau. 


und in die Stadt zurüdjehnte. In diefer Exiſtenz waren Bücher die einzigen 
Erlebniffe. Sie wurden unterſcheidungslos gelefen und erzeugten eine ſchwer— 
müthige, aber au ſchwärmeriſche Stimmung. Co entftanden die erften Verſe, 
die den Beifall von Victor Hugo fanden, während die Mutter fi) dem berufs- 
mäßigen Schriftitellerthum auf das Nachdrücklichſte widerſetzte. Doch gab fie 
nad dem Tode ded Vaters der Tochter die Erlaubniß zu einem längeren Aufent- 
halt ın Berlin, wo Louiſe 1838 in eine Mädchenerziehungsanftalt trat, die 
unter de3 Director? Schubart Leitung fand. Nah einem Jahr kehrte die 
fünfundzwanzigiährige Franzöfin „volftändig germanifirt“ und mit Heimweh 
nad) dem deutjchen Norden im Herzen nad Paris zurüd, wo bald darauf die 
Mutter ſtarb. E3 blieb die Wahl zwijchen dem Zujammenleben mit einer älteren 
Schweſter und der Rückkehr nad Berlin, denn fie bezeichnet ſich als „außer: 
ordentlich vorfihtig im Handeln, bei aller Verwegenheit in der philojophifchen 
Speculation,” und allein ftehen wollte fie in ihren jüngeren Jahren nicht. Sie 
entichied ich für die Rückkehr nad) Deutjchland. In Berlin, in der familie 
Schubart, Hatte fie einen Landsmann, Paul Adermann, kennen gelernt, der den 
ihm beftimmt geweſenen theologischen Beruf aufgab, al3 er zur Erkenntniß 
fam, daß er aufgehört Hatte, ein Chrift zu fein. 

Nach und nad flößte ihm das jcheue, ernfte und in ſich gefehrte Mädchen 
eine Leidenſchaft ein, die Louife nicht den Muth Hatte, zurückzuweiſen. „So wie 
ich angelegt war,“ jagt fie, „konnte die Ehe für mich nur ausgeſucht unglücklich 
oder ausgefucht glücdlich jein.” Das Lebtere traf zu. Sie gab fid) ganz ihrem 
Manne Hin, opferte jeinen philologiichen Studien ihre perfönlichen Liebhabereien, 
verkehrte mit U. von Humboldt, Varnhagen, Böckh, Johannes Müller, und ver- 
rieth ihrem Manne nie, daß fie eine Er-Mufe ſei, „um feine Achtung nicht 
zu verlieren.” Nach zwei Jahren ſchon ward dieſem kurzen, tiefen Glüd ein 
Ende bereitet, indem Paul Adermann vierunddreigigjährig zu Montbeliard in 
feiner burgundiſchen Heimath ftarb. Das geihah im Jahre 1846, und von 
ferneren Erlebniffen hat Madame Adermann nicht? zu berichten. Sie zog fid 
nad Nizza zurück, deſſen wunderbare Naturbilder ihren erften Schmerz davor 
bewahrten, in Verzweiflung zu enden. Die Zeit brachte langjame Heilumg. 
Madame Adermann erwarb ein altes, verlafjenes Dominicanerklofter, hoch auf 
dem Hügel gelegen, verjah es mit einem Ausfichtsthurm, ſchuf wohnliche Räume 
und bebaute jhöne Gärten und Felder. Dann erwachte dad Bedürfnig nad 
geiftigen nterefjen wieder, und Bücher, Zeitungen und Revuen aus allen Ländern 
bevölferten ihre Einſamkeit. Sie war vierzig Jahre alt, als altfranzöfifche Ge 
dichte und indifche Legenden auch bei ihr die Luft zu veimen wieder anregten. 
Es entjtanden Erzählungen, deren Inhalt das jelige Glüd in heiteren, ja launigen 
Verſen ſchildert. „Ich bin nit aus einem Stück,“ jagt die Verfaſſerin, 
„Witz und Humor finden Widerhall bei mir.“ Doc machten die jpätgeborenen 
Kinder ihr bang, als jähe fie die Ruhe des Alters durch fie bedroht. Gleich— 
zeitig verfolgte fie aber mit höchftem Antheil die Arbeiten der modernen Wiflen- 
ihaft, „die Evolutionstheorie und die Lehre von der Umfehung der Kraft, die 
mit den pantheiftiichen Tendenzen meines Geiftes völlig in Einklang find.“ Auf 
diefem Boden gediehen die poetiichen Blüthen der ſpäteren Jahre. 


Zeitgenöffiiche Gebantenftrömungen. 369 


Verſchiedene Verſuche von Freunden, einzelne Gedichte von Madame Ader- 
mann zur Geltung zu bringen, waren an der Gleichgültigkeit des Publicums 
oder an den Bedenken von Verlegern und Redacteuren gejcheitert. Erſt nachdem 
fie die pejfimiftiiche Note angeichlagen hatte, drang fie durd). 

Welcher Art diefer Peſſimismus ift, mögen folgende Beiſpiele darthun. Das 
erftere ift einem längeren Gedicht „L’amour et la mort“ entlehnt, in welchem, 
in Verſen von unzweifelhafter Schönheit, vor dem Vernichtungswerk gewarnt 
wird, da3 im ewigen Kreislauf zwiſchen Lieben und Sterben ſich wiederholt: 

Ces delires sacres, ces désirs sans mesure, 
Deöchaines dans vos flancs comme d’ardents essaims, 
Ces transports, c'est d&jä I’humanite future, 

(Qui s’agite en vos seins. 

Die zweite Strophe ift einem poetijchen Dialog zwiichen der Natur und dem 
Menichen entlehnt. Raftlos Schafft und zerftört fie, zerichlägt immer wieder die 
Form, vernichtet unaufhörlich, um unaufhörlich wieder Hervorzubringen und das 
Hervorgebrachte zu vertverfen, bis endlich der Jdealtypus, der Sohn der Zukunft, 
entftehen wird, der von Anfang an ihrem geheimen Wirken vorgeſchwebt hat: 

De toute &ternite, certitude sublime! 

ll est congu; mes flancs l’ont senti s’agiter. 

L’amour qui couve en moi, l’amour que je comprime, 
N’attend que Lui pour &clater. 

Der Menſch aber verwirft die Kraft, die nur den Tod gebiert. Ich muß 
zu Grunde gehen, erwidert er; der Sohn aber, von dem Du träumft, Natur, 
wird niemals geboren werden: 

Sois maudite, ô marätre! en tes oeuvres immenses, 
Oui, maudite à ta source et dans tes éléments 
Pour tous tes abandons, tes oublis, tes dömences, 
Aussi pour tes avortements! 


Madame Adermann verwahrt fich dagegen, al3 ob die deutſche Philojophie 
von bejtimmendem Einfluß auf ihr Denken und Dichten geweſen wäre, und ver— 
weift auf Jugendarbeiten, welchen bereit3 dieje düftere Färbung eigen ift. „Meine 
perfönlihen Schickſale,“ fügt fie andererjeit3 Hinzu, „rechtfertigen meine Klagen 
und Verwünſchungen ebenſowenig. Die großen Kämpfe, die bitteren Ent— 
täufchungen find mir erjpart geblieben. Im Ganzen genommen tar mein 
Dafein angenehm, friedlih und unabhängig. Das Schickſal hat mir gegeben, 
{a3 ih am Dringenditen begehrte, Muße und Freiheit. Die jüngften Ergebniffe 
der Wiſſenſchaft haben mich nicht zu erjchüttern vermodt. Ich war auf fie 
vorbereitet, ja ich habe fie erwartet." Mean hat es aljo Hier, wenn auch nicht 
ausichliehlich, jo doc) vorwiegend mit einem theoretiichen Peſſimismus zu thun, 
dem das geſammte menschliche Gejchlecht ala der Held eines furchtbaren Drama's 
erfcheint. Der „Haß gegen das Ghriftenthum,“ von weldem am Schluß der 
Biographie die Rede ift umd den übrigens die Dihtung mit genügender Klarheit 
enthüllt, wird dadurch motivixt, daß es das Elend des Daſeins durch den Ver— 
ſuch ins Unendliche gefteigert hat, es durch das Eingreifen einer göttlichen Laune 
zu erklären. Diejer Auffaffung entjpricht denn auch ein längeres Gedicht, eine 
Art von Herausforderung an Pascal, da die Grenze des Könnens von Madame 
Adermann bezeichnet. Wie in der Hand von Voltaire, wie in der von Gondorcet, 

Deutihe Rundigau. XVI, 9. 94 


370 | Deutiche Rundſchau. 


zerjplittert auch in der ihrigen der kalte, ſpröde Stahl der Negation an der Bruft 
des Athleten. Wohl nicht nur befümmert, jondern auch verdroſſen jcheibet der 
Lefer von diefen Blättern, die ſich durch Auszüge aus dichteriſchen Erzeugnifien 
des modernen Frankreich nad) Bedarf verlängern ließen. Zweckdienlicher dürfte 
e3 fein, ihnen das Stück englifcher Proja gegenüberzuftellen, da3 einem der Wort- 
führer der englifchen Demokratie entlehnt und von einem ähnlichen Geift bejeelt ift: 

„Denkbar ift es,“ ſchreibt Mr. Morley, „dab die Welt von einem Weſen gejchaffen wurbe, 
das nicht gut, nicht barmberzig, nicht wohlwollend, nicht gerecht ift, ein Weſen, das fein befieres 
Unrecht auf unfere Verehrung befipt, ald es etwa Francesco Genci auf bie Liebe feiner unglüd: 
lichen Kinder zufam. Warum nicht? Der Sittlichfeitäbegriff gilt für das Verhalten und die 
Beziehungen menjchlicher Weſen und für diefe allein. Wir können nicht willen, noch läßt fih 
überhaupt leicht begreifen, wie die Principien, bie für die Facta focialer Beziehungen maßgebend 
find, beöwegen auch dazu geeignet fein jollen, bie Bewegungen eines Demiurgos zu beftimmen 
ober zu erklären, in deſſen hohler Hand bie gefammte Weltordbnung geborgen liegt“ }). 

Vorübergehend jei hier erwähnt, da für den Verfafjer obiger Zeilen der 
göttliche Demiurg überhaupt nicht exiftirt. Von feinem Standpunft aus ift das 
auch kaum ala Verluſt zu erachten. Ein „Messer’ Cenei*, mit unbejchränften 
Vollmachten auf einem Wolkenthron fitend, ift nicht gerade einladend. Wichtiger 
ift für und die Wahrnehmung, daß der naturaliftiihen Auffaffung bei Morley 
die determiniftiiche zur Seite geht und die Lehre vom freien Willen ala „that 
fählich jeden Sinnes entbehrend“ genannt wird. Merkwürdiger Weiſe ift die 
Vertheidigung diefer Theje nicht etwa in die Hände zeitgenöjfiiher Poſitiviſten, 
fondern in die des Baron Holbach gelegt, dem das jeltene Glüd widerfährt, ganz 
bejonder3 wegen der muthigen und untiderftehlichen Logik feiner Argumentation 
gepriejen zu werden. Die Argumentation von Holbad) ift aber folgende: 

„Es befteht keinerlei Unterfchied zwifchen dem Mann, ber fich zum Fenſter Hinauswirft und 
dem Mann, ben ich Hinauswerfe, feiner, wenn nicht biefer: daß ber Impuls, der auf bem zweiten 
einwirkt, von außen ber auf ihn einbringt, und daß ber Impuls, ber ben Fall des erften ver 
anlakt, aus dem Inneren feines eigenen Mechaniamus fommt. Es handelt fi nur darum, bis 
zum Motiv hindurchzudringen; und e8 wird fich ausnahmslos erweifen, daß das Motiv auker 
halb der Macht und Möglichkeit des Hanbelnden Liegt“ ?). 

Der ſchon genannte engliſche Schriftfteller, Mr. Lilly, der die Bekämpfung 
folder und ähnlicher Anſichten al3 eine feiner Verpflichtungen betrachtet, umd 
für deſſen, von chriſtlichen Anſchauungen getragene, Ethik die Willenslehre jelbft- 
verftändlich grundlegend bleibt, begnügt fich, in Bezug auf Baron Holbad, dem 
übellaunigen, kurz angebundenen und ehrlichen Dr. Johnſon das Wort zu laſſen: 
„Sit, wir wifjen, daß unfer Wille frei ift, und damit iſt die Sadje aus.” 

Auf die künſtleriſche Production, nicht nur in England, jondern auf 
im engliſch ſprechenden Amerika, ift der Einfluß folder Anſchauungen glücklicher 
Weiſe für die Kunſt ein jehr beichränkter geblieben. Mlgernon Swinburne, der 
ih al3 Schüler von Victor Hugo befennt, und in Bezug auf Formenreichthum, 
ſprachliche Schönheit und phantaftifche Geftaltungsgabe manchen verwandten Zug 
mit ihm gemein hat, ift längft der Sturm- und Drangzeit feiner Jugend ent- 
wachſen, und wo der Zweifel am Beſtehen einer idealen Welt de8 Guten ihn 


') John Morley über 3. St. Mill, Fortnightly Review, XXIII, 122. 
*) J. Morley, Diderot, Bd. II, ©. 178. 


Zeitgenöffiiche Gedantenftrömungen. 371 


noch beherrſcht, gereicht e3 feinem Werk nicht zum Heil. Swinburne iſt nicht 
der einzige, aber er ift ganz gewiß der größte und begabtefte der engliſchen Dichter 
feiner Sinneart, und was ihm nicht gelang, ift auf engliſchem Boden keinem 
Anderen geglückt. Dagegen hat ein Amerikaner es verſucht und feinem Eintritt 
in bie Deffentlichkeit leuchteten günftige Sterne. „Unfer literariicher Banquier“, 
wie Emerfon von einem Landmann jehr bezeichnend genannt wird, jtellte dem 
Poeten, den er entdeckt zu haben fi rühmte, einen Wechjel auf die Anerkennung 
der Mit- und Nachwelt aus, der dem erften Werk desjelben, „Leaves of Grass“, 
raſch eine neue Auflage verschaffte. Am jo mehr als Walt Whitman, fo hieß 
der Verfaſſer, das Lob de3 erften lebenden amerifanijchen Kritikers feinen „Gras— 
halmen“ voranftellte. Emerjon hatte ihm einen Privatbrief gejchrieben und war 
etwas betroffen, al3 er jah, welcher Gebrauch davon gemacht worden war. Mit Walt 
MWhitmann ſchien das Ideal von Rouffeau verwirklicht, die Bildung überwunden, 
die Cultur verworfen, die Rückkehr zum Naturzuftande wenigſtens angebahnt. 
Der amerikanische Biograph von Walt Whitman fand ihn in den letzten fünfziger 
Jahren in der Nähe einer Art von Hütte im Gra3 bei einer Temperatur von 
100° auf dem Rüden in der Sonne liegen. Er trug Arbeiterfleider und ver- 
fiherte jeinem Beſucher, in diefer Stellung und bei ähnlicher Hibe verfafje er 
feine beften Gedichte. Bücher habe er nicht, mit Ausnahme der Bibel und 
Shafefpeare'3; über die Durcchichnittserziehung jedes Bürgers der amerikaniſchen 
Staaten jei er nie hinausgedrungen. Als jeine beiden Studierpläße hezeichnete 
er ein verlaffenes Eiland im Ocean, das er oft beſuchte, und die Dede der 
Omnibuswagen in New-York. Der Biograph, dem wir dieſe Einzelheiten verdanken, 
jcheint dieje Angaben bezweifelt, dann geprüft zu haben, denn er verweift ausdrück— 
lic) darauf, daß ein jehr bedeutender Mann, Quäfer und Prediger feiner Gemeinde 
in New-York, großen Einfluß auf die Entwicdlung von Walt Whitman gehabt 
habe. Auch [a3 diefer viel mehr, als er eingeftand, und war zuerit Seßer, dann 
Zimmermann, aber auch Zeitungsredacteur, „der größte Demokrat, den die Welt 
je gejehen hat,“ wie abermals ein Amerikaner, Henry Thoreau, ſich ausdrüdt. 
Mean hatte e3 alſo Hier mit einem mehr fünftlichen al3 echten Wilden zu thun, 
einem Original immerhin, und einem, der fi rühmte, „prächtig mit Waſſer 
und Brot zu leben.“ Was nun feine Dichtungen betrifft, jo lautet das Urtheil 
über fie dahin, daß fie die Bibel an Ungeſchminktheit des Ausdrucks übertreffen, 
daß ein priapifcher Zug fie durchdringt, und empfindliche Leſer wohl daran thun 
werben, fich die Nafe zuzuhalten, weil der Verfafjer fich nicht ſcheut, den Kehricht 
im Empfangszimmer auszuſchütten, um zu beweifen, daß aud darin die chemischen 
Geſetze fortarbeiten. „Walt Whitman ift freier mit feiner Feder als Montaigne, 
einfach ſinnlich, ala wenn die Thiere ſprächen.“ 

Er bat noch einen anderen Punkt der llebereinftimmung mit Montaigne, 
von dem Pascal ausdrücdlich jagt, „er jei der Vermittler einer gewaltigen Ver— 
geltung.“ Denn feine Lehre hat „ben Menſchen vom Verkehr mit Gott, zu dem 
er fich durch die Schwachen Kräfte feines Verftandes hat erheben wollen, in den 
Zuftand des Thieres zurücgetvorfen.“ Montaigne ift aber aud) einer der nach— 
drüclichften Verkünder des „Ich“, fein eigener Prophet. Der Held feiner Schriften 
ift er jelbft, und auf ihn führen alle Memoiren und Dentwürdigkeiten, alle Auto— 

24* 


372 Deutſche Rundichau. 


biographien und Belenntniffe zurück, in welchen jeit Rouffeau die Vergötterung 
der Perjönlichkeit verfucht worden ift. Nah Göthe, nah Byron, nad Chateau: 
briand, nad) Yamartine, nad George Sand, hat auch Walt Whitman „ſich“ erzählt. 
Don den neuntaufend Zeilen, aus melden „die Grashalme” beftehen, — Berie 
fann man fie nicht nennen, denn fie befiten weder Wohlklang noch Rhythmus — 
ift eine beträchtliche Anzahl der Selbftverherrlihung gewidmet. Sie hat ihn 
auch fpäter zu wirklichen Verſen begeiftert, und es ſoll nicht verjchtwiegen werden, 
daß ein Kritiker wie Dowden Walt Whitman „einen großen, lebenden Dichter“ 
nennt. Er jelbft hat einer Ausgabe der „Grashalme” die Abjchrift der Kritik 
vorausgeſchickt, die ihn „größer als Tennyfon“ bezeichnet, und es war fein Chr 
geiz, die Dichtkunft feines Heimathlandes neu zu jchaffen. Der Secejfionstrieg 
beeinflußte übrigens nicht nur fein Werk, fondern auch feine äußere Lebens- 
lage. Er verwerthete jeine perſönliche Macht über die Menjchen in der edelften 
Weiſe, ala Pfleger der Verwundeten, fang feinem freunde, Abraham Lincoln, die 
Todtenflage, und wurde nad Wiederherftellung des Friedens Glerk bei der innern 
Verwaltung. Zwar gelang e3 einem Stellenjäger, Walt Whitman dadurd aus 
der feinigen zu verdrängen, daß er feinem Vorgeſetzten ausgefuchte Stellen aus 
den „Grashalmen“ unterbreitete. Dies hatte die Entlaffung des Dichters zur 
Folge, die übrigens von kurzer Dauer war. Als Bibliothefar des Congreſſes 
bat Walt Whitman 1869 wahr genug der Convention für Socialwifjenidaften 
ala höchſtes Kriterium eines Buches die Frage bezeichnet: „Hat e3 einer Menſchen— 
jeele geholfen?“ ) Iſt fein eigenes Werk nad) diefem Maßſtab zu bemefjen, dann 
möge der Leſer entjcheiden, ob jpätere Erzeugniffe des Dichters für die entſetzlichen 
„Grashalme“ entjchädigen. 

In Bezug auf die deutfche oder die in Deutfchland heimiſch getwordene 
dichteriiche Production würde unter anderen eine Studie über Ibſen ſolche Be 
tradhtungen fördern. Eine weitere Trage wäre die, welchen Einfluß die modernen 
Geiftesftrömungen auf den Idealismus der Dichtung von Paul Heyje gehabt 
haben. Allein derartige Probleme können nicht vorübergehend geftreift werden 
und mögen einer anderen Gelegenheit vorbehalten jein. 

Derjenige unter den deutjchen Künſtlern der nicht nur im eigenen Lande, 
jondern weit über jeine Grenzen hinaus in der ganzen civilifirten Melt die größte 
Macht ausgeübt hat, ift in der zweiten Hälfte diejes Jahrhunderts unzweifelhaft 
Richard Wagner. Viel ift über den Zuſammenhang der Philojophie von 
Schopenhauer mit der Kunſt von Rihard Wagner gejchrieben und verhandelt 
und auch diejes oft erzählt worden, wie durch eine fonderbare Ironie des Schid- 
jal3 der Buddha in Frankfurt es nie über fich vermocht Habe, den Zönen zu 
laujchen, die al3 finnesverwandt mit feiner Gedankenarbeit ihm entgegenjchlugen. 
Daß aber dennod ein ſolcher Zuſammenhang befteht, joll um jo weniger be 
zweifelt werden, al3 aud in Schopenhauer ein Künftler lebte, der in Haffiider 
Formvollendung und in feiner Weife zum dramatijchen Effect gelangt, zur Götter: 
dämmerung eines hoffnungslos ringenden, ewig auf fich jelbft geftellten Geſchlechtes. 
Was aber hat die lichte Geftalt von Lohengrin, was Eliſabeth's verſöhnenden 


1) Whitman, Democratic Vistas, 67. 


Zeitgenöſſiſche Gebantenftrömungen. 373 


Schmerz um den Geliebten mit jolchen Anjchauungen gemein? ft etwa ber 
Treuerzauber der „Walküre“, ift der Knabenchor im „Parcival“ auf fie zurück— 
zuführen? Oder ift das „Mitleid“ eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, 
und hätte die höchſte Kunft jemals aufgehört, die höchſte Begeifterung zu fein? 

Die Wahrheit ift vielmehr diefe. Das Beſte, was in unjeren Tagen bie 
deutſche Kunft zu Teiften vermochte, ift dadurch erreicht tuorben, daß fie am Born 
der nationalen und religiöfen NMeberlieferungen ihrer eigenen Vergangenheit ſchöpfte. 
Es ift eine arge Verirrung der Begriffe, in Opernterten nach einer Theologie zu 
fuchen, und es ift auch feine da zu finden. Aber troß aller Schatten, von welchen 
Wagner's dichterifches Werk ftellenweife getrübt iſt, wird e3 dauern. Es fteht 
im Dienft des Graals. Und mit ihm die deutſche Kunft. Auch ihr ift es nicht 
eripart geblieben, an den öden Geftaden der jpottenden Verachtung, des Zweifels, 
der Verneinung umherzuirren und zu verfuchen, ob in dem unfruchtbaren Sande 
de3 Naturalismus und de3 modernen Epikuräerthums das Schöne ſich ver- 
wirklichen, Bleibendes ſich gewinnen laſſe. Sie wird doch ftet3 zum Ufer 
zurückkehren, 

„das Land ber Griechen mit ber Seele fuchend”. 

Und ftet3 wird fie es wieder finden. Denn ftammvermwandt find ihr die 
idealen Geftalten dieſer unfterblien Welt, und wer ihr die ethiſche Grundlage 
entziehen will, legt da3 Mefjer an ihren Lebensnerv. Der Tag, an dem fie aufhören 
wird, die Menſchen zu verbeffern und zu veredeln, wird ihr Sterbetag jein. 
Wenn e3 hierzu noch eine Beweiſes bedürfte, jo wäre er darin gegeben, daß 
diefe deutiche Kunft, was fie nicht ſoll, auch gar nicht kann. Sie befikt Ironie, 
Humor, fie verfteht auch zu fpotten, harmlos oder bitter, je nachdem. Aber e3 
gelingt ihr nicht oder ſchlecht, frivol zu fein, und einer gewilfen jubtilen und 
raffinirten Gorruption wiſſen weder ihre Sprache noch ihr Pinſel ſich zu fügen. 
Mo fie e8 verfucht, bringt fie nichts als ſchlechte Copien Hervor, und Deutjche 
holen fi, wenn das Bedürfniß nach derjelben vorliegt, eine ſolche Waare viel 
befjer im Ausland. Oder was würde man in Deutfchland jagen, wenn dort 
ein Autor etwa die fyftematische Verhöhnung des Alters, feiner Schwächen und Ge- 
brechen verſuchte, die Alphonfe Daudet im Roman „l’Immortel“ Tieferte. 
Um fi an der Akademie, die ihn nicht gewählt hatte, zu rächen, hat Daubet 
da3 weiße Haar des alten Aſtier-Réhu, der zudem eine Art von Porträtftudie 
ift und durchaus Hundert Jahre alt tverden will, ein paar hundert Seiten hin— 
durch dem Gelächter preiögegeben. Und in demjelben Buch figurirt eine Herzogin, 
die ganz eigens dazu erfunden jcheint, die Behauptung des hier oft genannten 
deutſchen Philojophen zu rechtfertigen, „ihm fer es gelungen, ‚der Dame‘ in der 
Literatur ein Ende zu machen“. Im Tall dies wirklich jo wäre, hätte er einen 
Pyrrhusſieg erfochten. Denn mit der „Dame“ droht die Jungfrau, die Gattin, 
die Mutter, die Matrone, au dem Bereich der Kunft zu verſchwinden, und mit 
ihnen der Prototyp alles deifen, was heilig ift auf Erden, denn: 

„Das Weib ift feufch in feinem tiefften Weſen, 
Und was die Scham ift, wei doch nur ein Weib!“ 

Auf dem feiner richtigen Deutung nach verftandenen Begriff der Dame 

beruhte und beruht auch heute no das Weſen edler, vornehmer Gejelligkeit, 


374 Deutiche Rundichau. 


deren charakteriftiicher Zug es ift, daß der Lurus und das Raffinement des modernen 
Genußlebens fie viel eher beeinträchtigt als fördert. Ober wer hätte jemals 
daran gedacht, die Geftalt von Eleonore von Efte aus der edlen Großartig- 
feit ihrer Umgebung in den neuzeitlichen Salon zu verjeßen, der heute einer 
japanischen Dtarktbude, morgen einer Menagerie gleicht? Wer dächte optimiftiich 
genug, um die europäijche Gejellichaft, deren Biographie „Graf Vaſſili“, und 
deren Satyre Sardou, Emile Augier und „Gyp“ geichrieben haben, mit jener anderen 
europäiſchen Gejellichaft zu vergleichen, in welcher die Wittwe von Condorcet 
und Frau von Staöl, Lady Jerjey, Rahel, die Herzogin von Duras, um unter jo 
vielen nur einige Namen zu nennen, meift in der einfachſten äußeren Umgebung 
für die Unterhaltung jorgten? Sie erreichten ihren Zweck, indem fie durch 
wechjelnden und geichmadvollen Gedankenaustaufc den Geift anzuregen, viel 
mehr no), indem fie den Gemüthern dur die Wärme und Theilnahme des 
intimen Verkehrs die unentbehrliche Stüge und Erfriſchung zu geben mußten. 
Dazu bedurfte e8 vor Allem zweier Dinge, die unjer großftädtiiches Leben bereits 
nicht mehr fennt: Ruhe und Zeit. 

Selbft wenn man die Veränderung als einen Verluft empfindet, kann man 
ſich doch füglich einen geſellſchaftlichen Zuftand denken, der ſich auch ohne dieje 
Art von Gefelligkeit wird behelfen müſſen. Zum großen Theil ift das ja ſchon 
der Fall. 

Ganz undenkbar dagegen ift, daß die Nohheit, die der erperimentale Roman, 
die Evolutioniften, Naturaliften, Decadent3 und „Fin de siecle* zum Gegenftandb 
ihrer Lieblingsfchilderungen gemacht haben, andere Richtungen verdrängen oder 
jelbft auf die Länge neben ihnen fortbeftehen könnte. La bête humaine, da3 
Produkt des Magens vielmehr al3 des Gehirns, das diefer Roman nad) rein phyfio- 
logiſchen Gejegen conftruirt, ift nit nur im höchſten Grad empörend, es ift auch im 
höchften Grad langweilig. Wir möchten den Menſchen kennen, der e8 über ſich 
brächte, ein zweites Mal und zu feinem Vergnügen, „Nana“ oder „La Terre* 
zu lejen. 

Zola hat für fi und feine Schule die Ehre der Abſtammung von Diderot 
in Anſpruch genommen, und Stendhal, Balzac und Flaubert in diefen Stamm- 
baum eingereiht. In Bezug auf Stendal hat unter Anderen Taine proteftirt 
und betont, daß es fich Hier nicht um einen Phyfiologen, jondern um einen 
Piyhologen handle. Längft vor ihm hatte Stendhal das jelbft gethan. Gegen 
die Selbftverherrlihung der utilitariiden Schule, der Worgängerin der heutigen 
pofitiviftiichen Schule, behauptet er fein etwiges Anrecht „auf das Edle und Gute, 
auf Alles, was plötzlich al3 überflüffig über Bord geworfen werden joll und 
was die Staliener als Virtu bezeichnen“). Balzac it eine jchöpferiiche Kraft 
erſten Ranges, dem die Kunft als „die idealifirte Schöpfung” galt. Die ſocialen 
Zerſetzungsproceſſe, alle jchlimmen Inſtincte und verborgen geglaubten Lafter 
gehören mit zur Rollenbejegung auf den Brettern des Welttheaters, das er aufs 
ſchlägt, beleuchtet von der Tadel der Eumeniden. Gegen den Marniffe der 
„parents pauvres“ wie gegen ben „Fabrice“ der „Chartreuse de Parme“ hat jchon 


!) Henry Beyle»-Stenbhal, D’un nouveau Complot contre les Industriels. Paris, 1825, 


Zeitgendffiiche Gedantenftrömungen. 375 


Sainte-Beude Einſpruch erhoben und davor gewarnt, abftogende Paradoren der 
Analyje zu conftruiren und diefe dann für Menſchen auszugeben. Nun kam Flaubert. 
Krank und in die Provinz gebannt, folterte ihn. fein Leben hindurch das doppelte 
fünftleriiche Bedürfniß, den Viſionen feiner erregten Phantafie und der Realität 
de3 engen, einförmigen Lebens, das trivial, vulgär und langweilig ihn umgab, einen 
flaren, formvollendeten, bis ins Kleinſte wahrheitgetreuen Ausdruck zu geben. 
Flaubert konnte es zuleßt nicht mehr hören, wenn die Leute ihn ftet3 als den 
Verfafjer von „Madame Bovary“ priefen. Denn er hatte Werke geichaffen, die 
ihm viel höher ftanden als dieſes. In „Madame Bovary“ aber erkannte fich die 
Welt de3 zweiten Kaiſerreichs im Spiegel eines Künftlers wieder. Ihre Philo- 
fophie ftand eben jo tief al3 die des unvergeßlichen Apotheker Homais; ihre 
Opfer hatten, gerade wie die unglüdliche Titelrolle de3 Buches, den Lurus mit 
dem Glück verwechjelt, und von Paradiefen geträumt, in welchen die Hleider aus 
dem Atelier von Worth famen. An der Leiche der Selbftmörderin hatte dann 
die Hand de3 Meifterd dad Scalpel geführt, und die wahren Schuldigen lieh er 
entfommen. Auch das traf zu. „Flaubert,“ jagt Sainte-Beuve mit gewohnter 
Divinationsgabe, „ift der erſte Schriftfteller dev modernen, demokratiſchen Ge- 
ſellſchaft.“ 

Und nun zu Diderot. Von genialſter Begabung, hat er ſelbſt empfunden 
und beklagt, daß ſein Leben verfehlt, ſeine Gedankenarbeit Bruchſtück geblieben ſei. 
Seine beſte Kraft hat er an der „Encyklopädie“, ſein Talent in der Kunſtkritik, 
feine Weltanſchauung in der Negation erſchöpft. Er hatte, wie geſagt, Augen— 
blicke aufrichtiger Reue, und viele ſolche, wo ſeine angeborne Gutmüthigkeit auf 
die Oberfläche kam. „Mich berühren die Reize der Tugend viel mehr als die 
Auswüchſe des Laſters,“ ſchreibt er. „Sanft wende ich mich von den Böſen ab 
und eile den Guten entgegen. Wenn ich, ſei es in einem Buch, in einem Bild, 
in einer Statue oder in einem Charakter eine ſchöne Stelle finde, ſo ſtehe ich 
ſtill, betrachte dieſe und vergeſſe alles Uebrige darüber. Was widerfährt mir 
erſt, wenn ich dem Schönen ſelbſt begegne!“ Von der Aeſthetik der naturaliſtiſchen 
Schule iſt dieſe Rede ſehr verſchieden. Andererſeits läßt ſich nicht beſtreiten, daß 
Diderot's Roman, „La Religieuse“, die kühnſten Wünſche derſelben erfüllt. Was 
überhaupt dieſe ganze Literatur kennzeichnet, iſt nicht die Betonung des Böſen, es 
ift die faſt vollftändige Abwejenheit de3 Guten. Jago ift da, aber Desdemona 
legt die heroijche Sanftmuth ihres Todes nicht in die Wagfchale, und Feine 
Gordelia breitet Ichügend ihre Hand über das greife Haupt von Lear, um den 
Wahnfinn zu bannen, den unmenſchliche Thaten heraufbeſchworen haben. 

Bor Hundert Jahren ift in demjelben Frankreich, in welchem jo manche der 
modernen Geijtesftrömungen in der Politit und in der Philofophie, in der Kite 
ratur und in der Kunſt ihre typifche Geftaltung erhalten haben, eine Hypotheſe 
zur Grundlage einer Staat3ummwälzung gemacht worden. 

Die Hypothefe war die von der eingeborenen Güte des menſchlichen Herzens, 
von der Untrüglichkeit der logiſchen Vorausſetzung, daß alle Mitglieder eines 
Gemeinweſens gleihwerthig find, Caliban mit Profpero, Wurm mit Poja; daß 
nichts einfacher zu conſtruiren ift, als der Mechanismus eines Staates nach dem 
Recept einer Conftitution; daß der Anfpruch auf Gleichheit der politiichen Rechte 


376 Deutſche Rundichau. 


jedem Einzelnen ganz ebenfo gebührt wie Gleichheit vor dem Geſetz, und da die 
Zukunft der egalitären Demokratie und einem ungemefjenen Fortſchritt gehört. 

Während bie politiiche Bewegung der letzten hundert Jahre mit mehr oder 
weniger Erfolg an der Verwirklichung diefer Hypotheje gearbeitet hat, ift die 
Wiſſenſchaft ihrerjeit3 nicht ſäumig geweſen. 

Sie lehrt gegenwärtig, mit mehr oder weniger Uebereinſtimmung, daß der 
einzelne Menſch durch rein pathologiſche Vorgänge, über die der Wille nichts ver= 
mag, beftimmt wird, daß er jeden Augenblick in den Zuftand thierifcher Wild- 
heit zurüdfinfen kann, aus dem er urſprünglich gefommen ift; daß die Natur 
den Kampf um das Dafein zur Bedingung alles Lebens macht; daß ihr nimmer 
rubhender Gvolutionsproceh das Individuum für nichts erachtet und nur die 
Gattung berückfichtigt; daß Tauſende Hingeopfert werden, damit Einer übrig 
bleibe, daß in der phyfiichen Welt kein anderes als das Recht des Stärkeren 
gilt und folglich nichts unberedhtigter ift ald der Optimismus. Denn das 
Walten des Geſetzes in der Natur ift unerbittlih, und über diejes Geſetz hin— 
aus zum vermeintlichen Gejeßgeber wird die menſchliche Erkenntniß niemals 
dringen. 

Zwiſchen diefen Refultaten und dem Naturevangelium von 1789 Tiegt ein 
Abgrund, den fein Sophismus jemal3 wird überbrüden können. Mit dem ge» 
träumten Millenium des XVII. Jahrhunderts ift e8 gründlich zu Ende. Die 
Pofitiviften, die das Böſe leugnen, die Peſſimiſten, die an das Gute nicht glauben 
wollen, die Einen find jo verftimmt wie die Andern. Einer von ihnen, ein 
Forſcher und ein Dichter zugleich, Leconte de Lisle, möge für fie Alle ſprechen: 

Hommes, tueurs de Dieu, les temps ne sont pas loin, 
Oü, sur un grand tas d’or vautres dans quelque coin, 
Ayant ronge le sol nourricier jusqu’aux roches 

Ne sachant rien faire, ni des jours, ni des nuits, 
Noyes dans le n&ant des suprömes ennuis, 

Vous mourrez betement en remplissant vos poches. 

Ganz anders fteht biefen Problemen das Chriftenthum gegenüber. In 
Bezug auf feine Stellung zur heutigen Naturwiſſenſchaft jei ein letztes Mal 
auf den Hier wiederholt angeführten engliſchen Denter verwieſen, den & 
der Mühe Lohnt, felbft darüber zu vernehmen!) Die englifche gelehrte 
Melt rühmt an ihm befonders, daß er niemals eine Schwierigkeit umgeht oder 
den Lefer und fich ſelbſt mit Scheingründen abfindet. Mit den Leuten, melde 
eine Thatſache verwerfen, weil fie ihnen unbequem ift, hat er überhaupt nichts 
gemein. Im Lauf feiner Unterſuchung beruft er fi unter Anderem auf den 
Sat von Hurley „von einer Teleologie im weitern Sinn, die von der Evolutions: 
theorie nicht berührt wird, jondern vielmehr auf dem fundamentalen Satze der: 
jelben beruht“. Die Rückwirkung aber, die joldde und andere verwandte Theorien 
auf die Anjchauungen der Gegenwart ausgeübt haben, ift dem Chriſtenthum jelbft 
nichts weniger als fremd. Es hat ftet3 gelehrt, daß ein Kampf und Zwieſpalt 
durch die ganze Natur gehe, daß der Schmerz die Bedingung alles Seins, ber 


1) MW. ©. Lilly, „A Century of Revolution“, bei. Kapitel IV, Revolution and Science. 
S. auch befjen neueftes Werk: „Modern Ethics“. 


Zeitgenöffifche Gebantenftrömungen. 377 


Mille ſchwach und ungenügend, da3 menſchliche Herz verkehrt ſei, daß nichts 
hienieden den Hunger und Durft nad) der Gerechtigkeit ftille. Allein dabei bleibt 
e3 allerdings nicht ftehen. Es jucht in einem Reich der Gnade die Löjung, die 
im Reich der Sünde nicht zu finden ift, und begeiftert die Seelen für ein deal, 
da3 ihnen gerade deswegen vollkommen genügt, weil e8 außerhalb diefer Welt ber 
Erſcheinung Liegt. 

Darwin erzählt, wie ihm durch angeftrengte Geiftesarbeit auf dem 
Gebiete der Beobadhtung die Empfindung für Muſik verloren gegangen ei. 
Aehnlich jcheint e8 dev modernen Cultur in Bezug auf das ethifche Problem er— 
gangen zu fein. Ueber dem Studium der Phänomene ift ihr der Sinn für das 
abhanden gefommen, wa3 allem Phänomen zu Grunde liegt. Aber ebenfo wenig 
al3 es ftill geworden ift im Reich der Töne, weil ein Einzelner aufgehört hat, 
ihnen zu laufchen, ebenſowenig läßt fich die innere Stimme erftiden, die das 
Menjchengeihlecht immer wieder nach Oben verweift. Die wahrhaft Großen, 
die geborenen Herrſchernaturen wiljen das wohl. Am 28. September 1870, 
während de3 Duells, nicht zwijchen zwei Völkern, jondern zwiſchen zwei Welt- 
anſchauungen, jagte Graf Bismard: „Wie man ohne Glauben an eine geoffenbarte 
Religion, an Gott, der da8 Gute will, an einen höheren Richter und an ein 
zufünftiges Leben zufammenleben kann in geoxdneter Weife, — da3 Seine thun 
und Jeden da3 Seine lafjen — begreife ih nicht. . . . Wenn ich nicht auf meinen 
Gott rechnete, jo gäbe ich gewiß nicht3 auf irdiſche Herren.“ 

Zwanzig Jahre find indefjen verftrihen. Die damals nod) in voller Thätig- 
keit ftanden, find entweder zur Ruhe gegangen oder bereiten fich zum Abjchied 
vor. Zu den leßteren gehört Tennyjon, ein Gläubiger auch er. Auf der Fahrt 
zwiſchen der Inſel Wight und Portsmouth Hat der Achtzigjährige vor wenigen 
Monden das Schwanenlied niedergejchrieben, mit welchem der letzte Band feiner 
Gedichte ſchließt. Die jugendfräftige, feierliche Schönheit diefer Verſe hat bie 
angeliächfiiche Welt aufs tieffte ergriffen. Mit ihnen, wie mit einer guten Bot- 
Ichaft, jchließe auch diefe Betrachtung, bis für „Crossing the Bar“ der deutſche 
Ueberjeger fi) findet. 


— Twilight and evening bell, 

And after that the dark! 

And may there be no sadness of farewell, 
When I embark; 


For tho’ from out our bourne of Time and Place 
The flood may bear me far, 
I hope to see my Pilot face to face 
When I have crost the bar). 


1!) Demeter and other poems. By Alfred Lord Tennyson. London. 1889. p. 174. 


Vekron's Gaftmahl des Vrimaldio. 





Don 
S. Friedlaender. 





In einer Anzahl mittelalterlicher Abjchriften haben fi Ercerpte aus einem 
altrömiſchen Roman erhalten, ala deffen Berfaffer ein Petronius Arbiter 
genannt wird. Die Erzählung geht öfter aus der Proja in Verſe über, auch find 
längere poetiſche Stüde eingeſchaltet. Der Roman beftand aus loje aneinander 
gereihten, doch durch ein leitendes Motiv zufammen gehaltenen, von einem Encol- 
pius al3 eigne Grlebniffe erzählten Abenteuern, enthielt zahlreiche Epifoden 
(unter andern die Geihichte der Witttve von Epheſus) und jcheint einen nicht 
unbeträdhtlien Umfang gehabt zu haben. Die erhaltenen Ueberrefte zeichnen ſich 
ebenjo jehr durch Geift, Wit und Eleganz der Form, wie durch zügelloje Frech— 
heit aus. Das größte und intereffantefte Fragment, die Schilderung eines von 
einem reichen Frreigelaffenen Trimalchio gegebenen Gaftmahls, wurde erft um 
die Mitte de3 fiebzehnten Jahrhunderts in Trau in Dalmatien gefunden und 
1664 in Padua gedrudt. 

Für den Berfaffer diefes Romans hält man einen Gaju3 Petronius, ber 
längere Zeit bei Nero in höchfter Gunft ftand, dann aber bei ihm verdächtigt, 
im Jahre 66 n. Chr. durch Selbftmord der Hinrichtung zuvorkam. Er war 
einer der auch in der neueren Gejchichte bier und da begegnenden Männer, die, 
nachdem fie in hohen Stellungen Befähigung und Thatkraft bewieſen, ſich mit 
Dftentation einem müßigen Genußleben hingeben und ihren Ruhm darin finden, 
elegante Roués zu fein. Diefen Ruhm erlangte Petronius in jo hohem Grade, 
daß er an Nero’3 Hof als Autorität in Allem galt, was Raffinement des Gr 
nufjes betraf, und von Nero jelbft ftet3 als „Schiedsrichter in Geſchmacksſachen“ 
(arbiter elegantiae) um Rath gefragt wurde. Seine bevorzugte Stellung zog 
ihm den Neid andrer Höflinge zu, und der Erfolg ihrer Intriguen trieb ihm zu 
dem Entſchluſſe, ji) die Adern zu Öffnen. Er bewies im Sterben diejelbe fühle, 
unerfchütterlihe und vornehme Gelafjenheit, die man während feines Lebens jo 
ſehr an ihm bewundert hatte. Er verzögerte fein Ende, indem er nach Belieben 
die durchſchnittenen Adern verbinden und twieder öffnen ließ. Er unterhielt fi 


Petron's Gaftmahl bes Trimaldio. 379 


mit feinen Freunden, doch nicht von ernften Dingen, etwa (wie es damals in 
den letzten Stunden häufig geihah) von Unfterblichkeit und den Anfichten der 
Philoſophen darüber, jondern lieh fich leichtfertige Gedichte vorlefen. Er beſchenkte 
einige jeiner Sklaven und ließ andere peitichen. Er begab fich zur Mahlzeit, 
und legte fich jchlafen, jo daß jein Tod faft wie ein natürlicher erſchien. Nicht 
einmal in feinem Teftamente dem Nero oder einem der Mächtigen zu jchmeicheln 
(was die unfreiwillig Sterbenden damals zu thun pflegten, um für die Ihrigen 
einen Theil ihres Vermögens zu retten), ließ ex fich herbei. Er jchrieb einen 
Bericht über Nero’3 Ausſchweifungen und Schandthaten mit Angabe der Namen 
der Betheiligten beiderlei Geſchlechts, ſandte ihn verfiegelt an Nero und zerbrad) 
feinen Siegelting, damit er Niemanden Gefahr bringe. So erzählt Tacitus; 
duch Plinius erfahren wir außerdem, daß Petronius vor feinem Tode eine ihm 
gehörige, mit mehr ala 60000 Mark heutigen Geldes bezahlte Schöpffelle aus 
Murrha (orientaliicher Flußſpath oder Achat) zerbrach, damit fie nit die Tafel 
Nero's zieren follte. 

Die dur den Beinamen Arbiter veranlafte Vermuthung, daß dieſer 
Petronius der Verfaſſer des erwähnten Romans war, erhält eine weſentliche 
Unterftügung dadurch, daß der Roman offenbar in der Zeit Nero’3 gefchrieben 
ift, und ficherlich von einem Manne, der auf der Höhe der damaligen Bildung 
ftand und eine große Weltkenntniß befaß. 

Das Intereſſe, da3 die erhaltenen Bruchſtücke auch außerhalb der gelehrten 
Welt erregten, veranlaßte 1693 einen Franzofen, Franz Nodot, den Roman mit 
Ergänzungen herauszugeben, die er in einem aus Belgrad ftammenden, voll- 
ftändigeren Eremplar gefunden haben wollte: eine Fälſchung, die troß ihrer Plump- 
heit mehrere damalige Philologen täuſchte. Um die Mitte des vorigen Jahr» 
hundert3 war Petron bereits jehsmal ins Franzöſiſche überjegt. Ins Deutjche 
überjegte ihn 1773 der Verfaſſer de3 Ardinghello, der in ihm einen Geiftes- 
verwandten zu erfennen glaubte. In einer unglaublid ſchamloſen Vorrede 
(„geichrieben während meiner Reife nach Italien, um den Wintelmann’schen 
Apollo zu betrachten“) wendet er fi an die Anbeterinnen und Anbeter der 
Sofratiihen Grazien al3 Lejer und Leferinnen; die „triefäugigen, weinerlichen 
Dudeldumianer” jcheinen ihm nur ein „muthtwilliges Gelächter zu verdienen.“ 
Am Hofe von Hannover wurde im Karneval des Jahres 1702 das Gaftmahl des 
Trimalchio aufgeführt, wobei jehr ſtarke Scherze vorfamen. Eine ausführliche, 
von Leibnitz auf den Wunſch der Königin Sophie Charlotte von Preußen (die 
ſelbſt an der Aufführung Theil genommen hatte) für die Yürftin von Hohen- 
zollern-Hedhingen verfaßte Bejchreibung ift noch vorhanden). Trimalchio twurde 
von einem Neffen der Kurfürftin von Hannover, dem Raugrafen Karl Moritz, 
feine Frau Fortunata von der bei der Königin in hoher Gunft ftehenden ſchönen 
Hofdame Fräulein von Pöllnitz dargeitellt. 

Einige Mittheilungen aus der Beichreibung dieſes Gaftmahl3 find am beften 
geeignet, eine Vorftellung von Petron's Art und Weife zu geben. Der Ort am 


!) Leibnihz's Brief vom 25. Februar 1702 bei Vehſe, Geichichte der beutjchen Höfe, Bd. II 
61 ff. 


380 Deutfche Rundſchau. 


Golf von Neapel, in dem es ftattfindet, ift wahrſcheinlich Cumä, eine urjprüng- 
lich griechiſche Stadt, die auch (nad) der Hier dur; Auguſt erfolgten Anfieblung 
von Veteranen) als römiſche Colonie ihren Urſprung nicht völlig verleugnete, 
wenn glei ihre Bevölkerung in viel geringerem Grade mit griedhiichen und 
orientalifchen Elementen verſetzt geweſen fein wird, als die des benachbarten 
Puteoli, de3 Haupthafens für den Verkehr mit dem ganzen Often (Pozzuoli), und 
als die Neapels, einer „hellenifchen Gulturinfel” in Gampanien. Trimalchio und 
feine Freunde find ſämmtlich Freigelaſſene, Gejchäftsleute und Gemerbetreibende. 
Wenn diefe auch oft jehr vermögend waren, jo blieben fie doch immer von dem 
ftädtiichen Honoratiorenftande durch eine nicht zu überſchreitende Mluft getrennt. 
Sie konnten weder ftädtifche Ehrenämter befleiden, noch in den Stadtrat (die 
Curie) eintreten. Dagegen ftand ihnen der Zutritt zu der anjehnlichen (für 
den Kaifercult beftimmten) Corporation der Auguſtalen frei, die ala ein ziveiter, 
zwischen den Herren und den kleinen Lenten die Mitte haltender Stand an- 
gejehen twurde. In diefer Corporation zu den jährlich wechjelnden, von den Stadt- 
räthen (Decurionen) ernannten ſechs Vorftehern (Sevirn) zu gehören, war em 
Biel ihres eifrigen Bemühen; eine Erhöhung diefer Ehre war e8, wenn bie an 
die neu ernannten Sevirn an die Stadtkaffe zu zahlende Summe erlaffen wurde‘). 

Trimalchio gehört zu den Taufenden und aber Taufenden von Griechen und 
Afiaten, die (nicht felten von ihren eigenen Eltern und jchon als Kinder) als 
Sklaven verkauft und auf den Markt zu Rom gebradjt wurden. Nicht wenigen 
von biejen, befonder3 ſolchen, die in vornehme und reihe Häufer kamen, gelang 
e3, die Freiheit und Reihthum zu erwerben; ein großer Theil der Taufmänniihen 
und fonftigen Geſchäfte war in ihren Händen. Trimalchio erzählt jeinen Gäften 
einen quten Theil ferner Lebensgefchichte folgendermaßen ?). „Ich bitte Freunde,“ 
fagt er, „macht e3 euch gemüthlich. Denn ich bin auch jo gewefen, wie ihr je, 
aber durch meine Tüchtigkeit bin ich fo weit gelfonmen. Das bischen Grütze im 
Kopf iſt's, was die Menfchen macht, alles übrige ift Quark. Gut kaufen, gut 
verkaufen! Andre werden euch was anderes jagen. Ach plate vor Glüd. Aber 
was ich jagen wollte, zu diefem Vermögen hat mich mein gutes MWirthichaften 
gebracht. Als ich aus Afien fam, war ich nicht größer ala dieſer Gandelaber, 
und kurz und gut, ich pflegte mich alle Tage an ihm zu meffen, und um jchneller 
einen bärtigen Schnabel zu befommen, vieb ich mir die Lippen mit Lampenöl 
ein.“ Er erwähnt dann, in welcher Gunft er vierzehn Jahre lang bei feinem 
Herrn und zugleich bei der Prinzipalin 'geftanden habe: er wolle weiter nidt! 
jagen, da ex nicht zu den Prahlern gehöre. „Uebrigens wurde ich mit göttlichen 
Beiftande Herr im Haufe und hatte den Prinzipal ganz in der Taſche. Wozu 
viel Worte? Er ſetzte mic) neben dem Kaiſer zum Haupterben ein, und ich befam 
ein fürftliches Vermögen. Aber Niemand hat an nicht? genug. Ach befam Luft, 





1) Vergl. Deutiche Rundichau, 1879, Bb. XIX. ©. 210 ff. „Stäbteweien in Jtalien unter 
ben römischen Kaifern”. 

2) Die Ueberfegung ift (abgefehen von einigen Auslafjungen und Vlilderungen) bier und 
fpäter möglichft treu; vulgäre und fprichwörtliche Redensarten find fo viel ala möglich durd 
entiprechende jetzige erfeht. Die ſehr zahlreichen Idiotismen und Eprarhfehler find nicht wieder 
gegeben. 


Petron's Gaftmahl des Trimaldio. 381 


Geſchäfte zu maden. Um es kurz zu jagen, ich baute fünf Schiffe, lud Wein — 
und dbamal3 war er Gold werth — und ſchickte fie nad) Rom. Man jollte 
denten, ich hätte es jo beftellt: alle Schiffe litten Schiffbruch! Thatſache, 
feine Erfindung! An einem Tage jchludte der alte Neptun dreißig Millionen 
(6%: Millionen Mark). Glaubt ihr, daß ich die Courage verlor? Nein, meiner 
Treu! Ich baute andre, größere, befjere und glüdlichere, jo dat mich jeder einen 
tüchtigen Kerl nannte. Ein großes Schiff, wißt ihr, hat eine große Kraft in 
ſich. Ich Iud wieder Wen, Sped, Bohnen, Parfümerien, Sklaven. Damals 
bewies meine Fortunata ihre Anhänglichkeit; denn al’ ihren Goldſchmuck und 
all’ ihre Kleider verkaufte fie und gab mir hundert Goldftüde in die Hand. Das 
war der Sauerteig für mein Bermögen. Was die Götter wollen, geſchieht ſchnell. 
Mit einer Fahrt ſchlug ich zehn Millionen (über zwei Millionen Mark) zuſammen. 
Sofort Faufte ich alle Befigungen zurück, die meinem Prinzipal gehört hatten. Ich 
baue ein Haus, kaufe Wagen und Pferde, Sklaven. Was ih amrührte, wuchs 
wie eine Honigwabe. Als ich mehr hatte, als bei mir zu Haufe, Alle zufammen — 
einen Strich gemadt. Ich z0g mid vom Handel zurüd und machte Geld- 
gejchäfte durch meine Tyreigelaffenen. Und, das ift wahr, als ich mich um meine 
Angelegenheiten nicht genug fümmerte, da hat mich ein Sterndeuter zurecht 
gewiejen, der gerade in unfere Stadt gefommen war, jo ein griechijches Kerlchen, 
Serapa mit Namen: der hätte im Rath der Götter ſitzen können! Der hat mir 
auch die Dinge gejagt, die ich vergefjen hatte, alles bis aufs Tüpfelchen. Er 
ſah mich durch und durch, bis ins Herz und die Nieren; es fehlte nicht viel, 
dann hätte ex mir gejagt, was ich vorgeftern zu Mittag gegeifen hatte. Wirklich 
ganz, als wenn er immer mit mir zufammen gewohnt hätte Ich frage 
di, Habinnas, ich denke, du bift dabei geweſen. „Du haft fein Glüd mit 
deinen Freunden. Niemand weiß dir jo viel Dank, als du verdienft. Du be— 
figeft große Begüterungen. Du nährft eine Schlange an deinem Buſen.“ Ind 
was ich andern als ihr nicht jagen möchte, ich habe jeßt noch 30 Jahre 4 Monate 
und 2 Tage zu leben. Außerdem werde ich bald eine Erbſchaft machen. So 
jagt mein Horoſtop. Wenn e3 mir noch glüdt, meine Befitungen bis Apulien 
auszudehnen, dann werde ich e3 weit genug gebracht haben. Unterdeß habe ich, 
während das Geichäft flott geht, dies Haus gebaut. Wie ihr wißt, war e3 eine 
Barade, jeht ift e3 ein Palais. Es hat vier Speifefäle, zwanzig Schlafzimmer, 
zwei mit Marmor ausgelegte Colonnaden, einen Speifejfaal oben, das Zimmer, 
in dem ich ichlafe, ein Wohnzimmer für diefe Kröte (feine Frau), eine jehr qute 
Portierloge. Die Gaftzimmer haben Raum für Gäfte Kurz und gut, wenn 
Ecaurus hierhergekommen ift, hat er nirgend anderswo logiren tollen, und ex 
bat ein Abfteigequartier am Meer von feinem Water geerbt. Und da ift noch 
vieles Andere, was ich euch gleich zeigen werde. Glaubt mir: Habe einen AB, 
jo giltft du einen As; was du haft, dafür wirſt du gehalten werden. So iſt 
euer freund, der nur ein Wurm war, jeßt ein großer Mann.“ In dem Be— 
wußtſein, Alles fich jelbft zu verdanken, ift Trimalchio weit entfernt, ſich feiner 
Vergangenheit zu ſchämen. Er Hat jogar an der Wand einer Golonnade in 
jeinem Haufe feine ganze Jugendgeichichte malen laſſen. Auf dem mit Inſchriften 
verjehenen Gemälde war ein Sklavenmarkt vorgeftellt; man ſah Trimaldio als 


382 Deutiche Rundichau. 


Knaben, mit dem Stabe des Mercur in der Hand, in Rom ankommen, von 
Minerva geführt; dann wie er rechnen lernte, wie er Caffirer wurde. Auf dem 
legten Bilde, am Ende der Wand, hatte ihn Mercur am Sinn in die Höhe ge 
hoben und führte ihn durch die Luft auf eine hohe Tribüne; zu feinem Empfang 
ftand Yortuna mit einem Füllhorn, und die drei Parzen, goldne Fäden ſpinnend, 
bereit. Auf feinem Grabmonument, da3 er nad) damaliger Sitte fich ſchon bei 
Lebzeiten beftellt, jollen Schiffe angebracht werden, die mit vollen Segeln fahren, 
außerdem das ruhmvollfte Ereigniß feines Lebend: eine von ihm veranftaltete Pe: 
wirthung der ganzen Stadtgemeinde, bei twelcher jeder Diann zwei Denar (Mt. 1,75) 
erhielt. Ihn ſelbſt ſoll man auf einer erhöhten Bühne figen jehen, mit der 
purpurumfäumten Toga angethan (welche die Sevirn der Auguftalen bei Amts 
handlungen anlegen durften), mit goldnen Ringen an allen fünf Fingern, wie 
er Geld aus einem Beutel jchüttet; ringgumher Tafeln mit dem jchmaufenden 
Volke. Daß Petron hier jo wenig wie ſonſt farikirt oder übertrieben hat, zeigt 
ein zufällig erhaltener Grabftein eines Sevirn aus Brescia mit Darftellungen, 
die den hier bejchriebenen ganz ähnlich find. Die Inſchrift auf Trimalchios 
Monument fol folgendermaßen lauten: „Gajus Pompejus Trimalchio Mäcena— 
tianus ruht hier. Ihm ift die Würde eines Sevirn während feiner Abweſenheit 
zuerkannt worden. Er hätte in Rom in alle Decurien (dev Subalternbeamten 
der Meagiftrate) aufgenommen werden können, bat aber nicht gewollt. Gr war 
anhänglich, brav, treu. Er hat Flein angefangen und ift groß geworden. Er 
hat dreißig Millionen (6%: Millionen Mark) Hinterlaffen und niemals die Vor- 
träge eines Philojophen bejucht.“ 

Auf jede Weife wird bei diefem Gaftmahl dafür geforgt, die zum erften Mal 
anweſenden Gäfte mit ftaunender Bewunderung vor der Größe und Pradt dei 
Hausherren zu erfüllen. Dem Erzähler, der fich über deſſen Verhältniſſe genauer 
zu unterrichten wünſcht, gibt fein Tiſchnachbar, ein Stammgaſt, fo bereittwillig 
Auskunft, daß es beinahe fcheint, er jei eigens damit beauftragt worden. „Ir 
maldio," jagt er, „weiß jelbft gar nicht, wie viel er hat, ſo ſteinreich ift er. 
Güter hat er, jo weit al3 die Habichte fliegen, und ein Heidengeld. In der 
Loge feines Portiers ift mehr Silber, al3 irgend Jemand im Vermögen bat. 
Aber erft feine Sklaven! Ad, du meine Güte! Ach glaube nicht, daß auch mur 
der zehnte Theil von ihnen dazu gelangt ift, ihren Herrn von Angeficht zu An 
geficht Fennen zu lernen. Kurz und qut, er ift im Stande, jeden von unjeren 
vornehmen Herrchen in ein Maufeloch zu jagen. Und du Eannft mir glauben, 
daß er nicht nöthig Hat, irgend etwas zu faufen, Alles wächft auf feinem eigenen 
Grund und Boden. Die Wolle, die er producirte, war ihm nicht fein gemug; 
da ließ er Böcke aus Tarent fommen, um feine Herde zu veredeln. Um attiſchen 
Honig bei ſich zu erzeugen, ließ er Bienen aus Athen bringen. Und was bat 
er in den lebten Tagen für einen Auftrag gegeben? Champignonſamen ſoll ihm 
aus Indien geſchickt werden. Unter feinen Maulthieren ift feines, das nicht von 
einem Wildefel ftammt. Unter all’ diefen Kiffen ift feines, das nicht mit 
Purpur- oder Scharlahtwolle geftopft ift. Ja, er kann Alles haben, was fein 
Herz begehrt.“ 

Trimaldio bejtätigt diefe Mittheilungen oder überbietet fie noch, indem er 
ſich bei jeder Gelegenheit in den ungeheuerlichiten Prahlereien ergeht. Dei der 


Vetron's Gaftmahl des Trimaldio. 383 


Erwähnung eines Themas zu einer Uebungsrede, welches anfängt: „Ein Armer 
und ein Reicher waren Feinde“, fragt er: „Was ift ein Armer?” An einen in 
den Speifejaal gerufenen Koch richtet er die Frage: „Aus welcher Abtheilung 
bift du?“ Als Jener geantwortet hatte: „Aus der vierzigften,” „Bift du an— 
gefauft oder im Haufe geboren?“ „Keine von Beiden," ſagte der Koch, „ſon— 
dern ich bin dir von Panfa im Zeftament vermacht.“ „Gib dir alio Mühe,“ 
ſprach Trimalchio, „deine Sache ordentlich zu machen; wo nicht, jo werde ich 
befehlen, daß du in die Abtheilung der Boten gefteckt wirft.“ „Wein,“ jagt er 
dann zu jenen Gäften; „brauche ich durch die Gnade der Götter nicht zu Taufen; 
fondern jet wächft mir Alles, was qut ſchmeckt, auf meinem Gute vor dem Thor, 
das ich noch nicht kenne. Es joll an meine Befitungen bei Terracina und Tarent 
grenzen. Jetzt will ich meinen Landbefig durch Ankäufe in Sicilien arrondiren, 
damit, wenn ich einmal Luft befomme, nad) Afrika zu fahren, ich die Fahrt ganz 
durch mein eigenes Land machen Kann.” Noch während der Mahlzeit lieſt ein 
Schreiber aus dem Hausbuche Folgendes vor: „Am 26. Juni: Auf dem Landgut 
bei Gumä, welches Trimalchio gehört, geboren 30 Knaben, 40 Mädchen. Dom 
Felde auf den Speicher gebracht 500000 Maß (gegen 44000 Hektoliter) Weizen; 
Ochſen eingefahren 500. Am jelben Tage: Der Sklave Mithridates wurde an 
Kreuz geichlagen, weil er unferen Heren Gajus geläftert hatte. In die Kaffe 
abgeführt, was nicht zindtragend angelegt werden konnte: 10 Millionen Sefterzen 
(2175000 ME). Am jelben Tage: Am dem Park bei Pompeji ift ein Brand 
geweſen; das Teuer ift im Haufe des Verwalters Nafta ausgelommen. „Wie?“ 
fagte Trimalchio, „wann ift der Park bei Pompeji für mich gekauft worden?“ 
„Im vorigen Jahr,“ antiwortete der Schreiber, „deshalb ift er noch nicht in Rech— 
nung geftellt worden.“ Trimalchio gerieth in große Aufregung und jagte: „Wenn 
ein Grundſtück für mich gekauft ift, es ſei welches e8 wolle, und ich es nicht 
innerhalb ſechs Monaten erfahren habe, verbiete ich, da es in meine Rechnungen 
eingetragen wird. Hierauf wurden Bekanntmachungen von Gutspolizeibeamten 
verlejen und Teftamente von Waldhütern, in denen Trimaldhio unter ehrenvollen 
Erklärungen von der Erbſchaft ausgeſchloſſen wurde‘), ferner Ernennungen von 
Gutsverwaltern und die Scheidung einer Freigelaffenen von einem Nachtwächter, 
weil es Herausgefommen war, daß fie mit einem Badediener zufammengelebt 
hatte, und die Verweifung eine Haushofmeifter nach (dem 4,4 Kilometer ent- 
fernten) Bajä; ferner die Verfegung eines Caſſirers in den Anklageftand und 
eine Gerichtsverhandlung unter den Kammerdienern.” Zur Belehrung der Gäfte 
über Trimaldio’3 Größe bieten übrigens auch einige Vorfälle Gelegenheit, die ſich 
toährend der Mahlzeit ereignen. Ein Sklave, der das Unglück gehabt hat, auf 
ihn zu fallen und ihm dabei einen Arm zu verleken, wird fogleich Freigelaffen, 
damit man nicht jagen könne, daß ein fo großer Dann von einem Sklaven be- 
Tchädigt worden jei; ein anderer, der die Wunde mit weißer ftatt mit Purpur— 
tolle verbindet, wird ausgepeitſcht. Als ein Sklave eine beim Abräumen der 
Tafel auf die Erde gefallene filberne Schüffel aufhebt, befiehlt Trimaldio, ihn 


1) Ein Beweis fehr milder Gefinnung des Herrn, da den Sklaven, die fein Eigenthum 
hatten, auch bad Recht zur teftiren nicht zuftand. 


384 Deutſche Rundichau. 


zu obrfeigen und die Schüfjel nochmals Hinzumwerfen, worauf fie mit dem übrigen 
Kehricht ausgefegt wird. 

Don jeiner Frau Fortunata wird Trimaldio in feinen Bemühungen, den 
neuen Gäften zu imponiren, in feiner Weiſe unterftüßt. Sie ift ſtolz darauf, 
eine trefflihe Haushälterin zu fein und hört auch während der Mahlzeit nicht 
auf, die Pflichten einer folchen zu erfüllen. Der Erzähler, der fie geichäftig hin 
und ber laufen fieht, erfährt erft von feinem Tiſchnachbar, daß fie die Hausfrau 
ift. „Das ift eine, die das Geld mit dem Scheffel mißt. Und ganz vor Kurzem, 
was war fie da? Mit Refpect zu jagen, du hätteft nicht ein Stüd Brot aus 
ihrer Hand genommen. Yebt ift fie, Gott weiß tvie und warum, Nummer Eins 
geworden und Trimalchio's rechte Hand. Kurz und gut, wenn fie ihm am hellen 
Mittage jagen wird, es ift finfter, wird er e8 glauben. Die Kröte hat die Augen 
überall und ift Hinten und vorn. Sie hat den Kopf auf dem rechten Fleck und 
weiß guten Rath; aber fie hat eine böje Zunge. Wen fie gern hat, den hat fie 
gern; wen fie nicht gern hat, den hat fie nicht gern.“ Ein Freund Trimaldio's, 
der Fabrikant von Grabdentmälern Habinnas, der mit feiner Frau Scintilla 
von einem anderen Gaftmahl fommend, fi noch in einer jpäten Stunde bei dem 
Trimalchio's einfindet, fragt jogleih, warum Fortunata nicht bei Tiiche je. 
Trimalchio erwidert, Habinnas kenne fie ſchlecht; ehe fie das Silbergeichirr ver 
wahrt und die Ueberreſte der Mahlzeit unter die Sklaven vertheilt habe, werde 
fie feinen Tropfen Waffer in den Mund nehmen. Auf Verlangen des Habinnas 
herbeigerufen, exjcheint dann Fortunata und begrüßt, nachdem fie die Hände an 
einem Tafchentuche abgetrodtnet hat, Scintilla mit einem Kuffe; die beiden rauen 
zeigen einander ihre Schmuckſachen, dann trinken fie ſich einen Rauſch, jo daß 
Fortunata ſich anſchickt, vor allen Gäften zu tanzen und Scintilla zu Allem, 
was die Andere thut, Beifall klatſcht. Als aber Trimaldio einen unter anderen 
Sklaven zur Aufwartung an der Tafel neu eintretenden, hübfchen Knaben ab: 
füßt, geräth Fortunata dermaßen in Wuth, daß fie ihn mit den gröbften 
Schimpfiworten überhäuft und endlich einen Hund nennt, worauf Trimaldio ihr 
einen Becher ind Gefiht wirft. Sie jhreit, ala ob ihr ein Auge ausgeſchlagen 
wäre, und hält die zitternden Hände vor das Geſicht; Scintilla und der Anabe 
bemühen ſich um fie, doc Trimalchio bleibt zornig. „Was,“ jagt er, „die Land: 
ftreicherin hat wohl gar fein Gedächtniß? Ich Habe fie von dem Gerüft auf 
dem Sklavenmarkt heruntergeholt und zu einer reputirlichen Perſon gemadtt. 
Aber fie bläft fich auf wie jener Froſch, und ſich in dem eigenen Buſen zu 
ſpucken!), fällt ihr nicht ein. Aber freilich, wer in einer Bude geboren ift, dem 
kann nicht von einem Palais träumen. So wahr mir mein Schußgeift gnädig 
jein joll, ich will dafür forgen, daß dieſe Gommißprinzeffin zur Raifon gebradt 
wird. Und ich dummer Kerl hätte zehn Millionen bekommen können. Du weißt, 
daß ich nicht Lüge. Agatho, der Parfümericehändler, hat mich noch neulich bei 
Seite genommen und gejagt: ich vathe dir, dein Geſchlecht nicht ausfterben zu 
faffen. Aber weil ich zu qutmüthig bin und nicht für unbeftändig gelten will, 
habe ich mix jelbft eine Art ins Bein gehauen. Schon vet, ich werde daft 
jorgen, daß du mid) noch einmal wirft aus der Erde Fragen wollen.” Und um 


) Eine Selbfterniedrigung, durch die man ben Neid der Götter abzuwenden glaubte. 


Petron's Gaftmahl bes Trimaldio. 385 


fie die Schwere feiner Ungnade fogleich fühlen zu laſſen, nimmt ex die bereits 
bei Habinnas für fein Grabmonument gemachte Beftellung einer Statue For— 
tunata’3 (die eine Taube in der Hand und ein Hündchen an einem Bande halten 
ſollte) zurüd: er wolle nit noch nach dem Tode Zank und Streit haben. 
Habinnas und Scintilla bitten um Vergebung für die Schuldige, worauf Tri— 
maldio anfängt zu weinen und Habinnas auffordert, ihm ins Geficht zu ſpucken, 
falls er Ilnrecht gethan habe. Jenen Knaben habe er nicht feiner Schönheit wegen 
gefüßt, jondern weil ex brav fei; er könne bereit3 qut rechnen und geläufig lefen, 
man müfje ihm daher qut jein. Nachdem er dann die noch immer weinende 
Fortunata noch einige Male zornig angefahren hat, beruhigt er ſich allmälig. 

Auch in jeinem Benehmen gegen feine Sklaven erſcheint Trimalchio fehr 
ungleih. Nur jo lange er nüchtern ift, bewahrt er ihnen gegenüber ein maje= 
ftätiich mürdevolles Welen. Sobald das Feſt einen tumultuariichen Charakter 
angenommen bat, zeigt ih, daß zwiichen Herrn und Gefinde eine große Ver— 
traulichkeit herrſcht. Die zu den Füßen dev Gäfte fitenden Sklaven erhalten 
zu trinken, und wer feinen Becher nicht leert, dem wird er über den Kopf ge- 
goflen. Dann werden noch jo viele hereingelafien, daß kaum Platz für die Gäfte 
bleibt. Neben dem Erzähler läßt ſich der früher erwähnte Koch nieder, der un— 
angenehme Küchengerüche verbreitet, er copirt einen damals berühmten Sänger 
und fordert jeinen Herrn zu einer Wette auf, ob bei ben nächſten Circusſpielen 
der Grüne den exjten Preis davontragen werde. Trimalchio jagt hierauf: 
„Freunde, auch Sklaven find Menſchen und mit ganz derjelben Milch genährt 
wie die anderen, nur ihr Unglück hat fie herunter gedrüdt.“ Er erklärt dann, 
daß er ie in jeinem Teftamente ſämmtlich freilaſſe, und dies ſchon jet befannt 
mache, damit fie ihn ſchon jeßt jo Lieben, wie nach feinem Tode. Darauf wird 
das Teftament unter lautem Stöhnen der Dienerichaft verlejen, und nachdem 
Trimaldio dem Habinnas die ausführlichften Anwerfungen in Bezug auf fein 
Grabdentmal ertheilt hat, fängt er jelbft an heftig zu weinen, und die Sklaven 
erheben eine laute Wehflage, wie bei einem Leichenbegängnif. 

Andrerjeit3 ftehen die vornehmern unter Trimalchio's Sklaven Hinter 
ihrem Herrn in Großthuerei und Auffchneiderei nicht zurüd. Gleich beim Ein- 
tritt in den Speifefaal fällt dem Erzähler und feinen Gefährten ein entkleideter 
Sklave zu Füßen und bittet fie, ihn einer Beftrafung zu entziehen; fein Ver— 
gehen jei fein großes, er habe fich im Bade die Kleider des Kaſſirers ftehlen Laffen, 
die faum zehn Sejterzgen (wenig über zwei Markt) werth geweſen jeien. Jene 
wenden fi an den mit dem Zählen von Goldftücen beihäftigten Kaſſirer und 
bitten, dem Sklaven die Strafe zu exlaffen. Er erhob hochmüthig das Geficht 
und ſprach: „Mich ärgert nicht jo jehr der Verluft al3 die Unachtſamkeit de3 
nichtswirdigen Burſchen. Ich bin durch ihn um meinen Anzug für die Tafel 
gefommen, den mir einer meiner Glienten verehrt hatte, allerdings echt tyriſcher 
PBurpur, aber jhon einmal gewaſchen. Was macht es aus? ch ſchenke ihn 
euch.“ „ALS wir durch diefen großartigen Beweis von Mohlwollen verpflichtet 
den Speijejaal aufs Neue betraten, kommt uns derjelbe Sklave entgegen, für 
den wir gebeten hatten, und überjchüttet ung, für unfere Güte danfend, zu unjerem 


höchſten Befremden, mit einem Schauer von Küffen. Schließlich jage er: „Ahr 
Deutihe Rundſchau. XVI, ». 


386 Deutſche Rundſchau. 


werdet bald merken, wem ihr etwas Gutes erwieſen habt. Wer bei Tiſch von 
dem Wein bekommen will, den der Herr ſelbſt trinkt, muß mit dem Mund— 
ſchenken gut ſtehen.“ 

Bei dem Gaftmahl löſen Neuheiten und Ueberraſchungen aller Art einander 
ab. Nach dem Voreſſen erfcheint ein Speifebrett mit einem Korbe, in dem eine 
hölzerne Henne mit auögebreiteten Flügeln wie brütend auf Stroh fit; zwei 
Sklaven feharren unter einer raufchenden Muſik Pfaueneier, die aus Mehlteig 
geformt find, aus dem Stroh und vertheilen fie unter die Gäfte. Trimalchio 
äußert die Befürchtung, fie möchten ſchon angebrütet, alfo nicht mehr genichbar 
fein; der Erzähler ift bereit3 im Begriff, das feinige fortzuwerfen, al3 er durd 
jenen Stammgaft veranlaßt twird, deffen Anhalt genauer zu unterjuchen: er be 
fteht aus einer fetten Feigenſchnepfe in einer Kruſte von gepfeffertem Eidotter. 
Sodann wird ein rumdes Präjentirbrett aufgetragen, das die zwölf Himmels 
zeichen und neben jedem ein dazu pafjendes Gericht enthält, neben dem Stier 
ein Stüd Nindfleifch, neben dem Waffermann eine Gans, neben den Fiſchen 
zwei Seefrabben u. ſ. w. Die Gäfte, deren Erwartungen jo gewöhnliche Ge 
rite wenig entfprechen, wollen eben reſignirt zulangen, als vier Sklaven unter 
Drchefterbegleitung im Tanzjchritt Herbeieilen und den oberen Theil des Präfentir- 
brettes abheben: nun erblickt man ausgefuchte Lerkerbiffen in fünftlicher Anordnung, 
in der Mitte einen nad Art des Pegafus mit Flügeln außgeftatteten Hafen, 
an vier Punkten des Kreiſes Marfyasfiguren, aus deren Schläuchen eine pifante 
Fiſchbrühe auf Fiſche fließt, die im einer Art von ringsumlaufendem Ganal 
ſchwimmen. Alle klatſchen Beifall, wozu die Dienerfchaft das Signal gibt. 
Nachdem diefer Gang beendet ift, erſcheinen Diener, welche vor die den Gäften 
als Lager dienenden Polfter Teppiche legen, auf denen Jagdnetze, Jäger mit 
Spießen auf dem Anftande und alles was fonft zur Jagd gehört, eingewirkt if. 
Außerhalb des Speiſeſaals erhebt fich ein ungeheure Gejchrei, und plötzlich laufen 
große Hunde um den Tisch herum. Es folgte ein Speifebrett, auf dem ein ganzes 
Wildſchwein erfter Größe lag, und zwar mit einer Freiheitsmütze auf dem Kopfe, 
von deſſen Hauern zwei aus Palmzmweigen geflochtene Körbchen herabhingen, das 
eine mit friſchen, das andere mit trodinen Datteln gefüllt. Ferkel aus Kuchen: 
teig gebaden, die rund umher gelegt waren, al3 ob fie faugen wollten, gaben zu 
erkennen, dab der Eber eine Sau vorftellte. Um ihm zu zerlegen, erſchien en 
tiefiger,, bärtiger Kerl in Jägercoftüm; er führte mit einem Jagdmeſſer einen 
Träftigen Stoß gegen die Seite des Thieres, aus deſſen Wunde Krammetsvögel 
flatterten; Vogelſteller, die mit Leimruthen bereit ftanden, fingen fie ein, und jie 
wurden unter die Gäfte vertheilt; desgleichen die Datteln als Eicheln, die das 
Thier gefrefjen hatte. Dex Erzähler fragt dann feinen Eundigen Nachbar, warum 
der Eber eine Freiheitsmütze auf dem Kopfe habe, und erfährt, ex ſei bei der 
geftrigen Mahlzeit als Hauptgericht aufgetragen, doch unberührt in die Küche 
zurücgefandt worden, darum kehre er heute als Freigelaffener auf die Tafel zuräd. 
„Ich ichalt mich wegen meiner Dummheit und fragte nicht3 weiter, damit es nicht 
fo ausfähe, al3 ob ich niemal3 in anftändiger Geſellſchaft geſpeiſt hätte.“ 

Bald zieht ein neues Schaufpiel die allgemeine Aufmerkſamkeit auf fi. Nach 
einer unter Orcefterbegleitung erfolgten Säuberung der Tiſche werden drei weiße, 





Petron's Gaftnahl des Trimaldio. 387 


mit Maulförben und Glödchen ausgeftattete Schtveine hereingeführt, die nad) der 
Angabe des anmeldenden Sklaven je ein, zwei und ſechs Jahre alt fein jollen. 
Der Erzähler glaubt, fie jeien zu Kunſtſtücken abgerichtet, die fie vor den Gäften 
produciren jollen; doch Trimalchio läßt einen Koch rufen und befiehlt ihm, jofort 
da3 größte Schwein zu jchlachten und zuzubereiten. Nach jehr kurzer Zeit wird 
e3 aufgetragen, die Gäfte bewundern die Gefchiclichteit des Kochs, doch Trimaldio 
bemerkt, daß e3 nicht außgenommen jei. Der abermal3 gerufene Koch gefteht, 
dies vergefjen zu haben, und wird auögefleidet, um von zwei Prügelfnechten 
gegeißelt zu werden. Die Säfte bitten für ihn, worauf Trimalchio ihm befiehlt, 
e3 vor deren Augen auszuweiden. Der Koch erhält feine Tunica wieder und 
ſtößt mit einem Meſſer rechts und links in den Baud) des Schweine, aus dem 
dann verjchiedene Arten von Bratwürften in Menge berausfallen. Die Diener- 
ſchaft Haticht und ruft: „Gajus (Trimalchio) foll leben!“ Der Koch wird mit 
einem Trunk und einem filbernen Kranze belohnt und erhält außerdem einen 
Becher auf einer Schale aus korinthiſcher Bronze. Uebrigens befteht noch ein 
fpäterer Gang aus dem jehr beliebten und auf die verfchiedenften (nach Plinius 
fünfzig) Arten zubereiteten Schweinefleiih: der Koch hat daraus eine gemäftete 
Gans, Filhe und Geflügel jeder Art Hergeftellt. 

Zwei fpätere Gänge der Mahlzeit werden durch dramatifche Aufführungen 
eingeleitet. Zwei Scharen in Coftüm und Rüftung Homerifcher Helden führen 
eine Scene au der Jlias auf. Plötzlich wird unter lautem Gejchrei ein ganzes 
gejottenes Kalb mit einem Helm auf dem Kopf auf einer Riefenjchüflel herein- 
gebracht und von einem zugleich auftretenden vajenden Ajar in Stüde gehauen. 
„Taktmäßig bald mit der Klinge, bald mit der Schneide fuchtelnd, fpießte ex die 
Stüde auf und vertheilte fie unter die erftaunten Gäſte.“ Endlich ericheinen gegen 
da3 Ende der Mahlzeit zwei Sklaven mit großen zweihenkligen Krügen am Halſe, 
al3 ob fie beim Holen von Waſſer aus einem öffentlihen Brunnen in Streit 
gerathen wären; Trimaldio jucht den Streit zu jchlichten, Doc) die Sklaven beruhigen 
fich bei feinem Ausfpruche nicht, jpielen die Betrunfenen und beginnen ein Hand— 
gemenge, in welchem jeder mit einem Knüttel den Krug des Andern entzweiſchlägt; 
aus beiden fallen Auftern und andere Mufcheln Heraus, die bon einem Knaben 
aufgelefen und auf einer Schüfjel herumgeboten werden. 

Zu den Ungewöhnlichkeiten, an denen dieſes Gaftmahl jo reich ift, gehört e3 
auch, daß den Gäften nad) jedem Gange nicht Waſſer, fondern Wein auf die Hände 
gegoffen wird, und zwar von zwei Mohrentnaben mit langen Loden. Zum 
Trinken werden gläferne, forgfältig mit Gips geichloffene Amphoren gebradt, 
auf deren Hälfen man die Aufichrift „Hundertjähriger Falerner vom Yahrgange 
des Opimius“ Tieft: auch dies eine, die grobe Unwiſſenheit des Hausheren ver— 
tathende Auffchneiderei, da ber berühmte Wein aus dem Jahre des Gonjuls 
Opimius damals etwa 180 Jahre alt getvefen fein würde. Trimalchio verfichert 
ausdrücklich feine Echtheit und fürgt Hinzu, daß er am Tage zuvor nicht jo guten 
vorgejeßt habe, obwohl viel anftändigere Leute bei ihm fpeiften. Das angebliche 
Alter des Weins veranlaßt ihm zu der melandolifchen Betrachtung, Wein lebe 
länger al3 ein Menjchentind. Auch dieje gehört zu dem offenbar bis in die 
kleinſten Einzelnheiten ausgearbeiteten Feſtprogramm, denn fte leitet eine Scene 


25 * 


— 


388 Deutiche Rundſchau. 


ein, deren einziger Zweck ift, dem Hausherrn zu einer (natürlich ebenfalls aus— 
wendig gelernten) poetiichen Jmprovifation Gelegenheit zu geben. Nach einer 
ägyptiichen Sitte, die ji) aus der den Verkehr mit Aegypten haupftſächlich ver: 
mittelnden Hafenftadt Puteoli in die Nachbarorte verbreitet haben mochte, bringt 
ein Sklave ein filbernes Gerippe mit beweglichen Gelenken auf die Tafel, um 
die Gäfte durch das Bild dev Wergänglichkeit zum Genuffe des Augenblids auf: 
zufordern. Nachdem er es einige Male in verichiedenen Stellungen auf den Tiſch 
hat fallen laſſen, ſpricht Trimalchio feine mit allgemeinem Beifall aufgenommenen 
er Ah wir armen Menjchlein Klein! 

Alle werben jo wir fein! 

Nichts von und bleibt ala Gebein! 

Darum lakt uns fröhlich fein! 

Schenket ein! 

Endlich fehlt es auch bei der Vertheilung von Gejchenfen an die Gäfte, wie 
fie bei großen Gaftmählern üblih war, nicht an Ueberraſchungen. Zuerſt findet 
eine Verloofung von werthlofen Dingen mit Wortwigen im Geſchmack Trimalchio's 
statt: ein als Muräne bezeichneter Gewinn befteht 3. B. aus einer Maus und 
einem Froſch (mus-rana) u. ſ. w. Sehr viel jpäter erdröhnt dann plößlic die 
Dede des Speiſeſaals, ihre Täfelung jchiebt fi) auseinander, und aus der Oeffnung 
wird ein jehr großer Tonnenreifen herabgelafien, an welchem goldne Kränze und 
Flacons mit wohlriechenden Eſſenzen hängen: dieje ſowie jene erhalten die Gäfte 
als Geichente. 

Pan darf glauben, daß Petron in der ganzen Schilderung dieſes Gaftmahla 
nicht3 erfunden, ja ſchwerlich auch nur farikiert hat. Zum Theil find Trimalchios 
Abjurditäten von einer Originalität, wie fie faum durd Erfindung erreicht werden 
fann; überdies wiſſen wir durch anderweitige Zeugniffe, daß Einiges, was uns 
jeltfam erjcheint, in jener Zeit keineswegs unerhört war. Mit derjelben Treue 
jind die den Gäften gebotenen Unterhaltungen nad) dem Leben geichildert. Allen 
denen, die in gebildeten Streifen üblich waren (Zither- und Flötenſpiel, Geſang, 
Tanz, Declamation, dramatische Aufführungen) befennt Trimalchio zweierlei vor- 
zuziehen: equilibriftifche Kunftftüce und Hornmuſik. Beides darf aljo auc bei 
jeinem Gaftmahl nicht fehlen. Ein Knabe führt eine Art Tanz auf den Sprofien 
einer Leiter auf, ſpringt durch brennende Reifen und hält einen Krug mit den 
Zähnen. Gegen Ende des auf da3 Gaſtmahl folgenden Gelages läßt Trimaldio, 
bereit3 völlig betrunfen, jeine eigene Beftattung aufführen: wie ein Todter ftredt 
er ſich auf feinem Polfterlager aus, und ein Chor von Horniften muß dazu eine 
Trauermuſik blajen. Wenn dies leßtere zu feinen originalen Narrheiten gehört, 
jo waren dagegen andre jeinen Gäften zum Beften gegebene Beluftigungen in 
Kreifen wie der Hier gejchilderte offenbar beliebt: Nahahmungen der Manieren 
und de3 ganzen Auftretens der zu gewiſſen Berufsarten gehörigen Leute, ſowie 
der Stimmen der Thiere und Vögel. Trimalchio felbft copiert Pofaunenbläfer, 
ein Sklave de3 Habinnad außer diefen noch andere Muſikanten und ftellt 
auch einen Fuhrmann mit Mantel und Peitſche vor; ein bei Tiſch aufwartender 
Knabe ahmt den Schlag der Nachtigall nad. Und wenn Tafelmufif in jener 
Zeit wie überhaupt im römijchen Altertfume ganz allgemein war, jo ift ihre 


Petron's Gaftmahl des Trimaldio. 389 


Verwendung bei diefem Gaftmahl ebenjo neu und überraichend, als für den Ge- 
ſchmack des Hausherrn charakteriftiih. Da bei der ganzen Bedienung der Tafel 
und der Säfte, jelbjt dem Auftragen und Herumbieten der Speifen, dem Abfegen 
und Abwiſchen der Tiſche u. ſ. w. Gefang und Muſik obligat ift, „mußte man 
glauben, nicht in einem Privathaufe, jondern im Theater zu fein.“ 

Die Dftentation, die Trimaldio mit feiner Liebe zur Mufik treibt, erklärt 
fih wohl daraus, daß fie durch Nero's Vorgang in der damaligen höheren Gejell- 
Tchaft zur Dtodeleidenichaft geworden war. Selbft während er fi in der Sänfte 
aus dem Bade na Haufe tragen läßt, muß ein Flötenſpieler dicht neben ihm 
gehend („jo daß es ſchien, al3 ob ex ihm etwas ins Ohr ſagte“) ihm vorblajen. 
Einer jeiner Gäfte, der früher als ein vorzüglicher Sänger gegolten, und fi) in 
feiner Jugend, wie ex jagt, „Faft die Schwindjucht an den Hals gefungen hatte“, 
wird von ihm vergeblich aufgefordert, etwas zum Beſten zu geben; jpäter „miß— 
handelt“ er ſelbſt die Arien de3 in jener Zeit berühmten Componijten Menecrates, 
„wie diejenigen ſagten, die fi) auf feine Stimme verftanden“. Auch fonft legt 
er offenbar großen Werth darauf, zu zeigen, dat er alle Intereſſen und Lieb» 
Habereien der Gebildeten theile. Ex rühmt die Meifterichaft feiner Fortunata in 
einem grotesfen Tanze, und nur durch fie läßt er fi abhalten, vor den Gäjten 
einen Tanz in der Weiſe eines damals berühmten Bühnenkünftlers aufzuführen. 
Seine Kennerſchaft in Sachen der bildenden Kunft möchte ex „für fein Geld ver- 
taufen“; befonders liebt ex alte Silberarbeiten (ein Hauptgegenftand der Leiden- 
ſchaft der damaligen Kunftfammler); ex hat große Pokale, „auf denen Kaflandra 
ihre Söhne tödtet, und die todten Knaben jo natürlich daliegen, daß man fie für 
Iebendig hält, und andre, auf denen Dädalus die Niobe in das hölzerne Pferd 
einjchliegt” (gemeint ift Meden und die Kuh der Paſiphae). Auch Hier aber 
zeigt ex dieſelbe Wielfeitigkeit des Geihmads wie in den Wandmalereien, mit 
denen er fein Atrium ausgeftattet hat, und die außer Scenen der Ilias und 
Odyſſee auch ein Kürzlich gegebene großes Gladiatorenfpiel vorftellen: ebenſo 
rechnet er zu den beften Stüden feiner Sammlung neben jenen angeblid alten 
Silberarbeiten auch Becher, auf denen die Kämpfe zweier berühmten Gladiatoren 
abgebildet find. Gefäße aus Korinthiicher Bronze (einer Mifchung, deren Ge— 
heimniß verloren gegangen war) von unzweifelhafter Echtheit beſitze ex allein; 
denn der Fabrikant, von dem er fie Faufe, heiße Korinthus. Uebrigens jei dies 
nur ein Scherz, ex wiſſe jehr wohl wie die korinthiſche Bronze entftanden jei: 
bei der Eroberung von Ilium babe Hannibal („ein jchlauer Kerl und großer 
Spitbube”) alle goldenen, filbernen und bronzenen Statuen zufammenjchmelzen 
laſſen: „jo ift das korinthiſche Erz entjtanden, von Allem etwas, nicht Fiſch 
noch Fleiſch. Nehmt es mir nicht übel: ich Habe Glas lieber, wenigſtens riecht 
es nit” "). 

Befonders aber liegt ihm daran, den ftudirten Leuten, die er ausnahmsweiſe 
eingeladen hat, zu zeigen, daß er auch eine höhere Schulbildung beſitze. Bei dem 
Lehrer der Beredjamkeit Agamemnon erkundigt ex ji) nah dem Thema einer 
in der Schule gehaltenen Uebungsrede; auch er habe zum Hausgebraude Bildung 
gelernt, obwohl er es nicht nöthig Habe, und befite zwei Wibliothefen, eine 


1) Die Kenner wollten die echte korinthiiche Bronze am Geruch erkennen. 


390 Deutiche Rundſchau. 


griechifche und eine lateinische. Ob Agamemnon auch die zwölf Arbeiten des 
Herkules wife und die Geihichte vom Ulyſſes, wie ihm der Cyklop den Daumen 
ausdrehte? „Ach pflegte Died in meiner Jugend im Homer zu leſen“. Das 
Griechiſche (feine Mutteriprache) ſcheint er übrigens völlig vergeffen zu haben; 
benn während jener Aufführung einer Scene aus der Ilias durch fogenannte, in 
griechiſchen Verfen redende Homeriften, lieft er mit lauter Stimme einen lateiniſchen 
Tert dazu. „ALS dann eine Paufe eintrat, jagte er: Wißt ihr, was für ein Stück 
fie aufführen? Es waren einmal zwei Brüder, Diomedes und Ganymedes, die 
hatten eine Schwefter Helena. Agamemnon raubte fie und jchob der Diana 
eine Hirſchkuh unter. Und fo erzählt Homer jeßt, wie Trojaner und PBarentiner 
miteinander fämpfen. Agamemnon fiegte nämlich und gab jeine Tochter JIphi— 
genia dem Achill zur Frau. Deshalb iſt Ajar raſend.“ Won feiner Fertigleit 
im Verſemachen (die die Gebildeten damal3 in ber Regel aus der Schule mit- 
braten), gibt ev außer der bereitö angeführten noch eine zweite Probe, und an dieie 
fnüpft ſich ein Gefpräch über Literatur. Trimalchio fragt, worin ‚der Unterihied 
zwiichen Cicero und Publilius Syrus (einem Poffendichter, deffen zahlreiche Sen 
tenzen in den Schulen auswendig gelernt wurden) beitehe, und beantwortet die 
Trage jelbft: der eine jei beredter, der andere moraliicher. Seine Kenntniß in der 
(damals als Wiſſenſchaft anerkannten) Aftrologie zu zeigen, gibt ihm jenes runde 
Speijebrett mit den zwölf Himmelszeichen Gelegenheit. „Man muß, fagt er, 
fi auc beim Eſſen mit Wiſſenſchaft befchäftigen. Mögen die Gebeine meines 
ehemaligen Herrn fanft ruhen, der mich nicht wie ein Stüd Vieh hat aufwachſen 
lafjen! Mir kann man nicht? vorbringen, was mir unbefannt ift. Diejer Himmel, 
in dem die zwölf Götter wohnen, verwandelt fi in ebenjo viel Figuren, und 
wird 3. B. ein Widder. Wer aljo unter diefem Zeichen geboren wird, hat viel 
Vieh, viel Wolle, außerdem einen harten Kopf, eine ausverſchämte Stirn, ein 
ſpitzes Horn. In diefem Zeichen werden viel Studirte geboren, auch Böchchen. 
Hierauf wird der Himmel ein Stierhen. Dann werben aljo Pferde geboren, die 
hinten ausſchlagen und Ochfenhirten und Leute, die ſich ihr Futter jelbft fuchen. 
In den Zwillingen werden Zweigeſpanne von Pferden und Ochſen geboren, und 
Maler, die die Stuben auf beiden Seiten anftreihen. Im Krebs bin ich geboren, 
daher ftehe ih auf vielen Füßen, und habe viel Eigenthum zu Lande und zur 
See; denn der Krebs paßt zu Beidem. Im Löwen werden Treffer und Groß: 
mäuler geboren, in der Jungfrau Weiber und weggelaufene und an bie Kette 
gelegte SHlaven, in der Wage Fleiſcher und Parfümeriehändler und Solde, die 
Geihäfte machen, im Scorpion Solche, die mit Gift und Dolch bantiren, im 
Schützen Schieläugige, die nach dem Speck jehen und nad) dem Gemüſe langen, 
im Steinbod Mühjelige, denen Hörner aus den Baden wadjen,; im Wafjermann 
Schenkwirthe und Schröpfköpfe, in den Fiſchen Köche und Profefforen der Rede: 
kunſt. So dreht fid) der Kreis wie eine Mühle und macht immer eine Hererti, 
daß Menſchen entweder fterben oder geboren werden.“ 

Trimaldio zeigt fild aber nicht bloß al3 ein Mann, der Vieles weiß, er hat 
auch über Natur und Leben nachgedacht. „Welche Kunft,” fragt er, „dünkt euch am 
ſchwerſten nächft der Gelehrfamteit? Ich meine, Arzt und Geldwechäler. Der 
Arzt, weil er weiß, was die Menjchen Hinter den Rippen haben, und wann da3 


Petron’3 Gaftmahl des Zrimaldio. 391 


Fieber kommt; obwohl ich fie nicht leiden mag, teil fie mix jo oft Entenbraten 
verordnnen; der Geldiwechäler, weil er durch die Silberplattirung da3 Kupfer jieht. 
Was das ftumme Vieh betrifft, jo find darunter die arbeitjamften die Ochjen und 
die Schafe: die Ochfen, denen wir es verdanken, daß wir Brod effen, die Schafe, 
weil fie machen, daß wir mit feinen Kleidern die thun können. Und es ift 
Ihändlich, Einer ift Hammelbraten und trägt dabei ein Wollhemde! Aber ganz 
himmlische Thiere find die Bienen, weil fie Honig jpeien, obwohl man jagt, daß 
fie ihn vom Jupiter bringen; daß fie aber ftechen, das gejchieht deshalb, weil, wo 
etwas Süßes ift, aud etwas Bittre fein muß.“ 

Die Tiſchgeſellſchaft Trimalchio's befteht einerjeit3 aus den zum erften Male 
eingeladenen, der gebildeten Gejellichaft angehörigen Gäften (dem erwähnten Aga— 
memnon, dem Erzähler und feinem Gefährten Ascyltos, welche von dem Pagen 
Giton begleitet werden); andrerjeit3 aus Treigelafjenen, meiftens desſelben Herrn, 
zu deſſen Sklaven auch Trimaldio gehört hat. Die Lekteren fühlen fich neben 
den „Studirten“ nicht behaglich, da fie nicht mit Unrecht annehmen, daß dieſe 
fih im Stillen über fie luftig machen. Sie find ſämmtlich Geſchäftsleute; einer 
ein Fabrikant von Lappendeden (die mit Waffer getränft zum Feuerlöſchen dienten), 
ein anderer ein Leichenbejorger (ein für unanftändig geltendes Gewerbe); die Ge— 
fchäfte der übrigen werden nicht angegeben. Man muß, wie der Erzähler von 
jeinem Tiſchnachbar belehrt wird, vor Allen Refpect haben, da fie „viel Moos“ 
haben. „Der Eine, der Heute feine achtmal Hunderttaufend (174000 Marf) gut 
iſt, hat mit nicht3 angefangen, noch vor Kurzem Holzbündel auf dem Rücken 
getragen. Aber wie die Leute jagen — ich weiß nichts Sicheres, jondern habe 
e3 nur gehört — er hat einem Kobold die Kappe weggenommen, und der hat 
ihm einen Schaf gezeigt. Kürzlich hat er folgende Anzeige anjchlagen Laffen: 
die Mietwohnung de3 Gajus Pompejus Diogenes ift vom 1. Juli ab zu vers 
miethen; denn er hat fi ein Haus gekauft." Gin Andrer, der Leichenbejorger, 
„hat einmal jeine Million (217500 Mark) beifammen gehabt, aber er hat auf 
der Kippe geftanden. Ich glaube, daß ihm nicht die Haare auf feinem Kopfe 
gehören, aber, jo wahr ich lebe, es ift nicht feine Schuld. Er iſt der beſte Menſch 
von der Welt, aber die Schurken von Frreigelaffenen, die Alles eingefact haben ! 
Du weißt, ift bei einem Geſchäftsmann erft Ebbe in der Caſſe, dann machen ſich 
die Freunde aus dem Staube. Er pflegte zu fpeifen wie ein König: ganze Wild- 
jchweine, Conditoraufjäße, feines Geflügel — Köche, Conditoren! Unter den Tiſch 
wurde mehr Wein gegofjen, als Mancher im Keller hat. Nicht wie ein Menſch, 
nein, der reine Uebermuth! Als es anfing, mit ihm ſchief zu gehen, und er 
fürchtete, daß feine Gläubiger ihn für bankerott halten würden, zeigte er auf 
folgende Weife eine Auction an: Gajus Julius Proculus wird jeine überflüfligen 
Sachen verfteigern.“ 

Die ausſchließlich von diefen Freigelaſſenen geführten Tiſchgeſpräche drehen ſich 
zuerft um das Wetter, dann um einen kürzlich eingetretenen Todesfall. „Ic 
fonnte heute fein Bad nehmen,” jagt der Eine, „denn ich war zu einem Begräbniß. 
Der nette Mann, der gute Chryſanthus ift abgefragt. Noch ganz vor Kurzem 
bat er mich angejprodhen, mir ift, al3 ob ich noch mit ihm vede. Ad ja, ad) 
ja, wir gehen einher wie Schläuche, die mit Luft voll geblajen find. Wir find 


392 Deutiche Rundichau. 


nicht einmal jo viel werth wie Fliegen; Fliegen haben doch nod einige Kraft in 
fi; wir find nicht jo viel werth als Waſſerblaſen. Und wie wäre e8 ihm erft 
ergangen, wenn er nicht die Hungerkur gebraucht hätte? Fünf Tage hat er 
feinen Tropfen Wafjer in den Mund genommen, fein Krümchen Brot, und doch 
hat ex ins Gras beißen müſſen. Die Aerzte haben ihm den Garaus gemacht, 
oder vielmehr es war ihm jo beftimmt, denn ein Arzt ift weiter nichts als eine 
Beruhigung für das Gemüth. Aber fein Begräbnig war jehr anftändig, eine 
ordentliche Bahre, gute Tücher. Auch die Todtenklage war jehr gut — er hatte 
Mehrere freigelaffen — wenn auch feine rau ihn nicht aufrichtig beweint Hat. 
Und wie wäre es exjt geweſen, wenn er fie nicht fo gut behandelt hätte? Aber 
die Weiber, eine wie die andere, find alle faljche Katen. Dan muß Niemandem 
nichts Gutes erweiſen, es ift, al3 wenn man es in den Brunnen wirft. Aber 
freilich, eine alte Liebe hält feft wie mit Zangen.“ 

Hier Fällt ein Anderer ein: „Laßt uns an die Lebenden denken! jener hat, 
was ihm zufam: anftändig hat er gelebt, anftändig ift ev geftorben. Worüber 
hat ex zu Hagen? Mit einem As hat er angefangen, und es war ihm nicht 
zu Schlecht, einen Dreier mit den Zähnen aus dem Koth zu nehmen. Und jo ift 
er in die Höhe gegangen wie auf Hefen. Ich glaube wahrhaftig, daß er ganze 
Humnderttaufend (21750 Mark) Hinterlaffen hat, und er Hatte Alles haar. 
Uebrigens will ich die Wahrheit jagen wie Einer, der eine Hundszunge gegefien 
bat. Er Hatte ein böſes Maul, eine loſe Zunge, nicht wie ein Menſch, nein, 
der reine Krakehl! Sein Bruder, da3 war ein braver Mann, ein Freund für 
feine Freunde, mit offener Hand, und führte einen guten Tiſch. Als er noch 
ein Anfänger war, konnte er auf feinen grünen Zweig fommen, aber die erfte 
MWeinlefe ftellte ihn auf die Füße, denn damals konnte ex für feinen Mein 
fordern, fo viel er wollte. Und wodurch er recht in die Höhe kam, das ar, 
dag ihm eine Erbſchaft zufiel, von der er mehr bei Seite brachte, als ihm ver« 
madt war. — Und jenes Stück Holz hat, weil er auf feinen Bruder böſe war, 
einem Andern, der ihn gar nichts anging, jein Vermögen vermadt. Wer fein 
Fleiſch und Blut nicht achtet, der achtet gar nichts. Aber er hatte Sklaven, 
die ihm immer in den Ohren lagen; die haben ihn zu Grunde gerichtet. Aber 
wer zu jchnell Vertrauen hat, der wird niemals das Rechte treffen, beſonders 
ein Geihäftsmann. Doch wahr bleibt, dad er ſich's wohl fein ließ, jo lange er 
lebte. Wem es zu Theil wird, dem wird es zu Theil, nicht wen es beitimmt 
geweſen iſt. Wahrhaftig ein Glückskind, in feiner Hand wurde Blei zu Gold. 
Mit einem Wagen, der von felbit Yäuft, ift leicht fahren. Und wie viele Jahre 
glaubt ihr, daß er auf dem Rücken hatte? Siebzig und drüber! Und er war 
wie von Eifen, das Alter Hatte ihm nichts an, ſchwarz wie ein Nabe. Ich 
fannte den Burjchen ſeit Olim’3 Zeiten, und er war immer no ein Mädchen: 
jäger. Ih tadle das nicht, es ift doch das Einzige, was er mit fi ge 
nommen bat.“ 

Hierauf folgt eine Unterhaltung zwiſchen zwei andern Fyreigelaffenen über 
die jtädtiichen Angelegenheiten, dev Eine findet, dat es damit jehr jchlecht ſtehe, 
früher ſei Alles beſſer geweſen; der Andere urtheilt jehr wohlwollend und meint, 


Petron's Gaftmahl des Trimalchio. 393 


dat man alle Urſache habe, zufrieden zu ſein!). Diefer letztere ſucht nun aud) 
einen der den Stammgäften Trimalchio's unheimlichen „Studirten“ ind Geſpräch 
zu ziehn. „Du fiehft jo aus, Ngamemnon, jagt er, ald ob Du jagen millit: 
Was plappert der langweilige Kerl? Weil Du, der jo gut ſprechen kann, gar 
nicht ſprichſt. Du bift nit von unſerem Schlage und machſt Dich über die 
Reden von und geringen Leuten luſtig. Wir wiffen, daß Du vor lauter Gelehr- 
famfeit nicht vecht Elug bift. Was macht es aus? Ich möchte Dich einmal be- 
reden, auf mein Gut zu kommen und Div meine Baraden anzufehn. Etwas zu 
beißen werden wir finden, ein Hähnchen, Eier; es wird gemüthlich jein, wenn 
auch der Sturm übel gehauft Hat; wir werden jchon etwas finden, wovon ir 
fatt werden. Und im meinem Jungen wächſt ein Schüler für Dich heran. Er 
fann ſchon einfache Zinsrechnung; wenn er am Leben bleibt, wirft Du einen 
kleinen Diener an ihm haben, denn wenn er nur Zeit hat, hebt ex den Kopf 
nicht von der Schreibtafel. Er hat einen guten Kopf und ift von guter Art, 
nur auf die Vögel zu jehr verſeſſen. Ich habe ſchon drei Stiegligen den Hals 
umgedreht und gejagt, das MWicjel hat fie gefreffen. Aber er bat ſich auf andres 
dummes Zeug gelegt und malt für jein Leben gern. Uebrigens hat ex ſchon 
Griechiſch angefangen, und zum Latein hat er rechte Luft, wenn auch jein Lehrer 
ein eingebildeter Menſch ift und nicht bei der Stange bleibt, jondern er fommt, 
ih joll ihm etwas zu fchreiben geben, arbeiten will ex nicht. Ich habe auch 
nocd einen andern, der zwar nicht viel gelernt hat, aber fid Mühe gibt und 
mehr lehrt, al3 er weiß. Er kommt an den Feiertagen, und was man ihm dann 
gibt, damit ift er zufrieden. Ich habe dem ungen einige ſolche Bücher mit 
rother Schrift?) gekauft, weil ich will, daß er zum Hausgebrauch etwas vom 
Aus profitiren ſoll. Diefe Sade gibt Brod. Denn von Bildung bat ex fchon 
genug weg. Wenn er abipringt, will ich ihn ein Gejchäft lernen laſſen, Barbier- 
laden oder Auktionskommiſſar oder wenigftens Anwalt®), und das fann ihm 
dann doch nur der Tod nehmen. Daher predige ih ihm alle Tage: Mein Sohn, 
wa3 Du lernjt, das lernſt Du für Dich jelber. Du ſiehſt den Anwalt Phileros: 
hätte ex nichts gelernt, fo hätte er heute nichts zu beißen. Es ift noch gar nicht 
lange ber, daß er Päcke zum Verkauf auf dem Rüden trug, jet macht ex ſich 
fogar gegen den Norbanus breit. Ya, ja, Bildung ift ein Kapital, und was 
man gelernt hat, da3 bleibt ewig.“ 

Doch diefe Annäherung bleibt vergeblid; die „Studirten“ betheiligen ſich 
auch ferner nicht an der Unterhaltung, und als Einer von ihnen, Ascyltos, den 
jene Verloofung von Gaſtgeſchenken begleitenden Witzen in ausgelafjener Luſtig— 
keit, bis zu Thränen lachend, ironijchen Beifall ſpendet, ergrimmt einer der Mit— 
freigelaffenen Trimalchio'ſs. „Was Haft Du zu laden, Schöps?“ jagt er. 
„Gefallen Dir die hübjchen Feinheiten unſeres hochgeehrten Hausherrn nicht? Du 
bift wohl reicher und an beſſere Bewirthung gewöhnt? So wahr die Schub- 

1) Diefer Dialog ift in dem oben citirten Aufſatz „Städtewejen in Italien unter den römischen 
Kaifern“ (Deutfche Rundſchau, Bd. XIX, ©. 226 ff.) bereit3 mitgetheilt worden. 

2) In ben juriftiichen Büchern waren bie Anfangäworte der Geſetze mit Röthel (rubrica) 
geichrieben. 

3) Dieje bedurften keiner Rechtsgelehrſamkeit, jondern nur der Berediamteit. 


394 Deutiche Rundſchau. 


göttin diejes Ortes mir gnädig fein möge, wenn ich meinen Pla neben ihm 
hätte, würde ich ihm jchon eins verjettt haben. Ein ſauberes Früchtchen! und 
unterfteht ji, über andre Leute zu lachen. Irgend ein fortgejagter Thunicht— 
gut, der Nachts auf der Landftraße jein Wejen treibt! So wahr ich lebe, id 
gerathe nicht jo leicht in Kite, aber wenn das Fleiſch faul wird, gibt es Maden. 
Gr laht! Was hat er zu lachen? Iſt er aus andrem Material als andere 
Leute? Du bift ein römiſcher Ritter? Und id) aus Föniglihem Blut! Wes— 
halb ich alfo gedient habe? Weil ich freiwillig in Dienft gegangen bin und 
lieber römischer Bürger jein wollte als ein Kopffteuerpflichtiger‘). Und jeht 
ſchmeichle ich mir, jo dazuftehn, daß Niemand über mich laden darf. Ich bin 
ebenjo gut als andre Leute, ich brauche mich nicht zu verſtecken; ich bin 
Niemanden einen Kupferdreier Ihuldig; Niemand hat mir einen Termin zum 
Zahlen gejegt, Niemand hat auf dem Forum zu mir gejagt: Gib her, was Du 
ichuldig bift! Ich habe ein paar Stückchen Land gekauft, ich habe ein baares 
Sümmcden erworben, ich füttere zwanzig Mäuler und einen Hund; meine 
Mitſklavin Habe ich frei gefauft, damit fi Niemand an ihren Haaren die 
Hände abtrodnen fol. Tauſend Denare (870 Mark) Habe ich für meine Freiheit 
bezahlt. Ich bin mit Erlaß der Gebühren zum Sevir ernannt worden. Ich 
hoffe jo zu fterben, daß ich mich nach meinem Tode nicht zu ſchämen brauche. 
Du haft wohl fo viel zu thun, daß Du niemals in den Spiegel ſchauen fannft ? 
An einem Anderen ſiehſt Du das Hleinfte Läuschen, an Dir felbft nicht die aller- 
größte Laus. Du bift der Einzige, dem wir lächerlich vorfommen. Da ift Tein 
Lehrer, ein älterer Dann, der findet an una Gefallen. Du Grünſchnabel, kannt 
nit Mu, nicht Ma jagen, Du Wajchlappen! Bit Du reicher ald ih? Tann 
iß zweimal zu Mittag und zweimal zu Abend. Mir ift mein Credit lieber 
als alle Geldkaften in der Welt. Kurz und qut, wer hat mid; zwei Mal ge 
mahnt? Vierzig Jahre habe ich gedient, aber Niemand hat unterjcheiden können, 
ob ic ein Sklave war oder ein Freier. Ich war noch ein Junge, der langes 
Haar trug, als ich in dieje Stadt Fam, und die Bafilica war noch nicht gebaut. 
Ich habe gethan, was id) konnte, um meinen Herrn zufrieden zu ftellen, einen 
hoch nobeln und würdigen Mann, deſſen Kleiner Finger mehr wert war als 
Du von Kopf bis zu den Füßen. Und es gab Leute im Haufe, die mir ein 
Bein ftellen wollten; do, Dank und Preis meinem: Schußgeift, habe ich mein 
Schäfchen aufs Trodene gebradt. Das find die richtigen Proben. Denn frei 
auf die Welt fommen, ift jo leicht wie Brod effen. Was ftierft Du mich jebt 
an wie die Kuh den Kaiſer?“ 

Bei dieſen Worten brach Giton, der hinter uns ftand, höchſt ungeziemender 
Weife in ein lange verhaltenes Gelächter aus. Als dies der Gegner des 
Ascyltos bemerkte, richtete er jeine Scheltworte gegen den Knaben und jagte: 
„Du lachſt auch, Dur betroddelte Zwiebel? Hurrah Saturnalien! Ich frage, ſeit 


!) Der durch bie Freilaſſung römischer Bürger gewordene Sflave nimmt nun eine höhere 
ftaatärechtliche Stellung ein als feine freigebliebenen Landsleute in der heimathlichen Provinz, bie 
Kopffieuer zahlten (was im Alterihum als Zeichen der Unfreiheit galt. Prahlerei mit einer 
Abftammung aus angeblich föniglichem Geichlecht wird unter Sklaven häufig geweſen fein. 


Petron's Gaftmahl des Trimaldio. 395 


wann haben wir December?!) Wann haft Du die Freilafjungsfteuer bezahlt ??) 
Du Galgenfutter, Du Rabenfrag! Ich will jchon dafür jorgen, daß Du den 
Zorn Jupiters fühlen jolft und auch jener, der Di nicht im Zaume hält. 
So wahr id don Brod jatt werden will, es gejchieht nur aus Reſpect vor 
meinem hochgeehrten Herrn Mitfreigelaffenen (Trimaldio), jonft würde ih Dir 
ihon Dein Theil gegeben haben. Das find Schlingel, die Dich nicht in Zucht 
halten. Natürlich, wie der Herr, jo der Knecht! Ich kann mich kaum halten, 
und ich bin do von Natur fein Hitzkopf, aber wenn ich einmal anfange, 
reipectire ich meine eigene Mutter nit. Schon gut, ih werde Dich ſchon 
einmal auf der Straße treffen, Du Wurm! Du Pilz! Ich will nicht nach oben 
und nicht nah unten wachſen, wenn ich Deinen Herrn nicht in ein Mauſeloch 
jage, und auch Dich werde ich nicht mit Handſchuhen anfaffen, magſt Du aud) 
den allerhöchften Jupiter anrufen. Ich will ſchon dafür forgen, daß Dir Dein 
drei Viertel Ellen langes Haar und Dein nichtsnutziger Herr nichts helfen foll. 
Schon gut! Du wirft mir einmal unter die Finger kommen! Gntweder id) 
fenne mich nicht, oder Du wirft aufhören über mid) zu laden, wern Du aud) 
ein noch jo feiner Käfer bift. Ich werde dafür jorgen, daß Du den Zorn ber großen 
Göttin Athene fühlen ſollſt, und auch der Kerl, dev Dich jo frech Hat werden 
lafjen. Ich Habe fein Geometrien und Wefthetifen und Ologien und Nomien 
gelernt, aber id Tann die Buchſtaben auf den Steinen Iefen, ich kann bie 
Procente in Münze, Maß und Gewicht ausrechnen. Kurz und gut, probire es: 
wir wollen eine Wette machen; komm her, ich lege da3 Geld hin. Du follit 
jegt erfahren, daß Dein Vater umfonft für Dih Schulgeld bezahlt hat, wenn 
Du auch Rhetorik weißt. Paß auf! Ich komme lang, ic) komme breit : num [öfe mich ! 
Mas ift das? Ich kann Dir aud) jagen, wer läuft und nicht vom Flecke fommt, 
und wer wächſt und dabei Kleiner wird?). Du mudjeit und ftierft und quälft 
Did ab, wie eine Maus im Nachttopf! Alſo entweder halte Dein Maul oder 
laß einen Befjeren ungejchoren, für den Du Luft bift! Oder glaubt Dein Herr 
vielleicht, ich füimmere mid) um bie Ringe au Bur, die ex feinem Liebchen ge 
ftohlen hat? Heiliger Greifzu! Er joll einmal mit mir aufs Forum gehen, 
und wir wollen beide Geld borgen: dann foll er fehn, daß ein eiferner Ring 
auch Eredit hat*)! So wahr ich gute Gejchäfte machen, jo wahr ich gut fterben 
will: wenn ih Dich nicht ins Bockshorn jage, joll man meinem Feinde ein 
Ende wünſchen wie das meine! Dex Lehrer, bei dem Du in die Schule gegangen 
bift, muß ein Affe geweſen jein. Zu meiner Zeit lernte man andere Dinge. 
Da jagte der Lehrer: Habt ihr alles in Ordnung? dann geradeswegs nad) Haufe, 
nicht umbergaffen, ältere Leute nicht jchimpfen! Ich, wie Du mid) hier fiehft, 
bin den Göttern dankbar für das, was ich gelernt habe.“ 





1) Die Saturnalien, an denen man ben Sklaven eine große Freiheit geftattete, dauerten vom 
17. bis 23. December. 

2) Eine im ganzen Reiche erhobene Abgabe von fünf Procent vom Werthe frei zu laſſender 
Sflaven, bie in ber Regel wohl bie Letzteren zu tragen hatten. 

) Drei Bolföräthiel. Das erfte ift der Aufzug und Ginjchlag des Gewebes; dad zweite die 
tanzeude und doch auf derſelben Stelle bleibende Spindel; das dritte ber Faden, der auf ber 
Spindel länger wird, während er auf dem Roden abnimmt. 

) Ascyltos hat ala römischer Nitter das Necht, goldne Ringe zu tragen, Männer bed 
dritten Standes trugen eiſerne. 


396 Deutiche Rundſchau. 


Hier legt ſich Trimalchio befhmwichtigend ins Mittel und ermahnt den 
Zornigen, ex möge al3 der Klügere nachgeben. Nach einiger Zeit fordert er 
dann einen andern feiner Mitfreigelaffenen auf, etwas zu erzählen. Diefer, durd 
die Leutjeligkeit feines Freundes hoch erfreut, jagte: „Mag mir jeder Profit an 
der Naje vorbeigehn, wenn ich nicht vor Plaifir platze, daß ich Dich jo ver: 
gnügt ſehe. Amüſement fol die Parole fein, wenn mir auch vor den Studirten 
bange ift, daß fie über mich lachen. Aber laß fie nur! Ich will doch erzählen, 
denn was nimmt mir einer, wenn ex über mid) lat?“ „Als ex ſolches geiagt,“ 
begann er folgende Erzählung: 

„Als ich noch diente, wohnten wir in einer engen Gaſſe, jet gehört das 
Haus der Gavilla. Da verliebte ih mid” — wie denn jo etwas wohl von den 
Göttern beftimmt fein mag — in die Frau des Schenkwirths Terentius; ihr 
fanntet doch die Melilla, die Tarentinerin, ein allerliebites Weibchen. Aber id 
hatte fie nicht wegen ihrer Schönheit jo gern, jondern weil fie jo brav mar. 
Menn ich fie um etwas bat, wurde e3 mix nie abgeichlagen; machte fie fich einen 
A3, jo Hatte ich einen halben; Alles, was ich bei Seite legen Tonnte, wanderte 
in ihre Tafche, und nie wurde ich bemogelt. Da ftarb ihr Mann in dem Haufe 
an der Landftraße, two fie wohnten. Ich ſetzte alle Segel bei, um zu ihr zu 
gefangen: in ber Noth, wißt ihr, zeigen fich die Freunde. Zufällig war der 
Herr nad) Capua gereift, um allerlei Gejchäfte zu bejorgen. Dieje Gelegenheit 
benußte ich und beredete einen Fremden, der bei uns wohnte, bis zum fünften 
Meilenftein!) mit mir zu kommen. &3 war ein Soldat, ſtark wie der Teufel, 
Wir machen uns etwa um die Zeit de3 Hahnenfchreis auf die Sohlen, der 
Mond jchien jo heil wie die Sonne am Mittag, Wir fommen ztoijchen die 
Grabmäler, mein Mann geht bei Seite, ich jege mich, trällere ein Liedchen und 
zähle die Leichenfteine. Wie ic) mich wieder nach meinem Gefährten umſehe— 
zieht ex fi) aus und Legt alle feine Kleider neben die Landftraße Hin. Mir 
blieb der Athem im Halje fteden, ich ftand da wie ein Todter. Aber jener zog 
einen Kreis um feine leider und wurde plößlich ein Wolf. Glaubt nicht, daß 
ich ſcherze: man fünnte mir das größte Vermögen anbieten, jo würde ich dafür 
nicht lügen. Aber, was ich eben jagte, nachdem er ein Wolf geworden tar, 
fing er an zu Heulen und lief in die Wälder. Anfangs wußte ich gar nicht, too 
ich war; dann ging id) heran, um die Stleider aufzuheben: fie waren zu Stein 
geworden. Wer konnte da mehr als ich halb todt vor Furt fein? Dod ich 
zog meine Plempe und hieb auf dem ganzen Wege immerfort nad) den Ge 
ivenftern, bi3 ich auf den Hof meiner Freundin kam. Wie Einer, der ſchon im 
Grabe gelegen hat, fam ich an, beinahe wäre es mein letztes Stündchen geweſen, 
der Schweiß lief mir in zwei Strömen von der Stirn herunter, die Augen waren 
wie blind, faum konnte ich mid, erholen. Meine Meliffa wunderte ſich, daß id 
fo jpät unterwegs war, und jagte: Wäreft Du früher gefommen, jo hätteft Tı 
uns wenigſtens beijtehn fönnen, denn ein Wolf brach in den Hof ein und fie 
alles Vieh an; wie ein Fleischer zapfte er ihnen Blut ab. Aber es iſt ihm übel 
befommen, wenn er auch davongefommen ift: unjer Knecht hat ihm den Hals 





!) Eine deutſche Meile. 


Petron's Gaftmahl des Trimalchio. 397 


mit einer Lanze durchbohrt. Als ich das gehört Hatte, Konnte ich fein Auge 
mehr fchliegen, jondern wie es ganz hell geworden war, lief ich jpornftreichs 
nad dem Haufe unferes Gajus, und al3 ich an den Ort fam, mo die Stleider 
zu Stein geworden waren, fand ich nichts als Blut, Al ich aber nad) Haufe 
fam, lag der Soldat auf dem Bette und blutete wie ein O3, und ein Arzt 
verband feinen Haß. Da jah ich wohl, daß er ein Werwolf war, und ich 
£onnte jeitdem feinen Biffen Brod mit ihm zufammen eifen, nicht wenn man 
mich todt geichlagen hätte. Mögen Andre denken, was fie wollen, aber mir 
mögen eure Schußgeifter nicht gnädig fein, wenn ich Lüge.“ 

Als Ale vor Staunen ftumm waren, ſagte Trimaldio: „Ohne daß ich 
damit etwa3 gegen Deine Erzählung jagen will, mir, das könnt ihr glauben, 
haben fi) die Haare auf dem Kopf gefträubt, weil ich weiß, daß Niceros Feine 
laufen erzählt: nein, man fann ſich auf da3, was ex jagt, verlafjen, er ift fein 
Zungendreſcher. Ich will euch auch eine grufelige Gejchichte erzählen. Als ich 
noch langes Haar trug, ftarb der Lieblingsknabe unſeres Prinzipals, wirklich 
eine Perle, ein ganz varer Junge, in allen Stüden perfect. Als nun die arme 
Mutter ihn beklagte und mehrere von uns damals an der Trauer Theil nahmen, 
fingen die Nachtunholdinnen!) draußen am zu faufen: e8 war, als wenn ein 
Hund einen Hafen jagte. Wir hatten damal3 Einen aus Gappabocien, einen 
fangen Kerl, der viel Courage und riefige Kräfte Hatte: er konnte einen 
mwüthenden Stier aufheben. Der lief muthig mit gezogenem Schwert vor bie 
Hausthür, die linfe Hand jorgfältig eingewidelt, und bohrte die Here ungefähr 
an diejer Stelle — was ich berühre, joll gejund bleiben! — duch und durd). 
Wir hören ein Geftöhne, aber ich will nicht lügen, fie jelbft jahen wir nicht. 
Unſer Tölpel aber Fam zurüd und warf fih auf das Bett, und fein ganzer 
Körper war braun und blau, al3 wenn er mit Peitſchen gehauen wäre, weil ihn 
nämlich die böje Hand berührt hatte. Wir jchließen wieder die Hausthür und 
gehn an unſere Verrihtung; aber al3 die Mutter die Leiche ihres Kindes um— 
armen toollte, rührt fie fie an und fieht ein Bündel Stroh. Es hatte fein 
Herz, keine Eingeweide, Nichts: nämlich die Nahtunholdinnen hatten den Stnaben 
ihon geraubt und einen Wechjelbalg aus Stroh untergejchoben. ch bitte euch, 
dag müßt ihr glauben, es gibt Weiber, die Hexen können, es gibt Nacht» 
unholdinnen, und fie ehren das Oberfte zu unterft. Aber jener lange Tölpel 
befam niemals feine gejunde Farbe wieder, jondern nad) einigen Tagen ftarb er 
in Raſerei.“ 

Wir hörten dies ebenfo ftaunend als gläubig an, und den Tiich küſſend, 
baten wir die Nachtunholdinnen, zu Haufe zu bleiben, während wir von der 
Mahlzeit heimfehrten.“ 

Hier enden die Tiſchgeſpräche. Einzig in feiner Art, twie da3 ganze Fragment 
in mehr al3 einer Beziehung ift, vor Allem durch die unvergleichliche Meifterichaft, 
mit der der jonft jo qut wie unbefannte Autor uns da3 Thun, Denken und 
Reden diefer jüditalienischen Kleinftädter vor Augen ftellt, erinnert es zugleich, 
wie unermeßlich unfere Verlufte auf dem Gebiete der antiken Literatur find. 





') Strigae, wovon das italienische strega. 


Heilige Bäume und Pflanzen. 


— —ñ—ꝰ 


Culturgeſchichtliche Skizze 
von 


Dr. Ferd. Adalb. Junker von Fangegg. 


— — 


„Und Gott ber Herr pflanzte einen Garter 
in Eden, gegen Morgen, und jehte ben Meniher 
darein, den er gemadjt hatte. 

„Und Gott der Herr ließ aufwadien an: ver 
Grbe allerlei Bäume, luftig anzufehen und se! 
zu efien, und den Baum bes Yebens mitten im 
Garten, und den Baum bed Grfenntnifies Gute 
unb Böfes.” (I. Mofe 2, 8. 9.) 

Die Verehrung gewifjer Bäume und Pflanzen, der fogenannte Baumcultus, läßt 
fich bis in die Vorzeit verfolgen, deren Dämmerjchleier die vergleichende Mytho— 
Yogie hin und wieder zu lüpfen vermag. Al: das erwachende Menjchengeichledt 
des MWeltentwunders, des geheimnißvollen Wirken und Webens der Natur ftaunend 
gewahrte, wähnte es, das Räthjelhafte deutend, in den kosmischen, zur Kenntniß 
der Sinne gelangenden Erſcheinungen das Walten belebender Geifter zu ahnen. 
und deren Verförperungen in allem Gejichaffenen, in allem am Himmel und auf 
Erden Sichtbaren zu ſchauen. So fam es, daß Fels und Berg, Quell umd 
Strom, Baum und Blume mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachtet, und einer 
innewohnenden ſchützenden Gottheit geheiligt wurden. Und als die Götter 
fpäter vor dem Lichte de3 Kreuzes zerftoben, ward der alte Glaube zum Aber 
glauben, die Mythe zur Mär, und Elb, Nir, Gnom und Wihtel ſpukten fürder 
an einft geweihter Stätte und im Gedenken des Volkes. Um bie entthronten 
Götter vollends aus ihren Heiligthümern und aus dem Sinn der Neubekehrten 
au bannen, errichtete die Hriftliche Kirche aus den Trümmern der zerftörten heid- 
nijchen Altäre Schreine zu Ehren ihrer Blutzeugen und Heiligen und widmete 
ihnen au die Bäume, unter deren uraltem Laubdache vordem die Opfer ge 
taucht Hatten. Halbverjchollene Ueberlieferungen lebten in den jpäteren Legenden 


—— auf, welche manche neu geleſene Blume mit in ihr myſtiſches Gefpinnſt 
oben. 


Heilige Bäume und Pflanzen. 399 


I. 

Inwieferne die religiöfen Syfteme und Mythen der Culturvölker des Alter: 
thums durch die Geſchichte dev Schöpfung und des Falles, wie fie uns die erften 
Gapitel der Genefiß berichten, beeinflußt wurden, läßt ſich kaum ermitteln. 
Doch in Allen überrafhen uns gewilfe Aehnlichkeiten, wenn nicht Ueberein— 
ftimmungen, welche, je nach individuellem Dafürhalten, entweder durch unab- 
hängige Weberlieferungen oder durch die naturgemäße logiſche Entwidlung der 
erſten Mythenfeime der Vorzeit gedeutet werden mögen. 

Mir finden Darftellungen de3 Baumes de3 Leben? und der Grfenntniß 
bereit3 in den älteften Bildiwerfen und Gemälden der Negypter und Afiyrier 
ebenjo wie in denen der Völker des fernen Oftens. Der „heilige Baum“ erſcheint 
in der Symbolik diejer Nationen als da3 Sinnbild des MWeltall3 und des 
Schöpfungsſyſtems, am häufigften aber al3 der Baum des Lebens, defjen Frucht 
den Gläubigen mit göttlicher Kraft erfüllt und ihn vorbereitei für die Freuden 
der Unfterblichfeit. Die älteften Vertreter des Lebensbaumes find die Dattel- 
palme, die Feige und die Föhre oder Geber. 

Am früheften erfchienen die Darftellungen der Palme, der echten Dattelpalme 
(Phoenix dactilifera L.) des Nilthales und der großen alluvialen Ebene Baby- 
loniens, ein Baum, welcher an Höhe und erhabener Würde zwar von vielen an- 
deren Arten übertroffen wird, der fi aber al3 vorzüglichfter Nahrungsſpender 
über die zwei großen Bezirke der alten Givilifation verbreitet, und von jeltener 
Schönheit, wenn zur Zeit der Reife die goldenen Fruchttrauben unter dem Bal- 
dadjine dunkelgrüner Fiederwedel erglänzen. Wir fehen dieſe Palme als den 
Baum de3 Lebens auf einer ägyptifchen Stele (Grabtafel) dargejtellt, welche 
wahrjcheinlich aus der Zeit der achten Dynaftie (1701 — 1447 nad) Lepfius) ftammt, 
und jegt im königl. Mufeum in Berlin aufgeftellt ift. Zwei Arme reichen aus 
den Gipfel des Baumes, deren einer dem vor demjelben ftehenden Berftorbenen 
eine Schale mit Datteln reicht, während der Andere ihm das Wafler des Lebens 
bietet. Es find die Arme der Göttin Nepthys oder Neb-hat, „Frau des Haujes“ 
der Göttin der Unterwelt, welche in anderen und jpäteren Darftellungen in ganzer 
Figur erfcheint. Auf einer anderen, von Rojellini abgebildeten Stele erhalten 
mehrere Gejchledhtsfolgen einer vornehmen Familie Nahrung vom Baume de3 
Lebens, welcher Hier durch den ägyptiſchen Feigenbaum (Fieus Sycamorus L., 
die Sykomore der heiligen Schrift) verfinnbildet ift. Auch hier erhebt fich die 
Göttin Neb-hat aus dem Gipfel de8 Baumes und hält, wie in den anderen 
Stelen, in einer Hand eine Schale mit Feigen und gießt mit der anderen einen 
Strom Waſſers aus einem Gefäß. Eine andere Feigenart ift der heilige Feigen— 
baum Indiens (Ficus religiosa L.) Aswathä, unter welchem Viſchnu geboren 
wurde, und den Brahmä zum Könige aller Bäume machte, als diefer die Könige 
der Thiere, Vögel und Pflanzen ernannte, auf daß fie Werkzeuge feien zur Er— 
haltung der Welt. Diefer Feigenbaum ift auch der heilige Baum der Buddhiſten, 
Pipul oder Bö (ſiameſiſch Pothi), unter welchem Shakyamuni Gautama (Buddha) 
ruhte, al3 ex in das Nirwana verſank. 

Der heilige Baum, welcher ftet3 auf aſſyriſchen Denkmälern abgebildet iſt, 
gleicht der herfömmlichen Darftellung der Dattelpalme; die Spitblätter, deren 


400 Deutiche Rundſchau. 


Fiederwedel, find jedoch häufig durch Föhren- oder Gedernzapfen erſetzt, wahr» 
jcheinlich durch eritere, da mehrere Föhrenarten auf dem aſſyriſchen Hochlande 
häufig vorfommen, während die Geder (Cedrus Deodara Roxb.), welche wegen 
ihres mächtigen Wuchjes in Nepaul im nordöftlichen Indien hochgeſchätzt und 
al3 ein heiliger Baum verehrt wird, nicht weſtwärts vom Himalaya- Gebirge 
verbreitet it. Achnliche Pinienzapfen halten auch die Priefter in ihren Händen, 
twahricheinlich von derfelben Föhrenart, welche in den religiöfen Proceffionen an 
dem Plinthe der Säulenhalle von Perjepolis zu ſehen ift. 

63 wäre kaum möglich geweien, geeignetere Symbole des myftiichen Baumes 
de3 Lebens, deifen Frucht Kraft und Weisheit verleiht, zu wählen, als die Dattel- 
palme und den Feigenbaum, welche beide die wichtigften Nahrungserzeuger des Oſtens 
find. „Ehre,“ ſprach Mahomed, „Deine väterliche Muhme, die Dattelpalme, denn fie 
wurde im Paradieſe aus demfelben Exdenfloße geichaffen wie Adam.“ And eine 
jpätere mahomedanische Neberlieferung berichtet: „Es wurde Adam geftattet, drei 
Dinge aus dem Paradieſe mit ſich zu nehmen: eine Myrthe, die lieblichite der 
jüßduftenden Blumen auf Erden, eine Weizenähre, den vorzüglidften Nährftoff, 
und eine Dattel, die herrlichſte Frucht der Welt. Diefe paradiefiihe Dattel 
wurde auf wunderbare Weife nach dem Hejäz gebradht, und von ihr ftammen 
alle Dattelpalmen auf Erden, und Allah beitimmte fie zur Nahrung aller wahren 
Gläubigen, welche jämmtliche Yänder, wo fie wächſt, erobern jollten.“ Dieſe 
Legende beftätiget den hohen Werth, in welchem die Dattelpalme allgemein gehalten 
wurde, und jchließt die Vermuthung aus, daß fie ala ein heiliged Symbol von 
einem Lande aus dem andern geborgt wurde, oder daß in den goldenen 
Palmenbäumen de3 Tempels Salomon’s ägyptiſche Ginflüffe zu fuchen jeien. 
Sowohl die Juden al3 die Araber betrachteten diefen Baum al3 eine myſtiſche 
Allegorie des Menichen, denn gleich diefem ftirbt er, wenn ſein Kopf (die Gipfel: 
knoſpe) abgeichnitten wird, und ein abgehauener Arm (Ziveig) wächſt nicht wieder. 
Aus dem geheimnivollen Wallen der Blätter an windjtillen Tagen kann der 
KHundige gegenwärtige und fünftige Greigniffe deuten, glei Abraham, welcher, 
twie die Rabbiner berichten, die Sprache der Palmen verjtand. 

Die Palme ift eines der biblischen Bilder des Geredhten, und auf fie werden 
vielfach die Worte der Offenbarung Johannis (22,2) gedeutet: „Mitten auf ihrer 
Gafje, und auf beiden Seiten des Stroms jtand Holz des Lebens, da3 trug 
zwölferler Früchte und brachte feine Früchte alle Monate; und die Blätter des 
Holzes dienten zu der Gefundheit der Heiden.“ Dieſe Auslegung ſcheint ſchon 
in früher chriftlicher Zeit anerkannt geweſen zu fein, und wir jehen den Baum 
de3 Lebens in mehreren der ältejten Moſaiken in den Apfen römiſcher Bafiliten 
durch eine Palme dargeftellt. In der Kirche der heiligen Gosmas und Damian 
(ehemaliger Tempel des Remus, zuerft dem heiligen Felix, dann 526 den beiden 
obgenannten Heiligen geweiht) erjcheint dev Phönir, die ältefte Verfinnbildlichung 
des Deren, auf dem Wipfel der Palme. Am den berühmten Moſaiken aus dem 
achten Jahrhundert, im Oratorio di San Venanzio des Baptifterium Gonftantin’s 
de3 Großen (S. Giovanni in Fonte) an der Bafılifla San Giovanni in Yaterano 
erhebt fi) eine Palme mit Gott, Vater und Sohn an ber Seite, aus einer 
Ginhegung, welche ein Engel mit gezüdtem Schwerte bewacht. Es wäre baber 


Heilige Bäume und Pflanzen. 401 


die Palme in den Händen der Märtyrer nicht allein al3 ein Zeichen des Sieges, 
nad heidniſchem Vorbilde zu deuten, jondern noch viel mehr unmittelbar auf „da3 
Holz bes Lebens" zu beziehen, deſſen Blätter „dienten zu der Gefundheit dev Heiden“. 

Palmenzweige wurden nach dem erften Kreuzzuge von den Kreuzfahrern, und 
nachher von den Wallern zum heiligen Grabe, in großen Mengen aus den Küften- 
ebenen Paläftina’3 hHeimgebracht, wodurch ich diefe, Häufig auch „Palmer“ 
genannt, von den Pilgern nad anderen Wallfahrtöorten, wie Rom, Compojftella 
u. a. unterfchieden. Um jene Zeit wurden Palmenblätter in den Bildhauer: 
werfen der Kirchen des nördlichen Europa’3, namentlich als Schmud der Säulen- 
fnäufe, zuerft eingeführt. Daher dürfte e8 überrafchend jcheinen, die Dattelpalme 
in ihrer älteften myjtiichen Geftaltung an mehreren franzöfiſchen Kirchen bereits 
in einer früheren Periode angebracht zu finden. Allein e3 läßt fich in diefer 
der heilige Baum des Lebens, wie er ftet3 an den Wänden der Paläfte Senna- 
cheribs und Eſar⸗-Haddons (702—667 dv. Chr.) dargeftellt wurde, erkennen, welchen 
die Bildhauer in Unkenntniß feiner Bedeutung und des uralt heidnifchen Urſprungs 
mit nur geringfügigen Veränderungen al3 Verzierung ihrer Kirchen nachgebildet 
hatten. Die erfte Einführung des affyrifchen Baumes des Lebens in die Orna- 
mentit Frankreichs mag durch die ausgebreiteten Handelsverbindungen, welche 
während der älteren merovingischen Zeit zwiſchen Gallien und dem öftlichen 
Borde des Mittelmeered beftanden, vermittelt worden fein. Syriſche Kaufleute 
hatten Geihäftshäufer in Gallien, wie aus Gregor’3 von Tours (geb. 546, 
7 594) Schilderungen zu entnehmen, und viele derjelben jcheinen zu den reichften 
und angejehenften Fremden gezählt zu haben. Giner derjelben, Namens Eufebius, 
faufte fi) jogar nad dem Tode Ragnemodus, Biſchofs von Paris, die Nach— 
folge besjelben'). Alle dieje Tyriichen Kaufleute waren Chriften, und mit anderen 
MWaaren bradten fie Heiligenreliquien, welche unter den neubefehrten Franken 
und Burgundern großen Abſatz fanden, Wein aus Gaza und Ascalon, der zum 
heiligen Abendmahle gebraucht wurde, Wurzeln, wie fie die Anachoreten der 
thebaiſchen Wüſte genofjen, zur Nahrung für die Incluſi (in befonderen Zellen 
an den alten Kirchen eingemauerte Einfiedler, deren Gefhichte Gregor von Tours 
erzählt), und von den Mönchen der firengeren Orden gleichfalls begehrt, und die 
reihen Seidenftoffe des Orients, welche hauptjähli zu Meßgewändern und 
Altarbeden dienten. Derartige alte Kirchengetwänder findet man noch in manchen 
Saftifteren, namentlich de3 jüdlichen Frankreichs, aufbewahrt. Ahr Urfprung 
läßt fich leicht aus den Muftern nachweiſen, welche die gleichen Symbole, wie 
fie an den Wänden ber affyrifchen Paläfte und an den Gewandungen der auf 
diejen dargeftellten Figuren ericheinen, mit unbedeutenden Veränderungen zeigen, 
und in welchen wir befonder3 den Baum des Lebens mit der herfömmlichen Form 
der Blätter und Früchte wiedererfennen. Dieſe Gewebe famen wahrjcheinlid aus 
Baghdad und Baffora, wo fich die altertHämlihen Mufter am längften erhielten; 
zumal in Berfien wurde der Homa, der heilige Baum Zoroaſter's, in beinahe 


!) Eusebius quidam negotiator, genere Syrus, datis multis muneribus, in locum ejus 
subrogatus est. Isque, accepto episcopatu, omnem scholam decessoris sui abjiciens, Syros de 
genere suo ecelesiasticae domui ministros statuit. (Gregorii Turon. Hist. Eccles. IX. 26.) 

Deutſche Rundſchau. XVI, 9. 26 


402 Deutiche Rundſchau. 


unveränderter Geftalt in der Ornamentik bis zur Zeit der arabiichen Eroberung 
im fünften Jahrhundert n. Chr. vertvendet. Die Fremdartigfeit und Schönheit 
diefer Zeichnungen, wie fie in gold und farbenprädtigen Brofaten erichienen, 
fanden großen Beifall bei den römischen und einheimijchen Künftlern Galliens, 
welche fie in dem Bilderfhmude ihrer Kirchen nahahmten. So fieht man den 
aſſyriſchen Baum des Lebens zwijchen zwei wachehaltenden Löwen an den Giebel- 
feldern (Tympanuın) vieler Kirchenportale verjchiedener Perioden, jedoch ſämmtliche 
aus ältefter Zeit, 3. B. an den Kirchen von Marigny und Coleville im Departement 
Galvados in der Normandie. Die Geftalt de3 Baumes ift verjchiedentlich ver- 
ändert, und ftatt der Löwen erblidt man bisweilen Drachen und andere geflügelte 
Ungeheuer. Welche Veränderungen aber auch ftattgefunden haben mögen, in 
allen läßt fich die urfprüngliche affyriiche Form twiedererfennen. 

Palmenblätter werden ſeit dem Mittelalter zum Kirchenſchmucke während 
der Dfterzeit in Fatholifchen Landen verwendet, und am Palmfonntage in Erinne- 
rung an den Einzug Chrifti in Jerufalem am Altare geweiht, und in den Pro— 
cejfionen, welche in früheren Zeiten in den Kirchhöfen abgehalten wurden, getragen. 
Sie werden aber meiftens durch die Käbchen dev Weiden, beſonders der Sahl- 
oder Palmweide (Salix caprea L.) erſetzt, welche daher, wie ein alter monaftischer 
Ders beſagt!), auh Palmen heigen. Die für die Kirchen Roms beftimmten 
Palmen werden vorzüglid aus Bordighera und San Remo in der Riviera di 
Ponente bezogen. In San Remo erhielt die Familie Bresca im Jahre 1588 
vom Papſte Sirtus V. das Privilegium der Palmenlieferungen. Der Papft 
hatte, der Sage nad), bei Gelegenheit der Aufrichtung des Obelisken vom Circus 
des Nero auf dem St. Peteröpla durch den Architekten Domenico Tyontana bei 
fchwerer Strafe Stille anbefohlen. Während des Werkes, welches durch vierzig, 
von achthundert Menjchen und Hundertundvierzig Pferden getriebene Winden 
ausgeführt wurde, erichlafften die Seile und der werthvolle Monolith drohte zu 
ftürzen. Da rief plößli ein Matroje aus San Nemo, Namens Bresca, man 
ſolle Waſſer auf die Taue gießen. Als dies gejchehen, erftrafften die Taue 
fofort und das Denkmal kam in die Richte. Der Papft forderte den Matrofen 
auf, ſich eine Gnade zu erbitten, und dieſer forderte für feine Vaterſtadt San 
Nemo das Vorrecht der Palmenlieferung für Nom. Seit jener Zeit werden 
Dattelpalmen in den genannten beiden Orten und der Umgebung gezogen und 
bilden einen einträglichen Handelsartikel. 

Der dritte der älteften Heiligen Bäume des Lebens, bie Föhre oder Eeder, 
vertritt einen ganz gejonderten Ideenkreis. Diefe Nadelhölzer vereinigen Zierlich— 
feit und Gefchmeidigkeit mit Stärke und Dauerhaftigkeit, und bie führen des 
oberen Afiyriens und Perſiens, obgleich fie nirgend die riefige Höhe der Deodora 
de3 Himalaya erreihen, bieten einen auffälligen Gegenjat zu den Dattelpalmen 
und Tamarinden, welche die vorwaltende Baumflora diefer alluvialen Striche 
darftellen. Alle Arten derjelben befiten jenen ernftzerhabenen Charakter, welcher 
feine höchſte Entwicklung in den alt ehrwürdigen Gedern des Libanon erreicht. 


) „Albeseit palmae coma; ramus ejus Osanna 
Audit, Christicola vociferante viro.“ 


Heilige Bäume und Pflanzen. 403 


II. 

Es ift wahrſcheinlich, daß die Geder des Oſtens ſchon in jehr früher Zeit 
im Weſten durch verwandte Arten verireten war. Ihre vorzüglichiten Eigen- 
thiimlichkeiten, namentlid Hoheit und Kraft, finden ſich unter den europätfchen 
Bäumen am ausgeprägteften in der Eiche wieder. Als die erften ariſchen Ein— 
wanderer Europa betraten, war der größte Theil diejes Feſtlandes ausſchließlich 
mit Nadelhölzern beftanden, welche jpäter zuerft durch die Eiche und dann durch 
die Buche verdrängt wurden. Der berühmte englifche Geologe Sir Charles 
Lyell (geb. 1797, geft. 1875) führte den Beweis, daß eine ſolche Vegetations— 
folge in Dänemark ftattgefunden, eine Anſicht, in überrafchender Weije durch die 
Veränderungen beftätigt, welche die Bedeutung der älteften arifchen Bezeichnungen 
für „Föhre“ und „Eiche“ erfahren haben. Profeffor Mar Müller (Lectures on 
the science of language, 1863) erwähnt in der fünften Vorlefung, daß bie 
Steinzeit mit der Periode der Vegetation der ſchottiſchen Föhre (Pinus sylvestris L.) 
zufammenfalle und daß die arifchen Stämme, welche während dieſer Zeit in 
Europa ſich anfiedelten, unter ſolchen Berhältniffen natürlich” nur diefen Baum 
fennen lernten. Sie benannten ihn daher mit demjelben Worte, das Heute noch 
im Deutjchen als „Föhre“, im Engliſchen ala „Fir“, angelſächſiſch „Furh“, vor- 
handen if. Nah Grimm’3 Geſetz werden die gutturalen und labialen Töne 
mit einander vertaufcht, und jo führt Furh zu dem lateinifchen Quereus, Eiche. 
Am Althochdeutichen bedeutet Foraha: Pinus sylvestris; im Neuhochdeutſchen Hat 
„Föhre“ die gleiche Bedeutung, aber an einer anderen Stelle, die aus den longo— 
bardiſchen Geſetzen Rothar's citirt ift, wird Fereha, offenbar dasjelbe Wort, ala 
Giche erwähnt, „roborem aut quereum, quod est fereha,* und die Brüder 
Grimm deuten in ihrem deutfchen Wörterbudy Ferah im Sinne von Eiche, und 
fein ztoeites Neutrum Ferch oder Verch als „Fleiſch und Blut, Leben, Lebens- 
fraft, die Seele al3 Princip des Lebens“. 

Dieſe ernften Baumriefen waren gewiß nit ohne Einfluß auf die Ent: 
wicklung der religiöjen Vorftellungen, welche unter ihrem düfteren Schatten auf— 
feimten, und die Attribute, welche zuerft mit der Föhre verknüpft waren, wurden 
fpäter auch auf die Eiche übertragen. Diefe, gleich der Ceder des Dftens, ward 
zum Sinnbild übernatürligder Macht und Kraft. „Quereus Jovi placuit.“ Die 
Eiche war dem Zeus geheiligt, weil er die Menfchen zuerft gelehrt, ſich von Eicheln 
zu nähren. Gichen überfchatteten fein Orakel in Dodona; aus ihrem Raufchen 
deuteten die Priefterinnen den Willen des Gottes. Die nordiiche Eiche zog gleich 
der Geder den Blibftrahl an, und war der heilige Baum Donar’3 oder 
Thor's, des hammerſchwingenden Gottes, deffen Name in dem deutjchen Worte 
„Donner“ (altdeutjch doner, dunre; englifch thunder) fortlebt. 

Der Upoftel der Deutjchen, der heilige Bonifacius, ein edler Angelſachſe 
Namens Winfried aus Devonfhire (geb. 680, geft. 754), kannte aus feiner Heimath 
die heidniſchen Mythen und Formen von Aberglauben, welche fi) an die Eiche 
tnüpften, daher er dieje zugleich mit anderen heiligen Bäumen auszuroden beichloß 
und, wo immer er einen ſolchen auf feinen Wanderungen durch Deutjchland fand, 
die Art daran legte. Da ftand im Lande der Heffen, wo jet Geidmar Tiegt, 
eine riefige Eiche Thor's, welche, Gegenftand großer Verehrung des Volkes, der 

26 * 


404 Deutiche Rundſchau. 


Apoftel bei feiner Ankunft im Jahre 732 auf Rath einiger Neubekehrten, jofort 
zu fällen begann. „Mentis constantia confortatus,* wie ſich fein Biograph 
MWittebord, der Augenzeuge geweſen, ausdrüdt. Das Volt, entjeßt ob jolden 
Frevels, brach in laute Verwünſchungen aus, wagte aber nicht, ſich der That zu 
twiderjegen. Als Bonifacius die Hälfte des Stammes durchhauen hatte, erhob 
ſich plöglih ein übernatürlicher Sturm, faßte die Krone mit all ihrem Geäfte 
und ftürzte fie, „quasi superni motus solatio,* in vier gleiche Teile gebrochen, 
mit einem fürchterlichen Arad) zu Boden. Die Heiden anerkannten da3 Wunder, 
und die Mehrzahl wurde fofort an diefer Stelle befehrt. St. Bonifacius erbaute 
aus dem Holze dieſes Baumes eine Gapelle, welche er dem heiligen Petrus weihte. 

Die Zerftörung der heiligen Eiche Thor's war in der That eine nothwendige 
Mapregel, um der neuen Lehre Bahn zu brechen, und die zahlreichen, in den 
Pönitentialen bis ins 13. Jahrhundert erhaltenen Verordnungen und Beſchlüſſe 
gegen bie, welche heidnijche Geremonien und Hexereien unter Bäumen und in 
Maldungen ausübten, beweifen, wie hartnädig das Volk an den Meberlieferungen 
de3 alten Glaubens fefthielt, wie ſchwer e8 war, dieje vollkommen zu bannen 
und twie Died nur theilweiſe und unvolltommen durch Zerftörung aller Erinnerungs— 
zeichen gelang. Selbſt wenn ſolche heiligen Bäume in der Folge einem großen 
Heiligen der Gegend geweiht wurden, wie e8 häufig bei den Gelten, bejonders 
in Armorica („Land am Meere”, der tweftliche Küftenftrich Frankreich zwischen 
der Seine und Loire) und in Irland, geſchah, ſcheint es nicht immer von Erfolg 
geweſen zu fein. So wurde dem irländijchen Heiligen Columban (geb.550, geft. 615) 
eine berühmte Eiche geweiht, von welcher ein Splitter im Munde getragen vor dem 
Tod durch Erhenken ſchützte. Als die Eiche des heiligen Columban in Kenmare 
durd) einen Sturm gebrochen wurde, wagte es Niemand, das Holz zu jammeln, mit 
Ausnahme eine Gärtner3, welcher aus der Rinde derjelben Lohe für jein Leber 
machte. Er verfertigte jih aus dem damit gegerbten Leder ein Paar Schuhe; 
al3 er fie aber zum erften Male anlegte, wurde er fofort ausſätzig und blieb «8 
bi3 an jein Ende. In der Abtei von Vetrou in der Bretagne ftand ein alter 
Eibenbaum, welcher aus dem Stabe de3 heiligen Martin, des erften Abtes dieſes 
armoriſchen Klofterd, (nicht des gleichnamigen Heiligen, des berühmten Biſchofs 
von Tours, geb. 316, geft. 400) gewachſen war, und unter deren Schatten die 
bretagnifchen Prinzen jederzeit, ehe fie in die Kirche traten, zu beten pflegten. 
Niemand vermaß ih, auch nur ein Blatt derjelben zu brechen, und jelbit bie 
Vögel verjchonten deren ſüße rothe Beeren. Nicht jo normanniſche Seeräuber, 
von welchen zwei auf den Baum des heiligen Martin Eletterten, um Holz für 
ihre Bogen zu ſchneiden. Sie ftürzten aber herab und brachen fich das Genid. 

Viele diefer alten heidniſchen Bäume wurden durch ein eingehauenes Kreuz 
geweiht und auf dieſe Weife vor der Art gerettet. Sole Bäume findet man 
namentlih in England, wo fie von altersher als Grenzmarken dienen; 3. B. 
die riefige jogenannte Grafihaftseiche „Shire Oak“, welche an der Stelle fteht, 
wo bie drei Grafjhaften York, Nottingham und Derby an einander ftoßen, und 
daher gleichzeitig drei Shires befchattet. Ihre Krone übertrifft jene der berühmten 
Kaftanie, „Cento cavalli* genannt, am Aetna, da unter ihren Zweigen zwei—⸗ 
hundertunddreißig Reiter Schuß finden können. Ein gleich berühmter Baum ift 


Heilige Bäume und Pflanzen. 405 


die „Crouch-oak, befreuzte Eiche“, bei Addleftone in der Grafſchaft Surrey, eine 
Grenzmarfe de3 königlichen Forſtes von Windjor, welche ihren Namen einem 
in alten Zeiten in die Rinde eingehauenen Kreuz verdankt. Durch das Kreuz 
wurden jolde Eichen nicht nur der Macht Wodan’3 und Thor's, jondern auch 
der Elben und anderer Kobolde entzogen, und fie gewährten Schuß gegen 
jeglichen böfen Spuf, ein Aberglaube, der über ganz Deutjchland verbreitet war. 
So erzählt Prätoriug (Anthropodemus Plutonicus, Magdeburg 1666), daß ein- 
mal einem Bauer, Namens Hans Krepel, al3 er auf einer Haide im Salzburgijchen 
Holz fällte, zur Mittagszeit ein Moosweiblein erſchien und ihn bat, er möge,. 
ehe er Abends heim gehe, in den legten Baum, den er ſchlug, ein Kreuzlein 
fchneiden. Da er e3 zu thun vergeffen, erichien ihm das Weiblein am folgenden 
Mittag abermal3 und ſprach: „Ach, lieber Mann, warum ſchnitteſt Du geftern 
nicht das Kreuzlein? Es wäre mir und Dir zu Frommen geweien. Denn 
Abends und Nachts verfolgt uns oft der wilde Jäger, und wir können ihm nur 
entkommen, wenn e3 und gelingt, einen befreuzten Baum zu erreichen, wo der 
Böfe feine Macht über und hat.” Der Bauer erwwiderte unwirſch: „Wie jollte 
das nüßen? Wie könnte das Kreuzlein euch Helfen? Ich will euch nicht zu 
Gefallen thun.” Da aber jprang das Mtoosweiblein zornig auf ihn und würgte 
ihn jo hart, daß ex ganz fiech wurde, obgleich — wie mein Gewährämann Prä- 
torius Hinzufügt: „er ein derber Kerl war.” 

Wie von alteräher, jo fand auch bis in neuere Zeit der Volksglaube allerlei 
Porbedeutungen in der Eiche, namentlich) in dem Farbenwechſel der Blätter. Das 
Suiacheantas (gäliich für Abzeichen) des königlichen Hauſes der Stuart wurde 
von den Hochländern deshalb für unglüdlich angefehen, weil e8 der Zweig einer 
nicht immergrünen Eiche war, eine VBorahnung, welche das Schickſal diejer Familie 
nur zu jehr bewahrheitete. Die frühere oder jpätere Blattentwicklung gilt noch 
jegt an manchem Ort als ein Wetterzeichen, und in England hat ſich ein alter 
Reimſpruch im Munde de3 Landvolkes erhalten, in welchem die Eiche dieſe Eigen- 
Schaft mit der Eiche theilt: 

„If the oak ’s before the ash, 
Then you may expect a splash; 
But if the ash is ’fore the oak, 
Then you ınust beware of soak.“ 

Don dem Wenigen, was wir über die alten Druiden!) wiſſen, ift ihre hohe 
Verehrung für die Eiche und die darauf wachſende Miftel fichergeftellt. Die 
weiße Miftel (Viscum album L.) galt als ihr mächtigſter Talisman und wurde 
unter myſtiſchen Riten mit großer Teierlichkeit von ihnen in den Wäldern Gallien 
und Britannien eingefammelt. Sie galt für heilig, da fie vom Himmel auf 
die Aeſte hoher Bäume niedergefallen war. Jedoch lange vor druidiichen Zeiten 
begegnen wir der Miftel in der ſtandinaviſchen Mythe. Baldur, der Lieblichite 
der Götter, wurde durch einen Miſtelzweig getötet, nachdem Freyja allen Gejchöpfen 
der Erde den Eid abgenommen hatte, den ftrahlenden Lichtgott nimmer zu ver= 
ehren. Nur ein Kleines Pflänzchen, das oſtwärts der Walhalla ſproßte, hatte 


!) Der Name ift aus den gälifchen Wörtern: de „Bott“ und ronyd „Iprechend“, dem 
PBarlicip des Zeitwortes: ronyddim „Iprechen” gebildet. 


406 Deutſche Rundichan. 


den Schwur nicht geleiftet; es wuchs nicht auf der Erde, jondern hoch auf den 
Baumgipfeln, und war jo winzig und unbedeutend, daß Freyja es überfehen 
hatte. Doch Loki, der Zerftörer, legte den vergeffenen Miſtelzweig in die Hand 
des blinden Hodr, welcher ihn auf Baldur fchleuderte, als die Götter zur Zeit 
der Winterfonnenmwende ſich ergößten, mit den von Freyja beeideten Geſchöpfen 
ſich gegenfeitig zu beiverfen; Baldur wurde von dem ſchwachen Ziweiglein durch— 
bohrt und ſank todt zur Erde. Diefe nordiſche Mythe erinnert an eine ähnliche 
PVerfiens, welche und das Epos Shah Nameh erzählt: Isfendiyar war gegen alle 
Dinge unverwvundbar, mit Ausnahme des Dorned von einem Baume, twelder 
am fernftern Meeresufer wuchs. Sein Feind Deftham (Ruftem) fand diejen Dorn, 
härtete ihn im Feuer und ſchoß ihn mit dem Bogen in das Auge des Helden, 
welchen ex aljo tödtete. Lebterer konnte nur durch feinen Bruder das Leben 
verlieren. Profefjor F. Mar Müller (Comparative Mythology, Oxford Essays 
1856) erklärt beide Mythen dur den Tod der Sonne, welche in ihrer 
jugendlichen Kraft entweder am Ende des Tages dur die Mächte der 
Finſterniß übertältigt, oder am Schluffe der ſonnenerwärmten Jahreszeit dur 
den Dorn de3 Winters zu Tode getroffen wird. Manches Schwert nordiſcher 
Reden hieß Mistilteinu (ein Wort, welches wir in dem englifchen Mistletoe 
wiedererfennen) nad) dem verhängnißvollen Wurfgeſchoß, welches den Sonnengott 
fällte. Die Miftel beißt geheime Zauberkräfte und bannt böſe Geifter, daber 
fie in Wales zur Weihnachtszeit über die Thüren gehangen wird. In England 
dient fie mit der Stechpalme (Holly, Ilex aquifolium L.) und anderem Immer— 
grün zum Weihnachtsſchmucke dev Wohnungen und verleiht dem, der ein Mädchen 
unter dem weißen Beerenzweige betrifft, das Recht, fie zu küffen: ein Gebraud), 
welcher der nordiichen Mythe entjtammt. Als Baldur auf Verlangen der Götter 
und Göttinnen wieder zum Leben gerufen, nahm Freyja, als Göttin der Liebe, 
die verhängnißvolle Pflanze in Verwahrung, und jeder, der unter diefes Zweig— 
fein fam, erhielt einen Kuß zum Zeichen, daß die Miftel in Zukunft ein Sinn 
bild der Liebe und nicht des Todes ſei. Sonderbarer Weiſe jedoch ift die Miftel 
von dem zum MWeihnachtsfefte üblichen Pflanzenihmude der Kirchen ausgejchlofien 
"und fehlt auch in den Bildhauerzievathen alter ecclefiaftiicher Gebäude, wozu fi 
doc) ihre ſymmetriſche Geftalt bejonder3 eignen würde. Noch gegenwärtig birgt 
fi hier und da im Norden der alte Aberglaube an die Zauberkräfte dev Miftel; 
er knüpft fi) in Holftein an den Maerentakken, der dem Befiter die Gabe det 
Geifterfehens verleiht. 


II. 

Gleich der Eiche war die Ejche (Fraxinus L.) Gegenftand hoher Verehrung 
bei den Gelten und Germanen, beſonders aber bei den ſtandinaviſchen Stämmen, 
in deren religiöjer Mythe diefer Baum eine hervorragende Stellung einnimmt. 
Den nordiihen Völkern galt die Eſche, Askr Yagdrafil, als das Sinnbild dei 
Weltalls. Die Eiche, „Ast“, der größte und heiligfte aller Bäume, war der 
Weltenbaum, der, ewig jung und thaubenett, Himmel, Erde und Hölle verbindet. 
Seine Aeſte treiben duch die ganze Welt und reichen über den Himmel hinaus. 
Die Mittelwelt, Muitgard oder Mannaheim, ift der Aufenthalt der fterblichen 
Menjgen. Drei Wurzeln brechen ſich nad drei Enden: eine ſchlägt nad) den 


v 


Heilige Bäume und Pflanzen. 407 


Ajen, den Göttern im Himmel, in Asgard oder Banaheim; die andern nad) 
den Reifriefen, den Hrim-thurſen in Jötunheim oder Utigard, die dritte nad) 
dem Aufenthalte der fterblichen Mtenfchen. Unter jeder Wurzel quillt ein wunder— 
barer Brunnen: bei der himmlischen Wurzel der Udarbrunur, bei der jener Riejen 
der Mimirbrunur, und bei der höllifchen Wurzel der Hvergelmir, der raufchende 
uralte Kefjelbrunnen. Alle drei Brunnen find heilig, und alles, was fie benetzen, 
färbt ich eigelb. An dem Uxrdarbrunur fiten die Schiejalsgöttinnen, die drei 
Nornen Urdr, Verdandr und Skuldr, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, 
ihöpfen jeden Tag Wafjer daraus und begießen die Aefte der Eiche. Den zweiten 
Brunnen hütet ein weifer Mann, Namens Mimir. Bon der Ejche träuft bienen- 
nährender Thau, Hündngfall, „Honigfall”, genannt. Auf den Neften und an 
den Wurzeln des Baumes fiten und ſpringen allerlei Thiere, ein Adler, ein 
Eichhörnchen, vier Hirſche und die Schlange. Der Adler, defjen Name ungenannt 
ift, Hug und vielwiſſend, fißt auf dem Wipfel, und mitten zwiſchen jeinen Augen 
fit der Habicht Vedrfülmr, des Adlers Freund. Die Schlange, Nidhöggr, Liegt 
unten beim Svergelmir, dem alten Kefjelbrunnen. Zwiſchen der Schlange und 
dem Adler hufcht das Eichhörnchen, Ratatöskr, auf und nieder und ſucht Zwiſt 
zu ftiften. Unter der Eiche auf einem Hügel beim Urdarbrunur, dem Born der 
Normen, fien die Götter und vertheilen die Lebensloofe und halten Geridt. Das 
Horn Giallr, mit welchem dereinft Heimdallr die Welt zum letzten Kampfe auf: 
rufen wird, liegt unter der Eiche Wurzeln begraben. Bei deſſen Schalle 

„Yggdraſil zittert; 

Doc fteht noch die Eiche. 

Es rauscht der alte Baum, 

Da ber Riefe frei wird. 

Sie bangen Alle 

An Hela’3 Banden 

i Bevor fie Surtur's 
Flamme verichlingt.“ 
(Ebenda Volo Spä Eirophe XLIN in Simrod’3 Weberfegung.) 

Zuleßt verbrennt Surtur den Baum, doc) er erneut fich wieder frifch und 
grün, und die Götter verfammeln fi) nochmals unter feinem Geäfte. Allerlei 
Deutungen diefer nordiſchen Mythe wurden verjudt. Der berühmte Ausleger 
der Edda, Finnur Magnuffen, (Edda Islandorum, 1665, und Lexicon Mytho- 
logieum 1787) hält den Adler für den Himmel oder die Luft, dad Eichhörnchen 
Ratatösfr für die bejtändig von der Oberfläche der Erde auffteigenden Dünſte ꝛc. 

Die Eiche, welche die Stalden für das Sinnbild des Weltenbaumes wählten, 
findet fi) weiter gegen Norden als die Eiche. Sie ift der häufigfte Baum jen- 
jeit3 der Oſtſee, und ihr Holz diente zu vielerlei Zwecken, zu welchen die Nadel- 
bäume des Nordens nicht verwendbar waren. Die Helden der Saga verfertigten 
ihre langen Speerjchäfte und die Hefte ihrer Aexte aus Eſchenholz, aus welchem 
fie auch Häufig ihre Schiffe bauten. Es mag entweder Lebteres die Urſache 
gewejen fein, weswegen der gelehrte Biichof Adam von Bremen, welcher im 11. 
Jahrhundert lebte, die dänischen und norwegischen Vikings „Afcheman“ nennt, 
oder, weil, wie die Edda erzählt, die drei Söhne des Reifriefen Bure, Odin, 
Vili und Be, welche Herricher über Himmel und Erde wurden, den eriten Menſchen 
aus einem Eſchenklotz formten, den fie am Strande gefunden. 


408 Deutſche Rundſchau. 


Der Weltenbaum Yggdraſil war, wie die Edda berichtet, obgleich eine Eſche, 
doch ein immergrüner Baum, und es waren viele heilige Bäume über ganz 
Nord-Europa zerftreut, welche Sommer und Winter grün blieben, und gleich der 
Eiche hoch verehrt wurden. Ein folder Baum ftand nad; Beriht Adam's don 
Bremen dor einem großen Tempel in Upjala, und in Dithmarſchen, , jorafältig 
eingehegt, war ein gleich berühmter Baum, welcher auf myſtiſche Weiſe mit dem 
Schickſale de3 Landes verbunden war. Als Dithmarſchen jeine Freiheit verlor, 
verdorrte der Baum; aber eine Elfter, einer der vorzüglichften Weisfagungsvögel 
des Nordens, fam und niftete darauf und brütete fünf volllommen weiße Jungen 
aus, ein MWorzeichen, daß das Land dereinft wieder feine alte Freiheit gewinnen 
werde. Derlei immergrüne Bäume waren entiweder vereinzelte lex = Arten oder 
die verjprengte Quereus Cerris Südeuropa's (von Virgil im Georgica erwähnt), 
welche ihre alten Blätter noch lange behält, nachdem die neuen fich bereits ent: 
faltet, und daher den Nordländern für immergrün gegolten haben mag. Ein 
noch viel berühmterer Baum, der al immergrün befchrieben wird, der von 
Romow, im alten heidnifchen Preußen, war fihherlid eine Eiche. 

Im Widerjprucd mit der alten Eddafage, nach welcher die Wurzel Pag: 
drafil’3 durch die Schlange Halb zerftört wurde, gelten die Blätter und das 
Holz der Eiche im nördlichen Europa für einen mädtigen Schuß gegen Schlangen 
und anderes Gewürm. In der römiichen Ausgabe de3 Claus Magnus findet 
fh im Abſchnitt: „Wie man zur Erntezeit Schlangen von Kindern abbält“, 
ein Holzſchnitt, welcher Kinder in ihren Wiegen an den Aeften großer Ejchen auf: 
gehangen darftellt, während die Mütter im Felde das Korn ſchneiden. „Schlangen,“ 
fagte Claus, „haben eine Abneigung gegen Eichen und vermeiden deren Nähe.“ 
Wenn man mit einem Eſchenſtab einen Kreis um eme Viper zieht, ſoll dieſe 
darin gebannt bleiben und nicht mehr heraus können. 

Die nordiſchen Altertfumsforjcher meinen, daß der Lebensbaum Yggdrafil 
jederzeit feine nachfolgenden Vertreter hatte und noch habe, und wollen einen 
ſolchen namentlih in dem in den Büchern der Minnefänger jo viel befungenen 
Maibaume erkennen, welcher mit feinem bunten Bänderfhmude, Gewinden und 
Vogeleiern in manden Gegenden fi noch erhalten hat; ferner im Weihnachts- 
baume, der nad) des gelehrten Isländers Finnur Magnuffen’3 Anficht in gerader 
Linie von der Weltenejche abftammt, und an den deſſen ſämmtliche als Zierath 
an ben Aeſten hängende Attribute, Adler, Eichhorn, Hirſch u. j. w. erinnern. 
Inwiefern diefe Annahme berechtigt, bleibe hier unerörtert; gewiß ift jedoch, 
daß die Erinnerungen an Yggdraſil nicht nach der Einführung des Chriftenthums 
ſchwanden und in merkwürdiger Weife mit manchen leberlieferungen über den 
Baum des Kreuzes im Mittelalter verquickt wurden. 

Eilif, ein norwegischer Stalde, welcher vor jeiner Belehrung ein Diener 
Thor's geweien, jpriht, wie Finnur Magnuffen erwähnt, alſo von Chriftus: 
„Sie lehren, er fit auf einem Berg, füdbwärts von Urdr's Born; fo ift denn 
unbegrenzt die Macht des getwaltigen Königs der Götter Roms (d. i. der Engel)“. 
Eilif, noch ein halber Heide, ſetzt in feinen Verſen den Erlöſer auf denielben 
Hügel am Urdarbrunur, auf dem Thor und feine Brüder Urtheil ſprachen: 
„dömr qvidr* — ein Beispiel zum Belege, wie willig ſich die Bilder des alten 


Heilige Bäume und Pflanzen. 409 


Glaubens dem Wechjel der neuen Lehre liehen. Die in Eilif3 Worten aus— 
geſprochene Rückbeziehung auf die Welteneiche betwahrte fi) noch lange, wie 
mehrere Gedichte des Mtittelalter3 bezeugen, welche Jakob Grimm in feiner 
deutjchen Mythologie aufführt. „Der Baum des Kreuzes” ift die Löjung des 
Räthſels, welches ein Sänger des Wartburgfreuges in feinem Liede aufgibt: 

„Ein edel boum gewahsen ist 

in eine garten der ist gemacht mit höher list, 

Sin wurzel kan der helle grunt erlangen, 

sin tolde rüeret an den trön. 

da der süeze Got bescheidet vriunde lön; 

sin este breit hänt al diu werlt bevängen, 

der boum an ganzer zierde stät und is geloubet schoene, 

dar üfe sitzent vogelin, 

süezes sanges wise näch ir stimme fin, 

näch mäniger kunst sö haltents ir gedoene.* 

Der Weltenbaum der nordiihen Sage wurde Hier zum MWeltenbaum des 

Chriſtenthums; als jolcher erſcheint er auch in den althochdeutichen Verſen: 

„Ihes krüzes horn thar obana thaz zeigot hf in himila, 

thie arma jöh thio henti zeigent woroltelti, 

ther selbo mithilo boum ther scowöt thesan woroltfluom, 

—J theiz innan erdu stentit, 

mit thiu ist thar bezeinit theiz imo ist algemeinit 

in erdu jöh im himile inti in abgrunte ouh hiar nidare.“ 
(„Des Kreuzes Spitze dort oben zeiget nach bem Himmel, die Arıne und die Hände zeigen die Welt: 
grenze; berfelbige Mittelbaum jucht den Weltenftrom, der in der Erde entfteht; damit ift gedeutet, 
daß es allenthalben ift auf Erden und im Himmel, unten in ber Hölle aud) hier unten.“) 

Hier iſt das Kreuz als Weltenbaum mit beinahe denjelben Worten gejchildert 
wie fie die Deutung enthält: 

„Nam ipsa crux magnum in se mysterium continet, cujus positio talis ut, est superior 
pars coelo petat, inferior terrae adhaereat, fixa infernorum ima contingat, latitudo autem 
ejus omnes mundi partes appellat.“ (%. Grimm aus: „De divinis officiis“.) („Denn das Freuz 
felbft birgt ein groß Geheimniß: feine Stellung ift eine ſolche, daß der obere Theil den Himmel 
berührt, ber untere in der Erde wurzelt, feine Befeftigung in den Grund der Hölle reicht, feine 
Weite aber alle Theile biefer Welt umfaht.“) 


IV. 

Die geihichtlihe Wahrheit der Kreuzfindung durch die Kaijerin Helena im 
Jahre 326 ift nicht erhärtet. Als gewichtigfte Widerlegung mag das Schweigen 
des Euſebios Pamphili, Biſchofs von Caeſarea (geb. 270, geft. 340), eines Zeit- 
genofjen, gelten, welcher einer für die Gläubigen jo belangreichen Begebenheit 
fiherlih erwähnt hätte. Es ift jedoch erwieſen, daß ein Kreuz, welches vorgeblich 
da3 de3 Erlöſers geweſen fein joll, während des Bisthums des heiligen Cyrillus 
(geb. 350, geft. 386) in Jerufalem öffentlich ausgeftellt und verehrt wurde. Es 
war um jene Zeit, und wahrſcheinlich als natürliche Folge der durch dieſe 
wunderbare Auffindung angeregten Begeifterung, daß über den Urſprung des 
Kreuzbaumes ſich allmählicd die im Mittelalter allgemein geglaubte Legende zu 
bilden begann, welche in ihrer weiteren Entwidlung ältere Ucberlieferungen in 
fi aufnahm, namentlich die, dat Adam nad) der Vertreibung aus dem Paradieſe 
feinen Wohnfig in der Umgebung von Hebron aufjchlug. Diefe Sage findet ſich 


410 Deutiche Rundſchau. 


mit geringfügigen Abweichungen in allen Legendenbüchern des Mittelalters, 
namentlich in der Legenda aurea des Jacopo de Voragine (geb. 1236 in PVorazze 
bei Genua, Erzbiſchof dieſer Stadt). Trouvères und Troubadours machten dieſe 
Sage zum Vorwurfe ihrer Dichtungen. Die Legende wurde gleichfalls in zahl 
reihen Glasgemälden, Tapetengerveben und Wanbbildern dargeftellt, Berühmt 
find die Fresken des Agnolo Gaddi (geb. 1324, geft. 1387) im Chor von Santa 
Groce in Florenz und die des Piero della Francesca da Borgo San Sepolcro 
(auch Pietro Borgheje genannt, geb. 1398, gejt. 1484) im Chore von San 
Francesco in Arezzo, in welchen die ganze Kreuzlegende in einer Reihe von 
Bildern vorgeführt wird. 

Die Legende in ihrer vollftändigen Form lautet: „Al Adam, welcher nad) 
feiner Vertreibung aus dem Garten von Eden im Thale von Hebron das Feld 
im Schweiße jeined Angefichtes bauete, in jeinem neunhunbdertunddreißigiten 
Lebensjahre das Ende nahen fühlte — er hatte nad jüdischer Tradition auf 
fiebzig Jahre zu Gunften feines Nachkommen David verzichtet — ſendete er jeinen 
Sohn Seth zur Pforte des Paradiefes, um von deſſen Wächter, dem Engel, der 
da hieß Cherubim, das Del der Gnade zu exbitten, welches Adam verjproden 
worden, al3 ihn Gott der Herr aus dem Garten gelaſſen. Seth begab fich daher 
auf die Reife und fand den Weg dahin, durch die Fußtapfen Adam's und Eva's 
geleitet, über welchen kein Gras mehr gewachjen, jeit fie aus dem Paradieje nad 
Hebron gewandert waren. Nachdem der Engel die Botichaft vernommen, befahl 
er Seth, jemjeit3 der Pforte in den Garten zu ſchauen und ihm zu berichten, 
wa3 er da jähe. Und Seth jah einen Garten von wunderbarer Herrlichkeit und 
Schönheit, und darin war ein Born, deſſen Strom neßte den Garten und theilete 
fich dajelbft in vier Hauptwafjer. Und am Rande des Borns ftand ein mächtiger 
Baum mit weit fi breitendem Geäfte, aber aller Rinde und Blätter bar. 
Hierauf befahl der Engel dem Seth, abermals zu ſchauen, und da jah Seth eine 
Schlange, die fih um den Baum gewunden; und als er auf de3 Engels Geheiß 
ein drittes Mal jchaute, jah er, daß der Baum emporgewachſen war, bis der 
Gipfel den Himmel berührte, und darob ein Kindlein ſaß, im glängender Ge 
mwandung. „Diejes Sindlein,“ ſprach der Engel, „wird Adam das Del der Gnade 
geben, wenn die Zeit gekommen.“ Unterdeſſen gab der Engel dem Seth drei 
Samen von der Frucht des Baumes, von welcher Adam gegeffen. Dieſe Samen 
jolle Seth in Adam’3 Mund legen, che ex ihn begrabe: drei Bäume würden 
daraus erwachſen, eine Eeder, eine CHpreffe und eine Föhre. 

„Und es geſchah, twie der Cherubim verheißen: drei Bäume, eine Geder, eine 
Cypreſſe und eine Föhre wuchſen aus dem Samen neben einander im Thale von 
Hebron, an jener Stelle, wo Adam wieder zum Erdenfloß geworden ward. Und 
diefe Bäume find das Sinnbild der heiligen Dreifaltigkeit, ſowohl wegen ihrer 
Dreizgahl, als auch wegen der jedem Einzelnen innetvohnenden Tugend. Aus 
einem diejer Bäume verfertigte Noah das Ruder jeines Kaftend. Moſes, dem 
die wahre Natur diefer Bäume geoffenbart worden war, hub fie forgfältig aus 
und nahm fie mit ſich während der vierzig Jahre feiner Wanderung durch die 
MWüfte und pflanzte fie auf der Höhe Pisgah, in einem geheimnißvollen Thale, 
das da heißt Comfrafort (Comfort, Wallis Conſolationis). Von einem dieler 


Heilige Bäume und Pflanzen. all 


Bäume jehnitt er den Stab, mit welchem er den Fels in Horeb jchlug, um das 
Volk zu tränfen, von dem andern war Aaron's Steden, der grünte David 
brachte auf Jehovah's Geheig die Bäume von Comfrafort nad) Jerufalem und 
pflanzte fie in der Nähe feines Thurms an einen Brunnen, wo fie in der Nacht 
Wurzel ſchlugen und fi zu einem Stamme vereinigten. Als David am andern 
Morgen den Dreibaum fand, umgab er ihn mit einer Mauer und behing die 
Zweige mit koftbaren Steinen. Inter deffen Schatten dichtete David die Pjalmen 
und weinte über feine Sünden. Salomo Tieß den Baum ungeachtet jeiner 
Schönheit fällen, um jeinen Tempelbau zu vollenden; denn es fehlte ihm nod) 
ein einziger Balken von folder Länge, wie fie fein anderer Baum geben konnte, 
ALS aber diefer Balken, welder dreißig Ellen (630 Zoll) lang war, gerichtet 
werden jollte, da war er bei jedem Verſuche entweder zu lang oder zu kurz, und 
diejes Wunder wurde als ein Zeichen erkannt, daß der Balken nicht aljo ver- 
wendet werden dürfe. Darum wurde diefer Balken ehrfurchtsvoll im Tempel 
verwahrt. nd da geichah es eines Tages, daß eine Frau, Namens Dtarimilla, 
fih an den Balken lehnte und ihre Kleider in hellen Flammen aufloderten und 
fie vom Geifte der Weisjagung erfüllt, ausrief: „Jeſus Chriſtus, Sohn des 
alleinigen Gottes, Hilf mir!” Die Juden aber, welche ihren Ruf vernahmen, 
hielten fte für bejefien und vertrieben fie aus der Stadt. Alſo ward Marimilla, 
berichtet die Legende, die erfte Märtyrerin für unfern Herrn, Jeſus Chriftus.“ 

Dies iſt der Anhalt der verbreitetften Legende. Eine andere, welche die von 
Fauriel (Histoire de la Poesie Provencale. I, 263) angeführte provencgaliiche 
Ueberlieferung wiedergibt, erzählt, daß der Baum, weil er zum Balken für den 
Tempel zu kurz war, als unnüß in den Bad Kedron geworfen wurde, über den 
er als Steg dienen jollte. „AB Magueda (oder Balkis nah dem Koran), die 
Königin von Saba, nad) Jeruſalem kam, um die Weisheit Salomo’3 zu jchauen, 
und über den Bach fchreiten twollte, jah fie in einem Geſichte, wie der Welten- 
erlöjer an diefem Baume Bing; daher fie fich weigerte, denjelben mit den Füßen 
zu berühren, und fie fiel davor auf die Knie, um ihn zu dverehren. Salomo ließ 
den Baum auf Bitten der Königin mit Gold» und Silberplatten zieren und im 
Tempel aufbewahren. Nach der Plünderung des Tempel wurde diefer Baum, 
wie alle Legenden übereinftimmend berichten, in die Erde vergraben an jener 
Stelle, wo man jpäter den Teich von Bethesda („Heil- oder Gnabdenort”, jet 
Birket Israel) grub, und es war nicht allein, weil „ein Engel fuhr herab zu 
feiner Zeit und bewegte das Waſſer“ (oh. 5, 4), jondern vielmehr der Tugend 
des darin vergrabenen Holzes wegen, daß das Waſſer desjelben wunderbare Heil- 
fraft befaß. Und am Tage des Leidens unferd Herrn tauchte der Baum von 
jelbft in die Höhe und ſchwamm auf dem Waller. Da nahmen ihn die Juden 
auf Befehl des Hohen Priefterd und zimmerten da3 Kreuz daraus, an das fie 
unjern Heren ſchlugen. Nach der Kreuzigung wurde das Kreuz Chrifli zugleich 
mit den Kreuzen der beiden Mörder am Salvarienberg vergraben, an jener Stelle, 
wo jich jpäter ein zur Zeit Hadrian’3 erbauter Tempel der Venus erhob. 

Drei Jahrhunderte verfloffen, ohne daß des heiligen Kreuzes gedacht wurde, 
bis das Zeichen desjelben mit der Umſchrift: „In hoc signo vinces“ dem Kaifer 
Gonftantin erfchien, al ein Geficht am Himmel vor der Schlat an der milvischen 


412 Deutiche Rundichan. 


Brüde von Rom, in tvelcher er den Sieg über Maxentius erfocht (29. Oct. 312) — 
oder, wie eine andere Legende befagt, al3 Traumbild in der Nacht vor einer 
entjeheidenden Schlacht gegen die Barbaren an der Donau. Conftantin wurde 
in Folge diejer wunderbaren Mahnung Chrift und fandte feine Mutter Helena 
nad Serufalem, um das heilige Kreuz zu juchen. Als die Ankunft der Katjerin 
befannt wurde, wunderten fich die Juden, bis Einer, Namens Judas, verfündigte, 
fie käme, um da3 Kreuz zu finden, denn jein Großvater Zaccheus habe jeinem 
Vater Simon diejes Ereignig prophezeit; Chriftus, den fie qefreuzigt hatten, jei 
der wahre Gott, und Chrifti wegen hätten fie den Stephanus gefteinigt, der ein 
Bruder war feines Vaters Simon. Da bdrohten die Juden dem Judas und 
warnten ihn, nicht3 zu verrathen, und al3 Helena fam, leugneten fie alle Kenntniß 
des Mreuzes. Und fie überlieferten den Judas der Kaiferin, welche ihn, da er 
nichts ausjagen wollte, bis zum Halje vergraben ließ. Als er endlich am ſechſten 
Tage geftand, wurde er aus der Grube gezogen und auf den Kalvarienberg ge 
führt. Da gruben fie nad) und fanden drei Kreuze. Das Wunder der Erweckung 
eines Zodten zeugte für das wahre Kreuz. Delena ließ den Tempel der Venus 
zerftören und an deſſen Stätte eine Kirche erbauen (die Kirche des heil. Grabes), 
in welcher fie eine Hälfte des heiligen Kreuzes niederlegte, während fie die andere 
mit fi nad) Conftantinopel nahm. Judas empfing fofort die Taufe und wurde 
in ber Folge Biſchof von Jerufalem, unter dem Namen St. Quiricus. Und 
dreihuindert Jahre jpäter eroberte der Perſerkönig Kosru IL, der Saflanide, 
welcher fich zum Herrn von ganz Syrien und Sleinafien gemacht hatte, Jeruſalem 
und raubte da3 heilige Kreuz. Vierzehn Jahre blieb es in den Händen der Un— 
gläubigen, bis im Jahre 628 der Kaiſer Heraflios nad) feinem Siege über die 
Perſer und dem Tode Kosru’3 e3 wieder nach Jerufalem zurückbrachte. Als der 
Kaifer an der Spibe jeines Heeres, da3 Kreuz von Soldaten vor ſich her tragen 
lafjend, im Triumphe feinen Einzug Halten wollte, jchloffen ſich vor ihm von 
jelbft die Thore, und eine Stimme wurde vernehmbar: „Nicht alfo, jondern in 
Demuth und Erniedrigung trug der Herr das Kreuz!" Da ftieg er vom Pferde 
und nahm entblößten Hauptes und barfuß das Kreuz auf die Schultern. Worauf 
die Thore fich wieder von jelbft öffneten und Heraklios zerknirſcht und demüthtg 
in Jeruſalem einzog.“ 

Die Gedächtnißtage an dieje beiden Ereigniffe werden von der katholiſchen 
Kirche ala die Feſte der Hreuzesauffindung: „Inventio erueis“ am 3. Mai, und 
der Sreuzeserhöhung: „Exaltatio erueis* am 14. September gefeiert. 

Dies ift die wunderbare Legende, welche im Mittelalter allgemein verbreitet 
und geglaubt war, deren allmäligen Aufbau zu verfolgen, ſowie die Zeit ihrer 
erften Einführung in Guropa zu beftimmen, wir verzichten müfjen. Die Fuß— 
tapfen Adam's, welche jeither kahl geblieben, werden noch heutigen Tages auf 
dem Berge Gerizim gewieſen. Nach einer andern, ſehr alten Legende, wahr: 
icheinlich älter als die oben mitgetheilten, wurde das Kreuz felbft im Grabe 
Adam's gefeftigt und deffen Schädel zu Tage gebracht, ald man Erde aufgrub. 
Aehnliche Meberlieferungen, welche in der Nachbarſchaft von Hebron fortlebten, 
fcheinen in die jpäteren Legenden vertvoben tworden zu jein. Der Baum „aller 
Rinde und Blätter bar“ dürfte ſich auf jene merkwürdige Eiche beziehen, welche 


Heilige Bäume und Pflanzen. 413 


Sir John Maundeville, der 1341—42 Baläftina bereifte!), aljo bejchreibt: „Und 
nicht weit von Hebron ift der Berg Mamre, nad weldem da3 Thal genannt 
wird. Und dort fteht eine Eiche, welche die Sarazenen Dirpe nennen, die noch 
aus Abraham’ Zeiten ftammt, und die Leute nennen fie den dürren Baum. 
Sie jagen, fie ftünde dort bereit feit dem Anbeginne der Welt, und daß fie 
früher grün gewejen fei und Blätter getragen habe bis zur Zeit, al3 der Herr 
auf dem Kreuze für uns ftarb, und jeitdem ift fie dürre, denn alle Bäume, 
welche damals auf der Welt waren, verdorrten zur Stunde. Und da ift eine 
Weisſagung, dag ein Prinz aus dem Abendlande dereinft das gelobte Land, 
welches ift da3 heilige Land, mit Hülfe der Chriften gewinnen würde, worauf 
diefer Baum twieder grünen und Blätter und Früchte tragen werde. Und durch 
diejeg Wunder würden viele Sarazenen und Juden zum Chriftenthume befehrt 
werden. Ind darob wird diefer Baum in großer Verehrung gehalten und gar 
jorgjam behütet. Und obwohl ex dürre ift, befit ex doch große Tugenden, denn 
wahrhaftig, wer noch jo wenig von diefem Baume befttt, wird von der fallenden 
Sucht genejen, und jein Pferd wird nicht lahmen, und der Baum hat noch viele 
andere Tugenden, ob welcher ex jo hoch geſchätzt wird.” Diejer dürre Baum ift 
ohne Zweifel jene Eiche „aus der quten alten Zeit” rn» Ayuyırw nalöv uewev 
deö»*, deren Joſephus Flavius (geb. 37 n. Chr., geſt. 93) gedenkt, und melche 
al3 die lehte der Eichen im Hain Mamre, beſonders der Erinnerung an Abraham 
geweiht ift. Nach einer jpäteren Tradition entftand diefe Eiche aus dem Stabe 
einer der Engel, welche Abraham bewirthete, und die ftet3 grün geweſen, obgleich 
fie zu Zeiten in Flammen ausbrach. Lipſius (geb. 1547, geft. 1606), Gretjer 
u. A., welche ben Beweis zu führen juchen, daß das Kreuz des Herrn aus 
Eichenholz gezimmert war, ftühen ſich auf die heilige Verehrung, mit der die 
Kirchenväter bisweilen die Eiche von Mamre erwähnen. Der Glaube de3 früheren 
Mittelalterd bezog ſich offenbar auf jene Bäume, welche aus den drei Samen, 
die Seth vom Cherubim erhalten hatte, gewachſen waren, und wenn alte 
mönchiſche Verſe vier Holzarten de3 Kreuzes nennen: 
„In cruce fit palma, cedrus, cypressus, oliva,“ 
jo wird die Tafel der Ueberſchrift zugerechnet, twie folgende Verſe befagen: 
„Pes crucis est cedrus; corpus tenet alta cupressus; 
Palma manus retinet, titulo laetatur oliva.* 


Beda, genannt Venerabili3 (geb. 672, geft. 735), baut das Kreuz gleichfalls 
aus vier Holzarten, von welchen die Cypreſſe den Balken, die Ceder das Quer- 


) Sir John Maunbenville, geb. in St. Albans in Hertfordihire in England anfangs 
bes vierzehnten Jahrhunderts, trat feine ausgedehnten Reifen durch Europa, Afien und einen 
Theil Afrika's im Jahre 1322 an, und kehrte nach zweiunbbreikigjähriger Abwejenheit 1354 in 
jein Baterland zurüd, wo er 1356 fein Reifewerf, welches er in franzöfiicher Sprache geichrieben, 
vollendete. Er jchildert darin die verjchiedenen Länder und Sitten, indem er Selbfterlebtes und 
wunderbare Berichte gibt, welche er von Augenzeugen gehört zu haben vorgibt, in der That aber 
Plinius dem Welteren, Marco Polo und dem Franciskaner Oderich entlehnte. Er farb am 
17. November 1371 in Lüttich und wurde in der Abtei „des Guillamites“ beftattet. Die einzige, 
dem franzöfiichen Manufcripte getreue Meberfegung: „Travels of Sir John Maundeville*, wurbe 
1725 durch bie Cottonian Library (British Museum) veröffentlicht, in neuer Ausgabe 1839, von 
welcher, mit Weglaſſung der fabelhaften Berichte, ein Abdrudf in: „Early travels in Palestine*, 
in Bohn’® „Antiquarian Library“ (Henry ©. Bohn. London, 1848) erfchienen ift. 


414 Deutihe Rundſchau. 


hola, die Föhre den Kopftheil und der Buchsbaum da3 Suppedaneum (Fußſtütze 
bildeten. Nach dem apofryphen Evangelium des Nicodemus war das Kreuz aus 
zwei Holzarten, der Palme und der Olive, zufammengejeßt, eine Angabe, welde 
im Mittelalter als orthodor galt und nad) der noch jeßt die koftbareren Grucifire 
verfertigt werden. Der heilige Chryjoftomus (geb.347, geft. 407) erwähnt nur dreier 
Hölzer, fi auf die Worte Jefaiae (60, 13) beziehend: „Die Herrlichkeit Libanon’s 
foll an dic) fommen, Tannen, Buchen.und Buchsbaum mit einander, zu ſchmücken 
den Ort meines Heiligthums; denn ich will die Stätte meiner Füße herrlich 
machen.“ 

Aus welcher Holzart das Kreuz geweſen, möge jomit eine offene Trage 
bleiben; wir nehmen die Angaben de3 Lipfius als entjcheidend an, daß die Hol: 
ftüde, welche zu feiner Zeit als Reliquien des heiligen Kreuzes gezeigt wurden, 
Eichenholz geweſen. Die Bewersführung des Lipfius ift folgende: „Woraus war 
das Kreuz? Aus irgend einem vorfindigen und zur Hand liegenden Holze. Und 
woraus das unſers Erlöfers? Wir meinen aus der Eiche: erftend weil glaub— 
würdige Männer die Stückchen jenes heiligften Holzes, die heute noch vorhanden 
find, diefer Art zufchreiben; dann, weil jener Baum in Judaeg einjt gewöhnlich 
und häufig war und es noch jeßt ift; drittens, weil jenes Holz ſtark und zum 
Anheften und Tragen geeignet iſt. .... Wenngleich Schriftfteller einer früheren 
Zeit dreierlei oder viererlei Arten von Holz im Kreuze des Herrn annehmen, fo 
halten wir dies mehr für einen abjonderlichen, als für einen wahren Ausſpruch“!). 

Die Legende, welche die Zitterefpe (Populus tremula L.) al3 de3 Baumes 
erwähnt, aus dem das Kreuz gezimmert war und deſſen Blätter jeitdem beftändig 
erbeben, ift jüngeren Urſprungs und nur auf beftimmte Gegenden bejchräntt. 
Diejes Zittern ift, wie in manchen Theilen Deutjchlands die Sage geht, die 
Strafe für den Hochmuth dieſes Baumes, welcher verweigerte, fi vor dem 
Heiland zu neigen, wie e8 alle anderen Bäume ehrfurchtsvoll thaten, als diefer 
einftmal3 durch die nordiichen Wälder wandelte. Dieſe Legende erinnert an die 
wunderbare Palme im apofryphen Evangelium der Kindheit Jeſu, welche bie 
Krone neigte, um ihre Früchte der Jungfrau zu bieten, als dieſe unter ihrem 
Schatten Raft hielt, und die durch das göttliche Kind mit den Worten gelohnet 
wurde: „Erhebe dein Haupt, o Palme, und fei du Gefährte der Bäume, die da 
find im Paradiefe meines Waters.“ 

Noch beſchränkter als die Ejpenlegende, und kaum weiter verbreitet ala in 
den mittleren Grafichaften Englands, war die Sage, daß der Hollunder das 
Holz für das Kreuz geliefert Hatte, daher in jenen Gegenden das Reifig dieſes 
Baumes nicht in Bündel für Brennholz gebunden oder zu anderem geringem 
Gebrauche verwendet wurde. 


!) E qua materia crux? Ex obvio et prompto aliquo ligno. E qua nostri Salvatoris® 
Censemus e quercu. Primum quia viri fide digni asserunt frusta sacratissimi hujus ligni qua 
hodie extant, speciem hanc referre. Tuni quia rebra et freguens in Judaea olim et nunc 
quoque illa arbor. Tertio quia robustum lignum, et fixioni laturaeque aptum .... Nam 
quod superioris aliquot aevi scriptores tria aut quatuor genera ligni in cruce dominica 
agnoscunt, curiose magis dietum arbitramur quam vere. (Gustus Lipsius: De Cruce I. 
IN. cap. 13.) 


Heilige Bäume und Pflanzen. 415 


Dies ift um jo merfwürdiger, als der Hollunder im Mittelalter in böjem 
Rufe ftand, weil Judas Iſchariot an einem ſolchen Baume ſich erhentte. Diejer 
Hollunder, welchen Maundeville: „tre of eldre* nannte, durch diefe Bezeichnung 
die alte Volksſage des Weſtens beftätigend, wurde noch zu feiner Zeit (1341—1342) 
gezeigt: „Unter dem Berge Sion, gegen das Thal von Jehojaphat zu, iſt ein 
Brunnen, der Natatorium Siloae (dev Teih) von Siloah) heißt, darin unſer 
Herr nad feiner Taufe fi) wuſch, und wo er den Blinden jehend machte. Bier 
ift auch der Prophet Jeſaia begraben. Nahe am Natatorium Siloae ift ein 
Steinbild von alter Arbeit, welches Abjalom errichten ließ, darob es die „Hand 
des Abjalom“ genannt wird. Und knapp daneben fteht noch der Hollunderbaum, 
an dem fi) Judas in Verzweiflung erhentte, weil er unfern Herrn verkauft und 
verrathen Hatte.” 

Die im Mittelalter allgemein verbreitete Volksſage, welche den Hollunder- 
baum mit dem Selbftmorde des verzweifelnden Judas in Verbindung brachte, 
erflärt jo mandjen an diefem Baume haftenden Aberglauben, welcher jedoch ohne 
Zweifel dem Heidenthume de3 Nordens entftammt und noch heute in Dänemarf, 
Holftein und Friesland fortlebt. Gar unheimlich ift’3, den Hylde-trae (Attich, 
Sambueus ebulus L., alth.: holluntar: niederj.: ellhorn oder ellorn) am Waldes- 
rande zu fchauen, wenn im Abendſchummer feine großen weißen Blüthendolden 
gleihjfam zu leuchten jcheinen. Der Baum jteht unter bejonderem Schuße 
der Hylde-moder, und e3 iſt gefährlich, ohme Bittſpruch Zweige oder Blüthen 
von ihm zu brechen. Auch wird fein Hausrat aus Hollunderholz verfertigt, 
am wenigften aber die Wiege, denn da würde Frau Ellhorn dem Kindlein die 
böfen Gichter bringen oder gar es im Schlafe erwürgen. 


V 


Seit den früheſten Zeiten der Ausbreitung des Chriſtenthums wurden, be— 
ſonders im nordweſtlichen Europa, Bäume und Blumen, welche ehedem heid— 
niſchen Gottheiten geweiht geweſen, mit Ereigniſſen des Lebens und Leidens 
Chriſti verknüpft, wie auch manche Thierlegende daran in ſinniger Weiſe ge— 
mahnet. So ſollen die Blätter einer Orchis, der gefleckten Ragwurz (Orchis 
maculata L.; in der engliſchen Grafſchaft Cheſhire „Gethſemane“ genannt), 
welche am Fuße des Kreuzes wuchs, von den herniederträufelnden Blutstropfen 
des Erlöſers für immerdar die dunkelrothen Flecken erhalten haben. Eine ähn— 
liche Legende erklärt auch den Urſprung der rothen Zeichnungen an der weißen 
Blüthe des gemeinen Sauerklees (Oxalis acetosella L.), welchen die alten italieni— 
fchen Maler, bejonders Fra Giovanni Angelico da Fieſole (Santi Tofini, 
geb. 1387, geft. 1455), im Worgrunde ihrer Kreuzigungen anzubringen liebten. 
Das dreizählige Blatt derjelben Pflanze, deffen, ſowie des Kleeblattes, der heilige 
Patrik, der Apoftel und Schubpatron Irlands fich bedient hatte, um die Lehre 
der göttlichen Dreifaltigkeit zu veranjchaulichen, mag die italienischen Künſtler 
veranlaßt haben, in gleicher Abficht den Sauerflee, welcher merkwürdigerweiſe in 
Italien auch „Alleluia* genannt wird, in ihre Bilder aufzunehmen, um durd) 
den Blumenſchmuck die göttlichen Eigenschaften des Gekreuzigten au verfinnbilden. 

Das Rothfehlchen, welches in der Bretagne „Jean le gorge rouge“ genannt 
wird, trägt die Blutmarfe an Kehle und Bruft, ſeit es ſich vergeblich bemüht 


416 Deutſche Rundſchau. 


hatte, die Dornen aus der Krone des Heilandes zu entfernen; aus gleicher Urſache 
iſt der Schnabel des Kreuzſchnabels verbogen, denn all' ſeine Anſtrengung war 
erfolglos, die Nägel aus den Wunden des Erlöſers zu ziehen. 

Hier ſei einer bezüglichen Vogellegende gedacht, wie ſie der Volksmund in 
Dänemark erzählt: 

„Es war an jenem ſchrecknißvollen Freitage, als unſer Herr in Todespein 
am Kreuze hing. Und es war um die ſechſte Stunde, und es ward eine Finſterniß 
über das ganze Land, bis an die neunte Stunde; und die Sonne verlor ihren 
Schein. Da kamen drei Vögel geflogen vom Aufgange gen Untergang und er 
reichten die verruchte Stätte von Golgatha. Zuerſt fam Vibe, der Kibitz, und 
als er jah, was da verbrocdhen, umflog er das Kreuz und Freiichte mit böslichem 
Rufe: „Pin ham! pin ham! Peinigt ihn! peinigt ihn!” Darum ift der Sibik 
für ewig verfludht und findet nimmer Ruhe noch Raft. Er ift verdammt, fein 
Neft immer in angftvoller Klage zu umfreifen, denn feine Eier auf dem Moos 
werben ftet3 geraubt. Nach dem Kibitz kam Storf, der Storch, und bejammerte 
und beflagte die Unthat. „Styrk ham! styrk ham! Stärft ihn! ftärkt ihn!“ 
lautete fein dringendes Mahnen. Deshalb ift der Storch gejegnet und überall 
willftommen, two immer ev ſich niederläßt, und jein Neft auf dem Firſte bleibt 
bewahrt und behütet. Zuleßt erſchien Svale, die Schwalbe, und rief, als fie 
gewahrte, was da GEntjeßliches geichehen, mit flehender Bitte: „Sval ham! sval 
ham! Labet ihn! labet ihn!” Darum wird die Schwalbe von Allen geliebt, 
und ſicher baut fie ihre Neft unter dem Dache der menſchlichen Behaufung, qudt 
vertraulich durch das Fenfter und nimmt Antheil an dem ftillen Glüd des 
friedlichen Heims. Ungeftört und beſchützt wohnt fie im ftolzen Palaft wie in 
ber ärmften Hütte.“ 

In der gleichlautenden ſchwediſchen Legende gejellte fich noch ein vierter Vogel 
zu ben dreien. Es war Turtur duva, die Turteltaube, die fich aufs Kreuz nieder: 
ließ und mit angſtvollem Entjegen ftöhnte: „Kurrie! Kurrie Leison! Her! 
Herr, exrbarme di!" Und feit jener Zeit ward fie nimmer wieder froh und 
fliegt in zaghaften Bangen durch die Wälder mit ſtets gleich wehevoller Klage. 

Don allen Pflanzen war es der Weißdorn oder Hagedorn, Auböpine 
(Crataegus Oxyacantha L.), welcher jeit älteften riftlichen Zeiten, namentlid 
im nordweſtlichen Europa, mit dem Leiden de3 Herrn in Verbindung gebradt 
wurde; denn es beftand der allgemeine Glaube, daß die Dornenkrone aus joldem 
gewunden war, was jedoch wegen des Fehlens dieſes Strauches in Paläftina un 
möglich der Fall gewefen jein konnte. Wohl aus diejer befonderen Urſache wurde 
der Hagedorn ehemals jo häufig an Kloftermauern gepflanzt, wofür defjen üppige: 
Wachsthum nahe diefen alten Ruinen noch heutzutage zeugt. 

Bezüglich der Dornenkrone berichtet der bereits erwähnte Paläftinareifende 
Sir John Maundeville: „Denn Ihr follt wiſſen, daß unſer Herr Jeſus in der 
Nacht, als fie ihn gefangen nahmen, in einen Garten geführt und dort har 
verhört wurde. nd die Juden verfpotteten ihn und machten eine Krone aus 
den Zweigen ber Aubépine (des Weißdorns), welche in felbigem Garten wuchs, 
und drücken fie auf fein Haupt, jo feft und fo tief, daß das Blut herniederrann 
über fein Antliß, den Hals und die Schultern. Und darum hat der Weißdorn 


Heilige Bäume und Pflanzen. 417 


der Tugenden viele, denn wer davon ein Zweiglein an ſich trägt, den können 
weder Donner no Blitz jchädigen, und fein böjer Geift kann in ein Haus hinein, 
oder in irgend einen Pla, wo folder aufgehangen ift. Und in jelbigem Garten 
verleugnete der heilige Peter dreimalen jeinen Meiſter. Nachher wurde der Herr 
vor die Biſchöfe geführt, und vor die Schriftgelehrten in einen anderen Garten, 
der dem Annas gehörte, und auch hier wurde er befragt, gejcholten und veripottet 
und abermal3 gefrönt mit einem weißen Dorn, der Barbaryne (Berberite) heißt, 
und in diefem Garten wuchs, weshalb er gleichfalls viele Tugenden befift. Und 
dann twurde er in den Garten des Kaiphas geführt und da mit weißen Eglantines 
(Hagerofen) gekrönt. Und hierauf führten fie ihn in die Halle bes Pilatus, und 
dort wurde er nochmal3 verhört und gekrönt. Und die Juden jeßten ihn auf 
einen Stuhl und beffeideten ihn mit einem Mantel, und hier machten fie eine 
Krone aus Jones marines (Stechginfter) und knieten vor ihm und verhöhnten 
ihn und riefen: „Heil! König der Juden!“ Und die Hälfte diefer Krone ift in 
Paris (in der Sainte Chapelle) und die andere Hälfte ift in Conftantinopel. 
Und Chriſtus trug dieje Krone auf feinem Haupte, ala fie ihn ans Kreuz jchlugen, 
und darum müſſen die Menfchen fte Heilig halten und höher jchäßen al3 irgend 
eine andere Krone in der Welt.“ 

In diefem Berichte Maundeville'3 finden wir verjchiedene Ueberlieferungen 
wunderlich vermifcht. Nach dem in Nordeuropa allgemein verbreiteten Glauben 
war die Krone, wie bereit3 erwähnt, aus Weißdorn, deſſen ſüßer Duft die Luft 
erfüllte, al3, wie eine alte Romanze erzählt, die heilige Dornenkrone in Paris 
von Neuem erblühte, während der fiegreiche Kaiſer Karl der Große betend vor 
ihr auf den Anieen lag. Der Weißdorn wird überall vom Volke hochgeſchätzt; 
in der Bretagne und in Irland gilt e3 für ungeheuer, auch nur ein einzig Blatt 
von gewiſſen alten, einzelnftehenden Dornbüſchen zu brechen, welche in verſteckten 
Mulden der Moorlande wachſen, weil die Elfen darunter ihre Zufammenkünfte 
halten. Die Barbaryne (Berberis vulgaris L.) ift die Spina Santa einiger 
Gegenden Italiens, two die Berberige diefen Namen erhalten zu haben jcheint, 
weil fie bdreitheilige Dornen ala Sinnbild der heiligen Dreifaltigkeit trägt. Die 
Jones marines der Dornenkrone find eine morgenländiiche Tradition, welche 
jedoch ziemlich jener Pflanze entipriht, die möglicherweife zur Dornenfrone ge 
flochten twurde, denn fein Dorn ift häufiger in Paläftina, als der Judendorn 
(Zizyphus Spina Christi Tourn.) und der NebE der Araber (Paliurus aculeatus 
Tourn ), welche beide den Namen Spina Ehrifti führen. Der Nebt hat große 
grüne Blätter und trägt eine einkernige Steinfrucht, deren Geſchmack dem des 
gemeinen Holzapfel3 (Pyrus malus L.) ähnlid ift. Er fommt in großen Mengen 
in der Umgebung Jerufalems vor und ift identifch mit dem Atad des alten 
Teftamentes, welchen Luther mit „Dornbuſch“ überfeßt und den Viele für den 
in PBaläftina gleichfalls häufigen Bodsdorn (Lycium barbarum und Lyeium 
afrum L.) halten. 

Seit der Dornbuſch aljo geheiligt worden, wurde er zum Könige der Bäume, 
welche fich der Hut feines Schattens vertrauten, wie die Gleichnißrede des Jotham 
verfündigt (Richter 9, 15): „Und der Dornbuſch ſprach zu den Bäumen: Iſt e3 
wahr, daß ihr mich zum Könige jalbet über euch, jo kommt und vertrauet euch 

Deutie Rundſchau. XVI, v. 27 


418 Deutſche Rundſchau. 


unter meinem Schatten; wo nicht, jo gehe Feuer aus dem Dornbuſch, und ver- 
zehre die Cedern Libanons.“ 

Der heiligen Jungfrau find alle Blumen geweiht und werden darum ohne 
Auswahl in katholiſchen Landen zur Zier ihrer Schreine während des ihrer be- 
fonderen Andacht gewidmeten Marienmonates, des Mai’3, verwendet. Daher 
liebten die italienischen und vorzüglich die niederländifchen Maler, ihre Marien: 
bilder mit bunten Blumengetwinden jeglicher Art zu umgeben. Von Freyja, der 
hehren Göttin des Nordens, wurde der Begriff der höchſten Schönheit: „Friö 
seöniösta idieo seöniöst* auf die Gottesmutter übertragen, welde aud in 
bervorhebendem Sinne „Unfere rau“ genannt wird. Es wird deswegen bei 
dem Mebergange der heidniſchen Symbolif der Pflanzen in die des neuen 
Glaubens nicht überrajchen, wenn Blumen, die ehedem der Freyja gemeiht 
waren, fpäter der Jungfrau geheiliget wurden, wie 3. B. das Marien— 
blümchen oder Maßliebehen (Bellis perennis L.), die Mariendiftel, Chardon de 
Notre Dame (Silybum Marianum Gärtn.), ber Frauenmantel oder gemeine 
Sinau (Alehimella vulgaris L.), der Frauenjpiegel (Speeularia Heifter), der 
Frauenſchuh (Cypripedium ealceolus L.) u. A. Die Schlüffelblume (Primula 
veris L.) heißt in manchen Gegenden: „Frauenſchlüſſel“, weil diefe Blume, wie 
Jakob Grimm erflärt, den Frühling erfchlieht, und die glänzenden Tröpfchen 
an den Spiten des Sonnenthaues (Drosera L.) werden häufig: „Unferer lieben 
rau Thränen“ genannt. Eine andere der Jungfrau geweihte Pflanze ift die 
Sjerichorofe (Anastatica hierochuntiea L.), ein Kreuzblütler Aegyptens und 
Paläftina’s, deren Aefte beim Trocknen ſich kugelig, in Form einer Roje zuſammen— 
krümmen, ins Wafjer gelegt fich wieder entfalten, und welche früher zu allerlei 
abergläubijchen Gebräuchen diente. Mehrere Arten von Yarnkräutern: Adiantum, 
Polypodium, Asplenium heißen Frauenhaar, Jungfrauenhaar, Mariengras. Das 
Adiantum Capillus Veneris L. wird in Island Freyja-här, Frue-här, Venus- 
strua (Venusſtroh) und Venus-gräs, in Norivegen Marigräs genannt. 

Diefer Wechſel des Namens der nordiſchen Göttin in den der heiligen 
Jungfrau war jedoch nicht auf Pflanzen allein beſchränkt. Jene drei Sterne im 
Bilde de3 Orion, welche unter den Namen: Orion’3 Gürtel, Jakob's Stab oder 
der Spindel (Colus) bekannt find, werden noch gegenwärtig vom ſchwediſchen 
Volke Friggerock, Fr&jerock oder Fröjasrock (Freyja's Rocken) genannt, heißen 
aber in Seeland Mariärock oder Marirock. Es ift wohl bderfelbe Roden, von 
welchem im Herbite das Mariengarn (auch „Alter-Weiber-Sommer“ hier und da 
vom Volke genannt) abgejponnen wird, bei deſſen Anblicke der Franzofe ruft: 
„C'est la Vierge qui file!* „Frevja’'s Fogel* hieß einft das „Fraua chueli*, 
unjer Marienwürmchen oder Frauenkäferchen (Coceinella septempunetata L.), 
welches in manchen Gegenden aud) „Marienvöglein, Marienfälblein“, in England 
„Lady-bird“, „Lady-cow“ oder „Lady-bug*, in Frankreich aber „Böte A Dieu“ 
(jeiner manchenorts in Deutſchland gebräuchlichen Benennung: „Gottesküchlein, 
Herrgottövöglein“ entjprechend) genannt wird. 

(Schlußartitel im nächften Heft.) 





— 


Don @utzoffino. 


——ñ—— — 


Novelle 
von 
Salvatore Farina. 


— —— 


Erſter Theil. 


J. 

Bis vorgeſtern haſt Du ſelber nicht einmal geahnt, daß Du Dir Deinen 
neuen Namen verdient habeſt; aber wenn ich hinginge, um ihn auf offenem 
Markt auszurufen, ſo würden ſicherlich Viele ſich mit mir vereinigen und ſagen, 
daß er Dir paſſe wie ein Handſchuh. Sei jedoch ohne Sorgen; ich werde 
ſchweigen. Ich habe Dir meinen Gedanken ausgedrückt, da ich wohl weiß, daß 
Du, weit entfernt, Dich aufzulehnen, mit mir vielmehr gelacht haben würdeſt 
über Dich ſelber; ich habe zu Dir mit lauter Stimme geſprochen, weil Niemand 
uns hätte hören können und mir daran lag, Dein Gewiſſen zu wecken. 

Gib Acht, habe ich Dir geſagt; Du haſt immer die fixe Idee gehabt, 
mit Windmühlen zu kämpfen, welche Dir das menſchliche Gefühl zu beleidigen 
ſchienen; gepanzert mit guten Entſchlüſſen und heiligen Grundſätzen haſt Du in 
einen Helm von Pappe all die Grillen geſperrt, welche rings um Dich her ge— 
zirpt, die Schmetterlinge, welche, dicht an Dir vorüberflatternd, Dein Daſein 
bunt, vielleicht fröhlich gemacht haben würden. Du haft vorgezogen, melancholiſch 
für Ideale zu kämpfen, welche Dich nie befriedigt haben, weil fie... . Ideale 
waren. Du bift abwechjelnd gläubig und ſkeptiſch, aber in jedem Fall edel- 
müthig geweſen, niemal3 ein Spötter, immer verjpottet. Und auch jet, da 
Du mir erklärft, troftlos zu fein, weil Du wieder einmal zweifelt: fperre doch 
nur die Augen auf, um eine neue Spötterei zu verhindern. Glaube mir, der 
Spott wird nicht ausbleiben, ich verfichere e&8 Dir, und Du wirft die Hände in 
einander jchlagen, weil Dein Zweifel der Heilung bedarf. 

Du Haft mir fchweigend zugehört, indem Du mir aus Deinem Winfel 
Blicke voll von einer Ergebung zufandteft, die mich verdroß, und erft ala ih 
mit dem Vorſatz ſchwieg, über dieſen Gegenftand den Mund nicht mehr zu 
Öffnen, Ächieneft Du mic zu verftehen und fagteft zu mir, indem Du zu Dir 
felber jagteft: „Armer Leone!“ 


27” 


420 Deutiche Rundichau. 


Hierauf erwiderte ich lachend: 

Mer ift Leone? Gibt es einen Menjchen auf der Welt, der fich Leone 
nennt? Wenn es einen gibt, jo bift Du es nidt. Dein Name ift Don 
Quixottino, aber es ſoll ein Geheimniß fein zwiſchen Dir und mir, und kein 
Anderer joll jemal3 davon wiſſen. Was wirft Du nun thun? Das was Du 
bis jet gethan Haft und was Du thun wirft, jo lange e3 im Himmel eimen 
ewigen Water gibt, welcher Dich zu feiner Zerjtreuung leben läßt. Allem, was 
lahm ift, eine Krücke zu geben und diefe Krücken immer auf3 Neue herzurichten — 
das ift Dein Geſchäft. Oder, wenn e8 Dir befjer gefällt — und ich weiß, 
daß e3 Dir gefällt — jagen wir: Deine Sendung auf Erden. Dir zur Seite 
find die Schelme, welche Dir folgen, um Dich auszulachen; Hinter Dir Her ift 
der Haufen, der Dich zum Beften hat — und Du gehft immer geradeaus und 
merfft nicht? von alle dem. 

Ich werde Dir Deinen idealen Narren zeigen, wie ex ift; über Dich lachend, 
werde ich die Thaten erzählen, die Du verrichtet Haft; ich werde Dih Dir 
jelber enthüllen, und jogar Du wirft lachen, mein Don Quirottino. Und bas 
werde ich thun mit dem vollftommenen Bewußtſein, auch meinerjeit3 ein Wert 
der Barmherzigkeit zu üben. 

* x 
* 

Deine Narrheit iſt alten Datums. Seit Du zur Schule gingſt mit dem 
Ränzel auf dem Rüden, jchieneft Du Dir auf dem Wege zu großen Unter 
nehmungen; und das erfte Mal, daß aus dem Buche mittelalterlicher Geſchichte 
die tapferen Ritterſcharen hervorbradgen, ihrer Dame Huldigend und der Ge 
rechtigkeit, jchien e8 au) Dir, daß Du zum Kriege gerüftet feift, tapfer und 
gerecht wie fie. 

Du haft die Prügel nicht gezählt, die Dir zu Theil geworden; aber ihrer 
waren, ohne den Schatten eines Zweifels, ebenjo viele als Deine Schullameraden 
fie Dir, ohne den Schatten von Ritterlichkeit, angedeihen ließen. Um bie 
Wahrheit zu jagen, Du Haft ihnen ebenfo viele zurüdgegeben, nur mit dem 
Unterichiede, daß die Schuljugend ftark darauf loshieb und Du, Don Quixottino, 
in mitleidigen Fauftichlägen eben nur Deine Würde vertheidigteft, ohne Deinen 
Nächften zu verlegen. Wenn Hierauf der Friede gejchloffen war zwiſchen dem 
Gegner und Dir, fragteft Du ihn lahend: „Habe ih Dir weh gethan?“ 

Nein, Du Hatteft ihm nicht weh gethan; — und er Dir au nit? — 
Ya, er hatte Dir weh gethan, aber e3 jchmerzte nicht mehr. Der Gegner, wenn 
er verföhnt war, geftand freimüthig, daß er, wenn e3 ſich darum handele, die 
Hände zu rühren, auch ordentlich drauf loshaue. Er fagte, daß er nun einmal 
jo gemacht jet. Bei Dir jedoch folgte das Gegentheil; Du hätteft gekonnt, 
wenn Du gewollt hätteft. 

Das wußte man; wenn Du zum Spaß mit Deinen Schulfameraden auf 
einem dazu hergerichteten Kampfplatze rangeft, wo es nicht möglicdy war, Yemandem 
etwas zu Leide zu thun, da Haft Du fie, Einen nad) dem Andern, alle zu Boden 
geworfen. 

Es ereignete fi einmal, daß ein gewiſſer Peralda, ber fi berühmte, 
ftärker als Du zu fein und dennoch das Loos der Uebrigen erlitten hatte, be 


Don Quigottino. 421 


hauptete, Du habeſt ihm ein Bein geftelt. Da rief, unter Deinem PBapphelm, 
die Ungerechtigkeit nad Race, und Du hatteft fie vollftändig, indem Du zehn- 
mal, nicht einmal, den Berleumbder den Boden berühren ließeſt, ohne ihm weh 
zu thun; aber der Gefallene vergalt Dir dadurch, daß er Dir jedesmal einen 
Fußtritt gegen das Schienbein verſetzte. Du ließeft es mitleidig geichehen aus 
Erbarmen mit Deinem Opfer. 

Und ala Peralda verföhnt war und Angeficht3 ber ganzen Schuljugend ver- 
fiherte, daß im Ringkampf Du ftärker feift al3 Alle, da fühlteft Du, wie, ftatt 
jeder Ruhmredigkeit, Dich eine unerklärliche Rührung ergriff und, und um Dich 
berabzufegen, jagteft Du zu ihm und den Uebrigen, daß es fein großes Verdienft 
jei, Andere auf die Erde zu werfen, daß es dabei nur auf das Rüdgrat anfäme. 
Deine Kameraden ftimmten diefem Gedanken bei; an dem Rüdgrat ift nichts be- 
ſonders Ausgezeichnetes, Fauftichläge dagegen darf man regnen Laffen, jo viel und jo 
ftart man will, ohne Rüdficht darauf, wohin fie treffen, und um die Rechnung 
auszugleichen, find auch Fußtritte in gewiffen Conjuncturen eine höchſt gerechte 
Vertheidigung. Da Du nicht nein fagen Eonnteft, jo zeigteft Du dem Herrn 
Peralda die Spuren der Tapferkeit, die er an Deinem Schienbein verübt, um 
fih für Dein Rüdgrat zu rächen; ex freute fi in aller Aufrichtigkeit und ging 
getröftet nach Haus. 

Und wie vielen Peraldas bift Du in der Welt begegnet? Ob, vielen! 
63 war nit immer die verlehte Eitelkeit, weldye fie, wie beim Ringkampf, auf: 
brachte, jondern es war der offenbare Neid, der weder durch Verdienft noch Ge— 
brechen entjchuldigt wird, diefer Heinliche, thörichte Neid, die ſchlimmſte der Un— 
gerechtigkeiten. Wenn Du mit vieler Mühe die Lection auswendig gelernt Hatteft 
und Peralda jeinerjeit3 vorzog, eine Halbe Stunde vor der Schule fie den 
Kameraden einzupaufen, indem er mit dem Textbuch heftig aufichlug, und ber 
Herr Lehrer nun Dich und ihn fragte — war da nicht der Augenblid, um den 
Neid Schweigen zu laſſen? 

Aber die Peraldas find immer ungeredt. Sie jammerten über jeden neuen 
Rod, den die Mama Dir angezogen hatte; zuweilen, wenn der Rod ihnen zu 
ſchön vorkam, jpotteten fie über Di und den Rod, aber meiften? wurmte und 
fchmerzte fie's. Eines Tages kam Dir ein jchredlicher Gedanke: vielleicht ift die 
Ungerechtigkeit in die Herzen der Menſchen eingezogen, weil der Himmel fi ein 
Vergnügen daraus gemacht hat, den Einen gemächliches Auskommen, Schönheit, 
Wohlbefinden zu geben, den Andern Gebrechlichkeit und Elend, weil nichts rings 
um die Greatur von Gerechtigkeit und Alles, was geichaffen ift, nur von Privileg 
ſpricht. Darüber dadhteft Du ein wenig nad; Einer jagte Dir: „Die Geredhtig- 
feit ift anderwärt3“, und weil Dir das nicht Hinreichend ficher geftellt ſchien, 
dadhteft Du noch einmal darüber nad. Aber die Gerechtigkeit fuhr fort, zu 
Deinem Herzen zu iprehen und Du wareſt getröftet. 

Weswegen, jagteft Du, diejes heftige Verlangen, das Gute zu thun, es 
wenigstens zu denken; weswegen dieje Ungeduld, wenn uns eine Gewaltthätigkeit 
der Menichen oder des Schickſals unter die Augen kommt? Weil das Gefühl 
der Gerechtigkeit in ung ift und die wahre Ungerechtigkeit anderswo geſchieht — 
vielleicht ... 


422 Deutiche Rundſchau. 


Das war der Tropfen gährenden Stoffes, welder Dich ein wenig nad und 
nach zu dem machte, was Du jetzt bift, Don Quixottino. Da Du nicht zögerteft 
einzuräumen, daß neben der Gerechtigkeit ein wenig Mitleid wohl beftehen kann, 
und manchmal die Nahficht nicht übel befteht, wurdeſt Du mitleidig und höchſt 
nahfihtig für die Gauner, auch wenn Du ftreng warft gegen die Guten. 
Dennoch bildeteft Du Dir ein, immer gerecht zu fein. 

Erinnerft Du Did Albino’3? Er war ein armer Teufel, voll Herz und 
Verftand. Die Kajerne Hatte ihn mit zwanzig Jahren feiner jchönen Muſik 
entriffen, und ex duldete mit Gelafjenheit, feines Claviers beraubt zu fein; da 
ihm noch eine Ader des Philojophen geblieben war, jo lachte er viel, aß viel 
und jagte manchmal wie ein Stoiter, daß da3 Leben uns nicht gegeben fei, um 
fröhlich zu fein. Aber da er jelbft nicht recht wußte, weswegen e8 uns gegeben 
fei, jo neigte er zu dem Glauben an einen verborgenen Plan, und daß man es 
auf jeden Fall wie einen gelungenen Spaß nehmen und darüber lachen müſſe. 
So lange der Spaß der Kaferne dauerte (und er dauerte zu jener Zeit acht Jahre), 
lachte er immer; dann, al3 er nad) Rom gegangen, den Kopf vorzeitig kahl, aber voll 
von Hoffnung noch einmal, twiderftand er nicht der erften Gelegenheit, die das 
neue Leben ihm bot, und ſtürzte fi aus einem vierten Stockwerk, um einer 
übermäcdhtigen Liebe zu entfliehen, die in fein Knabenherz eingezogen war. 

Dies ift feine ganze kurze Gefchichte, und wenn ich fie Dir jet wieder vor: 
führe, wiewohl ich weiß, daß Du bejtändig daran denkſt, fo geichieht es nicht, 
um Di mit Zorn zu entflammen gegen die Ungerechtigkeit der ſcheel blickenden 
Geſellſchaft oder des blinden Geſchickes, ſondern um Dich zu waffnen gegen Deine 
Ungerechtigkeit, welche, da fie Schon mehrfah in Deinen Kopf gedrungen, dort 
noch einmal Eingang finden könnte. 

Als Albino in der Kajerne war, vergnügt mit feiner Philofophie und einem 
Glavier, da3 Du ihm verichaffteft, da Hatteft Du, ein fchlechterer Philoſoph al 
er, bemerkt, daß er zwei Schwächen, nein fogar drei habe: er war ein Kleiner 
Renommift, hinter dem Efjen her und verliebter Natur. Und Du, Don Quirottino, 
Ichalteft ihn jeden Tag. Seinen Appetit jahft Du ihm nad) (weil Du wußteſt, 
daß man von dieſem Uebel durch die Sättigung und manchmal durch einen ver- 
borbenen Magen curixt wird); gegen ein Verlangen, das mit der Sehnfucht wächſt, 
und eine Eitelkeit, die ſich durch nichts ftillen läßt, warft Du ungeredt. Du er- 
tappteft ihn auf einer Sünde zehnmal jeden Tag, und bei Gelegenheit einer große 
artigen Auffchneiderei zeigteft Du ihm alle Triebfedern, welche feine Eitelkeit heimlich 
in Bewegung gejeßt hatte, um zu prahlen, ohne Deine Strafpredigt hören zu 
müffen. Und Albino late. Sein großer, guter Mund jchien einzig gemacht, 
um über fich jelbft zu lachen und harte Eier zu verſchlingen; aber er jagte 
auch vernünftige Dinge. Einmal jagte er: 

„Lieber Leoncino, Du durchſuchſt mir die Seele, um meine Eitelkeit zu ver- 
beffern; ich bin Dir dankbar; aber hüte Dich felbft ein wenig vor der Eitelkeit, 
die Eitelkeit zu befämpfen — da3 würde recht eigentlich die vanitas vanitatum, 
ein Kampf mit Windmühlen fein.“ 

Du lachteſt damals, aber Du haft einen ganzen Tag und eine ganze Nadt 
darüber nachgedacht, weil Dein Gewiſſen immer voll von Zweifeln geweſen iſt. 


Don Quirottino. 423 


Albino ftand ſich nicht beifer al3 zuvor. Den Tag darauf bei Tiiche, als er, 
im Begriff ein wenig zu renommiren, die Augen ſchloß, um Dir nicht ins Geficht 
zu jehen, da faßteft Du ihn Hurtig und graufam, wie eine Zange, auf Frifcher 
That, jo daß er Dir nicht entwiichen konnte. So machteſt Du’ alle Tage. 

Nun ift der arme Burj todt, und Du Haft ihm alle Fehler vergeben; oft, 
in Gedanken, jeßeft Du feinen zerfchmetterten Kopf wieder zufammen, um ihn 
lachen zu jehen wie einjt; und Dich erfaßt das Verlangen, dieje dicken Lippen 
zu fühlen, die Dir jo ſinnlich erfchienen, aber niemals eine Lüge hervorbraditen. 
Du würdeft zufrieden fein, daß er die Augen halb jchlöffe, um ſich noch einmal 
etwas zu Gute zu thun, oder daß er fie voll auf Dich richtete, um zu fehen, ob 
es Dich verdroffen babe. Ihm würde jet ein gutes Mittel, um Deinen 
Skepticismus zu heilen, nicht fehlen. Aber zu Deinem Unglüd ift auch ex ge— 
gangen wie jo viele Andere, die gut waren, und Dir blieb die Reue zurück, 
hart geweſen zu fein gegen die verzeihlichen Sünden eine wahren Freundes und 
Deine Nahficht aufbewahrt zu haben für die Todjünden Derjenigen, die, da 
fie Dich nicht unterkriegen können, über Dich lachen oder wenigſtens ſich nichts 
aus Dir machen. 

Hugo und Guido, erinnerft Du Dich ihrer? Sie waren zwei gute Menſchen, 
auch fie; der Eine ift auf dem Kirchhof, der Andere ift für Dich gleichfalls todt. 
Ahr waret durch Freundichaft verbunden, ihr machtet einander vertrauliche Mit- 
theilungen, bereit, euch gegenjeitig beizuftehen in der Noth. Da ihr mußtet, 
daß ihr Einer auf den Andern zählen konntet in jeder Lage, jo waren eure 
Beziehungen Herzlich und von Dauer. Aber Hugo und Guido Hatten ſich Beide 
denjelben Fehler angeeignet, um einen anderen zu verbergen, der unbefieglich 
war und ihnen der ſchlimmſte von allen ſchien: fie fpielten ſich auf die Hoch— 
müthigen hinaus und machten alle Beide dasſelbe geringſchätzige Gefiht — 
Hugo, kühner darin, mit lauter Stimme Ympertinenzen zu jagen, Guido, ge 
ſetzter und vorfichtiger, indem er fie mit ſarkaſtiſchem Lächeln kaum andeutete. 
Du, Don Quizottino, wiewohl Du wußteſt, daß fie Beide gute Kerle feien, 
Kitteft unter ihrem vornehmen Weſen, das fie niemal3 gegen Di, immer nur 
gegen Andere herausfehrten; aber e3 wurmte Di, daß Du fie nicht nad) Deinem 
Bild umgeftalten fonnteft; Du hätteft aus ihnen ein paar Narren gemadt, um 
fie der Nohheit de3 Pöbels preiszugeben. 

Einmal fürchteteft Du, fie möchten in der Comödie, die fie vor dem Publicum 
aufführten, dahin kommen, fich ernft zu nehmen; Du folgerteft das aus einem 
Nichts. Ahr ginget jpazieren, Hugo fragte, Guido gab feine Antwort; Hugo 
wiederholte die Frage nicht, die do ihm am Herzen lag; Guido, nachdem er 
ſchweigend eine ganze Weile gewartet hatte, fing wieder an: „Sagteft Du nicht 
eben etwas? Entſchuldige, ich war zerftreut.” — Aber Hugo blieb unverſöhn— 
lich und erwiderte, daß er fich nicht mehr befinne. Nunmehr trateft Du, der 
bisher geichwiegen hatte, mitten zwiſchen Beide und, fie an den Armen faffend, 
bielteft Du folgende Herrliche Rede: „Wißt ihr, was ich euch jagen muß? Daß 
ihr zwei Comödianten jeid. Schon eine Weile hab’ ich euch beobachtet, und 
ich verfichere euh, daß ihr ſchlechte Comödianten jeid. Was für Gefichter 
madt ihr euh? Zu welchem Zweck?“ 


424 Deutihe Rundſchau. 


„Bilt Du ein Narr?” fragte Hugo; Guido gab feinen Laut von fid, und 
Du ſchoſſeſt los: 

„Ja, ich bin ein Narr, weil nur Thoren ehrlich find, wenn man ſelbſt 
unter den beſten Freunden Comödie ſpielen und verſuchen muß, einander an— 
zuführen. Aber laßt dieſen Narren nun Alles ſagen, was er in euren Seelen 
geleſen hat. Du, Guido, hatteſt ſehr wohl verſtanden, als Hugo Dich gefragt 
hat, aber es gefiel Dir, den Zerſtreuten zu ſpielen, damit Dein beſter Freund 
genöthigt werde, die Frage zu wiederholen; Du, Hugo, wollteſt fie nicht wieder: 
holen, weil es Dir guter Ton ſchien, zu machen, als ob Du ſie vergeſſen hätteſt. 
Und das thatet ihr, weil ihr euch Beide kennt und Furcht habt, daß Einer 
vom Andern untergekriegt wird. Aber geſteht es euch endlich ein und machet 
ein Ende damit; wenn es euch ſcheint, daß vor den Leuten die Maske der Ueber— 
legenheit wirklich nothwendig oder nützlich ſei, ſo maskirt euch nur vor den 
Anderen, aber ſpielen wir unter uns mit offenen Karten.“ 

„Biſt Du toll?“ fuhr Hugo fort, zu wiederholen, während Guido un— 
erſchütterlich ſchwieg. 

„Weil ich denn toll bin, laßt mich endigen. Ihr, die ihr ſtolz ſcheinen 
wollt, ſeid einfach ſchüchtern, und Du, Guido, der Du aus Hochmuth nicht 
ſprichſt, bift ſchüchterner als er und als ich.“ 

Guido hatte fi von Deinem Arme losgemadt, und an der Ede der Pia 
de Giuſeppe angelangt, ſagte er lachend: 

„Servus. Es thut mir leid, die Lection unterbrechen zu müflen, aber id 
werde in der Patriotiichen Gejellfchaft erwartet; Dur wirſt einen anderen Abend 
fortfahren können.“ 

„Servus,“ erwiderteft Du traurig. 

Mährend Du ſogleich einjaheft, daß die Lection bei Deinen guten Freunden 
zu nicht3 gedient hatte, fingeft Du zu fürchten an, daß ſeit jenem Tage Hugo 
und Guido nicht mehr diejelben gegen Dich fein würden wie früher. m ber 
That verzieh Dir Guido innerlich niemals, daß Du ihm unter die Maske ge 
Ihaut Hatteft, ließ Di dom andern Tage an merken. daß er ſich unbehaglid 
mit Dir fühle, fürzte dann nad und nad die Dauer und Häufigkeit der 
Spaziergänge in Deiner Geſellſchaft ab und hörte damit auf, ſich überhaupt um 
Did zu kümmern. Ad ja, es war immer feine Stärke geivejen, in dem, was 
Andere thaten, wie in einem aufgejchlagenen Buch zu Iefen, ohne jemals zu ver 
jtehen zu geben, was in der eigenen Seele vorging. 

Hugo, nein; armer Kerl, er war eine gröbere Natur; ex fpielte die Comödie, 
anmaßend zu jein, weil die Menſchen fie ihn gelehrt hatten, nahm es Dir aber 
nicht jehr übel, daß Du feinen Betrug entdeckt hatteft, und würde Dir Alles 
verziehen haben, wenn ex ein Jahr jpäter nicht geftorben wäre. 

Dir zwar mußte feit jener Zeit die erjchredende Wahrnehmung kommen, 
ein Tchlecht conftruirter Don Quixottino zu fein, und dennoch fuhreft Du fort 
in Deiner Mijfion. In der Einbildung, alle Schäden und Mißſtände in ber 
Natur Heilen zu können, zogeft Du aus, um bie Krüppel und die Lahmen 
zu ſuchen. 

DO, das ſchöne Leben, das Du in diefer Geſellſchaft geführt haft! 





Don Quirottino. 425 


I. 

Und auf der Univerfität, wie viele ſchöne Unternehmungen! Erinnerft Du 
Did ihrer 

Du wareſt feit Kurzem in Pavia; noch trankeft Du nicht, aber Du folgteft 
den hemdärmeligen Kameraden zur Schenke, fcheinbar mit dem Eylinder auf dem 
Kopf, der die Nerven der Spitbuben beleidigte, heimlich jedoch bewaffnet mit dem 
bewußten Helm de3 finnreichen Junkers de la Mancha. Häufig geihah es, daß der 
Wein Deine Eollegen aneinander brachte; es war die hochmögende Mtedicin, twelche 
ihre ſchwachen Inftrumente ſchlecht anwandte, um auf eine unfchuldigere Disciplin, 
die Pharmacie oder die Mathematik zu fticheln, am meisten aber auf die Deine, 
welde Dir von Natur und durch Wahl gehörte, diejenige, welche, weil fie 
das Geſetz gibt, das Recht Heißt. Die Anderen wurden heftig, . Du nit. Du 
wareft es immer, der ihre Streitigkeiten jchlichtete, und wenn, um fie zu ver— 
fühnen, Deine gerechteften Argumente fi) ſämmtlich als nichtig erwiejen Hatten, 
griffeft Du zum leßten, welches niemals verjagte, zu einem Doppelliter vom 
Heurigen, den Du auf dem Altare des Friedens opferteft. Dann ließ bie 
allopathijche Medicin ihr Glas zufammenklingen mit dem des Homdopathiichen 
Rechtes, auf das Wohl des Don Quirottino. 

Don Quixottino, außer fid) vor Freude, bezahlte die Rechnung. 

Aber Du bift fein Narr; Du warſt e3 wenigftend damals nicht, und begriffeft 
bald, daß Deine Kameraden ſich gern in der Schenke zankten, weil der enthalt- 
fame FFriedenäftifter den Heurigen auf den Tiſch ftellen ließ. Und da die Sache 
von allen Anderen auch begriffen ward, von Allopathen und Homdopathen der 
Zukunft, von PBharmaceuten und Mathematifern in spe, riefeft Du einmal, ala 
fie fi) wieder an den Köpfen Hatten, mit lauter Stimme nad) dem Wirth. 
Die Widerſacher fenkten die Stimme um eine Octave, damit dev Wirth feine 
Silbe von dem erwarteten Doppelliter verliere; doh Du, zum unermeßlichen 
Erftaunen aller vereinigten Facultäten, beftellteft ein Glas, nur ein Glas jüßen, 
weißen Weine; dann mit einem janften Lächeln erflärteft Du den Streitenden, 
die fich verföhnten und verftummten, daß Du nun auch trinken lernen mwollteft, 
um nicht mehr der Gimpel in der Gejellichaft zu jein. 

„Braviffimo !” jagte der Chor, und es war ein aufrichtiges Wort, denn die 
Wahrheit und die Gerechtigkeit jprechen zuweilen ohne Souffleur. 

Das Fünftelchen des jühen Weines fam, und Du tranteft es, und e3 that 
Dir nicht Schlecht; aber wie viel befjer würde Dir's noch gethan Haben, wenn 
Du die Meinung, welche die Kameraden fi von Div gebildet hatten, lange 
hätteft beftehen laſſen. Statt deſſen ſchien es Dir, daß die Lection hinreichend 
deutlich ſei, und aus Befriedigung darüber, fie ertheilt zu Haben, wollteft Du, 
wenn der gewohnte Heutige twieder auf den Tiih fam, ihn nun auch unter 
allen Umftänden bezahlen, Don Quirottino. 

Dann, müde der Schenke, welche den Unterweifungen der Univerfität wenig 
hinzufügen konnte, veränderteft Du da3 Jahr darauf wenigſtens ben Si für 
Deine Thaten. Du verlangteft einen günftigeren Boden für die Ausbildung der 
been, welche Dir in den Kopf gelommen waren und in langem Zuge immer 
noch nachkamen. Es waren, verfteht ſich, großartige Jdeen, edelmüthige und vor 


426 Deutſche Rundſchau. 


Allem gerechte, in welchen die Frau, ja ſogar die Frauen ſtets den erſten Platz 
hatten; bleiche, empfindfame und zarte Frauen, welche Du gejehen hatteft in 
Deinen Träumen mit offenen Augen; junge Frauen, welche nad dem eriten 
Honigmond durch die Gleichgültigkeit des Gatten in Gefahr geriethen, Mädchen, 
welche frauen geworden auf höheren Befehl und fi in den Gedanken nicht er 
geben konnten, einen zu häßlichen oder zu alten Gemahl zu haben; unvorfichtige 
und neugierige Geihöpfchen, welche aus der Nähe alle die von der Männerwelt 
gelegten Fallen bejahen. Du bildeteft Dir nicht ein, die Kraft zu haben, vide 
von ihnen it den feierlichen und aufrichtigen Worten, die von Deinen Lippen 
fließen würden, ſtark zu maden, aber Dir jchien, daß Dein Gewiſſen Dir be- 
fehle, wenigftens ein paar zu retten, wenigſtens eine. 

Und die jungen Damen würden nicht Dein ganzes Erbarmen, all’ Deine 
Liebe zur Gerechtigkeit erichöpft haben; denn der armen Menſchheit ift noch viel 
anderes Elend zugetheilt. Wenn fie mit Eiferfucht liebt, wenn fie ohne Hof: 
nung begehrt, wenn fie fih müde vingt, um die Gleichgültigkeit zu befiegen und 
aus dem Dunfel herauszufommen; und, um eine alte Mutter oder eine kranke 
Frau oder ein Neft voller Kinder zu jättigen, fi) das Brot vom Munde nimmt; 
wenn fie ein edles Gefühl aus Furcht vor der Welt verbirgt, wenn fie an einem 
anderen Leben zweifelt, oder nicht mehr zweifelt und kämpft, um fich im die ver- 
haßte Ungerechtigkeit des Nichts zu ergeben: dann würde Dein Priefterthum, 
welches heilig ift, jegensreich haben fein können. 

Schon oft Hatteft Du gegen ein eingebildete3 llebel Front gemacht und 
taujend quite Worte gefunden, um es zu heilen; und nachdem Du Dich an Deiner 
Fiction jo jehr erregt, daß Du darüber weinteſt, haft Du die Thränen ab- 
getrocknet, um Di Deiner Beredtjamkfeit zu freuen. 

Du wareſt in eine bejcheidene Trattoria de3 Borgo Nuovo zu Turin ge 
fommen. Zuerft wareft Du allein am Tiſch und konnteſt nicht? Anderes thun, 
al3 nach der benachbarten Tafel hinüberbliden, um einen Gaft zu juchen, der 
durch jeine Art zu jchweigen oder zu ſprechen oder zu eſſen, Dir unter irgend 
einer Ingerechtigkeit zu leiden ſchien. Aber es war dies eine [uftige Tafelrunde 
von jungen Leuten, mit gutem Appetit und gutem Humor, die manchmal, um 
da3 Mahl mit ihren Geliebten zu theilen, doppelte Portionen kommen ließen, 
mit lauter Stimme zur Vorjpeife Capri bejtellten, Marjala zum Obſt und 
Früffeln. Du beobadhteteft fie verftohlen jeden Tag, und wenn es ſich ereignete, 
daß Einer von der Tiſchgeſellſchaft ſchweigſamer war, jo durchforſchteſt Du ihn 
genau, um zu jehen, ob Hier nicht ein Fall vorliege, der Dir gebot, mit Deiner 
troftreihen Beredtfamfeit zum Vorſchein zu fommen. Es dauerte zwar nidt 
lange, jo nahmeft Du wahr, daß, wenn an diefem fröhlichen Tiſch Einer einmal 
weniger ſprach als gewöhnlich, jein Schweigen nur dadurch veranlaßt ward, daß 
er am Abend vorher zu viel gegeffen hatte. So Eonnteft Du ruhig und zufrieden 
fein; aber Du, nein, Don Quixottino, Du verzichteteft nicht; Deine Miſſion ver- 
langte leife ein Opfer — aber wie und wofür Dich opfern? 

Dir war der Wunſch nicht gefommen, Dich in dieje heitere Geſellſchaft ein 
zuführen, um wenigſtens einige Worte bei Tiſch wechjeln zu können; wenn bieie 
Leute Div melancholiſch, oder Frank, oder in irgend einer Weiſe heimgejucht er: 


Don Quixottino. 427 


jchienen wären, dann würden Dir bie Gelegenheiten nicht gefehlt haben, Dich 
einzumifchen, um Theil an ihren Leiden zu nehmen; aber gegen glückliche Menſchen 
bift Du jtet3 auf Deiner Hut gewejen. Indeſſen, was Du nicht thatejt, da Du 
wußteſt, daß Du der Sorglofigkeit Deiner Nachbarn nichts hinzufügen könnteſt, 
das thaten dieje Sorglofen jelber an einem Tage größerer Fröhlichkeit. Während 
Du Did fiher glaubteft, weil fie Dir ein wenig über den Durft getrunfen zu 
haben fchienen, und aus Deinem Winkel fie der Reihe nad) betrachteteft, ihren 
Yuftigen Späßen mit Nachſicht lächelnd, vertwundete ſich Einer, indem er einer 
Flaſche den Hals brach, an der Hand. 

Seine Geliebte, eine Blonde mit feinem Näschen, eilte fogleich herzu; fie 
ſchien verſucht, zu weinen und jagte gleichſam zu fich jelber: „Guter Gott, das 
hatte noch gefehlt.” Aber in ihrem Schred, in ihrer Bläffe fand fie doch die 
geichicktefte Art, mit ihrem Taſchentuch die Hand zu verbinden, während zwei 
andere Dämchen und alle Zijchgenofjen ſich nicht weiter nützlich zu machen wußten, 
al3 indem fie fragten: „Daft Du Dir weh gethan?“ 

Der Verwundete jchüttelte dern Kopf; lachend und verfichernd, daß es nichts 
jei, gewährte es ihm offenbar Vergnügen, mit feinem Heldenthum etwas Staat 
machen zu fönnen; und er fieß Huldvoll gejchehen, was feine Geliebte für ihn 
that. Die Gelegenheit war für Dich wie gemacht, Don Quixottino. 

Du erhobeft Did von Deinem Sitz, nahmeft aus Deiner Brieftafche ein 
Stück engliſchen Taffet3, der gut ift, wenn man fich gejchnitten hat, und ein 
Riechfläſchchen, das probat gegen Ohnmachten, und gabeft Beides der barm— 
herzigen Samariterin. Dieje ſagte „Danke!“ mit einem bezaubernden Lächeln 
und fügte hinzu: „Wie wird es gemacht?“ Nun war der Augenblid gefommen, 
um Dich wirklich Deiner irdiichen Miffion hinzugeben; noch einmal öffneteft Du 
die Brieftafhe, nahmeſt eine Eleine Schere heraus und, Dih an die Arbeit 
madjend, legteft Du mit eigenen Händen das Pflafter auf. 

„Er ift ein Doctor!“ fagte Jemand neben Dir. — „Nein, er ift ein Student 
der Medicin, der ein guter Doctor werden wird,“ verfichert der „Mtagre” mit 
leifer Stimme und jener ſelbſtbewußten Miene de3 Kellners, welcher das Ver— 
trauen feiner Kunden befißt. 

AB das Merk unter der Bewunderung der Umftehenden vollbracht, die 
Blonde, auf deren Wangen die Farbe wiedergefehrt war, die fie vor der Kata— 
Strophe gehabt, Dir noch einmal mit einem Blick voll Freundlichkeit gedankt 
hatte, und Du Dich eben in Dein Eckchen zurücbegeben wollteft, da jagte Einer 
von den Conviven: 

„Die Bouteille, welche das Unheil angerichtet hat, joll wenigſtens zu etwas 
Guten dienen; leeren wir fie zufammen — wollen Sie?“ 

„Ja, ja,“ eriwiderte der Chor. 

„Sagen Sie nicht nein,“ bat die Blonde. 

Du gabeft nad, und da Du, aus Liebe zur Gerechtigkeit, anerkannt Hatteft, 
daß die jühnende Flaſche alten Barolo enthielt, jo hatteft Du jeden Abend 
Deinen Pla an der Tafel. 

Nicht immer theilten die Tiichlameraden das Mahl mit ihren Geliebten, 
zuerst und vor Allem, weil fie faft ſämmtlich Angeftellte der Oberitalienijchen 


428 Deutiche Rundſchau. 


Eifenbahn waren und die Dämchen eine ganze Portion bezahlen mußten, umd 
dann, weil die Damen, von welcher Kategorie fie auch fein mögen, und wären 
fie jelbft ſolche Leichtfertige Dinger, bei Tifh immer ein wenig genieren wegen 
des Bischens Zurüdhaltung, die fie vor dem Publicum mindeſtens nie ganz 
ablegen. Dem Manne dagegen, ber fie gefunden, nachdem er fie lange geſucht 
bat, gefällt es zumeift, nach einem fröhlichen Mittageffen, fi) ganz aufzufnöpfen, 
Leib und Seele, den Leuten Derbheiten ins Geficht zu jagen, bei denen die 
Serviette des Kellners erröthen könnte, vor Allem die Frauen jchlecht zu machen, 
welche jammt und jonder3 von einem Sclage find, indeſſen er, wohlverftanden, 
fh jelbft, den übrigen Tiſchgenoſſen und dem ganzen männlichen Geſchlecht die 
nothwendige Ehrenhaftigkeit vorbehält. 

Mit diefer ift es jedoch nicht weit ber, wie Du Deinen neuen Freunden 
ſcherzend bemerfteft, al3 ihr ein wenig vertrauter mit einander geworden. Sie 
fagten nicht gleich weder ja noch nein, denn fie hatten noch nicht gemug getrunten, 
um den Geift des Widerſpruchs in fich zu jpüren; aber Du nahmeft plößlich 
wahr, daß einer der Genofjen, der mit der Wunde und der hübjchen Blondine, 
fi Mühe gab, über Deine Worte nacdjzudenten. Welcher Lurus für ihn und 
welcher Triumph für Did! Es that Einem ordentlich weh, zu jehen, welch 
harte Arbeit es für die Gedanken war, in diefen frifirten Kopf hineinzukommen. 
Um einen davon zu zwingen, daß er fich nicht al3bald wieder davonmache, tie 
er gewöhnlich that, fondern eine Form annehme und fi in Worte Eleide, hielt 
diefer Ejel die Augen feſt auf eine Scheibe Gorgonzola geheftet, welche der 
„Magre“ ihm vorgefegt hatte. Er wandte fie zweimal Hin und ber, als ob fie 
ihm zu dünn erfcheine und er fich verſucht fühle, fie wieder in die Küche zurüd- 
zufchicen, jo daß der Kellner betreten und ungewiß ftehen blieb. 

Du fagteft lachend zum „Magren“: 

„Sehen Sie nur; der Gorgonzola ift vortrefflich.“ 

„Ach ja, der gefällt mir auch,“ fagte Dein Denker, „aber Ihre Worte ge: 
fallen mir nicht.“ 

„Welche Worte? Wenn ich Etwas verjehen habe, bin ich bereit, Buße zu 
thun,” gabeft Du fcherzend zurüd. 

„Sie ſprechen von der Ehre des Mannes... ald ob die rau... al 
ob die Frauen ...“ 

„Als ob die Frauen,“ kam ich feinem Gedanken zur Hülfe, der noch nicht 
einmal jo viel wie im Hemde war, „als ob die Frauen ihre Ehre nicht nod 
höher halten müßten? Nun wohl, es ift wirklich) jo; der Mann Hält es fin 
erlaubt, ja für anftändig, ſogar für rühmlich, hinter einem ſchönen Mädchen 
herzulaufen, ihr zu jagen, daß fie anbetungswürdig und angebetet fei, fie auf 
taufenderlei Weiſe in Verfuhung zu führen, dur Worte, dur Thaten, und 
zulegt duch Geld, indem er einige Liebe und einen Heirathscontract verſpricht — 
wenn das Mädchen ihn erhört und einmal ftolpert, fo ift fie Eine, wie alle 
Anderen; wenn fie zweimal nachgibt, jo ift fie eine Dirne. Scheint Jhnen das 
Gerechtigkeit zu fein?“ Ä 

„Es ift wahr,” verjeßte der Andere; „ich habe mir genau dasſelbe gebadıt; 
aber jehen Sie, die Frau — daB heißt, der Mann — das ift doch ein Inter 
ſchied!“ 


Don Quirottino. 429 


„Sehen wir einmal den Fall, da in der Gejellichaft die Frau die Rolle 
des Mannes übernähme .. .“ 

„Aber das ift unmöglich,” erwiderte man Div im Chor; und Alle waren 
darin einig, den Satz zu betätigen, welchen der Liebhaber der Blonden auöge- 
ſprochen: mit dem Mann jei da3 eine andere Sadıe. 

„Dem iſt aljo Alles erlaubt? Auch einen Freund zu verrathen und ihm 
die Geliebte zu ftehlen; auch den Hader in ein kaum gebautes Neft zu tragen?“ 

Freilich! Alles war erlaubt. Sie überlegten nicht viel, ſondern ftellten 
ihren Gedanken immer von berjelben Seite dar, twie wenn fie niemals etwas 
Anderes gethan hätten, als über diefes Problem nachzufinnen und ftet3 zu dem 
gleichen Reſultat gekommen wären. 

Hätteft Du da wirklich nit in Verfuhung kommen follen, Dir ihre Ge- 
liebten zu nehmen, und wenn nicht alle, jo doch wenigftens eine, zum Beiſpiel 
die jentimentale Blonde, welche beim Anblid von etwas Blut bleich geworben 
war? Dir jchien, daß fie nicht jehr glücklich fei, ihre Liebe diefem Hohlkopf zu 
ſchenken; vielleicht würde fie fich nehmen laffen, ohne Dich erſt lange zu quälen, 
da fie fi jagen mußte, in Dir einen ernften Mann zu finden, ehrlicher Liebe 
fähig, nicht jo wohl frifirt wie ihr Gebieter, auch nicht jo hübſch, aber dod) 
auch nicht ganz zum Fortwerfen und ficherlich fein Narr. 

MWareft Du wirklich ficher, nicht doch ein wenig der Narr zu fein? 

Dieje inftinctive Verſuchung ging vorüber, nachdem fie Deine Gedanken eben 
berührt, ohne irgend welchen Schaden zu thun, weder Dir noch den Anderen, 
nicht jo jehr, weil Deine Sinne disciplinirt waren, ald weil Deine Willenskraft 
e3 war oder wenigften3 jein mußte. Was würde aus der großen dee geworden 
jein, die Du mit dem Eifer des Apoftels auf allen Altären zur Schau ftellteft, 
wenn das erfte bleiche Geſichtchen Dich zum Verräther gemacht hätte? 

Es ift wahr, daß Lucietta’3 Augen um Etwas zu bitten ſchienen und daß 
ihr ſchwermüthiges und janftes Lachen von Ergebung ſprach; es ift wahr, daß 
manches jhüchterne Wort, mit welchem fie andere, ungeduldige oder rohe Worte 
aus jeinem Mund erwiderte, Dir die Meberzeugung gaben, daß Lucietta ein Opfer 
jei und ihr Geliebter ein Tyrann, und daß zwiſchen ihnen Beiden, unter bem 
Vorwande der Liebe, ſich eine Ungerechtigkeit vollziehe. Aber andererjeit3, wenn 
Du, Don Auixottino, Dir in den Kopf geſetzt hätteft, dieſes Opfer von einer 
graujamen Liebe dadurch zu befreien, daß Du felber fie liebteſt, in einer veineren 
MWeife, mwäreft Du dann ganz ficher geweſen, die Dinge auf den Punkt gebradht 
zu haben, wohin fie, der Gerechtigkeit gemäß, gehörten? Und wenn diefer Eijen- 
bahnbeamter in Wirklichkeit nicht der Tyrann wäre, ber er Dir jebt ſchien? 
Wenn jtatt deſſen fie es wäre, die bleiche Mleine, die ſich unbefriedigt ftellte, zum 
Scherz jeufzte und die Märtyrerin machte, um Dich zum Beften zu haben? Wenn 
ihre Bläffe nichts Anderes wäre, als ihr Temperament, ihr Lachen eine Kofetterie, 
um ihre ſchimmernden Zähnchen zu zeigen, und ihre beftürzten Augen und ihr 
blondes Haar und die ganze Lucietta nichts Anderes, als eine wohlgelegte Falle? 

Doch angenommen jelbft, daß diefeg arme Mädchen nihts als die Wahr: 
heit ſpräche, und wenn fie Dich heimlich) anjah und wenn fie Dir zulächelte, Dir 
jagen wollte, fie würde fich bei Dir befjer befunden haben — weißt Du denn, 


430 Deutſche Rundſchau. 


wie er ſich befunden hätte? Er war vielleicht ein Geck, der ſich einbildete, Alles 
aufs Beſte zu machen, damit ſeine Geliebte zufrieden ſei. War er nicht jung, 
ſchön, kräftig und ein bischen einfältig? Und aus dieſem Stande der Glückſelig— 
feit, der vollen Befriedigung darüber, daß man auf die Welt gefommen, ſich 
bortrefflich befindet von einer Mahlzeit zur anderen und höchlich von fich jelber 
erbaut ift, hätteft Du ihn reißen wollen in die Hölle der Eiferfucht, in die Ver— 
laffenheit, jedes Lichtes beraubt? 

Ah! nein, Don Quixottino, Du würdeft etwas Aehnliches nicht gethan haben. 
Zucietta war Schön, oder fie gefiel Dir wenigſtens (Du kannſt es nun gefteben, 
da die Schlacht vorüber), fie gefiel Div jehr, und es lieh fih annehmen, daß, 
da Du fie dem Eijenbahnbeamten nicht geraubt hatteft, ein Anderer, vielleicht 
ein College von der Verwaltung oder ein Kamerad desjelben Bureaus, fie zum 
Entgleifen gebracht hätte; aber gerade Du wirft nicht der Mann fein, eine jolche 
Sataftrophe herbeizuführen. 

Nun Eonnteft Du ihr ruhig in die Augen blicken, ohne Furcht, Deine Faſſung 
zu verlieren, oh, wenn Du etwas mehr hätteft thun fünnen, um fie in einen 
ficheren Hafen zu führen, Dein gewohnter Eifer würde Dir nicht gefehlt haben! 

Lucietta erſchien felten in der Trattoria während der Woche, aber am Sonn- 
tag und den anderen gebotenen Feſten fehlte fie niemals in der Gejellichaft ihres 
Liebhabers, welcher von Sonntag zu Sonntag ein alberneres Gefiht machte. Nach 
der Urt, wie er beim Kaffee fi auf den Seffel ftredte, nad) der bewußten 
Manier, feiner Dame zu anttvorten, mußten alle Tiſchgenoſſen glauben, daß er 
dieſer Liebe bis zum Ueberdruſſe jatt ſei, daß dieje Zärtlichkeiten ihm wider— 
ftanden und daß er gern Jedem bie Hand gereicht hätte, der ihn von ber Laft 
Luctetta’3 befreien möchte. In Wahrheit aber verhielt fi Alles ganz anders. 
Deinem Scharfblid war es nicht entgangen, daß er bloß Comödie jpiele, wie 
fo Viele thun; er agirte die Rolle de3 gelangtveilten Mannes, des gleichgültigen, 
wiewohl unmmiderftehlichen Mannes; aber im Grunde war er eiferfüchtig. Auf 
DiH? Ja, wahrhaftig, auf Did. Und Du Hatteft den Haren Beweis davon 
an dem Tag, wo Du ihnen begegneteft, als fie eben im Begriff waren, das Haus 
zu verlafjen, um ein paar Schritte auf dem Hügel zu machen, und ber Erfte, der 
Dich aufforderte, fie zu begleiten, gerade er war. Er hatte den Vorſchlag des— 
halb gemacht, damit weder Dir noch ihr der Gedanke fommen möge, er jei 
eiferfüdhtig, und auch, weil er wußte, welche Langeweile ihm bevorftand, ihm, 
der das Grün des Feldes nur im Salat liebte, wie er fich elegant ausdrüdte; 
und endlich, weil Du ſehr wahrjcheinlich das edelmüthige Anerbieten ablehnen 
mwürdeft, um nicht das fünfte Rad am Wagen zu fein. 

Er hatte es geradezu gejagt: „Wenn Sie nicht fürchten, das fünfte Rad am 
Wagen zu fein, dann gehen Sie mit ung.“ Lucietta fagte nichts, fie lächelte 
nur in der ihr eigenen Weiſe. Und Du exlärteft muthig, Du fürdhteteft Dich 
vor dem fünften Rabe. 

II. 

Aber einige Zeit Hierauf ereignete ſich's öfter, da Du, nad) der Vorlefung 
über das Civilrecht, duch die Straßen von Turin ſchlendernd, Dich zufällig, 
ohne es recht zu merken, in der befandeft, in welcher Lucietta wohnte. Wer 


Don Quirottino. 431 


weiß, vielleicht war es ein Unglüc, welches die Laune des Schickſals Div zube— 
reitet; oder vielleicht war es ein Inſtinct; oder vielleicht ein Geſchäft Deiner 
Sendung als Apoftel. Die Sache ift noch heute nicht ganz aufgeklärt; aber e3 
geichah einfach dieß, daß ihr eines Tages, Lucietta und Du, euch Angeficht m 
Angefiht einander gegenüberjtandet ; fie lächelte melancholiſch, als fie Dich zuerft 
von Weiten jah, und bot Dir die Hand zum Gruß, als fie Did) erreichen konnte, 
und Du drückteſt fie ftark, aber mit ftrengem Antlitz. Die Eifenbahn hielt ein 
Opfer in ihrem Bureau feſt, während ihr langjam, unter den Pappeln, gegen 
den Hügel ginget. 

Du Hatteft niemals diefes Mädchen jo genau betrachtet, wie Du e8 num 
tonnteft. Neben Dir gehend, hatte fie gewiſſe Bewegungen, wie die eines Tinten, 
die wirklich allerliebft waren; dennod hatte ihr Schritt etwas Gemefjeneg, wenn 
er auch hüpfend war, und wenn fie den Kopf nad Dir wandte, ihn ein wenig 
erhebend, um Deine Augen zu juchen, und fie immer findend, jo jchien fie e3 zu 
thun, ohne einen Schatten von Kofetterie oder Schelmerei, jondern nur mit einer 
ihr natürlichen Anmuth. Bei diejen Kleinen Wendungen, wie wenn fie nad 
Etwas juchte, was Du ihr nicht geben wollteft, zeigte Lucietta Div ein Drei— 
viertelprofil, welches bezaubernd war, ein Profil, welches einen Seligen in Ver: 
züdung bringen und einen einfachen Sterblichen zum Seligen hätte machen können. 
Und & war damals, daß Du bemerkteft, wie jedes menſchliche Geficht einen 
Aſpect hat, aber nur einen, in welchen es jehr ſchön if. Die Frauen wiſſen 
das meistens nicht, und fünnen, aud) wenn fie e8 willen, dem männlichen Auge 
nicht immer die vortheilhaftefte Linie zeigen; wäre dem ander, armes, ftarfes 
Geſchlecht! Auch Habe ic) gedacht, daß der, welcher die Verliebten Iehrte, in dem 
Geficht ihrer Schönen die äfthetiiche Linie zu juchen, der armen Menſchheit einen 
Dienft erweifen würde — verfteht fich, diefer armen männlichen Menſchheit, 
welche, nad) Deinem Dafürhalten, nicht viel verdient, nicht einmal Mitleid. 
Diefe Gedanken famen Dir in den wenigen Augenblicen de3 Stillſchweigens, 
während Du ihr von der Schönheit des jungen Frühlingsgrüns fpracheft, von 
dem großen Silberband, welches der Po zu den Füßen Turins, der Stadt des 
Stiered, auöbreitet und ähnlichen Nichtigkeiten. 

Lucietta hörte lächelnd zu, fagte verichiedene Male, daß der Po jchön, das 
Grün Herrlich fei, und wandte Dir, um dieß zu fagen, ihr Engels-, ihr Teufels— 
profil zu. Man kann allen Verfuhungen widerftehen, in vielen Fällen muß man 
es ſogar; aber eine Wahrheit, die Einem auf der Seele brennt, allzulang für 
ſich behalten wollen, dag heißt nicht, der Gerechtigkeit einen Dienft erweijen. 

„Wiffen Sie, was ich Ihnen jagen muß?“ fuhr e8 auf einmal aus Dir 
Heraus, mit einer Anmaßung, ganz Dein eigen, indem Du das harmloje Geſpräch 
fallen ließeft und Dich mitten auf den Weg pflanzteft, um Deine Begleiterin zu 
zwingen, Dich anzufehen — „wiſſen Sie, was ich Ihnen jagen muß?“ 

Lucietta wußte es wirklich nicht. 

63 war ein Augenblid de Kampfes in Deiner Bruft. Die Worte, welche 
Du auf der Zunge hatteft, waren die folgenden: „Ich muß Ahnen jagen, wenn 
Eie fortfahren, mir zu zeigen, wie ſchön Sie find, wenn Sie ſich zu mir wenden, 
um mich anzujehen und mir jo zulächeln, dann widerſtehe ich nicht länger und 


432 Deutiche Rundſchau. 


erkläre Ahnen, daß Sie mir gar zu jehr gefallen, daß ich verliebt in Sie bin, 
daß Sie mir nur im Geringften Muth zu machen brauchen, und ich entführe 
Sie der Oberitalieniſchen Eiſenbahn.“ 

Aber andere Gedanken ließen fih unter Deinem geflictten Kriegshelm ſehen; 
edelmüthige Gedanken, opferfreudige Gedanken, und wa3 Du wirklid jpracheft, 
lautete alſo: 

„Nicht wahr, Sie wiſſen es nit? Es kommt Ihnen nicht einmal in den 
Sinn, daß ich mich mit Ihnen und Ihrem Geliebten beſchäftigt habe, um in 
Ihren Herzen zu leſen?“ 

Zucietta hatte jenes erftaunte Gefiht, da3 man immer hat, wenn man aus 
den Wolken fällt; man hat fich zwar Nichts zu leide gethan, aber man fühlt 
ſich nicht recht jicher. 

„Und... was haben Sie in meinem Herzen gelejen ?” 

Du Hatteft Nichts gelefen, aber Du verlegteft Did aufs Rathen, mit der 
Angſt, das Gegentheil zu denken und ein vollendeter Jeſuit zu fein. 

„Ich Habe gelejen, daß Sie Ihrem Geliebten jehr gut find — ift es viel» 
leicht nicht jo?" ? 

Lucietta war aufrichtig; fie jagte nicht ja, fie ſagte nicht nein; fie fagte, 
daß fie e3 jelbft nicht einmal wiſſe, und lachte jo heftig, daß ſich ein Flug 
Sperlinge von der nächſten Pappel erhob. Aber Du wareft unerfchroden im 
Lügen, denn Du wollteft das Opfer bringen um jeden Preis. 

„Sagen Sie mir nur, ob es nicht wahr ift, daß Ihnen ein häßlicher Ge- 
danke gefommen ?“ 

„Was für ein Gedanfe?“ 

„Daß Ahr Geliebter Jhnen nicht genug ergeben fe? Nun wohl, Sie irren 
fi; ic) habe mit diefen Augen gefehen, daß er eiferfüchtig if. Wenn er bie 
Zeitung bei Tiſche zu leſen jcheint und Ihnen den Rüden wendet, dann beobachtet 
er Sie heimlich, und nicht nur Sie, jondern uns Alle, Einen nad) dem Anderen. 
Er will den Inbefangenen ſpielen, um mit feiner Gleichgültigkeit zu renommiren; 
aber er ift vajend verliebt und eiferfüchtig auf alle Tiſchgenoſſen ... er ift eifer— 
jüchtig jogar auf mid... .“ 

Lucietta jperrte die Augen weit auf, um Deine Einfalt zu betrachten; fie 
lachte nicht einmal, jo groß war ihr Staunen über den feltjamen Fall. 

Du, nahdem Du Dein ganzes Opfer vollbradht Hatteft, wareft immer nod 
nicht zufrieden, ſondern juchteft, ob nicht etwas zu fagen übrig ſei, damit das 
ihöne Geſchöpf jpäter erſt recht über Dich lachen könne. 

„Ich weiß, daß er eiferfüchtig auf Sie ift,“ jagte Lucietta. 

Sie jagte nichts mehr. Wir machten ſchweigend ein paar Schritte über den 
Hügel; dann fagte fie: 

„Sollen wir umkehren?” und alsbald ftieget ihr nach der Stadt Hinunter, 

Du hätteft gern eine Frage gethan, und zehnmal fam fie Dir auf die Lippen 
während diejes ſchweigſamen Heimmegs. Das elite Mal widerftandeft Du nicht 
mehr. 

„Woher wiſſen Sie, daß er eiferfüchtig auf mich ift?“ 





Don Quirottino. 433 


Und Deine Frage wurde mit leifer Stimme gemacht, wie ein Bekenntniß. 

Lucietta blidte Dich mitleidig an; umd weil fie Dir nicht gleich) antworten 
wollte, jagteft Du: 

„Er hat Recht, verzeihen Sie mir.“ 

Recht — wozu? Verzeihen — was? Da wareft Du nun glüdlich — weit, 
Deinen Gewiſſensfall ins rechte Licht zu ſetzen, Dich ganz zu enthüllen, Don 
Quixottino, Dich mit Lächerlichkeit zu bedecken, während Du ſchmähteſt auf Deine 
gebrechliche Natur und die noch gebrechlichere Deiner Nebenmenjchen. Lucietta 
betrachtete Dich unausgejegt mit offenem Munde. 

Und Du, Du jaheft gar wohl die rofigen Lippen, die glänzenden Zähne, die 
ſchönen erftaunten Augen und einen Schleier von Mißvergnügen über ihrem etwas 
bleichen Geficht. Aber Du ftandeft darum von Deinem Vorhaben nit ab. Du 
ſaheſt Alles, aber Du beachteteft es nicht. Dein Auge war in Dein Inneres hin- 
abgejtiegen, um in jenem großen Buche des Herzens zu blättern, in welchem fo 
viel Niedrigkeiten eingetragen find, jo viel Enthufiasmus, jo viel edle Kraft dicht 
neben erbärmlicher Schwäche — zarte Empfindungen, gejchrieben wie mit einem 
Haud, Graufamkeiten, eingegraben wie mit Krallen. 

Indem Du alles Das, was Dir entgegentrat, aufrihtig lafeft, fandeft Tu 
eine Thräne im Auge Deiner jchönen Begleiterin; da verſtummteſt Du. Sie war 
wenige Schritte von ihrem Haufe; ein trauriges Lebewohl und nichts teiter. 

Du bliebeſt allein auf der Straße, wieder ergriff Di der Verdacht, ein 
Narr geweſen zu fein, aber Dein Opfer war wenigſtens vollbracht, Lucietta mochte 
nad) vierundzwanzig Stunden nicht ein Wort von allen behalten haben, welche 
Dir bei Deiner eigenen Verjpottung zu Hülfe gelommen waren; aber wenigftens 
würde das jchöne Mädchen auch nicht Dein, noch irgend eines Anderen geworden 
fein, bis Ippolito wieder mit ihr zufammengetroffen, um ihr jeine zufriedene 
Liebe ind Geficht zu gähnen. 

Kurze Zeit hierauf geihah Dir's, daß Du Di mit der Geliebten Ippolito's 
bei Tisch befandeft, und nad) ihrem und feinem Benehmen jchien es Dir nicht, 
al3 ob Du von Deinem Don Auirotte» Werk jehr befriedigt fein könneft; denn 
Lucietta lächelte ganz eigenthümlih und die Blicke des Eifenbahnbeamten waren 
ficherlich auch nicht folche, mit welchen man in diejer niederen Welt die Schulden 
der Dankbarkeit bezahlen jolltee Du hatteft damals die Empfindung, ala ob 
Deine große Entjagung nicht gewürdigt worden ſei, wie fie es verdient hätte, 
aber was thun? Dir blieb das Bewußtſein, Du geblieben zu jein — Du, der 
Starke, Du, der Gerechte, Du, dev Edelmüthige, während Lucietta und Ippolito 
ſich luſtig über Dich machten, indem fie fid) jogar unter Deinen Augen küßten. Du 
ertrugeft die Qual ſchweigend, und nicht ohne eine Art von Wohlgefallen; wenn 
fie Deine Wunde wieder aufriß, wenn fie Deiner Eigenliebe Stiche gab, jagteft 
Du ſcherzend: si possibile est, transeat a me calix iste. Seiner von den Cum— 
-panen verstand Lateinisch, und es reizte Dich deötwegen, die Worte zu überjeßen, 
damit fie aus Exrbarmen nicht fortführen, unter dem Tiſch ſich die Hände zu 
drüden und am Tiſch fich zu küſſen, indeſſen .. .. si possibile est. Es war 


nicht möglid). 
Deutſche Runbdſchau. XVI, 9, 28 


434 Deutſche Rundſchau. 


Und eines Sonntags ſchwureſt Du einen feierlichen Eid: nicht mehr an den 
Tiſch zurückzukehren, an welchem es jeden gebotenen Feſttag Dein Loos war, einen 
Theil Deines Herzens im Angeſicht der ſchönen Lucietta und der anderen Dämchen, 
die in die Anderen verliebt waren, als Weihgabe darzubringen. Es wurde Dir 
nicht leicht, Deinen Vorſatz zu halten, weil Du eben ſo begierig biſt, ein Opfer 
zu fein, als Du Dich kühn und tapfer fühlſt, Andere, die ein Opfer geworden, 
wieder aufzurichten, aber endlich gelang Dir diefeg Wunder, wohl oder übel. 
Eigentlich fogar nicht übel — Du veränderteft den Kampfplat. 


IV. 

Heberfpringen wir ein kurzes Stück Deines ſchlachtenreichen Lebens; Tu 
bift Doctor beider Rechte geworden, Du haft vor dem Präfidenten des Appell 
hofes gelobt, die Sadje der Unmündigen und Wittwen zu führen, und es ift Dir 
nicht jchiwer geworden — wären nur recht viele troftlofe Wittiwen und Unmündige 
dagewejen, um fie mit Deinem Wort zu beſchützen! — Du haft die Freiſprechung 
von einem Dutzend gewohnheitsmäßiger Diebe gegen Dein wahres Gewiſſen be 
wirkt, indem Du da3 forenfifche Gewiſſen annahmft, welches etwas ganz Anderes 
ift; jchon beginnen unter dem Helme Don Quixotte's Deine Haare grau zu 
werden; Du bift fünfunddreißig geichlagene Jahre alt, und noch jcheint es Dir, als 
hättejt Du nichts von Dem gethan, was Deine Miffion auf Erden verlangte. 

Doch Haft Du Andere viele Schöne Dinge thun jehen. Zwei davon kommen 
Dir häufig in den Sinn. 

Einer Deiner Collegen im lebten Semefter de3 Rechtsſtudiums, der im Rufe 
ftand, reich zu fein, weil er der einzige Sohn eines hohen Staatsbeamten war, 
lieh im Nathhaus jein eigenes Aufgebot anſchlagen. Er war faum zweiund— 
zwanzig Jahre alt; aber deswegen würde dennoch die Sache der Welt nicht tadeln 
werth oder lächerlich erfchienen fein, und um jo weniger der Studentenſchaft, welche 
bei ähnlichen municipalen Verkündigungen leicht im Stande geweſen wäre, ſich 
mafjenhaft in die Ehe zu ftürgen — Dir war fie jonderbar vorgelommen, nichts 
mehr. Du hatteft an diefen jungen Mann gedacht, der die eigene Seele noch 
nit Fannte, den Kampf des Lebens noch nicht von fern gejehen, und dennoch 
die Schwierigkeit de3 Sieges verdoppelte, indem er eine unerfahrene Gattin ſich 
zur Seite ſetzte. Du mollteft diefen Doctoranden fennen lernen, um ihm zu 
fagen — was? Um ihm ein gutes Wort zu jagen, welches ihm in der Stunde 
der Verzagtheit wieder in den Sinn käme, um ihm die Treue, den Muth, das 
Opfer zu lehren. Aber ald Du von jeinen eigenen Lippen vernahmft, daß feine 
Braut Wittwe und arm, daß fie zwei Jahre älter al3 er und drei Kinder aus 
ber erften Ehe habe, daß fie aber gut und ſchön, o jo qut und fo jchön fe! — 
ba fing der Heirathscandidat an, Dir ein wenig närriſch zu erfcheinen und flößte 
Dir ein großes Mitleid ein. 

Ohne feinen Fall noch verihlimmern zu wollen, machteſt Du Did an ihn 
heran, gewanneft jein ganzes Vertrauen und erfuhreft Folgendes: Der zukünftige 
Gatte war auch ſeinerſeits keineswegs reich; er hatte nur den Schein gemächlichen 
Auskommens, weil fein guter Vater ſich einen Theil der Bejoldung vom Munde 
abjparte, um ihn auf der Univerfität zu erhalten und einen Advocaten aus ihm 


Don Quirottino, 435 


zu maden, und — der Gottverlaffene, nachdem er die Eramina des canonifchen 
und römijchen Rechts mit höchſter Auszeichnung beftanden, wollte, wenn ex nur 
erft den Doctorhut gewonnen und die Toga abgelegt hätte, die Codices beim 
Büchertrödler an der Straßenede verkaufen. Iſt es möglih? Ja, gewiß; denn 
er hatte feft bejchloffen, fich feiner geliebten Kunft zu widmen. Und welche war 
feine geliebte Kunft? O, Du Ejel — die Literatur! 

Man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren laffen, er ſprach von feiner Schwäche 
mit feiner lebendigen Seele, aus Scham; aber er jchämte fich auch ſchweigend; nur 
hatteft Du ihm ein ſolches Zutrauen eingeflößt, daß es ihm wohl jcheinen mochte, 
er könne fein Verhalten Jemandem anvertrauen, der fähig fei, ihn zu verftehen. 
Er wartete auf ein Wort, verjchieden von den wenigen, die Dir auf die Lippen 
famen und immer diejelben waren: „DO, Du Ejel!“ 

Im Grunde jedoch betwunderteft Du, damals wie heut’, diefen unerſchütter— 
lichen Entſchluß, ſich jelbft zu ruiniren. Diejer Jüngling lebt noch, er hat wohl 
ein mühjeliges Leben gehabt, aber er wurde geliebt und liebte ebenſo jehr; und 
man Tann nicht jagen, daß er viel unglüdlicher jei, al3 die Anderen. Du mußt 
darum nicht denken, daß er jei wie Du; nichts weniger. Er ift niemals aus— 
gegangen, nad) einem Opfer juchend, durch welches er die verrenkten Ideen der 
Menjchen wieder zurechtftellen, oder die Ungerechtigkeiten und focialen Schäden 
verbefjern könne; und wenn er verftanden hat, da3 eigene Herz und feine ehr- 
geizigen Gedanken zu befriedigen, jo hat er da3 Leben wohl verbradt. Unter— 
deifen bewunbderteft Du, und bewunbderft noch immer, dieje Chryjalide des ledigen 
Advocaten, aus welchem ein verheiratheter Poet nebſt Nachkommenſchaft Hervor- 
ging. Nicht als ob dieje feine tapferen Thaten eigentlich die Ideale wären, denen 
Du bis hierher nachgegangen; möge ſich nur die Gelegenheit darbieten, und Du, 
Don Quixottino, wirft ebenjo viel, und mehr thun, und einzig aus Liebe zum 
Dpfer! Aber ficher waren die Dinge doc ſchwer genug, um Deinen Reſpect zu 
verdienen. 

Aber das Schwerere ſchien Dir immer jene That Deines Freundes Vittorio. 

Dan kann fie in wenigen Worten erzählen, jo einfach ift fie. 

Meinem Freunde Vittorio, der von der eigenen Arbeit lebte, gelang e8, bie 
Schulden eine Bruders zu bezahlen, welcher vorgezogen hatte, alle Rechnungen 
zu begleichen, indem ex ſich eine Revolverfugel in den Kopf jagte. 

Mein Freund Vittorio that das in aller Stille, indem er die alte blinde 
Mutter glauben machte, daß der jelbftinörderiiche Sohn nad) Amerika gegangen 
fei, um dort Geld zu erwerben; und ex jelbft jchrieb jeden Monat lange Briefe, 
die er der Mama vorlag — mit welchem Herzen kann man fi) denfen. 

AH! das ift in der Wirklichkeit ſchwer; ich jage nicht, daß Du nicht fähig 
geweſen wäreft, e8 zu thun, denn Einer wie Du weiß niemals recht, weſſen ex 
nicht fähig jein würde; aber gewiß, das Unternehmen Vittorio's läßt ſich mit 
Nichts von Allem vergleihen, was Du zu thun Dir einbildeteft, mein Don 
Quixottino, als die Begierde Dich trieb, Dich zu opfern für die Gerechtigkeit. 

Seht zählft Du fünfunddreigig Jahre, haft ein wenig weiße Haar an den 
Schläfen und viele Silberfäden, welche Yucietta im Dickicht Deine ſchwarzen 

28 * 


436 Deutiche Rundicau. 


Bartes entdeckt hat. Denn Du haft Lucietta wiedergefunden und haft ein zweites 
Mal fie verloren. Die Geſchichte ift eine von jenen, welche den Leuten Mitleid 
machen, wenn fie fie nicht zum Lachen bringen. Dich hat fie eine Enttäuſchung 
gefoftet, bitterer noch al3 die anderen. 

Alſo Du fandeft Lucietta in Mailand wieder mit dreizehn Jahren mehr, 
aber noch ſchön; vielleicht war ihr Liebhaber ihrer müde geworden, oder fie des 
Liebhaberd, Du bift nicht genau darüber unterrichtet, denn als Du zu willen 
begehrteft, was aus ihm geworden, erwiderte fie Div: „Er mußte eine rau 
nehmen; vielleicht hat er fie genommen, vielleicht hat er ein Neft voll Kinder, 
welche die öffentlichen Schulen beſuchen — oder er ift geftorben, ich weiß es nicht.“ 

Jenes melancholiſche Gefichtchen, welches Dir fo jehr gefallen hatte, welches 
Dir noch gefiel, denn die Zeit war faft ſpurlos an ihm vorübergegangen , hatte 
nur die jhöne Bläffe verloren, welche Dir einft das Mädchen jo bezaubernd er- 
jcheinen ließ. Du, ber Du aufrichtig bift, bateft fie, fich feine Schminke auf bie 
Wangen zu legen, damit Du fie lieben fönneft wie früher, und fie willigte mit 
Freuden ein. 

„Haft Du mid damals jehr geliebt?“ 


„Und ſag': wirft Du mich noch lieben? Wirft Du mich immer lieben? Ich 
bin wie ein Blatt am Baum .. .“ 

Sie jagte nicht3 weiter, aber es war mehr ald genug für Did, Don Quirottino. 

Du dachteſt an den bevorftehenden Herbft diefer Armen, welcher das Leben 
noch wenige Jahre der Schönheit verſprach; dann würde der October über den 
Baum berfallen und ihm aller feiner Blätter berauben; der Nordwind würde 
Lucietta erfaſſen und fie dahintreiben auf der Heerftraße in einem tollen Tanz 
mit den anderen welfen Blättern, bis auch fie, fie, jo Schön und jo geliebt, in 
diefelbe Vergeffenheit aufnehmen würde der gemeinjame Kehrichthaufen ! 

Du konnteft fie lieben und das war Dein Net; aber Du faßteft den jchönen 
Gedanken, fie zu retten. 

„sch bin zur rechten Zeit gekommen,“ ſprachen unter dem Ritterhelm bie 
Stimmen Deines Gewiffens; „ich halte fie feit am Rande des letzten Sturzes, 
ich breite über den Abgrund meine ganze Liebe, und nicht die Liebe allein, ſondern 
mein ganzes Selbft, die Schmerzen, die ich erduldet, und die Qualen meiner 
Träume; ich laſſe wieder auferftehen alle Todten meiner Schlachten, den Enthu— 
fiagmus, die Gläubigkeit, die Kraft meiner Beredtfamteit, und alles Das breite 
ich über die Tiefe, damit Lucietta nicht hineinftürze, wie es ihre graufame Be- 
flimmung war. Dann laß’ id jie die Augen erheben zu dem harten Aufftieg 
und fie ermunternd und fie unterftügend bei jedem Schritt und fie liebend zu 
jeder Stunde unjerer Wanderung, laß’ ich fie wieder emporfteigen eine nach der 
anderen die Stufen, welche fie hinabgeglitten ift, faft ohne des Böſen gewahr zu 
werden. Wenn wir auf dem Gipfel angelommen jein werden, weit von Allem, 
was häßlich ift, dann wird die Gourtifane ftill weinen und fi an meine Bruft 
ichmiegen, um mid) al3 Weib zu Lieben.“ 

Ad, welches Feſt alddann, Don Quirottino! 


Don Duigottino. 437 


Du dachteſt nicht viel darüber nad: ohne Weiteres machteft Du Lucietta 
den Vorichlag ihrer Rehabilitation; fie lachte zuerft, weil fie den praftifchen 
Werth der Sadje nicht recht begriff; aber ohne aud nur einmal zu überlegen, 
Tagte fie ja. 

Ans Merk, Don Quirottino! 

Es war nicht leicht, eine Wohnung zu finden, die Lucietta gefiel; fie wollte 
fie im erften Stod, höchſtens im zweiten, mit einem enfter, wenigſtens mit 
einem nad der Straße, mit der Entreethür an der Treppe, nicht über einer jener 
Hinterftiegen, auf welchen bie klatſchſüchtigen Frauenzimmer ſich begegnen. Jeder 
Gedanke hatte eine vernünftige Grundlage; fie machte wohl lange Spaziergänge 
auf ebenem Wege, aber es ward ihr ſchwer, Treppen zu fteigen, e8 war vielleicht 
ein organijcher Fehler. Und in den Stunden der Langenweile (die fie natürlich) 
haben würde, wenn Du nicht bei ihr wärefl), welche unfchuldigeren Zerftreuungen 
tönnteft Du Deiner Gefährtin bieten, al3 ihr erlauben, an ein Fenſter nad) der 
Straße Hin zu treten? 

Du billigteft Alles; fandeft Alles, was fie wünſchte. 

Sie hatte ihre eigenen Möbeln; aber es war eine Freude für Di, im 
Gedanken an die geheime Freude diefer wiedergeborenen Seele, die Tapete ihres 
Gabinet3 und ihres Heinen Salon3 zu erneuern, einen Anrichtetiſch, der in der 
Küche, eine Garderobe, die im Vorzimmer fehlte, anzufhaffen. Und Du dachteſt 
weiter daran, fie ganz unvermuthet über dem Tiſch de3 Eleinen Salons eine 
prachtvolle Petroleumlampe finden zu laffen, weldye Dich achtzig Lire Koften follte. 
Du bift nicht rei und Hatteft es Lucietta gejagt, nit um ihre Launen zu 
zügeln — benn e8 war jelbftverftändlich, daß fie Launen nicht mehr Haben dürfe, 
daß die Zeit der eitlen Wünſche vorüber ſei — fondern damit fie, von Deinen 
Verhältniffen völlig unterrichtet, den Beweiſen Deiner Zärtlichkeit den rechten 
Werth beilegen könne. 

Die Bedingungen waren Elipp und Har: Du hatteft ihr verjprocdhen, all’ 
Deine freie Zeit bei ihr zugubringen, fie fpazieren zu führen in den Morgen— 
ftunden ; manchmal wolltet ihr den ganzen Weg um die Wälle maden und als- 
dann hungrig in eine entfernte Trattoria fallen, wo nicht einmal die Luft hätte 
ahnen fönnen, wer ihr eigentlich wäret; aber fie ihrerjeit3 jollte gewiſſen langen 
Promenaden entjagen (von zwei bis vier, welche die Stunden des Gewühls auf 
dem Gorjo find) — Promenaden für ihre Gejundheit, jagte fie, an denen fie jo 
jehr hing, bevor fie mit der Verführung eines ſchelmiſchen Blickes Dich ein zweites 
Mal entflammt hatte. 

Und da Du Dir am Ende der Rechnungen doch nicht gerade ein X für ein 
U vormachen läßt und gewiſſe Dinge, die fich in diefer niederen Welt zutragen, 
Dir nit unter der Nafe vorübergegangen find, ohne daß Du Deine Lection 
daraus gelernt hätteft, fo Hatte fie Dir verſprechen müfjen, daß poftlagernde 
Briefe für fie nicht mehr anfommen dürften, daß fie in das Haus gewiffer in= 
timer Bekannten (intim natürlich im Sinne von Angelegenheiten der Wäſche, 
de3 Friſirens und der Toilette) den Fuß nicht mehr fee, bei Strafe — bei 
Strafe der Trennung für immer. As Du jagteft: „Trennung für immer“, 
küßteſt Du fie auf die Stirn, fo daß die harten Worte ihr eine Liebfojung 


438 Deutfche Rundſchau. 


jcheinen konnten. Aber Du wareſt feft entichloffen, daß, wenn Du zu ihrem 
Unglüf (jagen wir die wahre Wahrheit: zu Deinem Unglüd) fie auf einem 
Fehltritt betreffen würdeſt, Du fie einfach aufgegeben hätteft. 

Sie hatte lachend zugehört und fchtveigend dem Pakte zugeftimmt; fie hatte 
fogar ein neue Schloß an ihrer Hausthür haben wollen, damit fie Dir feierlich 
die Schlüffel übergeben könne und e3 Dir jcheine, als empfingeft Du die Schlüfel 
ihres Herzens, 

Und jo jchien e8 Dir. Aber zwei Monate find vergangen, eine lange Zeit 
für gewiffe Arten von Liebe, die Schlüffel des unfeligen Schloſſes wurden Dir 
zehnmal abverlangt, mündlich und jchriftlich, und immer vergebens, und nun haft 
Du fie vor den Augen zugleich mit dem Schloß; denn Lucietta hat e8 vom Schmied 
abnehmen laſſen und Dir die ganze Geſchichte zurückgeſchickt. 

Was ift geichehen? was hat fich in zwei Monaten jo Seltjames ereignen 
können, um eine ſolche Kataftrophe herbeizuführen? Ich brauche nicht einmal zu 
fragen, ich errathe e3, was übrigens nicht ſchwer ift. 

Denn Lucietta ift großmüthig; fie hat ihre Freiheit wieder erlangen wollen, 
aber Deine Befuche nicht zurückgewieſen, wenn Du fie ihr noch machen willft; 
Du jollteft fie nur einen Tag zuvor benachrichtigen. 

Ach, welch' ein Jammer, zu denken, daß fie dem erften Beften einen Schaf 
hinwirft, um im Austausch dafür ein Almoſen zu empfangen! 

Nicht wahr, Don Quizottino, ift e8 nicht ein Jammer? — — — 

Ich habe mein Verſprechen gehalten, welches ih Dir gegeben; ich habe Dir 
Alles enthüllt. Aber heben wir noch einen Schleier; bekennen wir Eines, was 
uns zu verſchweigen gefiel, da wir wohl willen, daß in jedem fterblichen Menſchen 
zwei Menfchen find, einer, welcher nachdenkt, richtet, Urtheile Fällt und leidet; 
ber andere, welcher liebt, ſich quält, genießen will und gleichfalls leidet. Bis 
hierher habe ich zu dem „Andern“ geſprochen; aber die beiden ‘Berjonen, melde 
in Don Quixottino waren, find ganz und Beide — ich ſelbſt. Don Quirottino 
bin ih, ich allein. Wollte der Himmel, daß e3 feine anderen diefer Gattımg 
mehr gebe, nachdem er jeine Luft gebüßt, und ein jo herrliches Exemplar der» 
jelben geichaffen hat ! 

Werfen wir Alles in die Luft, was bis jetzt unfere Qual geweſen, laſſen 
wir die Schmetterlinge Hineinflattern in unjer Leben und die Grillen um uns 
her zirpen, betrachten wir und al3 geheilt und jeien wir entichloffen, ein Menſch 
zu fein, nur einer, völlig verjchieden von den beiden anderen. 

(Fortießung folgt.) 


Die jüngfte Schule Londoner Wohlthäter. 





Don 
Iul. Pof (Hannover). 


— 


Zur Beobachtung des Kampfes zwiſchen der Londoner Noth und der Londoner 
Hülfe (im weiteſten Sinne dieſer Worte) gibt es fein günſtigeres Gebiet als das 
„Ditende” und feine pafjendere Zeit als die fpäteren Nachmittags: und Abendftunden 
des Sonnabend?. Dann Hat eigentlich der Sonntag jchon begonnen, und ber 
Eaſtendman jchlürft in fo vollen und jo tiefen Zügen, wie ihm der frifchgefüllte 
Geldbeutel geftattet. Dabei ihn aufzufuchen, müſſen wir diefen Stabttheil nach allen 
Richtungen kreuz und quer durchwandern. 

Nur ein Blid jei im Borübergehen in diefen Prachtbau geworfen, der fih ins 
Proletariatviertel verirrt zu haben ſcheint. Das Schild befagt, daß wir eins ber 
Geſchäftshäuſer der vereinigten englichen Arbeiter- Gonjumpereine vor uns 
haben. Der zwölf Arbeiter umfajlende, von den verjchiedenen Ortsvereinen des Landes 
erwählte Leitungsausſchuß Hat fich gerade Heute hier verfammelt, um die jährliche 
Theeprobe abzuhalten und — über das Wohl feiner zahlreichen Arbeiter und An— 
geitellten zu berathen. Nicht weniger ala vierhundert zählt diejes Haus. Sie ſpeiſen 
in parfettirten Zimmern, befiten ihre reich ausgeftatteten Hülfscaſſen, Abendeurſe und 
Clubs — ja eine eigene Mufifcapelle. Der erſte Blid in den ung überreichten, 
542 Seiten umfaffenden Jahresbericht Fällt auf die Abbildungen der Niederlaffungen 
in Birmingham, Mancheiter, Newyork, fogar in Hamburg, auf die Chofoladen=, 
Cakes⸗ und Schuhfabriken, auf die Bankhäufer, ja die Schiffe auf See — insgeſammt 
alfo Eigenthum der in Conſumvereinen verbundenen englifchen Arbeiterariftofratie, die 
fich jtärker ala der deutjche Bürger vom deutjchen Fabrikarbeiter von den Menſchen 
abhebt, deren Woge mit dem Vorrüden des Stundenzeigers immer mächtiger auf den 
Straßen anſchwillt. Sie ftodt an den Straßeneden. Im Erdgeſchoß faſt jeden 
Eckhauſes haben nämlich die Volksbeglücker oder Vollsvergifter — je nach dem Stand- 
punkt — ihre Apotheken aufgeichlagen. 

In dem Lande der großen Gegenfäße ift mir fein größerer entgegengetreten als 
der zwifchen den jchmuden, mit blinfenden Kannen und Kännchen bejegten, mit Meifing 
beichlagenen Schenktifchen und den zerlumpten Gäften, die Hier verfehren. Männer 
ohne Hemd auf dem Leibe, Hbalbwüchfige Jungen aus Haut und Knochen, rauen» 
jimmer mit verthiertem Geſichtsausdruck; aber das Bejammernswertheſte: dieſe jungen 
Weſen, noch im kurzen Kleidchen, die Ponylocke ſchon auf der Stirn, einen greiſen⸗ 
haften Zug im Antlitz — auf dem Arme das eigene Würmchen. Ahnen Allen öffnet 
der Schnapsteufel feine Arme, um fie in Bam Rauiche das namenlofe Elend vergeflen 
zu machen. 


440 Deutiche Rundichau. 


Wer demjelben einmal Aug’ in Aug’ gegenübergeftanden, nimmt jelbft die uns 
bier komiſch erfcheinenden Kampfmittel gegen den Branntwein ernſthaft und wundert 
fich nicht mehr, daß es vielfach zum guten Ton gehört, auch auf den Balfam fürs 
zerriffene Herz zu verzichten und fich „einzufchwören”, um die Maſſen mitzureißen. 

Ohne Zweifel entfremden die Paufen und Trompeten der Heildarınee den Gin— 
paläjten eine ganze Anzahl von Kunden. Wäre die Art nur feine jo unwürdige. 
Während der eine Dfficier feine Belehrungsgeichichte ergreifend erzählt, unterhalten 
fich feine Gollegen ganz munter und fallen nur — dann aber auch mit Händen und 
Füßen — in den Gaffenhauerrundreim ein, mit dem die Erwedung geichloffen wird. 

Uebrigens befigt die Heilsarmee bereitö eine ganze Reihe von Goncurrenten. 
Die Grove» Mijfion zieht e8 vor, jtatt durch Uniform durch feine Gejellichaftstoilette 
das Publicum heranzuziehen. Mitten auf der Straße wird unter weithin leuchtender 
Laterne eine fliegende Rednerbühne errichtet, zu der das Harmonium die VBorüber- 
gehenden anlodt. — Dort macht ein Mann mit feinem Karren Halt und beginnt aus 
der Bibel vorzulefen. Das neugierige Publicum ſammelt fih um ihn, der Karren 
wird zur Kanzel und die Predigt beginnt. Sie richtet anfcheinend mehr aus ala die 
der zahlreichen Kirchen und Gapellen, die heute Abend glänzend erleuchtet find. Die 
Gloden ſummen das Didens’sche: „Es kommen Keine, es kommen Seine.“ 

Um jo mehr Menjchen drängen fich in die geräumige Halle der Temperance» 
Geſellſchaft. Schon eine Viertelitunde vor Beginn ift Alles fo dicht bejet, daß man 
fih nur hineinzwängen fann. Es wird dies übrigens nicht übel genommen; namentlich 
die zahlreich anmwejenden Mütter find zur Rücdfichtsnahme geneigt, denn etwa der 
fünfte Theil der Anmejenden befteht aus babies. 

Aber welche Enttäufchung! Statt einer jener vielgepriefenen „popular concerts“ 
die Productionen eines gewöhnlichen Caf6-chantant, in dem nicht einmal mit dem 
Genre, nämlich dem Gouplet, gewechjelt wird. Die fromme Temperance -society hat 
es jogar für feinen Raub gehalten, eine kurz geſchürzte Schöne, die ihre Geſänge mit 
entiprechenden Tänzen begleitet, auftreten zu laffen. Die Unmöglichkeit, hier Brannt— 
wein zu erhalten, und der Temperance- Vers, den jedes Gouplet enthält, find das 
Einzige, was diefe Anftalt von den anderen Londoner Belujtigungsftätten für die 
unterfte Million unterſcheidet. Im „Queens-palace*, nicht weit von bier, geht es 
mindejtens ebenſo ordentlich zu. Es Liegt dies daran, daß der Herr Director nicht 
hinter der Bühne, jondern vor derjelben auf einem erhöhten Pla im Orcheſter förmlich 
thront. Er überficht das ganze Publicum, verfolgt aber zugleich in einem Spiegel 
die Vorgänge auf der Bühne und fteht mit dem Leiter derjelben telephonifch in Ver— 
bindung. Sobald der Hammer in feiner Rechten niederjällt, richten ſich Aller Augen 
auf den Gewaltigen, um zu fehen, wen eine Grmahnung, ein Verweis, oder gar die 
Ausweilung trifft. 

Auf dem Wege von diejen Stätten der Luſt durch die engeren Nebengaflen be— 
gegnen wir dem bitterften Elend: Heimathloſe Jungen haben fi auf den Häuſer— 
treppen zum Schlaf zufammengelauert. Eben um diefe Zeit durchfährt der Dr. Barnardo 
die Straßen und händigt den Knaben ein Zidet zu einer Abenderquidung in feinem 
„Home“ ein Die Burfchen follen dadurch mit dem Heim befannt gemacht, in das— 
jelbe hineingelodt werden. Sie drängen fich auch nach den Karten — vielleicht weil 
es neben dem Imbiß noch ein Sirpenceftüd gibt. Ya, eine ganze Anzahl macht ein 
Geichäft daraus, am felben Abend nacheinander in verfchiedenen Straßen und ver- 
Ihiedenen Stellungen — einmal wird 3. B. die Jade umgekehrt angezogen — die 
Aufmerkfamkeit des Doctors auf fich zu lenken. Die eingeheimften „Tickets“ werden 
dann unter den Kameraden verauctionirt. 

Genau jo wie die Jungen mit Barnardo, verjährt er mit feinen Kunden. Wer 
ihm einmal eine Unterftügung geichidt hat, wird an die Wiederholung feiner Gabe 
häufig dadurch erinnert, daß er eine Doppelphotographie zugefandt erhält. Auf der einen 
Ceite ein verfommener, abgemagerter, zerlumpter Junge, auf der anderen ein wohl« 
genährter, ſauberer und munter breinfchauender. Man erwartet denjelben Knaben in 


Die jüngfte Schule Londoner Wohlthäter. 441 


den beiden Bildern. Weit gefehlt, e& find zwei beliebig zufammtengefegte. Die Reclame 
fpielt bei Barnardo überhaupt eine große Rolle. Warum ijt er mit diefer Unſtalt 
nicht auf das viel gefündere und billigere Land gegangen? Schon beim Herannahen 
ftiert einen das weit hinausfchauende Schild mit der Rieſenaufſchrift „3000“ entgegen. 
So viel Knaben find bereit? durch Barnardo’s Hände Hindurchgegangen, jo viel hat 
er durch Gewöhnung an Ordnung, Reinlichkeit und Arbeit zu nüßlichen Gliedern der 
Gejellichaft, größtentheils zu Goloniften in Ganada, ausgebildet. 

Bor den Häufern angelangt, berühren den Deutjchen die Barnardo » Scenen un— 
angenehm, mit denen die Wände und Fenſterſcheiben bemalt find. Wir betreten den 
großen Geſchäftsſaal im Erdgejchoß, in welchem etwa dreißig Beamte die Scyreibereien 
beforgen, namentlich die Briefe erledigen, deren neunhundert etwa täglich eingehen. 
Hier werden wir auch einer Führerin überliefert, welche uns die geradezu mit englifcher 
Behaglichkeit ausgeſtatteten Schlaf, Speife- und Erholungejäle zeigt. An dem großen 
überdadhten Schwimmbad iſt das Schönite die Empore für die Beichauer. Jedes 
Handwerf hat hier eine Werkſtatt. In der Buchdruderei finden wir die Knaben 
gerade dabei, zu jegen, und zwar die Sündengejchichten ihrer Kameraden. 

Noch kennzeichnender für die Barnardo’sche Art iſt die Thatiache, daß er wiederholt 
in Proceffe mit den Eltern feiner Schüßlinge verwidelt wurde. Dieſelben erheben Anklage, 
daß er ihnen ihre Kinder geraubt Habe, ja daß er diefelben vor ihnen veritede — 
natürlich in beiter Abficht. 

Bemerfenswerth it, daß man dies Alles vecht gut weiß; vom oberjten Minijterial: 
beamten bis zum ungelernten Arbeiter hat mir Jeder darin zugejtimmt, daß in dieſem 
Barnardo ein gut Stück Barnum ſtecke. Trogdem fließen ihm 2. Millionen Marf 
jährlich zu. 

Etwa ebenfoviel hat eine Veranſtaltung gefoftet, von der gleichialld bislang 
nur Rühmendes in Deutjchland berichtet wurde. 

Ein Roman von Walter Bejant!) war für den Gedanken eingetreten, den Londoner 
Heloten, die ihr Leben in den elenden Hütten, ungefunden Werkjtätten und Fabrik— 
fälen zuzubringen gezwungen wären, möchte doch die Möglichkeit gegeben werden, die 
wenigen Stunden der Erholung in behaglichen, jchönen, ja, da es nur kurz fein könnte, 
ſehr jchönen Räumen zuzubringen. Der Gedanke zündete: der Prinz von Wales legte 
den Grundſtein, die Königin jelbjt eröffnete im fernen Oſten einen wahren Palajt fürs 
Dolf. Er iſt noch nicht ganz vollendet, aber jchon jet kann das Theater mit manchen 
unferer Hofbühnen wetteifern. Die Laboratorien und Hörläle find reicher ausgeſtattet 
als die unferer Eleineren Univerfitäten. Wohl noch nie ift ein jo mannigfaltiges Lehr— 
programm wie für den „Peoples palace* aufgejtellt. Außer den Schulen für Knaben 
und Mädchen foll Unterricht für Erwachiene jtattfinden: im Tanzen, in Inftrumental- 
mufil, Rollihuhlaufen, Radfahren, Rudern, Bogen- und Gewehrſchießen, Billardipielen, 
Borlefen, Declamiren, Blumenpflege, Gärtnerei, Kochkunſt, Schneidern,, Brieffchreiben, 
Versmachen, Malen, Zeichnen, Modelliren, Photographiren, Holz und Elfenbein— 
fchnigerei u. j. w. Die Bibliothek befindet fich in einem hohen Kuppelbau, an deflen 
Wänden die Bücher aufgeftellt find. Rings herum führen Galerien, und von dieſen 
aus laufen auf Seilbahnen Kaften nad) dem Mittelpunkte, der Ausgabejtelle, um die 
bier verlangten Bücher herbeizuſchaffen. Alſo Alles auf größtem Fuße eingerichtet, 
aber leider nicht entiernt dementiprechend benugt. Wenn wir die zweiundzwanzig 
größten deutjchen Städte, d. h. die über 100000 Einwohner, aneinanderlegen, jo 
befommen wir noch lange nicht das eine London heraus. In dem verhältnißmäßig 
feinen Theile, in dem wir uns augenblidlich befinden, Hätte Berlin reichlich Plab. 
Für die Mehrzahl Derjenigen, denen der Palaft beitimmt wurde, ift daher der Weg 
zu demjelben viel zu weit. Es herrfcht darüber auch nur eine Stimme, daß man 
befier gethan, mit den hohen Beträgen, die der Palaft verfchlingt, die zahlreichen 
Arbeiterclubs und »Vereinigungen in ihren Bildungäbeftrebungen zu unterftüßen. 





z * „All sorts and conditions of men“; man vergl. unſere Notiz darüber im vorigen Hefte, 


442 Deutſche Rundſchau. 


Dieſelben wurden aber bei der Einrichtung nicht einmal nach ihren Anſichten und 
Wünſchen gefragt. 

Das Lob, welches den eben geſchilderten Veranſtaltungen meines Erachtens in zu 
reichem Maße bei uns gezollt wird, möchte ich aber für eine der neueſten Schöpfungen 
Octavia Hill's erbitten. Dieſe Dame geht in ihren Bemühungen, die kleinen Leute 
an Ordnung und Reinlichkeit zu gewöhnen, bekanntlich darauf aus, ihnen das Heim 
möglichſt behaglich und feſſelnd zu machen. Hier in der Wüſte jener übel berufenen 
ſchwarzen Häuferblods hat fie ſich nun faſt überboten. Ein anmuthiger, mit Blumen— 
beeten und Teichen, mit Brücken und Laubgängen gezierter kleiner Park iſt von zwei— 
ſtöckigen Einfamilienhäuſern eingefaßt, in denen beſſer geſtellte Arbeiter, und zwar ohne 
jedweden, auch verkappten Zuſchuß wohnen. Einen hübſchen Abſchluß des Bildes liefert 
die ſtattliche Spiel- und Erholungshalle, in der auch die Wochenconcerte ſtattfinden, 
wenn es im Pavillon des Parkes zu rauh iſt. Das kleine Idyll iſt natürlich nicht 
nur den nächſten Anwohnern beſtimmt. Friſche Luft und Sonnenſchein ſchöpfen aus 
ihm auch die in den höheren Stockwerken der umliegenden Miethskaſernen Wohnenden. 
In einem diejer, die Allerärmten beherbergenden Häufer, vier Treppen hoch — einem 
Haufe, von dem Octavia Hill mit Stolz erzählt, daß fich die Kinder, als fie es 
übernahm, in dem ZTrinktwafjerbehälter auf der Plattform badeten — hat ein junger, 
reicher Mann dauernd feinen Wohnſitz aufgejchlagen, ich möchte jagen ein moderner 
Einftedler, mindeſtens einen Sonderling würde man ihn bier nennen. Mr. Broofe 
wirkt gleichzeitig ala Agent der Charity association und Octavia Hill’s, jedoch nur, um 
dadurch den Boden für eine ganz befondere Wirkfamkeit zu gewinnen, nämlich zum 
Beiten der Fabrikjungen des Viertels. 

Gerade am Sonnabend Nachmittag gegen ſechs Uhr ſtrömen fie in dem Hofe 
diefes Haufes zufammen, das Veſperbrot noch in der Hand, entrichten ihren Penny, 
werden darauf in eine ſchmucke Uniform geſteckt, und num geht's unter dem Commando 
eines alten Gorporal® und dem Obercommando eines alten Major ans Soldatenipiel. 
Ich Hätte nie geglaubt, daß nach einer fauren Fabrikwoche den Jungen das Erercieren 
einen jo außerordentlichen Spaß machen könnte. Sie fennen freilich den Ernſt desielben 
nicht, und können, da es bier feine Spielpläße gibt, dem eingeborenen Hang nicht 
anders genügen. Sobald der Curſus beendigt iſt, empfangen die Zöglinge, welche 
regelmäßig theilgenommen, die Hälfte ihrer Einzahlung zurüd. 

Mr. Brooke betrachtet übrigens das Gadettencorps eigentlich nur als Lockmittel 
für feinen „Boyclub“. Es ift geradezu rührend, ihn Abends in dem bejcheideniten 
Glublocal, das gedacht werden kann, zu jehen, wenn die Jungen ihn umtoben, um— 
lärmen, mit Fragen bejtürmen, mit Gigarrettendampf anqualmen. Er lieft ihnen vor, 
befieht mit ihnen Bilder, turmt vor, lehrt fie regelrecht boren, kurz, ift ihr guter 
Kamerad. 

Wie die gleichalterigen Fabrifmädchen, die in diefen Räumen an den Abenden, 
an welchen die Knaben nicht erjcheinen, von einigen jungen Damen mit Singen, 
Spielen und Tanzen unterhalten werden, an diejen ihren Patroninnen das ganze Leben 
hindurch hängen und haften bleiben — fie haben ſich an ihnen beinahe feitgefogen — 
fo geht's auch Mr. Brooke mit feinen Zöglingen. Sie lafjen ihn nicht (od. Wenn 
fie erwachfen, wird er mit in ihr Vereinsleben Hineingezogen. Sie machen ihn mit 
ihren Bätern befannt, jo daß der verhältnißmäßig junge Mann ſchon jetzt in zahl- 
reichen Arbeiterclubs des Eaſt-Ends als Vorjtandsmitglied eine angejebene und ein- 
flußreiche Perfönlichkeit ift. 

Gerade während ich in London war, erreichte ihn eine eigenthümliche Berufung, 
und zwar von Geiten eines Freundes, der, von gleichem jocialen Eifer wie Broofe 
bejeelt, dadurch fi an der Löfung der focialen Frage verfucht, dab er fein Landgut 
parcellirte, an die bisherigen Arbeiter verpachtete und aus denjelben eine Productiv- 
genofjenjchaft bildete, der er bei der gejchäftlichen Leitung, dem Abſatz der Erzeugnifie, der 
Beihaffung der Düngeftoffe, Majchinen u. ſ. w. feinen Beijtand unentgeltlich zur Ver— 
fügung ftellt. Brooke follte nun die Gaftwirthichaft für die Genoffenichait übernehmen. 


Die jüngfte Schule Londoner Wohlthäter. 443 


Ein anderer junger Freund, der Sohn eines reichen Fabrifanten in Halifar, den 
ich dort befuchte, hat den naturgemäßeften und daher vielleicht erfolgreichiten Weg 
eingefchlagen: er widmet feine freie Zeit den jugendlichen Arbeitern feines Waters. 
Nicht nur den Abendunterricht leitet er, auch die Vergnügungen gibt er an und bes 
jchreitet dabei neue Wege. Im Hochjommer nämlich vereinigen ſich Mr. Whitwell 
und etwa zwölf jeiner Freunde, um mit den Jungen auf einige Wochen ein Lager an 
der See zu beziehen. Da bricht an einem jchönen Morgen die ganze Schar mitteljt 
Ertrazug auf, ala ging's in die Wildniß. Nicht nur die Zelte, Tiſche und Stühle, 
der Kochherd und das Kochgejchirr werden mitgenommen, nein, auch die Nahrungs- 
mittel. Das Hauptvergnügen für die Jungen ift, daß Jeder wie in einem ordnungs— 
mäßigen Feldlager, beim Zeltaufichlagen,, Feueranmachen, Kartoffelichälen, Reinigen 
und jo fort mit Heran muß. Alles mit militärischer Pünktlichkeit. Selbft beim 
Baden und Spielen, der Hauptbeichäftigung des Tages, geht's nach Trompetenftoß und 
Trommeljchlag. 

Ih kann nur einige Vertreter diefer Gruppe junger Wohlthäter hier vorführen. 
An einer Erfcheinung dürfen wir aber nicht vorübergehen: Mr. Laurie bekleidet eine 
Lehreritelle an dem vorhin erwähnten „People's Palace”. Als ich ihn dort auffuchte, 
follte ich zudörderft bei ihm frühſtücken. Wir begaben uns in feine befcheidene, in 
der Nähe belegene Wohnung und fanden dort einen halbwüchfigen Jungen, den Hut 
auf dem Kopfe in einem „easy chair“ vor dem Kamin. Auf feinen Knieen lag ein 
Reißbrett, beinahe größer als der Kerl jelber, und auf demjelben entitand ein eigen— 
thümlicher, mit Bildern verzierter Anjchlag, der die Auffchrift Jahrgang III Nr. 5 
„Ihe rose and the ring“ trug. Es war die Zeitung des gleichnamigen Boyclubs, 
der nicht reich genug ift, fein Blatt druden zu laffen. Der Rebacteur faßt daher 
die einlaufenden Beiträge auf einem großen Blatt zufammen und beftet diejes bei den 
Zufammenküniten an die Wand. Da wird von einem Befuche bei einem Künftler 
erzählt, der aus dem Kreiſe der Jungen hervorgegangen ift. Seine Schöpfungen find 
in wohlgelungenen Skizzen der Zeitung einverleibt. Ein anderer Mitarbeiter macht 
Borichläge zu einem Ausflug. Gin Dritter erzählt von feinen Grlebniffen. Ein 
Bierter beipricht die Verfchönerung des Glublocala. 

Wo mag fich dasjelbe befinden? Hier in Mr. Laurie'3 Wohngemach. Ja, am 
Kaminfims haben die „Knoſpen“ (fo heißen die jüngjten Glubmitglieder) ſogar be= 
gonnen, das Thema „Roje und Ring“ in vielverjchlungenen Arabesfen zu variiren. 

Aus der Vertraulichkeit, ja Zärtlichkeit, mit welcher der Junge am Kamin Laurie 
umfaßte, jchloß ich zunächſt auf eine verwandtjchaftliche Beziehung. Aber die, wenn» 
gleich unbeholfene Herzlichkeit, mit der faſt alle Burjchen, die uns begegneten, ihren 
Lehrer und Freund außzeichneten, belehrte mich eines Befferen. 

Und diefes Vertrauen und diefe Anhänglichkeit hat von den Knaben fich natur= 
gemäß auf ihre Eltern übertragen, jo daß Der. Laurie eine vielleicht noch angejehenere 
und einflußreichere Perfönlichkeit in den Londoner Arbeiterkreifen iſt als Broofe, 
Bei Gründung von DBereinen und Genofienjchaften wird er zu Rathe gezogen. Sein 
beionderer Stolz ift eine fleine, aber blühende Productiv » Affociation, Man fieht, 
nicht die Form, ſondern die Perfon verbürgt den Erfolg. 

Das tritt in der gelfammten Wirkſamkeit diejer jüngjten Schule zu Tage. 
Abweichend von der Londoner Mafjenwohlthätigfeit, verzichten fie auf einen rajchen, 
in die Augen fpringenden und daher für die Reclame verwerthbaren Erfolg. Sie find 
deshalb im fajhionablen London ganz unbekannt. Zu ihnen vorzudringen, hat mir 
große Opfer gelojtet. 

Aber noch bemerfenäwerther ift ihr Verzicht darauf, von einer anfehnlichen, zahl» 
reichen Gemeinschaft getragen zu werden. Brooke jchlägt ſich manchen Abend mit 
nur acht jeiner Jungen herum. Dieſe Beicheidung auf eine verhältnigmäßig Kleine 
Anzahl bedingt freilich den Hauptvorzug diefer Schule, nämlich eine eingehende Ver— 
tiefung in die Eigenart der Schüßlinge.. Die Broofe, Whitwell, Laurie u. ſ. w. 
brauchen die Gejchichte ihrer Anbeiohlenen nicht wie Dr. Barnardo für die Regiftratur 


444 Deutſche Rundſchau. 


drucken zu laſſen, fie kennen ſie in- und auswendig. Ihre Kunſt haben fie allerdings 
förmlich ſtudirt, und zwar in einem Seminar — ſo würde man es hier wohl nennen — 
welches mit Unterſtützung der Univerfitäten Oxford und Cambridge errichtet worden 
ift, um Denjenigen, die ihre Studien dort beendet und den Wunſch begen, die fociale 
Frage mit eigenen Augen kennen und mit eigener Fauft bearbeiten zu lernen, hierzu 
den Boden zu fchaffen. Ein frühverftorbener junger Gelehrter hat den Gedanken zuerit 
ausgeiprochen und lebhaft verfolgt. Ihm zu Ehren wurde der anmutbige, grünumrantte 
Bau Toynbee-Hall genannt. Die Verwirklichung des Gedankens ift aber das Berdienft 
des Geiftlichen diefes Kirchſpiels und feiner thatkräftigen Gattin, Mr. und Mrs. Barnet, 
in deren Händen auch gegenwärtig die Leitung der Anftalt liegt. Dieſelbe bietet 
zwölf bis zwanzig jungen Leuten gegen mäßige Vergütung angemefjene Wohnung und 
Verpflegung, vor Allem aber mannigialtige Anknüpfungspuntte für angewandte fociale 
Politik. 

Eine große, von den Toynbeeleuten verwaltete Volksbibliothek ift jeden Abend 
geöffnet. Ebenſo finden fat jeden Abend öffentliche belehrende Vorträge oder volls— 
thümliche Goncerte jtatt. Sogar eine populäre Gemäldeausſtellung mit wirklich gemein- 
verftändlichem , erläuterndem Verzeichniß hat Toynbee-Hall ſchon zweimal beherbergt. 
Zur eigentlichen perfönlichen Berührung führen die Vereine für gemeinfames Spiel und 
Ausflüge, das Leſen mit vertheilten Rollen und vor Allem die Kleinen jocialen 
„Supper@”, an denen noch jüngit Burns und andere Führer der Strifebemegung 
theilnahmen, und — darüber bericht nur eine Stimme — durch den freundlichen 
Verkehr mit Mr. Barnet und feinen Jüngern befänftigende Eindrüde für den Kampf 
mit hinwegnahmen. 

Kein Wunder, daß Toynbee= Hall bereits Nahahmungen, 3. B. das gleichtalla 
im Dftende belegene, einen firchlicheren Charakter tragende „Bethnal Green“ gefunden 
bat. Auf dem Feftland befifen wir Derartige noch nicht. Sollte fich vielleicht ein 
Neis vom Toynbee-Hall auf deutjchen Boden verjegen laſſen? 

Ich glaube, ja ich Hoffe fogar, daß ein folches bei und nicht angehen wide. 
Nicht etwa aus Mangel an Noth. Uns fehlt aber der englifche Kraftüberſchuß. 
Nachdem der deutfche Student fein Staatseramen glüdlich beſtanden, können wir ihn 
nicht noch ein paar Jahre lang auf feine Koften in ein focialpolitiicheg Seminar 
fteden. Der deutiche Idealismus macht aber den deutfchen Studenten ſchon während 
der Studienjahre für Anregungen zur Bekämpfung von Noth und Elend, welche bie 
Gegenwart zeitigt, jo empfänglich, daß ich zum Beifpiel meine Zuhörer, um ihnen 
die afademifche Stille zu wahren, jchon Habe davon zurüdhalten müſſen, daß fie jelbft 
mit Hand anlegten, 

Mir brauchen aber Gottlob auch feine Männer, die ihren Zebensberuf ausſchließlich 
in der Erfüllung gemeinnügiger Pflichten fuchen. Zwiſchen uns und den Betten 
drüben beſteht in diefer Beziehung ein Unterjchied, der unter Anderem aus einer 
Inſchrift in dem Kleinen hübſchen Bart von Octavia Hill, in welchen wir vorhin einen 
Blick warien, herausklingt. Die Inſchrift befagt, daß die Anlage der Freigebigkeit 
eines einzigen Mannes zu danken fei, welcher 2000 £ für das Unternehmen ftiftete. 
Sie läßt aber auch die Bedingung durchſchimmern, welche er an feine Gabe knüpfte: 
daß er nämlich nie von der Sache etwas zu ſehen und zu hören brauche. 

Noch deutlicher läßt die Verschiedenheit in der focialpolitifchen Anfchauungs: und 
Arbeitsweife das Verhältniß zwifchen dem englifchen Arbeitgeber und -Nehmer erkennen. 
Das Großartigfte, was ich in der Welt — und ich habe fie. darauf bereift — auf 
dem Gebiete der Fürſorge der Fabrikherren für ihre Angehörigen gejehen habe, ift 
die Arbeiterſtadt Saltaire, unweit Bradford. Die Häufer, Kirchen, Schulen, Speiir 
ballen u. |. w., welche der dieferhalb zum Baronet erhobene Titus Salt den Ans 
gehörigen feiner Alpacca- und Mohairfabrif erbaut hat, find bis zum Armenhauie 
abwärts durchweg ornamental. Der Part macht einen geradezu fürftlichen Gindrud. 
Ein kleines Dampfboot fteht auf dem ihn durchfließenden Air den Arbeitern zur Ber: 
fügung. Zur Ueberwinterung ihrer Blumen find Glashäufer erbaut. Die Zöglinge 


Die jüngfte Schule Londoner Wohlthäter. 445 


der Kunjtjchule traten vor einiger Zeit erfolgreich mit denen vom Kenfington-Mujeum 
in Wettbewerb. Wenige unjerer Provinzialjtädte dürften ein Muſeum befigen wie die 
Angehörigen der Salt’jchen Fabrik. 

Trotz all’ diejer Herrlichkeit, trogdem, ja vielleicht weil der hochherzige Begründer 
auch gleich die Beträge aur Erhaltung feiner verfchiedenen Einrichtungen jtiftete, machen 
diejelben einen ruinenhaften Eindrud! Die Beziehungen zwijchen der Familie, den 
Nachfolgern von Sir Titus und der jegigen Arbeiterichait find mehr ala fühl. 

Es gibt auch bei uns folche prunfende Einöden, aber doch nur vereinzelt. Das 
Gepräge der Mehrzahl derjenigen Fabriken, in denen mit Herzlicher Freigebigkeit für 
die Leute gejorgt wird, iſt die Königs- und die Mannentreue des Nibelungenliedes, 
die in dem Verhältniß von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer widerflingt. 

Die Toynbeemänner wollen ſich nun — beinahe jportsmäßig — zwiſchen dieſe 
beide Factoren, überhaupt zwifchen Geber und Empfänger einjchieben, und darum 
fönnen wir fie nicht gebrauchen. Aber wir können von ihnen lernen, nämlich für die 
Arbeitsart. Bezüglich diefer wird die Gefchichte unferer Zeit bei aller Anerkennung 
der Wucht, mit der wir gegen die taujendföpfige Noth vorgegangen, den Vorwurf 
einer gewiſſen Einjeitigfeit und Oberflächlichfeit nicht erſparen. Die ftattlichen Brüden, 
welche wir über die „große Kluft“ gejchlagen haben, vermögen dieſelbe nicht zuzu— 
deden. Dies fünnen nur zahlreiche Einzeljtege, die von Menschen zu Menjchen, vom 
Herzen zum Herzen führen; die den Gebenden in unmittelbare Berührung mit dem 
Empfangenden bringen, ihm dadurch bereitwilliger machen und in feiner Liebesthätig- 
feit friſcher und beharrlicher erhalten; welche die Gaben dem Empfangenden genau 
anzupaflen und ihn vor der Almojenerniedrigung zu ſchützen geitatten. 

Die prunfenden Brüden find unjere großen Wohlthätigfeitsvereine, deren Organe 
es manchmal, da fie im Kleinen nichts zu verrichten vermögen, im Großen anfangen ; 
die oft vergeffen, daß in jener erhabenen Verheißung nicht geichrieben fteht: „Ich bin 
Hungerig und durftig und frank und gefangen gewefen, und ihr habt Geld zuſammen— 
gebracht, damit ich jatt, gefund und frei würde”, jondern „ihr Habt mich gefpeift, 
getränft, beſucht“ u. j. w. Im Gier des Gejchäites überjehen die Vereins— 
vorjtände Leicht, daß ihr Ziel nicht in erſter Linie darin bejtehen darf, gleichjam die 
Noth aus der Welt zu treiben, jondern dem Einzelnen bei der Erfüllung derjenigen 
Pflichten des Wohlthuns behülflich zu jein, zu denen ihn feine Lebensftellung und 
Lebenswirkfamkeit berufen bat. Daher jo Häufige Uebergriffe der demokratifirenden 
Dereinsthätigfeit in dasjenige Gebiet, welches der ariftofratijchen Einzelleiftung vor— 
behalten ift, und damit die Geiahr, den Ginzelnen in die Verfuchung zu führen, der 
er jo geneigt ift, zu unterliegen: fih von feinen perfönlichen Pflichten durch den 
Vereinsbeitrag loszulaufen, fich da vertreten zu laffen, wo Vertretung Berfäumniß 
bedeutet. Selbit die wegen ihrer genauen und gründlichen Ginzelbehandlung der 
Bedürftigen vielgerühmte Elberielder Armenpflege hat, mit der Jndividualifirung nach 
oben, in den Kreiſen der Bemittelten jtatt bei den wohlhabenden Familien jchon bei 
einzelnen, verhältnigmäßig wenigen Samilienhäuptern, die das Amt eines Armenpflegers 
befleiden, Halt gemacht. 

Jedoch nicht gegen dieje Hervorragende Schöpfung und überhaupt nicht gegen die, 
Verftändigung und Anregung herbeiführenden Organifationzbeftrebungen, gegen unjer 
ftolges Vereinsweſen als jolches, welches ja für viele Zwede centralifiren muß, find 
diefe Ausführungen gerichtet. Nur wie wir uns in demjelben vor Einfeitigkeit und 
Verflachung jchügen können, läßt fi) meines Erachtens von der jüngften Schule der 
Londoner Wohlthäter lernen. 

Wie Brooke, Whitwell und Laurie widmen auch unfere Socialingenieure der 
heranwachienden Jugend, namentlich der der VBerwahrlofung ausgeſetzten, ihre beiten 
Kräfte. Die armen Jungen, deren Eltern nicht mehr am Leben oder durch ihre Berufes 
arbeit tagsüber vom Haufe ferngehalten find, verfammelt man in der fchulfreien Zeit, 
jucht ihnen durch anregende und zugleich müßliche Beſchäſtigung, durch Gartenarbeit, 
Blumenpflege, Holzichnigerei, Papparbeiten und dergleichen Luft und Liebe zur Arbeit 


446 Deutſche Rundſchau. 


anzubilden, um ſie dadurch gegen den Teufel des Müßigganges mit ſeiner ganzen 
Gefolgſchaft zu feien. Aber erſt ganz vereinzelt, faſt ſchüchtern beginnt man in die 
Fußtapfen der jungen Londoner „Toynbee-Aſſociates“ zu treten und neben dem 
Arbeitshort jedem Knaben einen lebendigen, perſönlichen fürs Leben zu ſchaffen. Hier 
in Hannover haben z. B. einige Officiere und Beamte, die mit der Berufsthätigkeit 
abgeichlofjen, einen Theil ihrer Zeit den Jungen, und zwar jeder nur einer Kleinen 
Anzahl derart gewidmet, daß fie fich als väterliche Freunde um fie befümmern, Kleine, 
aber regelmäßige Dienfte von ihnen verrichten laſſen, den Lohn nebft fonftigen Er— 
Iparniffen auffammeln, ihre Zuneigung, ihr Vertrauen zu gewinnen fuchen und fo ein 
Patronatsverhältniß herjtellen, welches, wenn e8 wahr und echt ift, die Knabenjahre 
überdauern muß. Diefe Männer waren geradezu gerührt, als ihnen der Dank ihrer 
Schützlinge jüngjt eine jelbjtgeiertigte Eleine Arbeit unter den Tannenbaum legte. 
Mas werden fie jagen, wenn ihnen in bdiefem Jahre der Eeine Geſangchor ein 
Geburtötagsmorgenftändchen bringt? Bislang hat derjelbe fich über die gemeinjamen 
Feſte nicht Hinausgewagt. Auf Ddiefen erjcheinen ala Ehrengäſte die Eltern. Die 
Stege zu ihnen bilden ungezwungen die Kinder, denn in diefen fühlen die Eltern fich 
gefefielt und geehrt; die Unterhaltung über des Sohnes Eigenart, feine Neigungen, 
feine Zukunft find des Vaters Lieblingsgeſpräch. 

In Leipzig hat die Gattin des Pandectiften Windjcheid in ihrem Mädchenhort 
ähnliche Erfolge erzielt. In Leipzig gibt es fogar in den vornehmſten Gejellichaits- 
freifen ſchon „Ketzer“, die mit dem Arbeiter auf der Kegelbahn regelmäßig zufammen- 
treffen. 

Das mag wohl nicht Jedermanns Sache fein. Aber Niemand follte ausweichen, 
wenn ihn fein Lebensweg an die trennende Kluft führt. Jeder muß einmal an ihr 
vorüber. Ya die Meiften wandern das ganze Leben hindurch an ihrem Rande, nämlich 
in ihrer Beziehung zu den Dienjtboten. Da muß zuvörderſt wieder angeknüpft werden. 

Mancher, namentlich jungen Frau, geht's dabei freilich wie dem Herm Güldenjtern 
mit dem Prinzen Hamlet, als diefer jenem die Flöte reichte und verlangte, er jolle 
ihm etwas vorjpielen. Giüldenjtern konnte e8 nicht, er kannte ja nicht die Griffe. 
„Ihr wollt auf mir fpielen und fennt nicht die Griffe? Ihr könnt mich höchitens 
verſtimmen.“ 

Die ſocialen Griffe ſind eben das Problem, nicht nur der kleinen, ſondern auch 
der großen ſocialen Frage. 





Die Berliner Thenter. 


— — vn 


Berlin, 6. Mai 1890. 


So mannigfaltige Aufführungen auch die vier letzten Monate der diesmaligen 
Spielzeit dem ſchauluſtigen Publicum gebracht haben, eine bedeutſamere Erſcheinung 
von dauerndem literariſchen Werthe iſt nicht hervorgetreten. In dieſer Hinſicht iſt 
noch immer Hermann Sudermann's Schauſpiel „Ehre“ das Ereigniß dieſer Saiſon 
geblieben. Nicht nur darum, weil es ein neues, kräftiges und originales Talent 
unſerem Bühnenweſen zugeführt hat, ſondern weil es die Bahn andeutet, welche die 
dramatiſche Kunſt einzuſchlagen hat, um die Theilnahme des Publicums zu gewinnen 
und ohne völligen Bruch mit den Ueberlieferungen und Gewohnheiten der deutſchen 
Bühne zu neuen Geftaltungen zu gelangen. Gegenüber den lauteiten Stürmern und 
Drängern der naturaliftifchen Schule iſt Sudermann freilich nur ein bejcheidener 
Reiormer, ſogar mit einem fchüchternen, zaghaften Zug, aber gerade dies Maßhaltende 
in ihm, die Abſicht, das deutjche bürgerliche Schaufpiel durch die Wirklichkeit und 
Wahrheit des Lebens, durch die Fragen und Beitrebungen der Gegenwart zu erneuern, 
verfpricht feinem Werke die Dauer, feiner Begabung eine reiche Enttwidelung. 

Der Kampf zwifchen dem alten und dem jungen Gefchlecht in unferer Literatur, 
der fich fchon eine geraume Zeit, außerhalb des eigentlichen Bublicums, in dem Streife 
der Schriftiteller bemerklich gemacht hatte, ift jet, nachdem er auch die Bühne er— 
griffen, zu einer Öffentlichen Angelegenheit geworden. Die Confumenten, an die fih 
zulegt doch auch das Kunſtwerk wie jede andere Waare richtet, werden zum Urtheils— 
ſpruch aufgefordert, nicht ala einfame Lefer, die ein Buch mit Genuß oder Verdruß 
aus der Hand legen, fondern ala zuichauende und zubörende Mafle, die unmittelbar 
unter dem Eindrud des Gejehenen ihren Wahrſpruch abgibt. Den Theatern fällt 
damit, merfwürdig genug durch die realiſtiſche Bewegung, wieder jene idealiftifche Aufgabe 
zu, die ihnen Schiller jtellte, wenn er die Schaubühne als eine moralische Anftalt betrachtet 
willen wollte. Dreißig Jahre hindurch ift die Schaubühne eben nichts mehr ala ein 
Bergnügungsort, im bejten Falle eine Schule des Gefhmads und der feineren Bildung 
bei ung gewejen, wie eine Gemäldegalerie, ein Kunftgewerbemufeum: den erziehenden 
Zweck Hatten ihr die Nednertribüne und die politische Zeitung weggenommen. Setzt, 
in dem Drang gejellichaftlicher und pädagogifcher Ummälzungen, möchte man auch 
das Theater in den Dienjt bdiefer Gedanken ftellen. Was fich in den nordiſchen 
Staaten jchon vollzogen bat, daß die dramatifche Kunſt zur Waffe in dem politifch- 
focialen Kampf wird, bereitet fich bei uns immer unabweislicher vor. Wenn e8 bis 
jegt nur freie Vereinigungen find, die diefem Ziele zuftreben, bald genug werben fich 
auch die öffentlichen Bühnen diefer fpcialen Tendenzpoefie öffnen; die Mode wird auch 
die Luxustheater der oberen Zehntaufend zwingen, auf ihren Brettern das „graue 
Elend“ und die Verkommenheit auß dem Hinterhaufe, vier Treppen hoch, in Lebens: 
größe darzuftellen. In feiner ganzen Schärfe kömmt der Gegenjaß zwifchen der alten 
und der neuen Bühnenpoefie in den Vorftellungen des Schaufpielhaufes auf der einen, 


443 Deutſche Rundſchau. 


der „Freien Bühne“ auf der anderen Seite zum Ausdruck. Hier Erhaltung, dort 
Umſturz um jeden Preis; hier Stüde, die in der Kindlichkeit ihres Inhalts, in der 
Schablonenhaitigkeit ihrer Durchführung von aller Wirklichkeit, von den Empfindungen 
und Anſchauungen de Publicums abjehen und zur Puppentomddie herabfinken, dort 
breite und öde Schilderungen, in denen das Alltagsleben und »Leiden der Heinen Leute, 
mit dem Dunft der Krankenftube und dem Schnapägeruch, mit der Rohheit des 
Herzens und der Gemeinheit der Sprache, ala ob es allein in der Welt wäre, fi 
behaglich und jelbjtbewußt entjaltet; Hier die Bourgeofie, die auch fünjtlerifch abdantt, 
dort der vierte Stand, der auch in der Kunſt die ausjchließliche Herrichaft beanſprucht. 

In der Leitung dee Schaufpielhaufes hat der neue Director, Dr. Otto 
Devrient, allmälig eine größere Sicherheit gewonnen, aber er beſitzt in der Aus— 
wahl der Neuigkeiten feinen glüdlichen Griff. Eine und die andere einzulöfende 
Schuld iſt ihm freilich noch von früher her geblieben, und die geringen Griolge faſt 
aller neuen Stüde, die jeit dem September des vergangenen Jahres bis heute über 
die Bretter gegangen find, kommen nicht ausſchließlich auf fein Conto. Allein aud 
ihm fehlt wie jeinem Vorgänger, Herrn Anno, der friſche Wagemuth und die fräftige 
Snitiative. So ärmlich wie die moderne Production auf der Hofbühne erjcheint, ift 
fie doch nicht. Innerhalb des Hiftorischen Schaufpiela und des Salonluftipiels laflen 
fi) doch noch hervorragendere Sachen finden, ala fie uns das Schaufpielhaus brachte. 
Eine Literarifche Würdigung verdient nur das geichichtliche Trauerfpiel in fünf 
Aufzügen „Erich Brahe“ von Otto Girndt, dad am Freitag den 17. Januar 
zur eriten Aufführung gelangte. Es ift um fünfundzwanzig Jahre zu jpät gefommen. 
Damals würde es, neben den Hijtorischen Dramen Gottihall’s, eine ftattlichere Figur 
gemacht Haben. Jetzt liegt auf diefer afademifchen Nachgeburt eine Wolfe Staub. 
Uns berührt dieje Verbindung einer politifchen Staatsaction mit einer Höfifch-romantifchen 
Liebes- und Giferfuchtögefchichte wie etwas Unmwirkliches und Künftliches, und die 
bilderreiche Sprache, in regelmäßigen gut gebildeten Jamben, im Munde jchwediicher 
Grafen und Gräfinnen, im Zeitalter Friedrich’ des Großen, drüdt dem Ganzen noch 
mehr den Charakter des Phantajtifchen auf. Otto Girndt's Mufe Hat fich in beiteren 
Komödien bisher noch immer wirkfamer erwiejen ala im ernjten Schaufpiel; mit liebens- 
würdigem Humor würzt er allerlei Auftritte auß dem Kleinleben und beutet die 
Mißverjtändniffe und Verwechslungen, die mehr noch der Bühne ala der Wirklichkeit 
angehören, geſchickt und zuweilen geiftreich aus, Seine Bildung wie fein Feingefühl 
verhindern ihn, gar zu tief in die Plattheit zu fallen; leider ift fein Talent nicht ftart 
genug, aus der Situationsfomik zum Charatterluftipiel vorzudringen. Er begnügt fid) 
meijt mit dem bloßen Umriß der Figuren und treibt mit den Tendenzen und Ge 
danfen, die feinen befjeren Komödien als tiefere Grundlage dienen, ein leichtes Spiel, 
während wir ihre Durchführung erwarten. Aber neben dem Humorifien und Satirifer 
ſteckt in Girmdt auch der Keim zu einem tragischen Poeten. Wiederholt Hat er fi 
in gejchichtlichen Stoffen verfucht, bald an dem Schidjal und der Schuld der Borgia’s, 
bald an dem Glanz und dem Sturz Dankelmann’s, nur daß dieje Seite feiner Ber 
gabung den Lefern befannter ift ala dem Theaterpublicum. Mit der Zeit ift er nicht 
fortgefchritten, jondern in dem alten Schema der hiſtoriſchen Jambentragddie haften 
geblieben. Sein „Erich Brahe” iſt ein Zwillingabruder von Michael Beer's „Strucniee”, 
in der Form, wie in der Verwidlung und der Gefinnung. Aus der unwürdigen 
Knehtichait, in der die Dligarchie der Stände ihn hält, will der Oberft der Leibwache 
Graf Erich Brahe feinen ſchwachen gutmüthigen König Adolf Friedrich befreien und 
ihn zu einem unumfchränkten Monarchen erheben. Er ftößt jo politijh mit dem 
Reichstagsmarjchall, dem Grafen Ferſen, hart und umverföhnlich zuſammen. Ein 
perfönlicher Gegenſatz verfchärft noch den Haß, den fie gegen einander hegen. Ferſen's 
Gattin, die ftolze und nachtragende Juliane, hat als Mädchen Erich Brahe geliebt: 
nur widerwillig, aus beleidigtem Selbftgefühl, hat fie Ferſen geheirathet, weil Brahe 
jein Herz und feine Hand der faniten Chrijtine, einer Tochter des Grafen Piper, ge 
ichentt hat. Im ihrer Eiferfucht ftachelt ſie Ferſen's Groll gegen den Mann, der fie 


Die Berliner Theater. 449 


verjhmäht Hat, immer heftiger an und läßt fich fogar zu einem BVergiftungsverjuch 
gegen Ghriftine Hinreißen. So verfchlingt fich die politische Verſchwörung mit der 
Leidenſchaft eines dämonifchen Weibes, die erjt den geliebten Mann verderben und 
dann bereuend retten will. Warum nun Brahe’3 Verſchwörung jcheitert, worin die 
Macht der Stände wurzelt, wird den Zufchauern aus der Dichtung jelbjt nicht klar. 
Der willenloje, eines energiſchen Entjchluffes unfähige König, der doch im Herzen mit 
den Verſchwörern, jeinen Dfficieren , einverftanden ift, verhindert ihre Gejangennahme 
nicht, vermag nicht bei den Ständen ihre Freilaffung durchzufegen und kömmt ſchließlich 
jelbft mit feiner Begnadigung zu jpät, da Graf Ferſen die Berurtheilten raſch aus 
einer Hinterthür des Gefängniffes auf das Schaffot hat führen laſſen, als der König 
vor demjelben erjcheint. Der Handlung, wie man ſchon aus diefen Andeutungen 
merkt, jehlt der rechte Nerv und die ftärfere Anziehungskraft. Wir bleiben dem Grafen 
Ferſen und der Berfafjung, die er vertritt, gegenüber gerade jo gleichgültig wie dem 
Grafen Brahe und jeiner Soldatenverfhwörung. Der haltloje König verdient nicht 
die Treue und Hingabe diefer Männer, und da wir nicht erfennen, welches Böfe die 
Berjafjung dem Gemeinwohl zufügt, verjtehen wir auch ihre Handlungsweife nicht. 
Wildenbruch würde durch die Einfügung von Volks- und Goldatenmaffen in die 
Handlung, durch eine Reichsrathäfigung mit leidenjchaftlichen Debatten dem Ganzen 
einen Rüdhalt gegeben haben, bei Girndt bleibt Alles in dem befcheideneren Rahmen 
eines höfiichen Ränkeſpiels. Er bringt fich dadurch jelbit um den Nachhall im Publicum. 
Mehr Originalität als in der Fabel offenbart fich in der Charakteriſtik: die Schwäche 
des Königs, der fröhliche Leichtfinn und das goldene Herz des Volksdichters Michael 
Bellmann find in eigenartigen Zügen geſchildert; der alte, brave, von dem Mißgeſchick, 
das ihn verfolgt, überzeugte, aber nicht gebeugte Stalſwärd mit feinem Stich in das 
Myſtiſche ift jogar ein fein gezeichneter Charakterfopf, und die Scene, in der er ber 
ſchuldigen und trokigen Juliane das Gewiffen rührt, befigt einen hohen Schwung und 
eine ergreifende Macht der Wahrheit. Von einem Erfolge des Stüdes fonnte jchon 
wegen des fern liegenden Stoffes und feiner akademiſchen Behandlung nicht die Rede 
fein: immerhin würde man der Hofbühne feinen Vorwurf machen, wenn fie mehr 
Werke Hiftorifchen Inhalts, von einem gewifjen literarischen Werthe, aufführte, denn 
diefe Gattung der dramatischen Kunft kann nirgends anders als hier eine wirkjame 
Pflege finden. Wenn in der Jugenderziehung fortan auf die Mutterjprache und die 
Kenntniß der vaterländifchen Gefchichte, der Heimaths- und Volkskunde ein größeres 
Gewicht ald bisher gelegt werden ſoll, dann bedarf auch das hijtorifche Drama, das 
diefe Erziehungsmethode im jchönften Sinne vollendet und frönt, einer jtärferen 
Berüdfichtigung und einer lebhafteren Theilnahme. Den Elenditüden, voll Laftern 
und Verbrechen aus der Alltagäwelt, müſſen die Darjtellungen aus der Gefchichte und 
der Entwidlung der Gultur das Gegengewicht halten. 

Dtiomar Beta’3 Charakterbild in fünf Aufzügen, „Feurige Kohlen“, 
das am Dienftag den 11. März zum erjten Male aufgeführt wurde, verſprach 
feinem Titel nach mehr als es hielt. Denn das Gharakterbild des alten, kränklichen, 
troßigen und proßigen Hamburger Kaufmanns Hänfner, das der Verjaffer in den 
Mittelpunkt der Handlung jtellt, wird durch zu viele abenteuerliche Zuthaten in feiner 
Wirkung eingejchräntt. Beta hat einen feiner Romane, „Peregrine”, zu einem Theater— 
jtüd verarbeitet, in dem fich Romantik und Kleinbürgerlichkeit, Politit und Börfe 
verjchlingen. Ein Kleiner Drehorgelipieler, Peregrine Cherutti, ift von einer reichen 
wohlhabenden Kaufmannswittwe in ihr Haus aufgenommen und erzogen worden. 
Sie möchte ihn am liebſten zu einem Künftler heranbilden, Peregrine aber Hat fich 
in die einzige Tochter feiner Wohlthäterin verliebt, und will, um ihre Hand zu er= 
ringen, denn ihr Gerz befit er längft, rafch ein reicher Dann werden. Troß feines 
Talents und feiner Neigung hängt er darum feine Geige an den Nagel und tritt in 
die ftrenge Schule des mürriſchen Hänfner's. Bald erweift er fi) als ein kauf— 
männijches Genie, während er und fein Principal in italienischen Speculationen un— 
geheuere Summen gewinnen, verliert Frau Siüllmann darin ihr Vermögen. Natürlich 

Deutſche Rundſchau. XVI, 9. 29 


450 Deutſche Rundſchau. 


kann ihr nun der Pflegeſohn ihre früheren Wohlthaten reichlich vergelten und das 
alte Original Hänfner „feurige Kohlen“ auf das Haupt der Frau ſammeln, die als 
Mädchen feine Werbung verſchmäht. Bon einer dramatiſchen Handlung, die fich vor 
uns abjpielte, ift nicht eigentlich die Rede; das Unglüd der Frau Süllmann und das 
Glück Peregrine’3 werden Hinter der Scene durch Thatſachen und Mächte hergeitellt, 
die wir weder jehen noch Fennen. Die Figuren felbft erwecken in dem Zufchauer feine 
rechte Sympathie; es ift ficherlich eine jehr zweifelhafte Weife, Dankbarkeit zu beweiſen, 
indem man feine Wohlthäterin jchädigt. Dazu kömmt, daß der „alte Hänfner“, jo 
gut er im einzelnen Zügen beobachtet und individuell durchgeführt ift, eine unverfenn- 
bare Aehnlichkeit mit dem Stephy Girard, aus Gealäfield’3 Novelle „Morton oder 
die große Tour“ Hat, den Rudolf Gende ſchon vor zwölf Jahren in einem einactigen 
Luftjpiel wirkungsvoll auf die Bühne gebracht Hat. Der Charakter ift eben nur für 
einen Act ausreichend, wenn eine bewegliche Phantafie nicht eine gut verſchlungene, 
fich fteigernde und gipfelnde Handlung, deren Fäden er leitet, zu erfinden vermag. 
Dies Hat Beta nicht vermocht, und unfer Intereſſe an feiner Hauptfigur erjchöpft fich 
in den zwei erjten Acten. Um es feſtzuhalten, rüdt er für die legten drei Acte einen 
[uftigen Mädchenkobold mit flinfer Zunge und zierlichen Händen in die erjte Reihe; 
Clärchen Burnier macht aus allen Menfchen, was fie will, und überliftet den alten 
Mucdebold Hänfner wie einen richtigen Komödienonkel. Dem Stüd haftet etwas 
Mühſeliges und Gequältes an, das jelbft die frifcheren Scenen nicht zur Geltung 
fommen läßt. Immerhin ift der Ernſt und die gute Abficht Hervorzuheben, einmal 
wieder eigenartige Figuren, die außerhalb der Schablonentechnik jtehen, auf die Bühne 
zu führen: Beta's Talent hat nur nicht auögereicht, die Charaktere, die er offenbar 
aus eigener Erfahrung und Beobachtung gefchöpft, in einer Handlung fi) vor unferen 
Augen entfalten und ausleben zu laffen. Mit allen feinen Schwächen bewahrt jein 
Schauspiel doch noch den literarischen Zug, während das Quftjpiel in fünf Aufzügen 
von Zeopold Günther, „Loni“, dag am Dienjtag den 18. März zur Auf 
führung gelangte, nur die Zahl unferer Puppentomödien um eine vermehrte. Gin 
jrüheres Stüd des Verfaſſers, „Der Leibarzt”“, das wir am 19. April 1881 zum 
eriten Male jahen, Hat ſich auf der Bühne: des Schaufpielhaufes, nicht zum geringjten 
Theil wegen feiner trefflichen Darftellung, bis jet in der Gunft des Publicums er: 
halten; ein Luftipiel, das ihm im Jahre 1883 folgte: „Der neue Stiftsarzt”, brachte 
es dagegen nur zu acht Vorjtellungen, und „Loni“ iſt noch fchneller von den Brettern 
verſchwunden. Als Regiffeur des Hoftheaterd zu Schwerin verfügt Leopold Günther 
über ein nicht unbedeutendes theatralifche® Geihik in der Verknüpfung der Scenen, 
in der Herausarbeitung des Effects und über eine Fülle von Erinnerungen aus den 
Stüden Anderer. Das fnüpft und jchlingt er harmlos mit eigenen Erfindungen zu⸗ 
jammen, Menfchen, Dinge und Gejchichten, die einzig in der Atmoſphäre der Bühne 
leben können, nur auf ihre Beleuchtung, nur für ihre Decorationen berechnet find und 
von jeder Wirklichkeit und Wahrheit abjehen. Spielt fich ein ſolches Stüd flott und 
munter, mit luftigen Schwänfen und einer Handvoll Uebertreibungen wie ein buntes 
Feuerwerk ab, fo ift man zufrieden; dehnt es fich aber, wie diefe „Loni“, in die Länge, 
bleibt die dürftige Handlung, troß aller Epifoden, auf einem Flecke ſtehen, jo ift die 
Niederlage undermeidlih. Ein Oheim will feinen Neffen mit feiner Nichte verheirathen: 
Beide lieben fich auch im Stillen, haben es jedoch verſchworen, diefe Neigung fich zu 
befennen, er aus Troß, fie aus Eiferſucht — ſelbſt ein größeres Talent ala das dei 
Verfaſſers würde aus diefem dürftigen Kern, aus diefer auf der Bühne uralten Ber 
widlung faum etwas Neues und Anziehendes geftaltet haben. In der breiten Be 
handlung, die Leopold Günther dem Stoffe gegeben Hat, ward er vollends zur kraft 
lojen Waflerjuppe. 

So wäre dieje ganze Spielzeit für das Schaufpielhauß eine berlorene geweſen, 
wenn es nicht zuleßt noch mit der Aufführung des „Sturmes“ am Dienftag 
den 8. April einen Treffer gezogen hätte. Auf den meiften größeren Bühnen gehört 
Shakeſpeare's „Sturm“ jchon längſt zu dem jtehenden Repertoire, das Schaufpielhaus 


Die Berliner Theater. 451 


bat ihm erjt jet den verdienten Pla neben dem „Sommernadhtstraum” und dem 
„Wintermärchen” angewiefen. Eine Darjtellung des „Sturmes“ verfeßt unwillkürlich 
auch den müchternen und fühlen Zufchauerr in dad Land ber Holden Märchen. 
Wagner's Geſammtkunſtwerk kommt auch Hier zum Ausdrud. Zu Shakeſpeare's 
Dichtung hat Wilhelm Taubert eine ftimmungsvolle Muſik componirt, die fich 
im Rhythmus und in der Melodik den verfchiedenen Leidenjchaften und Stimmungen 
der Hauptfiguren und den Wandlungen der Fabel harmoniſch anjchließt. Iſt fie auch 
fein jo eigenartige Kunſtwerk wie Mendelsſohn's Muſik zum „Sommernadtstraum“, 
denn nur er verftand das Geflüfter und den Geſang der Elfen und die Laute der 
monddurcdhglängten Sommernacht, fo begleitet fie doch das Stück anmuthig und ge— 
fällig durdy alle Phafen und hebt Ginzelnes, hier in den Liedern das Weſen Ariel’s, 
dort in dem Trio Galiban’s, Stephano’3 und Trinculo’8 dag Thieriſche und Täppijche 
vortrefflich hervor. Zu der Poefie und der Muſik gejellt fich die Malerei, die in 
prächtigen Decorationen das Ganze umfchließt, und die Tanzkunſt, welche die Paufen 
der Handlung reizvoll durch Reigentänze und Gruppirungen belebt. Dieſem Ballet 
in der Zauberfomdödie ift auf umferer Bühne für mein Gefühl ein zu großer Raum 
gegönnt: ihm Haben die Feittafel, an der fich der König von Neapel und fein Gefolge 
niederjegen wollen, und die Ariel ala Harpye umſtößt, und die Erjcheinungen der 
Iris, der Ceres und der Juno, welche die Verlobung Miranda's und Ferdinand's 
feiern und ſegnen, weichen müffen. Freilich ift die Handlung des „Sturmes” im 
Vergleich zu der Fülle der Abenteuer im „Wintermärchen“ und dem anziehenden 
Wechſel zwiſchen Ernſt und Scherz, zwifchen den Launen der Menſchen und dem 
Spuk der Elfen im „Sommernachtstraum” eine bürftige und bedarf bei der Darftellung 
allerlei Zuthaten, um die Aufmerkſamkeit des Publicums dauernd feitzuhalten. Der 
wunderbare Zieffinn und der Märchenzauber der Dichtung kömmt bei der Lectüre 
ungleich mehr zu feinem Recht; die unbegrenzte Phantafie des Leſers baut ſich noch 
eine ganz andere Welt für Prospero und Ariel, für Caliban und Stephano, für das 
Liebespaar auf, als fie auch die Kunft des größten Mafjchinenmeiftere von Holz und 
Pappe errichten kann, und fein Ohr und fein Gemüth jchlürfen noch mit feinerem 
Behagen den Wohllaut der Verſe ein als bei einer theatralifchen Aufführung. Die 
Borftellung war eine wohl abgetönte und gelungene; für Miranda und Ferdinand 
befigt da3 Schaufpielhaus in Frau von Hochenburger und Herrn Matkowsky 
unvergleichliche Künftler voll Anmuth, Friſche, Liebenswürdigfeit und Natürlichkeit, 
in Herrn Grube für den Galiban einen Schaufpieler, der das Groteöfe, den Ueber— 
gang des Uraffen zum Urmenjchen, Humoriftifch verkörpert, und in Fräulein Hellmuth» 
Bräm ein zierliches Figürchen mit einer Lieblichen Gejangjtimme für den Luft— 
geift Ariel. 

Gern wiegt man fich in den Gedanken, daß der „Sturm“ der Abjchied Shake— 
fpeare’3 von der Bühne gewejen; daß nicht Prospero, fondern er damit feinem Ariel 
die Freiheit gegeben und fein Zauberbuch und feinen Stab ind Meer verjentt; daß 
nicht nur Prospero nah Mailand, fondern Shafejpeare nach Stratford am Avon 
zurückkehrt, und daß nach diefem Schluffe feiner Zaubereien fein Sinnen fich allein 
noch auf das Grab und die Gnade Gottes richten joll. Für den nachbenklicheren 
Zuſchauer gewann diesmal die Aufführung des „Sturmes“ auf der Bühne des Schau— 
ipielhaufes noch eine tiefere Bedeutung. Sie erichien gleichjam wie der Abjchied der 
romantischen Dichtung überhaupt von dem Theater der Gegenwart. Andere Aufgaben 
haben ſich der dramatischen Dichtkunft gejtellt, andere Geftalten drängen fich auf die 
Bretter, an andere Vorftellungen und Anjchauungen, um das verpönte Wort Ideale 
nicht zu gebrauchen, hängt fich das Herz der Jugend. Es wird fchon ala ein Sieg 
der Kunft, im alten Sinne des Wortes, betrachtet werden müfjen, wenn fich das 
biitorifche Drama neben dem bürgerlichen Schaufpiel behauptet. Man braucht nur 
die Aufführungen der „greien Bühne“ anzufehen, um die Richtung zu erfennen, 
in die eine rührige und eifrige Partei in der Literatur die Bühne, mit der dramatiſchen 
Schrifttellerei auch die Schaufpieltunft treiben möchte. Seinem Programm gemäß 

29 * 


452 Deutſche Rundſchau. 


bat der Verein „Freie Bühne“ zu feinen erſten vier Vorſtellungen im vergangenen 
Jahre vier neue gefügt: am Sonntag den 26. Januar ein bramatifches Sitten 
bild aus dem ruffiichen Volksleben von dem Grafen Leo Tolſtoi: „Die Madt 
der Finfterniß"; am Sonntag den 2. März ein Volksſtück im vier Acten 
von Ludwig Anzengruber: „Das vierte Gebot”; am Montag den 
7. April ein Drama in drei Acten von Arno Holz und Johannes 
Schlaf: „Die Familie Selide* und am Sonntag den 4. Mai ein Schau— 
jpiel von Arthur Fitger: „Bon Gottes Gnaden“. Am bezeichnenditen für 
die Tendenz und das Ziel, dem die Macher der „Freien Bühne“ zujtreben, zweifellos 
von dem Geſchmack und der Gefinnung gewifler Kreiſe des Publicums unterftügt, find 
die Dramen von Tolftoi und Arno Holz und Johannes Schlaf; Anzengruber’s Volls— 
ftüd hat ſich ohne Anftand, aber freilich auch ohne nachhaltigen Erfolg auf die öffent: 
liche Bühne des Leffing » Theaterd übertragen laſſen, und mit dem Fitger'ſchen Stüd 
fönnte, wer wollte, denfelben Verſuch wagen. 

Graf Leo Tolftoi ift ein großer Schriftfteller und wunderlicher Heiliger. Seine 
myſtiſch gefärbte, auf die Lehren und Grundfäge Chriſti geſtützte MWeltflucht und Ent- 
fagung hat ihn halbwegs zu einem fyeinde der Gultur und der menjchheitlichen 
Entwidelung gemacht. Er ift ſelbſt wieder zum Bauer geworden, weil er diefen Stand 
und feine Arbeit am nächjten mit der Allmutter Erde und der Beitimmung des 
Menſchen, wie er fie auffaßt, verwandt glaubt, vielleicht aus dem dunklen Gefühl, 
daß feine Refignation fich leichter in den bejcheidenen Verhältniffen des Dorfes als 
in dem Drang und Wettfampf der Stadt üben läßt. Aber er fieht auch troß feiner 
Schwärmerei die ungeheuere Kluft, welche die Menfchen und die Welt, wie fie find, 
von feinen Jdealen trennt. Auf dem platten Lande fo gut wie in der Großſtadt. 
Ein Zeugniß dafür ift fein Schaufpiel „Die Macht der Finſterniß“. Da zuletzt jedod 
Ormuzd über Ahriman den Sieg davonträgt, lautete der Titel beffer „Der Triumph 
der Reue”. Cine jchlichte Gefchichte aus dem bäuerlichen Leben, die fich jeden Tag 
ereignen kann, ift in dramatiiche Form gebradht. Ohne feinere Kunft. Zwiſchen den 
einzelnen Acten liegen Monate und Jahre und die Entwidelung der Charaktere vollzieht 
fi) mehr Hinter der Scene als vor unjeren Augen. Anisja, die zweite Frau eines 
reichen Bauern, hat fich in den Knecht Nikita verliebt; in ihrer Sinnlichkeit geräth 
fie außer fih, als er den Hof verlafjen will, und gibt den boshaften Rathichlägen 
feiner Mutter Matrona Gehör, die eine Art Dorfhere und Giftmijcherin ift. Im ihr 
verkörpert fich die Macht der Finfterniß, nicht dämoniſch und gewaltig, jondern Liftig 
und heuchleriſch. Dabei handelt fie nicht aus bloßer Liebe zum Böſen: fie will ihrem 
Sohn zu einer reichen Frau verhelfen. Dem kranken Peter ftiehlt die rau im Schlaf 
den Geldbeutel, den er an einer Schnur um den Hals trägt — in einem Schlaf, aus 
dem er nicht mehr erwachen ſoll. Sie hat ihm die Pülverchen, die ihr Matrona für 
einen Rubel gegeben, in den Thee gejchüttet. Im dritten Net ift Nikita der Wirth 
im Haufe. Er hat Anisja geheirathet und vertrinft und verjchlemmt das Geld mit 
feiner Stieftochter Akulina, Peter’3 Tochter aus erjter Ehe. Zwiſchen den beiden 
Weibern herricht beftändiger Streit, und Anizja fühlt oft genug Nikita’ ſchwere Hand. 
Zu feinem Unglück hat er Akulina verführt; fie gebiert ein Kind, und da fie ver- 
heiratet werden ſoll, zwingen ihn feine Frau und feine Mutter, das neugeborene 
Kind zu tödten: eine jchauerliche Nachtjcene. Der Unfelige treibt ſich auf dem Hot 
umber, Anisja kommt mit dem Kinde und wirft es in den Keller. „Erwürg' es jchnell,“ 
ruft fie ihm zu und ftößt ihn die Treppe hinab, „Dich geht’ an, Du führ's zu 
Ende!” Nikita legt ein Brett auf das Kind, jet fich darauf und zermalmt es To, 
während die beiden Megären oben an der Treppe horchen. Fortwährend hat feitdem 
Nikita das Gewinfel des gemordeten Kindes im Ohr. DBergebens jagt ihm jeine 
Mutter mit greulichem Cynismus: „Aber wo lebt's denn, Du haft es ja wie einen 
Pfannkuchen zerdrücdt.“ Bei dem Hochzeitöfefte Akulina’s, wo es hoch hergeht, und die 
Brautmutter Anigja jelber im heiteren Raufch einmal über das andere verfichert, dab 
Alle betrunken feien, ergreift es ihm mit übermächtiger Gewalt; inmitten der Gäfte 


Die Berliner Theater. 453 


gefteht er feine Schuld. „Höre mich, rechtgläubige Gemeinde!” ruft er ihnen zu: er 
befennt, den Bauer Peter vergiftet, Akulina verführt, ihr Kind getödtet zu Haben. 
Alle Schuld nimmt er allein auf fi; er ift der von der Reue und der Buße ge= 
rührte Menjch, wie -fein Vater Alim dem Verwalter jagt. Wie Matrona die Ver— 
treterin des Böfen, ift ihr Gatte Akim der Vertreter des Guten, etwas wie der Genius 
des ruſſiſchen Volkes in feiner Treuherzigkeit und Unſchuld. Der Tolſtoi'ſchen An— 
ihauung gemäß erfcheint er in der dürftigften, armjeligften und ſchmutzigſten Schale: 
Akim ift „ein unanfehnlicher, gottesfürchtiger Bauer, der ftammelt und hüſtelt.“ 
Während des ganzen Stüdes bat er zum Guten geredet und ift immer zurückgewieſen 
worden, jebt fieht er doch noch den Sieg des Lichte. Ein Drama möchte ich die 
Dichtung nicht nennen, es find Sittenfchilderungen aus dem ruffiichen Dorfleben, die 
wahrfcheinlich auf der ficherften Beobachtung beruhen, aber darum nur einen um fo 
düfterern Gindrud des Aberglaubens und der Verkommenheit, der Trunkſucht und 
Lafterhaftigkeit machen. Aus diefem Elend und diefer Verrohung erhebt fich das Ende 
mit faſt märchenhaftem Glanze; der bis dahin ganz in Sinnlichkeit befangene Nikita 
wird don der Gnade Gottes berührt und umleuchtet. Das Stüd ift jchlicht und 
volfsthümlich in der Verknüpfung der Scenen wie im Auzdrud, epifch geht es in 
Nebenfiguren und Epifoden auseinander. Auf ein deutjches Publicum wirkt es der 
Natur der Sache nach mehr durch feine Fremdartigkeit als durch die Gräßlichkeiten 
feiner Handlung. 

Aber es ift nicht nur grufeliger, ſondern auch in feiner Ausführung kräftiger und 
originaler ala dad Drama von Arno Holz und Johannes Schlaf, „Die Familie 
Selide“. Während in dem Tolftoi’schen Schaufpiel fich wenigſtens einige Scenen 
dramatisch fteigern und die Handlung von Act zu Act fortjchreitet, bietet „Die 
Familie Selide” nichts ala ein Berliner Stimmungsbild, Grau in Grau. Ohne jeden 
Gonflict, ohne jede Bewegung. Am Meihnachtsabend erwarten Frau Selide, eine 
verdrießliche, fummervolle, nörgelnde Frau, ihre ältefte Tochter Toni, ein braves, 
rechtichaffenes Mädchen, das fich und die anderen durch ihre Arbeit erhält, zwei Söhne 
und das feine im Sterben liegende Lieschen den Vater. Eduard Selide ift Buch— 
halter dem Zettel nach, für die Verfaffer ift er der Trunfenbold, wie er im Buche 
fteht. Um zwei Uhr Nachts ftolpert er die Treppen hinauf, einen Weihnachtsbaum 
in der einen, eine Pfannkuchendüte in der anderen Hand. Nun beginnt eine Lärm- 
und Heuljcene, die an Naturwahrheit und Dede ihres Gleichen ſucht. Viele Schrift: 
fteller haben die Trunkſucht gejchildert, aber treuer, platter und gemeiner als Arno 
Holz und Johannes Schlaf ift es bisher feinem gelungen. Denn bei Gerhart Haupt- 
mann ift gleich die Bevölkerung eines ganzen Dorfes, bis zu den Säuglingen herab, 
der Branntweinpeft verfallen, und das Widerliche der Schilderung jchlägt beftändig in 
die groteöfe Ungeheuerlichkeit um, in der „Familie Selide” fällt alles Licht auf den 
einen Zrunfenbold, der eine halbe Stunde auf der Bühne hin- und hertorfelt lallt 
und rülpft, um fich fchlägt und ftinkt, bis zu feiner Entnüchterung und unferer Erlöfung 
Lieschen ftirbt. Das gibt der verlogenen Sentimalität der Verfaſſer die willfommene 
Gelegenheit, die „Familie Selicke“ malerisch um das Sterbebett zu gruppiren. Noch 
verlogener ift der Entſchluß Toni's, die Hand eines Gandidaten Guftav Wendt auszu- 
ichlagen, der ihrettivegen zwei Jahre bei ihren Eltern als Chambregarnift ausgehalten 
und gerade jebt eine Stelle ald Doripfarrer befommen hat. Sie will fich ihren Eltern 
opfern. Welche Romantik in der Dachlammer, vier Treppen hoch, in dem Herzen 
einer Mäntelnäherin! Und wenn es nun wenigſtens bei dem Opfer diefer neuen 
Iphigenie bliebe, aber der Gandidat, der am Vormittag des erjten Feiertags abreifen 
muß, drüdt ihr die Hand zum Abjchied: „Ich komme wieder!” Drei Acte hindurch 
haben wir die Seefranfheit erdulden müffen, um zu diefem gewiß nicht ungewöhnlichen 
und gar nicht naturaliftifchen Schluffe zu gelangen. Mißbräuchlicher als auf dieje 
Simpelei ift nie der vornehme Name Drama angewandt worden. In dem berlinifchen 
Dialekt, deffen humoriſtiſcher Kraft fich die Verfaſſer, da fie ihn mehr radebrechen als 
iprechen, auch nicht in einem Zuge bewußt find, geben fie eine Photographie der 


454 Deutiche Rundſchau. 


Alltagswirklichkeit, der man die Schärfe und Genauigkeit der Beobachtung und der 
Wiedergabe gern zugefteht. Mit der dramatifchen Kunſt Hat das Merk nichts zu 
ſchaffen, es ift eine Notiz aus dem Polizeibericht unter dem pejfimiftischen Ber: 
größerungsglafe. 

Obgleich das geheimfte Weſen und der innerfte Kern der Anzengruber’jchen Volls— 
ftüde von einem norddeutſchen Publicum ſchon ihres Dialekts und ihrer Stammesart 
wegen nicht völlig verftanden und genoffen werden können, faflen fie doch beftändig 
ftärfere Wurzeln bei und. „Der Pfarrer von Kirchjeld* — „Der Meineidbauer" — 
„Die Kreuzelichreiber” gehören ſchon zu dem jtändigen Repertoire unferer Theater. 
Ihnen Hat fich jetzt das Wiener Volksſtück „Das vierte Gebot”, wenn auch mit ge 
ringerem Erfolge, zugefellt. Die beiden Fabeln, auß denen fi) das Schaufpiel zu: 
fammenfeßt, find nicht innig genug mit einander verbunden, um eine dramatiiche 
Steigerung zu ermöglichen. Statt fi in einem Höhepunkt zufammenzufchließen, 
fließt das Ganze auseinander. Zu diefem Mangel in der Compoſition tritt eine ge 
wiffe Unklarheit des Grundgedanken. Wenn Hedwig Hutterer, die um ihren Eltern 
zu gehorchen, ihrer Jugendliebe zu ihrem Klavierlehrer entjagt, einen reichen Wüſtling 
geheirathet hat und in der Ehe krank umd unglüdlich geworden ift, in jchmerzlicher 
Anklage ſich gegen das vierte Gebot erhebt, defjen Verheißung an ihr nicht in Erfül- 
fung gegangen ift; wenn die Kinder des Ehepaars Schalanter — die Frau ift eine 
finnlich gemeine Natur, der Mann ein Bummler, Wirthahausläufer und Prahler — 
ins Elend gerathen, die Tochter eine Dirne, der Sohn ein ZTodtjchläger wird, der im 
Jähzorn feinen Feldwebel erjchießt, jo hat das Mißgeſchick Hedwig's wie die Ver: 
ſchuldung Martin’s mit dem vierten Gebot nichts zu jchaffen. Es wird immer beſſer 
fein, daß die Kinder auch fchlechte Eltern lieben und ehren, als daß fie fich von 
ihnen abwenden, ihnen troßen und fie verachten. Daß oft das böfe Beiſpiel der 
Eltern die Kinder verdirbt, daß wir zuweilen eher unjerm Herzen als dem Befehl 
eine Vaters folgen jollen, kann dem Dichter billig zugejtanden werden, aber das 
vierte Gebot wird davon nicht berührt. Der Reiz des Stüdes beruht in der Klein— 
malerei, mit der die Berhältniffe des Wiener Bürgerftandes, oben und unten, feine 
Lebensgewohnheiten, jein Leichtfinn und feine Vergnügungsfucht dargeftellt werden. 
Der verfommene reihe Wüftling Stolzenthaler, der gegen ihren Willen die arme 
Hedwig heimführt, und der proßige und polternde Hutterer, der in blindem Gigen- 
dünkel feiner Klugheit fein Kind opfert, um nachher bei dem Anblid ihres Jammers 
in Thränen zu zerfließen, find eben folche Typen von überzeugender Wahrheitskraft, 
wie Vater und Sohn, Mutter und Tochter Schalanter und die alte Großmutter, in 
der ſich wie in Tolſtoi's Alim das Gewilfen des Volkes verkörpert. Es ift nicht 
fowohl die glüdliche Verſchlingung und Löfung feiner Fabeln, als die Kunſt feiner 
Charakteriftit, die Anzengruber unter unfern modernen Dramatifern einen jo hervor— 
ragenden Pla angewieſen hat. Er fchafft immer lebendige Gefchöpfe, nicht nur 
Bühnenfiguren, aus der Fülle feiner Erfahrung, aus der Unmittelbarfeit der Wirk: 
lichkeit kühn und feſt herausgegriffen und mit einer Sicherheit, die felten ihres Ein- 
druds verfehlt, Hingeftellt. Die Unficherheit beginnt bei ihm, jo bald er fich in die 
Sphäre des höheren Geſellſchaftslebens und in das feinere Nervengeflecht der Bildung 
verirrt. Im „vierten Gebot“ leidet das Verhältniß Hedwig's zu ihrem Klavierlehrer 
Robert Frey, dem wir fpäter ala Feldwebel begegnen, an jolcher unwahrjcheinlichen 
Romantif. Aber man fieht über diefe Schwächen hinweg, jo lange man im Theater 
jaal gleihfam im Bann der Naturwüchfigkeit Tiegt, in der die Familie Schalanter 
wie leibhaftig vor uns fteht. 

Ganz aus dem Rahmen der Anjchauungen und Beltrebungen, welche die „Freie 
Bühne“ auf ihr Programm gejchrieben, fiel das Trauerfpiel in fünf Acten von Arthur 
Fitger „Bon Gottes Gnaden“. Der Dichter der „Here“ iſt in dieſem phantaftiich 
romantifchen Puppenfpiel nicht wieder zu erfennen. Höchſtens in ber Vorliebe für 
das bunte Bühnenbild, in dem er und bald ein Feſt der vornehmen Gefellichait im 
Walde, bald einen Aufzug der Armen und Waifen, der Blinden, Krüppel und Lahmen 


Die Berliner Theater. 455 


im Thronfaal eines fürftlichen Schloffes vorführt. Schon der Gegenfaß, von dem er 
ausgeht, daß Gottesgnadenthum und reine Menjchenthum fich gegenjeitig ausfchließen, 
ift eine demofratifche Mebertreibung und die Form, in der er ihn zum Ausdrud bringt, 
eine Unmöglichkeit. Zur Zeit, ala der König von Preußen gegen Paris vorrüdt und 
von Dumouriez durch die Kanonade bei Valmy in feinem Marjche aufgehalten und 
zum Rüdzuge gezwungen wird, heirathet eine deutiche Fürftin Anna Zeonore, in einem 
„SKleinjtaat am linken Rheinufer”, ihren Milchbruder, einen Forjtwart Wolfgang. In 
einer wunderjchönen Herbjtnacht, in der Waldcapelle traut fie der Klausner. Selbſt 
in einem Märchen aus dem Mittelalter würde dies der Gipfel des Phantaftifchen fein, 
und nun. denfe man e& fich in der breiten Schilderung aller Uebel und Schwächen, 
aller Schändlichkeiten und Lächerlichfeiten des Kleinfürſtenthums in der Zopfzeit. Auf 
der einen Seite das verliebte Ehepaar, auf der andern Willkür, Laſter, Elend und 
Unterdrüdung, der rechte Höllenbreughel. Schnell genug zerreißt denn auch der 
romantifche Schleier für die Liebenden; in ihr kämpft beftändig die Fürſtin von Gottes 
Gnaden mit dem verliebten Weibe, in ihm erwacht der Mannesſtolz und der demo= 
kratiſche Fanatismus. Er ftellt fih an die Spike der Aufrührer und nöthigt die 
Hürftin in einer grotesfen Scene, Krone und Hermelinmantel abzulegen und gleichjam 
ihr Gottesgnadenthum abzuſchwören. Gehorjam, aber innerlicdy gebrochen, folgt fie 
ihm in fein einfames Forſthaus. Einen Verſuch, den ihre Verwandten und Anhänger 
wagen, fie wieder in ihre Rechte einzufeßen, jchlägt er blutig nieder und fchilt fie, 
die Unfchuldige, die von dem Unternehmen nichts gewußt hat, Lügnerin und Ver: 
rätherin. In feiner rohen Weife mißhandelt er fie noch mehr mit feinen Liebkojungen, 
ala mit feinen Schlägen: in ihrer Verzweillung ergreift fie im letzten Aufflammen 
ihrer edlen Seele ein Meffer und ftößt es ihm in die Bruft. Ueber den Sterbenden 
wirft fie fich aufgelöft in Schmerz und Thränen Hin, und das eindringende Volk 
ichleppt fie ala Mörderin zum Tribunal. Die Abenteuerlichkeit des Trauerſpiels ver— 
Ihärjt fich für den feiner empfindenden Zufchauer noch durch den unbejchreiblichen 
Schwulſt der Sprache, die nicht den leifeften Anklang an den Ton der Zeit befikt, 
und bie bejtändige Gegenüberftellung der blaueften Romantik und der plumpjten All— 
täglichkeit. Man jollte meinen, der demofratifche Haß des Dichter gegen die Fürſten 
müfje feine Phantafie zur Erfindung ſchwerer Unthaten gegen Unjchuldige beflügelt 
haben, aber er weiß uns nichts als eine Mädchenverführung und die unmenfchliche 
Beitrafung eines zuchtlofen Soldaten ala die große Verjchuldung des Gottesgnaden- 
thums gegen das arme Volk zu zeigen. Im Uebrigen bringt er „olle Kamellen“ vor, 
den vom Dache herabgeichofjenen Dachdeder und den bemitleidenswerthen Diener, der 
fi) eine Lähmung zuzog, weil er des Nachts in den Teich ſteigen mußte, die Fröſche 
zu beruhigen, deren Gequad die „hochjelige Tante der Fürftin Anna Leonore” im 
Schlafe ftörte. Auf dem Parodie- Theater hätte das Trauerjpiel einen raufchenden 
Erfolg erworben, auf der „Freien Bühne“ konnte es nur ernfthaft genommen werden 
und erlag dem einjtimmigen, fröhlichen Gelächter. 

Das Deutſche Theater Hat mit feinen Neuheiten jo wenig wie das Schau— 
fpielhaus einen durchichlagenden Erfolg zu verzeichnen, den beiten Treffer hat e8 noch 
mit einer Neubelebung des Volkajtüdes „Mein Leopold“ von Adolph 2’Arronge 
gezogen. Die Neigung des Publicums für das Einfache und Volksthümliche ift auch 
diefem vbortrefflichen Stüde zu Gute gefommen und hat den leichten Staub verwifcht, 
den fiebzehn Jahre darauf gehäuft. Die eigentlichen Neuigkeiten, die uns das Theater 
bot, waren am Sonnabend, den 15. Yebruar, ein Luftjpiel in vier Auf- 
zügen von Adolf Wilbrandt „Der Unterftaat3fecretair”, und zwei nor» 
diſche Dramen, ein Hiftorifches von Henrik Ibſen in vier Aufzügen „Nordiſche 
Heerfahrt” am Mittwod, den 12. Februar, und ein moderne „König 
Midas“ in vier Aufzügen von Gunnar Heiberg, dag am Sonnabend, dem 
29. März zur erften Aufführung fam. Wilbrandt’3 Luftfpiel iſt eine liebenswürdige 
Grille, in der die Wirklichkeit anmuthig auf den Kopf geftellt wird. Was uns der 
Dichter vorführt, Fällt nicht gerade in das Weich der vierten Dimenfion, gehört aber 


456 - Deutſche Rundſchau. 


auch nicht zu den Wahrſcheinlichkeiten in der Welt, wie fie nun einmal iſt. Marianne, 
ein geiftreiches, unbejchäftigtes Mädchen über die Zwanzig hinaus, kommt, da fie 
nicht weiß, was fie mit fich und ihrer Zeit anfangen foll, auf den Gedanken, poli= 
tiiche Feuilletons zu jchreiben, in denen fie den Unterftaatsfecretair Helmuth von 
Stargard mit wüthendem Haß und Teidenjchaftlicher Beredtfamkeit angreiitt. Was 
bat ihr der Unterftaatöfecretair getfan? Sie kennt ihn gar nicht, in der Mittelftadt, 
in der fie Tebt, fcheint ihm auch fein Menſch gejehen zu Haben, und Photographien 
gibt es von Helmuth von Stargard nicht: er läßt fich nicht photographiren. Aber 
ihr Bruder Kurt hat ihr gejagt, daß diefer Mann ein Volksfeind und der Fluch des 
Landes jei, und da fie im Grunde nur das Sprachrohr ihres Bruders ift, denn er 
ift der Gorrefpondent der demokratiſchen Zeitung, hat fie billigerweife feinen Haß 
zu dem ihrigen gemacht. Drollig genug find diefe radicalen Gejchwilter die Kinder 
eine gutmüthigen penfionirten Oberften yelfing, der von ihrer Schreibthätigfeit nichts 
ahnt und mit dem Interftaatäfecretair gemüthlich Schach jpielt, während Marianne 
am Nebentiſch ihre Brandbriefe, unterzeichnet Marius, verfaßt. Herr von Stargard 
verweilt nämlich, natürlich unter einem fremden Namen, im Schuß feiner Photo- 
graphielofigkeit, in der Stadt; in einem kleinen Seebade hat er die Pflegetochter des 
Oberſten kennen gelernt, Feuer gefangen und fie zu ihren Verwandten zurüdbegleitet. 
So hat er fich harmlos in Felſing's Haus eingeführt und verliert dort fein Herz nad 
alter Comödienſitte im Augenblid an die fchelmifch geiftreiche Marianne. Da er auf 
Urlaub ift und fi) mit Staatägefchäften und Politit jo wenig müht, daß er nicht 
einmal die Artikel von Marius lieſt, hat er Muße genug, außer Mariannen noch 
einer reichen und hübjchen Wittwe, die er aus den Geſellſchaften der Hauptftadt kennt, 
den Hof zu machen. Nun gibt es drei Acte hindurch ein Blindekuhfpiel und die be— 
fannten Berwechjelungen und Mifverftändniffe, die fich auf der Bühne um fo Luftiger 
ausnehmen, je unmöglicher fie in der Wirklichkeit find; muß doch jogar Herr von 
Stargard nad Mariannens Dictat eine Satire gegen fich jelbit, feine Perfon und 
Amtsführung, für die demofratijche Zeitung fchreiben, bis jchließlich Alles entdedt 
wird und drei verlobte Paare auf der Bühne ftehen. Wilbrandt’3 Heldin ift eine 
jener nedifchen, widerfpruchsvollen, koboldartigen FFrauengeftalten, in deren Zeichnung 
er fich gefällt; fie jpringt aus einem Aeußerſten in das andere; heute ſchreibt fie die 
fchneidigiten Marius-Artikel, morgen bädt fie den beiten Eierfuchen; eben noch hat fie 
die begeiftertfte Rede für die Gleichberechtigung des weiblichen Gejchlechts gehalten 
und finft gleich darauf dem geliebten Manne als unterthänige Sklavin and Herz. 
Ihr ganzes Hin und Her, Unruhe und Haft ift nichts ala Liebesfehnfucht nach dem 
Rechten. Man empfängt von dem Stüd, troß des Anfcheina unmittelbarer Gegen- 
wärtigfeit, den Gindrud einer anmuthigen, aber altmodifchen Saloncomödie, in der 
die Plauderei über Alles und Nichts die Handlung und die Gharakteriftil in den 
Hintergrund gedrängt hat. 

Ibſen's Drama „Nordifche Heerfahrt“ gehört einer früheren Periode feines 
Schaffens an und berührt fich noch am nächiten mit feinem Schauspiel „Die Kron— 
prätendenten”, nur daß bier das Hiftorifche, während in der „Norbifchen Heerfahrt“ 
das jagenhaftmythifche Element vorherriht. Das Stüd ift eine Art freier Phantafie 
über die Giegfried- und Brunhildenjage. Sigurd der Starte hat dem Gunnar die 
dämonifche Hjördis zum Weibe gewonnen, indem er in Gunnar’s Kleid und Waffen 
in ber Nacht den Eisbären tödtete, den fie in ihrer Kammer hielt: nun kommt er 
nad) Jahren zu Gunnar’ Hof in Helgeland mit feinem Weibe, der lieblichen Dagny. 
Zwiſchen den Frauen und den Männern entbrennt durch Hjördis' Eiferſucht und Stolz 
Biwietracht und Kampf. Und da fie überzeugt ift, daß Gunnar in dem Zweilampf 
gegen Sigurd unterliegen würde, tödtet fie jelbft den Mann, den fie liebt, mit einem 
Pfeilſchuß und ſtürzt ſich darauf von der Klippe ins Meer. In der „wilden Jagd, 
die durch die Luft ſauſt“, erkennen die Ueberlebenden ſie auf einem ſchwarzen Pferde, 
allen voran. Die knappe, wuchtige, dunkeltönige Sprache, welche die unklaren, un— 
bewußten und unausgeſprochenen Empfindungen dieſer Nordlandsmänner und der wal⸗ 


Die Berliner Theater. 457 


fürenhaften rau trefflich wiedergibt; die Dämmerung zwifchen Heidentfum und 
Chriſtenthum, die über der Handlung liegt, machen die Entwidlung und Löfung ber 
Fabel noch unverftändlicher für ein modernes Publicum, als fie e& ſchon an ſich ift. 
Für das Deutjche Theater war die Wahl diejes Stüdes zur Aufführung ein um fo 
größerer Fehlgriff, da ihm die fchaufpielerifchen Kräfte fehlen, welche Figuren wie 
Hiördis, Sigurd und dem alten Dernulf eine gewiffe Leibhaftigkeit geben könnten. 
Nicht viel beſſer ala der „Nordifchen Heerfahrt“ erging e8 Heiberg’3 „König Midas“, 
Unfer Publicum bringt diefen nordifchen Stüden, deren Berechtigung auf ihrer heimath- 
lichen Bühne und deren Bedeutung für die Entwidelung des Theaters in Dänemarf, 
Schweden und Norwegen ich nicht beftreite, eine bewunderungswürdige Geduld ent- 
gegen, aber zuweilen reißt ihm denn doch ihrer anfpruchsvollen Wunderlichkeit gegen— 
über diejer Geduldsfaden. „König Midas“ ift wie Ibſen's „Wildente” eine Varia— 
tion des Kampfes gegen die gejellichaftliche Lüge und der idealiftifchen Forderung 
nah umbedingter Wahrheit. Grade wie Ibſen empfindet auch Heiberg, daß in diefem 
Stoffe im Grunde ein Luftipiel jtede, daß die Leute mit der beftändigen Moralpredigt 
auf den Lippen, die Wahrheitsjäger um jeden Preis, in der gebrechlichen Einrichtung 
diefer Welt ebenjo lächerlich und jchädlich feien, wie die Dutzendmenſchen, welche fich 
die Lebenslüge nicht allzufehr zu Herzen nehmen, aber er vermag fich ebenjo wenig 
wie Ibſen auf die freie Höhe des Humors zu erheben. Björnfon, Ibſen, Strindberg, 
Heiberg — fie alle find Satirifer mit einem Stich in das Bittere, Herbe und Tra= 
giiche, ohme jede feelifche Heiterkeit und Freiheit. In der „Wildente“ muß ein uns 
ichuldiges Kind den thörichten Wahn des jungen Phantaften büßen, aus Alltags- 
geichöpfen, die vortrefflich im Sumpf vegetiren, Adelsmenſchen machen zu wollen; im 
„König Midas“ wird eine Lebensluftige Wittwe durch die Entdeckung der Wahrheit 
um den Berftand gebradt. Nur daß bier fich die Sache noch graußlicher, herz— 
fränfender und nichtswürdiger abfpielt, ald in Ibſen's Schaufpiel. Denn Gregers 
Werle iſt ein ſelbſtloſer Narr der idealiftifchen Forderung, Heiberg’3 Held dagegen, 
der Redacteur Johannes Ramfeth, ein Wahrheitslämpfer um feines Vortheils willen. 
So jehr ift er von Selbſtſucht und Heuchelei angeſteckt, daß der deutſche Zufchauer 
unwillfürlich auf den Gedanken fommt, daß eine perfönliche Satire diefer Schilderung 
zu Grunde läge. Ramſeth verficht in feinem Blatte die Mäßigfeit, die Sittlichkeit, 
die Wahrheit, die Grundjäße der äußeriten Linken. Wenn er einen Gegner trifft, iſt 
er jchnell fertig, ihn für einen Trunkenbold oder einen Wüftling zu erklären. Einen 
guten, bejchränkten Storthingsmann, deffen Wahl die Partei durchgejegt hat und ber 
fih anmaßt, nach feinem Gewiffen abjtimmen zu wollen, droht er mit der Entziehung 
jeines Mandats. Seine Handlungen ftrafen feine Worte Lügen. Trotzdem ift e8 ihm 
gelungen, einen Verein verzüdter Frauen zu gründen, die ihn ala Sittlichfeitsapoftel 
vergöttern. Die ganze Figur Fällt zunächit, wie ihre Umgebung, in das Komifche, 
und der weile Narr des Stückes hänjelt fie denn auch weidlich im erften Acte durch. 
Da jchlägt die Fabel durch die Liebe Ramſeth's zu der reichen jungen Wittwe Anna 
Hielm um. Biäher ift er ihrer ficher gewejen, jet verräth fie eine Neigung für einen 
andern Mann, Kai Dahl, und erweckt dadurch feine Giferfucht und feinen Groll. Um 
ihr zu beweifen, daß alle jüngeren Männer treulos und wetterwendijch find, erzählt 
er ihr, daß ihr verftorbener Mann, mit dem er jelbft eng befreundet war, ein ftraf- 
bares Verhältniß mit ihrem Dienjtmädchen gebabt und tritt den Beweis der Wahr- 
heit an, den zu führen für ihm nicht jchwer ift, da das Mädchen nachher einen Setzer 
in feiner Druderei geheirathet hat. Diefe Enthüllung ift für Anna ein Himmelsfturz: 
mit jchwärmerifcher Neigung hängt fie noch jeßt, zwei Jahre nach feinem Tode, an 
ihrem Gatten; jterbend hat er ihr verfichert, daß er, feit er fie geheirathet, fein anderes 
Weib geliebt habe als fie. Warum hat er fie belogen? Die ewige Grübelei darüber 
wird für fie etwas mie die verhängnißvolle Gabe des Königs Midas; unter feiner 
Hand verwandelte fich Alles, was er berührte, in Gold, für fie wird Alles zu ihrem 
Schmerz und ihrer Verzweiflung. Mit dem Ausbruch des Wahnfinns jchließt das 
Stück; „König Midas! König Midas!“ fchreit fie dem hochmüthigen Ramfeth zu. 


458 Deutſche Rundſchau. 


Man meint, er müßte von ihrem entſetzlichen Lachen wie von Gottes Hand berührt 
zuſammenſinken, er richtet ſich indeſſen bald aus ſeiner erſten Verſtörung wieder auf 
und ruft aus: „Aber es war doch die Wahrheit!” Als ob die Wahrheit den Seelen— 
mord, den er begangen, entjchuldigen könnte. Das pſychologiſch Unmwahrfcheinliche 
ber Fabel fpringt aus der Berichterjtattung ſchärfer hervor , ala im Theater: die be— 
ftändig aufgeregte und nervöfe Frau Anna Hielm erjcheint da don vornherein in einer 
Ueberjpannung der jeelifchen Thätigkeit, jo daß ihr Wahnfinn nicht völlig unerwartet 
auftritt. Nur daß dadurch das MWiderliche des Vorgangs nicht gemildert wird, eben 
fo wenig wie durch die eingeitreuten Luſtſpielſeenen. Es mag, wie Gerhard Hielm 
einmal ausruft, in Norwegen jehr nöthig fein, Luft zu fchöpfen, Humor zu haben und 
hell aufzulachen — aber die Schaufpiel it doch das Gegenteil eines humoriſtiſchen 
befreienden Gelächters; es legt jich den Zufchauern wie ein Alp auf die Brut. 

Das Berliner Theater erweitert vor Allem jein Repertoire: Bühne und 
Publicum find in gleicher Weife für die Pflege des claffiichen Drama’s und des 
hiſtoriſchen Schaufpiels geftimmt. Hierin ruhen die Wurzeln feiner Beliebtheit und 
jeiner Anziehungskraft. Die vergangenen Monate haben das Repertoire erfolgreich mit 
Schiller's Trauerfpiel „Wallenjtein’s Tod“ und mit dem „König Dedipus“ 
des Sophofles bereichert. Das griechifche Trauerſpiel hatte Eugen Zabel in 
Anlehnung an die Ueberſetzung von Wilhelm Jordan und die Bühnenbearbeitung 
Adolf Wilbrandt’3, die vor einer Reihe von Jahren im Schaufpielhaufe zur Auf 
führung gelangte, gejchiet für da8 Berliner Theater eingerichtet. In angemeflener 
Darftellung und Ausftattung übte die Dichtung auf ein Publicum, das ihr in jeiner 
überwältigenden Mehrheit zum erften Male entgegentrat, ihre alte ergreifende Gewalt. 
Ihr Kern berührt fich mit der modernen Lehre von der Vererbung der Eigenſchaften 
und ftellt in feiner Verſtrickung von Schuld und Schidjal eine Familientragödie dar, 
wie fie Ibſen zu fchildern liebt. Weniger Glück hatten die Verſuche, den „ge: 
fefjelten Prometheus“ des Aeſchylos und die Scenen aus den „Bhöni: 
cierinnen“ des Euripides, die Schiller überjegt hat, auf die Bühne zu bringen. 
Das Schiller’sche Fragment ift ſchon durch ſeine Schlußloſigkeit bei einer Aufführung 
zur Wirkungsloſigkeit verurtheilt und das Drama des Aeſchylos, das Mittelſtück eines 
Myſteriums, entzieht ſich völlig mit ſeinen allegoriſchen Geſtalten, Göttern und 
Okeaniden, mit den fortwährenden religiöſen und mythologiſchen Andeutungen und 
Beziehungen dem modernen Verſtändniß. Dafür geftaltete ſich am Freitag den 
2. Mai die Feier des bdreißigjährigen Künftlerjubiläums Ludwig Barnay’s zu 
einem Feſttage für das Berliner Theater. Don Nah und Fern wurde der Käünſtler 
begrüßt und geehrt; die großen englifchen Schaufpieler brachten ihm ihre Huldigung 
dar, und am Abend überfchüttete das Publicum feinen Liebling mit Kränzen und 
Beifall. In Shakeſpeare's „Julius Cäſar“ fpielte er den Marcus Antonius, die erfte 
Rolle, in der er am 1. Mai 1874 als Mitglied des Meiningen’schen Hoftheaters vor 
dent Berliner Publicum erfchienen war. Seitdem ift troß aller feiner Wanbderzüge 
Berlin die Heimftätte jeines fünftlerifchen Ruhmes geblieben; Hier Haben ſeine 
Leijtungen die freudigjte, beinahe eine ungetheilte Anerkennung gefunden; bier ilt er 
durch die Begründung des Berliner Theaters den Bedürfniſſen gerade des gebildeten 
Mittelftandes nach theatralifchen Genüflen jowohl durch die Auswahl der Stüde wie 
durch eine große Anzahl billiger Plätze entgegengefommen. Sein hervorragendes Regie 
talent, dag fich in der Schule der Meininger gebildet hat, wetteifert mit feiner ſchau⸗ 
ipielerifchen Begabung, die Vereinigung beider macht die Bedeutung und das Glüd 
des Berliner Theater? aus. So war es natürlich, daß fich der Kreis der feier weit über 
die Berufsgenoſſen Barnay's und das Schriftitellertfum hinaus auf die Mafle des 
Publicums ausdehnte. Gegenüber diefen Vorgängen können die Neuheiten, die das 
Theater brachte, faum eine eingehendere Erwähnung beanfpruchen. Ein Schauipiel 
in bier Acten von Hans Norweg und Gurt Kraatz „Antoinette“, das in 
einer breiten und wunderlich verjchlungenen,, zuleßt ſich gar in das Tragiſche ver⸗ 
ſteigenden Handlung den Gegenſatz wiſchen der leichten und fröhlichen Lebens— 


Die Berliner Theater. 459 


anſchauung eines Weltlindes, einer Schaufpielerin, die einen jungen Kaufmann ges 
beirathet Hat und den PVorurtheilen der Gefellichaft in einer Heinen Provinzialftadt 
nach der alten Schablone jchildert, erlitt eine völlige Niederlage, und von den vier 
Luſtſpielen in je einem Act, die Emil Granichftädten unter dem Gejammt- 
titel „Salante Könige“ am Donnerjtag den 13. März aufführen Ließ, 
haben fich nur zwei auf dem Üepertoire erhalten; das eine die Annäherung 
Ludwig’ XIII. an feine lange vernachläffigte Gattin Anna don Defterreih, das 
andere die Werbung Ludwig's XIV. um die Wittwe Scarron’s, die jpätere Marquiſe 
von Maintenon, darftellend. Den beiden anderen, die ein verunglüdtes Liebesabenteuer 
Heinrich's IV. und Ludwig’ XV. fchilderten, vermochte das Publicum feinen Geſchmack 
abzugewinnen. Granichſtädten's Idee erjcheint reicher und auägiebiger, als die Aus— 
führung fich fchließlich zeigt. Die Wiederholungen, diejelben Accorde haben fich troß 
des Geſchickes, mit dem er im Einzelnen verfchiedene Töne anjchlägt, nicht vermeiden 
laffen, und das Spielerifche, Nichtige und in fid) Dede diefer „Galanterien” erweckt 
feine wärmere Theilnahme. Am eigenthümlichjten nahm fich noch ein phantajtifcher 
Scherz in einem Act von Hans Hopfen „Hexenfang“ aus, der am Mittwoch 
den 5. März zur erften Aufführung fam und in der originellen und Eräftigen Weife 
des Dichters tolle Leidenſchaft und treue Liebe, die Luſt einer Nacht und die Hingabe 
für das Leben Iebendig einander gegenüberjtellte. 

Die größte Beweglichkeit nnd die reichjte Mannigfaltigkeit in der Vorführung der 
Neuigkeiten hat wieder das Leffing= Theater bewiefen. In jedem Monat hat es 
mehrere neue Stüde zur Aufführung gebracht. Daß es mehr ala eine Niete dabei 
gezogen, Tann fein Wunder nehmen. Ein Schaujpiel in vier Acten von Ludwig 
Ganghofer und Marco Brociner „Die Hochzeit von Baleni“, dad in 
dem deutſchen Bolfstheater zu Wien das Publicum immer von Neuem anzieht, 
jcheiterte bei uns am Donnerftag den 27. Februar völlig. Es ift ein Stüd 
wüjter Zigeuner: und Bojarenromantit aus Halbaſien, für die unjeren Zufchauern 
jedes Verſtändniß abgeht, dabei vorgetragen in jenem jchwäüljtigen Stil, der an den 
Ton der Haupt: und Staatsactionen erinnert. Auch Anzengruber's Voltaftüd 
„Das dierte Gebot“, welches das Lejfing- Theater von der „Freien Bühne“ über- 
nahm und am Sonnabend den 15. März aufführte, brachte e8 nur zu einer 
geringen Anzahl von Borftellungen. In dem Vergleich, zu dem e8 herausforderte, 
zwiſchen der Wiener Verlumptheit und dem Berliner Leichtfinn in Sudermann’s 
„Ehre“, zwiichen den Schalanter’3 und den Heinicke's, find zuletzt die Heinicke's 
Sieger geblieben. Ein Schauspiel in drei Acten von Octave Feuillet „Ju— 
liette“ fam ebenfalla ohne Erfolg am Montag den 31. März zur erjten Aufs 
führung. Zwiſchen Ernſt und Scherz behandelt es die Scheidungsfrage, die jet auf 
der Tagesordnung des franzöfiichen Theaters jteht. Eine junge Baronin Juliette 
entdedt, daß ihr Gatte ein fträfliches Verhältnig mit ihrer beften freundin, der 
Gräfin Glotilde, unterhält — derfelben, die ihre Ehe vermittelt hat. Es war ber 
einzige Ausweg, den Glotilde fand, fich und ihren Geliebten vor der Eiferfucht ihres 
Gemahls zu retten. Raſch entjchloffen beantragt Juliette die Scheidung: aus dem 
tragischen Ton fällt die Fabel damit in den fomifchen. Denn der Eluge Advocat 
merkt gleich, daß die beiden Gatten fich troß alledem gut find und im Ernſte gar 
nicht an eine Trennung denken. Roger fett fich mit Glotilden auseinander und kehrt 
reuig zu Julietten zurüd. Bei aller Feinheit des Dialogs und der Charakteriſtik ift 
da3 Ganze doch nur Paftellmalerei, ohne den luſtigen Uebermuth in Sardou's 
„Divorgons“, ohne Frifche in der Erfindung, ohne tiefere Wahrheit in den Charakteren. 
Ein echtes Schaufpielerftüd war das Quftjpiel im drei Ucten von Hans DOlden 
und Paul von Shönthban „Die Geigenfee“, da am Mittwodh den 
22. Januar zum erjten Male gegeben wurde. Ein lächerlicher Impreſario, der 
immer auf der Suche nach Talenten it, glaubt in einer Kleinen Stadt in der jungen 
Tochter eines Lehrers eine Geigenfee gefunden zu haben. Er nimmt fie und den Vater 
mit fi nach Berlin, um fie dort in Goncerten auftreten zu lafjen. Allein die Liebe 


460 Deutſche Rundſchau. 


macht ihm einen Strich durch die Rechnung, Gretchen findet in der Hauptſtadt ihren 
Otto wieder und entſagt dem Virtuoſenthum. An allerlei luſtigen Scenen, an ver— 
ſchiedenen lächerlichen Marionetten aus der Schaufpielerpraris iſt kein Mangel; wie 
in Günther's „Loni“ find Menſchen und Dinge einzig aus dem Gefichtäwinfel bes 
Theater? betrachtet und in die befannten Schablonen gepreßt. Daher fommt der 
Zufchauer ihnen gegenüber weder zu einem rechten Lachen noch zu einer wärmeren 
Theilnahme. Diefe Stüde ftehen weder auf dem Boden der Wirklichkeit noch jchweben 
fie in der Sphäre der Phantafie; fie bewegen fich in einer Art vierter Dimenfion, der 
das Publicum feinen Glauben mehr jchentt. Intereſſanter geftaltete fich die Vor— 
ftelung am Sonnabend den 2. Mai: fie brachte uns eine Komödie in zwei 
Acten von Eduard Bauernseld „Mädchenrache* und das in Dänemark viel- 
beiprochene und vielgejcholtene Schaufpiel in zwei Acten von Eduard Brandes, 
dem Bruder des Litterarhijtorifers Georg Brandes, den die „Deutjche Rundſchau“ zu 
ihren hervorragendſten und berühmteften Mitarbeitern zählt, „Ein Befuch“ in einer 
Ueberjegung von Julius Hoffory. 

Glüdlih ahmt Bauernfeld in feinem anmuthigen Scherzipiel die jpanifche Komödie 
in Erfindung, Tracht und Versmaß nad. Man merkt diefen leicht und glatt dahin- 
fließenden Trochäen, diefem Bilderreihthum und diefer munteren Laune das Alter 
ihres Verfaſſers nicht an. Eine junge, ftolze, reiche und jchöne Donna Aurora nimmt 
an einem Don Pacheco, der fie, al fie vom Pferde ftürzend in feine Arme fiel, ge 
füßt Hat, eine unblutige Rache: fie macht den Ritter, der in Salamanca fich zu einem 
juriftifchen Examen vorbereitet, in fich verliebt in der Abficht, ihm, jobald er fidh 
erklärt hat, ſchmählich abzuweiſen. Selbftverftändlich bleibt fie in der eigenen Falle 
ſtecken. Das Zierliche des Dialogs und die Lebenäheiterkeit, die das Luftipiel um— 
Ihimmert, muß mit der Schwäche der Fabel verfühnen. In dem dänifchen Stüd ift 
die Tendenz die Hauptjache, das Poetifche die Nebenfache. Seit zwei Jahren ift der 
reiche Gutsbeſitzer Kai Neergard glücklich mit feiner jungen Frau Florizel verheirathet, 
der Bater eines Kindes, das beide Eltern vergöttern. Da trifft ein freund, den er 
feit drei Jahren nicht gefehen und von dem er auch Feine Photographie befiht, der 
Aſſeſſor Emil NRepholt, auf feine Einladung zum Befuche bei ihm ein. Zum Entſetzen 
ber Frau, denn fie erkennt in Repholt den Mann, der fie vor Jahren verführt hat. 
Auf einer Reife, während eines Tages, den fie nach einer ftürmifchen Seefahrt gemeinfam 
in einem Wirthshauſe zugebracht haben. Am anderen Morgen haben fie fich getrennt, 
fie haben fich nicht wieder geſehen, fie fennen ihre Namen nit. Nun hat Repholt 
bei der Wiederbegegnung mit dem Freunde nichts Beſſeres zu thun, als ihm das 
Abenteuer zu erzählen, er ift ein cynifcher Verächter der Weiber und der Ehe. Aber 
auch das Gaftrecht achtet er jo wenig, daß er mit der Frau des Freundes das 
Abenteuer, das er mit dem unjchuldigen und unerfahrenen Mädchen gehabt hat, fort- 
jeen möchte. Florizel ftößt ihn mit Abjcheu zurüd und verlangt, daß er auf der 
Stelle das Haus verlaffe. Ihr Zorn, ihre Thränen, das bejtürzte Ausſehen Repholt's 
verrathen dem anfänglich arglofen Kai fchließlich Alles. In der erften Wuth will er 
den Freund niederftoßen, aber zur Befinnung gekommen, weifl er ihm die Thür; er 
will die Frau verftoßen, aber behält fie am Ende als Mutter feines Kindes im Haufe. 
Das Ding, wie man fieht, ift nicht Wleifch, nicht Fiſch. Wie das Stüd vorliegt, tft 
es ein erfter Act, dem noch zwei folgen müßten, um das Verhältniß zwifchen den 
Gatten wieder auszugleichen oder tragifch zu löſen. Der Schluß, den ihm Eduard 
Brandes gegeben, läßt die aufgeworfene Frage ohne Entſcheidung. Dom chriftlichen 
Standpuntt — „wer fi ohne Sünde fühlt, werſe den erjten Stein auf fie" — ift 
die brutale Wuth des Mannes gegen die arme Frau durchaus verwerflih; von dem 
Standpunkte eines neuen Sittengefeßes, dem ja der politifche Reformator Brandes zu— 
neigt, ift fie unmenjchlich und halbwegs lächerlih. Denn wenn auch in der Liebe die 
Freiheit gilt, ift e8 ein Mißbrauch der Gewalt, Florizel wegen eines Fehltrittes mit 
Vorwürfen und Nichtswürdigfeiten zu überhäufen, den fie begangen, ehe fie Kai kannte. 
Und auf welche Vergangenheit blickt Kai jelber zurück, der diefen Repholt jeinen beften 


Die Berliner Theater. 461 


Freund nennt! Dieſe Herren ziehen fortwährend gegen die gefellfchaftlichen Lügen und 
Einrichtungen mit großmächtigen Worten zu Felde und gerathen außer fich, wenn fie 
jelbft unter der Offenbarung der Wahrheit leiden. Sie erklären die Frauen für gleich— 
berechtigt und möchten ihr eigenes Weib erwürgen, weil fie ala Mädchen eine Lieb» 
ichaft gehabt. Zu diefer moralischen Jnconfequenz und Schwäche des Stückes gejellt 
fi ein künftlerifcher Mangel. Wir fehen feine Handlung vor uns, fondern hören 
zwei Erzählungen und den Grörterungen darüber zu. Und wenn uns diefe Gejchichten 
auch feinen Zweifel über die Schuftigfeit Repholt's laſſen, jo klären fie uns doch 
feineswegs über Florizel's Charakter auf. Wir müflen uns das junge, tweltfrembde, 
pbantaftifche Mädchen conftruiren, das in halber Unbewußtheit fich dem erſten Beten 
hingibt, aus der Frau, wie fie vor und Hintritt, ift es micht zu erfennen. 

Die bedeutſamſte Neuigkeit des Leffing » Iheaterd war ein Schaufpiel in vier 
Acten von Conftantin Prachs, „Das Bild des GSignorelli“, bad am 
Mittwoch den 5. Februar zum erften Male auf der Bühne erſchien. E& machte 
ung mit einem neuen charakterijtiichen Talente befannt. Um feinen Sohn, einen 
flotten Lieutenant, aus feinen Spielfchulden und vor dem Selbftmorde zu retten, er= 
klärt der Profeſſor Waede, ein gelehrter Kunftlenner, wider beſſeres Gewiſſen ein 
Gemälde, das der Kunfthändler Pfeiffer als ein Werk des Signorelli gelauft hat und 
gegen eine bedeutende Summe dem Fürſten anbietet, für eine Schöpfung jenes Meiſters. 
So wird der Kunſthändler ſein Bild los und ſchießt das Geld vor, das der junge 
Waede zur Bezahlung feiner Schulden braucht. Aber die Lüge zehrt an dem Xeben 
und der Seele des unglüdlichen Vaters; er wird wahnfinnig und zerjeßt das Bild des 
Signorelli mit einem Meffer. Der Werth und der Reiz des Schaufpiels beruhen in 
der Charakteriſirung. Wie die urfprünglich reine, ftille und befchauliche Gelehrten- 
natur des Profefjors, die fich gegen die Prunkfucht und Eitelkeit feiner Frau, gegen 
die Adelöverleihung fträubt und doch immer im Kampfe gegen den ſtärkeren Willen 
unterliegt, allmälig in die Schuld fich verjtridt und aus dem Neb feinen Ausgang 
findet, ift vortrefflich geichildert. Auch die Zeichnung der beiden Brüder, des älteren 
Oscar mit feiner heimlichen Leidenschaft zu der Verlobten feines Bruders, die er in 
einem großen Bilde als Loreley verherrlicht, und des leichtfinnigen, aber gutmüthigen 
Fri, des Kunſthändlers Pfeiffer, in deſſen Charakteriftit jede Aehnlichkeit mit der 
Schablone des Theaterböfewichts vermieden ift, verrathen eine fichere Hand. Schwächer 
find die Frauengeftalten: die Verlobte, die jchließlich auß der Hand des Officiers in 
die des Malers übergeht, und die muntere Schweiter, die nebenher läuft. Iſt es dem 
Verfafſer, gerade wie Hermann Sudermann, noch nicht gelungen, einen feſten drama— 
tiſchen Faden zu ſpinnen, iſt die Bervegung feiner Handlung auch noch fchwerfällig 
und gedehnt, jo kündigt fich doch zweifellos ein originelle® Talent mit kühnem Griffe 
an. Das Gejuchte und Künftliche in der Fabel hält man einem Erſtlingswerke wie 
billig zu gute. 

Von dem Rejidenz- Theater und dem Wallner- Theater ift diesmal 
wenig zu melden. Das erjte Hat zum hundertſten Male die Sardou'ſche Poſſe 
„Marquiſe“ aufgeführt: ein Dämchen, das fich ein Vermögen erworben hat, jucht 
einen Gatten mit adligem Namen, um in die Gefellichaft der anftändigen Leute ein- 
ireten zu können, und findet in einem verlumpten italienifchen Marchefe den ihrer 
würdigen Mann. Wie fich Beide gegenfeitig betrügen, bildet den nicht jauberen, aber 
[uftigen Inhalt des Stüdes, deffen Moral nad) dem Dichter darin befteht, daß es 
die Eine zu ihrem Reichtum ohne Achtung und den Anderen zu feiner Armuth ohne 
Ehre, troß all’ ihrer Berechnungen und Bemühungen, zurüdverjegt. Dem Wallner- 
Theater wollte in diefer Saijon fein Spiel gelingen, bis es ebenjalla in den Hafen 
einer franzöfifchen Poſſe, „Rigobert“, deren Inhalt fi) aus fortwährenden Miß— 
verftändniffen und Berwechjelungen zufammenfeßt, mit vollen Segeln einlie. Wie 
laut fi) auch die Jbjen- Gemeinde gebärdet, in der Mafle des Publicums ift die 
Tranzdfelei noch immer der Norwegerei thurmboch über. 

Karl Frenzel. 


Politifhe Rundſchau. 


— — 


Berlin, Mitte Mai. 


Die Thronrede, mit welcher KHaifer Wilhelm II. am 6. Mai die erjte Seſſion 
der achten Legislaturperiode des deutfchen Reichstages eröffnete, hat im In- und Aus: 
ande bei allen Anhängern des Friedens einen durchaus günstigen Eindrud gemadjt. 
Wie die ohne jeden Mißklang zum Abſchluß gebrachte Berliner Arbeiterfchug-Gonferenz 
unter den in gleichartiger Wirtbichaftslage befindlichen Staaten Europa’3 einen Aus: 
taufch der Meinungen darüber herbeiführen jollte, bis zu welchem Maße eine gemein: 
fame Anerkennung der gefeßgeberifchen Aufgaben in Bezug auf den Arbeiterſchutz fid 
feftftellen und durchführen laffe, wird diejer Gefichtspunft auch in der Thronrede im 
Zufammenhange mit der Ankündigung des weiteren Ausbaues der in Betracht fommen- 
den Gejehgebung geltend gemacht. Handelt es fich dabei in erfter Linie um die den 
Arbeitern zu gemwährleiftende Sonntagsruhe, ſowie um die durch Nücdkfichten der 
Menjchlichkeit und im Hinblide auf die natürlichen Entwidlungsgejeße gebotene Be 
ichränkung der Frauen» und Kinderarbeit, jo wird hervorgehoben, daß die von dem 
früheren Reichdtage gemachten Vorſchläge ihrem wejentlichen Inhalte nach ohne Nach— 
theil für andere Intereffen zu gejelicher Geltung gebracht werden können, daß ſich 
aber noch eine Reihe weiterer Beitimmungen ala der Verbefferung bedürftig und fähig 
erwiejen habe. In diefer Beziehung fommen namentlich die gefeglichen Anordnungen 
zum Schuße der Arbeiter gegen Gefahren für Leben, Gefundheit und Sittlichkeit, jowie 
über den Erlaß von Arbeitsordnungen in Betracht. Eine andere Vorlage joll die 
beifere Regelung der gewerblichen Schiedägerichte, ſowie eine Organifation diefer herbei— 
führen, die es ermöglicht, folche Gerichte bei Streitigkeiten zwiſchen Arbeitgebern und 
Arbeitern über die Bedingungen der Fortſetzung oder Wiederaufnahme des Arbeits- 
verhältnifjes als Ginigungsämter anzurufen. Wie anerfennenswertd nun auch das 
Beitreben ift, einen weiteren bedeutjamen Fortſchritt in der friedlichen Entwidlung der 
Arbeiterverhältniffe herbeizuführen, wird doch zugleich in der Thronrede auf die Ge— 
fahren hingewieſen, die fi) au8 der Geltendmachung maßlofer und unerfüllbarer An— 
forderungen von Seiten der Arbeiter ergeben müſſen. So wird denn auch betont, 
daß jedem Berfuche, an der Rechtsordnung gewaltfam zu rütteln, mit unbeugjamer 
Entjchlofjenheit entgegengetreten werden joll. 

Der Mißerfolg des von focialdemokratijcher Seite geplanten „Weltfeiertages“ hat 
gezeigt, daß das entfchiedene Vorgehen des Bürgerthums eine mächtige Waffe gegen 
maßlofe Forderungen ift, wie fie von dem vorjährigen in Paris gehaltenen internationalen 
Socialiftencongrefje in Bezug auf den achtitündigen Arbeitstag, ſowie den internationalen 
Arbeiterihuß ohne Rüdficht auf die volfswirthichaftlichen Bedingungen der verjchiedenen 
Länder erhoben wurden. Andererfeits darf e8 mit hoher Genugthuung begrüßt werden, 
daß ein großer Theil der deutjchen Fabrifanten den Arbeitern mit Entfchiedenheit 
far gemacht Hat, daß, wenn dieje jelbjt die gewiſſenhafte Erfüllung des Arbeits— 
vertrages von Seiten der Arbeitgeber verlangen, fie an denfelben ebenfalls gebunden 


Politiſche Rundſchau. 463 


ſind. In Deutſchland haben denn auch die vernünftigen Erwägungen des weit über— 
wiegenden beſonnenen Theiles der Arbeiter über die demagogiſchen Beſtrebungen und 
Hetzereien einiger Führer einen glänzenden Sieg davongetragen, der um jo bemerkens— 
werther erfcheint, als zugleich dadurch jeftgeftellt wurde, daß im focialdemofratifchen 
Teldlager keineswegs diejenige Gejchloffenheit und blind gehorchende Disciplin herrſcht, 
welche nach der Auffaffung der Parteiführer im Kampfe gegen die Bourgeoifie den 
unbedingten Erfolg fichern ſoll. Vielmehr treten innerhalb der Fraction der neu— 
gewählten jocialdemokratifchen Reichstagsabgeorbneten jelbft fachliche und perfönliche 
Gegenfäge in die Ericheinung, aus denen hervorgeht, daß in dem phantaftifchen 
jocialiftifchen Zufunftsftaate der verheißene ewige Friede keineswegs feine Verwirklichung 
finden würde. Tür die bürgerlichen Glaffen müfjen daher der Mißerfolg des 
focialiftifchen „Weltfeiertages“ vom 1. Mai und die tiefgehenden Gegenſätze innerhalb 
der focialdemofratifchen Partei jelbft als Anjporn dienen, bei aller Anerkennung der 
berechtigten Anfprüche der Arbeiterbevölferung fich nicht durch wüſtes Gefchrei ein- 
Ihüchtern zu laſſen, vielmehr mit klarem Blicke angeblichen Gefahren entgegenzutreten, 
die ſich dann jchließlich bei energifchem Handeln als eitel Dunft erweifen könnten. 
Beachtenäwerth ift auch der Rüdjchlag, welchen das Fiasco vom 1. Mai auf die 
jocialdemofratifche Bewegung jelbft, zunächjt wenigftens, ausgeübt hat. Wird doch in 
glaubhaiter Weife verfichert, daß fo ſchwach befuchte Verfanimlungen, wie fie in den 
Tagen nach dem 1. Mai gehalten wurden, feit einer Reihe von Jahren in Berlin 
nicht ftattgefunden haben, jo daß einzelne Berfammlungen überhaupt nicht erfolgen 
fonnten, weil die Zahl der Theilnehmer allzu gering war. Durchaus verfehlt wäre 
es, die Bedeutung jolcher Vorgänge, die vielleicht in einer gewiffen Ermattung nach 
der früheren hochgradigen Erregtheit eine ausreichende Erklärung finden, zu überjchäßen 
oder fich in eine voreilige Sicherheit eintwiegen zu laſſen; vielmehr gilt es im Hinblid 
auf die jüngjten Reichdtagswahlen an erfter Stelle ald eine unabweisliche Pflicht 
jämmtlicher Ordnungsparteien, alle Kräfte anzuſpannen, um einen hoffentlich zu ver— 
meidenden Anfturm gegen die Grundlagen des Staates und der Geſellſchaft erfolgreich 
zurückweiſen zu können. 

Zu den Anfprüchen der Arbeiterbevölferung, welchen von Seiten des Staates 
Rechnung getragen werden muß, gehört unter Anderem derjenige auf ausreichenden 
Arbeiterfhug. Die dem deutjchen Neichdtage bereits vorgelegte Novelle zur Gewerbe- 
ordnung ſoll diefem von allen Seiten ala berechtigt anerfannten Zwede dienen. In 
diefer Arbeiterfchuß-Vorlage werden die Beitimmungen über die Beſchränkung der Arbeit 
von Kindern und jugendlichen Arbeitern, jowie von frauen ficherli” am wenigften 
Anfechtung erfahren. Waren bisher bereits Finder unter zwölf Jahren von der Arbeit 
in Fabriken ausgeſchloſſen, jo foll diejes Beichäftigungsverbot nunmehr auf die Kinder 
unter dreizehn Jahren ausgedehnt werden, auch jollen mehr als dreizehn Jahr alte 
Kinder in Fabriken nur bejchäftigt werden dürfen, wenn fie nicht mehr zum Befuche 
der Volksſchule verpflichtet find. Dankenswerthe Beichränkungen enthält der Entwurf 
au in Bezug auf die Arbeit der Frauen, die im Allgemeinen in der Nachtzeit 
von 8" Uhr Abends bis 5’/2 Uhr Morgens und an Sonnabenden, fowie an Vor— 
abenden der Feſttage nach 5/2 Uhr Nachmittags in Fabriken nicht bejchäftigt werden 
follen. Gegen dieſe, ſowie eine Reihe von anderen Gingzelbejtimmungen über bie 
rauenarbeit wird fich ebenfo wenig Widerfpruch erheben Laffen wie gegen diejenigen, 
durch welche Gefahren für Leben, Gefundheit und Gittlichfeit von den Arbeitern ab- 
gewehrt werden follen. Ausdrüdlich wird hier die Verpflichtung der Gewerbeunternehmer 
ausgejprochen, die Arbeitsräume, Betriebsvorrichtungen, Mafchinen und Geräthſchaften 
jo einzurichten und zu unterhalten, und den Betrieb jo zu regeln, daß die Arbeiter 
gegen Gefahren für Leben und Geſundheit jo weit geichüßt find, wie es durch bie 
Natur des Betriebes gejtattet if. Wie die Blumen des Feldes und die Bäume des 
Waldes bedarf auch die „Pflanze“ Menſch — Vittorio Alfieri Hat diefen bezeichnen- 
den Ausdrud einmal gebraucht, indem er hervorhob, daß die „Pflanze“ Menſch in 
Italien robufter zur Welt fomme, als in jedem anderen Lande — zu einer gefunden 


464 Deutſche Rundſchau. 


Entwicklung des Lichts und der Luft. Deshalb verdient die Beſtimmung volle An- 
erfennung, durch welche die Gewerbeunternehmer verpflichtet werden, insbejondere für 
genügendes Licht, ausreichenden Luftraum und Luftwechjel, jowie für Bejeitigung des 
bei dem Betriebe entjtehenden Staubes und der dabei entwidelten Dünfte und Gaſe 
Sorge zu tragen. 

Nicht minder berechtigt erfcheint die Vorfchrift, nach welcher für jede Fabrik inner 
halb vier Wochen, nachdem die Arbeiterſchutz-Vorlage Rechtskraft erlangt haben wird, 
oder nach Eröffnung des Betriebes eine Arbeitsordnung erlaffen werden ſoll. Diele 
muß über Anfang und Ende der regelmäßigen täglichen Arbeitäzeit ſowie der für bu 
erwachjenen Arbeiter vorhergejehenen Pauſe und über Zeit und Art der Abrechnung 
und Lohnzahlung Beitimmungen enthalten. Die Arbeitsordnung foll ferner über bie 
Friſt der für jeden Theil zuläffigen Auffündigung, jowie über die Gründe volle Klar: 
heit gewähren, aus welchen die Entlaffung und der Austritt aus der Arbeit ohne 
Auffündigung erfolgen darf, fofern es nicht bei den gefjeglichen Beftimmungen bewenden 
foll. Werden Strafen vorgefehen, jo muß über die Art und Höhe derſelben ſowie 
über die Art ihrer Feitfegung und, falls fie in Geld beftehen, über ihre Einziehung 
und über den Zwed, für welchen fie verivendet werden jollen, Anordnung getroffen 
werden. Sehr wejentlich erfcheint auch die Vorfchrift, daß Strafbeitimmungen, durch 
welche das Ghrgefühl oder die guten Sitten verlegt werden, in die Arbeitsordnung 
nicht aufgenommen werden dürfen. Mit Recht wird hier davon ausgegangen, daß 
eine mächtige Waffe zur Verhütung von Ausjchreitungen die Stärkung des Ehrgefühls 
im Wrbeiter ift. Dieje Waffe könnte fich unter Umftänden fogar wirffamer erweiſen 
als Strafbejtimmungen, die der Staat unter gewifjfen VBorausfegungen erläßt. Dies 
gilt 3. B. vom Gontraftbruche, bei welchem der Staat nach der Arbeiterſchutz-Vorlage 
allerdings mit Recht Bedenken trägt, ftrafrechtliche Folgen anzudrohen, wohl aber eine 
eivilrechtliche Entichädigung oder Buße fejtgefegt wiffen will. Wenn ein Geſelle oder 
Gehülfe vor rechtmäßiger Beendigung des Arbeitsverhältniffes die Arbeit verlaffen bat, 
jo kann nach dem Entwurfe der Arbeitgeber an Stelle der Entfchädigung eine an ihn 
zu erlegende Buße fordern, welche für den Tag des Vertragsbruches und jeden folgen: 
den Tag der vertraggmäßigen und gejeßlichen Arbeitszeit, höchſtens aber für jeche 
Wochen, bis auf die Höhe des ortsüblichen Tagelohnes fich belaufen darf. Mit Fug 
wird in der Vorlage davon Abjtand genommen, für die Buße etwa im Unvermögens- 
falle eine Haftjtrafe zu fubjtituiren, wie denn überhaupt diefe Beitimmungen zunächſt 
in der Praris fich bewährt haben müßten, ehe fie ald ein wirkſames Mittel gegen 
den Gontraftbruch bezeichnet werden können. Dagegen darf nichts verabjäumt werden, 
wodurch das Ehrgefühl des Arbeiter im Gegenſatze zu dem von den focialdemo: 
kratiſchen Berführern großgezogenen Dünkel erhöht wird. Bei allzumeit gehenden 
Strafbeitimmungen liegt immer die Gefahr nahe, daß fie in Wirklichkeit ſich unaus- 
führbar erweifen oder mit der berechtigten Goalitionsfreiheit der Arbeiter im Gegen» 
jate ftehen. Dagegen ift es nur eine Forderung der Gerechtigkeit, wenn auf Grund 
ber neuen Vorlage mit Gefängniß nicht unter einem Monate bejtraft werden foll, wer 
es unternimmt, durch Anwendung förperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehr- 
verlegungen oder durch Verrufserklärung Arbeiter oder Arbeitgeber zur Theilnahme an 
gewiſſen VBerabredungen zu bejtimmen oder am Rücktritte von jolchen Verbindungen zu 
hindern, Arbeiter zur Einjtellung der Arbeit zu veranlaſſen oder von der Fortſetzung 
oder Annahme der Arbeit fernzuhalten, jowie Arbeitgeber zur Entlaffung von Arbeiten 
zu bejtimmen oder an der Annahme von Arbeitern zu hindern. Sind derartige Hand: 
lungen gewohnheitsmäßig begangen, jo tritt Gefängnißftrafe nicht unter einem Jahre 
ein. Diefelben Strafvorichriiten finden auf Denjenigen Anwendung, welcher Arbeiter 
zur widerrechtlichen Einſtellung der Arbeit oder Arbeitgeber zur widerrechtlichen Ent: 
lafjung von Arbeitern öffentlich auffordert. 

Dieſe Beftimmungen, welche ebenfo den Arbeitgeber wie den rechtlich gefinnten 
Arbeiter zu fchüßen beftimmt find, werden kaum begründete Anfechtung erfahren können. 
Dagegen darf nicht verhehlt werden, daß die Arbeiterſchutz-Vorlage eine Reihe von 


Politiſche Rundſchau. 465 


Einzelbeſtimmungen enthält, die bei den parlamentariſchen Berathungen Widerſpruch 
hervorrufen werden. So iſt in den Beſtimmungen über Sonn- und Feſttagsruhe, ſowie 
in denjenigen über die Arbeit der frauen die Entjcheidung vielfach von den Ver— 
waltungsbehörden abhängig gemacht, jo daß mit Fug Gautelen für eine fachgemäße 
Ausübung einer weitgehenden diäcretionären Gewalt verlangt werden. Was ferner die 
bereitö erwähnten Arbeitsordnungen betrifft, jo wird es auch hier nicht an lebhaftem 
Widerfpruche gegen diejenige Einzelbeftimmung fehlen, nach welcher vor dem Erlaſſe 
der für Arbeitgeber und. Arbeiter rechtöverbindlichen Wrbeitsordnung oder eines Nach— 
trages zu derjelben den in der Fabrik beichäftigten Arbeitern Gelegenheit geboten 
werden ſoll, fich über den Inhalt diefer Beftimmungen zu äußern. Für Fabriken, für 
welche ein jtändiger Arbeiterausfchuß befteht, würde diefer Vorfchrift durch Anhörung 
des Ausſchuſſes Genüge geleitet werden. Selbft von Seiten arbeiterfreundlicher Indus 
ftriellen wird nun der Ginwand erhoben, daß die Nothwendigkeit der Verhandlungen 
über die Arbeitsordnung der Fabrik leicht zum Widerfpruch gegen unumgänglich ge- 
botene Beftimmungen herausfordern könnte, die andernfalla von Seiten der Arbeiter 
unbeanjtandet geblieben wären. Allerdingg wird in der Arbeiterfchuß - Vorlage die 
Gültigkeit der Arbeitsordnnungen keineswegs von der Zuftimmung der Arbeiter ab» 
bängig gemacht. Gerade hieraus können fich aber wieder neue Gonflicte entwideln, 
falls der Widerfpruch der Arbeiter unberüdfichtigt geblieben ift. Es genüge, einige 
Bedenken in diefer Hinficht hervorzuheben, die jedoch an Bedeutung wejentlich Hinter 
den in der Vorlage angeftrebten Berbefferungen des Loofes der arbeitenden Klaffen 
zurüditehen müffen. 

Bei der Ausarbeitung der Arbeiterfchut » Vorlage waren zumeijt die Gefichts- 
punkte maßgebend, die auf der jüngjten Berliner Gonferenz allgemeine Anerkennung 
fanden , ohne daß jedoch die Vertreter der verjchiedenen europäifchen Induſtrieſtaaten 
in der Lage geweſen wären, die entiprechenden Befchlüffe zu faffen. Deutſchland geht 
alfo auch hier in einem eminent friedlichen Werke bei der Verwirklichung der auf der 
Berliner Gonferenz entwidelten Jdeen den übrigen Staaten mit gutem Beifpiele voran, 
von denen einige allerdings bereit? im Beſitze einer den bisherigen Berhältniffen an- 
gemefjenen Arbeiterſchutz- Geſetzgebung fich befinden. Was diejenigen Yänder betrifft, 
die auf dem Gebiete der jocialpolitifchen Maßnahmen zurüdgeblieben find, fo darf mit 
Sicherheit vorhergefehen werden, daß die Macht der BVerhältniffe mit der Zeit alle 
noch obwaltenden Bedenken zurüddrängen wird. Gricheint doch eine derartige den be= 
rechtigten Anfprüchen der Arbeiter Rechnung tragende focialpolitifche Gejeßgebung ala 
eine Art Sicherheitäventil gegen drohende Ausschreitungen der Socialdemofratie, deren 
Führer denn auch, infofern fie der janatifchen Richtung angehören, von den auf Ver» 
— der verſchiedenen Schichten der Geſellſchaft abzielenden Beſtrebungen wenig 
erbaut find. 

Daß in der Thronrede zur Eröffnung des deutichen Reichdtags der Ausbau der 
Arbeiterichuß = Gejeßgebung an erjter Stelle angekündigt wurde, entjpricht vollftändig 
der hohen Bedeutung diejer Frage, deren Löfung wejentlich zur friedlichen Geftaltung 
der inneren Verhältniſſe in den europätfchen Induftrieftaaten beitragen würde. Des— 
halb erjcheint e8 als eine durchaus logiſche Entwidlung im Gedanfengange der Thron= 
rede, wenn unmittelbar an .dieje friedlichen Bemühungen im Innern der Hinweis fich 
anschließt, daß Kaifer Wilhelm die dauernde Erhaltung des Friedens als das Ziel 
ſeines Strebena betrachte. In diefem Zufammenhange lieh der Kaiſer der Ueber— 
zeugung Ausdrud, daß es ihm gelungen fei, bei allen auswärtigen Regierungen das 
Vertrauen zu der Zuverläffigfeit jeiner Friedenspolitik zu befeitigen. Den Widerjachern 
der letzteren war es andererjeitö wenig erfreulich, das treue Feſthalten an der Tripel« 
allianz mit aller Entjchiedenheit in der Thronrede betont zu jehen: „Mit mir und 
meinen hoben Verbündeten erfennt es das deutſche Volt ala die Aufgabe des Reiches, 
durch Pflege der zu unferer Vertheidigung geichloffenen Bündniffe und der mit allen 
auswärtigen Mächten beitehenden freundichaftlichen Beziehungen den Frieden zu jchüßen, 
um Wohlfahrt und: Gefittung zu fördern.“ Die Widerfacher der Aufrechterhaltung 

Deutihe Rundſchau. XVI, 9. 30 


466 Deutſche Rundſchau. 


des europäiſchen Friedens ſuchen denn auch einen Gegenſatz zwiſchen den bezüglichen 
Berficherungen der Thronrede und dem unmittelbar daran geknüpften Hinweiſe zu con« 
ftruiren, nach welch’ letzterem Deutjchland zur Durchführung der ihm geftellten Kultur 
aufgabe der feiner Stellung im Herzen Europas entjprechenden Heeresmacht bedarf. 
In Wirklichkeit gefährdet aber jede Verſchiebung der Machtverhältniffe das politifche 
Gleichgewicht und damit die Gewähr für den Erfolg der auf die Erhaltung des 
Friedens gerichteten Politi. Die in der Thronrede angelündigte Militärvorlage, 
welche dem Reichstage bereits zugegangen ift, wird jedenfall® dort oder in der Com— 
miffion eine eingehendere Begründung erhalten, jo daß die hier und da bisher noch 
bejtehenden Einwände entkräftet werden. 

Wie Deutjchland laſſen auch Defterreich-Ungarn und Italien fich angelegen jein, 
ihre Streitkräfte den Pflichten anzupafien, die fie durch den Eintritt in die Tripel« 
allianz übernommen haben; wäre eö doch der Stellung einer europäifchen Großmadt 
unwürdig, Rechte, wie fie aus der Theilnahme am europäifchen Friedensbündnifie 
refultiren, zu beanjpruchen, ohne ein angemefjenes Nequivalent zu bieten. Bezeichnend 
ift, daß auch jenfeits der Alpen die Fyrangojenfreunde den Hebel zur von ihnen er- 
bofften Sprengung der Tripelallianz anjegen, indem fie bei jeder Gelegenheit prophe— 
zeien, die jtets anmwachjenden Ausgaben für das Landheer und die Marine müßten 
den finanziellen Ruin Italiens herbeiführen. Ihatjächlih Haben fi die Ein- 
nahmen des italienischen Schahminifteriums in letter Zeit mwejentlich günftiger ge 
ftaltet, jo daß fie in den verfloffenen zehn Monaten des Finanziahres im Ganzen 
43625079 Lire mehr betrugen ala im Vorjahre. Troßdem iſt die italieniſche 
Regierung entjchloffen, im Budget des Landheeres und der Marine Erjparniffe herbei- 
zuführen. In diefer Hinficht erklärte das militärische Fachblatt: „L'Esereito italiano“ 
foeben, daß die italienische Regierung troß den fortgejeßten neuen Rüftungen ber 
großen europäiſchen Staaten ihre bisher im Militärbudget beobachtete Sparjam: 
keit aufrechterhalte, daß fie aber andererjeits feſt entjchloffen fei, durchaus nicht jene 
Ausgaben einzujchränten, durch deren Verminderung die Sicherheit des Staates oder 
die völlige Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen gefährdet würde. Diefes 
bundesfreundliche Verhalten Italiens verdient volle Anerkennung, obgleich von Anfang 
an gewiß war, daß die italienifche Regierung keineswegs die Tripelallianz gewiſſer— 
maßen als das Piedeftal bemußen würde, von dem aus fie auf Koften Defterreich- 
Ungarns und Deutjchlands europäifche Großmacht fpielen könnte. Vielmehr faßt das 
Minifterium Grispi die Stellung Italiens ala Großmacht jehr ernfthaft auf und gibt 
dieſer Auffaffung den entjprechenden thatjächlichen Ausdrud, 

Die Angriffe gegen die Finanzpolitik Grispi’s richten fich daher zumeift gegen 
die nie verfagende Bundestreue Italiens innerhalb der Tripelallianz, als deren zu— 
verläffigite Stübe neben dem Könige Humbert deſſen erjter Ratgeber, der Gonjeil- 
präfident und Minifter des Auswärtigen, gilt. So verfteft man auch den Jubel, 
mit welchem in einem Theile der franzöfiichen Preffe jowie in fämmtlichen ultra= 
montanen Organen jüngjt die Meldung aufgenommen wurde, Crispi habe im italie- 
nischen Senate aus Anlaß der Berathung des von der Deputirtenfammer bereitö ge- 
nehmigten Gefeßentwurfes über die Opere pie, die frommen Stiftungen, eine empfind- 
liche Niederlage erlitien, da ein Hauptpunft der Vorlage in geheimer Abjtimmung 
abgelehnt wurde. Der abgelehnte Artikel ift in der That von Hoher Bedeutung, ba 
er die Umwandlung von Legaten, Hinterlaffenfchaften und milden Stiftungen, bie 
einem Bedürfniſſe der Ortsbevölterung nicht mehr entfprechen, in allgemeine Wohl« 
thätigfeitsanftalten geftatte. Mit vollem Rechte wies Crispi darauf hin, daß die 
Regierung, nachdem der urfprüngliche Zweck vieler frommen Stiftungen objolet geworden 
fei, die Wohlthätigfeitspflege nach Maßgabe des Civilgeſetzbuches geregelt jehen wolle. 
Die Klerilalen find nun, wenn fie große Siegesgewißheit zur Schau tragen, keineswegs 
allzu zuverfichtlich Hinfichtlich des endgültigen Ausganges der parlamentarischen Debatten. 
Zunãchſt bat der Senat in Uebereinſtimmung mit der Deputirtenkammer die Geift- 
lichen aus der Verwaltung der frommen Stiftungen entfernt, was doch ficherlich nicht 


Politifhe Rundſchau. 467 


im Sinne vaticanifcher Sympathien aufgeiaßt werden kann. Hierzu fommt, daß der 
vom Senate durchberathene Gejeentwurf der Deputirtenfammer mit Zuftimmung des 
Könige don Neuem unterbreitet worden ift, jo daß der von der Kammer befeitigte 
Artikel wiederhergejtellt werden kann. Verharrt dann der Senat bei feinem ablehnen- 
den Votum, jo wäre die Regierung in der Lage, durch einen Pairsfchub einen befjeren 
Einklang zwijchen der erjten Kammer und der öffentlichen Meinung, abgejehen von 
den vaticaniſch gefinnten Kreifen, herzuftellen. Nur würde die frage entjtehen, ob 
zuvor noch die Deputirtenfammer aufgelöft werden joll, damit durch den Ausfall der 
Neuwahlen fejtgeftellt werde, wie wenig die andere parlamentarische Körperſchaft fich 
in Webereinftimmung mit dem geſammten Volksbewußtſein befindet. 

Der von den Ultramontanen im italienischen Senate errungene Sieg wird fich 
daher allem Anjchein nach ala ein Pyrrhusfieg erweifen, zumal da Erispi einen neuen 
Schlag gegen den Ultramontanigmus anfündigt, indem er im BZufammenhange 
mit der Debatte über den Geſetzentwurf betreffö der Opere pie, ein Geſetz, das ben 
niederen Glerus in den Stand fegt, fein Amt mit Würde zu erfüllen, ala den Beweis 
einer ernften Regierung bezeichnet. Wer jemals in Italien die Noth eines großen 
Theil der niederen Geiftlichkeit kennen gelernt, wer fich durch eigene Wahrnehmung 
überzeugt hat, wie diefe von den Monfignori und Eminenzen gering gejchäßten, ja ver— 
achteten Geiftlichen in ihrer abgeichabten Kleidung, von Entbehrungen aller Art ent- 
träftet, gegen die Spihen der Kirche einen tiefen Groll hegen, kann dem italienijchen 
Gonfeilpräfidenten nur vollen Beifall zollen, wenn er auch in diefer Hinſicht Wandel 
zu ſchaffen entichloffen ift. Der Hinweis des italienischen Gonfeilpräfidenten, daß die 
mangelnde Fürſorge für die niedere Geiftlichkeit ein ſchwerer Fehler der italienischen 
Revolution gewejen ei, eröffnet den Würbdenträgern des Vaticans eine unerwartete 
Perſpective, da es leicht gefchehen könnte, daß der mit Pfründen reicher ala mit Berufs- 
pflichten bedachte, in allen Farben jchillernde Clerus 'aus dem eigenen Lager einen 
gefährlichen Anjturm beitehen muß. 

Sollte daher jemals vom Vatican aus anftatt der bisherigen Loſung: nd elettori 
nd eletti für die politifchen Wahlen die entgegengefehte ausgegeben werden, daß bie 
Klerikalen ſowohl durch active ald auch durch paffive Theilnahme, das Heißt durch 
Ausübung des Stimmrechts und durch Annahme von Gandidaturen in den Wahl- 
fampf eintreten jollen, jo würde fich die Spitze einer folchen Bewegung fchließlich gegen 
den Batican jelbit richten. Die Meberzeugung, daß Rom feit dem Ginzuge ber 
italienischen Truppen durch die Brejche der Porta Pia für immer die Hauptftabt 
Italiens geworden, iſt jenfeit3 der Alpen eine jo unmwandelbare, daß jeder Verſuch, 
an diefem Zujtande der Dinge zu rütteln, lediglich von ber Kurzfichtigkeit der Urheber 
folcher verfehlten Bemühungen zeugt. Man braucht nur an die Opferwilligfeit von 
Zurin und Florenz fich zu erinnern, welche der Reihe nach darauf verzichteten, ala 
Hauptjtabt zu gelten, damit das Land dem patriotifchen Ziele: Roma capitale! näher 
geführt werde, um flar zu erfennen, daß das Wort des Königs Humbert: Roma 
intangibile! für alle Zukunft zur Wahrheit geworden ift. 


30 * 


Fiterarifche Rundſchau. 


en 


Deiterreihiiche Unternehmungen in Sleinafien. 


— — 


Eugen Peterſen und Felix von Reifen in Lylien, Milyas und Kibyratis. 
eichrieben und im Auftrage bes k. k. Minifteriums für Eultus und Unterricht heraus: 
egeben. Mit 40 Zafeln und zahlreichen Ylluftrationen im Text. Wien, Karl Gerold’3 
ohn. 1889. Zugleich ala zweiter Theil der Reifen in Lyfien und Karien don Otto 

Bennborf und George Niemann. Wien, Adolf Holzhaufen. 1834. 

Dtto Benndborf und George Niemann, Das Heroon von Giölbaſchi-Tryſa. I. Theil. 

Mit 34 Tafeln und zahlreichen Abbildungen im Zerte. Wien, Adolf Holzbaufen. 1 

Am Südrande Kleinaſiens, aber unmittelbar anftoßend an die hellenifirte Weſtküſte 
der Halbinfel, baut fich da® gewaltige Bergland des alten Lykiens auf wie „eine 
in die See hinausgejchobene Schweiz“. Von den drei bedeutenderen Flüffen, welche 
das Geäder des Gebirgäförperd bilden, verleiht nur der weſtlichſte, der Xanthos, 
wenigjtens feinem unteren Thale die Wohlthat, die Flüffe zu vergeben haben, Leichtig- 
feit des Verkehrs. In feinem Oberlaufe thut er, wie die übrigen, faum etwas für 
die Aufichliegung des Landes, das fchon dem Seefahrer in „wunderbarer Verichlofjen- 
heit entgegenwächft“, wie fie auch feinen inneren Bau bezeichnet. 

Doch am Geftade haben jeit dem Anfange dieſes Jahrhunderts die auffälligen und 
funftvollen Felfengräber, in den lebendigen Stein gemeißelte Yagaden die Aufmerkſam— 
feit erregt: 2. Mayer veröffentlichte Abbildungen folcher 1803 in den „Views in the 
Ottoman Empire“ ; dann fam 1811 die Vermeſſung der Küfte durch den fpäteren 
Admiral Francis Beaufort, im Anfang der dreißiger Jahre die Reife des Franzoſen 
Gharles Terier. Aber noch ehe diefer die mehr prunfvollen, ala zuverläffigen 
Tafeln feiner Description de l’Asie Mineure publicirt hatte, drang der Engländer 
Charles Fellows als der Grite in einige innere Theile der Landſchaft (1838), 
und überrajchte die Mitwelt durch Zeichnungen von Grabdenftmälern mit und obne 
Reliefichmud, die durch Stil, Kunſt und Hohes Alter jofort bedeutfam und begehrungs— 
werth erfchienen, und durch Inſchriften, die in ungefannten Zeichen und in einer ein- 
beimifchen, bis heut faum aufgeflärten Sprache verfaßt waren. So kam gleich im 
Jahre 1840 don London aus eine Erpedition zu Stande, die unter Fellows’ Führung 
die merkwürdigſten Denkmäler, bejonderd des Hauptortes Xanthos, dem britischen 
Muſeum ficherte; im Anfchluß an dies Unternehmen bereiften der damalige Lieutenant, 
jpätere Admiral Spratt, der Naturforfcher Edward Forbes, und zum Theil 
getrennt von ihnen der Rev. Daniell einen großen Theil Lyciens, fanden antife 
Städteruinen von erjtaunlicher Zahl und Erhaltung und gaben ihrem ausgezeichneten 
fachlichen Reifewerke eine Karte bei, welche fo ziemlich alle Aufnahmen weit übertraf, 
die damals von irgend einem Theile Kleinafiens eriftirten. Am diefelbe Zeit durch: 
wanderte der Deutihe Auguft Schönborn (1801—1857), der vom Jahre 1825 
bis zu jeinem Ende Gymnafiallehrer in Poſen war, mit den beicheidenjten Mitteln 


Literarifche Runbichau. 469 


das füdmejtliche Kleinaſien; raftlofe Energie und unermüdlicher Forſchungseifer trieben 
ihn Hin und ber und führten ihn am 20. December 1841 zum erften Male auf das 
ichwierige Hochplateau mitten über der Südfüfte des Landes, wo er bei einem Kleinen Dorfe 
Gjölbaſchi eine umfangreiche vieredige Mauerumbegung entdedte, die eine Grabjtätte 
umgab. Diefe Mauer fand er zu feinem größften Staunen ganz überdedt mit Reliefs, 
die, wie er angab, „den trojanifchen Krieg“ darftellten. Seine Bemühungen, diejen 
Schatz zu heben, fcheiterten, auch ala ihm zehn Jahre fpäter, befonders auf Anregung 
Karl Ritter's, eine zweite Reife ermöglicht wurde. Dann ift er geftorben und 
bat die Erfüllung feiner Wünſche und Hoffnungen nicht erlebt; feine Tagebücher, freilich 
von Karl Ritter jorgjam ausgenüßt, find troß mehrfacher Aufrufe verjchollen geblieben. 

Unferen Fachgenofjen in Dejterreich gebührt das Verdienſt, den gleichjam wieder 
verſchwundenen Schag an das Licht des Tages gefördert zu haben. Schon in den 
zwei Erpeditionen, welche auf Anregung Conze's in den Jahren 1873 und 1875 
nad Samothrafe gerichtet waren, hatten fie gezeigt, wie muftergültig fie jolche Auf- 
gaben zu löjen wüßten. Dann war ed Benndorf, der auf Hleinafien und ingbejondere 
auf die Schönborn’sche Entdedung Hinwies; und nachdem er dieje auf einem erjten 
Ausfluge im Jahre 1881 durchaus beftätigt gefunden, hat rafch eine „Defterreichifche 
Gejellichaft Für archäologische Erforſchung Kleinaſiens“ fich gebildet, und dieje ermög— 
lichte im Jahre 1882 die Ueberführung faft des geſammten künftleriichen Schmudes 
jenes Grabdenfmals nach Wien, wobei die Regierung ihr Intereffe durch Entſendung 
eines Kriegsſchiffes bethätigte. 

Diejes Unternehmen ift in der „Deutjchen Rundſchau“ bereits früher einmal zur 
Sprache gefommen (1883, Bd. XXXVI, S. 51: „Ein Ausflug in den Norden Klein- 
afiens“) und in die bedeutfame Stelle eingereiht worden, welche ihm in ber modernen 
Erforſchung Kleinafiens gebührt: es ift emporgewachſen zur ſyſtematiſchen Durchforichung 
der ganzen Landichaft. 

Lykien ift vor Allem ein Gräberland wie fein anderes antike Erdſtück, außer 
etwa Aegypten; das ift e8, was dem Antlitz des Landes feinen eigentlichen Charakter 
gibt. Die grauen, viel zerklüfteten Yelfen Haben die Betwohner wie naturbereite Bau- 
feine ausgearbeitet zu Pieilern, zu großen Grabmälern und Facçaden, welche, den 
Wohnungen der Lebenden nachgebildet, wie aus Holz gezimmert dajtehen, im Laufe 
der Entwidlung auch eine griechifche, tonifche Säulenordnung zeigen, zu Hohen jpih- 
bogigen Sarkophagen und endlich auch zu den ungefügen Steinfäften werden, welche 
in Kleinafien jo vieljach die letzte Lebenszeit der antiken Welt bezeichnen. Mit allen 
jenen Formen ift Häufig bildlicher Schmud verbunden geweſen; dieſer iſt griechiicher 
Kunft aufs Innigſte verwandt; doch ift einzelnes Fremde im Inhalt wie in Vortrags— 
weiſe beigemifcht. Weniger diefe Erjcheinung, ala die deutlich wahrnehmbare Ent= 
widlung auf dem ganzen Gebiete Iykischer Kunftthätigkeit muß, meiner Anficht nach, 
den Gedanken fernhalten, alö ob in Lyfien wie etwa in Südrußland nur oder vor= 
wiegend von auswärtigen Künſtlern gearbeitet worden ſei, die von Griechenland aus 
ab und zu, für längere oder kürzere Zeit fih im Lande jeßhaft gemacht hätten. 

Zu allen Zeiten ift die Sorge für die Todten offenbar eine der vornehmften bei 
den Lykiern gewejen. Unerjchöpilich find in ihren Inſchriften, die ſchon dom vierten, 
fiher vom dritten Jahrhundert v. Chr. an theilweife zum Griechifchen übergehen, die 
Yeußerungen, durch welche fie die Grabftätte zu ſchützen und fich wie ihren Nachlommen 
den Beſitz zu fichern fuchten. Hierbei ift etwas fpäter jo Verbreitetes wie die Ans 
drohung einer Gelditrafe zuerft, wie man jet wohl jagen dari, von den Lyfiern 
erjonnen worden. 

Die Leer der „Deutjchen Rundichau” find auf den erften Band der Reifen Hin« 
gewiejen worden (1885, Bd. XLIII, ©. 317); in gleicher Pracht der Ausſtattung — 
äußerlich und innerlich — ift nun der zweite Band ans Licht getreten, und ein erfter 
Theil des Textes, jowie die gefammten Tafeln zu dem Schönborn’schen Denkmal, 
dem Heroon von Gjölbaſchi, welcher Ort, wie ein paar Infchriften gelehrt haben, 
den antiken Namen Tryſa führte. 


470 Deutſche Rundſchau. 


Man erlaube uns eine allgemeine Bemerkung: die Leichtigkeit der Bewegung auf 
dem Erdballe, welche die Mittel unſerer Zeit geſtatten, hat die Zahl der Forſchungs— 
reifenden auch in den antiken Ländern erheblich gefteigert; nicht durchaus zum Vor— 
theil der Sade. Wem das Glüd einer folchen Reife in früheren Zeiten einmal be- 
ichieden war, der fühlte fich gedrungen, für die jeltene Gelegenheit jeine Vorbereitung 
fo vieljeitig wie möglich einzurichten. Neigung und Beruf führen mir Jahr aus 
Jahr ein zahlreiche Berichte über wiffenjchaftliche Reifen in die Hände: ich erjchrede 
oft über ihre zunehmende Einfeitigkeit, über die mehr ala partielle Blindheit, welche 
fie verrathen. Wenn bei den heutigen Anforderungen die Meiften nur ein ganz be= 
ſchränktes Arbeitäfeld bebauen können, jo müſſen zu wiffenjchaftlichen Reifen eben 
Mehrere fich zuſammenthun. Diefe Aeußerung haben indefjen die Werke unferer Fach— 
genoffen in Defterreich jedenfall® nicht verſchuldet; bei dieſen trifft vielmehr Beides 
zu, gemeinfame Arbeit Mebrerer und Bielfeitigkeit der Einzelnen. Den Archäologen 
Benndorf und Peterfen, dem Architekten Niemann und dem in vielen Sätteln gerechten 
Dr. von Luſchan find die jüngeren Gelehrten Emanuel Loewy, R. von Schneider, 
Fr. Studniczka zur Seite getreten, und in der gemeinfamen Berichterjtattung ſpiegelt 
fi) die Harmonie der Arbeitögenoffen ala ein nicht geringer Factor fchönen Gelingens, 
und ein factor, der leider weniger häufig fcheint als man erwarten jollte. 

Wie die einzelnen Theilnehmer jener fruchtbaren Entdedungsfahrten ins Geographifche 
und Topographiſche fich eingearbeitet, ift höchit bemerkenswert; aber kann auch den 
Wanderer in den antiken Gulturländern irgend etwas mehr befreien und befriedigen, ala 
wenn er allmälig die verwidelten Bodenverhältniffe auseinanderzulegen lernt, und aus 
den Zügen der Natur die Lebensbedingungen jener früheren Griftenz abzulefen vermag 
wie aus gewaltigen Schriftzeichen? Gewiß wird das jo gewonnene Bild erſt durch die 
Einzelbeobachtung beftimmt und gefichert. Man jchilt wohl auf die Detailarbeit 
unferer Zeit; aber auf dem — in weiterem Sinne — philologifchen Gebiete, das ich 
bier im Auge babe, macht feit geraumer Friſt die gejunde Empfindung fich geltend, 
daß Land und Leute, bildliche und jchriftliche Weberlieferung untrennbar zu verbinden 
find, joll anders das entworfene Bild wahr und lebenskräftig zugleich werden. In 
diefer Erfenntniß ift auch der zweite Band des Reiſewerkes abgefaßt. Diefem hat 
Dr. von Lufchan einige Refultate feiner praktifchen ethnologischen Unterfuchungen hinzu— 
gefügt, die, wenn irgend etwas, geeignet jcheinen, das noch jo dunkle Völkergewebe 
Kleinafiens zu erhellen; anjcheinend bejtätigen fie fchon jetzt eine gelegentliche Be» 
merfung von Ludwig Roß, daß unter allem Wechjel von Namen und Glauben eine 
uralte Bevölkerung fich erhalten Habe. 

Das Grabdentmal von Gjölbafchi-Tryja würdigt Berndorf in feiner weiteren und 
näheren Umgebung, bevor er auf feine Bildwerfe eingeht. Die Wahl des Platzes un» 
mittelbar unter dem Eleinen Burgberg, die weit hinaus auf Meer und Küfte blickende 
Lage ſprechen — noch ganz abgejehen von dem Aufwande der Anlage — das Denk— 
mal einem jener einheimifchen Fürften zu, welche bier zu gewiffen Zeiten, durch die 
Configuration des Landes begünftigt, Kleinere Gebiete unabhängig beherrichten. Um das 
Jahr 400 v. Chr. mag der uns unbelannt gebliebene Fürft fich den Bau errichtet 
haben; durch Plan und Ausftattung ift er in gleicher Weife bemerfenswerth, und im 
mehr als einer Beziehung fteht er einzig da in dem ums gebliebenen Vorrath von 
Denfmälern. Drei Meter hoch umzieht die Mauer einen geräumigen, faft vieredigen 
Hof, der an jeder Seite etwa 20 Mieter mißt, und von Südoſten, von der Stabtjeite 
ber, zugänglich war. Im Inneren erhob fich einer, wahrjcheinlicher noch mehrere 
Sarlophage; ein nur in leichten Andeutungen erhaltener Einbau war für die Hüter 
des Grabes beftimmt und wohl auch für die Feierlichkeiten, wie Gaftmähler, welche 
zu Ehren der Todten ftattfanden. Wenn auch Erdbeben Ginzelnes gejchädigt hatten, 
fo war doch die Mauerumbegung in einem feltenen Erhaltungszuitande, und dies muß 
um jo mehr ala ein befonderer Glüdsfall angefehen werden, als Stelle und Folge bes 
gefammten Bilderſchatzes dadurch über allen Zweifel gefichert wurden. Seht be= 
greifen wir Schönborn, der durch den Anblick jo völlig hingenommen wurde, daß er, 


Literarifche Rundſchau. 471 


der jorgjamfte Wanderer, ganz das Notiren vergaß. Denn wahrlich überrajchend und 
einzig it Anordnung und Reichtum der Bilder: jaft überall find es die zwei oberen 
Quaderjchichten der Mauern, die an der Hoffeite mit dem flachen Relief bededt find; 
nur die Hauptfront ift auch außen verziert. Selten find beide Steinreihen zu einer 
Darjtellung verarbeitet, allermeiftens trägt jede ihre gejonderte. Bei einer Höhe von 
etwas über 1 Meter zog fich die Doppelreihe gegen 109 Meter lang Hin; nur 
etwa ein Giebentel davon iſt verloren, 581 Figuren — von allem Beiwerk ab- 
geiehen — find erhalten. Sorglos jcheinen die verjchiedenften Gegenjtände über das 
Denkmal ausgeftreut und aneinander gereiht: nach der Auffafjung der Herausgeber an 
der Hauptfront außen links Amazonenkampf und Kentaurenjchlacht, rechts „die Sieben 
gegen Theben“ und eine Landungsſchlacht; innen einerfeit3 Bellerophon im Kampfe 
gegen die Chimaira, ein Viergejpann und ein Gelage; andererſeits Freiermord des 
Ddyfleus, ein höchſt jeltenes Thema, und Meleagerjagd. Die ganze Weitwand Hat 
der Herausgeber auf Ereigniffe in und um Troja bezogen: um die bejtürmte Stadt 
links eine Feldichlacht, die am Strande anhebt, rechts ein Amazonenfampf; die Nord— 
wand zeigt den Raub der Leufippiden durch die Diosfuren, eine Jagd und eine zweite 
Darftellung des Kentaurenfampfes; eine dritte trägt die Oftwand, darüber Thaten des 
Thejeus und daran anschließend ein Gelage, das mit dem gleichartigen der Südſeite 
zufammenftößt. - 

Ein inneres Band ift in diejen Zufammenftellungen nicht erfennbar; um jo mehr 
drängt fich die Verwandtſchaft mit der gleichzeitigen Kunſt in Griechenland auf, und 
zwar vornehmlich mit Gegenjtänden und Vortragsweiſe der Malerei des fünften Jahr— 
Hundert, von welcher uns dieſe flachen Relief? in mehr als einer Beziehung den jo 
lange erjehnten Begriff geben fönnen. Auch fie waren durch Farben gehoben und 
verdeutlicht, wie denn Malerei und Flachrelief urfprünglich ganz eng bei einander liegen. 

Wir finden fein „innered Band“ ; aber darum iſt diefer reiche Bilderfchmud nicht 
ohne Sinn. Wahr ift bemerkt worden, daß in Lykien wie in Griechenland Vorgänge 
des Lebens beim Grabesichmude bevorzugt wurden. Aber es ift der griechiichen Kunſt 
tief eingeboren, auch Erlebtes im Bilde des Mythos zu ſchauen. Und jo mag ein 
Theil der Darftellungen am Grabdenfmal von Tryſa zu verftehen fein; andere freilich 
find zu allgemein und jcheinen auch durch ihre mehrfache Wiederholung einen jpeciellen 
Bezug auszuschließen. Sie gehörten wohl mehr als etwas Typifches zum Repertoir 
der Ausführenden, und jcheinen e8 auch an ihrem Theil zu beftätigen, wie ungewöhnlich 
die Anjorderungen waren, welche das Denkmal von Tryſa ftellte, da fie die Phantafie 
der Künftler in jo auffälliger Weiſe bis auf die Neige leeren Eonnten. 


Königäberg i. Pr. 
Guſtav Hirſchfeld. 


— ——s7e 


Zur Geſchichte der deutſchen Goldſchmiedekunſt. 





Der Goldſchmiede Merkzeichen. Von Marc Roſenberg. Frankfurt a. M., Heinrich 
Keller. 1890. 


Das vorliegende Werk von Roſenberg beſchäftigt ſich mit den Merkzeichen, welche 
die Goldſchmiede ihren Arbeiten, vornehmlich den Silberarbeiten, einzuprägen pflegen, 
um dem Abnehmer über den Urſprung, auch wohl den Feingehalt der Waare eine 
Sicherheit zu geben. Das Buch mag zunächſt als ein Handbuch für einen eng— 
umſchriebenen Kreis von Kunſtſammlern erſcheinen; es eröffnet aber ſo weite Ausblicke 
für das Bereich alter Kunſt, daß auf ſeine Ergebniſſe auch an dieſer Stelle hingewieſen 
werden ſoll. Wir finden die Goldſchmiedeſtempel, welche zumeiſt aus einzelnen Buch— 
ſtaben, Zahlen oder Zeichen beſtehen, auf fait allen Silberarbeiten älterer Zeit, im 


472 Deutiche Rundſchau. 


ähnlicher Weife wie die bekannten Marken auf den Porzellanen und Yayencen. Weber 
diefe Töpfermarfen befigen wir eine umfangreiche Literatur, Handbücher in allen 
Sprachen, didleibige Werke und zujammengedrängte ZTafchenausgaben, jo daß der 
Sammler in bequemjter Weije fich über die myjtiichen Zeichen unter dem Boden der 
neu erworbenen TIheefanne oder Suppenjchüffel vergewiffern kann. Seit mehr als einem 
Menjchenalter wird fein Sammler mehr zweifelhaft fein, ob er Waaren von italienifcher, 
niederländijcher, franzöfischer oder deutfcher Kunfttöpferei in Händen Hat; innerhalb der 
Gruppen von etwas größerer Bedeutung, wie den Delfter Fayencen oder den Dtajolifen 
von Urbino, find aus den Marken heraus die Familien der Töpfer bis in ihre Ber: 
äweigungen Hinein verfolgt. Im jchroffen Gegenjah hierzu war die SKenntniß der 
Silbermarken bis noch vor furzer Zeit arg vernachläſſigt, und doch liegt es auf der 
Hand, daß künſtleriſch und culturgefchichtlich die Silberarbeiten unvergleichlich viel 
höher jtehen als die Arbeiten der Kunjttöpferei. Die Töpferei behält, mit ganz wenigen 
Ausnahmen, etwas Handwerfämäßiges; die Formen wiederholen fi) nach Dutzenden, 
Hunderten, ſelbſt Taufenden; in der Silberjchmiedearbeit dagegen ijt jedes Stüd etwas 
neu Gejchaffenes, Selbjtändiges. Die Goldfchmiedekunft ift berufen, in vollendeten Einzel 
arbeiten die Heilige Handlung am Altare aller Gonfeffionen, die Weite der Könige, der 
Städte, der Zünfte, der einzelnen Bürger zu begleiten und in dauerndem Tyejtgeräth 
finnbildlich auszugeftalten; die Goldſchmiedekunſt ift bis in das fechzehnte Jahrhundert 
hinein die Nährmutter junger Talente für alle plaftiichen und zeichnenden Künſte; aus 
ihr erwachjen im nicht geringer Zahl die Maler und Bildhauer der Renaifjance; in 
engitem Zufammenhange mit der Goldjchmiedekunft ftehen noch Dürer und SHolbein 
und die große Gruppe der Kleinmeifter des jechzehnten Jahrhunderts; was von Orna— 
menten und Bildwerk für decorative Kunſt Neues erfunden wird, geht zunächit in die 
Merkjtube der Goldſchmiede. Somit find die Arbeiten diefer Zunft das wichtigfte 
Bindeglied zwifchen Kunft und Handwerk vom Mittelalter bis in unfere Tage Hinein, 
fie bezeichnen die höchſte Anforderung, welche der Kunſtgeſchmack zu jeder Periode 
jtellte, fie geben die untrügliche Maßbejtimmung für die allgemeine Kunftfertigfeit der 
Stätte, an der fie entjtanden find, fie ermöglichen in ihrer engen Anfnüpfung an 
bedeutungsvolle Ereigniffe die werthvolliten Ausblide auf Gefinnung und Gewohnheit, 
Gebräuche und Mißbräuche ganzer Gruppen der Gejelljchaft. 

68 veriteht fich von ſelbſt, daß für Gewinnung ſolcher Schlußfolgerungen die 
erite Grundbedingung ift, zu ermeffen, wann und wo die Stüde entjtanden find. In 
vielen Fällen haben die Widmungsinfchriiten auf den Stüden jelbft, oder auch Wappen 
und andere erflärbare Symbole einen Anhalt gegeben; weitaus die größte Menge 
der erhaltenen Stüde ift aber mit derartigen Hinweifen nicht verjehen, dagegen tragen 
faft ausnahmslos alle die Stempel ihrer Meifter. So lange aber dieſe nicht geleien 
waren, erlaubte fich die Phantafie der Kunftliebhaber die abenteuerlichjten Ausflüge. 
Nun mag es manchem Gelehrten oder Staatsmann als eine Art von Spielerei er- 
ſcheinen, wenn fich die wunderliche Sippe der Sammler den Kopf darüber zerbridt, 
ob Meifter X oder Meifter ) einen Theetopf oder Gewerföhumpen gefertigt Hat, und 
wir wollen gar nicht bejtreiten, daß in der Jagd auf ungewöhnliche Marken mancherlei 
Thorheit mit unterläuft: in der Schlußabrechnung, wie fie hier in Roſenberg's Bud 
zum erjten Male für deutjche Goldfchmiedearbeit vorliegt, jtellt fich jedoch ein wiſſen— 
Ichaftliches Ergebniß von ernſthafter Bedeutung heraus. 

Es iſt noch nicht lange her, daß im deutjchen ebenſo wohl wie in auswärtigen 
Sammlungen jedes Stüd von hervorragender Silberarbeit ala ein Werk italienijcher 
Kunft, und fpeciell des Benvenuto Gellini, galt. Wurden doch jelbft in den Verkaufs— 
verhandlungen des Stabtfilbers von Lüneburg, nach 1870, die edelften im jechzehnten 
Jahrhundert in Lüneburg ſelbſt gefertigten Stüde von den Nachtommen der Stifter 
als Arbeiten des Gellini bezeichnet, und bis zum heutigen Tage pflegen die Guftoden 
fürftlicher Silberfammern diefen Namen als höchſten Trumpf auszuſpielen. Erſt 
während der letzten Generation hat man erfannt, daß von Gellini jelbjt kaum ein 
halbes Dutzend von Stüden ficher nachweisbar ift, dann aber — und das ift das 


Literarifche Rundſchau. 473 


MWichtigfte — daß die gefammte Maſſe alten Silber, welche ung in Deutjchland 
erhalten ift, ebenjo wie der überwiegende Theil verwandter Arbeiten in ausländifchen 
Sammlungen deutichen Urfprunges ijt — ich jelbit durfte im Jahre 1886 in dieſen 
Blättern auf den bisher wenig befannten unerhört reichen Schaf folcher deutjchen 
Arbeiten in der Schatzkammer von Moskau Hinweijen !). 

ALS diefe Erkenntniß fich allmälig Bahn brach, war man allerdings noch jehr 
weit davon entfernt, von dem wirklichen Umfange der deutjchen Kunſtarbeit eine richtige 
Borftellung zu haben; man dachte an einige große Mittelpunfte deutjchen Gewerb— 
fleißeg, zunächft Nürnberg, das allenjalla ebenbürtig neben Italien gejtanden haben 
fönnte. Auch für Nürnberg hielt man fich zunächſt an einen großen befannten Namen, 
an Wenzel Jamniker, und es gab eine Zeit, in der man jedes hervorragende 
Stüd, das bisher auf Gellini’3 Namen ging, nunmehr dem Jamnitzer zufchreiben zu 
müſſen glaubte. 

Allmälig lernte man erkennen, daß die Arbeiten jelbjt in den aufgeichlagenen 
Stempeln fichere Anhaltspunkte über die Herkunft zu geben vermögen. Dtan lernte, 
daß jedes Silbergeräth zwei Stempel trägt; der eine bezeichnet den Meifter, der andere 
die Stadt. Bon den lebteren war bald befannt, daß N Nürnberg, der Pinienzapfen 
ala Stadtwappen Augsburg bedeute; bald lernte man auch D Dresden, L Leipzig, ferner 
die bekannten Stadtwappen von Ulm, Regensburg, Magdeburg, Halle, Danzig, 
Kübel u. j. w. unterfcheiden. Man wußte, daß in allen Städten, welche eine Gold— 
fchmiedeinnung bejefien, die Waaren von eigens beauftragten Männern geprüft, und daß 
nur die als vollwerthig befundenen Stüde mit dem Bejchauzeichen der Stadt ab- 
geftempelt wurden. Daneben trat der durch die Innung beglaubigte Meifter durch 
feinen perjönlichen Stempel verantwortlich ein. Dieje jtädtiiche Prüfung war ver- 
fchiedenartig eingerichtet, an manchen Stellen eine doppelte, an anderen Stellen durch 
einen zweiten Stempel, welcher das Jahr der Prüfung angab, vervolljtändigt. 

Aehnliche Einrichtungen Hatten auch in England und frankreich beitanden. 
England, welches allen heimathlichen Arbeiten eine bejondere Theilnahme entgegen= 
bringt, hatte diefe Abftempelungen, befonder® die Hall-marks von London, jchon feit 
längerer Zeit aus den Archiven jo völlig jeftgeitellt, daß man jedes Stüd englifchen 
Silbers mit aller Sicherheit nach Zeit und Herkünit bezeichnen kann. Für Frankreich 
find wenigjtens die Parifer jehr verwidelten Abjtempelungen Elar gelegt. Für Deutjch- 
land gab es nur verjtreute Einzelarbeiten, dann eine kurze, aber noch nicht geflärte 
Ueberficht der ftädtifchen Stempel in Ilg's „Geſchichte der Goldfchmiedekunft” (in 
Bucher, „Gefchichte der technifchen Künſte“). 

Die eigentliche Schwierigkeit zeigte fich für Deutſchland in der erjtaunlich großen 
Zahl von Orten, welche jelbftändig arbeiteten und die auch keineswegs Jahrhunderte 
hindurch denjelben Stempel beibehalten Hatten. Es genügte nicht, daß man die 
wichtigften Stücke zu erklären fich bemühte, ſondern es mußte vor Allem eine Ueberſicht 
über das gejammte Mlaterial angeitrebt, es mußte jedes erreichbare Stüd älterer 
Eilberarbeit auf feine Merfzeichen geprüft werden. Diejer colofjalen Arbeit Hat fich 
Rojenberg unterzogen; ald Ergebniß Liegt fein Buch vor und, welches auf 582 
Seiten über zweitaufend Silberftenipel, von mehr ala dreitaufend verfchiedenen einzeln 
angeführten Silberarbeiten entnommen, mit ihren Erklärungen enthält. Diefe zwei— 
taufend Stempel find aber nur das Schlußergebniß von mehr als zehntaufend Stempeln, 
welche der Berfafjer mit peinlichiter Sorgialt aufgezeichnet, gefichtet und immer wieder 
jufammengeordnet hat, bis fich die Gruppen als ficher zufammengehörig ergaben. Die 
großen Leihausftellungen des legten Jahrzehnts haben einen erheblichen Theil des 
Materials geliefert, daneben aber ift der Verfafler von Stadt zu Stadt gegangen, um 
beglaubigte Marken zu jammeln; die Beamten der Mufeen, welche feit Jahren um 
diefe Arbeit wiffen, haben mannigfady aushelfen fönnen, und fo befien wir num 
endlich, wohlgeordnet mit allen nöthigen Berzeichniffen und Tabellen, dieſes Buch, 


1) Deutiche Rundichau, 1837, Bd. LIII, ©. 363 ff.: „Die Kunftfammlungen in Mostau“. 


474 Deutiche Rundichau. 


welchem der DBerjaffer die alte Bezeichnung diejer Stempel: „der Goldjchiniede Merk» 
zeichen“ gegeben hat. Das Schwergewicht liegt in der Darftellung der deutichen 
Arbeit: Hier find nicht weniger ald 93 Städte und Gemeinfchaften mit 1734 
verfchiedenen Stempeln vertreten, von denen allein auf Augsburg 360, auf Nürnberg 
218 Stempel fallen. Zu Hunderten find uns die Namen der befannt gewordenen 
Meifter gegeben; von den wichtigeren unter ihnen ift jedes bisher an das Licht ge= 
tretene Stück aufgeführt. Welche Fragen fi) an die einzelnen Grgebnifje knüpfen, 
in welcher Weife auf diefer Grundlage erweiternd, zum Theil auch berichtigend, weiter 
gearbeitet werden muß, das wird in der funftgewerblichen Fachliteratur zu erörtern 
fein; für die allgemeinere Betrachtung der Kunſt und Gulturgefchichte müſſen wir 
aber jet jchon auf die oben kurz genannten Zahlen als ein vollwichtiges Ergebniß 
binweifen. Wir jehen durch Jahrhunderte hindurch den Handwerksfleiß in glängender 
Entialtung durch alle Theile Deutjchlands verbreitet. Wenn Heut zu Tage eine 
Silberarbeit von auch nur mäßigem Kunſtwerth ausgeführt werden foll, fo find wir 
auf einige wenige Hauptftädte angewiejen. Die Silberläden jelbjt der großen Provinzial« 
ftädte enthalten nur Fabrikwaare oder vermitteln, theils unter Verſchleierung des 
Thatbejtandes, die Aufträge nach der Hauptitadt; in den früheren Jahrhunderten 
arbeitet jelbft eine Kleine Stadt nicht nur für den eigenen Bedarf, jondern bringt 
auch Prachtgeräthe zu Wege, welche würdig find, ala Gejchenfe an fremde Höfe zu 
gehen und heute noch die vielbewunderten Stüde diefer und fremdländiſcher Kunſt— 
fammlungen bilden. Als glänzendes Beifpiel war uns Lüneburg bekannt, jet wahr« 
ſcheinlich kaum im Stande, jeinen Bedarf an Löffeln und Fingerhüten berzuitellen, 
und einftens fähig, in feiner eigenen Zunft jenen Silberſchatz zu arbeiten, welcher das 
Hauptitüd des Berliner Mufeums bildet. In gleicher Weiſe lernen wir durch 
Rofenberg lange Reihen von Städten kennen, deren Meijtern keine Aufgabe ihrer Kunft 
zu Hoch war. 

Roſenberg's Arbeit wird zunächſt den Liebhabern alter Kunftwerke ein Hoch 
willfommener Führer durch das Irrſal geheimnißvoller Marken fein; es wird dem 
Sammeleifer fichere Pjade weifen und fchon auf diefem Wege die Liebe zu der vater- 
ländifchen Kunſt ftärken helfen; e8 wird dem Auslande zeigen, ein wie großer Beitand- 
theil feines jehigen Kunſtbeſitzes deutfchen MWerkftätten entjtammt, und wird in feinen 
Grgebniffen einen vollbelaubten Zweig in dem Ruhmeskranze altdeutjchen Gewerbe- 
fleißes bilden. . 

Julius Lejfing. 


Literariiche Notizen. 


?xy. Claffifche Bildermappe. Abbildungen 
fünftleriiher Werke zur Erläuterung wichtiger 
Schulichriftiteller. Herausgegeben unter Mit- 
wirfung von Dr. Eduard Anther und Dr. 
Gujftav Forbach von Dr. Ferdinand 
Bender. 1. Heft: zu Leſſing's Laokoon. 
(Zaofoon»Gruppe. — Zeus von Dtricoli. — 
Moie des Michelangelo. — Apollo von Bel: 
vedere. — Sophofles.) Darmkadt, edler & 
Vogel. 185% 

Zu Gunften diefer Unternehmung läßt fich 
fagen, daß die Anfchauung die richtige fei, es 
müßten die Gymnafiaften, falls man fie mit 

Kunſtwerken befannt machen will, nur auf die 

jhönften Gebilde des Altertbums hingewieſen 

werden. Mit einigen Tafeln jedoch hier den Anfang 
au machen, die bei der Yectüre des Laokoon von 

Leſſing gezeigt werden könnten, ericheint uns 

nicht thunlid. Denn dieſes Buch ift nicht für 

Schüler, ſondern für Gelehrte beitimmt, und 

jollte ſchon deshalb in der Prima nicht geleien 

werden, weil die Lehrer in vielen Fällen ſich 
aus einer ſehr umfangreihen und widerſpruchs— 
vollen Literatur das zu ihrer eigenen Unter— 
weilung geeignete Material würden zufammen- 
ſuchen müſſen. Kritif von Künftlern und Kunſt— 
werfen gehört noch nicht aufs Gymnafium. 

Wohl aber fann man Schülern Kunſtwerke 

jeigen, die fie begeiftern, und da follte mit 

dem Domer der Anfang gemadt werden. Die‘ 
homeriſchen Götter und Helden ftehen in wunder- 
vollen Büften und Statuen zu Tage, die dem 

Schüler Alles bieten, was die Schule in diefer 

Hinſicht zu gewähren im Stande it. Eine Bubli- 

cation diefer Art würde um fo erfreulicher fein, 

als fie archäologifirenden Tendenzen anderer Rid)- 
tung entgegenträte, gegen die wir uns erklären 
müſſen. — Der den vorliegenden Tafeln bei- 
gegebene erflärende Theil tft fehr Inapp. Sollte 
für Laokoon 3. B. auf Brunn hingewieſen werden, 
fo durfte der Auffag nicht unerwähnt bleiben, 
in weldem Brunn Goethe's herrliche Abhand- 
fang über die Gruppe wieder zu Ehren gebracht 
hat. Der Hinweis dagegen auf eine Figur des | 
pergameniichen Friejes, welche mit der Laokoon⸗ 
gruppe in Verbindung gebracht wird, fann nur 
verwirren, denn die geiftig inhaltslofe, über- 
haupt decorativ gehaltene Beitalthat, oberflächliche 

Aehnlichkeit ausgenommen, unferes Erachtens mit 

Laokoon nichts zu thun. Wohl aber hätte hier 

gefa t werden fünnen, daß der rechte Arm des 

<aofoon jammt der Schlange moderner Zuſatz 
fei, und dab im Vatican ein den Bewegungen | 
der Geftalt mehr entiprechender, aber unvolls | 
endeter Arm neben der Gruppe liege, ein Stüd, 
dad man mit einem Verſuche Michelangelo's, | 
die Arbeit zu rejtaurieren, in Verbindung bringt. 
xo. Historie de la Cöramique Greeque, par 
Olivier Rayet et Maxime Collignon. 
Paris, Georges Decaux. 1888. 
Eines der Werke, welde von dem außer- 
ordentlichen Auffchwung zeugen, den das Studium 





der Archäologie in den legten Jahren in Frank: | 
reich genommen hat. Das Bud) war vorbereitet 
durch den 1887 veritorbenen Olivier Rayet, 
Prof. der Archäologie an der Nationalbibliothet; 
nad deſſen Tode unternahm es einer der talent» 


475 


vollften jungen Gelehrten Franfreichs, der jegt 

als Profeffor an der Faculte des lettres zu 

Paris wirfende Mar. Collignon, auf Grund 
an; felbftändiger Studien das Unternehmen 

fortuführen und zu einem Abſchluß zu bringen. 

Die Darftellung geht von den früheiten Ver— 

ſuchen keramiſcher Kunſt in Griechenland aus, 

erörtert die orientaliichen Einflüffe im afiati- 
ihen Griechenland, auf den Inſeln und dem 

Peloponnes, beipridt dann die korinthiſchen 

Ateliers in Italien, um hierauf zur Unification 

der verſchiedenen Stile und zur athenienſiſchen 

Kunſt überzugehen. Es werden die mannigfachen 

Formen der griechiſchen Vaſe vom ſechſten Jahr» 

hundert ab vorgelegt und die namhafteiten Er» 

zeugnifie diefer Keramik eingehend beſprochen. 

Die legten Kapitel bejchäftigen fich mit der 

Kunft der macedoniſchen Epoche, derjenigen des 

füdlihen Jtaliens und dem Ausgang der griedhi- 

Shen Bajenmalerei in Italien. Zum Scluffe 

werden auch die Nahahmungen des Metalld in 

der Keramif, die glafirte und emaillirte Poterie, 
endlich die Verwendung der Thonarbeiten in der 

Architektur behandelt. Die Darftellung, überall 

far und aus dem Bollen ichöpfend, ift durch 

eine große Anzahl vortreffliher Jlluftrationen 

im Tert wie auch durch Chromolithographien 

unterjtügt: das Ganze, eine höchſt empfehlens— 

werthe Zeiftung, die nicht nur dem Archäologen, 
fondern auch unjerm Kunſthandwerk von Nugen 
fein wird. 

08. Dramaturgie ded Schaufpield. Yon 
Heinrich Bulthaupt. Grillparzer, Debbel, 
Ludwig, Gutzkow, Laube. Oldenburg und 
Leipzig, Schulze’iche Hofbuchhandlung. 1889. 

Heinrih Bulthaupt hat jeine befannte, an 
diefer Stelle wiederholt gewürdigte „Dramas 
turgie der Claſſiker“ über das Zeitalter des 
achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahr» 
bunderts hinaus fortgeiegt, und auch die jüngft 
vergangene literariiche Epoche in derfelben feinen, 
eindringenden Weife, wie die elaſſiſche Periode 


\unferer PBoefie, zu dramaturgifch-fritiiher Dar- 


jtellung gebradt. Getreu dem jteten Brincip 
jeiner Betrachtung, bleibt er jener metaphyfiichen 


Aeſthetik fern, „die das fünftleriiche Gewiffen fo 


heillo8 verwirrt und erichredt hat“, und wandelt 
eifrig den Weg der Erfahrung und Beobadhtung, 
der langjamer vielleicht, aber fiher Schritt um 
Schritt dem Ziele auführt. Weil er von den Be- 
dingungen des lebendigen Theaters überall aus— 
geht, läßt Bulthaupt den genialen Eigenfinn 
der Kraftdramatifer, eines Grabbe und Genoſſen, 
bei Seite und wendet lieber, als den erperi- 
mentirenden Sonderlingen, den Theaterprafti- 
fern, wie Xaube, und den geididten Tendenz. 
macern, wie Gutßfow, feine Betradhtung zu; 
aber jeine beite Aufmerfjamfeit gehört denen, 
die Poeten und Beherrfcher der Bühne zugleich 


‚find, den Grillparzer, Hebbel, Dito Yudmwig. 


Mit volllommen gerechter Erwägung des Ge 
lungenen und des Berfehlten, des Gefunden 
und des Seltfamen in diefen Männern, zieht 


‚er die Geſammtſumme ihres Schaffens, und er 


weiß, indem er vom Bejonderen zum Allge— 
meinen aufjteigt, in wohlberechneten kleinen 
Auseinanderjegungen über fünftleriiche Fragen: 


476 Deutſche Rundichau. 


den Bau ded Dramas, die Zahl der Acte, die! Grundfragen der Culturgeſchichte, als einzelne 
Folge der Gefchehniffe, manderlei Anregungen Erſcheinungen derjelben behandeln. Die Titel 
zu geben, welche Künjtler und Kunftfreunde | lauten wie folgt: 1. Die Eultur, ihr Weien, 
dankbar acceptiren werden. ihre Geſetze und ihre Formen. 2. Die Rolle der 


Ph. Die tragiſchen Motive in der demt- | Völker in der Eulturgeihichte. 3. Der Menſch 
fchen Dichtung feit Goethe's Tode. und die Steine. 4. Mlangen und Thiere im 
Bon Rudolf Heinrih Greinz. Dresden und | Dienfte des Menſchen. 5. Das Eden der Anti: 


Leipzig, E. Pierfon’s Verlag. 1889. poden. 6. Die Art der Begrüßung bei verichie- 
Auf 172 Seiten gibt der Berfaffer eine ge) denen Völkern. 7. Vom Aberglauben aller 
drängte Ueberficht über alle bedeutenderen poeti- | Zeiten und Bölfer. 8. Die Entwidlung der 
ſchen Ericheinungen in Deutichland von der Zeit Religion. 9. Die verfchievenen Gewänder des 
der Romantifer bis auf den heutigen Tag. Jeder Götter- und Gottesglaubens. 10. Buddhismus 
Dichter erhält ein paar furze Worte, die leider | und Chriftentfum. 11. Die neuejte religiöfe 
in vielen Fällen wenig über die allgemeinften | Bewegung in Jndien. — Wie man fieht, ein 
Wendungen hinaustommen. Die Bezugnahme | ziemlich reich befegter Tiih, an dem jehr ver- 
auf die „tragiichen Motive“ liefert ein Grund- ſchiedene Gefhmadsrichtungen, die philoſophiſch— 
ſchema, in das nun Buch für Buch eingepreßt | religiöfe wie die jpecifiih culturgeichichtliche, 


wird, ohne daß dadurch wejentlich neue Gefichts- nd» 
punfte bemerkbar würden. Viele Einzelurtheile 
find außerordentlich oberflählich, ja gelegentlich 
direct unrichtig. Ueber einen gerade für eine 
Geihichte des tragiihen Motivs jo hochbedeut— 


famen Roman wie Keller's „Grünen Heinrich“ 
eht Grein; mit dem Sape hinweg: „Keller’s 


etwas für ſich finden werden. Was die 
anfchauungen von D. Henne am Rhyn anbe- 
trifft, jo treten diejelben am meiften im eriten 
und achten Aufſatz hervor. Die Cultur ent« 
widelt jich nad vier Gejegen: fie fchreitet vor; 
am Fortſchritt nehmen die Bewohner gemäßigter 
Zonen am meijten Theil; der Fortſchritt beruht 





rüner Heinrich, ebenfalls eine Entwidlungs- | 
geihichte, hat zu gedehnte Partien, welche den | 


lebhaften Gang der Handlung verhindern.“ 
Solde Aphorismen ohne jeden Werth über 
unfere Großen find um fo bedauerlicher in 
einem Bude, das vielen Kleinen übermäßigen 
Naum und bedenklich viel Weihrauch ipendet. 


auf dem mehr und mehr jich vollziehenden An— 
einanderichließen aller Völker; die Menfchheit 
geht einer völligen Berichmelzung aller Raſſen 
und Unterfchiede entgegen. Zu dieſer Ver— 
ſchmelzung gehört auch das allmälige Zurüd- 
treten der religiöfen Verſchiedenheiten; das 
Chriſtenthum muß fih im Laufe der Zeit mit 


So lejen wir unter Anderem mit Verwunde- dem Buddhismus verjchmelzen, damit die blei- 
rung auf Seite 169, daß der „Tannhäufer“ | bend mwerthvollen religiöfen Ideen, welche in 
von Julius Wolff neben Hamerling’s „König ihnen enthalten find, die gefammte Menichheit 
von Sion“ das „bedeutendite Epos jeit Goethe” | erobern können. Das ift bekanntlich die An— 
fei. Dem haben wir Nichts hinzuzufügen. fiht Eduard von Hartmann’s, den unier Ber: 
414. Alles verftanatlicht. Socialpolitiicher | faffer fonft wohl da und dort befämpft, dem er 
Roman. Nah dem Engliihen des Edward | in diefem Hauptpunft aber offenbar beipflichtet. 
Bellamy, bearbeitet von Georg Mal»|D. Henne am Rhyn verfügt über eine große 
fowäly. Berlin, Richard Edftein Nach- Belefenheit und mannigfadhe Kenntnifie: aber 
folger. 1889. mit dieſer Doctrin wird er gewiß lebhaften 
Auf dem Umſchlage des Buches wird in | Widerjprud begegnen, für fo felbitverftändlich 
reclamenhafter Weiſe verkündet, der Roman jei er fie auch zu halten jcheint. Cine nähere Be- 
in Amerita bereits in vierundiechzigtaufend | gründung unseres Widerfpruchs müſſen wir 
Cremplaren verkauft. Thatſächlich handelt es und indeffen bier verfagen. Troßdem wir in 
fich jedoch nicht um eine gewöhnliche Senjations- | einem wichtigen Stüd von dem Verfaſſer ab- 
arbeit, wir haben im Original zweifellos ein | weihen, fönnen wir das Studium feines Buchs 
tief durchdachtes und vom ethifhen Gejichts- | dentenden Leſern empfehlen: es bat jedenfalla 
punkte aus höchſt bedeutendes Werk vor uns.) den Vorzug, daß ed nicht auf dem Boden der 
Die vorliegende deutiche Bearbeitung (übrigens | fogenannten naturwillenichaftlihen Cultur— 
bereits die zweite in Deutichland, eine dritte geſchichte fteht, welche eine contradietio in 
von Schindler erſchien in Amerika) gibt diefen | adieeto ift und ihren Urfprung lediglich einem 
Eindrud nur unvollftändig wieder: ganz beion- | Fundament oder Irrthum über das Weien der 
ders jei der Leſer darauf hingemwieien, daß der | Eultur jelber verdankt; die Naturwillenichaft, 
für den Grundgedanken entiheidende Schluß | jagt O. Henne am Rhyn ganz gut, richtet ſich 
fortgelafien ift. Cine volllommen wortgetreue | auf das Natum, die Culturgeihichte auf das 
Ueberjegung ift ſoeben in der Neclam’ichen | Cultum. 
Univerjalbibliothef erichienen, und es dürfte Ye. Die Rolande Deutſchlands. eit- 
dad beite Zeugniß für den Werth des Buches | Schrift zur Feier des fünfundzwanzigjährigen 
fein, daß der Ueberjeter Georg von Gizycki iſt. Beitehens des Vereins für die Gefhichte Ver: 





Wir werden zur Zeit auf das merkwürdige lins. J. A. des Bereins herausgegeben von 
Werk eingehender zurüdfommen. ' NR. Beringuier. Berlin, E. S. Mittler & 
y. Culturgeſchichtliche Skizzen von O. Sohn. 1890. 

Henne am Rhyn. DBerlin, Allgemeiner | Die mittelalterlihe Selbitherrlichleit des 


deutichen —— iſt in der Mark nirgend 
jo weit fortgeſchritten, als in den alten Reichs— 
ftädten am Rhein oder in den Hauptplätzen der 


Berein für Deutiche Literatur. 1889. 
‚ . Der befannte ſchweizeriſche Eulturbiftorifer 
bietet uns bier elf Aufſfätze, welche ſowohl die 





Literariſche Notizen. 


Hanſa. In Berlin vollends, wo die ohnehin | 

beicheidenen Erinnerungen an eine Zeit balb- | 

republitaniiher Selbftändigfeit hinter den | 

Schöpfungen der aufftrebenden Fürftenmadt 

weit zurüdtreten, wird die glänzende Entwick— 

lung der modernen Weltjtadt jehr raſch auch 
die legten äußeren Spuren mittelalterlichen 

Gepräges vom Erdboden vertilgt haben. Es 

berührt beinahe jeltiam, wenn in diefer mo: 

dernen Welt der Gedanke auftaucht, ein Wahr: 
jeihen aus jener verichollenen Zeit au erneuern. 

on Seiten des Vereins für die Geſchichte Ber- 
lins ift die Anregung ausgegangen, ein An- 
denfen an das nachgewieſene Ki Vorhanden- 
jein eines Rolandsbildes — in der Vorftellung 
des jpäteren Mittelalters ein Wahrzeichen ftädti- 
ſcher Freiheit — in Berlin an geeigneter Stelle 
ein ſolches wieder aufzurichten. Dem Plane 
ift zunächſt ein Gutes zu danken: das Er- 
fcheinen der oben genannten Feftichrift, die 
in ihrer Bedeutung über den Durchſchnitt der- 
artiger Gelegenbeitsichriften entſchieden hinaus- 
ragt. — Das Bud bietet an erfter Stelle eine 
rechtsgeſchichtliche Auseinanderfegung eines der 
bewährteiten Foriher auf dieſem Gebiete. 

R. Schröder beipricht die Stellung der Rolands- 

ſäulen in der Rechtsgeichichte. dor dem nüch— 

ternen Blide kritiſcher Forihung bleibt der 
romantifche Zauber, mit dem dilettantiiche Ge- 
ſchichtsauffaſſung Diele Denkmäler fo oft um-| 
fleidet hat, nicht beitehen. Dafür bietet die 

Erfenntnif, dab die Rolandsjäule in ihrer ur- 

fprünglihen Anlage und Bedeutung ein Markt— 

zeichen ift, einen weſentlichen Gewinn für das 

Verftändniß der mit der Entwidlung deö Ber- 

kehrs auf das Engſte verknüpften ftäbtiichen 

Verfafiungsentwidlung. Daran fließen fich 

trefflih aelungene photographiiche Abbildungen 

fämmtlier jet noch vorhandenen Rolands- 
bilder nebjt kurzen ſachgemäßen Beichreibungen. 

Ein eigenartiges und reiches culturgeichicht- 

liches Material wird auf diefe Weife dem Leſer 

überfichtlih vor die Augen geführt, allerdings 
nur eine Vorarbeit, namentlich für die funt- 
geihichtlihe Behandlung des Gegenitandes. 

y. Sophofled: Chöre. Ein Führer durch 
die Tragödien des Dichters. Von 9. Dra- 
beim, Dr. ph. Eiſenach, J. Bacmeifter. 

Das vorliegende Schrifthen macht den Ver: 
juch, den Leſer dadurch in die Tragödien des | 

Sopholles einzuführen, daf der Inpalt der 

TDialogpartieen kurz zufammengefaßt wird, wäh: 


rend die Chöre in voller Ueberfegung mitges 





477 


Moicheles. Mit 13 Jlluftrationen. Leipzig, 
Dunder u. Humblot. ' 

Bei der Anzeige diefer Briefe braucht's nicht 
vieler Worte. Ebenio wie der vor zwei Jahren 
erichienene (und in dielen Blättern warm em— 
pfohlene) Briefwechſel zwischen Mendelsjohn und 
David wird auch Ddiefe neue Sammlung den 
Berehrern Mendelsſohn's innige Teude be⸗ 
reiten. Dem Sohne Moſcheles', Felix (dem 
Pathenkinde Mendelsſohn's), gebührt großer 
Dank dafür, daß er die Briefe vollſtändig und 
ohne jede Verkürzung zum Abdruck gebracht 
hat. Es muß das ganz beſonders hervor— 
ehoben werden, da die 1861 und 1863 von 
Baul und Karl Mendelsjohn herausgegebenen, 
fo weit verbreiteten Briefe Mendelsſohn's aud) 
in den neuen Auflagen noch immer die vielen 
Auslaffungen aufmweiien, welche die erften Her— 
ausgeber in übergroßer Rüdfihtnahme auf noch 
lebende Perſonen für geboten hielten, wozu 
nachgerade doc feine Beranlaffung mehr vor- 
zuliegen jcheint. — Die hier angezeigten Briefe 
umfaffen die Zeit von Mendelſohn's fieben- 
ehntem Lebensjahre an bis vier Wochen vor 
ee Tode. Der Herausgeber hat fie durd 
kurze biograpbiiche Notizen verbunden, fie theil— 
weile au durch Auszüge aus den Briefen 
Moicheles’ an Mendelsfohn erläutert. Das 
Bud gewährt ein klares und höchſt wohlthuen— 
des Bild von dem Freundſchaftsbunde, der 
zwiſchen Mendelsſohn und dem Ehepaare Mo— 
ſcheles beſtand. 

8. Die Vorftellung des Dinges auf 
Grund der Erfahrung. Ein Entwurf 
von Dr. Theodor Loewy. Leipzig, Carl 
Reißner. 1887. 

Was die vorliegende Schrift will, deutet 
der Titel derſelben an: den Begriff des 
Dinges entwickeln, ſein Verhältniß zum Be— 
wußtſein feſtſtellen, die Frage nach der Realität 
der Außenwelt beantworten an der Hand ber 
Erfahrung. Dies gefhieht in einer durchaus 


'jelbjtändigen, von nicht gewöhnlicher Kraft des 
Denkens und jeltenem Abftractionsvermögen 


zeugenden Weife, aber in einer faloppen, auf 
Schärfe und Beftimmtheit des Ausdruds leider 
nur allzu wenig Werth legenden Form. Auf: 


‚fallend ift, dab der Verfaſſer den Kraftbegriff 


und den mit ihm im engiten Zuſammenhang 
ftehenden Caufalbegriff bei feinen Auseinander- 
fegungen durchaus vermeidet. Theilt er Henne's 
Zweifel an der objectiven Bedeutung diejer Ber 
ariffe? ſucht er fih deshalb ohne fie zu be— 


theilt werden, und zwar in Reimen oder doch | helfen? und ift er in Wahrheit der Meinung, 
in einer unferer Poeſie ſich nähernden Geftalt. daß die Gonitruction einer objectiv » realen 
Die Ueberfegungen find ſehr fließend und qut | Außenwelt auch ohne Zuhülfenahme jener Be- 
ausgefallen; man fann dem Berfaffer dazu im | griffe gelingt? Wie man aber aud über diejen 
Ganzen nur Glüd wünſchen. Ob freilih der | Punkt und über manche andere urtheilen mag: 
des Sophofles noch unkundige Leſer nicht da- | jedenfalls enthalten Darlegungen wie die über 
durh, dab ihm bloß das Fremdartigſte der | Ausdehnung, Tiefe, Bewegung ꝛc. viel Beachtens- 
helleniſchen Tragödieen, die Chöre, mitgetheilt werthes, und der aufmerfiame Leſer, der ſich 
werden, einen einſeitigen und ſchiefen Eindruck durch die vorerwähnten formalen Mängel nicht 
empfängt, wäre wohl zu erwägen: einzelne abſchrecken läßt, wird ſich vielſeitig angeregt 
Dialogjcenen wenigſtens hätten eingeflochten finden und gewiß mancherlei, was für die 
werden jollen.  Drientirung auf dem betreffenden Gebiete 
sa. Felix Mofcheles, Briefe von Felir Men- brauchbar ift, aus dem vorliegenden Werte 
delsjohn-Bartholdy an Ignaz und Charlotte lernen. 


475 


zu. Pädagogiſche Piychologie nach Her: 
mann Xoße in ihrer Anwendung auf die 
Schulpraris und auf die Erziehung, von 
Dr. Friedrid Bartels, Director ſämmt— 
liher Bürgerihulen in Gera. I. Theil. 
— Fr. Maute's Verlag (N. Scenf). 
Der Verfaſſer, ein vielbeichäftigter prak— 


tiſcher Schulmann, auch literariich wohlbefannt, 


u. a. als Herausgeber der „Rheiniichen Blätter 


für Erziehung und Unterricht“, hat fi der‘ 


danfenswerthen Mühe unterzogen, aus X 


otze s 
philoſophiſchen u ein Syſtem der Yo. 


chologie zulammenzuitellen und mit einer An— 


wendung auf die Hädagogi 
tritt dem Herbart'ſchen 


chiſchem Gebiete nachzuweiſen, mehrfach ſcharf 
entgegen; er kommt daher auch vielfältig zu 
anderen Erflärungen piyfiiher Vorgänge als 
Herbart, deſſen Jünger heut zu Tage in der 
wifjenihaftlichen Pädagogik den Ton angeben. 
Dem Xehrer, der ſich nicht eingehend mit der 
Prüfung philojophiiher Syfteme zu befhäftigen 
vermag, tt ein 
in dem vorliegenden, auf zwei nicht gerade ums» 
fangreihe Theile berechneten Werte die Unter: 
ſchiede der Loge'ihen Auffafjung von derjenigen 
Herbart's und der Derbartianer, der fich dar— 
aus ergebenden praftiihen Folgerungen be— 
leuchtet findet. Möchten recht viele Lehrer da— 
durh veranlaßt werden, fih mit Lotze's 


f zu verjehen. Lotze 
erfuh, das Walten 
der Geſetze der Statit und Mecdanif auf piy- 


ienft damit erwiejen, daß er 


Deutſche Rundichau. 


fang des Jahres 1888 an den Deutichen Berein 
‚für Armenpflege und Wohlthätigkeit und an 
‚die Deutichen ———————— die Aufforderung 
richtete, ſich eingehend mit ihr zu beſchäftigen. 
Der erſtgenannte Verein hat im September 
desſelben Jahres einen ſtändigen, aus Männern 
und Frauen beſtehenden Ausſchuß für die 
Frage eingeſetzt, und dieſer die Herren Fritz 
Kalle, Reichſstagsabgeordneten, und Dr. Otto 
Kamp, ftädtiichen Lehrer zu Frankfurt a. M., 
beauftragt, „eine kurze, ſyſtematiſche, ganz ob» 
jective Beichreibung der im Inland und Aus- 
land ſchon beitehenden, bereit? bewährten Vor- 
fehrungen zur bhausmwirtbichaftlihen Ausbil» 
dung der Mädchen der arbeitenden Claſſen“ zu 
liefern. Das Ergebnik ift das vorliegende 
Schrifthen, eine ungemein geididte und 
brauchbare Verarbeitung des Stoffes, der den 
Verfaſſern theild durch eigene Beobachtungen 
an Ort und Stelle, theils als Antwort auf 
etwa fünfhundert ausgeſandte Fragebogen und 
briefliche Erkundigungen zufloß. In überſicht- 
lichſter Weiſe zeigt die kleine Schrift, was 
außerhalb des Elternhaufes bereits geſchieht, 
um die fünftige Hausfrau des Arbeiterö für 
ihren Beruf tüchtig zu machen, wie aud, was 
zu thun ift, wenn Einzelne, Vereine oder Ge 
meinden auf den vernünftigen und zeitgemäßen 
Gedanken kommen, ihrerfeits an diefem Punkte 
zur Abhülfe ſoeialer Nothitände den Hebel an« 
zuſetzen. Die Verfaffer haben ſich daneben 
nit nur der größeren Objectivität befleikiat, 


Schriften, insbejondere mit feinem „Mitrofos- | fie verleugnen auch nirgends die von ihnen 
mos“, befannt zu machen, und fi dadurch ſelbſt an den Anfang geitellte Grundwahrbeit, 
Ki die Gefahren einer einfeitigen, materiali- | daß alle Arten von Haushaltungsichulen Noth« 
tiſchen Weltanſchauung wahren, die dem ſchulen find, daß der normale Wen, ein 
Syſtem Herbart's nicht ganı ferne liegt. — | Mädchen zu einer tüchtigen Hausfrau beranzu- 
Schade um die vielen finnitörenden Drudfehler | bilden, immer dur den von einer ſolchen 
a ——— mit ſoviel Liebe und Fleiß Hausfrau ihres Standes geleiteten Einzelhaus- 

. alt führen wird. Aber jo lange wir in un- 
u. Die hauswirthichaftliche Unterwei⸗ — jehzigen Nothlage find, jo lange großen— 


ſung armer Mädchen. Grundzüge der 


beitehenden Einrichtungen und Anleitung | 


zur Schaffung derfelben. Bon Frig Kalle, 
Wiesbaden, und Dr. Otto Kamp, Frant- 
furt a M. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 
1889. 

Eine der allerwejentlihiten Grundlagen 
der Bollswohlfahrt, das gefunde Familienleben, 
ift in unjeren Tagen dur den Umftand ge 


theild die Mütter der unteriten Bolksichichten 
felber vom Haushalt wenig verftehen oder — 
Erwerbsarbeit ganz hingenommen werden, un 
die Töchter ſofort nach dem Verlaſſen der 
Schule gleichfalls in die Erwerbsarbeit ein— 
treten müſſen: gilt es, das Beſſere nicht des 
Guten Feind werden zu laſſen, ſondern zu 
helfen, wo Hülfe möglich iſt. In der bereits 
erfreulich wachſenden Literatur dieſes Zweiges 


fährdet, daß die Mädchen gar nicht oder nicht | der Wohifahrtsbeſtrebungen gebührt dem Schrift- 
ausreichend auf ihren Beruf als Hausfrauen chen der Herren Kalle und Kamp eine ganz 
und Mütter vorgebildet werden. Um dieſem | hervorragende Stelle. 

DViangel zu begegnen, muß für die unteren iv. Der Kampf um Konftantinopel. Bon 


Stände die Möglichkeit geihaffen werden, ihre 
Töchter, da eine Ausbildung im elterlichen 
Haushalt theils Überhaupt nicht, theild nur 
jebe mangelhaft zu befehaffen ift, in befonderen 

eranftaltungen lernen zu allen, was die 
Be eines einiadhen Arbeiterhaushalts er⸗ 
ordert. Laſſen ſich auch vereinzelte Spuren 
ſolcher Veranſtaltungen bis ins vorige Jahr⸗ 
hundert zurückverfolgen, fo iſt doch die öffent— 
liche Aufmerkſamkeit erſt ſeit wenigen Jahren 
auf dies Gebiet gelenkt; ja, einen weiten 
Widerhall hat die Sache eigentlich erſt gefunden, 
ſeit die unvergeßliche Kaiſerin Augufta zu An— 


Otto Wachs, Major a. D. Leipzig, Eduard 

Baldamus. 1889. 

Die politiſche und militäriſche Bedeutung 
des Kaukaſus. Von demfelben. Berlin, 
Richard Wilhelmi. 

Der Verfaſſer dieſer beiden Broſchüren, der 
die Literatur ſchon durch manche werthvolle 
Gabe bereichert hat, gehört nicht zu denen, die 
ſich leicht verausgaben: die vorliegenden Flug⸗ 
ſchriften ſtehen ganz auf der Höhe der früheren: 
Hare, auch dem Laien verſtändliche Sprache, 
weiſe Gliederung des Stoffes, ſtrengwiſſenſchaft⸗ 
licher Inhalt in fchönfter Form. — Major 





Literarifche Notizen. 


Wahs gibt in der erftgenannten Arbeit zunächſt 
einen biftorifch » politiihen Nüdblid auf die 
Vergangenheit Konftantinopels, beleuchtet es in 
gina Weiſe vom geographiichen und mili- 
täriihen Geſichtspunkte aus und erflärt aus 
der Weltlage der Stadt auch ihre Weltbedeu- 
tung und die Weltfämpfe um diefelbe. Weiter- 


bin weiſt der Berfaffer nahdrüdlid auf die | 


Gefahren hin, welde dem gefammten Weit: 
Europa aus einem „ruffifhen Konftantinopel“ 
erwadhien würden und verfteht unter dem 
„Kampfe um Konftantinopel” das Gebot, un- 
ausge r auf der Hut zu fein, die einmüthige, 
entſchloſſene Gegenarbeit der intereffirten Mächte. 

In der zweiten Broſchüre wird dargethan, 
welche ungemein günftige politifche und jtrate- 
giihe Lage fih Rußland durch Eroberung des 
Kaufafus und Unterwerfung feiner bisher 
unbotmäßigen Bewohner aus der Grenzicheide 
von Europa und Aſien dauernd geichaffen hat. 
Der Kaufafus, im letzten Sahraeh 


ige Hoch- und Wartburg geworden, fturmfrei 


im Norden und Dften, vollbewehrt im Weiten | 


und Süden, bildet eine fait uneinnehmbare 
Bertheidigungsftellung bei einem Kampfe in 
Gentralaften, ein jeder Zeit offenes Ausfalls- 
thor gegen Kleinafien. Der Autor verfagt den 
eivilifatorifchen Beftrebungen Rußlands, die in 
der Transfaspibahn, der in Ausficht genom— 
menen Kanalverbindung zwiihen dem Amu 


Darja und dem Haspijchen Meer beredten Aus: | 
drud findet, feine gerechte Bewunderung nicht; 


läßt aber auch hier wieder jeinen Warnungsruf 


ertönen, der auf die Riefenerfolge deutet, die 


feit der Eroberung des Kaukaſus nad diejer 

Seite hin Rußland erzielt hat. — Daß die 

vorliegenden beiden Schriften die erjten find, 

welche über die militärifhe und politifche Be- 
deutung der Stadt am goldenen Horn und der 

——— Licht verbreiten, ſei noch beſonders 

etont. 

&o. Wie denkt das Volk über die Sprache ? 
Gemeinverftändliche Beiträge zur Beantwor- 
tung diefer Frage von Dr. Friedrich Polle. 
Leipzig, B. G. Teubner. 1889. 

Ein eigenartiges Bud, das Geſchmachk, feine 
Beobachtung und eine Fülle von Wifjen in ber- 
vorragender Weife vereinigt. Der Berfaffer will 
die Aufmerkfamteit der Gebildeten aller Kreife 
auf die Sprade bes Volles Ienten, d. h. auf 
bie Eigenthümlichleiten feiner Sprach- und 
Denkweife, und zwar auf allerlei Gebieten bes 
Lebens. Unter „Volt“ verftieht er die minder 

efhulte große Maſſe Der Stoff, der lange 
abre hindurch mit Luſt und Liebe zur Sache 
gefammelt wurde, ift derartig geftaltet, daß jeber 


ernftere Leſer daran Gefallen finden wird. Den | 


harffinnigen, oft mit Wig und Humor ver- 


esten Bemerkungen und Sclüffen find eine 
Menge Anekdoten und andere Belege beigegeben, | 


durch welche die Darftellung außerorbentlich belebt 
und das Intereſſe bis zu Ende vege 
wird. Das Buch ift ein werthvoller Beitrag zur 
Kenutnig der Vollsfeele und bat ben nicht 
gewöhnlichen Vorzug, daß es belehrt und zualeich 


nte mwegbarer | 
gemadt und durch jtarfe Befeftigung eine ein- 


erhalten | 


479 


\aud erfreut. — Mit der Screibart „Göthe“ 

ftatt „Goethe“ können wir uns freilich ebenfo 

wenig befreunden, wie mit ber Begrinbung 

(S. 11, Anm. 1). „Wie das Bolt bentt“, er. 

fcheint uns in biefem Falle bei Weiten weniger 

wichtig, al® was, über feinen eigenen Namen, 

Goethe felbft gedacht bat. 

3. Nilfahrt. Bon E. von Gonzenbad. 
Mit Jluftrationen von Rafaello Mai- 
. : Stuttgart, Deutiche Berlagsanftalt. 

Immer wieder und wieder zieht das Yand 
der Pharaonen Maler und Schriftfteller an, 
und zwingt fie, ihre Eindrüde und Erlebniffe 
dur Feder wie Farben wiederzugeben, um 
auch Andere, wenn zwar nur indirect, Theil 
nehmen zu laffen an dem Zauber, den das 
noch von fo mandem Geheimniß umſponnene 

Gebiet des Nils auf Jeden ausübt, der nicht 

den letten Zwed des Reifens in franzöfiicher 

Küche und eleftrifch erleudhteten Hötels erblidt. 

Inniger Begeifterung und tiefer Yiebe zu den 

melandoliihen Schönheiten der Nillandichaften 

und ihren zahllofen geſchichtlichen Erinnerungen, 
die bier befonders lebhaft fich dem Reifenden 
aufdrängen, ift das obige Werk entiprungen, 
deffen äußerer Rahmen mufterhaft iſt. Aber 
auch jein Inhalt feffelt in hohem Grade und 
hebt das Bud über die Kategorie der üb- 
lihen Salon-Prachtwerke weit hinaus. Mainella, 
ein italieniicher Maler, auch bei uns durch manch' 
feinfinniges, Venedig behandelndes Delbild, durch 
manch' zierlihe und anmuthige Aquarelle vor: 

ı theilhaft befannt, hat den Tert mit über zwei— 

hundert theild in vorzüglichem Lichtdrud, tbeils 

in qutem Holzſchnitt reproducirten Bildern und 

Bildchen geihmüdt, welche durch charakteriftifche 

Beobachtung, namentlich der mannigfachen Volks— 

typen, und liebenswürdige Grazie ebenſo feſſeln 

wie durch ihre meifterhafte, bei aller Flottheit 

‚die größte Sorgfalt verrathende Ausführung. 

In oft zu verfhwenderiiher Weiſe find nad 

japanifhem Mufter die Blattränder mit win— 

jigen, zuweilen etwas manierirten Randvignetten 
verjehen; hier wirft ein Zuviel leicht aufdring- 
ie. Die Befchreibung der viermonatlichen 

Reife, welche im Winter von Venedig aus an— 

getreten wurde und von Nlerandrien nad) Wa- 

delai ging, itammt von E. von Gonzenbach und 
ift in Tagebuchform gehalten; anſpruchslos ge— 
fchrieben, verrathen die Aufzeihnungen überall 
das qute Auge und die tüchtigen Kenntniffe 
des Neifenden, der wohlvorbereitet diefe Fahrt 
antrat, niemals jedoch in einen aufdringlich be= 
lehrenden, das Gelernte und Gejehene anmaßend 
vorbringenden Ton verfällt. Bielleiht wäre 
es im deutichen Intereſſe erwünſcht geweſen, 
wenn der Berfafler aud der unter deuticher 
Flagge den Nil befahrenden Dahabijeh’S gedacht 
hätte; fie bieten mindeftens diefelben Annehm— 
lichfeiten wie die vom Coot'ſchen Reijebureau, 
deifen Vermittelung fih Autor und Maler be- 
dient, ausgerüfteten. Das in jeder Hinſicht 
ſympathiſche ſchmucke Buch wird für den großen 

Kreis der Nenyptenreifenden, und aud wohl 

| über diefen hinaus, eine willtommene Gabe fein. 




















480 Deutſche Rundſchau. 


Von Neuigkeiten, welche der Redaction bis zum | Jahnke. — u Bismard. Sein Leben und Birken. Bon 
12. Mai augegangen find, verzeihen wir, näberes| Hermann Jahnke. 1. Lig. Berlin, Paul Kittel. 18. 
ee nah Raum und Gelegenbeit uns flarpeled. — ——— Geſchichte der Literatur von 
vorbehaltend: ihren Anfängen bis auf bie Gegenwart. Bon Guſtav 
Adam. — Die Aristotelische Theorie vom Epos nach | Sarpeles. Mit luftrationen und Porträts. 1. xfg. 
ihrer Entwicklung bei Griechen und Römern von Berlin, G. Grote'ihe Berlagsbudbandlung. 1890. 
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abe der Adressen der Redakteure und Verleger, | enftein-Grottetwig. — Sonnenaufgang! Die Zur 
er Erscheinungsweise, Bezugs-, — und | funitsbahnen ber Neuen Dichtung. Son Alerander 
Beilagenweise der Blätterund anderenNachweisen, Yauenftein und Aurt Grottewis. Leipzig, Karl Heißner, 
31. Ausgabe. 1890. Bearbeitet von H. ©. Sper- | 1890. 
ling. Leipzig, Expedition des Zeitschriften-Adress- Lebon. — Etudes sur l'Allemagne Politique. Par 
buchs. Andre Lebon. Paris, Librairie Plon. 18%. 
Atlante — storico dell’ Italia in 24 Tavole Lenau: Fausto. Traduzione di Nannarelli. Milano, 
e 67 ne di Testo per G. Garollo, Milano, | Ulrico —— 1890, 
Ulrico Hoepli. 18%. Letters of Philip Dormer fourth Earl of Chesterfield 
Aumale. — Die Geschichte der Prinzen aus dem | to his godson and successor, Edited from the 
Hause der Conde. Von Heinrich Herzog von Au- | originals, with a memoir of Lord Chesterfield, 
male, Prinz von Orleans, Autorisirte Ueber- by the Earl of Carnarvon. Oxford, At the Claren- 
setzung von J. Singer. 1. Bd. Wien, Carl Konegen. | don Press. 18%. 
1890, 'Lövy-Bruhl. — L’Allemagne depuis Leibniz. Essai 
Barth. — Die Geschichtsphilosophie Hegel’s und | sur le developpement de la conscience nationale 
der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann. Ein | en Allemagne. 1700—1848. Par L, Levy-Bruhl. 
kritischer Versuch von Dr. Paul Barth. Leipzig, | Paris, Hachette & Cie, 18%. 





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Benda. — Perseus und St. Jürgen. Vortrag von | von Henry ®. Xongfellow. Deutſch von Dr. Richard 
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mond. NKünitlerifhe veitung: L. Wanzel. 1. Heft: Markewitſch. — Marina. Cine Erzählung von B. 
Vorwort von M. v. Neumond, Tas tanzende Berlin, Martewitihb. Aus dem NRuffiihen überfegt von Wil: 
Von Taul Yindenberg. Berlin, W. Pauli. 1890. ‘ beim Paul Graff. Berlin, Richard Wilbelmi. 1889. 

Bielsky. — Erloiten. Roman aus der Petersburger Menzel. — Die Entstehung des Lehnswesens. Von 
Geielihaft von Boris von Bielsty. Berlin, Karl! Viktor Menzel, Berlin, Wiegandt & Schotte. 1890. 


Ulrih & Co, 1890, ‚Miefner. — Tie Geilter vom Nörnberg. Ein San 
Bormann. — Hand Boltmar. Die Geſchichte eines von Einit und Jegt von €. Miefner. Berlin, A. Senf. 

Künftlerd von Georg Bormann. Berlin, Kurt Bradıs 1890, 

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Brandstäter. — Das Fest des Prometheus. Epische land. Tritte Nuflage. Berlin, Gebrüder Baetel. 1890. 
Dichtung von Franz Emil Brandstäter, Hamburg. , Moltte. — Wanderbuch. Handſchriftliche Aufseihnungen 
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Buchholtz. — Geschichte der Buchdruckerkunst in Auflage. Berlin, Gebrüder Paetel. 18%. 

Riga, 1588-1888, von Arend Buchheltz. Fest- | Neukomm. — Berlin tel qu'il est. Par Edouard 
schrift der Buchdrucker Riga’s zur Erinnerung Neukomm. Paris, Ernest Kolb. 

an die vor 300 Jahren erfolgte Einführung der | Moeft. — Die Vrozefloften. Eine Studie von B. Noet. 
Buchdruckerkunst in Riga. Riga, Müller'sche Breslau, Schleſiſche Buchdruckerei, Kunſt⸗- und Berlags- 


Buchdruckerei. 1890. anitalt (vormals S. Schottlaender). 1890. 
Bülow, — Neue Novellen von Margaretbe von Bülow. | Parrille. — L'’Exposition Universelle. Par Henri 
Berlin, Walther & Apolant. 1800. ' de Parville. Lettre preface par A. Alphand. Paris, 


Defoe. — Zociale Fragen vor zweihundert Jahren (An | „I; Rothschild. 188. : 
— on Projects) von Daniel Defoe, 1697. Ueber: Reymond. — Der Zeichsfaßbinder. Ein deutſches Fan 
iegt von Hugo Fifber. Yeipzig, €. 2. Hirfhfeld, Ingo. Mastsiviel, mit 30 Perfonen zu agieren und bat drei 

Ehner-Eihenbad. — Miterlebtes. Erzählungen von te nebit Bor» und Nadiviel. Verfaht von M. Rev» 
Marie von Ebner-Eihenbadı. Zweite Auflage. Berlin, mond und mit ertledlihem Bilderjhmude ausftaffiert 
Gebrüder Taetel. 18%. von 5 —— Berlin, > Fauli. 1890. 

Salte. — Der Novise von Aremömünfter. Gryiblung | "Samuel Rochehlave. Paris. Hachette &-Cie, 1889. 
In Berjen von hans Falke. Wien, Karl Gerold's Sohn. | Mopenberg. — Herrn Schellbogen's Abenteuer. Ein 


18%. ⸗ d t ; ⸗ 
Fontane. — Stine. Bon Theodor Fontane. Berlin, Bee —— Hans." 1890 Jullus Roden 


F. Fontane. 180. —_ sopläb! i r , 
Fried, — Der Naturalismus, seine Entstehung und | — — — — Be 
Berechtigung. Von Alfred Fried. Leipzig und | pad. 1890. i ä i 
Wien, Franz Deuticke,. 18%. mid. — 
Fuchs. — Die Copirschule. G'schnasbildersaal für | GR: 2 Handglofle von Dr. Anton Shmid. Weimar 
nachahmende Kunst und nachempfindende Lite- Herm. Weifbad. 1890 y " ä 
ratur. Von Isidor Fuchs. Wien, M. Breitenstein's | gegtmeher. — Die Ylutfaat. Erzahlung aus der Her 
Verlag. 1890. | formationszeit von E. Tegtmeyer. Jena, Hermann 
Girot. — Agrcgation d’Allemand en 18%. Biblio- | Koitenoble, 18, 
graphie speciale des auteurs allemands par A. | Wex. — Gedichte von Joseph Wex. München, 
Girot. Paris, Paul Dupont. 1800. ' _P. Wipperers Verlagsbuchhandlung. 
Girot. — Hermann und Dorothea. Texte allemand , Windelband. — Fichte's dee des deutfhen Staates, 
avee une introduction et des notes par A. Girot, Rede zur eier Des Geburtstages Seiner Majeftät des 





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Berlin, ©. Fiſcher. 1890. \ In, 
ö — — — — — — — a 
Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Druck der Pierer'ſchen Hofbuchdruckerei in Altenburg. 

Für die Redaction verantwortlich: Paul Lindenberg in Berlin. 
Unberechtigter Abdruck aus dem Inhalt dieſer Zeitſchrift unterſagt. Ueberſetzungsrechte vorbehalten. 


Deutſche Rundichau. 













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ihre Gefege und ihre Formen, — 
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Menihen. — Das Eden ber 
Antipoden. — Die Art der 
Begrüßung bei verjcdiedenen 
Böltern. — Bom Nberglauben 
aller Zeiten und Völker. — Die 
Entmwidelung der Religion, — 
Die verjhiebenen Gemänber bes 
Götter» und Gotteöglaubend. — 
Buddhismus und Ebriftenthum. 
— Die neueite religiöje Bewegung 
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DeutfiheRedensarten, 


Spradlic und kulturgeſchicht⸗ 
ih erläutert von Albert 
Bidyter. Broch. 2 M., eleg. 


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Blätter für litter, Aniertaltung 
1839, No. 52: „.... Die reife Fruch 
einer befonnenen, fleifigen und forg- 
fältigen Unterfudung, die fih in 
jeber Beziehung bem behandelten 
Stoffe gewachſen zeigt. ... Mande 
Abſchnitte lefen fih wie ein anziehen⸗ 
des Stild — zu dem 
unſere Dichter und Schriftſteüer den 
Text liefern... Um feiner ſauberen 
feinen Ausftattung willen fei bas 
Büdlein zu 9 eftgejhenten ganz bes 
ſonders empfohlen.‘ 

JIlluſtrixte Zeitung, No. 2420: | 
Das Bud, ein Seitenftüd zu | 
Büdinann's „Geflügelten Worten“, 
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par M. Adolphe Ribaux. 
Les rögiments suisses et 
la r&volution frangaise, par 

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yar M. Edouard Lullin. 
es origines de Faust, par 

M. Edouard Rod. (Seconde 
et derniöre partie.) 

Le joueur de zither. Nou- 

velle, par M. Jean Menos. 

Troisime partie.) 
Variötes. — Alexandre Vi- 
net. A propos d’un livre 

nouveau, par M. Philippe 

Godet. 

VIII. Chronique parisienne. 

La —— au Salon. Le candi- 
dut des etudiants à l’Academis. — 
L’'äme des bötes. — Religion jet 

hilosophie. — Livres noureaux. — 

Un mystöre au Cirque d’hiver. 

1X. Chronique allemande. 

Le domaine du prince du Biamarck, — 
Une &re de reformes; le surmenage. 
— Les juifs dans les écoles pabli- 
ques. — Examen de vonlontariat; 
suppression du pririlöge des gym- 
nases. — theätre classique en 
Allemagne; la r&forne du duc de 
Saxe-Meiningen. — Le second Faust 
au Theätre allemand. — Shake- 
speare au Theätr« berlinois, 

X. Chronique anglaise. 

Lettresinedites de lord Chesterfield. — 
Nos expositions de peinture, — 
Lord Melbourne. 

XI. Chronique suisse. 

La vie intellectuelleäGenäve: beaux- 
arts, sciences, etudes sociales; 
l'exposition Veillon ; laconservation 
des monuments historiques; In s0- 
eietE de geographie. — Daniel 
Cummings. — Jean-Jacques Rous- 
seau juge par les Fran is, 

XU. Chronique scientifique. 

Le pont du Forth. — Le noureau 


I. 
111. 


VI. 


VII. 


fusil allemand, — Progrès des 
chemins de fer. — Tunnels sous- 
marins. — Un canal japonais. — 


Le Khin & Winterthour. — Nou- 
veauxtransatlantiques, — L’electri- 
eitd. — Phonographe et grammo- 
phone, — Nouvelles plaques sen- 
sibles. — Un telescope geant. — 
Decouvertes chimiques. 
XIII. Chronique politique. 
Demissionnaire! — Le voya rösi- 
dentiel et les dlections e Part 
En Italie. — En Angleterre, — 
Questions ouvriöres:- conförence de 
Berlin; assemblde d’Olten; mani- 
fostation du ler mai, — Affaires 
tessinoises. — Le Simplon. 
XIV. Bulletin litt6raire et biblio- 
graphique. 

La Bibliothöque universelle par-"' 
au commencement de cha < » 
livraisons de 224 as 
pays de l'Union po: 

— Six mois: 14 fr.ıqetten ꝛc. gezeichnet 
de la Bibliothöo 


de pone Jebunden a Mart 5,—. 


— Vierter Band: Werinber 


Deutfhe Rundihau. Juni 1890. ' 3 


JANUS 


Lebens- und Pensions-Versicherungs-Gresellschaft in Hamburg. 


Errichtet am l. Februar 1848. 


Auszug aus dem Rechenschafts-Berichte 
vom 12. April 1890. 


— — (185) 
Ultimo 1889 waren in Kraft: 
26 830 Lebens-Versicherungen mit.. .. ... . . .. .. ... .. ..4 A 77 244 265. 
1044 Renten- u. Pensions-Versicherungen mit jährlich zu zahlenden 
Pensionen von 606 128. 
Die Einnahme in 1889 betrug: 
An Prämien- und Kapital-Zahlungen ...... . . .. ... . ..... AM 3437 748. 
» Zinsen 
Verausgabt wurden: 


Fur 456 Todesfulle. ... .. . . ... a pn a a aaa een aaa #4 1305 165. 

» 113 bei Lebzeiten fällig gewordene Versicherungen 168 565. 
Seit ihrer Gründung zahlte die Gesellschaft überhaupt an Ver- 

sicherungs-Kapitalien und Renten : 33513 308. 


Das Grund-Kapital der Gesellschaft beträgt # 1500 000. 
Die Reservefonds belaufen sich auf : 22 494 270. 


Davon sind angelegt: 


In Hypotheken A 20 020 036. 
- Darlehen gegen Unterpfand 233 700. — 
- Darlehen auf Policen der Gesellschaft 1 222 997. 13 


Rechenschaftsberichte, Prospeete und Antragsformulare gratis: 
in Berlin €. bei der General- Agentur 


Hirschfeld & Goldschmidt, 


Alexander-Strasse 70, 
sowie bei sämmtlichen Agenten der Gesellschaft. 


Hamburg, April 1890. Die Direotion. 





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— König Sadal. Herbitblumen. 

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RZ A 

er 


4 Deutſche Rundichau. Juni 1890. 


Serder’fhe Berlagshandlung, Freiburg im Breisgau. 





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— Jahrgang 1889-1890. Enthaltend die hervorragendften Fortſchritte auf 
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ebieten: PBnfil, Chemie und chemiſche Tehnologie;s Mehanik; Aftronomie und 
mathematifhe Geographie; Meteorologie und phufikalifhe Geographie; Botanik und 
Boologie, Forfi- und Sandwirtdfhaftz Mineralogie und Geologie; Gefundbeitspflege, 
Medizin und Rhyſiokogie; Anthropologie und Argeſchichte; Länder- und Bölker- 
fundes Handel, Induflrie und Verkehr. Unter Mitwirtung von Fachmännern —— 
geben von Dr. Max Wildermann. Mit 37 in den Tert ger Holzſchnitten. gr. 8°. 
(XI u. 596 S.) Mt. 6; in eleg. Drigihal-Einband ME. 7. ie Einbanddede 70 Bf. 
Die vier erfien Sal tänee (1885 —1889) Rönnen nachbezogen werden; Jahrgang I—1II 
zum ermäßigten reife von A ME. 3, geb. ME. 4; der vierte Jahrgang für M. 6, geb. ME. 7. 









































NMordwestdeutsohe 
Gewerbe- u. Industrie-Ausstellung 


vom 31. Mai bis 1. October 1890 
im Bürgerpark zu Bromen. 


Auflage 552, Wu; das vers 
breitete aller Deutidhen 
Blätter überhaupt; aufer- 
em erfheinenlleberjeguns 
gen im zwölf fremden 
Spraden. 






55* wen 
ww * .. 
Mufteirte Ehren - Präsidium: 

Zeitung | Ober-Kammerherr Baron v. Alten, Kıc. über-Präsident Dr. v. Bennigsen, kı. 
u Toi⸗ (Oldenburg.) (Hannover.) 

— — Bürgermeister ©. Buff. Konsul H. H. Meier. 

beiten. (Bremen.) (Bremen.) 

— Eröffnungs-Feier: Sonnabend, den 31. Mai 1890. 





Num⸗ 

Preis An diese Ausstellung schliesst sich 

sereo Bl eine Ausstellung der Deutschen Hochseefischerei 
5 j M, 1.85 und der Schifffahrt, 
75 Ar, Jährlich erſchei— 


an der sich die Kaiserliche Marine in hervorragender Weise 
betheiligen wird. 

Zu der Concurrenz in der Maschinen - Abtheilung ist 
ganz Deutschland herangezogen. 

An der elektrischen Ausstellung haben sich die ersten 
Firmen Deutschlands in grossartigster Weise betheiligt. 

In Verbindung mit der Gewerbe- und Industrie-Aus- 
stellung steht eine grosse Allgemeine Kunst- Ausstellung 
und andererseits wird die Handels-Ausstellung ein getreues 
| Bild der vielfachen Handelsbeziehungen Bremens geben. 

Eine reich beschickte @artenbau-Ausstellung wird dem 
an und für sich schon so schönen Ausstellungsplatze, dem 
Bürgerparke Bremens, den Schmuck reichen Blumenflors und 
saftiger Rasentlächen gewähren. 

Ein Panorama zeigt die Ankunft des Norddeutschen 
Lioyddampfers „Lahn“ inNewyork in naturgetreuer Wiedergabe. 

Bremen, den 22. März 1890. 


Der Vorstand 


L_ der Nordwestdentschen Gewerbe- u. Industrie-Ansstellung, 
Verlag von Gebr. Yartel in Berlin. | Chr. Papendieck, Vorsitzer. Gottfr. Bergfeld, I stellvertr. 


üßefei Vorsitzer. Dr. A. Feldmann, Il. stellvertr. Vorsitzer. Dr. 

2 Gr * en 4,0» Jucchl, Konsulent der Gewerbokaunmer: Lamb. Leise 
witz, Vorsitzer der Platz-Kommission. Bernhd. Loose, Vor- 

ein es Aalers sitzer des Finanz-Ausschusses. F. E. Schütte, Vorsitzer des 

über feine Kuuſt. Parkvereins. A. Töpfer, Director des Gewerbe-Museums. 

Bon Otto Anille, Dr. H. H. Meier jr., Vorsitzer des Kunst-Vereins. 

Oetav. Preis geheftet 3 Mart. | @. Pagenstecher, Vorsitzer, und Syndicus Dr. Sombart, 

Zu beziehen durch alle Bnch- Schriftführer der Handels-Ausstellung. 
bandlungen bed In- u. Audlandes. J. &. Poppe, Architekt der Ausstellung. 


nen: 

24 Nummern mit Zoiletten und 
Handarbeiten, entbaltend gegen 
2000 Abbildungen mit Beſchrei⸗ 
bung, welde das ganie Gebiet 
der Sarderobe und Leibwäſche 
fir Damen, Mädchen und Annas 
ben, wie für dad zartere Slindes» 
ter umfaflen, ebenſo die Yeib- 
wäfde fiir Herren und die Bett- 
und Tiſchwäſche ıc., tie die 
Handarbeiten in ihrem ganzen 
Umfange. 

12 Beilagen mit etwa 200 Schnitt» 
muſtern fiir alle Gegenſtände der 
Sarderobe und etwa 400 Diufter» 
Borgeibnungen flir Weiß- und 
Yuntitidlerei, Namens-Ebiffrenzc, 

Abonnements werden jederirit an» 
genommen bei allen Budhbaud«- 
{ungen und Boftanftalten. — 
Probe » Nummern gratit und 
franco durch die (Erpedition, 
Berlin W, Potedamer Etr, 38; 
Wien I, Opernaafle 3. 





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Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin. — Drud ber Pierer'ſchen Hofbuchdruckerei in Niten- 
burg. — Für den Inieratentheil verantwortlih: Albert Bidal in Berlin. 


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in 


Deulſche Rundſchau. 


Herausgegeben 


Julins Rodenberg. 


Sechzehnter Jahrgang. Heft 9. Juni 1890. 


Berlin. 
Verlag von Gebrüder Paetel. 


Alegandrien, Ernft Bimpel. — Amfterbam, Seyffardt'ſche Buchhandlung. — Athen, Karl Wilberg. — Bafel, 
Louis Jente's Buchhandlung. — Bolton, Earl Schoenhof. — Bubapeft, C. Grill's Hofbuhhandlung. — 
BuenodsHired, 2. Jacobfen & Co. — Bulareſt, Alexander Degenmann. — Sotidel & Eo. — Ehicago, 
Röling & Alappenbadh. — Ehriftianie, Sammermegers boghandel (vorh.: Alb. Gammermeyer). — Cincinnati, 
Wilde & Co. — Dorpat, Theotor Hoppe. E. J. Karow's Univerfitäts-Buhhanblung. — Kapftadt, Herm. 
Michaelis. — Komftantinspel, Lorenz & Keil Hofbudhandlung. — Kopenhagen, Andr. Fred. Hoeſt & Sohn, 
Hofbuhhandlung. Wilh. Prior's Hofbuhbandlung. — Liverpool, Shol & Mc Bee. — London, Dulau & Co. 
D. Nutt, A. Elegle, Trübner & Co. Willlams & Norgate. — Luzern, Doleſchal's Buchhandlung, — Ryan, 
9. Georg. — Mailand, U. Hoepli, Hofbuchhandlung. — Mitan, Fr. Lucas, — Montevideo, L. YJacobfen & Eo. 
— Moödtan, 5. Deubner. Alerander Lang. Eutthoff’fhe Buchhandlung. — Neapel, Heinrih Detten, Hof: 
buchhandlung F. Furchheim. — New-Dork, Guſtav E. Stechert. €. Steiger & Co. B. Weflermann & Go, 
S. Bidel. — Odeſſa, 2. Rudolph's Buchhandlung. — Paris, ©. Fiſchbacher. Haar & Steinert. F. Vieweg. — 
Beteröburg, Carl Rider. H. Schmihdorff's Hofbuhhandlung. — Bhilabelphia, €. Schaefer & Roradt, — 
Bila, Ulrico Hoepli's Filiale. — Porto-Mlegre, A. Mazeron. — Reval, Aluge & Ströhm. Ferdinand Waſſer⸗ 
mann. — Riga, J. Deubner. N. Aymmel’s Buchhandlung. — Rio be Janeiro, Laemmert & Co. — Ross, 
Loeſcher & Eo,, Hofbuchh. — Wotterdam, B. J. van Hengel. — San Francisco, Fr. Bild, & D. Barthaus. 
— Santiago, ©. Brandt, — Etodholm, Samjon & Wallin. — Fannında (Süb-Auftral.), F. Baſedow. — 
Tiflis, ©. Baerenftamm Bwe. — Balparaiio, ©. F. Niemeyer, — Warfſchau, E. Wende & Go. — Wien, 
Bid. Braumüller & Eohn, Hof» & Univ.⸗Buchh. Wild. Frid, Hofbuchh. Ranz'ſche k. k. Hofverlags⸗ & Untv.r 
Buchh. — Dolshama, H. Ahrens & Co. Nadi. — Zürich, C. M. Ebel. — Meyer & Heller. — Albert Müller . 

(Nachf. von Drell Füßli & Ko,’ Sortiment). 








Inhalts-Verzeiäniß, 


duni 1890. 


Seite 


2 Zwifhen Kirche und Paftorat. Novelle von Mite Aremnit 321 
I. Stammbucdblätter aus Goethe's NRachlaß. Mitgetheilt von 
Dr. Walther Oulpius . 


u ER . 348 
II. Zeitgenöfjifche —— Bon Lady — 





364 





IV. Petron's Gaſtmahl * Trimaldio Don £. — 378 
V. Heilige Bäume und Pflanzen. Gulkı ichtliche Skizze von 

Dr. Serd. Adalb. Iunker von Langegg UV . . " 388 
VI. Don Duirottino. Novelle von Salvatore Farina. Erſter 

BE ie tee ee 





VII. Die — Bon Barl Frenzll . . 2. 447 





Alle für die „Deutfche Rundſchau“ beftimmten Briefe, Bücher und fonftigen 
Sendungen find ausſchließlich zu adreffiren: 


An die Redaktion der „Deutfchen Rundſchau“, 
Berlin, W., Luttzowſtraße 7 
Manufcripte aber nur nach vorhergegangener Anfrage einzufchiden. 


— — — — — 
— — — — 


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VIII 


—— 


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— — 
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— —, 


In 
Gebrüder Paetel's Verlag 
in Berlin 


erschien vor Kurzem: 


Deue Geschichten des (Dajors. 


Hans Hopfen. 


Inhalt: 


Uebergangen ! — Der polnische Wachtmeister. 
Schneidiges Liebchen. 


Octav-Format. 26 Bogen. Geh. M. 6.—. Eleg. geb. M. 7.50. 


3 


Deren Schellbogen’s Abenteuer. 


Ein Stücklein aus dem alten Berlin. 
Von 


Julius Rodenberg. 
Octav-Format. 16 Bogen. Geh. M, 42—. Eleg. geb. M. 5.50. 


* 


Hans Hopfen und Julius Rodenberg gehören zu den besten 
Schriftstellern der Gegenwart und geniessen in den weitesten Kreisen 
die wärmste Verehrung. Jedes neue ihrer Werke wird mit grösster 
Theilnahme aufgenommen und findet gleich starke Beachtung beim 
Publicum wie bei der Kritik, Enthält Hans Hopfen’s Novellenband 
drei prächtige Erzählungen aus dem Militärleben, flott und spannend 


geschrieben, so giebt uns Julius Rodenberg im Rahmen des Berlin 


der 60er Jahre, welches er wie kein Zweiter zu schildern versteht, einen 
humordurchwehten kleinen Roman, der ebenso fesselnd wie interessant ist. 


Berlin W,, Ende Mai 180». 
Lützowstr. 7. 


DEE” Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des 
In- und Auslandes. “Sg 








“SECURUS JUDICAT ORBIS TERRARUM.” 


Apollinarıs 


NATÜRLICH 
KOHLENSAURES MINERAL-WASSER. 


Die jährlichen Füllungen am Apollinarıs-Brunnen 


(Ahrthal, Rhein-Preussen) betrugen 


11,894,000 in 1887, 
12,720,000 , 1888, 


und 


15,822,000 ‚„ 1889, 


Flaschen und Krüzge. 


“ Der jährliche Consum dieses beliebten Wassers hefert den schlagendsten Bexveis 
Für das überall bestehende bedürfniss für ein Tafelwasser von absoluter Reinheit, und 
es ist befriedigend, dass in beiden Hemispharen, wohin man auch reist, es überall 
zu finden ist; es ist allgegenwärtig ( ubigquitous’), und sollte eigentlich das 
‘ Kosmopolitische Tafelwasser’ genannt werden * QOuod ab ommibus, guod ubique” 


BRITISH MEDICAL JOURNAL. 


THE APOLLINARIS COMPANY, LIMITED, 
LONDON, und REMAGEN a. RHEIN. 


Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg. 


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