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neuern Philoſophie
feit der Epoche der Binepeplun, ber
| Wiffenfchaften.
Bon
Johann Gottlieb Buhle,
Ruſſiſch⸗Kayſerlichem Hofrathe und Profeffor zu Moſkwa.
I
ne — — —
Sechsſter Band.
Goͤttingen,
bey Johann Friedrich Roͤwer.
1804
Sefqhichte
der
Künſte und Wiſſenſchaften
ſeit der Wiederherſtellung derſelben bis an das Ende
des achtzehnten Jahrhunderts.
Von F
einer Geſellſchaft gelehrter Naͤnner
ausgearbeitet.
Sechste Abtheilung.
Geſchichte der Philoſophie
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von
Johann Gottlieb Buhle.
Sechster Band.
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Göttingen,
bey Johann Friedrich Röwer.
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neuern Philoſophie
ſeit der
Epoche der Wiederherſtellung der Wiſſenſchaften.
-
Viertes Hauptſtuͤck.
Geſchichte der neuern Philoſophie waͤhrend des acht⸗
| zehnten Jahrhunderts bis auf Kant.
Achtzehnter Abſchnitt.
Geſchichte der Theorie der Statswirthſchaft in England,
| Fortſetzung.
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-
y- m zwenten Theile des vorhergehenden fünften '
ns Bandes der Gefchichte der neueren Philoſophie
babe ich die Theorie der Statswirthſchaft ausfühes
lich dargeftellt, wie fie von den beyden berühmteften
Britifhen Schriftfielleen. in diefem Face, David
Hume und Adam Smith, in ihren Werken
vorgerragen if. Eine ausführlichere Darftellung
- berfelben war gemwifjermaßen hiſtoriſch nothwendig,
weil bier zuerft die richtigen Grundfäge der Stats⸗
a SE Br © 55 wirth⸗
4 Geſchichte der neuern Philoſophie
wirthſchaft aufgeſtellt, entwickelt und erwieſen ſind,
und die gleichzeitigen und ſpaͤtern politiſchen Schrift⸗
ſteller in dieſen im Weſentlichen mit ihnen zuſammen⸗
ſtimmen, und nur in der Ausdebnung derſelben, in der
Anwendung auf beſondre Gegenſtaͤnde, in den Folgerun⸗
gen, in der weiteten Auseinanderfegung einzelner Mas
terien, fich von ihnen unterſchieden. Es iſt auch nicht
wohl möglich, einer philoſoobiſchen Theorie der .
wirthſchaft die erfoderliche Klarheit zu geben obne
größere Umftändlichfeit, weil die Grundſaͤtze *
Rechtfertigung aus der oft ſehr ſchwierigen verwickel⸗
ten Beſchaffenheit der Gegenſtaͤnde und ihrer Vers
haͤltniſſe, wo fich die wahren Urfachen und Wirfuns
gen leicht verfennen laſſen, oder doch wenigftens einer
„rläuterung duch Benfpiele, bedürfen.
Faſt zugleich mie Adam Smith ſchrieb dee
Baronee James Stevart feine Unterfuchungen
über die Principien der Starsöfonomie *) Er war |
ein gelehrter durch philoſophiſche Studien, durch
‚Reifen, und aufmerkjame Beobachtung des innern
policifch:öfonomifchen Zuftandes ſowohl feines Va⸗
terlandes, als der cultivirteften Europäifchen Völker,
zur Aufflärung feines Sujers fähiger Kopf. An
Scharfſiun und Tieffinn, an Originalität und Meus
heit der Anficht überhaupt, wurde er von feinem Zeits
genoffen uͤbertroffen; aber er Fante manche zur States
witthſchaft gehörige Partieen genauer, und Drang
! tiefer
*) An Inquiry into the principles of political oecono-
my‘ being an Effay on the Science of domeftic poli-
cy in free nations In which are pärticularly confi-
dered Population, Agriculture. Trade, Induftry, Mo-
ney, Coin, Intereft, Circulation. Banks, Exchange;
Public Credit, and Taxes By Sir Fanes Stevart,
Bart, Intwo volumes, Kondon 1767. 4. |
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Sant. 5
tiefer in das Derail derfelben ein, als jener that und
shun Ponte, Sein deengang ift regelmäßiger, und
noch foftematifcher. Seine Schreibate ift zwar weit⸗
laͤufiger, und bat weniger Annepmlichkeit, als die
Screibart des Smith; aber fie empfiehlt fi) das
gegen durch eine ungleich größere Deutlichkett.
Die Aufmerkfamkeit Stevart's iſt vorzüglich
auf folgende Hauptpuncte gerichtet, als ob fie ihm
Hume in feinen Verſuchen vorgezeichner hätte: Bes
völferung, Ackerbau, Handel, Induſtrie, Geld,
Münze, Zinfen, Geldumlauf, Banf, öffentlicher
Credit und Taxen. Mach diefen Hauptpuncten iſt
ſein Werk abgetheilt.
Das erſte Buch betrifft die Bevoͤlkerung und
den Ackerbau. Stevart handelt hier von dem
Begriffe eines Stats und einer Statsverfaſſung übers
haupt; von dem Geiſte eines Volks; von den Mas
zimen und natürlichen Urſachen, weiche die Bes
völferung vermehren, und was die ‚Fortpflanzung der
Menjchen für Wirfungen habe, in tändern, wo ſich
die Menfchenzahl nicht vermehrt; auf welche Art,
und nach welhen Marimen und politifchen Urfas
chen: der Ackerbau zur Vergrößerung der Volksmen—
ge beyträge, und ‚wie die Bedärfniffe dee Menſchen
ihre Vermehrung befördern. Dann geht er über zur
Entwickelung der Folgen, welche die Sclaverey für
die Vermehrung und Arbeit eines Volkes hat; er
zeigt, melches Verhaͤltniß der Einwohner eines
Landes notwendig fey, um zu beflimmen, wie vies
le fih dem Ackerbaue mit Mugen für das Ganze
widmen müflen oder Pönnen, mie viel hingegen
ſich jeder anderen Befchäfftigung überlaffen dürfen;
nach was für Principien fich die Vertheilung der Mits
43 5 glieder
6 Geſchichte der neuern Philoſophie
glieder einer Nation in Landguͤter, Dörfer, Flecken,
kleinere und größere Städte richtetz was für, Folgen
aus der Abfonderung der beyden Hauptclaſſen eines
Volks, der fandbauer und Fteymänner, in Anfehung
ihrer Wohnungen entfpringen, worauf die Abrheis
lung der Einwohner in Stände beruhe, und was die.
Beſchaͤfftigungen derfelben auf ihre Vervieffachung für
Einfluß haben. Endlich zeige.er die großen Vorthel⸗
fe, welche eine wohl Hberdachte und geordnete Theos '
rie der Statswirthſchaft, eine gründliche Kenntniß der
Thatſachen, worauf es. anfomt, verbunden mit einer
ihr entfprechenden Handlungsweife der Regierung, für
"die Bevölkerung habe; wiefern eben deß wegen unter
andern gemeine Liften der Gebobrnen, Verheyrathe⸗
een, Verſtorbenen jeder Elaffe der Einwohner, in den
neuern Staten nörhig fenen; wie auc) die Befördes
derung des Ackerbaus und der Bevölkerung übertries
ben werden Fönne, warum es ſehr volkreiche Länder -
gebe. in Vergleihung mit andern weniger volfreichen,
ben denen doch diefelben guten Starseinrichtungen in
KHinficht auf diefen Zweck ſtatt finden; auf welche Are
und in welcher Propgrrion Ueberfluß oder Mangel ein
Mole afficiren; die Urfachen und Wirkungen der ho⸗
hen Bevölferung: eines Landes; ob und wiefern die
Einführung der Mafchinen in die Manufacturen dem
Intereſſe eines Stars und der Bevölkerung nachtheis
fig ſey. |
Ich ſchraͤnke mich hier darauf ein, bloß die bon
Gtevart gezogenen Refultate jene Materie. angehend
auszußeben *):. 1). Bevölkerung und Ackerbau find
und waren in allen: Zeiten die Baſis der politifchen
Defonomie, Sie find mic einander in ihren Urfachen
Ä . uud
9) $revers Vol. I. p. 149 fg.
a
während d. achtz Jahrhund b. auf Kant. 7
und Wirkungen unzertrennfich verfnüpft, und müfs
fen daher auch im ihrer gegenfeitigen Beziehung uns
gerfucht werden. Das erfte Princip der Bevoͤlkerung
aber ift Zeugung; das andere find Nahrungsmittel;
‚jene gewähren den Menfchen Dafenn und keben; dies
fe erhalten es ihnen. Da die freywilligen Erzeug⸗
niſſe der Erde eine beftimte Quantität haben, fo fann
auch die Menfchenmenge, die anf der Erde zu leben
vermag, nie über eine beftimte Zahl fleigen. Arbeit
ift eine Methode, die Erzeugniffe der Natur zu vers
mehren, und nah Maaßgabe der Vermehrung Rn.
felben kann auch die Menfchenzapl wachſen.
Hieraus fließt: 2) Die Zapl der Menſchen kann
immer nur in Proportion mir den Erzeugniffen der Ers
de ſtehen, und diefes Verhaͤltniß ift immer zufammens
gefegt aus der Quantität des Ertrags des: Bodens
und der Quantität der Arbeit der Einwohner. Da
nun diefe-auf der Erde mannichfaltig verfchieden find,
und durch zufällige einwirkende Ereigniffe und Um⸗
ftände werden; fo läßt fich nie eine allgemeine auf die
ganze Erde fich erfireckende Proportion zwilchen der
Zahl derer, die zur Eultur des Bodens nothwendig
find, und derer, welche durch die Erzeugnufle desſel⸗
ben ernäßre werden können, feftfegen.
3) Die Urfache, welche den einen Theil der
Denfen bewegt, den Boden zu bearbeiten, um den
andern Theil zu ernähren, liege in den verfchiedenen
Beduͤrfniſſen, welche die Menfchen gegenfeitig haben.
Der Stat muß daher auch- Objecte des gegenjeitigen
Beduͤrfniſſes herbeyſuͤhren, die ipren Reiz haben; nur
Dadurch kann Verſchiedenheit der Befchäfftigungen -
entftehen, und-die vorherige Robbeit und Einfachheit
dee Sitten hört auf. Es muß aber ein genaues Gleiche
\ a4 ‚gewicht
8. | Geſchichte ver neuern Philoſophie
gewicht zwiſchen jedem Zweige der Induſtrie mit den
uͤbrigen beobachtet werden, damit kein Zweig an ſei⸗
nem Gedeihen gehindert werde, oder zu Grunde gehe,
durch Ueberfluß oder durch Mangel. Die Theilung
der Nahrungsmittel bloß zwiſchen Eltern und Kins
dern ift eine Merbode, den Mangel derfelben zu bes
wirken, ber allein durch eine Bermehrung der
Arbeit verbüree werden fann. Wenn eine bürgers
liche Geſellſchaft dieſen Plan gegenfeitiger Induſtrie
nicht befolge, fo wird die Volksmenge aufören zu
wachſen; weil der Fleißige den Faulen nicht umfonft
ernähren mag. Stevart nennt dies einen Stat,
wo die Zunahme der Bevölkerung moralifch: uns
möglich if. Er unterfcheider diefe moralifche Unnidgs
lichkeit von der ppufifchen, die nur eintreten fan,
wenn die Natur, nicht die Menjchen , die Erzeugniſſe |
zur Unterhaltung diefer verweigert,
4) Es ergiebe fih wiederum, daß bie Volks—
menge jedes Landes durch das Verhaͤltniß beftime wird,
worin die Quantität der in demfelben erzeugten Nah⸗
"rungsmittel zur Juduſtrie der niederen Claſſen ftept.
Wenn der Vorrath der erzeugten Nahrungsmittel, die
Proportion der Induſtrie uͤberſteigt, fo wird der Yes
berfchuß jener, ausgeführte werden; uͤberſteigt hinges
gen die Induſtrie den Vorrath der Nahrungsmittel,
fo muß die Einfuhr aus fremden tändern den Abgang
dieſer erfegen. Gegenſeitige Bedürfniffe wecken zur
Arbeit. Folglich diejenigen, deren Arbeit. nicht auf.
die Eultur des Bodens gerichtet iſt, müffen von einem
Ueberſchuße leben, welchen die Ackerbautreibende Elaffe
über ihren eigenen Bedarf hervorbringt. _ Dadurch
‚ wird die bürgerliche Geſellſchaft in die beyden Haupt⸗
slafjen geſondert, deren eine Stevart die >
auer
während, d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. eg
Bauer (farmers), die andre Freymaͤnner (free
hands) nennt. Die Vermehrung der Vedürfniffe
wird alfo eine Vermehrung der Freymänner, und ihe
Bedürfnig der -Mahrung wird eine Vermehrung des
Acerbaues nach ſich ziehen.
5) Unter dem Luxus verſteht — nichts
— ‚ als einen uͤberfluͤſſſgen Verbrauch, oder die
- Befriedigung von Beduͤrfniſſen, die niche. zur Erhal⸗
tung des Lebens weſentlich nothwendig find. Der
Gefhmac am uͤberfluͤſſſgen VBerbrauche wird ‚das
Geld einführen, welches. bier als das allgemeine
Dbjert des Bedürfniffes unter den Menfchen vorge
ftelle wird; fo daß es eben diefer feiner Qualitaͤt we⸗
gen: ein allgemeines Beftreben nach dem Erwerbe dess
felben erzeugt, dadurch die Induſtrie der Frey: Mäns
ner, folglich ihre Menge, folglich auch den Acker⸗
bau zu ihrer. Subſiſtenz befördert. Diefe Operation
feßt aber voraus, daß der große Haufe in eimens
Volke Sinn für Urbeitfamkeit, und die Meichen Ges _
fhmac am Genuffe haben. Wenn diefe frugal und
“ einfach leben, oder jene faul und ohne Ehrtrieb find;
ſo wird.das obige Ereigniß nicht ftatt finden. Deswe
. gen bemerft man auch in der wirklichen Welt, daß die
Einwohner nicht in den fchönften Ländern, fondern in
been am beſten leben, mo die größte Induſtrie berrfcht.
Es: läßt fich alfo nie behaupten, daß zu viel Manus
facturen in einen freyen Lande feyn koͤnten; denn dies
bieße eben fo viel, als: es fönte darin zu wenig faus
le teute, zu wenig Bettler, und zu viel arbeitfame
Bürger geben... Den Einwurf, welcher ſich gegen
Stevart's Theorie machen. laͤßt, wie -fich: mit
ber Frugalitaͤt der Alten und der Einfachheit ihr
| ser Sitten die. große: Bevölkerung. im - Wlterchume
| A5 ver⸗
10 Gefchichte der neuern Philoſophie
vereinbaren laſſe, die er als Thatſache annimt, ums
geachtet der von Hume dagegen vorgebrachten Zwei⸗
fel, räumt er folgendermaßen aus dem Wege: Im
Alterthume wurden die Menſchen gegwungen, dem
Boden zu bearbeiten, weil fie die Sclaven Anderer
waren. In den neueren Zeiten ift die Operation zus
fammengefegter; der Regent kann nicht aus feinen Uns
gertbanen Sclaven machen; er miuß fie dahin leiten;
Daß fie Sclaven ihrer eigenen Triebe und Neigungen
werden; dies iſt Die einzige Merbobe, fie zum Ackers
. baue zu bewegen, umd wenn dafür geforge ift, durch
was immer für Mittel es gefchehen mag, fo wird die
Menfchenzapl zunehmen.
| 6) Die Abeheilung eines Volks in Landbauer
und Frey: Männer hat auch wichtige Folgen in
Abſicht dee Wohnungen diefer verfchiedenen Klaffen.
Die Landbauer müffen an dem Orte, mo fie arbeiten,
oder nahe ben demjelben leben, aufihren Gütern oder -
in ihren Dörfern. Die Freymaͤnner laffen fich wies
der in zwen Gattungen fondern. Die erftere. beftehe
aus den Kıgenehümern des Weberfchuffes der Nah⸗
rungsmitrel, oder den Landeigenthuͤmern, nebſt des
nen, welche jenen Uebetſchuß kaufen koͤnnen mit
einem bereits erworbenen Vermoͤgen; die andere ber
ftebt aus ſolchen, welche etwas von jenem Ueber—
fhuffe mir ihrer täglichen Arbeit erfanfen muͤſſen.
Die erftere Hartung von Menfchen fann leben, wo
fie will; die andere aber müß leben, wo fie fann,
Wenn die Mitglieder jener zufammen an Einem Or⸗
te leben wollen, ‚fo muß eine beträchtliche Zahl ber
legtetn ihnen folgen, um fo viel zu geminnen,
als fie. nörhia haben. Daraus entſtehen größere
und Bleinere Städte. Wenn ein Regent die x
* er⸗
wahrend d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 11
Verwaltung der oͤffentlichen Angelegenheiten in einen
Dre zuſammenzieht, fo bilder ſich die Hanptſtadt, ges
wöhnlich die größte von allen. Vereinigen fi die.
Manufacturiſten zu orporationen, fo bängen fie
nicht unmittelbar von denen ab, die ihre Waren vers
brauchen, fondern von den Kaufleuten. Die tage
ihres Wohnsres wird alfo durch Umſtaͤnde beſtimt,
die mir ihrer Befchäfftigung, dem Vorrathe an Mas
terialien und tebenemitteln für fie, und der Trans⸗
portation ihrer Waren im Verhaͤltniſſe fieben.
7) Anfangs lebten die Menfchen zerftreut, und
da fie ſich auf die freywilligen Erzeugniffe der Erde
einfchränkten, fo ward ihr Unterhalt leichter. Itzt
bat fie die Induſtrie in beftimte Derter und Gegenden.
vereinigt, und Induſtrie muß fie nun auch erhalten,
Der erfie Punct daher, woran der politifchen Deko
mie. gelegen ſeyn muß, iſt, den vorhandenen Einwoh⸗
nern Arbeit zu verfchaffen; der andere Punce ift, die
Zahl der Arbeiter zu vervielfältigen, wenn die Machs
frage nach denfelhen fich vermehrt. Um der Thaͤtigkeit
eines Volks die zweckmaͤßige Richtung zu geben, muß
der Regent die Anzahl genau Bennen, welche erfoders
lich ift, um die Nachfrage nach Arbeit in jedem Face
der Handwerfe und Künfte zu befriedigen; er muß‘
diejenigen, welche von three Induſtrie Icben müflen,
in ſchickliche Claſſen theilen; und folche Vorkfehruns .
gen treffen, daß jede Claſſe, fo viel wie möglich, ihre
eigene Zahl durch Fortpflanzung erhalte, | *
Iſt der Werth irgend einer Art der Induſtrie nicht
hinreichend für dieſe Abfiche, fo muß ein paflendes
Hülfsmirtel angewandt werden. 3.8. Die niedrigfte
Art der Arbeit muß mwohlfeil ſeyn, um die Mannfacs
turen blüßend zu machen; hier muß ſich alfo der Stat
— | der
12 Geſchicht der neuern , Beifofopkie |
der Ernähtung der Kinder annehmen. Jeder Menſch
har den Trieb, ſich fortzupflanzen; und ein Volk
Bann fo wenig ohne Fortpflanzung beſtehen, wie ein
Baum ohne Wachsthum; aber es koͤnnen nicht mehr
Menſchen leben, als ernaͤhrt werden koͤnnen; und die
Vermehrung der Nabrungsmittel muß: zuletzt eine:
Geenzje haben; ſobald ſich dies ereignet, nimt die:
Volkszabl nicht mehr zu, das heißt, die Proportion
derer, die flerben, waͤchſt mit-jedem Jahre. Dies:
ſchreckt nun unmerklich von der Fortpflanzung ab,;
weil die Menſchen vernuͤnftige Weſen ſind. Aber
es find doch immer noch einige, die, wenn fie auch
zii den vernünftigen Weſen gehören, doch niche vors
ſichtig find, Die benrarhen und Kinder zeugen, wel—
he ſie niche zu ernähren vermögen. Dies nennt Ste
vart eine fehlerhafte Fortpflanzung. Sie bewirft
ein politifches Uebel, welches zwar die Sterblichkeit
der Menfchen heile, aber auf Koften eines großen |
Ejendes. Wie jenem Uebel-abjuhelfen fey, obne die.
Freyheit des Heyrathens einzufchränfen, und wie man
diefe Freyheit einfchränfen koͤnne, ohne die Denkweiſe
des Zeitalters zu beleidigen; erklaͤrt Stevart, daß
er es nicht einſehe, und dee Beurtheilung eines Je—⸗
den anheimſtelle.
8) Bevölkerung und Ackerbau ſtehen in fo enger
Verbindung mir einander, daß ſelbſt die Misbraͤuche,
denen beyde auf verfchiedene Weife unterworfen find,
doch einander vollfonmmen gleiben. Wenn zu viel
Manufacturiften. enıfteben, muß ein Theil derfelben
verhungern; entſtehn zu viel, Die den Ackerbau treis’
ben ,: gilt dasſelbe. Der Grund ift diefer: Je mehe
Einwohner eines Landes ben. Acker bauen, deſto ges
tinger muß der auf Jeden fallende Antheil werden ;
un
—
| während d. acht. Fahırhund, 6. auf Kant. 13
und werden diefe Antheile ‘fo geringe, daß fie nicht
mehr bhervorbringen, als nörbig iſt die Arbeiter zu
unterhalten‘; fo ift der Ackerbau auf’s Aeußerfte ges
trieben. Stevart unterjcheided daher den Ackerbau
in einen nuͤtzlichen und ſchaͤdlichen. Jener ift ein
Handel, d. i. eine Merbode, nicht bloß den Unterhalt
der Arbeiter hervorjubringen, fondern auch einen Les
berſchuß, wodurch für den Unterhalt der Freymaͤnner,
und für ein Aequivalent ihrer Waren gejorgt wird. .
Der zweyte ift kein Handel , weil er keinen Tauſch zus
laͤßt; er ift bloß eine Methode zu ſubſiſtiren. Wenn
daher in einem Lande, wo der Ackerbau als ein Hans
del betrieben wird, und wo eben fo viel Frepmänner
find, den Landbauern geitattet wird, fich fo zu vers
vielfältigen, daß fie fetbft den ganzen Vorrath vers
‚ehren; fo müffen nothwendig alle Freymaͤnner vers
bungern. Die Gründung des Handels und der us
duſtrie rectificirt indefjen auf eine natürliche Weiſe dies
fen Misbraud) des Ackerbaus, indem fie das Land
von überflüffigen Werzeprern befreyt, und ibm, mie
es jeyn muß, einen Handel verfchaffe, der berechnet
iſt, einen Ueberſchuß herbeyzufüpren, womit die Ars
beit aller indufteiöfen Menfchen bezahle werden fann.
Das Band der allgemeinen gegenfeitigen Abhängigs
keit der Mitglieder einer freyen Nation, die von ihrer
Induſtrie leben muß, kann allein dadurch erhalten
werden, daß man den einen Theil derſelben zu fleißis
gen Landbauern, und den andern zu Plugen und finns
reichen Kaufleuten und Manufacturiften macht. Die
Vibration der Bilanz zwifchen diefen beyden Claſſen
ift es, welche Bevölkerung und Ackerbau wirklich in
Die Höhe bringen. Wenn die Induſtrie zu weit ges
trieben wird, fo vermehren fich die Freymaͤnner über
das Maaß, das heißt, ihre Schale finkt; Pa.
* ſteigt
24 Gecſchichte der neuern Vhidſophie
ſteigt der Preis der Nahrungsmittel, mas wiederum
dem, Ackerbaue Ermunterung giebt; bekomt Diefer im
Gegentheile das Uebergewicht , fo werden die Nah—
tungsmittel zahlreich . und wohlfeil; und das beförs
dert die Manufacturen. Daß der Ackerbau, naments
Sich in den Britiſchen Juſeln, die natuͤrliche Höhe
erreicht hat, die er erreichen kann, ſchließt Stevart
darans, daß eine eigentliche Hungersnorh in der neus
ern Zeit gar niche mehr eintritt. England hat in
den fruchtbarften Jahren gleichwohl nie mehr, als
für achtzehn Monate vollen Unterhalt für alle feine
Einwohner, aber auch in den unfruchtbarften Jahren
nie weniger, als für zehn Monate hervorgebracht.
9) Wenn ein and völlig bevölfere ift, und indus
friös zu ſeyn forefähre, fo werden Nahrungsmittel von
auswärts hereingebracht werden. Es ift Die Nachfrage
‚der Reichen, die ſich nach ihrer Neigung vermehren,
welche den Ackerbau, felbft bey fremden Nationen, ers
muntert. Diefe Vermehrung ift daher die Urfache,
und die Erweiterung und Vervollkomnung des Acker⸗
baues iſt nur die Wirkung davon.
Ein Land, das einmal mit Menſchen angefuͤlle
iſt, kann an Volksmenge abnehmen, und doch im⸗
mer angefuͤllt bleiben. Dies muß von einer Veraͤn—
derung in der Lebensweiſe herruͤhren. Indolente Mens
Shen verſchmaͤhen nun den Genuß der Erdfruͤchte, die
in größerer Menge wachen, und fuchen Delicateſſen.
Auf der anderen Seite aber verſchafft fich die indus
ſtrioͤſe Claſſe Hülfe von auswärts, und indem fie Die
Fremden mit den Producten ihrer Arbeit verſieht, er⸗
bält fie fich nicht nur, fondern nimt fogat an Zahl zu.
Dies ift mit Holland der Fall, und er wird es bleis
m; bis, Misbräuche den Preis der. Arbeit zu (ok
er
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, 15
erhöhen, und die Erfahrung, dieſe allgemeite tehres
ein, die Freinden darauf aufmerfiam mache, von ih⸗
zen eigenen Landes vortheilen Mugen zu ziehen.
Hören die Nahrungsmittel auf, vermehre zu
werden, fo wird die Zunahme der Volfsmenge einen
Stilleſtand leiden; aber der Handel fann dennoch fire
foregehn und den Reichthum vermehren; Dadurch wers
den Heere von Fremden gleihfam in Gold genoms
men; und die Kaufleute Fönnen, ‚wie fih Stevars
ausdrückt, von ihren eigenen Siegen, Schlachten
und Trophäen lefen, ohne jemals Pulver gerochen
zu haben. Können fie die Zahl der Manufackuriften
- nicht vermehren, fo werden fie in manche Manufaceus
een Mafchinen einführen, und diefe werden den Mans
gel an Menſchen erfegen,, ohne den Verbrauch der
Nahrungsmittel zu vergrößern. . Die Fremden, bes
troffen uͤber diefe neuen Einrichtungen, welche die
Preife vermindern, und ihre emporfeimende Induſtrie
‚ Schwächen, werden die Erfindungen nachahmen; aber
da ſie nur Schüler find, werden fie verfehre zu Wer⸗
ke geben, und die von ihnen verjuchte Verbeſſerung
wird viele Arbeiter in Unthaͤtigkeit feßen; dieſe wers
ben fo lange fchreyen, bis man die Mafchinen mies
der abſchafft; denn nichts ift natürlicher, als daß fleis
ßige Menfchen rebellifch werden, wenn der Stat ih⸗
nen durch jeine Vorkehrungen, oder Verguͤnſtigungen
der Manufacturinpaber, die Arbeit entzieht.
Bisher hat Stevart das Verhaͤltniß des A
Berbaues und der Bevoͤlkerung zur politifchen Oekono⸗
mie überhaupt unterfucht. Im zweyten Buche find
Handel und Induſtrie feine befondern Gegenftände,
Ich übergehe hier Alles, worin er mit Smith übers
einſtimt, was es nur — BAER; und bes
| ruͤbre
1 Geſchichte der neuern Philoſophie
ruͤhre bloß einige Puuce, in denen er von chin ab⸗
weicht.
Dabin gehoͤrt zuvoͤrderſt der von Gier rt *)
- bebauptere Sag: Daß- wenn eine. Nation durch ges
genſeitigen Handel mit anderen Nationen, der Mas
aufacturwaren betrifft, fich bereichert hat, und fins
det, daß die Bilanz des Handels zu ihrem Machtheis
le ſteht, es ihr Intereſſe erfodert, diefen Handel aufs
zuheben oder einzufchränfen. Stevart erläutert dies
fen Satz duch das Verhaͤltniß, worin Städte zu
den Einwohnern des flachen Landes, in Anfehung des
Handels ſtehen. Jene find als fo mande Staten
zu betrachten, welche innerer Luxus, Taren, und der
hohe Preis der Lebensmitttel außer Stand gefegt has
ben, mit den Fremden Preis zu halten, das heiße
| bier, mit dem flachen $ande, welches die Fremden:
für fie, die auswärtigen Voͤlker für.die Briten, dar⸗
ſtellt. Hier find ausfchließliche Privilegien der Staͤd⸗
se im Verhaͤltniſſe zum flachen Lande vernünftig und:
nothwendig, damit die Bewohner jener die Bürden
tragen koͤnnen, die ihrer Gemeinpeit eigen find, - J
Dadurch entſchaͤdigt werden für das, was ihre
dürfniffe mehr Foften. Dies läße fich anwenden af 4
das Handelsverhältniß zwiſchen Voͤlkern.
| Wen der Megent sein wachfames Auge auf jes
ben Artikel der Einfuhr bar, und genau den Gebrauch
desſelben unterſucht; fo wird er. leicht unterfcheiden .
Lönnen;, von welchen Artifelm die Einfuhr begünftige,
oder. befchränfe, oder ganz verboten werden muͤſſe.
Ben diefer Unterfuchung muß aber jede Beziehung
- gewogen werden; weil die Einfuhr einer fremden Was
ve ein: mann Intereſſe bat, ee. *
ican Vol. 1. p- 504 (4.
n
‚ während d. acht}: Jahrhund. b. auf Kant. 17
Bald einer Nation, als außerhalb derſelben; und
zwar ben einigen Waren ein unmittelbares, bey am _
deren bloß in den Folgen. Nichts ifi fo verwickelt,
als das KHanbelsintereffe. Die Einfuhr einer frems
den Ware kann zuvörderjt das Intereſſe der Einheimi⸗
ſchen befördern, welche die ausgeführten Waren lies
ferten, für welche jene die Bezahlung find. Die Eins
fuhr kann ferner nüglich feyn zur Beförderung der
Manufacturen, indem fie diefelben mit angemeffenen
Materialien verfiepe. Wenn indeß die ganze Manus
factur bloß zum einheimifchen Verbrauche der Pros
duete beftime ift; fo wird doch das Mationalinterefje
im Ganzen durch die Einfuhr jener Materialien lets
den, Die Einfuhr der Weine und Brandtemeine iſt
in den nordifchen Ländern ein geoßes Erſparniß an tes
bensmitteln, da die aus Korn deſtillirten Brandtes
weine zum Erſatze diefer dienen. ft aber die Unters
fuhung der eingeführten Artikel und ihres Werthes
für den Stat angeſtellt, und die Berechnung des Vors
theils und Nachtheils im Verhaͤltniſſe zum Auslande
gemacht; fo muß jeder dem Handelsintereffe des Stats
nachtbeilige Artifel der Einfuhr abgefchnitten werden;
und wenn, nachdem diefes gefcheben,. die Folge ein
allgemeines Aufhoͤren der Einfuhr zeigen ſollte, dann
iſt der fremde Handel mit Anſtand begraben, ohne
irgend eine gewaltſame Revolution, weil der Regent
allmaͤlig und Stufenweiſe zu Werke gieng, und ſich
beſtrebte, die einheimiſche Conſumtion zu vergrößern,
nah Maaßgabe, daß die induſtrioͤſe Claſſe gezwun⸗
gen wurde durch die anderen Operationen, muͤſſig zu
ſeyn. Hat der fremde Handel ein Ende, fo wird die
Zahl der Einwohner fih auf die Proportion der. im
Lande vorrärhigen: Nahrungsmittel reduciren, menn
der vorherige Wohlftand fie über dad Maap-diefer ges
Buble's Geſch.d. Philoſ. Vi. B. B fuͤbtt
18 | Gefchichte der feuern Philoſophie |
führe hatte. Der Mationalteichthum muß beyſam⸗
men ‚gehalten werden, und nur fo eirculiren, daß es
Keinem au Unterhalte und Beſchaͤfftigung gebricht.
Sollte auch eine Nation einmal ſo wenig Han⸗
del mit fremden Waren haben, ſo wird doch immer
von außen Nachfrage nach dem Ueberſchuſſe ihrer eis
genen natuͤrlichen Producte ſeyn; und dieſe wird alle⸗
mal Mittel gewaͤhren, den Nationalreichthum zu ers
boͤhen. Wird die Ausfuhr der Lebensmittel befördert,
. während doch manche Mienfchen im Lande Mangel dars
an: leiden, fo wird eine Einfchränfung der Ausfuhr
dieſer Inconvenienz nicht begegnen; denn der Arme
wird ſtets in demfelben Zuftande bleiben, wenn er
auch in die Lage gefeßt wird, daß er die Nahrungs⸗
mittel feines eigenen Vaterlandes zu deggfelben Preife,
wie Ausländer, faufen fann. Die Hehpturfache dies
ſes Ppänomens liegt alsdenn in dem Uebergewichte
der Manufacturarbeiter. Beil ihrer zu viel find, fo
entſteht eine Concurrenz unter ihnen wegen phnfifcher
Bedürfniffe; der Preis ihrer Arbeit fälle unter den
allgemeinen Preis des Unterhales im Auslandez
ihr Antheil wird an die Ausländer verkaufe, und fi fi e
— muͤſſen Hunger leiden.
Der Regent an der Spige eines Iururiöfen Volks
muß daher immer bier ein Gleichgewicht zu erhalten.
ſuchen; und wenn ja eine Aufhebung desfelben noth⸗
‚wendig ift, fo iſt es doch weit beſſer, daß fie durch
das Uebergewicht der Machfrage beftimt werde.
Ale Aufbebung des Gleichgewichts iſt ſchaͤdlich
und von nachtheiligen Folgen. Iſt die Zahl der Mas
nufacturen und, der. Theilnefmer- und Arbeiter dabey
zu —— a, wird die induſtrioſe Claſſe Mangel lei⸗
Renz
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 19
"den; man wird die ihnen gebuͤhrenden Lebensmittel
ausführen; die Nation gewinne bey der Bilanz tes
Handels mit dem Yuslande; aber fie fcheine gewiflers
maßen ihre. eigenen Mitglieder zu verfaufen. Hat
aber die Machfrage das Uebergemicht, fo muß zwar
der Luxus fleigen; allein der Arme wird auf Koſten |
des Reichen ernährt, und der Nationalreichthum bleibt,
wie er war. Beym Aufhoͤren des Handels der Frem⸗
den daher, muß der Regent entweder fein Volk Preis
Heben, oder er muß den Luxus begünfltigen.
Hat der Regent fire fein Intereſſe in Abſſcht des
Handels der Fremden geforge, fo muß er den Bli
defto beftimter auf das einheimifche Intereſſe richten,
Er muß die Fortfchritte des Luxus in Ordnung halten
der Summe der Hände gemäß, die bereit find, zur
Befriedigung der Beduͤrfniſſe des Luxus zu arbeiten.
Er muß ferner der Vermehrung der Volksmenge
Schranken feßen nach Maaßgabe der Ausdehnung
und Fruchtbarkeit des Bodens. Er muß endlich das
Volk in Claſſen theilen, wie die Umftände, welche
er in feiner Gewalt hat, es mit fich bringen mögen.
Stevart bemerfe richtig, daß der Fortfchritt
des Luxus einem großen Reiche weniger ſchade, als
einem Pleinen State. Uufmandsgefege find heilfam
in einer deurfchen NReichsftadt; in tondon oder Paris
wuͤrden fie -verderblich feyn. Die Einrichtung einer
ftebenden Armee in einem völlig bevoͤlkerten und reichen
Lande fönte beytragen, den Luxus zu vermindern, und -
einem zu großen. Uebergemwichte der Machfrage und
bem Steigen der Preife zuvorzufommen, mas alle
| Dokus zu einem Handel der Fremden abfchneiden
würde.
— B2 Die
20 Gecchichte der neueren Philofophie
| Die natürlichen Wirkungen diefer Revolution
in Hinficht auf den Geift, die Negierungeform und
Sitten eines Volks, das aus einem induftriöfen und
feugalen, Iururiös und verfeinert geworden ift, find
im Allgemeinen diefe: Die Kaufleute ziehen ihre Cas
pitalien zurück, fo wie der Handel abnimt, und leis
‚ben fie an tandeigenehümer ihrer Marion aus, die das.
durch in den Stand gefeßt werden, luxurioͤs zu leben,
Dies entſchaͤdigt die induftriöfe Elafje für den Verluſt
der Nachfrage der Fremden. Wenn das Geld, das
vorher angelegt ift, um mehr zu gewinnen, nun im
Innern des Stats circulirt, um überflüffige Pros
ducte hervorzubtingen, und die einheimiſche Conſum⸗
tion zu vergrößern; fo ſcheint das fand täglich wohl⸗
habender zu werden. Die Kaufleute und Manufacrus
‚ tiften, die fi vorher bloß auf Befriedigung ihrer
Ddringendften phyſiſchen Bedürfniffe einfchränten muß⸗
gen, leben unter diefen Umftänden bequemer; fie vers -
größern ihre Conſumtion, und das befchleunige wies
der den Umlauf des Geldes. Kin Anſehn von Fülle
und Wohlhabenheit verbreiter fich über das ganze and,
und was zu feinem Verderben gereichen zu wollen fchien,
wird nun in feinen Folgen das Mittel feines
den Wohlftatides.
Der Reichthum kann uͤberhaupt von dem Regen⸗
ten aus drey verſchiedenen Geſichtspunkten betrachtet
werden: als eine Mine, wenn er verſchloſſen iſt; als
ein Gegenſtand des Handels, wenn er gebraucht wird,
am mehr zu gewinnen; als ein Öegenftand des Luxus
und Fond zu Taren, wenn er zur "Befriedigung polis
tifcher Bedurfniffe diene. Die allgemeine Difpofition
der Einwohner "jedes Landes in Beziehung auf Geld
Tape ſich auf die eine oder die andere nr drey Modis
fiiea⸗
— d. ih. Sahrhund. 6. pr Kant, 21
ficationen bringen. Es ift die Angelegenheit eines Res
genten, auf den Geiſt feines Bolfs zu wirfen, fo daß
erden Geſchmack desfelben an Ausgaben gewiffer Art
unmerklich modellirt, und ihn demjenigen Principe anas
fog macht, welches der Nationalwohlfarth am anges
mefjenften iſt. Das Schäße fammeln bey Privatpers
fonen kann fchwerlih immer dem Starte vortheilhaft
ſeyn; wenn aber der Star Schäße ſammelt, iſt ber
Fal ganz anders. Während das Geld angelegt wird,
um mehr zu verdienen, kann es niemals dem Eigen⸗
sbümer Gewalt oder Anſehn verfchaffen; aber wird
es in dem letztern Falle zur Befriedigung von Bes
duͤrfniſſen angewandt; dann erwirbt es in der Hand
eines Ehrgeizigen Macht und Anſehn; es kann folge
lich mit jenem Einfluffe rivalifiren, den Niemand ha⸗
ben follte, als diejenige Perfon, welche fih an dee
Gpiße des States befinde. Dann ift es die Mutter
der Factionen, und die Wurzel, aus welcher alle
dem State verderbliche Parteyen entfpringen. Durch
folche Mittel werden Staten, (ihre Reyierunsform mag
gut oder ſchlecht feyn), in Anarchie gebracht. Privat;
reichtbum verdarb und zerftörte zulege die Roͤmiſche
Mepublif; und — — allein gruͤndete die
Freyheit der Niederlande auf den Ruinen dee Spas
nifchen Thranney. Sobald daher die Einwohner eis
nes fandes anfangen, ihre Reichthuͤmer zur Befrie⸗
digung ihrer Meigungen anzuwenden, muß der Mer
gent anfangen, für feinen eigenen Reichehum Sorge
zu tragen, um die Guperiorität zu behaupten, mels
che derjenigen Perfon wefentlich nothwendig ift, die
jedes Princip öffentlicher Handlungen beftime und leis
tet. Iſt diefes nicht in feiner Gewalt, fo wirb auch
» feine Macht bald verfchwinden, und bie ——
form wird ſich Andern.
” 3 Ein
22. Geſchichte der neuern Philoſophie
| Ein Regent erwirbt aber Reichthum durch Auf⸗
lagen auf fein Voll. Raͤubereyen find Taren eines
Defpoten; KRopffteuer, Landtaxe, und andere, -wels
che die Perfonen betreffen, find Taren eines Monars
hen; im befchränkten Regierungsformen werden Abs
gaben auf die Confumtion gelegt. Die erfteren zerftös
gen Alles: die anderen hindern das Steigen des Mas
tionalreichthums; die leßteren beſchleunigen die Ver⸗
ſchwendung.
Wenn man dieſe Theorie — und die
Gruͤnde, auf welchen ſie beruht, mit der Theorie des
Adam Smith und ihren Gruͤnden vergleicht; fo
wird man leicht einfehen, daß fie fich nicht gegen diefe
behaupten kann; und daß der von dem erftern bey feis
nem Raiſonnement begangene Fehler in der falfchen:
Anwendung eines Princips liege, was Smith im -
Allgemeinen als gültig anerkennt, von welchem er
aber einen ganz andern Gebrauh macht. Mur bey
der Freyheit dee Befchäfftigungen, „dee Gewerbe, des
Verkehrs und Handels, kann der Nationalreichtpum
erhalten werden und gewinnen, nehmlich in einem
State, wieder Britifche. Wird die Concurrenz bey
einem Gewerbe zu groß, fo wird das Intereſſe der
Tpeilnehmer fie bald bewegen, es zu verlaffen, und
einen andern Mahrungszweig aufjufuchen. Das Vers
hungern von überflüffigen. Manufactuciften kann, wie
Smith gezeigte hat, nur in einem State ſich ereigs
nen, wo die Freyheit von einem Mabrungszweige zum .
andern Überzugeben durch Polizegeinrichtungen. bes
ſchraͤnkt oder aufgehoben ift. Gerade das, was Sta
vart empfiehle, eine willführliche Leitung des Acker⸗
-baues, der Induſtrie, und des Handels der Untertha⸗
nen durch den Regenten, weben er ſogar ſo weit geht,
— das
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 23
das Begraͤbniß alles auswaͤrtigen Handels, wenn
die Bilanz zum Vortheile des Auslandes iſt, anzu⸗
rathen, wuͤrde unfehlbar den Ruin einer Mation nach
ſich ziehen.
Der intereſſanteſte und lehrreichſte Theil des Ste⸗
vart'ſchen Werks iſt unſtreitig das dritte Buch vom
Gelde und dem Muͤnzweſen. Hier hat er gruͤnd⸗
licher unterſucht, und iſt tiefer eingedrungen, als
Adam Smith. Er redet hier ſehr ausfuͤhrlich vom
Gelde, als Zeichen eines beſtimten Tauſchwerthes;
vom kuͤnſtlichen oder materiellen Gelde; von der Un⸗
tauglichkeit der Metalle, einen unwandelbaren Maaß:
ſtab des Taufchwerches abzugeben; von den Mechos |
-Den, die mancherley Inconvenienzen zu verringern,
denen das marsrielle Geld unterworfen iſt; von den
Veränderungen, denen der Werth der Geldprobe durch
jede Unordnung im Münzwefen ausgefegt ift; von
ben Folgen, welche die WVeränderungen bes innern
Werthes dee Geldprobe für jedes einheimifche Inter⸗
effe einer Mation har; won mehreren Unordnungen ins
Britifchen Münzwefen, und den in demfelben zu vers
fhiedenen Zeiten vorgenommenen Aenderungen; von
den zweckmaͤßigen Methoden, den nachtheiligen Fols
gen berfelben abzuhelfen. Diefe Unterfuhung Ste
vart's, das Geld und Münzmwefen betreffend, iſt
von der Art, das fie feinen Auszug. leider. |
Er geht mum im vierten Buche *) zu der Leh⸗
re vom Credit, von Schuld, und Zinfen über,
- Smith hatte den Sag aufgeftelle, daß der niedrige
fe Zinsfuß allemal das ficherfte Zeichen des Wohl⸗
ſtan⸗
*) Ssevars Vol, II, p. 135 fq. |
’ > ri BA
24 Gefchichte der neuern Philofophie
ftandes einer Marion fey. Sein Zeirgenoffe hingegen
bejzweifele dieſen Satz. | 4
Es ift überhaupt nichts ſchwieriger, als zu bes
fliimmen, ob der Handel für eine Marion vortheilhafe
oder unvortheilbaft fey. Dies wuͤrde nicht der Fall
feyn, wenn der Zinsfuß von dem vortheilhaften oder
unvortheilhaften Zuſtande des Handels ein ficheres
Zeichen wäre. Man fann fagen, niebrige Zinfen
feyen dem Handel Außerft günftig; aber man kann
nicht fagen, fie find ein genauer Maaßſtab des Bors
theils, welcher dadurch gewonnen wird. Das. befte
Argument für Die legtere Behauptung. ift folgendes:
Die Marion, welche auf fremden Märkten am wohl:
feitften verkauft, wird immer beym Handel worgezos
gen; und fonah, wo der Gebrauch des Geldes am
wohlfeilften ift, Fann.auch der Kaufmann die niedrig:
ften Preife Halten. Stevart erwiedert hierauf:
Diefe Confequenz würde nur dann richtig feyn, wenn
aller Handel mie erborgtem: Gelde geführt wiirr
de, und wenn die DVerfchiedenheit des Preifes der
Materialien, die Leichtigkeit, fich dieſelben zu vers
fchaffen,, die Prompeheit der Zahlung, die Induſtrie
und Gefchicklichkeie der Manufacturiften, für nichts
gerechnet werden. Gleichwohl finden ſich häufig bey
Diefen Artikeln fo große Vortheile, daß fie mehr als
hinreichend find, die Zubuße von Zinfen aufzumiegen,
die für das im Handel angelegte Geld bezahle werden.
Es ift dies fo wahr, daß wir fehen, mie allein die
Geſchicklichkeit eines Handwerker, der in der
Hauptſtadt lebt, wo die febensmittel noch einmal fo
theuer find, als auf dem Lande, ihn in den Stand
ſetzt, überall wohlfeiler, als feine Mitbewerber, zu vers
faufen; und basfelbe gilt von allen übrigen —
| ie
—
*
"während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 25
Die Gegenſtaͤnde des Handels find Naturpros
ducte und Manufasturwaren. Wenn Jemand den
Werth diefer erwägt, bevor fie in die Hände der Kauf⸗
deute fommen, und denfelben mit dem von den Land⸗
eigenrhümern und. Manufaceuriften erborgten Gelde
vergleicht, um fie zu Marfte zu fördern, fo wird die
Proportion fehe klein ſeyn. Man bemerfr taͤglich,
daß ſinnreiche Kuͤnſtler, die nur fuͤr kleine Summen
Credit bekommen, bald dadurch mit Huͤlfe ihrer ei⸗
genen Induſtrie es ſo weit bringen, daß ihre Waren
einen außerordentlichen Werth erhalten, und daß ſie
nicht bloß ihre Subſiſtenz gewinnen, ſondern auch
reich werden. Die Zinſen, welche fie für das ers
borgte Geld bezahlen, find unberrächtlih in Vers
gleichung mit dem Werte, der Durch ihre eigene Ans
wendung ihrer Zeit und Talente hervorgebracht wird.
Man Fönte einwenten, es fen dies eine vage Bes
hauptung, die durch feinen Beweis unterflüße werde,
Stevart entgegnet: Der Werth einer Manufacturs
ware laſſe ſich fchägen nach der Proportion zwifchen
der Ware, wenn fie zu Marfte gebracht wird, und
den rohen Materiallen. Nichts als die ropen Mas,
terialien und die zuc Manufactur erfoderlichen Werk⸗
jeuge koͤnnen für Gegenſtaͤnde des erborgten Gels
des angefehen werden; wenn man nicht fo weit
gehn will, die Nahrung des Manufacturiften und je⸗
de Ausgabe desfelben mit in Anfchlag zu bringen, und
vorauszufegen, daß auch diefe vom erborgten Gelde
beftrieeen würden; was gleihmwohl eine ungegründete
Vorausfegung feyn würde.
Der Gegenftand des erborgten Geldes demnach
zur Führung eines Handels ſteht in näherer Bezie⸗
bung zu. dem Kaufmanne, als zu dem Manufacturi⸗
5 5 ſten.
\
—
J
ei
26 Geſchichte der neuern Philoſophie
ſien. Borgen iſt nothwendig, um alle —
duete und Manufacturwaren in den Haͤnden der Kauf⸗
leute zu vereinigen. Dies iſt ohne Zweifel die gemein⸗
ſte Operation des Credits. Zinſen werden hier von
— Dem Gelde gegeben, um den Glaͤubiger für den Ges
‘ - brauch feines Geldes zu entfchädigen; aber dieſe Zins
fen ift der Borger allein fehuldig von der Zeit an, da
er diejenigen bezahle , von denen er Maturproduete und
Manufacturwaren einkauft, bis zu der Zeit, da.ee -
die Bezahlung von denjenigen empfängt, an weihe
er verkauft. Diefe Zwifchenzeit abzufürgen, ift für
den Kaufmann von der höchften Wichtigkeit. Ge -
länger diefelbe dauert, und je höher die Zinfen find,
welche er zu. bezahlen hat, um defto höher muß er feis.
ne Preife anfegen; anftatt daß eine prompte und res
gelmäßige Bezahlung von feinen Abnehmern, und
niedrige Zinfen, ihm erlauben, die Preife zu vers
mindern. Ob die Kaufleute ihren Gewinn bey allen
handelnden Nationen nach der genauen Proportion
der refpectiven Zinfen, und der Promptheit der Bes
zahlung, welche fie empfangen, reguliten; oder ob
jener dur die Umflände in Anſehung der Machfrage
‚und Eoncurrenz auf den verfchiedenen. fremden Märks
gen, wo der Handel geführt wird, beflime werde;
überläße Stevart den Kaufleuten zu entfcheiden.
Dur erinnert er, daß ein wohlgegruͤndeter Eredit und
prompte Bezahlung der Abnehmer, dem Handel mehr
Dienfte leiften werden , als irgend ein Vortheil, wels
- hen Handelsleute von der Berfchiedenheit der Zinfen
in verfchiedenen Ländern ziehen koͤnnen.
Man muß indeß dies nicht fo verſtehn, als ob
niedrige Zinfen Bein großer Vortheil fir den Kandel
wären. Was Stevart behaupte, iſt nur, daß
fie kein ficherer Maaßſtab feines Flors find. h 5
* | | v
,
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 27
Noch auf einen andern Umſtand macht er aufs
merffam, der in unfern Tagen die Nationen vielmehr
mit einander in ein Gleichgewicht feßt, als fie ehedem
waren. Dieſer ift die allaemeine Zinspflichs
tigkeit (average), welche die großen Laften der Mas
tionalfchulten, und die Ausdehnung des Credits über
Die verfchiedenen Mationen Europa’s, welche jährlich
ihren Gläubigern große Summen an Zinfen bezahs
len, bewirkt haben. Man nehme an, daß die Hols
länder den höchften .Zinsfuß auf drey Procent beftimt
haben, dann laͤßt fih behaupten, daß, fobald die
allgemeinen Statsinterefien über diefen Zinsſuß bins
ausgehen, man aus dem Preife der öffentlichen Fonds
in Frankreich und England ficher ſchließen könne, daß
ihe Handel nicht mit einer irgend beträchtlichen Sums
nie geführt werde, die zu drey Procent geborgt iſt.
Die Folge muß hiervon feyn, daß das Geld, mas
in die Hände der frugalen Holländer als Gewinn
fomt, in andern Ländern angelegt wird, mo es mehr
Einkünfte bringe, nach Abrechnung der Koften der
Verſendung und Einziehung.
Was Einige verleitet hat, zu glauben, daß nies
drige Zinfen der Barometer vom Zuftande des Hans
dels feyen, iſt die von ihrien gemachte Beobachtung,
daß in einigen der größten Handelsftädte die Zinfen
geringer find, als in andern großen Reichen, wo der
- Handel nie bluͤht. Mah Stevarı’s Meynung
rührt dies aber lediglich von der Frugalität der Lebens⸗
weiſe und Sitten her, welche das Borgen von reis
hen teuren in der Abſicht, das Geld zu verfchwens
den, unmöglich mache. Geſchieht diefes, und bleibe
der Handel allein übrig, der die Stagnationen der
von frugalen Geldbefigern — Capitalien hin⸗
dert;
28 Gefchichte der feuern Philoſophie
dert; ſo muͤſſen die Zinſen ſo weit herunterſinken, wie
es dem Gewinne, der ſich damit machen läßt, ange
meſſen if. Diefer Gewinn wird aber von Tage zu
Tage immer geringer werden, nad Proportion des
Credits und der Circulation dee öffentlichen Fonds
bey verfshiedenen Nationen.
Wenn der Mationafreihrfum zunimt, fallen
auch die Zinfen, jedoch unter der Vorausſetzung, daß
Luxus und Verſchwendung nicht zugleich im Verhaͤlt⸗
niffe mit dem Nationalreichthume fteigen. Mint man
‚auf diefe Borausfegung feine Rückfiht, fo ift der
Sag falfh. Es find die Sitten eines Volks, nicht
. feine äußern Umftände in Anſehung des Reichthums,
welche dasfelbe frugal, oder ausfchweifend verfehwens
derifch machen. Was daher von dem Geifte eines
Volks abhängt, kann nicht geändert werden, als nur,
wenn eine Veränderung jenes Volksgeiſtes erfolgt.
Iſt der Zinsfuß fehr Hoch wegen des Hanges zur
Verſchwendung, der in einem Wolke berrfchend ges
worden ift, fo mag der auswärtige Handel noch fo
. große Geldfummen in’s fand bringen; die Zinfen wers
den immer hoch ſtehen, bis die Sitten fich ändern.
Jede Claſſe eines Volks Hat ihren eigenen Geift, Des
frugale Kaufmann wird Reichthuͤmer anhäufen, und
der verfchwenderifche Lord wird fie borgen. Syn dies.
fer age der Dinge wird die innere Circulation fehnels
ler werden, und die Ländereyen werden von Hand zu
Hand gehen. Bewirkt diefe evolution nach und. -
“ nach ein Correctiv der Verſchwendung, indem das
Eigenthum in die Hände derer komt, denen die Grus
galicät zur Gewohnheit geworden iſt; fo. fann wies
derum die Vermehrung des Nationalreichthums das
Einen der Zinfen befördern, Wenn aber im Ges
er gens
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 29
gentheile Gefege und Sitten eines- Landes die Volks
elaſſen nach ihrer Lebensart, und nach der Befchaffens
beit ihrer Ausgaben, fcheiden; fo ift Zehn gegen Eins
zu verwerten, daß der induftridfe und frugale Kaufs
mann bald wiederum die Molle eines verfchwenderis
ſchen Edelmanns fpielen wird, fobald es ihm geluns
gen tft, ein artiges Landgut zu erwerben. In mans
chen tändern hat fogar das Andenken an die vergans,
gene Juduſtrie, mir welcher Jemand fein Vermögen
erwarb, etwas Werächtliches, das nur durch eine
ausjchmweifende Lebensart abgewifche werden kann.
Auch die Lehre von den Banken hat Stu
vart ausführlicher, deutlicher und vollſtaͤndiger ers
drterr, als Adam Smith, under ift für diefe Mas
terie als einer der erften und beften Schriftfteller zu
betrachten. Es ift aber auch dies ein Gegenftand,
defien Theorie, fo wie fie von Stevart vorgetras
gen ift, ich one zu große Weitlaͤufigkeit nicht ents
wickeln fann. Aus der folgenden tehre vom öffentr
lihen Credit will ich hier nur das Raifonnemene
desjeiben uber Geldanleihen auf den Lünftigen Ertrag
von Taren zur Bejablung des Capitals und der Zin⸗
ſen aus heben.
So lange die oͤffentlichen Ausgaben aus den
Schaͤtzen des Stats beſtritten wurden, war uͤberhaupt
oͤffentlicher Credit eine unbekante Sache. Wurden
ſie durch Raͤubereyen und Erpreſſungen heſtritten, kon⸗
te er gar nicht exiſtiren. Waͤhrend der Einfachheit
der alten Sitten, da es weder Induſtrie, noch Cir⸗
eulation, gab, war der Credit unnöchig; der Münzs
vorrath war mehr als hinreichend, um jeden Taufchs
zweck zu erreichen. Als Handel und Induſtrie ans -
fiengen, Fortſchritte in Europa zu machen, .
ans
30 Gefchichte der neuern Philofophie
- Hänfeeftädten und den Kepublifen Genua und Vena -
Dig, wurden die Folgen ihres Credits bald von den
Regenten empfunden, die auf eine verkehrte Weiſe ans
fiengen, das Beyſpiel derſelben nachzuahmen: zuerſt,
indem fie Geldſummen auf ihre Domaͤnen und Sta⸗
. gen als Pfandftücke borgten; hernach, indem fie Tas
gen auflegten und diefelben für den höchften Preis vers
pachteten oder verkauften, den fie von raub: und ges
winnfüchtigen Menfchen dafür erhalten fonten. Dies
bewirkte Linterdrücung und Ausfaugung der Unter⸗
thanen, und zog alfo wiederum die Armuth der Mes
genten nach fih. Die Taren gleihwohl, die einmal
auf dDiefe gewaltſame Weife aufgelegte wurden, oder
bey dringenden VBeranlaffungen, wurden von Zeit zu
Zeit vermehrt und volljtändiger eingerichtet, und mach⸗
ten nun einen reichen Fond aus, ber zu einer Grund⸗
Tage für öffentlichen Eredie dienen Ponte Wurden
Zaren bloß für Zeicbedärfniffe angeordnet, zur Be
zahlung gewiſſer vom State contrahirter Schulden;
fo war die Aufmerdfamkeit beyder, des Stars und
der Darleiher, gänzlich auf die Abtragung des Cas
pitals gerichtet. Uber nach Maaßgabe der Vermeh⸗
zung des Geldes in Europa zufolge dem ganzen Sys
fleme der neueren politifchen Defonomie, bildeten die
Darleiher fich felbft ein neues Intereſſe, nehmlich bie
. Erwerbung dauernder Zinfen von einem) transferabeln
Capitale. Um diefe Veränderung der politifchen Des
konomie, vom Borgen mit der Abficht, das Kapital
wieder zu bezahlen, zum Borgen mit der Abficht „
permanente Intereſſen zu bezahlen, defto anfchaulicher
zu machen, bat Stevart die Gefchichte des oͤffent⸗
lichen Eredits in England bis zum Ende des fiebzehns
ten Jahrhunderts entwickel. Die ganze Verfchiedens
heit des damaligen. Syſtems des öffenslichen Credits
Ä | | | und
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 31
und des gegenwaͤrtigen, entſprang hauptſaͤchlich aus
der Verſchiedenheit der Circulation des Geldes, und
aus den Mitteln, auf welche man nun verfiel, ums
die Quantitaͤt des Geldes im Verhaͤltniſſe zu den Bes
- bürfuiffen zu en ‚ wozu man es gebrauchen
wollte. '
Sehr intereffant ft die Vergleichung, welche
Stevart zwifchen dem öffentlichen Eredite Frank
reichs während der Adminiftration des Cardinals R is
chelieu, und dem öffentlichen Eredire Englands nach
der Revolution, macht. Beſonders hebt er den Eins
fluß hervor, melchen die verfchiedenen Regierungsfors
men beyder Länder auf die Feſtigkeit ihres öffentlichen
Credits haben, ſowohl beym Eontrapiren als beym
Abzahlen der öffentlichen Schulden.
In Frankreich gewährt die Macht des Regenten
manche Hilfsmittel, Capitalien abzuzaplen, die in Zeis
ten oͤffentlicher Verlegenheit zu erorbitanten Zinfen was
ten geborgt worden. In England ift die befchränfte
Mache der Krone, und die Berantmwortlichkeit der Mis
nifter für die Ausuͤbung derfelben , eine große Sichers
heit für diejenigen, welche dem State Geld leihen,
und das bewirkt auch den ſehr großen Vortheil, Schuls
den auf erträgliche Bedingungen contrahiren zu koͤn⸗
nen. - Se länger die beyden Staten neben einander bes
ſtehen, defto größer wird auch dieſer Vortheil für dens
jenigen werden, ber auf’s firengfie feine. öffentlichen
Verpflichtungen refpectire. Vergleicht man den Eres
dit von Franfreich und England; fo ift der Unterfchied
beyder ſehr auffallend und merfwürdig. Die firengfte
Beobachtung der Treue gegen öffentliche Verpflichtun⸗
gen bat, in England einen ſo delicaten und ſtrupuloͤ⸗
fen Credit beoriuder/ daß die geringſte Abweichung
von
32 Gefchichte der neuern Philoſophie
von den Principien desſelben dem ganzen Syſteme
verderblich werden kann. Der Credit Frankreichs
auf der andern Seite iſt auf eine minder delicate Art
behandelt worden; und die häufigen: Gewaltſtreiche
zum Nachtheile der Gläubiger, . verurfachen ein tem⸗
poraͤres Stocfen und eine gänzliche Zerftörung desfels
ben für die Zufunfe. Solche Gemaltftreiche, wenn
auch unter kritiſchen Umftänden, find Außerft ſchaͤd⸗
lich, und der Vortheil eines wohl gegruͤndeten Eres
dits wird nach allee Wahrfcheinlichfeit entweder diefer
Marion in Hinficht auf ihr eigenes Intereſſe die Aue
gen öffnen, oder Ungluͤcksfaͤlle über fie bringen, die
man jedoch in der gegenwärtigen tage wenig zu fürchs
ten bar. Die Erfahrung unſerer Tage bat gelehrt,
wie wahr Stevart prophezeiht habe. a
Die Anleihen auf permanente Intereſſen vertbeis
digt Stewart befonders gegen Davenant, einen
der beften Altern Engliſchen Schriftſteller über, das
Sinanzwefen. Davenant fchrieb zur Zeit der Res
volution um das Jahr 1688, alfo in der Epoche, mit
welcher die Wera des öffentlichen Credits in England
beginnt. Er harte viel über feinen Gegenſtand nach—
gedacht, beſaß Sachkentniß, und war von edlem
Patriotismus beſeelt. Wie andere große Männer
feiner Periode, war er der Meynung, daß Geldans
feiben auf kurze Zeit, fo daß alsdenn das Capital wies
Der abgetragen werde, weit den Geldanleihen auf bes
ſtaͤndige Zinfen vorzuziehen wären; und der rarpfanıs
fte Finanzplan unter allen, falls er nur irgend realis
fire werden koͤnte, fchien ihn, bloß inimer das Geld
. für die. Bedürfniffe des nächften Jahrs zu erheben.
Die Menſchen harten damals eine Furcht vor dem
Eontrapiren von Statsſchulden. Sie betrachteten
Be
mährend'd. achtz Jahrhund. b. auf Kart. 33
EHEN, wie einen Privatmann, deſſen Intereſſe
nur einfach iſt, umd ſich auf ihn ſeibſt allein besieht.
Fin dieſem Lichte erſchienen Gläubiger ale die futcht⸗—
Bätften’Feinde. Die Miniſter ſahen fie ebenfalle von
der Seite An, umnd dleſer allgemein herrſcheude Wahn
trug ohne Zweifel viel. bey, daß die reichere Volkes
iR) den Verlegenheiten der Regierung. toentger
intereffitt war, und geneigt, jede Gelegenheit zur it
rem Vortheile zu benußen, Die Negierung war t
einem;beftändigen Kriege mit den Glaͤubigern. Wenn
bar Geld in England fehlte, fo hatte fie nichts zu bes
zablen, als Schatzkammerſcheine auf die Taten; und
dieſe wurden leichter ausgegeben, als realiſirt. War
ber Jahresbetrag einer Taxe angewieſen, fo hielt das
Volk die. Sicherheit des künftigen Ertrags für ſehr
precaͤr, wodurch folglich der Werth der Schatzkam⸗
merſcheine vermindert wurde. ee
Injwiſchen gelang dieſe Methode in ‚der Abzah⸗
lung ‚bereits gemachter Schulden weit beſſer, als in
der. Contrahirung neuer. Die Unannepmlichkeiten ,
welche Diejenigen erfuhren, die der Regierung Geld |
vorgefchoffen hatten, da fie durch Anweiſungen auf
durch Anticipation verpfaͤndete Taxen hezablt wurden;
machten in der ‚Folge: ſehr mistrauiſch. Nun beugte
zwar die beſchraͤnkte Form der Engliſchen Regierung
einem ‚gewaltfamen Verfahren der Minifter gegen die
Starsgläubiger vor, wie es in Frankreich gewoͤhnli
war; und diefer Umſtand half ſehr viel, den Eredi
Englands auf einen beſſern Fuß zu gründen. Gleich—
wohl das lange Warten auf die Bezahlung des Car
bitals und der Intereſſen durch einen entfernten Fond,
bewog Davenanren zu befaupten, dag 700000 P.
Gt; in barem Gelde weiter reichen wuͤrden, als eine
Bubhles Geſch. d. Philof. vı 2. € Mit
® Bi
*
34. GSecſchichte der neuern Philoſophie ;-;
| Million in Schatzkammerſcheinen. ‚Dennoch hielt er es
für beſſer fuͤr den Star, eine Million nach dem, Pla—
ne zu borgen, daß die Schuld in drep ober vier Jab⸗
ren abgegahlt wärde, ale 700000 ff. Sterl. auf: Ko⸗
ſten beſtaͤndiger Intereſſen zu 8 Procent anzuleihen.
Noch kamen andere Betrachtungen hinzu, wo
durch Davenant beſtimt wurde, kurze zoblunus
fonds ben permanenten Intereſſen vorzuziegen. i
Man glaubte damals allgemein, ( bbgleich Da⸗
venant bie Falſchheit des Vorurtheils zu zeigen ſüch⸗
te), daß Geld, das auf Antieipation eines Fonds
angeliehen: werde, den man hebe und anmwende, um
. die. Schuld zu bezahlen, feine Starsfchuld fey, weil
es die, vorherigen Einkünfte nicht vermindere, Ein
Beweis diefes herrſchenden Vorurtheils ift, daß ſelbſt
Davenant, indem er von den Schulden Englands
Dlachricht giebt während der Periode, da er fchrieb,
dit. von der Revolution bis zum Ryswicker Frieden,
immer genau die Summen bemerkt); die als Inter⸗
-effen dafür bezahle wurden. Die Menfchen dachten.
damals nur an die Bezahlung der Eapitalien; und
wenn diefe nuc in wenig Jahren ‚abgetragen würden,
fo meynten fie, ſey es nicht dee Mühe werth, Ruͤck⸗
fiht darauf zu nehmen, was —* unter der Zeit ep
fleten.
So lange. Nationen im Kriege diefelbe Politik
in ihren Merhoden, Geld zu erheben, beobachten,
find die Arten ihres Verfahrens von ‚geringerer Ers
heblichkeit. Uber wenn irgend einer diefer Staten eis
ne Veränderung macht, modurch mehr Geld in. feing
Hände fomt, als er vorher erhalten konte; fo made -.
diefer Dane 68 den hen, € — re
| n NZ di
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 35
Diefelbe Methode zu befolgen. Als die Megenten noch
Krieg führen mit dem Betrage ihrer Schäße und
jährlichen Einkünfte, hieng der Zufiand ihrer Mache
Yon dem Zuftande diefer Hülfsquellen ab. Auticipir⸗
ten fie ihre Einkünfte auf -benden Seiten für wenige
Sabre, blieb noch immer dasfelbe Verhaͤltniß. Adop⸗
girten fie hernach lang entfernte Zahlungsfonds, fo
vermehrten fich ihre Hülfsmittel; aber das Öleichger
wicht ward erhalten.
“. Der Mugen einer Unterfuchung dee Principien
Des üäffentlichen "Credits befieht daher nicht ſowohl
Darin, das Intereſſe der verjchiedenen Staten zu ents
Decken, nach welcher fie eine Art des Eredits der ans
deren vorzuziehen hätten, als vielmehr die Folgen jes
ber derfelben einzufehen, und folche Methoden zu bes
ſtimmen, die zunächft das Beſte des Stats als eines
politiſchen Körpers für fich betrachtet, und dee Indi⸗
viduen, aus welchen er beſteht, befördern.
Ein Gegenftand, defien Beziehungen fo manı
nichfaltig find, mie diefer, iſt feiner Matur nach fehe
verwickelt, die Folgerungen, Die man nur zu ahnden
vermag, ‚müffen unbeftimter ſeyn; aber auf der ans
deren Seite Plären fie doch den Verftand auf, und
Heben ihm manche Winfe, welche mit der Zeit zum
Beten der bürgerlichen Geſellſchaft ſich benugen laffen,
Um’ zu-erflären, wie Davenant ein fo lebs
bafter Feind lange entfernter Zahlungsfonds, und noch
mehr beftändiger Zinfen, wurde, darf man nur dem
Zuftand des öffentlichen Credits in England in ber
Periode des. Ryswicker Friedens erwägen. Mach ibm
betrugen die Statsſchulden Englands damals 174
Millionen: W. Sterl. Bon - Summe war Ai
in | 2 un
36 Geſchichte der neuern Philoſophie
funf Millionen Sterl. und ihre Abtragung oder
Sicherung der Zinſen gar nicht geſorgt. Alle Taren
wurden zur. Bezablung von Statsfchulden, " wenn
diefe dringend notbwendig war, aufgeleger Iſt es
alfo zu verwundern, "daß ein Mann, der feinem: Bas
terlande wohl wollte, die Anleihen auf kurze Fond,
möchten fie auch unter der Zeit noch fo viel often, den
Anleihen auf’ beftändige Intereſſen vorzog, da er ſah,
daß die Parlarhente nicht dahin gebracht werden‘ =
‚ten, irgend..eine Tore nach Abtrag der Schuld,
‚welchen fie aufgelegt war, einen Augenblick: unse
befteben zu lafien? Außerdem war ſehr wenig bey
Anleihen auf lange enefernte Fonds und befländige
Intereſſen zu gewinnen, fo lange die Leiper ihren Bar
theil hauptiächlich darin fegten, daß. die a
ihres Capitals fundirt würde,
Der Grund des ganzen Irrthums war, daß ver
Handel damals erft anfieng, in England Wurzel zu
faſſen, und daß. Captralien noͤtbig waren, um ihn
zu führen. Der Gebrauch der Banken, um Eigen⸗
thum in Geld zu verwandeln, mar noch nicht entdeckt:
Die Eireulation war auf das vorrärhige bare Geil
eingefchränft, und die Vortheile des Handels warten
ſehr groß. Alle diele Umftände gaben den Capitalien
einen fehr hohen Werth, nnd fo fliegen auch die In⸗
tereffen zu einer erorbitanten Höhe,
Diefe tage Englands vergleiche man ber mit
der zu Stevart's Zeit. Würde von Groß: Brian
nien das Capital von huridert vierzig Millionen - 2)
Sterl. innerhalb weniger Jahre in die Hände der Glaͤu
biger gebracht ; thaͤte Frankreich‘ auf der anderen Seh
te Dasjelbe; welcher Handel könnte das Capital verſchlim
gen?! "Die Capitalien baden nutiWertb wach” Pro⸗
por⸗
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 37
portion der Jutereſſen, weiche ſie einbringen, und ſo
lange die Intereſſen, welche von oͤffentlichen Schul⸗
Den bezahlt werden, hinreichen, um eine völlige Cir⸗
eulation des Geldes zu erhalten, und nicht. mehr, fo
werden die Intereſſen fo ſtehen bleiben, mie: fie find.
Hört dies zufällig auf, wie in Kriegszeiten, fo bes
merkt man, daß die Intereſſen fleigen, und wenn Die
bezahlten Intereſſen mehr betragen, als für die Cir⸗
ceulation noͤthig ift, mie bey der Ruͤckkehr des Fries -
—— ſo muͤſſen aus demſelben Grunde die Jutereſſen
fallen. *F
Davenant raiſonnirte, wie ein geſchickter Po⸗
litiker, den Thatſachen und Umſtaͤnden gemäß, die
er vor fich hatte. Was auf weit entfernte Fonde ges
borgt wurde, mard dem laufenden Einfommen des
Stats aufgebürder, und das Parlament war fehr abs
geneigt, Ddiefes im Verhaͤltniſſe der darauf gelenten
Laſten zu vermehren. Dies war für ihm ein hinlängs .
fies Argument, die kurzen Fonds zu empfehlen,
oder feine Lieblingsidee, fo viel Geld innerhalb jedes
Jahrs zu erheben, wie die Bedärfniffe des Stats ı er⸗
fodern moͤchten.
Allein man kann vielmehr folgende Marime zum
Grunde legen. So wie der Verkehr unter den Ins
dividuen nicht die Proportion des in einem Lande ums
laufenden Geldes überfchreiten fann; fo muß, auch der
Regent, wenn er plöglich die Taren. auf fein Volk
vermehren will,. ohne ibre Induſtrie zu unterbrechen,
welches: dann noch nöthiger wird, als jemals, das
umlaufende Geld vermehren im Verhaͤltniſſe der vers
mehrten Machfrage nach demfelben. Die Mittel,
wodurch dieſes gefchehen fann , werden von Gtevart
umſtaͤndlicher angegeben. Ei Wirkung ift fi gi
nt 3 ! ey
38 Geſchichte der neuern Philoſophle
ben einer Nation, wo die oͤffentliche Treue und Glau⸗
ben auf der feſten Sicherheit eines ſolchen Parlaments,
wie das Beitifche, berupen, und auf der Berantworts
lichkeie derer, welchen die Ausübung der koͤnigl. Mache.
anvertrauet iſt. Stevart erläutert feine Marime
Durch ein Beyſpiel. Ein Maun wollte das Waſſer,
Bas bisher feine Kornmuͤhle trieb, zu einer Eafcade
brauchen; nun fland aber die Mühle ftille; aber ans
ftare diefee Mühle baute er fofort eine andere, welche
vom Winde getrieben wurde, Das bare Geld ift das
Waſſer; Banknoten find der Wind; und der Ges
brauch beyder kann fehr zweckmäßig berechner feyn.
Wird die obige Marime bey der Contrahirung
neuer Statsfchulden vernachläffige, fo können die Tas
zen nicht bezahle werden, das Geld wird zu felten in
Mroportion mit der Nachfrage, die Isntereffen werden
fteigen, und die Anleihen werden um fo drückender
‚Für den Stat. Die Summen, die in’s Ausland
gehen, mindern oft den einheimifchen Cireulations⸗
fond, woraus eine Menge von Inconvenienzen ent⸗
ſpringen. Um dieſen zuvorzukommen, thut Ste—
vart den Vorſchlag, Anleihen in fremden Laͤndern
auf Subfeription zu machen, wovon die Zinſen jaͤhr⸗
Sich bezahle werden. Dadurch fann der Regent. die
in’s Ausland gehenden Summen derfen, und bie Ein
eulation bleibt ſich gleich.
| "Stevart zeigt hierbey, daß öffenkliches Ungluͤck
oft mehr von einer ſtockenden Cireulation des Geldes,
als von Befchränfungen des Eigentums herruͤhrt.
Ein Regent, der.nicht jede Merhode anmwender, um die _
Geldeirculation in dem State, welchen .er regiert, zu
erhalten, verſaͤumt das weſentlichſte Erfoderniß, um.
* | | den
während d. achtz · Jahrhund. b. auf. Sant. 39
den Wohlſtand ſeines Volks und die Gründung feis
nes eigenen Eredits zu befördern. E
Zur Abzahlung der Schulden giebt Stevart
ſechs Wege an mit Hülfe eines finfenden Fonds,
Diefer kann 1) jährlich gebraucht werden, um ges
wifie Capitalien nach Gutduͤnken des Stars abzutras
gen ; oder die Abtragung kann geſchehen 2) nach einer
gewiſſen Regel, wodurch die Präferenz beſtimt wird;
: oder 3) duch Anwendung zur Bezahlung eines vers
haͤltnißmaͤßigen Theils des ganzen Schuldcapitals;
“sder 4) durch Meducirung der Intereſſen des Kapis
als; oder 5) durch Verwandlung des Ganzen der
Eapitalien in beftimte Aunuitäten, nach Proportion
Des Umfangs des finfenden Fonds; oder endlich 6)
Durch. totterieen, wo ‘der Stat gewinnt, was die
Spieler Luſt haben, zu verlieren. Jede diefer Arten,
die Starsfchulden zu bezahlen, bat ihre Vorteile
und Nachteile; einige indeflen find offenbar, wenn
Die Wahl frey ift, vorzüglicher, weil bey ihnen der
Vortheile mehr, und des Nachtheile weniger find.
gotterieen find unter der Borausfeßung zweckmäßig,
daß die Intereſſen der Starsfchulden durch eine ges
ſchickte Adminiſtration geringer geworden find, als in ,
irgend einem andern Theile von Europa. Sn dieſer
Lage koͤnnen zufaͤllige Umſtaͤnde Fluctuationen im Prei⸗
ſe der Stocks veranlaſſen. Faͤllt der Preis zu ſehr,
fo kann die Regierung Subferiptionen zu Lotterieen ers -
öffnen, die in Stocks nad den Markıpreife bezaple
werden, mit den laufenden Intereſſen und einer Pleis
nen. Prämie. Dadurch wird die Summe der alten
Capitalien reduciet, und Die Subferibenten gewinnen
einen Beinen Vortheil. Hernach, wenn die Stocks
Reigen, in wo. wiederum die Intereſſen von jenen
C4 Sub⸗
—
Geſchichte der neuern Philofophie- 1:
Subſeriptionen redueiren, woraus. ein doppelter Vor⸗
tbeil entſpringt; die Stocks werden guf der einen. Seu
ge im Preiſe erhalten, und das Capital der States
fshulden auf der. anderen Seite; wird; vermindert.
Auch das Raiſonnement Stevart’s ber du |
Taxen, womit er fen Werk fchließt, ift ſehr iebt |
reih. Er theilt die Taren in proportienelle, weiche
die Conſumtion, oder wae man Ausgabe nennt,
. treffen; in cumulative, die das Eigenthum angeben;
und in perſonelle, die im perfänlichen Leiſtungen bes
Reden, |
Proportionelle Taren Lönnen fo aufgelegt were
ben, daß fie fich faft auf jede Ausgabe für Lebensbes
dürfniffe erfirecken, Da eber alle Ausgaben nur vom
Einfommen beftritten werden follten , nicht vom Cas
pitale; fo ift das erſte Princip der Taxation, die Aufs
lagen fämtlich nur: auf-das Einkommen zu befchräns
ken. Jede Auflage, die das Capital angreift‘, iſt
unterdrückend. und ungerecht, - Weil inzwifchen ber
allen Ausgaben eine Veräußerung flatt finder, ‚obwohl
nicht jede Veraͤußerung mit Ausgabe verbunden iftz
fo ift die befte Merhode zur Verhütung des Fehlers;
daß man das. Capital ftart des Einkommens tarirt
die Tare auf eine folche Art aufzulegen, daß fie num
die Sonfumenten trifft, in welchem Falle jeder, der
Laufe, um wieder: zu verkaufen, die ROM
yöllig. wieder zuruͤck bekommen wird.
Das ſchickliche Objeet fuͤr die eumulativen Taxen |
find. die großen Beſitzungen der hoͤheren Volksclaſſen,
die zum Beſten des Stats wohl eine Verminderung
leiden Fönnen, ohne Gefahr, daß dadurch der Fond
— nothwendigen Beduͤrfniſſe gefhmälere werde,
48 Dies
während; d. achtz. Yahıhund.henufiKant. 41
Dies verhaͤlt ſich aber-nicht.fo;- wenn eumulative Tas
gen auf die niederen. Bolkgstaffen. gelegt werden, weil
biefe entweder: aus induſtrioͤſen Menſchen, oder aus
Beitlern beſtehen. Jene müffen,in dem Stande ſeyn,
dasjenige von den Reichen zuruͤck zu befommen, was
fie fuͤr das Beduͤrfniß des, States hergegeben haben,
Diefe haben nichts zu geben; Auflagen auf fie zu mas
hen, heiße nur ihr Elend vergrößern, ohne dem Dans
gel des Stats damit abpeifen su koͤnnen.
Die großen Vorzuͤge der proportionellen Zaren
‚vor den cumulativen find hauptſaͤchlich folgende: 1)
Die Proportion zwiſchen der Tare und den tarirten
Dbjecten ift genau beſtimt; 2) die Proportion kann Je⸗
dermann befant werden; 3) die Zeit, die Tare zu
bezahlen, ift regelmäßig, und komt allmälig; indem
man für die Ware - bezahle, bezahle man. die Tare,
und die Freypeit, ſoiche Waren zu kaufen, iſt undes
ſchraͤnkt; folglich ſteht die Ausgabe immer im Vers
hältniffe mir dem Einfommen. - Dagegen ift es 1) bey
cumutlativen Taren ſchwerlich möglich, die Proportion
zu erhalten’ zwifchen der Taxe und dem Vermögen eis
nes Jeden, fie in feinen Umftänden mit Bequemlich⸗ -
keit zu tragen; zweytens ift es dem ‚State unmöglich‘,
diefe Proportion mit Gewißheit ennen zu lernen; und
endlich wird der Betrag der Tare oft zu einer Zeit ge
fodert, wo die Leute am wenigften Selb haben, : ?
Die Hauptſchwierigkeiten, die man gegen propor⸗
tionelle Taxen vorgebracht hat, ſind, daß ſie die Preiſe
erhöhen, die Conſumtion mindern, und daß die Hebung
‚derfelben unterbrücfend und koſtbar fey, daß fie als
fo-einen nicht ‚geringen Theil des Betrages: wieder vers
ſchlingen. Dieſe Schwierigkeiten hält jedoch St
Dart. mehr: für ſcheinbar, als für wirklich. Eine
Es pro⸗
42 Geſchichte oet'näuern” Phlloſophie *
proportionelle Taxe zweckmaͤßig aufgeiegt' und erhoben;
wird unftreitig den Preis der tarirten Objeete erhöhen;
aber fie wird folglich Auch den Preis der Arbeit der
induſtrioͤſen Elaffe erhöhen, weil diefe die Tare une
zurück befome in -Proportion mit- ihrem Fleiße und
ührer Frugalitaͤt. Der Preis der Arbeit wird reg u⸗
Hirt duch die Machfeage; die propostionellen Tarın
haben auf denfelden nur Einfluß. —
Was die Verringerung der Conſumtion betrifft,
wenn die Taren Die. Preife erhoͤhen, fo bemweift dies
ſer Umſtand die Vergrößerung der Confumtion; denn,
wuͤrde die Confumtion vermindert, fo würden Die Tas
zer niche bezahlt werden, und die Preife würden folge
- Lich falten , ſelbſt zum Schaden der induftriöfen Elaffe,
Dies find allemal nur Folgen proportioneller Toren,
wenn fie zwecfwidrig aufgelegt werden.
In Anſehung des Koftbaren bey ber Erhebung,
und des Unterdrückenden, fo rühren diefe Inconve⸗
nienzen großentheils von der Meigung des Volks her,
den Stat zu betriegen. Denn werden diefe Taren
ordentlich bezahlt, und auf eine anftändige Weiſe ers
boden, fo find fie nur menig fofibarer, und unends
Jich weniger drückend, als jede andere. Aus der Er⸗
fahrung hierüber in verfchiedenen Ländern abftrapire
Etevart eine Merhode, wie ſowohl die Unterdruͤk⸗
Fung, als die Koſtbarkeit dee Erhebung, bey propors
sionellen Zaren vermieden werben könne, |
Alle Zaren werden mie dem im Lande umlaufens
den Gelde bezahle; fie koͤnnen folglich nicht Uber eine
gewiffe Proportion diefee Summe hinausgehen. Es
jaͤhßt fich daher weder aus dem Werthe des Eigenthums,
noch aus der rd der Conſumtion, der Ertrag eis
ner
*
wvaͤhrend de achtj. Jahıpund:B. auf Rat, 43
ner Taxe fo gut berechnen, als aus der peomten’ Tir⸗
eulation, welche Verkehr und: Handel erlelchtert.
Würden Taren in Waren bezahle oder in Naturalien,
dann Fönten fie in einer Proportion zu den Erdfruͤch⸗
sen und der Arbeit ftehen; dann würden fie aber den
Fond des. Unterhalts vermindern; anſtatt daß id
ige nur einen Theil der Quantität: des Geldes an ſich
ziehen, welches durch die Haude ae — ug;
eulirt.
Der große Unterſchied zwiſchen eumulativen =
proportionellen Taren beftehe darin. Die erftern Pöns
nen von denen, welche fie bezahlen, nicht im Verhaͤlt⸗
niffe zu ihrer Induſtrie wieder gewonnen werden; wohl
aber die anderen. Dur fofern: irgend Jemand aus
der indufteidfen Claffe faul oder ausfchweifend wird,
verfürze jede proportionelle Taxe feinen täglichen Ge⸗
winn, wie jede-cumulative das Einkommen eines bes
reits ermorbenen Fonds vermindern wird. -
Zaren mäffen immer aufgelegt werden nur . zum
Vortheile des Stats, nicht zum Vortheile von Pris
Yarperfonen, und wenn. diefe Regel beobachtet wird,
fo.find die Zaren in jeder Hinficht wohlthaͤtig. Wers
dem fie zweckmaͤßig erhoben, fo vermindern fie unnoͤe
thige Privatausgaben; werden fie fchicflich vom: Stas
te angewandt, fo befördern fie überall Verbefferuns
gen; und diejenigen, welche bereits Vermögen erwors
ben haben, werden bewogen, zur Bequemlichkeit dee
niederen Volkselaſſen beyzufteuern, - So wird. mit
Hälfe Flug aufgelegter und angewandter Taren die Eirs
eularton außerordentlich begünftige; die Induſtrie vers
mehrt; für das öffentliche Befte geforgt, und die Be⸗
zahlung der Searslaften ſo gleich vertheilt, . Daß “
rt N j ‚ |
—
—
44. Geſchichte der meuern Philoſophie
die Vortheile nicht uͤberwiegt, die aus: dem allgeme |
me: ——— fließen.
Sofern die eumulativen Taren das Einfowinae
eines bereits erworbenen Fonds treffen, iſt zu bemer⸗
Ben, Daß Diefes Einfommen von beweglichen. oder uns
bewestichem Eigenrhume herruͤhrt. Das erfie wird
ſich immer ‚dem Griffe, des Regenten eutziehen , der
Zaren Darauf zu legen verſucht. Cumulative Taren
auf’s höchite gerieben koͤnnen alfo zwar das ganze Eins
kommen vom unbeweglichen. Eigenthume verfchlingen ;
aber auch nur dieſes allein. Proportionelle Taren
treffenden Ueberfchuß des Vermögens derer, welche
die Objecte derfelben verzeßren: Es kann alfo nur
auf ſolche Artikel eine proportionelle Tare gelegt wers
den, die gemößnlich für Geld gekauft ‚oder verkauft
werden. Die Methode daher, proportionelle Taren
zur größten Höhe zu bringen, ift dafür zu forgen, daß
alle coniummibte Dinge zu Markte fommen, und dann
unmerklich die Tare darauf zu fteigern, daß fle dem
ganzen Ueberſchuß des Vermoͤgens der Eonfumenten
wegnimt. Sind die Taren fo hoch geftiegen, jo wich
der Stat Eigenthuͤmer des ganzen Einfommens aller
unbetweglichen Fonds werden, und bie induftriöfe Claſ⸗
ſe allein wird ihren Reichthum vermehren in Propors
tion mit ihrer Frugalitaͤt. Es erhellt aus: biefem alls
gemeinen Principe, daß zur Gründung proportionels
fer Zaren die. Confumtion. nebft dem Verkehre und
Handel erfoderlih find. : Wo demnach eine Beräus
Berung ohne Eonfumtion ftatt ‚finder, wie beym Ver⸗
Faufe von Ländereyen und andern unbeweglichen: Dins
gen, kann eine-proportionelle Tare nicht ſchicklich aufs
gelege werden. Und auch. wo Conſumtion ift ohne
Handel, wie, wenn die, Erdfruͤchte won. denen verzehrt
4:4 weis
’
14
waͤhrend dachtz. Jahthund b. auf Kant. %s
werden, welche fie erudien, iſt keine propottionelle
Taxe angemeſſen. Da Taxen nicht im Werhätrniffe
zu den Guͤtern ſelbſt ſtehen, ſondern zu der Circula⸗
tion; fo folgt, daß ſie auf eine ſchickliche Art nur er⸗
hoben werden koͤnnen beym Kaufe und Verkaufe. Man
Finder freylich manche Beyſpiele von proportionellen
Taxen, die in verſchiedenen Laͤndern aufgelegt ſind, ohne
daß weder Verkauf noch Veräußerung eintritt. Dies
ut aber die ſchummſte Art der proportionellen Taxen,
amd die unterdtuͤckendſte für Diejenigen, welche fie: bes
zahlen muͤſſen. —F ef
Eyus dem Principe ‚ daß Taren in Proportion
zu der Circulation, und nicht zu der Conſumtion fies
ben, erhellt. die Urfache, warum fie ebedem fo ſchwer
zu erheben waren.. : Die Confumtion richtete ſich das
mals, wie ige, in den meiſten Ruͤckſichten, nach: der
Proportion der Zahl der Einwohner; aber die! Cir⸗
eulation, d. i. die Veräußerung durch Verkauf, and
nicht damit in Proportion. Jeder Zuwachs der. Cir⸗
eularion hat die Wirfung, daß er den Ertrag der Tas
gen erhöht, und wenn diefe in einem induftriöfen Lan⸗
de fehr aufgelegt find, fo befördern: .fie den Uml
des Geldes durch das ganze Publium. 1.2... .n
Man fann die Frage aufwerfen: Was für Fol⸗
gen eine gänzliche Abfchaffung der Taren haben würr
de, ſowohl für die Wohlfatth des Stars im Gans
jen, ale für die vornehmſten Claſſen der Einwohner‘,
‚Aus denen er beſteht? In Anſehung derer, welche
die Regierung des Stats verwälten, und von dem
Ertrage der Taren befoldet werden, würde eine Abs
ſchaffung viefer durchaus verderblich ſeyn; und da fie
sine zahlreiche Claſſe des Volks ausmachen, fo wirds
de fich der Schaden auch auf die induftriöfe Ciaſſe er⸗
N | ſtrecken,
46 Gefchichte: der neuern Philoſophie
ſtrecken, welche jenen die Beduͤrfniſſe ihrer Conſum⸗
tion liefert. Was aber die letztere Claſſe an und für
ſich ſelbſt betrifft, ſo muß eine Abſchaffung der Taxen
auch eine verhaͤltnißmaͤßige Verminderung der Cir⸗
eulation nach ſich ziehen. Sie würde folglich die In⸗
duſtrie Mancher unterbrechen , und dadurch eine nachs
heilige Coneurrenz unter ihnen ſelbſt wegen der Mit⸗
gel der Subſiſtenz veranlaſſen. Stevart hat be⸗
wieſen, daß die induſtrioͤſe Claſſe bey dem gegenwaͤr⸗
«gegen: Zuſtande der Dinge nur Taxen bezahlen koͤnne,
ſofern ſie frugal und fleißig iſt; ſie wuͤrde alſo durch
die Abſchaffung der Taxen nichts gewinnen; im
Gegentheile ſehr viel verlieren. A
Z3u einer dritten. Claſſ e im Volke. ann. man die
reichen und müffigen Verzehrer rechnen. . Die Lands
eigenthümer find ein beerächtlicher Theil derfelben. Ob
ſie gleich auf keine Weiſe weder von den cumulativen,
noch von ben proportionalen Taxen etwas wieder ges
winnen, die fie tragen muͤſſen, und alſo die unmits
telbare Entſchaͤdigung entbehren, welche der induſtrioͤ⸗
fen, Claſſe zu gut komt; fo genießen fie doch von ei⸗
ner;anderen Seite Vortheile, wodurch ihnen bie aufs
gelegten taften reichlich vergütet werden, : Diefe Vor⸗
theileentfpringen aus den Folgen des Geiftes der In⸗
duſtrie, der fich über das Volk verbreitet, durch mwels
he ihre Ländereyen verbeffere, die Benutzung und der
Abfag der Producte derfelben erleichtert, und was
für die einheimifche Confumtion überflüffig ift, aus
waͤrts verfauft wird, fo daß fie mic dem Werthe aller
Erzeugniffe im &ande in’s Gleichgewicht. kommen.
Mit dieſer Unficht der Taren und ihres Einflufs
fes auf den Öffentlichen. Wohlftand eines Volks ftehe
«s res im MWiderfpruche, daß —. die n
—R uͤt
wihrent Deacitg. Jehehande Baauf Sant. 47
| N |
‚für dem Volke aufgelegte Bürden gehalten werden, un⸗
geachtet jede Claſſe der Einwohner Bortheile davon ziehen
ſoll. Stepart; antmorter, ‚daß dies nur Vorurtheil
Ken, und, daß zweckmaͤßig aufgelegte Taren nicht für.eine
Würde des Volks gelten. koͤnnen. Die Vermehrung‘
‚ ber Induſtrie, bie mit der Vermehrung der Eirculas
‚sion verbunden iſt, gewährt einen Fond mwohlanges
wandter Zeitz der In Geld verwandelt mehr als bins
reicht, um alle Taxen zu bezahlen, die das Einkom⸗
men eines ſoliden Eigenthums nicht unmittelbar -teefr
fen, undsdie forrgebende Verbeſſerung des letztern als
Folge der erſteren entſchaͤdigt auch die Landeigenthümer
wvoͤllig. In dieſem Lichte gleichen Taxen den Ausla⸗
gen, die für neue. Etabliſſements zur Erhöhung des
öffenelihen Woplftandes angewandt find, inden fie
in ihren Wirfungen in der That den Wohlftand und
die Bequemlichkeit des ganzer Volks vermehren, nicht
dadurch, daß fie erhoben, fondern dadurch, daß: fie
- mit Klugheit. verwandte werden. -
Unter allen eumulativen Taren trägt bie auf das
Tandeigenehum am meiften ein," ohne den geringften -
Druck für “die Coneriduenten. Dies giebe Stevän
ven noch Veranlaſſung zu einer befonderen Untetſut
Kung der Landrare, wie fie in Groß: Britannien
und Frankreich eingeführs ift., —
Unm eine Landtaxe gleichmaͤßig und leicht ertraͤg⸗
lich zu machen, muß vor der Auflegung derſelben ef
ne genaue Schaͤtzung jedes Artikels der Einfünfte-vor
ber geben, welcher. beftenert werden fol, und die Tas
xre darf Bein anderes Einkommen treffen, als Dasjenis
ge, was von einem unbeweglichen Eigenthumsfond
herruͤhrt. Aus diefem Grunde misbilligt Stevart
bie in England. bey der Landrapeı gebräuchliche *
IR thode
As Se der neuern Philoſophte
thode der Schaͤtzung Clleſsment )/ ſo wie auch die
Berbindung einer Taxe auf ſolides Eigenthum mit
Liner gleichen Auflage auf’ das perſoͤnliche bewegliche
Bermogen, eine Verbindung, die ihrer Matur nach
mit —— ‚eumwlatioen: Be cuerng ganz Brig
er in .
—
5* * Are erg de —
| eos fie taille genannt wird) waren zu Stevnarı’s
Zeit verſchieden. Dort Wären die Landrenten, die der
eigentliche Gegenſtand jeder Landtare ſehn fouten haͤu⸗
fig dem Einfluffe det Taxe entzogen, wegen: der Priblie⸗
gien, welche die hoͤhern Staͤnde genoſſen, und wodürch
ſie von der. taille ausgenommen waren: Daher fiel die
Franzoͤſiſche Landiaxe gerade auf den Theil der niede⸗
ten Claſſen, der mie dem Ackerbaue beſchaͤfftigt war,
. was nothwendig eine doͤppelte Inconvenienz zur Folge
haben mußte. Wenn die Landbauer ſelbſt Eigenthuͤ⸗
mer waren, fo waren doch ihre Güter gewoͤhnlich
ehr Plein, und eine Landtare, die einem anfehnlichen
uterbefißer leicht feyn wiirde, ward unerträglich, für
Diejenigen „ die nicht viel mehr von ihrem. Acker erwars
ben, als was fie notwendig zu ihrem Unterhalte be—
durften, Waren die tandbauer hingegen Pächter ans -
fehnlicher Guͤterbeſther, fo fiel die Saft auf fie noch
unabhängig von der Landrente, "welche natütlichers
weiſe allein fie härte tragen muͤſſen. Nichts, meynte
Grevarı, alsı die Beförderung der Induſtrie und
eines ausgedehnten Credits nebſt einer Subftitution
proporfionellee Tären am: die Stelle der vielen eumu⸗
lativen, "die auf Die niederen Volfsclaffen in Fraußs
teich ‚gelegr‘ find, koͤnne je eine Leichtigkeit‘ in Bezah⸗
hing der großen Auflagen Km. ze diefe Na⸗
— tragen - haben —
ie
mise achtz. Jahrhund. b, auf Kant. 49
2 He beſte Merhode, eine kandtare aufſulegen,
a unfkheitig, wenn die Auflage anf die fandrente als
lein beſchtaͤnkt, und im Verhaͤltniſſe zu ihr befiime
wirds, Wie laͤßt fiih aber je erwarten, frage Ste
vart, daß folch ein Plan werde befolge werden, mo
die Sandeigenehümer felbft den Stat.regiereh? Ju
Frankreich war die fönigliche Gewalt nie im Stande,
eine Tare auf die Landrente laͤnger zu erhalten, ale
während eines auswärtigen Kriege, In England hat
fie nun ſchon über ein Jahrhundert gedauert, und
“wenn fie beſtaͤndig würde, ließe fie fich itı eine Domak
ne verwandeln, und koͤnte einen Bond abgeben, einen
großen Theil der Nationalſchuld auf einmal abzutras
gen. Dieſe Idee Stevart's ift befantlich neuer⸗
lich benutzt worden.
Ben der Auſtegung der Taxen iſt es hoͤchſt mich
tig, für eine richtige Verwaltung derfelben zu ſorgen.
Die leichtefte Methode für den Stat war, fie zu vers
pachten, und fie wurde auch Überall juerft beobachtet;
aber als allgemeine Kegel laͤßt fich dies nicht feſtſetzen.
Cumulative Taxen werden beſſer durch eigeritliche Ber
amten des Stats vermwalter, als verpachte. Die
Hebung derfelben iſt einfach; werden fie aber verpach—
tet, fo find die niederen Volksclaſſen der Lnterdrüßs
fung ausgefeßt,
2, Wenn Übrigens die Landtaxe aufgehoben wetden
folie,. fo ifi eine propottionelle Tare auf. eßbare Artikel
und auf Getränfe das befte Aequivalent. . Diejenigen,
welche ipre Nahrungsmittel mir barem Gelde kaufen ;
verzehren den Theil der Erdfruchte „ der der Landtente
am Werthe gleich ift,
Da die Schriften Hume's, des Adam
Smith, und Stevart's für. die Theorie ver
Duble’s Geſch. d. Philoſ. Vl. B. D Stats⸗
50 Gececſchichte dee: neuern Philofophie
Stiatswirthſchaft elaſſiſch find, fo find fie auch. in Enge
land die Hauptwerfe in diefer Wiſſenſchaft geblieben,
aus denen alle fpätere Schriftficher . über Gegenſtaͤnde
der polisifhen Dekonomie ipre Principien entlehnten.
.
Neunzehnter Abfchnitt.
Geſchicht⸗ der neueren Philoſophie in Frankreich mäßrene
des achtzehnten Jahrhunderts. .
—
De ſechs zehnte Jahrhundert war gleichſam ‚die
m goldene Periode der philoſophiſchen Studien für
Italien gewefen. Sie hatte einen geläuterten Pes
ripateticismus, neue Anfichten der Kosmophyſik, und
bey einer zahlreichen Partey auch eine cabbaliflifche
tbeofophifche Denfart zu Refultaten gehabt. Durch
eine Reihe geiftvoller und gelehrter Männer, Gaffens
‚ Di, Des Cartes, Arnaud, Daniel, Hüet,
Pascal, Nicole, Malebrande, ward das fiebs
zehnte Jahrhundert Die goldene Periode der philofos
phifchen Literatur für Frankreihd. Man fann mit
vollem Rechte behaupten, daß die Franzofen damals
im Gebiete der philofoppirenden Vernunft die thaͤtig⸗
fen waren, und auch im Vergleiche mir allen uͤbri⸗
gen Marionen, die auf wifjenfchaftliche Cultur übers
haupt Anſpruch machten, befonders den Briten, Nies - '
derländern, Deutſchen und Italiaͤnern, welche letztern
‚während diefer Zeit auf den Lorbeern ihrer Väter ruh⸗
ten, die bedeutenditen Fortfchritte. gemacht. harten.
Die entgegengefegten —— — ——
Gaſ⸗
F 2* N;
während d. achtz. Jahrhund. 5. auf Kant. 5ı
Gaffendi und Des Cartes beſchaͤfftigten nicht
nur die Aufmerkſamkeit der philofophifchen Denker in
Sranfreich, fondern auch derer im Auslande, und bie
Fean joͤſiſche Philoſophie ward der Mittelpunet, um
welchen ſich die Speculation, fofern fie ſich auf die
Syſteme der Zeitgenoffen bezog, vorzugsweiſe berums
s
Uber mit dem Ende des fießjeßnten Jabthun⸗
derts und im Anfange des achtzehnten verlor ſich jenes
fo lebhafte Intereſſe der Franzoͤſiſchen Gelehrten für
die ſpeculative Philoſophie, befonders für metaphyſi⸗
fche Unterſuchungen, gar ſehr; und dazu trugen mes
sere Urſachen bey, deren Wirkungen fich bis auf uns
fere Zeit herab erfirecfte haben. Der turus des Hofs
und der Großen in der Hauptſtadt, Paris, die für
Die Lebensart und Denfmeife der Mation den Ton ans
- gab, fo wie ſie ihn noch ihzt angiebt, beförderte mehr
die fehönen Künste und Wiffenichaften, die VBerfeines
zung des Geſchmacks überhaupt, als die ernften Fors
-fhungen der Vernunft. Die größere Empfänglichs
keit der Franzoͤſiſchen Nation für Sinnengenuß, und
die damit narürlich verbundene Frivolitaͤt und Nei—
gung zur Abwechslung , benahmen dent gebilderen Pus
blieum immer mehr den Eifer für philofoppifche Wahrs
beit, und die ausdauernde Beharrlichfeit im anges
ſtreugten Machdenfen, welche das wiffenfchaftliche
Studium der Philofopbie fodert. Man fprach mit
Bewunderung von den großen Philofophen, meldye
die Marion hervorgebracht hatte; der Maätionalftofz
ruͤhmte fich ihrer gegen Ausländer; allein man hörte
auf, ihre Werfe zu findiren; oder beguügte fich mit
einer oberflächlichen Lecture derfelben, nur um in Ga
ſellſchaft davon mitreden zu koͤnnen. Selbſt die Streis
ARE Da tigs
I.
52 Geſchichte der neuern Philoſophie 2 Zu
tigkeiten, welche dieſe Werke veranlaßt hatten, wir
ren dem Anſehn der Philoſophie in Frankreich übers
haupt, wie gewoͤhnlich der Fall iſt, nachtheilig ge⸗
worden. Das Publicum. harte dadurch die Schwaͤ⸗
chen der Syſteme kennen gelernt, , und: das-Lächerliche,
das einige .wigige Köpfe auf das beruͤhmteſte derſel⸗
ben, das Cartefianifche, geworfen harten, fiel gewiſ⸗
fermaßen auf die Metaphyſik überhaupt zurück, So
ward dieſe nach und nach ein Gegenſtand, wo nicht
*
der aaa doch der Öleichgältigfekt in Frank
wid:
. Dazu — nun noch die Bigotterie, die —
der Regierung. Ludewig's XIV herrſchend wurde, und
"der Geiſtlichkeit, hauptſaͤchlich den Jeſuiten, die Ge;
walt verlieh, uͤber den Fortgang der wiſſenſchaftlichen
und vollends der philoſophiſchen Aufklaͤrung ſo zu
ſchalten, wie es ihr hierarchiſches Beduͤrfuiß mir ſich
brachte. Die Jeſuiten waren ſchon Widerſacher des
Gaſſendi, Des Cartes und Malebranche ge—
weſen; nur der Genius und die Gelehrſamkeit Diefer
Männer, fo lange fie lebten, hatten den Untagoniss
mus jener unſchaͤdlich gemacht. Um deſto willkomner
alſo war jenen, daß das Publicum aufhoͤrte, ſich
weiter für die Syſteme derſelben zu interefiren, und
daß diefe nach. und nach in Vergeſſenheit geriethen.
Was die Jeſuiten von der Ppilofophie zu fürchten hate
ten, davon waren ihnen fehon die Schriften Pas
cal’s und Micole’s, die unmittelbar, gegen fie ges
tichter waren, ein Benfpiel gewefen ,- und in den biw -
tigen Kämpfen mit den Hugenotten batten-fie von deu
ſchriftſtelletiſchen Vertheidigern derfelben, unter am
| kommen, ‚Es ward ifo ihre — Angelegenheit; - -
dern von Banle, diefer Benfpiele noch mehrere ber
me
waͤhrend dh Jahrhund b. auf FKant. 53 >
jede freyeres und kuͤhnere Erhebung: der "philofoppirens
‚den. Vernumft zurbindern, “oder. mo. fie laut wurde,
gleich in ihren Folgen zu-unterdrücken , damit die Bis
gotterie und Hierarchie ein deſto ſichereres Spiel haͤt⸗
een; Mochte auch ein philoſophiſcher Schriftſteller der
Wahrheit huldigen; es durfte ihm nur irgend eine
Aeußerung entwiſcht ſeyn, Die der Kirche nachth eilig:
ſchien, oder aus der ſich für. dieſelbe nachtheilige Folge
tungen ziehen ‚ließen; "fo ward fein Buch als gefährlich
fire die Religion: und. den Star ausgeſchrieen, und er
ſelbſt mußte: hart für: feine Frevel buͤßen. Bey ſolt
chen politiſchen Hinderniſſen philoſophiſcher Studien
mußten; fie nothwendig ſelbſt ſich gar ſehr vermindern;
zumal da die gelehrte Erziehung: uͤberhaupt in’ den hoͤ⸗
- bern Ständen. groͤßtentheils in ‚den - Händen: der es
ſuiten und Mönche war: Auch: lange nachher, dw *
kuͤhnere Charaktere anfiengen‘, ſich der hierarchiſchen
Anmaaßung der Jeſuiten zu widerfeßen, bare Die
Bedtuͤckung der philoſophiſchen Geifiesfrerheit. durch
Diefo; auf die Franzoͤſiſche Philoſophie ſelbſt den ent⸗
ſcheidendſten Einfluß. Ein heftiger Druck erzeugt eis
nen heftigen Gegendruck, und es war natuͤrlich, daß,
während die Jeſuiten unter dem: Deckmantel der Re⸗
ligion und dem Schutze des Deſpotismus den kirchli—
hen Aberglauben beguͤnſtigten, die neuern Franzoͤe—
ſiſchen Schriſtſteller, hauptſächlich die Encyklopaͤdi⸗
ſten, in. ihren gerechten Angriffen auf den Aberglaus
ben; und die Hierarchie; auch die beffere Religion nicht
fehönten;, und dadurch den Naturalismus und Egois-
mus in ihrem Vaterlande begründeren, der iu der
Feige die: herefchende Denfart der gebildeten Sränbe |
— iſt. |
Augeachter der Urſachen indeſſen, — das
| —* des Franzöfifchen — für -metappys
D 3 ſiſche
54 Geſchichte der neuern Philoſophie
ſiſche Unterſuchungen ſchwaͤchten, Tag es doch in der
Natur der menfchlichen Vernunft, vollends bey einer
ſchon fo cultivirten Mation, wie die Franzoͤſiſche, daß
die Gleichguͤltigkeit gegen ſpeeulative Philoſophie übers
haupt voruͤbergehend war, ‚und nur ‚eine kutze Zeit
dauerte. Einzelne genievolle Männer wagten wieder
neue Verſuche, denen bald me: andere folgten.
u. Die ältere Franzdſiſche Philoſophie — ui
biefe nur zum Theile ein. Die Metaphyſik des Des
Eartes fchien felbft denen unter den neuern Frans
zöfifchen Schriftfielleen, welche mit ihr vertraut ge
worden waren, zu ſchwaͤrmeriſch, und die Metaphy⸗
fit des Maleb ranch ea zu myſtiſch, um ſich in ihrem
Raiſonnement dadurch leiten und: beſtimmen zu laſſen.
Man darf ſogar von den wenigſten neuern Franzoͤſu
ſchen Schriftſtellern annehmen, daß ſie die Lateiniſchen
— des Des Cartes im Originale gelefen haͤt⸗
Die Mode, philofophifche und gelehrte Werke
aber zu fchreiben, ward durch die Verfeinerung
der Franjoͤſiſchen Sprache verdrängt, und dadurch
ward auch die Keneniß der Lareinifchen. Sprache ſelbſt
unter den Gelehrten in Frankreich fehr: verringert.
Sie ſchraͤnkten ſich alſo auf Franzöfifche Auszüge aus '
jenen Werken ein, die fich öfter durch. ihre 84
keit, als durch Genauigkeit, Vollſtaͤndigkeit und
Gruͤndlichkeit auszeichneten. Leibniz ſchrieb zwar
Franz oͤſiſch, hegte eine große Vorliebe: für dieſe Spra⸗
che und die Franzoͤſiſche Nation, und ſtand auch bey
den Sranzöfifchen Gelehrten in einem ehrenvollen Anz
benfen. Seine Philofophie ſcheint jedoch. in Frankı
reich nur eine ſehr partielle und unbedeutende Genfar _
tion gemacht zu haben. Sie erfoderte zu große Ans
ftrengung des ——— war nicht unmittelbar
klar
während d achtz. Yahrhund. 5. auf Kant. 55
Far und verftähiblich genug, gieng zu weit in die Tier
fen der Merapprfit hinein, und hatte zu werig Ans
ziehendes in der Daiftellung, um den Frauzofen ges
fallen zu koͤnnen. Ueberhaupt fand von -den franzöfis
fchen Philoſopben dee XVII. Jabrhunderts Feiner grös
Gern. Beyfall bey den neuern, .als Gaffendi, weil
gerade Das Epikuriſche Syſtem, deſſen Commentator
und Lobredner er war, der Geiſtesſtimmung und den
Privatabſichten jener am meiſten entſprach. Won
ibm wurden die Woffen erborgt, womit man den Mas
turalismus ausrüftere, und Die Bert tive az und
die Hierarchie bekaͤmpfte. |
Die Philoſophie der Deutſchen blieb ben Srans
zofen faſt ganz unbekaut, diejenigen abgerechnet, wel⸗
«be bey: ihrem Aufenthalte in Deutſchland von ihr
Notiz nahmen, um fie zu verfporten und ihren Witz
Daran. zu uͤben. Die unendliche Weitſchweiſigkeit und
foftemarifche Steifpeit der. Wolf’fchen Ppitofoppie in
der erſten Hälfte, des vorigen Jahrhunderts contraftirte
enlich zu ſehr mit. dem, Geifte und Geſchmacke der
nn um diefe zu einem fleißigen Studium jes
ner einzuladen. Die beſſere Ppitofoppie in Deurfchs
land und der befiere Geſchmack in der Behandlung
and Darftelling derfelben begannen erft nach dem fies
Benjäptigen Kriege in der letzten Hälfte jenes Jahr⸗
hunderts, zu einer Zeit, wo die Verbindung ber Frans
zöfiihen Gelehrten mit Deutſchen ſehr geringe war,
Mrd das Vorurtheil der Geſchmackloſigkeit und Per
bauteren der Deutſchen in Frankreich fchon zu tiefe
Wurzeln gefchlagen hatte. Eine Hauptſchwierigkeit
har auch von jeher Die Deutfche Sprache der Verbrei⸗
tung der Deurtſchen phifofoppifchen Literatur in den
Weg gelegt, welche Die u ungleish ſchwerer
4 als
4
| | “a |
56 Gecchichte der neuern Philoſophie
als andere; Voͤlker erlernen können ‚ud: daher in dee
Regel nicht, anders lernen, ols wenn fie, durch, den
Drang der Umftände dazu gezwungen werden,
Auch die Engtifgen Philoſophen im Anfänge
des achtzehnten Jahrhunderts blieben den Franzofen
fo ziemlich frenide. Es bedurfte erft eines Voltaire,
der die Mewton'ſche Kosmophyſik popularifirte, zwü
fhen Leibniz und Memwron eine wißige, wiewohl
nichts weniger als richtige und treffende, Parallele zog,
!
tum feine Landsleute mit diefen beyden großen Maͤnnern
des Auslandes und ihren Entdeckungen befanter- zit
macen. Spaͤterhin nahmen die Franzoſen freylich an
der Pbilofoppie der Engländer lebhaſtern Antheil;
Doch mehr fo weit diefe die Politik und hauptſaͤchlich
die Theorie der Statswirthſchaft betraf, ale fo weit
fie die Theorie des Erkentnißvermoͤgens, (jeboch mit
Ausnahme der Locfe’fchen Theorie, die fich in Frans
reich zabfreiche Derehrer erwarb), die Metaphyſik
ind Moralprincipien angieng. Man kante und fchäßte
in Sranfreih den David Hume; aber nur als Ge
fhichefchreiber und politiſchen Schriftſteller; ſchwerlich
als philoſophiſchen Skebtiker, von welcher Seite ihn
D
die Deurfchen am meiften ſchaͤtzten.
** |
» : ‚Unter den Franzoͤſiſchen Philoſophen, die ſich
nach den berühmten. Vorgaͤngern des fichzehuten Jahrt
bunderts von «neuem au die Aufklärung. der, Theorie
des Erfeugnißvermögens zur Feſtſtellung philoſophi⸗
ſcher Principien wagten, verdient der Abbe de Cous
diblae die erſte Stelle. Er lebte in der erſten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts, und war Lehrer des. Erb⸗
priuzen von, Parnia, fuͤr welchen ex. auch. einen eines
nen fogengunten Cours d’etudes geſchrieben hat. SU
Beziehung auf die Philoſophie haben wiß Wirien
wahrend d. ach. Iahıhunb. b. auf Kart. 57
drey Werke leiten, die durch ihren; Inhalt genau
mit einander verbunden find, dem Eſſay fur. l' origine
des connaiſſances humaines , ben Nou⸗ des- Yalm:
uam, amd. den Traite des animaux 422
Sein Urtheil über die Metaphyſik * Pr
—** Zuſtande in Frankreich druͤckt gewiſſermaßen
das Urtheil feiner Zeitgenoffen überhaupt aus. Con
dillaec fand die Vernachläffigung der Metaph
von feinen Landsleuten ſehr vernünftig, ſoſerne ſie zu
anmaaßend alle Geheimniffe erforfchen, in das Mes;
fen der Natur und ihre verborgenften Urſachen eins,
dringen will, und zwar nicht auf dem Wege der Exst
fahrung; und einer firengeren Unterfuchuug des Vers.
nunftvermögens; fondern durch Hypotbeſen und. Con⸗
fiructionen von willkuͤhrlichen unerweislichen: Grunds;
fügen a priori;: wodurch fie eine. Ure-von Zauberwerk
wird, das bey genauerer Beleuchtung: in fein Michts
verſchwindet. Indeß verwarf er auch nicht die Mes
taphyſit fchlechtbin. Er wies fie nur in die. Schran⸗
fen zurück, die ihr durch die Beſchaffenheit des menſch⸗
lichen Verſtandes ſelbſt angewieſen find. Haͤlt fie
ſich innerhalb dieſer Schtanken, und ſtrebt fie, nur -
zu erforfchen, maß fie zu erforfchen vermag, fo, ift fie
die achtungswertheſte Wiſſenſchaft, und welche die
Aufmerffamfeit und das Studium genievoller Mens
ſchen vor allen andern fodern darf. ,
Condillae feßte die Urfache oe. bießerigen mer
taphyſiſchen Verirrungen, und nicht mit Unrech
darin, daß man den Urſprung und die —
art der menſchlichen Borftellungen. verkannt habe.
Bon dieſem Vorwurfe find insbeſendre Des Cartes
und Malebranche nicht frey. Hingegen nimt er
den. Locke, * und —— iſt ein Beweis, daß
* * 1] er
s Beſchchte dee neuern Pfilofophie
«° eigentlich nur die metaphyſiſchen Verirrungen ſei⸗
wer Vorgaͤnger vermehrte, da ihn mit dieſen dasſelbe
Loos traf, den Urſprung und die Entſtehungsart ber
Vorſtellungen verkant zu haben. "Eondillac’s Pit
ſophie iſt nichts weiter, als der Locke ſche Empi⸗
oͤmus, mit noch groͤßerer Strenge uud Conſcquen;
Hnfihe auf die auch vom Lorfe —
Zuellen der: Erkentniß durchgeführt.
" Die philoſophiſche Unterſuchung überhaupt fo
nur an der Haud der Erfahrung fortgehen. Es muß:
alſo eine urjprüngliche Örunderfabrung ents
Deckt werden, die Niemand bezweifeln kann, und die:
gleichwohl zur Erklärung aller übrigen hinreicht. ' In
jener: Grunderfahrung müffen die Quelle und Mares
rtialien aller unferer Erfentniß gegeben ſeyn, oder fie
muß wenigftens zu dieſen unfehlbar hinleiten. Aus
ihr muͤſſen das Princip der Thaͤtigkelt der Seele, die
MWerfjeuge, deren fie fid) dabey bedlent f und die Re
— Anwendung erhellen.
"Nach Condiilae's Tpeorie iſt jene. Grunder⸗
| fahrung in der Verbindung der Ideen theils mit Zei⸗
chen, theils unter einander ſelbſt, zu ſuchen, und die⸗
ſe Verbindung iſt es alſo quch hauptſaͤchlich, die er
in ſeinen Werken weiter zu entwickeln und aufzuhellen
ſich bemuͤhte. Er wollte die menſchliche Erkentuiß
auf Ein Princip zuruͤckfuͤhren, das weder ein unbe⸗
ſtimter Satz, noch eine abſtrahirte Maxime, noch eis
ne willkuͤhrliche Vorausſetzung, ſondern eine allge⸗
mein anerkante Erfahrung waͤre, deren Folgen immer
durch neue Erfahrungen Beftätigewiltden.. Demnach ern
drterte er zuvoͤrderſt den Urſprung und die Verſchieden⸗
heit der Perceptionen; dann Die Matur de Fl
| Yin, und ihre kauen ‚mis jenen. ne |
während d..adhıtj. Yahrhund: 6. auf Kant. 59
Behauptung, daß alle Erkentniß aus der finnlichen
Erfahrang'entfpringe, fügte erdarauf ‚Daß wir ums
ſere Borfellungen empfinden; daß wir ſie bes
ſtimt von Allem unterfcheiden,: was nicht fie find;
und dag wir ohne Empfindung gar Leine. Er—
kentniß haben Fönten. Die Gegenftände der
Worftellungen find inzwiſchen nicht bloß die Außer
Dinge, fondern auch. die inneren Thätigkeiten
der Seele ſelbſt. Zu den urfpränglichen Seelenver⸗
mögen, die bey der Erkentniß thaͤtig find, gehoͤren
das Voſrſtellem/ das. Bewußtſeyn, die Auf⸗
merkſamkeit, und die Erinnetung. Durch dies
fe wird zunächft. die Verknüpfung‘ der Ideen mit aͤu⸗
ßern Dingen, mit Förperlichen Handlungen , ’ als Zeis
chen, bewitkt, „und aus der Ideenverbindung entftes
ben nach und nach die Einbildung, die Contem⸗
plation, und das Gedährnig. Je vollkomner
der Gebrauch der Zeichen wird, deſto vollklomner meid
den auch jene Vermoͤgen. Go wendet Condillae
fin Princip noch weiter zur Erklärung der einzelnen
logifchen Thärigkeiten des Verftandesian.i! Hess
nach befchäfftige er fich mit einer ausführlichen Er⸗
Käuterung der 'Matur der Oyrage und ber Me
sgobeiopin “
Man hält geroößntich ss Wert des Condil⸗
lace Sur Porigine des connaiflances humaines für
fein Hauptwerk; aber das ift es nicht, fobald darum
zu thun ift, das Eigenthümliche feiner Theorie
und ihr Unterfcheidendes. von der Locfe'fchen genauer
kennen zu lernen. Diefes Eigenthuͤmliche liegt in der
Art, wie er die Abkunft aller Erkentniß aus der. Sins
nenerfahrung durch eine umftändliche Charakteriftif
der Ginnenorgane, und Der verſchiedenen Senſatio⸗
nen,
Geſchichte der nenern Philoſohhie
nen, welche. ſie vermitteln, darthunin Dies geſchleht
aber von ihm in⸗ dem⸗ Traité des· Senſations. U
der Locke'ſchen Philoſophie tadelt er, Daß in derſelben
die. Verbindung der Urtheile mit allen unſeren Sem
—— uͤbergangen ſey; daß nicht gezeigt ſey, wie
ber: Menſch auch noͤthig habe, das Fühlen; Se⸗—
Ben,: u. w. erflizusternen; daß faf alle Fabigkeik
gender. Seele für augeb ob ren: gehalten: wuͤrden
da ſie doch ihren, Urfprung aus demi®enfation
nes jelbit chArtem..: oe hat dem Gebrauch der
Sinue auf eine Ar⸗ von Inſt i n et zur ck zef hrt⸗
und behauptet, daß die Reflerton gar nichts dazu
beytrage. Auch Buͤffon legt dem Menſchen auf.
einmal Fertigkeiten im Gebrauche der Sinne bey,
die er doch. erſt erwerben muß. Combiklac aber
leugnet alle diefe urſpruͤnglichen⸗Fertigkeiten
des Menſchen. Er ſucht vielmehr den Gebrauch der
Vermoͤgen der Seele aus der Natur der Empfindun⸗
gen zu deduciren, und verwirft die Begriffe. Inſtinet,
- Mahänismus, die man. gewöhnlich sur. .
* He: P nehmen ‚pflegt,
2 Als. Intereffe für Sen — und ihre
— entſpringt im Menſchen aus den Ges
fuͤhlen des Angenehmen oder Unangenehmen, welche
Damit verbunden finds. Jh. das Gefühl des Ange⸗
. nehmen einmal empfunden; und wird es hernach ent«
behrt, oder hat der Menfch die Erfahrung des Schmer⸗
zes gemacht, und fürchtet er, Denjelben wieder zu leis
‚den; ſo wird dadurch. eine Unruhe erzeugt, welche die
Mutter der Beduͤrfniſſe, der Triebe und Dererminas
tionen iſt. Aus dieſer Unruhe erkläre vun Condil—⸗
lace alle Fertigkeiten der Seele und des Körpers. Sie
tebet BA Sehen, Hören, Schmecken, *
gie
während dachtz Jahrhund b. auf Kant. 6ꝛ
gleichen, Urtheilen, Reflectiren, Begehren, Lieben,
Haſſen, Fuͤrchten, Hoffen, Wollen u w. Da.es
inzwiſchen⸗ unmoͤglich iſt, die erſten Regungen und
Gedanken: der Seele zu beobachten; fo Muß: man
errathen, und fich folglich hier einige Werausfeguns
gen erlauben. Es. gehöre auch zur Vollendung der
Theorie eine Unterſcheidung deſſen, was jedem Ginne
insbeſondre gebuͤhrt. |
Condillac denfe fih alfo die Statue eines
Menfchen, die bloß mit einem oder dem andern Sin—
ne, verfehen wäre, der es aber an den übrigen marıs
gele, um danach zu beſtimmen, wie fich in Beziehung
auf jenen Sinn gewiffe Eeelenfähigfeiten entwickeln
würden, Nachher legt er diefee Statue noch mehe
‚ andere Sinne bey; endlich alle, mit denen der Menfch
begabe ift; und entwickelt- dann die Solgen einer fols
chen Borausfegung.
Die befchränftefte erfennende Matur dürfte wohl
diejenige feyn, welche bloß den Sinn des Geruchs
befige. Da fie nichts als Gerüche empfindet, fo ift
auch für fie nichts als Geruͤche vorhanden, und. fie
bat gar Feine Fdee von der Materie. Dennech wärs
den aus dem Sinne des Geruchs allein mehrere Faͤ⸗ |
higfeiten der Seele entftchen, die wir, ohne diefe Res
flerion angeftelle zu haben, ſchwerlich daraus herlets
ten würden. Es kann der Statue, ſofern fie Ge
ruchsfenfariönen wahrnimt, nicht an Bewußtſeyn
fehlen; die Senfarion ft angenehm oder unange—
nehm; die Unterſcheidung des Vergnügens und
Schmerzes, und die Wahrnehmung, daß jenes in
diefen, und umgekehrt, übergeben kann, machen Bers
gnügen und Schmerz zu Principien der weiteren Thaͤ⸗
tigkeit der Statue; es entſteht — be⸗
Ki a u J im⸗
oA
Sdſchichte der neuern Pftlofophie:
ſtimter angenehmer oder unangenehmer Senſationen,
woraus zugleich erhellt, daß das Gedaͤchtniß nichts
anders, als eine Art zu empfinden iſt, die oft leb⸗
hafter, als die urſpruͤngliche Senſation ſelbſt, ſeyn
kann. Aus dem Geruchsſinne der Statue folgert als
fo Condillae, wie ſie nach und nach fi der Suc—⸗
ceſſion der. Veraͤnderungen eines activen und paſſiven
Verhaͤltniſſes bewußt wird, mie -fie vergleichen und
urtheilen lerne, wie fich diE Jmaginarion bilder, was
uͤr Triebe und Leidenſchaften entſtehen, und wie der
Wille ſich aͤußere. Zuletzt gelangt er zu dem Reſul⸗
ate: daß mit einem einzigen’ Sinne die Seele den
Keim aller ihrer Fäßigkeiten habe; daß alfo die Sens
.. alle Fähigkeiten der Seele in fich fehließe.
as Vergnuͤgen und der Schmerz fiud zur Entwickes
fung diefer Fähigkeiten die wirffamen Principien.
Dieſelbe Deduction der Seelenfähigkeiten, wie aus
dem Sinne des Geruchs, unternime Condillac auch
aus andern Sinnen. Man fehreibe einmal der Statue
mehr Sinne mic einander verbunden, z. B. Geruch
uud Gehör, zu, fo kann fie anfangs die verfchiedes
nen Senfationen nicht unterfcheiden; aber fie lernt es
nah und nad: Ihr Wefen fcheint ihr eine zwiefas
he Art des Dafeyns zu gewinnen; ihr Gedächeniß
wird erweitert und veichhaltiger; fie bilder mehr ads
ſtracte Ideen.
Das Gefühl iſt der einzige Sinn, welcher
uns durch fich ſelbſt von den Außern Objecten unters
richtet, anftare daß die übrigen Sinne uns dieſe nicht
zeigen. : Denfe man fi, daß die Statue feinen ans
dern Sinn, als Gefühl, haͤtte, fo würde ihr nichts
als die Senfation der gegenfeitigen Thärigkeit der Theis
le des FERN übrig bleiben, und. vornehmlich der
Ref ee
waͤhrend De achtz. Jahrhund. bauf Kant. ‚og
Meſpitation. Das Bewußtſeyn der Reſpiration
duͤrſte der geringſte Grad der Empfindung ſeyn, der
ſich bey der Statue annehmen ließe. Eondillae
‚nennt: diefe daher die Grundempfindung (Senti-
‚ment fondamental).,- weil mit: dieſem Spiele.der Dias
ſchine das animalifche Leben anfängt, und einzig von
demſelben abhängt, Cine Statue, welche bloß die
‚Grundempfindung. hätte, haͤtte auch feine dee von
‚Ausdehnung und. Bewegung. Raͤumt man ibr. aber
Qugleih den Gebrauch der Hände ein, fo faͤngt ſie
an, ihren eigenen Koͤrper, und die äußere Koͤrperwelt
zu entdecken. Aus dem Gefuͤhle entſpringen mehr
Zuſtaͤnde und Fertigkeiten der Statue, als aus irgend
einem andern Sinne, und die übrigen Sinne mit dem
‚Gefühle verbunden find es, welche die mienfchliche Nas _
tur vollenden. . = Ba a
Noch hat Condilfac feinem Tractate von den
Empfindungen eine Abhandlung über die Frey⸗
beit bengefügt. Es laͤßt ſich denken, daß die Sta⸗
tue in Anſehung ihrer Triebe gar Feine Hinderniffe
faͤnde; vielleicht find auch die Triebe mit einander ing
Öleichgewichte; oder der eine ift flärfer, als der ans
Dre. Finden die Triebe Hindernifje, oder ziehe die
Befriedigung derfelben Schmerzen nach fi, fo enis
pfinder die Statue eine Reue, Sie fängt alfo an,
zu ‚überlegen. ob fie ihren Trieben. folgen folle ‘oder
nicht; fie widerſteht ihnen auch wohl, und nur hefs
tige Leidenfchaften können das Vermögen der Webers
legung in ibe aufheben. Sn jedem Falle aber
verdankt fie Diefes Vermögen den Kentniffen, wel⸗
‚be fie erworben. har. Die Statue bat alſo das
Vermoͤgen zu handeln oder nicht zu handeln, und iſt
frey. Denkt man ſich unter der Freyheit ein Ver⸗
moͤgen,
Beſchichte der neuern Philofophie
moͤgen, zuglelch zu wollen und nicht zul wollen, zu
Athun und nicht zu thun, fo iſt dieſes eine Ungereimt⸗
heit. < Die Wahl unter zwey entgegengeſeltzten Hands _
„Lingen ift allemal.eine Wirkung der Freyheit; aber
Eines von Beyden muß die Statue nothwendig wirk⸗
Hd: wollen, etwas zu thun, oder etwas nicht zu
hun. . Man muß daher die Frage nicht ſo ftellen:
Ob man das Vermögen habe, zu wollen und nicht zu
‚wollen? fondern: Wenn man Diefes will, ‘ob man
“auch das Vermögen habe, es nicht zu wollen, und
wenn man Etwas nicht will, es auch zu wollen?
seo nicht überlege wird, da wähle man
‚sicht ; man folge bloß dem Eindrucke der Objecte, und
hier findet. feine Freyheit ſtatt. Allein um zu übers
legen, muß man nochwendig die Vortheile und Nach—
theile kennen, welche damit verbunden find, wenn
‚man den Begierden folgt, oder ihnen widerfteht. Da
alſo die Ueberlegung Erfahrung und Kentniß vors
ausſetzt, fo erfodert die Freyheit dieſe nicht mins
der. Es fließt hieraus, daß die ausgebreitess
ſten und geündlichfien Kentniffe den Ga
brauch der Freyheit am meiften befördern,
Frehlich heben unvollftändige und unrichtige Kentniſſe
‚die Freyheit nie auf, da fie überhaupt nur Mittel
zur Bewirtung der Ueberlegung find; allein die Ent
fcheidung ift Doch unficherer, als im entgegengeſetzten
Falle Die Freyheit beſteht alfo auch nicht in der
gänzlichen Unabhängigkeit unferer Handlungen von
den Gegenftänden, und der Erkentniß, welche wie
ins in Anſehung derfelben erworben haben. Wir
muͤſſen wohl von’ den Objecten durch die Unruhe abs
hängen, melche die Privarion derfeiben erzeugt, da
wir Bedürfniffe haben, und wie muͤſſen uns wohl
nach
#
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 65
nach der Erfahrung richten in der Wahl defien, was -
uns nüglich ift, weil fie allein uns hierüber belehren
Bonn. Waͤhlten wir einen Gegenftand unabhängig
von unferer Erkentniß desjelben; fo würden wir ihn
- wählen, auch menn wir überzeugt wären, daß er ung
ſchaden Lönte, d. i. wir würden unfer Uebel als uns
fer. Uebel wählen, was doch unmöglich if. Die
Freyheit beftehe in einer Beſtimmung des Willens,
die wir in der Vorausſetzung, daß wir immer auf
“irgend eine Urt von der Einwirkung der Objecte auf
uns abhängen, zufolge einer Ueberlegung bewirft has .
ben. Man vertraue die Leitung eines Schiffs einem .
Menfchen an, der gar feine Kentniß der Schiffarth
bat, und das Schiff wird ein Spiel der Wellen ſeyn.
- "Aber. eim erfahrener, Pilot wird den Lauf desfelben zu
‚vegieren willen; bey-bemfelben Winde wird er doch
die Direction jenes abändern fönnen; und nur im
Sturme wird das Steuerruder nicht mehr feiner Hand-
gehorchen. Dies ift das Bild des Menschen *).
% Der Tractat Condillae's von den Thiere«
beftreiter zunächft die Meynungen des Des Cartes
und des Grafen Büffon von diefen, and enthält
nachher eine eigene Theorie darüber, : Der erflere hats
te die Thiere für bloße lebendige Mafchinen eiklaͤrt.
C. widerlegt dieſe Behauptung dadurd), daß die Thiere
ſelbſt für. ipre Erhaltung forgen; daß fie fih willkuͤhr⸗
lich bewegen; daß fie die. ihnen angemefjenen Dinge
fuchen, unter mehrern wählen, und was ihrer Natur
Ze Ä | zu⸗
*) S. Eſſai fur Porigine des connoiſſanees humaines.
Cear Mr, l' Abbé de Condillac.) A Amſterdam 1746.
2 Tomes. 12. — Ebendesſ. Traité des ſenſations. A
u ‚Londres 1754. 2 Towes. 12, or
Suble's Geſch. d. Philoſ. VD, €
}
66 -Gefchichte ‚der neuern Philoföphie |
zuwider ift, vermeiden. Diefelben Sinne, welche
die menfchlichen Handlungen regieren, feheinen auch
die Thärigkeiten der Tiere regieren zu koͤnnen. Aus
was für einem Grunde könte man, beweifen, daß die
Thiere mit ihren Augen nicht fehen, mit den Ohren
. nicht Hören, und überhaupt niche empfinden, was
Des Tartes zw behaupten Leck genug war? Wir
- Finnen zwar die Empfindungen der Thiere nicht obs
jectis beweifen; aber das koͤnnen wir auch nicht von
—
andern Menſchen, denen wit doch wegen der Übrigen
Analogie mit unferm eigenen Weſen ein. Vermögen
zu empfinden und zu denfen beylegen. Wenn aber Die
Thiere wirklich empfinden, fo empfinden fie auch auf
eine aͤhnliche Weiſe, wie vermöge der Aehnlichkeit der
Drganifarion und der. Aeußerungen derfelben mit den
unſrigen. DR,
Büffon räumt den Tieren zwar Empfins
dungsbermögen ein, aber in einem fehe einge⸗
fpränfeen Sinne Verſtehn wir unser Em pfin⸗
den bloß eine Tätigkeit auf Veranlaffung eines St
Ges. oder Widerftandes; fo giebt es Pflanzen, ‚welche
eben diefeibe Empfindlichkeit haben, wie die Thiere.
Verftehen wir aber darunter ein Wahrnefmen, Uns
‚terfcheiden und Vergleichen der Gegenftähde; fo koͤn⸗
nen wir den Thieren dieſe Are des Empfindens gar
niche mit Sicherheit zufprechen. Das thierifche Ems
pfinden waͤre alfo eigentlich nichts. anders, als die
Art der Empfindung beym Menſchen, ſofern die Or⸗
gane ducch die Einwirkung der DObjecte bloß affleirt
werden, ‚oder. die bloße Impreſſion, welche noch vor
dem Acte der Unterfcheivung und Vergleichung bers
geht. Wenn Jemand in einem Augenblicke ‚auf die
Senſation allein beſchraͤnkt wäre, "da würde er em⸗
| — | ee Er pfin⸗
während d. acht Jahrhund. 6. auf Kant, 67
Hfinden; aber er würde die Gegenftände niche unters
ſcheiden und vergleichen.- Büffon- behauptete daher
auch, daß die Thiere bIoß materieller Natur mäs
zen, ‚und daß ihnen alle die Arten der Empfindung
fehlten , welche der Materie nicht angehören , und ih⸗
rem Weſen nach nicht von koͤrperlichen Organen her⸗
vorgebracht werden koͤnnen.
Condillae meyne, daß Buͤffon's Behaups
tung im Grunde ſehr wenig von der Carteſiſchen abs
wide. Immerpin hätte Des Cartes den Thieren
ein foldhes Vermögen zu empfinden zufchreiben koͤnnen,
wie ihnen Buͤffon zuſchreibt; es waͤre ihnen damit
nuichts weiter als bloße Bewegungsfaͤhigkeit zugeſchrie⸗
ben, die er ihnen doch ausdrücklich beylegte. Allein
durch anderweitige Eigenſchaften, die Büffon aus
dem Empfindungsvermögen der Thiere herleitet, zeige
er, daß er unter dem thieriſchen Empfinden nicht bloß
Bewegungsfaͤhigkeit verſtand, und damit widetlegt
ee öſſenbar feine Behauptung, daß die Empfinduns
gen und fonach auch das Seelenweſen der Thiere übers
baupt nicht den menfchlichen analog feyen. Er giebe
zu, dag die‘ Empfindungen der Thiere angenehm oder
unangenehm find, : und.VBergnügen und Schmerz find
doch gewiß etwas anders, als materielle Bewegung, -
Den Unterfchied zwiſchen Pörperlichen und, geiftigen
Empfindungen,. den Büffon made, ‚und. wovon,
jene nur den Thieren, aber den Menſchen beyde zus
gleich, zufommen follen, haͤlt €. für unermweislich und
unbegreiflih. Körper und Seele werden gar nicht-vers
fchieden empfunden; die Seele wird im Körper ems
pfunden, und alle Genfationen fcheinen nur Modifis
eationen. einer und derfelben Subſtanz zu feyn. Die
Einheit der Perfon in.uns en: auch ———
2 die
—
!
68 Geſchichte der neuern Philoſophie
die Einheit des empfindenden Princips; anſtatt baß
nach Buͤffon der innere Menſch doppelt aus zwey
Principien, die noch verſchieden ſind und einander
entgegenwirken, zuſammengeſetzt ſeyn ſoll, einem gei⸗
ſtigen und einem materiellen, welche beyde man leicht
bey der Reflexion über fein Inneres erkennen und un⸗
terfcheiden könne, und aus deren entgegengefegter Wirk⸗
ſamkeit ale MWiderfprüche im Menſchen entftänden.
- Diefes doppelte Prineip im Menfchen wird aber von
Condillac mit Recht bezweifelt. Die Widerfprüs
che im Menfchen laſſen ſich daher erklären, daß er
nach den Umſtaͤnden und dem Alter mehrere Gewohn⸗
- Heiten annimmt, mehreren Leidenſchaften nachhaͤngt,
die ſich oft nicht mit einander vertragen, und deren
‚ einige von dee Vernunft verworfen werden, die ſich
aber oft zu ſpaͤt bilder, um fie obne Kampf zu übers
winden. Wenn die Thiere nad) Büffon’s Hypos
ehefe ein bloß materielles Seelenprineip haben follenz
fo laſſen ſich ihr Empfindungsz und VBorftellungsvers
mögen, ihre. Einbildungs- und ; Erinnerungskraft,
endlich ihre Sorge fü ipren Unterhalt und- die Forts
pflanzuüg ihres Geſchlechts, auf feine Weiſe begreifen.
Nach diefer Beftreitung der Meynungen des
Cartefius und Buͤffon's von der thierifchen Nas
tur läge nun Condillae feine eigene Theorie von den
Seelenfähigkeiten der Thiere folgen, und zwar in Vers
gleichung mit den menfchlichen Seelenfähigkeiten. Al⸗
le Fähigkeiten und Fertigkeiten der Thiere, und wenn
dieſe auch noch fo verfchieden von einander find, ent⸗
ſtehen doch ben ihnen auf diefelbe Weiſe uͤberhaupt.
Sie verdanken fie eben fo der Erfahrung, wie die
Menfchen die ihrigen. Erſt duch Erfahrung erfens
nen fie ihre eigenen Körper, lernen fich ihrer Organe
—— F be⸗
*
ni en
waheend d, achtz. Jahrhund. 6. auf Kont. 69
bedienen, das ſuchen, mas ihnen nuͤtzlich, und ver
meiden, was ihnen ſchaͤdlich iſt, kurz fuͤr ihre Er⸗
haltung uͤberhaupt ſorgen. Das Beduͤrfniß iſt
Das einzige Prineip für das: Syſtem der thieriſchen
Vorſtellungen. Die Matur ſcheint für die Tiere fo
geforgt zu haben, daß ihnen felbft nur wenig zu. thun
übrig gelaffen il. Zur Befriedigung des thierifchen
DBedürfniffes find die Mittel fehr einfach, und- für
alle Individuen von eineriey Gattung diefelben. Da
alfo. dasfelbe Prineip die Individuen von einerlen Cats
tung motivirt, Da fie alle zu denfelden Zwecken hans
deln, und einerley Mittel aumenden; fo müffen auch
ihre Handlungen und Fertigkeiten einförmig werden.
Manche Thiere: leben einfam und von einander ent⸗
fernt; dennoch iſt in- ihrer Handelnsweife keine Ders
fchiedenheit. Weil dieſe bey den Thieren derfelben
Gattung äpnlich ift, ſo koͤnnen ‚fie auch infofern eine
GSptade haben, wodurch fie ‚gegenfeitig ihre Ems
pfindungen und Bedürfniffe-ausdrücken, und einander
unmiitelbar verftändlich werden; nur daß dieſe Spras
che ungleich unvollkomner iſt, als die menſchliche, if...
Conditlae ſetzt hierauf die praktiſche Natur der
&piere in Parallefe mit dee menfchlichen. Das Thier
bat feine Reflerion. Es ift auf das Gefühl der —
gigkeit von den naͤchſten Urſachen beſchraͤnkt, die ſei⸗
nen ſinnlich angenehmen oder unangenehmen Zuſtand
beſtimmen. Der Menſch hingegen kann ſich über dies .
fes Gefühl erheben, und durch vernünftige Reflexion
eine Idee ber Gottheit erwerben, „welche er zugleich
als ſeinen Schöpfer und Gefeßgeber erkennt. |
Hat fich der Menfch einmal die Idee Gottes als
Säres und: Gefeßgebers gedacht, fo gebt daraus
fofore Die Ider von — Geſetzen hervor, >
nr
70 Gececchichte der neuen Philoſophie
che fein Thun und Laſſen beſtimmen. Condiblace
nimt ein natuͤrliches Moralgeſetz im Menſchen
“an, das wie durch den Gebrauch unferer Faͤhigkeiten
entdecken, und das feinen Grund im Willen Gou
ges: hat. Diefes Gefeß, behaupter er, fey keinem
Menfchen ſchlechthin unbekant; denn fobald die menſch⸗ |
liche Geſellſchaft entſtehe, wie: unvollfommen ſie auch
eingerichtet ſeyn möge, fo koͤnne ſie doch ohne gegen⸗
ſeitige Verpflichtung weder ſich bilden, noch fortdau⸗
„en. Wenn die Menſchen das Daſeyn und die Vers
bindlichfeie eines folchen Geſetzes nicht ‚anerkennen
wollen, find fie im Kriege mit der gefamten Marur,
und leiden felbft am meiften:dabey. Diefer anarchi⸗
fhe Zuftand, und die Gefahren und: Leiden desfelben,
beweifen die Wahrheit jenes. Geſetzes, welches fie vers
werfen, und den Misbrauch, welchen fie von ihrer.
Vernunft machen. Erkennen. aber: die Menfchen ein
ſolches Gefeg für ihr Thun und kaffen an, und bezies
hern fie es zugleich auf die Gottheit als: Urheber, fa
koͤnnen fie auch: durch: ihr Verhalten dem Geſetze ges
maͤß oder zuwider des Verdienftes und der Belohnung,
gder der Schuld und der Strafe, fähig werden.
Ganz anders verhält es fih nun in diefee Hin⸗
ficht mit den Thieren. Da fie fich nicht zur dee dee ,-
Gottheit als Urheber ihres Dafeyns emporzufchwin:
gen vermögen, koͤnnen fie auch nicht die Eriftenz eines
praftifchen Gefeges für. ihre Thaͤtigkeit einfehen. Das
ber ift ihnen weder etwas geboten, noch verboten, und
lediglich Trieb und Stärke machen ihr einziges Recht
aus. N
Die Tiere muͤſſen nach dieſem ihrem Verhaͤlt⸗
niſſe zur Natur viele Leiden ertragen, und das ſcheint
freylich einen Vorwurf gegen die. Vorſehung zu =
währen. acht. Jahrhund. b. auf Sant: er |
Heänden. Es mar dies ein Umftand, der auch den
Des. Cartes und Malebranche bewog, daßfie
Die. : Thiere für ‚bloße lebendige Automate ausgaben.
Condillac fuche indeffen bier einen audern Ausweg,
um die göttliche Vorſehung zu xrechtfertigen. Auf die .
‚göttliche Gerechtigkeit koͤnnen nur ſolche Weſen Aus
fpruch machen, denen Verdienſt oder Schuld zukomt,
und die Thiere koͤnnen fich weder Verdienſt, noch
Schuld, erwerben. Gewaͤhrt die Gottheit der thie⸗
zifhen Seele die: Unfterblicheie nicht, ſo liege die
Urſache darin, weil fie diefe ihr. nicht fehuldig if.
Die Schmerzen find ben Thieren eben fo norhwendig,
wie die angenehmen Empfindungen, die fie haben;
denn jene waren: das einzige Mittel, ihnen zu zeigen,
was fie fliehen muͤßten. Auch find die teiden der Thies
ze Folgen der. von Gott angeordneten allgemeinen Nas
turgeſetze, die er um ihrer willen niche abändern und
aufheben konte oder wollte. Da ferner den Thieren
Diele menfchliche Eigenfchaften fehlen, und ipre Bes
dürfniffe auf eine fehe-geringe Zahl befchränft ſindz
fo können‘ fie auch. niche alle die Leidenfchaften haben,
welche bey den Menſchen angetroffen werden.
Die Selöftliebe haben alle thierifche Weſen
mit einander gemein, und aus dieſer entſpringen alle
übrigen Triebe und Neigungen. Inzwiſchen ift bey
den. Thieren die Selbftliebe keinesweges ein Trieb
‚ der Selbfterhaltung; denn um diefen Trieb zu
baben, muß man einfehen, daß man umfonmen
kann; und dies erfodere Reflexion nach ähnlichen
Faͤllen; ſondern es iſt lediglich ein Beftreben, alle
unangenehme Empfindungen zu entfernen; und nur
infofern ſtrebt jedes: chierifche Individuum nach Ers
haltung. ‚feiner: ſelbſt. — nimt * kein er
Go E 4 au
u 72 Seſchtchte der neuern Pötefopfie
anf. Diejenigen feiner At, die das, — verloren bar
‚ben, weiter Ruͤckſicht. Vom Tode haben die Thies
re gar Peine Vorſtellung. Sie kennen das Leben
nur durch die Empfindung, und flerben, ‘ohne
vorbher geahndet zu haben, daß ſie einmal aufhoͤren
würden, zu exiſtiren. Nenn fie für ihre Selbſter⸗
haltung thätig find, fo gefchieht es lediglich, um ben
Schmerz; von ſich zu ‚sotieenen; ie
| Beym Menfchen. ereignet fi von allem —
das Gegentheil, und ſeine Selbſtliebe hat daher ei⸗
nen ungleich weitern Umfang. Dieſe entwickelt, er⸗
weitert ſich, aͤndert ihren Charakter nach den Gegen
ſtaͤnden, und nimt fo viel vetſchiedene Formen an,
wie es Arten der. Selbfterhaltung giebt, und jede die
fer Formen macht eine befondere Leidenfchaft - aus,
Doch ein weſentlich unterfcheidendes Merkmal der
menjchlichen Selbſtliebe von der thierifchen ift, daß
jene laſterhaft oder tugendhafe ſeyn kann, dieſe
nicht; weil der Menſch ſeinen Pflichten einzufehen‘
und ſich zu den Gründen der natuͤrlichen Geſetze zu
erbeben vermag. Die Selbftliebe der Thiere iſt a
weiter als ein Inſtinet, der bloß phyſiſche Güter oder
Uebel zum Objecte hat. Der Vortheil, welden die -
Tbhiere durch die Einfachheit ihrer Triebe: und-Leidens
fchaften vor den Menfchen haben, iſt nur ſcheinbar.
Der Menfch Fann: feine fehlerhaften Neigungen vers
beſſern, ımd fich eine unendliche Summe von Ge -
nuͤſſen verfchaffen, mas die Thiere nicht Fönnen. Der
Verſtand und der Wille begreifen bey den Thieren nur
Diejenigen Operationen, welche in der Seele berfelben
zu Fertigkeiten geworden find; anſtatt daß eben dieſe
Vermögen des Menfchen fich auf alle die Thaͤtigkeiten
erſtrecken, bey welchen bie — ſtatt hat. Aus
der
tur des menfchlichen Erkentnißvermoͤgens hat unter "
pe
) Religion. nicht anftögig und nachtheilig.
Siceht man auf das Intereſſe der Philofophie als
ber Reflerton entfpringen im Menfchen die willkuͤhr⸗
lichen’ und freyen Handlungen. Da jene den Thierem
fehlt, fo find auch alle Handlungen: derfelben durch
ihre Natur und ihre Umftände deteriminiee *). - °
Die Borfielungsart Condillac’s von der Nas
den Sranzöfifchen Philoſophen bis zu den neueften Zeiten
zahlreiche Anhänger gefunden. Das fie durchaus em⸗
pirifh ift, und.die Natur bes. Menfchen bloß auf
innlichkeit zurückfüßre; fo empfiehlt fie fih durch
bre Popularität, und ſcheint auch. Jedem, der nicht
tiefer eindringt, ſehr viel für fich zu haben. Es bes
darf Bier nur, um fie zu verſtehen, einer alltäglichen
Beobachtung, nicht aber abftraster Reflexionen auf
ſich ſelbſt, und eines. müßfamen angeftrengten Zefts
- . haltens und Berfolgens von Begriffen a priori. Das,
zu fam, daß. Condillaec in den Folgerungen aus
feinen Prineipien noch fee befcheiden war. Er fchränks
e.fih bloß auf die Ableitung‘ einer Theorie des Ers
entnißvermögens aus feinem Principe ein, und bie
5
B praftifchen Folgerungen, die er mehr bloß andeutete,
als ausführte, fcheinen zum mindeften der Moral und
Wiſſenſchaft, fo iſt diefes durch die Unterfuchungen
Condillae's zwar in dieſen und jenen einzelnen
Puncten, z. B. in Anſehung ber- empirifchen Pſycho⸗
—* | fogie,
"#) :Condilac. Traité des animaux, oü apres avoir fait
‚x‘ ‚ des,obferyations critiques fur le fentiment de Des Car-
...3es et fur celui de Mr. de-Buffon on entreprend d’cx-
pliquer leurs priucipales facultes; à Amſterdam 31755.
Parties, ꝛJIJJ. 92
IR Es;
während de achıtz, Jahrhund. b. auf Kant. 73
—
33
—
| In llefern vermag.
x
u — der neuern Plloſophi⸗e E |
logie, der empirifchen Logik, dee. empiriſchen —
und Politik, ‚befördert; aber da: er dieſe an ſich wah⸗
ren und wichtigen. Bemerkungen als Data misbrauch⸗
te, im Ganzen verfehlt, und ſelbſt in mancher DE
icht beeinträchtigt und vereitelt worben. Der grobe
mpirismus kann weder theoretiſch noch praktiſch je⸗
mals die philoſophirende Vernunft befriedigen. All
Waheheit wird dadurch precaͤr, und eine bloße Rha—
pſodie von Meyhnungen, da die Erfahrung ſchlechter⸗
dings Leine nochwendige und algemeingültige Regelu
der Verknüpfung dee Worftelungen, alfo auch feine
Priticipien zu einer fen Ben | Ertenäife
" Daß die 5 — ———— Fr das‘ ar
Burg erweckte Bedürfniß. in Beziehung auf Schmerj
und Vergnügen die Seelenfäpigkeiten des Menfchen
zur Aeußerung reizen, und ihre Entwickelung beför
dern, ift unleugbar; aber daß die Seelenfaͤhigkeiten
ſelbſt als ſolche aus jenen entſpringen, widerſtreitet
der Natur dieſer ſelbſt und unſerm eigenen Bewußtk
n. Der Menſch kann nicht denken, wenn ib - \
nicht Gegenftände gegeben werden, die und worüber
er denkt; aber das Denken felbft und die Gefege des⸗
» felben find in feiner vernünftigen Natur a priori ges
gelindet. Condillac trieb den Lockianismus zu aus⸗
ſchweifend über die Grenzen aller. inneren. Erfahrung _
hinaus. Er ließ der Seele auch nice einmal, die reis ‚
nen logiſchen Fähigkeiten übrig, die ihr doch. Locke
übrig ließ, und behauptete ſogar, daß wir in einem
gewiſſen Sinne das: Empfinden ſel bſt/ und Das,
Unterſcheiden der Empfindungen, lernenmuͤße
‚ ten. Es wurde hier von ihm die gelegenheitliche Urs.
ſache der x Aeußeruns der Seelenfaͤhigkeiten mit der un⸗
mit⸗
waͤhrend d, acht, Jahthund. 6. auf Kant. 75
mittelbaren Urſache der Seelenfähigkeiten an ſich vers
mechfelt. 1, 0.0. | |
Es iſt wahr, daß Begriffe, und folglich Urs
theile und Schlüffe,. opne Juhalt durch Empfindung
der Gegenftände, Teer find; daß die logifchen Faͤhig⸗
keiten, wenn fie abftrahirt und objectiv gedacht wers
den, ‚nicht ohne. Huͤlfe des Innern Sinnes vorgeftellt
tverden mögen, und daß es infofern fcheint, als od
alle Thaͤtigkeiten der menfchlichen Seele fid auf das
Empfinden, redusiren laſſen. Allein die logifhen
Fähigkeiten an fich find gleichwohl von dem 7
pfindungsvermögen an fich verfchieden, fin
— Fertigkeiten (habitudes), die erſt durch
Erfahrung erworben werden, und Folgen derſelben
find; fondern/find a priori in und mit der Natur des
Gemürhs gegeben, und machen die Erkentnitz der Eu
fabrung moͤglih. we
ESs iſt unbegreiflih, daß Condillac, fo wie
alle gröbere Empiriften, fich nicht Die Frage vorgelegt
baden: Woher die nothwendigen Geſetze des. Denkens
und Erkennens im Bewußtſeyn ſtammen; da die Em—⸗
pfindungen fo zufaͤllig bey verſchiedenen Menſchen,
und bey demſelben Menſchen zu verſchiedenen Zeiten
und unter verſchiedenen Umſtaͤnden ſo verſchieden ſind,
alſo nie nothwendige Regeln begründen koͤnnen, wenn
auch vermoͤge der Aehnlichkeit der Organiſation und
bey aͤhnlichen Verhaͤltniſſen die Empfindungen aller
Menſchen etwas Gemeinſames haben? Kine ernſtli⸗
che Erwaͤgung dieſer Frage haͤtte ihn an ſeinem Prin⸗
eipe, falls es Erflärungsprincip des geſamten Erkent⸗
nißvermögens ſeyn ſollte, irre machen müffen. "Alles
Verknuͤpfen der Empfindungen nach Regeln, alles,
was in der Erfeneniß auf Reflerion und apa
*. | / erubt,
e
76 GBeſchichte der neuern Pfiofophie u.
%
| beruht, und aus dieſen hervorgeht, alles;,. wos ‚bie
willkuͤhrliche Aufmerkfamkeit nach einem Zweckbegriffe |
bewirkt, laͤßt fich fchlechterdings nicht aus dem Ems
pfindungsvermögen herleiten. Weun gleich die voll
Gen Uncheil bat an den größeren Kunftfertigfeiten,
wodurch fih der Menfch über die Thiere erhebtz
fo ift fie doch nur als mechanifches Werkzeug zu die
Br befärberlic, night aber als. Princip und Urſache.
Die von Condillae zur Erklaͤrung der menſch⸗
iten Natur betretene Bahn war es auch, wel—⸗
che Claude Adrien Helvetius verfolgte; nur
daß er ſeinen Empirismus noch mehr vereinfachte, und
geiſtvoller darſtellte, auch intereffantere praktiſche Ans
wendungen davon auf das menſchliche Leben, auf Re
Kigion und Politik, machte. Cr wurde gebößren zu
Paris im J. 1715 aus einer urſpruͤnglich Pfätzifchen
wo komnere Förperliche Organifation des Menfchen gros
Familie, : die wegen Religionsbedrüdung nach Hols
land ausgewandert war, und fich: dort niedergelaflen
batte. Erſt fein Großvater lebte unter dem Namen
bes Hollänbifchen: Arztes. zu Paris, ward wer
“gen feiner Verdienfte von Ludwig XIV. in den Adels
ftand erhoben, und zum Aufſeher der Hofpitäler- ers
nannte, in weicher Würde er.im J. 1727 ftarb. "Auch
der Vater des Helverins war Arzt am königlichen
Hofe, und befonders bey der Königinn fehr beliebt.
Von diefem erhielt er fehon im Knabenalter die forge
fältigfie literarifche zum, der aber fein Genie
immer zuooreilte.. . Da die Familie Fein anſehnliches
Vermoͤgen beſaß, ſo beſtimte ihn der Vater fuͤr das
Finanzfach, in welchem er Gelegenheit haͤtte, ſich zu
‚bereichern, und zugleich Muffe, von feinen Talenten
einen beliebigen anderweirigen Gebrauch zu —
eh
*
während d. achtz. Jahrhund b. auf Kant. 7
Beny einem Verwandten zu Caen erwarb fich der
jüngere Helvetius die zu jener Beſtimmung norhs
bürftigen Kentniffe,; und erhielt nun durch Vermitte⸗
lung der Königinn im drey und zwanzigften Jahre -
feines Alters die Stelle-eines Generalpächters, Die
ihm eine‘fo anfehnlide Summe einbrachte, daß er
‚nicht nur den von feinen Eltern-dem Könige gethanen
Vorſchuß abtragen, fondern auch felbft in der größe
ten Opulenz und Bequemlichkeit leben konte. i
- Bon feinem nun erworbenen Reichtpume machte
Helverius einen auch für Andere fehe wohlchätigen
Gebrauch. Indeſſen feine Liebe für die Literatur, die
entfchiedenfte Abneigung gegen feinen Beruf, und Vers
brüßlichfeiten, welche er fich Dadurch -Zuj0g, daß er
fi) der Klagen der Unterehanen in feinem Depars
tement gegen den Druck des Maurhwefens und die
Ungerechtigkeie von Mauthbeamten annahm, bewirk—
ten in ihm den Entfchluß, die Generalpächterfielle
niederztilegen, und fich in die Einſamkeit auf ein Lands
gut zu begeben. Aus Gefälligkeit gegen feinen Va—⸗
ter Paufte er jedoch die Stelle eines Haushofmeifterg
der Königinn, die ihn aber an der Ausführung feis
nes Entfhluffes nicht hinderte. Die Verfertigung
eines Gedichts Sur le bonheur, das igt das unbedeus
tendfte oder doch am wenigften gefannte. und gefchägte
Werk des Helvetius ift, leitete ihn auf feine Be⸗
trachtungen über die menfchliche Natur, deren Refuls
tate er bernach in feinen Schriften dargelegt hat.
Im 3. 1758 gab er zuerft das Werk: De l’efprie
- heraus, Es erregte bey feiner Erſcheinung großes
Auffeben, und ward höchft verfchieden beureheilt; von
Einigen mit Enthuſiasmus geptiefen, (wie z.B. eine
geiftvolle Damme von dem Verfaſſer desfelben äußerte:
Ä Ä | C’elt
x
J
4 Geſchichte der neuern Philoſophie
C’eft'un homme, quiia dit le fecret de tout le mon⸗
de), von Andern, am meiften von den Jeſuiten, mels
che damals noch bey der Franzoͤſiſchen Geiſtlichkeit
den Ton angaben, als gefährlich verfchrieen und vers _
damt. Die leßtere Partey mußte felbft durch mans
cherley Intriguen das Parlament gegen Hrlveriug
einzunehmen. Die Berfolgung ward gleichwohl durch
“ einen Befehl des Minifterium’s auf die Confifeirung
des Werks eingefchränkt.. Helverius hielt es daher
feinem perfönlichen Intereſſe zutraͤglicher, die Heraus.
gabe eines andern Werks: De ’homme, das eine
Fortfegung und weitere Ausführung jenes erflern ift,
0 Bis auf Die Zeit nach feinem Tode aufzufchieben. Er
lebte ſeitdem in der Stille, theils.auf feinem Landgus
te, tbeils in Paris, und genoß nur des Umgangs
eines Meinen Eirkels von Freunden, zu denen insbes
fondre auch Voltaire gehörte. Das Jahr 1764
brachte er in England zu, wo er, da fein Ruhm im
Auslande ſich ſchnell verbreitet hatte, die günftigfte
Aufnahme fand... Im nächften Jahre begab er ſich
nach Deutſchland zufolge wiederholter Einladungen,
die er von Friedrich dem Großen und einigen ans
dern Deutſchen Fürfien erhalten harte. Unterdefjen
wurde der Orden der Jeſuiten in Frankreich aufgehos
ben auf eine Art, die viele einzelne Mitglieder desfels
ben in die traurigfte tage verſetzte. Helvet ius hats
te. bier unter andern Gelegenpeit, dem Jeſuiten, der
ebedem fein freundfihaftliches Vertrauen gemisbraudhe,
ibm das Wohlwollen der Königinn entzogen, und die
Froͤmmler am Hofe gegen ihm gereizt hatte, und der
igt auf dem Lande in Duͤrftigkeit und Elend ſchmach⸗
tete, wohlthaͤtig zu unterftügen, ohne daß dieſer den
Namen feines Woblthaͤters erfuhr. Kurze Zeit nach.
feiner Ruͤckkehr in's Vaterland ſtarb er im J. Au 1.
—— — eine
wahrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Räit. 79 '
Seine nachgelaffenen Schriften kamen unmittelbar nach
feinem. Tode einzeln heraus, und find in die Samlung
feiner Werke aufgenommen!
. „Um die Philoſophie des Helvetius zu charak⸗
teriſiren, will ich einige ſeiner Hauptideen aus den
Werken De Pefprit und De P’homme auszeichnen.
Unter Efprit verſteht er bald die Fähigkeit zu dens -
fen, bald den Vorrath von Ideen und Kentniſſen
ſelbſt, welchen Jemand befige. Die Ideen werden
durch die Eindruͤcke der äußern Gegenflände auf uns
fere Sinne erworben und durch das Gedächtniß
aufbewahrt, welches nur eine, wiewohl fhmächere,
Fortfeßung des erften Eindrucks if. Die Fähigkeit,
miittelſt dee Sinne Ideen zu erwerben und im Gedaͤcht⸗
niffe zu bewahren, wuͤrde uns inzwifchen nur ſehr bes
ſchraͤnkte Kentniſſe verfchaffen , und uns ohne Künfte,
ohne Sitten und bürgerliche Verfaſſung -laffen, wenn
uns die Matur eben fo, mie die meiften übrigen Thies
re, gebilder hätte. , Die Einrichtung unfereer Hände
und Finger ift es, der wir unfere Induſtrie verbans
Ben. Ohne diefe Induſtrie würden wir gleich den Thies
ren im Walde nue mit dee Sorge für unfere Nah⸗
rung und Vertheidigung befchäfftige, kaum ſchwache
ober barbarifche Gefellfchaften formire haben. —
Die Gegenftände, von denen uns die Sinne bie
Ideen gewähren, ftehen in verfchiedenen Beziehungen .
zu uns und ımter einander ſelbſt. Der menfchliche
. Geift erhebe fih zur Erkentniß diefee Beziehungen, _ F
und hierauf iſt fein ganzes Vermoͤgen eingefchränft.
Die Wahrnehmung folcher Beziehungen ift das, mas
‚man Urtheil nenne. Urtheilen it Empfins
den. Die Farbe, welche ich roch nenne, wirkt ans
ders auf ge. ‚ als diejenige, welche ich gelb
| nenne,
80 Geſhihte der neuern Volbſephi
nenne. Die Idee dieſer Verſchiedenheit iſt ein Urtheil,
und dieſes ſelbſt iſt alſo eine Senſation aus mehr an⸗
deren Senjationen zuſammengeſetzt, die wir in dem
Momente empfiengen, oder im: Gedächtniffe aufber .
wahrten. Selbſt die Begriffe von Stärke, - Vermoͤ⸗
gen, Gerechtigkeit, Tugend, u. dgl. gründen fi,
wenn man fie analyſirt, auf-finnliche. Bilder in der
Mbantafie, oder im Gedaͤchtniſſe. Alle Thaͤtigkeit
des Menfchen laͤßt fich alfo zulege auf Empfinden
zurückführen, und ‚die größere Fähigkeit, die der
Menfch Hat, mannichfaltige Eindrücke, und diefe
beftimter und feiner zu empfinden (la fenfibilit€ phy-
fique), ift «6, mas ihn von den Thieren unterfcheider.
Der Menfch ift dem Irrthume unterworfen.
Dieſer hat drey allgemeine Urſachen, die Leidenfchaft,
die Unmiffenfchaft, und den Misbrauch der Wörter.
Die Leidenfchaften täufchen uns, weil fie uns die
Gegenftände nur von Einer Seite zeigen. Go richtet -
ein ergeiziger Fürft feine Aufmerkſamkeit bloß auf den
Glanz des Giegs und den Pomp des Triumphs; er
vergißt die Unbeftändigkeit des Gläcfs und die Uebel
des Krieges. So ftellt uns die Furcht Schreckens
. bilder dar, und verfperre der Wahrheit den Zugang.
Noch fruchtbarer an Täufchungen ift die Liebe. Die -
Unwiffenheit ift die Urſache des Irrthums bey
fehwierigen Unterfuchungen. Go iſt aus Mangel am
hinlaͤnglicher Einficht die Frage vom Werthe des Luxus
noch nicht hinlaͤnglich aufgeflärt.. Wegen des Miss
brauchs der Wörter verweift Helvetius auf
ode Er zeigt, daß der falfche Sinn, welchen
man den Wörteen Raum, Materie, Unendflis
ches, Selbſtliebe, Frenheit, u.a. beygelege
hat, die Quelle von tauſend Irrthuͤmern in der Mes
mährend d, achtz. Jahrhund b. auf Kant. gr
taphyſit und Moral geworden if. Die Materie
iſt michts als eine Samlung von Eigenſchaſten, vie
allſen Koͤrpern gemein ſind. Der Raum iſt das blo—
Be Michts oder das Leere; zugleich mie den Körpern
betrachtet ift er die Ausdehnung. Das Wort Uns
endlich giebt nur eine dee, die Abweſenheit der
Schrauken. Die Selbfttiebe it ein von der Mas
tur uns eingepflanzees Gefuͤhl, dag tugendhaft oder
laſterhaft iſt, nach der Verſchiedenheit des Geſchmacke,
der Leidenſchaften, der Umſtaͤnde. Die Freybeit
des Menſchen beſteht in der willkuͤhrlichen Aeußerung
ſeiner Faͤhigkeiten. Fu
Der Verfiand Cl efprit) hat mehr oder wents
ger die Achtung des Pudkicums, je nachdem die Ideen .
neu, möglich und angenehm find, Nice die Menge
und der Umfang derfelben gewinnen unfere Achtung;
ſondern lediglich die Beziehung, worin fie zu unferer
Gluͤckſeligkeit fteben. Die intereſſanteſten Adeen füe
uns find allemal diejenigen, die am meiften unfewog
Meigungen fchmieicheln. Es giebt zwar Philofoppen,
welche von der Liebe zur Wahrheit befeelt belebrende
Ideen vorziehen; aber ihre Zapı ift fehr Flein. Jeder
Menſch hat von fich feldft den hoͤchſten Begriff, und
ſchaͤtzt in Andern nur fein Bild, oder das, was ihm
nuͤtzlich ſeyn kann. Wenn das Publicum einem mits
telmäßigen Verftande feine Ehre erweift; fo fiege der -
Grund darin, daß er niemals von einigem Mugen
A. Ehrte man unter gewiſſen Umftänden mittelmäs
Bige Köpfe, die Feldherren oder Miniſter geworden
waren; fo ruͤhrte es daher, weil fie das Glück bass
ten, Nutzen zu fchaffen.
Die. Liebe zur Tugend iſt nichts anders, als
das Streben nach allgemeiner Glüctfefigfeir, und tus
Buble's Gefch, d, Philef. Vi. B. F gend⸗
8X
%
92 .Gefchichte. der neuern Philoſophie
gendhafte Handlungen find folche, "die hierzu beytra⸗
‚gen. Die dummſten Voͤlker haben. in ihren feitfams ’
ften Gewohnheiten doch ſtets ihre Gluͤckſeligkeit zum
Zwecke; und wenn man in gewiſſen Laͤndern und Oer⸗
tern Handlungen ehrt, die uns laſterhaft und verbres
cheriſch feheinen, ſo find dieſe Handlungen Dort gewiß
möglich. Ein mir Liſt und Gefchicklichkeit ausgeübs
ger. Diebſtahl wurde zu Sparta geehrt, weil. in dies
fem durchaus Priegerifchen Frepflate, .wo es an Sinn
fe Eigenthum gänzlich gebrah, die MWachfamkeit
- amd Gewandtheit nuͤtzliche Eigenfchaften waren. In
China, wo die Bevölkerung zu groß it, dürfen Die
Eltern ihre Kinder ausfeßen oder toͤdten. So graus.
ſam diefes Gefeg ſcheint, fo wird doch dadurch großen
Uebeln vorgebeugt, und alfo ift es nuͤtzlich. Kurz
überall iſt es der Mugen oder Schaden, ber die
Handlungen als Tugenden oder als Verbrechen ers, _
ſcheinen laͤße
Freylich verknuͤpft man in allen Laͤndern den Be⸗
griff der Tugend auch mit Handlungen, durch die
‚gar kein Mugen geſchafft wird. Aber dann glaube
man do, daß durch dieſelben irgend ein Out
hervorgebracht werde, fen es in dieſer oder in einer
anderen Welt; und folche Handlungen nenne Hels
vetius Tugenden des Wahns und Vorur—
theils, von denen man die Menfchen zu heilen fus
chen muß. Dergleihen Vorſtellungsarten gründen
fih nur auf den Vorzug, welchen man befonderen Ges
fellfchaften vor der menſchlichen Geſellſchaft überhaupt
einräumt; was fchon allein fie lafterhaft macht. Was
für Gutes bringe die Auftericät der Mönche und der
Fakirs fuͤr Die Welt und ihr Vaterland hervor ?
Es
x
waͤh rend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 83
Es giebt denn umgekehrt auch Verbrechen des
Wahns und Vorureheils, wie es ſolche Tugens
den giebt. Dergleichen find Handlungen, die duch
Die bey einem Wolfe geltende Meynung verdammt wers
den, ob fie gleich Miemanden fchaden. Daraus, daß
es mwirfliche und eingebildere Tugenden giebt, folge,
dag den den Völkern zwey Arten dee Verderbtheit eris
flirten, eine politiſche und eine religiöfe.
Fann ſeyn, daß die leßtere nicht verbrecherifch ift, wenn
fie fich mit dee Liebe zum gemeinen Beſten, mit: Tas
lenten und wahren Tugenden verbinder. Die politis
fche Verderbtheit im Gegentheile befoͤrdert den Verfall
der Staten. Sie findet bey einer Nation ſtatt, wenn
die Individuen ibr Privatintereſſe von dem allgemei⸗
nen Intereſſe abſondern, und iſt immer eine Wirkung
der Statsform und am meiften dee Statsverwaltung.
Zuweilen ift die religiöfe Verderbtheit mit der politts
fchen verbunden, oder unwiſſende Moralifien verwir⸗
ren ſie mit einander.
Ueberhaupt muß man in der vVerfa ffung *
Bermaltung der Staten die Urſachen der Laſter
und der Tugenden der Menfchen fuchen. Man muß
den Luxus, der einem großen State nothwendig ſeyn
kann, und die Galanterie, weicher die Menfchen bie
Künfte, ben Geſchmack, und die politifchen Tugenden
verdanken, minder der Kritif unterwerfen, als. die
Erziehung, die aus einem Menſchen einen Feigen,
einen Schaven, einen Betrieger, oder einen Narren
machen kann. Die Declamarionen der Moraliften
dienen. bloß zur Befriedigung ihrer Eitelkeit, and
Bringen nichts Gutes hervor; auch find Heuchler uns,
ter den Moraliften, die gleichgültig allen Uebeln zus.
— welche den Ruin —— Vaterlandes berbepfün,
den,
84 "Gefchichte der neuern Philoſophie
ten, und fich gegen Pleine Ausfchweifungen im Ger
nuffe der Vergnügungen ereiferm
Nach den obigen Principien, meynt Helves
tins, ließefich ein Katechiem von Marimen entwers
fen, ‚die wahr, deutlich und unmwandelbar ſeyn würs
den. Ein Volk, das. darin unterrichtet wäre, und
fie befolgte, würde weder von politifhen Laſtern, noch
von Tugenden des Vorurtheils angeſteckt werden. Der
dadurch aufgeklaͤrte Geſetzgeber würde nur nuͤtzliche
Geſetze geben, und dieſe wuͤrden beobachtet werden.
Werden die Geſetze nicht befolgt, ſo beweiſt dies im⸗
mer die Ungeſchicklichkeit des Geſetzgebers. Die Be⸗
fopnung, die Strafe, die Ehre und die Schande find
vier Gottheiten ‚ welche die Tugenden unter den; Mens
ſchen verbreiten, und vorereffliche Männer: in allen
Fächern pervorbringen können. Um die Moral zu
vervollkomnern, . haben die Gefeggeber zwey Mirtel,
das eine, das Privarintereffe der Zndividuen mit, dem
allgemeinen deo Stats zu vereinigen; das andere, Die
Fortſchritte der Aufklaͤrung bey der Mation zu beförs
deru. Um das letztere zu thun, muß mau aber wifs
fen, ob der Verſtand (eſprit) ein Gefchenf der Mas
eur, oder eine Frucht dee Erziehung ill. ı
Alle Menfchen haben hinreichend gute Sinne,
um diefelben Verhaͤltniſſe und Beziehungen in den Ger
genftänden wahrzunehmen; fie haben gleiche Beduͤrf⸗
niffe, und würden auch ein gleiches Gedächtnig ha:
ben, wenn fie alle diefelbe Aufmerkſamkeit anwende⸗
ten. Alle gut organiſirre Menſchen find der Aufmerk—
ſamkeit fähig. Sie lernen ihre Sprache; fie fernen
Leſen, und begreifen wenigſtens die erſten Saͤtze des
Euflides. Das waͤre genug für fie, um ſich zu den
boͤchſten Ideen zit erheben, wenn fie nur die Anſtten⸗
* gung
\
*
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 85
gung der Aufmerkſamkeit nicht fcheuten, und um fie,
wiche zu ſcheuen, -Leidenfchaften haͤtten. Diefe find.
e8;,::die, den Geiſt befruchten, und zu großen Ideen
erheben; weun und wo fie fehlen, werden die Mens
fhen dumm, Die Fürften zeigen bisweilen Verſtand
genug, um nach dem Defpotism zu trachten. - Iſt
ihr Wunſch erfüllt, fo haben fie niche mehr den Murp,
fi) den Annehmlichkeiten der Traͤgheit zu entziehen,
und fie verfauern gleichfam in ihrer Hoheit. Der Urs
fprung der Leidenſchaften liege im der phofifchen Ems
pfindlichkeit, in dem Triebe zum Vergnügen und. der
Furcht vor dem Schmerje, die ale Menfchen. auf glei⸗
he Weife in Bewegung und Thaͤtigkeit fegen. . Alle.
Menfchen find. für bie Leidenfchaften. in gleichem Gras
be. empfänglich; alle Fünnen mit Heftigkeit die ‚Ehre.
und. die Tugend: lieben, und große Handlungen vers,
richten. Bloß durch die Geſetze und die Erziehung,
welche zum - Gehorfame ‚und, zur. Ehrerbietung, gegen:
die Geſetze vorbereitet, — * gleich BERN ®
Menſchen ver: AR *
Die Erziehung wird u ſebr vernachlaͤſſigt; aber
um voͤllig einzuſehen, was ſie über die Menſchen vers:
mag, komt es auf eine genaue Beſtimmung der Ber:
griffe an, welche mit den mancherley Mamen, womit
man die verſchiedenen Arten des Geiſtes Celprit) bes
zeichnet, verbunden: werden. Den Damen des Ga
miss giebt man grfinderifchen- Köpfen. Es ift ‚Fleiß
und Arbeitſamkeit, durch die Leibenſchaften, vornehm⸗
Uch die Ehrbegierde, angeſeuert, die die Seele zu ers,
babenen Meditationen feiten, und fie neue Wahrheiten,
“finden, neue: Combingtionen verfuchen iaſſen. Die
Gegenſtaͤnde die einen Kopf umgeben, und die Um⸗
in man: wi, ag sichten, . ehr. Dee
Bin
36 Geſchichte der neuern Phitofsphie
ſchraͤnken ſein Genie. Die Phanta ſie zeigt ſich in
der Erfindung von Bildern, wie der Verſtand in
der Erfindung von Ideen; ſie glaͤnzt am meiſten in
Schilderungen, Gemaͤhlden u. dggl. Das Gefuͤhl
(ſentiment) iſt die Seele der Poeſie. Der Dichter,
welchem es fehlt, bleibt entweder hinter der Natur
zuruͤck, oder ſchweift Darüber hinaus. Der Vers
ftand (im engern Sinne) ift nur eine Samlung neuer
Keen, die nicht Unifang oder Wichtigkeit genug has
ben, um ihrem Befißer den Namen eines Genies zu
erwerben. Mach dieſem Begriffe waren Machia⸗
Hell und Montesquieu Genies; fa Rochefau⸗—
cault und fa Bruyere waren nur Männer von
Verſtand. Talent iſt Faͤhigkeit in Einer Gattung,
wobey ſich mittelmäßige Erfindungen anbringen laſe
fen. Der Geiſt ift fein, wenn er- Pleine Objeete
wahrnimt und etwas zu errathen giebt; er ift ſtark,
‚ wenn er Ideen erzeugt, die ſtarke Eindrücke bewirken
koͤnnen; er ift belle, wenn er abftracte Ideen mit
Klarheit darftelle; er ift umfaffend, wenn er eine
große Mannichfaltigfeit von Ideen begreift, und fehe
entfernte Beziehungen und Verhaͤltniſſe wahrnimt; er
ift eihdringend, tiefſinnig, wenn er die innere
Beſchaffenheit der Objecte durchſchaut; er iſt ein ſchoͤ⸗
ner Geiſt, wenn er mehr auf die Auswahl der Wor⸗
se und Wendungen, als der Ideen⸗ wor,
Helvetius dringt nun tiefer in das Weſen der
Etietörrfafngen ein, um den Einfluß im Allgemeis:
nen jun beſtimmen, welchen fie auf den’ Geift und Cha⸗
rakter der Voͤlker haben. Horatius Cocteo und
Leonidas konten in’ißren Republiken nichts anders
als Heroen ſeyn. In dieſen waren Menſchen von
ſchwachen leidenſchaften vech zum mindeften gute Buͤr⸗
ger.
während di achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 87
dee; "Ne Republiken gehen: zu Grunde, wenn Ehre
und Vergnuͤgen an die Tyranney, an die Macht ge⸗
knupft ſind. Dieſelben Menſchen, welche Scirio⸗
ne und, Camille gerdefen wären, werden alsdenu |
Marie und Eorilina’s ſeyn.
. Alle Menſchen haben einen geheimen Hang zum
660 ‚weil Jeder von dem Groͤßten bis zum
Be Andere feinem Gluͤcke dienfibar zu machen
cht. Um eine. Tyrannen zu begründen, bedarf es
nicht. immer Talente und. Much, fondern zuweilen nue
ne gemeine Kuͤhnheit und Laſterhaftigkeit. Dee
egent faͤngt an, die verſchiedenen Staͤnde der Na⸗
tion mit einander zu entzweyen, und eine Art von Anar⸗
chie unter ihnen zu verbreiten, ſo daß eine Partey der
NMation Die Unterdruͤckung der anderen wuͤnſcht. Nach⸗
het braucht er feine Gewalt, macht die Tugenden zu
Verbrechen, vervielfaͤltigt Die Delatoren, hindert die
Aufklaͤtung, und verbannt auf gleiche Weiſe die
Seneca's und die Thraſeas. Aber die- Defpoten
geben ihrem Heere, das ihnen ergeben ift, ein Ges
fühl: feiner Kraft, und enden gemöhnlich damit,
daß fie feine Dpfer werden, ‚wie diefes Die Gefchichs
ze der Mömifchen Kayſer, und der türkifhen Sul—
tane beweiſt. Der größte Starsverbrecher ift das
ber derjenige, der feinem Fürften rärh, feine Gewalt
zu weit auszudehnen, und die Unterthanen zu fehe
fühlen zw laffen. Unumſchraͤnkte Defporen von Voͤl⸗
Fern, die es nicht wagen, fie zu tadeln, haben auch
kein Beduͤrfniß, ſich zu unterrichten. Ihre Mint:
ſter, die Zufall, Gunſt und Intrigue zu ihren Stel⸗
len erhoben bat, haben gar feine Idee von Gerechtigs
keit, weifer Starswerwaltung und von Tugend. Go
bewirkt und unterhaͤlt die Unterdruͤckung und Herab⸗
nen 4 würs
88: Geſchichte der neuern Philoſophie Aber
Würdigung: der Voͤlker die Unger Bü ann
ihrer Minifter, ee eu
Tugenden giebt es nur in Ländern, wordi⸗
Geſetzgebung das Privatintereſſe der Brger mit dem
Öffentlichen und gemeinſamen vereinigt. Bey Wäls
fern‘, wo die Macht unter der gemeinen Bürgerclaffe,
den Großen, und dem Regenten gecheilt ift, Beschäfe
tigen fich Bürger jeder Are mitt wichtigen Gegenftäns
den, und: die Freybeit, welche fit haben, Alles‘ zu
benfen und zu fagen,. erhebt die Gemuͤther und ‚giebt
ihnen Stärke und Energie. Eine Elehre‘ Stadt Grid
chenlands hat mehr edle Handluugen und große Maͤm
ner hervorgebracht, als alle die ungepenern, Reiche
des Orients.
Die Stärke der Leidenſchaften iſt den Beiebnun.
gen angemeſſen, die man ihnen zum Ziele des. Beſtre⸗
bens vorpält. Die Haufen Gold in Merico und Pas
ru, die den Geig der Spanier erweckten, ‚ließen ſie
under der Tapferkeit verrichten. ». Die Mohamme⸗
daner und bie alten Bewohner. des Morden von. Eus
ropa , in der Hoffnung, die Houris und die Valfgren
zu umarmen, gehen mutbig dem Tode entgegen. Ue—
berall wo Die. Wiffenfchaften zu Ehre und Gluͤcke fuͤh⸗
ven, gedeihen fie. Der gejunde Verſtand, der. nur
die Folge ſchwacher Seidenfchaften iſt, ſchafft nichts;
erfinbder nichts, Andere nichts, und klaͤrt fich nicht-auf,
Iſt Alles in der Ordnung, fo ift er hinreichend, die
böchften Stellen im State zu verwalten. Aber müfr
fen Misbraͤuche abgefchafft und verbeffert werben, ſo
verrärh er nur feine Unfähigkeit. Nur das, Genie,
durch ftarfe Leidenfchaften begeifiert, gründer-und vers
befjere die Verfafjungen der Starten. . Ob man zu
vroßen Dingen —— ſey, kann man an *
wiſſen
\
wahrend de achtz Jahthund. 8. auf Kant. 99
wiſſen Zeichen erkennen: 1) Wenn man den Ruhm
genug liebt, um ihm alle andere Leidenſchaften aufzug
epferu;.,2) Wenn man edle Handlungen oder Werley
Denen- der Beyfall aller Jahrhunderte zu Theile-ge®
worden, <lebbaft.hrwundert; 3) Wenn maus Dieugung
— Maͤnner ſeines eigenen Zeiralters wahrhaſt liebte
"De Geſchmack iſt die Kentniß deſſen, wis
* Publicum einer gewiſſen Nation gefaͤllt. Mar
erwirbt ſich dieſe Art von Geſchmack durch die Fers
tigken in Vergleichung der Urtheile. Der wahre und
vollkomne Geſchmack iſt derjenige, der ſich auf eine
eiefe Kemniß der meuſchlichen Natur gründet. —
AUm in Kuͤnſten, Wiſſen ſchaften und Geſchaͤff
un glücklich zu ſeyn, muß man vor allem andern. die
Ueberzeugung hegen, daß mau ſich nicht in ſehr ver⸗
ſchiedenen Faͤchern auszeichnen. Man zähle weder
deu Newton zu den Dichtern, noch den Milton
zu den Geometren. Es giebt verfchiedene ausfchließs,
liche Talente. Es giebt gewiſſe Eigenfchaften, und
man kann ſogar ſagen, gewiſſe Tugenden, die nicht
mir gewiſſen Talenten verbunden ſeyn koͤmnnen. Daß
man diefe- Wahrheit verkennt, ift die Quelle vieler
Ungerechtigkeiten. Man rühmt die Mäßigung eines
bilofoppen, und befchwere ſich über feine geringe
mpfindlichfeit, ohne zu erwägen, daß er nur.dem
ruhigen Zuftande feines Gemuͤths das Talent der Bes
obachtung verdankt. Man fodert, daß dee Mann
von Genie immer weife ſey, und vergißt, daß: das
Genie das Beftreben von Leidenfchaften ift, bie fich
felten mit der Weisheit vertragen. Helvesius fpriche
weitlaͤufig von ber Erziehungswiffenfchaft, und erklärt
Diefe fire Die Kentniß der ſchicklichen Mittel, um bey
Deu — Staͤrke des Koͤrpers, Aufklärung des
* Ss Gei⸗
95 Wefihichte der neuern Philoſophle
Seiſtes und Tugend des Charakters ju bewbirken. : Die
fe Drittel "hängen gänzlich von der Megierung eines
Siats ab. : Unter einer ſchlechten Verfaffung: und
Verwaltung dis Stars Fännen weder die Natur, noch
Die Erziehung die Menfchen aufgeklärt und tugend⸗
haft machen; weil die Mienfchen ſtets nach ihrer Gluͤck⸗
ſeligkeit trachten, und. unser Tyraunen : Aufklärung
und Tugend nicht zur Gluͤckſeligkeit führen *). «
Helvetins war. im feinem Principe, daß die
Datur.des Menfchen bloß in Sinnlichkeit beftehe,
mit. Condillac durchaus einig; aber in feinen Falk
gerungen, beſonders in den praktiſchen, war er un⸗
Hleich kecker, als dieſet. Ueberhaupt betrachtete und
behandelte Helvet ius die Theorie des Etkentnißver⸗
moͤgens nur als Mittel, um dadurch alle wahre un⸗
eigennuͤtzige Moral und alle Religion, vollends die
I Er ee
4*) De T’Efprit;. (par Claude Adrien Helvesius); a Paris
14: 1758; 2 Voll., 8.» (auch-3 Voll. 12) a Amſterdam 17765
au2 Voll. 12. a Londres 1784; 2Voll. 12. Deutfd
von Goh. Gabriel Forfert mir einer Vorrede von
J. Chr. Gottſche dz Lieanitz und Leipzig 1760. 1787:
8. — 'Ebendesf. De PHomme, de fes facultes,
‚et de fon education. , Quyrage poſthume. 1772 2 Voll.
8. Eine neue Ausgabe zu Paris 1786; 3 Voll. 8. à
Londres 1786. = Voll. 8 Deutſch von Ehr. Ang:
- Wichmann; Breslau 17745 28. 8. Die Werke des
Helvetius find zuſammen herausgelommen zu Amfters
dam 17765. 5 Voll. 12. und zu London 1777; 4.Voll,
6. Die neuefte und befte Musaabe ift: Oeuvres com-
letes d' Helverius; edition, dans laquelle le livre de
—*8 a été rectiſié fur un exemplaire du tr&s petit
nömbre de ceux, qui ont paru de cet ouvrage, tel
que !’autcur l’avoit eompoſẽ; dans la quelle on a mis
pour la premiere fois à leur place, felon les citations,
toutes les notes dans le Traitd de PHomme 'et de fon
education 1794; 5 Voll, und abermals 1796. ı4 Voll. 18.
während-d; achtz. Sahrhund:b. auf Kant, gr
herrſchenden ‚pofitiven ‚Religionen ,: unter. denen er je⸗
Doch dem Proteſtantismus, und zwar gerade des pros
teſtantiſchen Geiſtes wegen, vorzuͤgliche Gerechtigkeit
wiederfahren laͤßt, zu untergraben, und die Moral;
Politik und Religion bloß anf: ein. eigennuͤtziges In—
tereſſe der Individuen und des Stats zu gruͤnden. Das
Syſtem des Helverius iſt, wie Die Franzoͤſiſche Phi⸗
loſophie des achtzehnten Jahrhunderts faſt durchge—
hends, ein merkwuͤrdiges und warnendes Beyſpiel,
wohin das Locke'ſche Syſtem, von dem ſowohl Con⸗
diltae, als Helvetius, ausgiengen, führe, wenn
es feſtgehalten und auf's Praktiſche angewandt wird.
Daß Helvetius zum Fundamente der Mos
ral und Politik den Egoismus annahm, ſo—⸗
wohl des Individuums, als des Stats, und daß er
die Religion für etmas im Grunde ganz Leberflüffiges,
ja.bey deu darüber von jeher. herrſchenden Vorurthei⸗
len, und den Misbräuchen,. die fich die fchlaue und
binterliftige Herrfchfucht erlaubt, als für das Gluͤck
der Menſchheit in der Kegel nachtheilig anfah, floß
ganz natürlich aus feinen Vorausfegungen. So weit
wirklich der Gefchichte und alltäglichen Erfahrung nach
dev Egoismus die Menſchen regiert, und die Staten
immer am-blühendften, die Regenten am mächtigften und
ficherfien gewefen find, welche diefen Egoisinus durch
ihre Gefeggebung und die eingeführte Erziehungsweife
zwecfmäßig für das befondre Intereſſe und das des Gan⸗
zen zu richten. und zu lenken mußten, fcheint es, daß
Helverins Recht habe, und daß die Tugend lediglich
in Mugen Handlungen zur Erreichung der individuels
len. und patriotifchen Gtückfeligfeie-beftehe. Daher
die Anhänglichkeiet vorzüglich der fogenannten Ges
ſchaͤffts⸗ und, Statsmaͤnner in den höhern Ständen: an
td J fe
Geſchichte doe neuern Philofephte
feiner Philoſophie; denn bey dieſen/ auch wenn fie
den Helvetus nicht ſtudirt haben, pflege man doch
ſehr haͤufig aͤhnliche Maximen anzutreffen. Allein es
iſt doch ein eigenes. Gefühl, das man zuletzt von ber
Leetuͤre dee Schriften: des Helberins,: fo weit fie mor
raliſchen und -politifchen Inhalts find, zuruͤckbehaͤlt.
Sie floͤßen nicht ſowohl Achtung: und Liebe für die
Menſchheit, als vielmehr Verachtung derſelben, als
einer Geſellſchaft eigennügiger Weſen, ein; und freys
lich mag: #8 erfahrne und gefcheute Regenten und Pos
Heifer genug geben, denen am Ziele hrer Laufbahn
dieſes Gefuͤhl faft naturlich und ‚unvertilgbar. gewor⸗
den iſt. Indeſſen gerade dieſes Gefuͤhl, welches die
Schriften des Helvetius, die Geſchichte und Die
tägliche Erfahrung von: Welt und Menjchen, erwecken,
beweiſt: daß :die Tugend unmöglich. ein Refultat
eigennuͤtziger Motive und Zwecke, wären dieſe auch
patriotiſch, ſeyn koͤnne; ſondern daß viehnehr das on
E uni ihr Wefen: ausmache.
£eH Da nun aber die Empirie auf. kein anderes Sy
ſtem, als das Gluͤckſeligkeitsſyſtem, führe, welches
ans Ende. im Wefentlichen. nur auf einen feinern ‚oder.
geöbern Egoismus hinausläuft, falls: es anders con⸗
ſequent iſt: fo erhellt, daß überhaupt die Sitteulehre
und eine. mit dieſer verträgliche Politik nicht auf die
Erfahrung gebaut werden ‚dürfen. : Das Sittengeſetz
ft in der Natut der Vernunft. enthalten; und ebem
Diefe ertheilt auch der Politik ihre hoͤchſten Principien ;
und macht die Religion zum Beduͤrfniſſe der Menſch⸗
heit. Die Erfahrung kann wohl Regeln, gewaͤhren,
um die moralifchen. und politifchen Principien anzus
wenden; aber jene felbft laſſen fich nicht durch fie bei
ftimmen. Kin Menfch, deſſen Maximen nur Reſul⸗
wi! | tate
während d. achtz. Jahrhund. 6. Auf Kant. 98
"gelte der Erfahrung find, achter immer nur auf Nutzen
oder Schaden; er ift, wie man im Sprüchworte fagt,
durch Schaden klug geworden , und ſucht, ihn zu vers
Büren. Dies giebe ihm jedoch keinen Anſpruch auf
- Weisheit und Tugend, die nicht Schaden oder Mugen
Yin Zwecke hat, überhaupt nicht eigennügig ift, ſon⸗
Dein nach dem wahrhaft Guten ſtrebt. Nicht minder
mag der Politiker, der fich in feinen Handlungen nue
Wach der Gefchichte und der Erfahrung von Welt und
Menfchen richtet, Plug und ſchlau handeln; aber ſei⸗
ne Politik har darum noch nicht den Charakter des
Edein (Honefi). Allerdings wird eine echte Lebens⸗
und Starsflügheit weder von der Moral, noch von,
der Politik verworfen, oder für entbehrlich erflärtz
aber fie muß nur den höchften unbedingeen Vernunfts
gefegen der Sittlichkeit untergeordnet, und durch biefe
beftätige und geadelt fyn. |
3" Gerade die Franzöfifche Marlon war und if noch
unter allen polizieten Eutopäifchen Völkern für den
theoretiſchen ſowohl, als den praftifchen Empirismus, _
am empfängfichften.. Ihre natürliche Lebhaftigkeit
des Gefuͤhls, der Phantaſie, und der keidenſchaften;
der unter alle Voiksclaſſen verbreitete Frohfinn oder
wenigſtens Leichtſinn, der oft in einen zügellofen Hang
Br Vergnuͤgen und zu MWohllüften ausattet; das
Beduͤrfniß Plarer anfchauficher Darftellung, das ſich
ſchon in der Franzoͤſiſchen Sprache ſelbſt verrärh, die
unter allen gebildeten neueren Europäifhen Sprachen
für eine wiffenfchaftliche Philofophie Die unpaflendfte
tft, Die herrſchende Abneigung gegen pbilofoppifche
Reflexion, die anhaltende Anftrengung fodere, und
dagegen Genuͤgſamkeit am Oberflächlihen, zumal
wenn es ſcheinbar biendet, und witzig m, iſt:
G ⸗ ed : Alles
94 Geſchichte der neuern Philoſophie
Alles dieſes hat ſich immer vereinigt, und. vereinigt
ſich noch, dem Empirismus bey der Franzoͤſiſchen Nas
tion im Ganzen genommen den Triumph, ſeitdem Ga ſ⸗
ſendi zuerſt damit auftrat, zu erleichtern. Es iſt
alfo nicht zu verwundern, daß die -Franzöfifchen Phi⸗
loſophen, nachdem fie einmal die Ariftorelifche nebſt
der Eartefifchen Philofophie verworfen; und fich- den
Gaffendi und Locke zu Führern gewählt; nach⸗
dem ° ferner «Eondillac und Helvetius die vom
dieſen Vorgaͤngern zunächft. gebrochene, Bahn mit
Gluͤcke, wie es fchien, weiter verfolge hatten, auch
in der Folge auf eben derfelben blieben, und insbes
ſondre die Politik, Moral und. Religion immer dreis
ſter anzufechten und in ihren Fundamenten zu erſchuͤt⸗
tern fuchten. u ' |
Keiner hat wohl diefen letztern Zweck leidenſchaft⸗
licher, ſchlauer und verführerifcher verfolge, als der
Verſaſſer des fo beruͤhmt oder vielmehr beruͤchtigt ges
worbenen Syfteme de la nature *). Diefes Werk iſt
recht eigentlich dazu beftime, den Atheismus und. as
talismus aus philofoppifchen Gründen zu lehren, und
eine diefer Vorftellungsart angemeſſene empirifche praßs
tiſche Moral anzupreifen. Alles Unglück des. menfchs
lichen Gefchlechts wird daraus hergeleitet, daß die
Menfchen ihre. wahre eigene und die Natur der Dinge
um fie er verfennen ; daß fie über bie Schranken ih⸗
| u ter
"*) Syfteme de la nature ou des loix du monde phyfique
- et du monde moral. Par Mr. Mirabaud; à Londres
' 1770; 2 Tomes. 8: Der Name Mirabaud ift ers
dichter; aber über den wahren Verfaſſer ift man fireis
tig. Einige nennen ihn La Grange; Andere den
’ Baron von Holbadh, in deffen Haufe jener Erzieher
> war Deurtſch von Schretter; Frankfurt und
: Leipzig 17835 2 B. 8.
ur während d. achtz. Yahrhundabuiaufifant. 95
see Sphäre hinausſchweifen - jenfeits der fichtbaren
Welt, ungeachtet fie immer nieder zuruͤckfallen; daß
fie Metaphyſiker fenn wollen, ‚bevor fie Phyfis
er find; . die Realitäten veracheen, um: Chimären
nachzubängen; die Erfahrung vernacdhläfligen, um fich
an Hiengejpinften und Murhmaßungen zu. meiden;
kurz das Studium der Natur aufgeben, und nach
Phantomen haſchen. Es iſt daher nörhig, die Mens
ſchen zum Studium der Natur durch wirkliche Erfah⸗
zung zuruͤckzufuͤhren. Im theoretiſchen Theile hat
das Syſtem der Natur ſehr vieles mit der Epi⸗
Lurifchen Philoſophie gemeinfchaftlih, nur daß Die
Argumente, die für den Atheismus fireiten, beſſer
ausgeführt, und dabey die neueren:natur: hiftorifchen
und phofifalifchen. Entdeckungen benußt find, wie auch
Ruͤckſicht auf die neuere Ppilofophie, Die herrfchens
den pofitiven Religionen, und den heutigen moralis
ſchen, politifchen und- — Zuſtand der Voͤlker
genommen iſt.
Die Grundfäge, worauf jenes Syſtem beruht,
ſind folgende:
J. Es giebt urſpruͤnglich unendlich mannichfal⸗
tige und auf unendlich verſchiedene Art verbundene
Materien, die in ununterbrochener Bewegung gegens
feitig find. Die verfchiedenen Eigenfchaften diefer
Materien im Einzelnen, ihre Verbindungen und Wirs
ungen, welche die Folgen davon find, machen füe
uns die Wefen (eflences) der Dinge aus,
1, Die Bewegung ift ein Streben, wodurch
ein. Körper feinem Ort verändert, oder zu verändern
fucht, und fie allein beftime die Beziehungen und Vers
bältniffe zwiſchen unfern Organen und den Dingen
er und up uns. Das Ding, welches ein anderes
bewegt,
96 EGhſchichta der neuern Philoſophie
Hewegt; und in dieſem eine Veränderung beiorbringe,
heiße Ur ſache, fo: wie die hervorgebrachte Veraͤnde⸗
zung Wirkung. Jedes : Ding: ift: vermöge feiner
Matur .fähig‘, verfchiedene Wirkungen hervorzubrin⸗
. gen, aufzunehmen und mitzucheilen. Die Bewegun⸗
gen- finden: entweder in Maffe ſtatt, wenn ein ganzer
Koͤrpet feinen Dre ändert, oder es find innere verbor⸗
gene Bewegungen, die. von der inneren unempfindbar
zen Thaͤtigkeit der materiellen Elemente eines Dinges
abhängen, und erſt nach einiger Zeit durch die aͤuße⸗
ren Veraͤnderungen, welche :fie bewirfen , offenbar
werden, wie z. B;-die Gährung beym Biere, Weine
w.dgl., die Bewegungen des Wachsthums der Thies
ze, Pflanzen, und die Aeußerungen der fogenaunten
inteklectwellen. Fähigkeiten des Menfchen, feis
mer Gedanken, Leidenfhaften, Willensbu
flimmungen u. w. Ueberhaupt Alles in. der
Welt ift-in Bewegung, und man kann nicht fas
gen, daß irgend ein Ding in abfoluter Ruhe ſey, ob⸗
glei ed ‚wegen einer geringeren oder unmerklichen Thaͤ⸗
igkeit relativ zu andern in Ruhe zu ſeyn ſcheint.
III. Die Materie und die Bewegung ſind von
Ewigkeit, und muͤſſen als die erſten urſpruͤnglichen That⸗
ſachen poſtulirt werden. Die Materie kann nie aufs
hören zu griftiren; fie kann alfo auch nicht zu eris
ftiren anfangen. Das Daſeyn einer. äußeren Urfas
che der Materie läßt fich niche ermweifen. Die angebs
the Schöpfung aus Miches ift ein leeres Wort
ohne Sinn, das feinen Begriff von der Bildung des -
: Müiverfums geben fann. Doch dunkler wird biefer
Begriff, wenn man die Bildung der Materie einens
Geiſte zufchreibe, d.i. einem Weſen, welches gar
‚ feine Analogie mit diefer, gar feinen —
mit ihr — hat. *
J
Pr
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 97
“IV, Bloß die Mannichfaltigkeit der Materie und
ihrer Bewegungen ift der Grund der Mannichfaltigs
feit der Marurerjcheinungen, und ihres unaufhörlis
chen Entſtehens und Verſchwindens. Gleichwohl vers
folgt die Matur dabey ſtets einen regelmäßigen Gang,
und es ift ein ewiger Cirkel, den Alles, was eriftirt,
zu befchreiben geywungen ifl. Die Bewegung bringe
die Dinge hervor, erhält fie auf einige Zeit, und zer⸗
flöre fie nach und nach eines durch das andere, waͤh—
rend die Summe des Dafenns immer diefelbe bleibt.
V. Die Urfachen der Maturerfcheinungen erfens
nem wir zwar niche im Kinzelnen; aber wir erfens
nen ‚doch die einfachen und allgemeinen Gefege, nach
welhen die Körper fich bewegen; und die zufammens
gefeßsteiten Bewegungen find nur Reſultate verfchies
dener Combinationen der einfachen. Die Materie,
welche wir wahrnehmen, find entweder geneigt, fich
mie einander zu vereinigen, oder find zu einer Verei⸗
nigung unfähig. Hierauf gründen fich diejenigen Thäs
tigkeiten derfelben, welche die Phofifer Anziehung
ad Abftoßung, Symparbie und Antipas
thie, Verwandtſchaft und Beziehung; die
Moratiften aber Liebe und Haß, Freundſchaft
und Feindfchaft nennen.
VI. Mle Bewegung in den Dingen hat eine
Tendenz. Diefe, ſoweit fie fich bemerken läge, bes
fteht im Allgemeinen darin, daß die Dinge ihr Das
feyn zu erhalten und. zu ſichern fireben, alfo dasjenis
ge am fich ziehen, was. diefen Zwecke beförderlic) ift,
bingegen zurückftoßen,, was ibm. fchädlich feyn kann.
Die Phyſiker nennen diefe Tendenz der Selbſterhal—
gung die Gravitation auf ſich ſelbſt; Newton nanns
ge fie Die Kraft der Traͤgheit; im Menfchen nes
nen fie die Moraliſten Seibftliebe. Alle Veraͤn⸗
Buhle's Geſch. d. Philoſ. VI2. G de⸗
*
98 Geſchichte der neuern Philoſophie
derungen aber in der Welt, und folglich auch beym
Menſchen, find nothwendig beſtimt; denn jede Urſache
muß nothwendig eine Wirkung haben, und die ganze
Natur ift eine zufammenhängende- Kette von Urfachen
und Wirkungen. 4
VII, Alle Naturkentniß des Menfchen ift nur
feine fubjective Anficht der Dinge, vermöge welcher
er in der Thärigkeie der Natur eine gewiſſe Webereigs
ſtimmung mit der feinigen finde. Sofern der Menſch
nothwendige, periodifche und regelmäßige Bewegun⸗
gen im Univerfum wahrnimt, entfteht in ihm die bee
einee Naturordnung. Dieſer legt er zwar eine
objeetive Exiſtenz bey, und nennt degwegen Alles Uns
ordnung, was ihm jener Idee nicht gemäß ſcheint;
allein objectiv ift in der Natur weder Ordnung, noch
Udordnung, weder Negelmäßigkeit, noch Unregelmäs
Gigfeit; denn Alles erfolge hier nothwendig. Soge⸗
nannte Wunder, welche den unveränderlichen Gefets
zen der Natur miderfprechen, find unmögli., Was
wir fo nennen, find entweder Erdichtungen, oder Be—
triegeregen, oder Erfcheinungen, deren wahre Urfachen
uns unbefant find, und die wir alfo auf erträumte
Urſachen zurückführen. u
VI, Der. Menfch ift mit allen übrigen Natur⸗
erfcheinungen denfelben allgemeinen. Geſetzen unterwors
fen. _ Sein Daſeyn und Leben ift nichts als eine
morhwendige Reihe mit einander. norhwendig vers |
‚Enüpfter Bewegungen, deren Urſachen entweder in
den flüffigen und foliden Marerien im Innern feis
mes Körpers,-oder in den:Dingen außer ihm liegen,
Der Menſch firebt,. wie alle andere Dinge, nad
der Erbaltung feiner Eriftenz , ‚die er von der Ma⸗
ur empfangen har; er widerftcht feiner Werlegung — |
| x AR, 0 Ar 42 es
1
während d. acht}. Jahrhund. b. auf gen. 99
Vernichtung; er empfindet die Kraft der Traͤgheit;
er gravitirt uͤber fich ſelbſt; er wird durch Objeete,
die ihm analog ſind, angezogen, und durch ſolche,
die ſeiner Natur zuwider ſind, zuruͤckgeſtoßen; er ſucht
jene, flieht dieſe, oder bemuͤht ſich, ſie zu entfernen.
Das find die verſchiedenen Arten der Thaätigkeit, des.
ren der Menfch empfänglich ift, Die aber, fo verjchies
ben fie fcheinen mögen, fich doch auf diefelben unver—⸗
‚ Anderlihen Naturgeſetze zuräcfüßren laffen, welche
die Natur allen ihren Gefchöpfen vorſchreibt. Es ift
ein in feinen Teilen und feiner Wirkſamkeit kaum bes
merflichee Punce, in welchem. fih das Dafeyn bes
Menſchen zuerft zeigt, und worin fich feine ber Dualitäs
ten. entdecken läßt, die wir Empfindung, Wahrs
nebmüung, Gedanke, Vernunft, Selbfifraft
nennen. Uber jener Punet entwickelte fich im Mutter—⸗
leibe, wächft durch hinzufommende feinem Weſen aus
gemeffene und ſich ihm veräßnlichende Materie, gehe
Aus dem Mutterleibe zur Selbſtſtaͤndigkeit hervor, und
bilder ih aus, wird an allen feinen Teilen für Die
Empfindung empfänglich, eine lebendige und thaͤtige
Maffe, ein. Weſen, das denft, wil, — handelt,
ein Menſch.
1X, Die —— Intelligenz des Mens
ſchen iſt ein Reſultat derfelben mechanifchen Thaͤtig⸗
keiten, aus denen alle uͤbrige Naturerſcheinungen flie⸗
Gen. Das Wort Intelligenz iſt nur ein Mamen .
für Weſen, die.fo organifirt find, wie wir, in des
sen wie Fähigkeiten der Selbfterhaltung, zwecfmär
Kigen Gebrauch der Mittel dazu, mit Bewußtſeyn
verbunden, bemerken. Alle Dinge dagegen, die uns
nicht analog find, und nicht fo wirfen, wie wir, nens
nen wir mechanifch , —— zuſdlig —
in⸗
100. Geſchichte der neuern Philofophie
Dinge. Ueberhaupt mache fih der Menſch felbft
zum Mittelpunfte des Univerfums, auf welchen er
Altes bezieht: Alle Tätigkeiten in der Matur, die
‚den feinigen ähnlich find, ober merfwürdige Naturs
erfcheinungen, erflärt er fich aus einem ihm ähnlichen
Weſen. Auf ein folches führe er die ganze Natur
zurüf. Dur weil er ſich felbft unvermögend fühlt,
jene ungeheuren und zabllofen Wirkungen hervorzus
bringen, die er im Univerfum wahrnimt; fo glaube
er, die Schwierigkeit dadurch zu heben, daß er die
Fähigkeiten des Urhebers der Welt zwar den feinigen
analog, aber’ doch unverhältnigmäßig größer, als dies
fe, vorftelle, damit jene Wirkungen möglichermeife
durch fie hervorgebracht werden koͤnnen. Hierdurch
entſteht dee Begriff einer intelligenten Gottheit, in
welcher zugleich die Ordnung des Univerfum’s- ihren
Grund hat.
x. Wenn man den Menfchen aus Körper, und
Seele als einem geiftigen Weſen, beſtehen läßt, :
fo ift die: Frage: Was ein Geift ſey? — Die
Antwort iſt: Dee Geift ift ein Wefen, dem fein Merle
mal zufomt, von welchem wir einen Begriff Gaben,
alfo eine bloße Negation. Der Beift foll ohne
Ausdehnung und ohne Theile ſeyn, und dennoch auf
Körper und verfchiebene Entfernungen: im Raume wir⸗
fen; was fich widerfpricht, oder wenigftens ſchlechthin
unbegreiflich ift. Iſt die Bewegung eine Veränderung
der Berbältniffe des Körpers zu einem Orte im Raume,
oder zu.andern Körpern ;. fo widerftreiter diefem Begriffe
der Bewegung die Bewegung eines Geiſtes
geradezu. - Wenn auch. die Seele fich bewegt, fo bes _
wegt fie fih Doch zugleich mie dem Körper; fie hat als
fo eine- a mit den Koͤrpern überhaupt ges
mein;
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant, 101
mein; fie tft folglich ebenfalls den Üefegen der Mas
terie unterworfen, und würde ohne den Körper uns
thaͤtig und code feyn. Die Hypotheſe von einer geis
figen Seele hat auch nicht den geringften Nutzen.
Die Borftellung diefer iſt eigentlich die Vorſtellung eis
nes unfichtbaren Hauches, der fichtbare Wirs
ungen hat; aber diefer Hauch ift etwas Materielles,
ift eine Modificarion der Luſt. Will man eine reelle
dee von der Seele haben, fo muß man immer zu
materiellen Merfmalen-feine Zuflucht nehmen, und
dieſes felbft bemweift, daß die Seele nicht immateriell
feyn Fönne, Wer die Seele vom Körper trennt, thut
nichts anders, als daß er das Gehirn von — ſſich
ſelbſt unterfcheidee. Das Gehirn ift die Seele
Es ift der Mittelpunce des Mervenfofiems, von wels
chem alle Bewegungen der Nerven, d. i. alle ſogenann⸗
se Seelenwirkungen ausgehen, und in welches fie fich
endigen. Daß übrigens die Menfchen das Univer⸗
ſum mit: Geiftern bevölferten, hat eben darin feinen
Grund, daß fie fich einen Geift im Menfchen. felbft-
traͤumten, und nun analogifch denſelben auch auf aus
dere lebendige Maturen übertrugen, ja für ſich beſte⸗
hende geiftige Wefen ohne Körper erfanden, berglen
chen die Engel ſeyn a |
XI. Alle fogenannse intelleetuelle Fabig⸗
keiten des Menſchen beſtehen zuletzt im Empfin
den, und dieſes iſt eben fo eine Folge des eigenthuͤm⸗
fichen Weſens organifirter Subftanzen, als die Schwer.
ze, Elaftieirät,, Elefrricität, der Magnetismus u. w.
&o wenig ſich dieſe unleugbaren Eigenfchaften der
Materie ihrem legten Grunde: nach erflären;
laſſen; eben ſo wenig laͤßt fih auͤch das Empfinden
erklaͤren. Die Sinne u die aͤußern —
A 3 en
v3 Geſchichte der neuern Philoſophie
den Organe det Empfindungen, und dieſe ſelbſt erhal⸗
ten. manuichfaltige Namen nach. der mannichfaltigen
Beichaffenpeie. ihrer Modificationen. Ideen find
die Veränderungen im innern Organe. des Gehirns,
welche auf die äußern Eindrücke der Sinne erfolgen,
oder in diefen ihre Urſache haben. Es find die: Bits
ber der Gegenftände' der Empfindungen. Bloß die
größere Beweglichkeit des Gehirns unterfcheider dem
Menfchen: von den minder empfindlichen Thieren und
dem leblofen Gefchöpfen; ſo ‚wie die größere Beweg⸗
lichkeit des Gehirns bey dem: einen. Dienfchen ihn in
Anfehung.: feiner Geiftesfähigfeiten von den andern
unterfcheider, bey — die an jenes ge⸗
u iſt.
XIE Nicht bloß die intellectuellen Faäͤhigkeiten
der Menſchen und ihre Verſchiedenheit, ſondern auch
ihre moraliſchen Eigenſchaften haben phyſiſche
Urſachen. Die Natur wechſelt nothwendig in's Uns
endliche in ihren Geſchoͤpfen, in den Verbindungen
und Formen, welche ſie dem materiellen Stoffe mit⸗
theilt. Es giebt daher. nicht zwey Menſchen, die ge⸗
nau dieſelben Züge hätten, genau auf diefelbe Ark
empfaͤnden und daͤchten, dieſelben Ideen haͤtten, die
Gegenſtaͤnde auf gleiche Art beurtheilten, und dess
wegen einerley Betragen beobachteten. Diefe Vers -
fehiedenpeie der Mehfchen, bey, aller Aehnlichkeit dee
Drganifarion im Allgemeinen, bringe eine - Ungleichs
heit derfelben hervor, . und dieſe ift wiederum die Ders
anlafjung und die ſtaͤrkſte Stüge ihrer gefellfchaftlichen
Vereinigung. - Aus der Nothwendigkeit einer gefells
fchaftlichen Verbindung der Menfchen geht auch. die
Mothwendigkeit einer Moral hervor. Wie fich. die
; — in ibeoreriſchet Auf in Eluge und =
niß⸗
während d. achtz. Johrhund b. auf Kant. 103
| £ nißvolle, und- in dumme * unwiſſende ſcheiden; fo
feheiden fie ſich in praktiſcher in gute und boͤſe.
Die Geelenkräfte hängen aber gleich den Kräften des
Körpers vom Temperamente desfelben ab. Frags
te. man immer bie Erfahrung anſtatt des Vorurtheils,
fo würde die Medicin dee Moral den Schlüffel zum
menfchlichen. Herzen liefern, und, indem fie den Körper.
beilte, zugleich für die Heilung der Seele forgen. Das
Dogma von der Geiftigfeit der Seele hat aus der Mo⸗
ral eine Science conjedturale gemacht, wo man durchs
aus die wahren Triebfedern verkanute, die man brau⸗
' den muß, um auf den Menfehen zu wirken; anftatt
dab die Moral und Politif aus dem Materialiemüs
Vortheile ziehen Lönten, bie ihnen jenes Dogma nie
zu verfchaffen im Stande if. Die finnliche Erfah⸗
zung ift es auch, welche die Klugheit, die Vor—
fit, in einem Menfchen bewirkt, oder das, was
man im eigentlichen und richtigen Sinne Vernunft
(railon) nennen kann. Man beurtheilt Pünftige Säle -
und das nörhige Verhalten dabey nach ähnlichen, die
man bereits erfahren hat. Die unmittelbare Empflns
dung oder unfer Temperament fönnen uns irre fühs
ren und täufchen; aber die Erfahrung und Reflexion
darüber leiten ung wieder auf den richtigen Weg und
belehren uns über das, mas wirklich zu unferm Gluͤcke
beytragen kann. Ob man uns gleich daher täglich
worfagt, daß der Menſch ein vernünftiges We
‚Ken: fen; ſo giebe es doch nur eine ſehr Pleine Zahl
Menſchen, die wirklich Vernunft baben, d.t.
durch Meflerion über ihre Erfahrungen ſich au einem
weißen, Verhalten gebildet haben.
Nach dieſer Angabe der Principien des s Sufem N)
der Nat ur will. ich‘ rt; die a Yo
TE Sl 4 E "wie
204 Gefchichte der neuern Philoſophie
wie der Verfaſſer desfelben den Einwuͤrfen begegnet;
die er gegen dasſelbe gleichſam voraus ahndete. Was
ihr zuerſt widerſtritt, waren die Hypotheſe von ange⸗
bohrnen Ideen, und der Idealismus überhaupt. Ser
ne räumt er leicht aus dem Wege, dadurch, daß er
zeigt, wie alle unfere Vorſtellungen aus finnlichen
Eindrücken entfpringen. Der Idealiemus Pinge
gen, fo wie ihn Berkeley aufgeſtellt hatte, und
son dieſer Seite allein kante ihn der Verfaſſer, bes
ruht lediglich auf der Vorausſetzung von der Imma—
zetialicäe der Seele, Sobald man ſich zum Mater
rialismus befennt,, ift es nicht mehr ſchwierig, zu ers
Plären, wie Pörperlihe Subftanzen auf die geiftige
Seele einwirken mögen, und dieſe Schwierigkeit ift
es doch hauprfächlich, welche den Berkeley den
Idealismus zum. Bedärfniffe machte Entzieht man
Das Seelenweſen den Gefegen der Materie, und will
man alle ihre Bewegungen aus ihrer eigenen inneren _
Energie erflären; fo muß man auch zugefteßen, daß -
fie allein fähig fey, die Bewegung im Univerfum aufs
zubalten oder zu verändern. Das Univerfum ift aber
nichts anders, als wie eine unermeßliche ununterbros
chene Kette von in einander einmwirkenden Urſachen, die
Durch nothwendige-unveränderliche Gefege beftime mers
den, welche. Gefege nicht anders aufgehoben oder vers
ändert werden Fönnen, als mit Aufhebung oder Vers
nichtung der Dinge felbft. Unſere Seele iſt aber kei⸗
nesiweges vom der Weltcaufalicäe ausgenommen; ihre
Thaͤtigkeiten rüßren zunächft nur von Urſachen Ger,
die in uns felbft verborgen find; und daher bilden wir
uns ein, daß die Seele fich felbfiftändig bewege, weil
wir die Triebfebern ihrer Thaͤtigkeit niche wahrneh⸗
&
wien, ' oder ihnen ihre bewundernswuͤrdige Wirkfans
keit niche zuttauen. Alle dieſe Irrthuͤmer haben *
n
—
während d. achtz. Jahrhund. 6, auf Kant.“ 105
im ihren Grund, dag wir ben Körper ale eind ttaͤge
todte Materie anſehen; anftatt daß er eine empfindli⸗
he Maſchine ift, die nothwendig bey einem Eindrucke
das momentane Bewußtſeyn desfelben har, und:
durch die Erinnerung an diefelben wiedew
holten Eindrücke das Bewußtſeyn des Ich bekomt;
fo. wie fich nachher hieraus der ganze Mechanismus
des Raiſonnements bilder. | 1
. Go wenig, wie fich die Hypothefen vom Jdea⸗
tbism umd von angebohrnen Ideen vertheidi—
gen laſſen; eben fo wenig kann auch die Exiſtenz einer
angebohrnen Idee der Pflicht vor aller Erfahrung
von den Zwecken und Folgen unſerer Handlungen, eis:
nes. angeboßenen moralifchen Ginnes oder In⸗
ftinctes, dargethan werden. Der vornehmſte Grund,
welchen man für diefe Behauptung anführe, ift die
Uebereinftimmung der Meufchen in gewiffen Säts
zen und die Nothwendigkeit derfelben im Bewußtſeyn,
die ſich auch bey den moralifhen Grundurtheilen ofs
fenbare. Alle geonierrifche Demonftrationen haben.
die Nothwendigkeit ihrer Mefultare im Bewußtſeyn
zur Folge, und diefe Nothwendigkeit, glaube man,
koͤnne nicht eine Wirkung der Erfahrung feyn. Das
a
gegen erinnert nun der Verfaffer des Syftems der Nas
me, daß diefe Worausfegung, die Mothwendigkeit
gewiſſer Säge im Pewußtſeyn Taffe ſich nicht aus dee
Erfahrung erflären, erſchlichen ſey. Alle nochwens
dige Begriffe und Säge werden erft durch Erfahrung
erworben. Ehe man als nothwendig einfieht, daß:
das Ganze größer, als einer feiner Theile, ſeyn muͤſſe,
muß man das Ganze: mit feinen: Tpeilen in der Exs
fahrung verglichenpaben. Daß zweymal zwey Vier
fiir, weiß in Kind nicht; a6 Br: Re
5 7 wird
206 Gefchichte der neuern Philoſophie
wird es ſehr bald davon überzeugt; und da alle: Men⸗
fehen diefe Erfahrung auf dieſelbe Weiſe machen, weil
die Marurgefeße für alle Menfchen: diefelben find; fo
ſtimmen auch alle Menfchen darin überein, die nothe⸗
wendige Wahrheit jenes Satzes anzuerkennen. Auch:
in Hinfiche auf die Moral fließt hieraus, daß. fie
* einzig und allein auf die Erfahrung gruͤnde. Die⸗
lehrt uns, was nuͤtzlich oder ſchaͤdlich, tugendhaſt
oder laſterbaft, edel oder ſchaͤndlich iſt. Es iſt bloß
die Leichtigkeit und Geſchwindigkeit, womit wir un⸗
ſere Erfahrung zur moraliſchen Beurtheilung unſerer
eigenen, und der Handlungen Anderer, anwenden, wel⸗
he ung verfuͤhrt, an einen moraliſchen Inſtinet
zu glauben.
Dem: 'moralifhen Empirismus, welchen das
Syſtem der Natur lehrt, fteht nichts mehr entgegen,
‚als. die von einer großen Partey der Philofophen an;
‚genommene Freyheit der menfchlichen Seele. Die:
fe ift auch eine natuͤrliche Folge des Immaterialismus.
Denn ift die Seele immateriell, fo ift fie aud) von
dem Syſteme der uns befanten. Marurgefege in der
Körperwelt ausgenommen; fie wird dadurch Gebietes
rinn ihres Schickſals, kann ihre Thärigfeiten ſelbſt
thordnen und leiten, ihren Willen aus eigener innerer
rhergie, determiniren.
- . Der Verfaffer bes Syſtems der Natur beſtreitet
die Freiheit hauptſaͤchlich mit folgenden Gruͤnden:
V Der Menſch iſt offenbar ein Glied des großen Nas;
tur⸗Ganzen, und. ift, alfo auch dieſem und den Eins.
fluͤſſen desſelben untergeordnet: Waͤre er in der That
fen, ſo müßte er entweder ſtaͤrker, als die ganze Mas
tur, ſeyn, oder gar micht zu ihr gehoͤren. Beydes
aber widetſtreitet der Erſahrung ſchlechthin. am R
02.4 ' e
-
8
f
| während:d: achtz. Jahrhund b. auf Kant 107
die Immaterialiſten muͤſſen zugeben, daß die-fogenanns:
te immaterielle Seele des Menjchen mit: dem, Körper
im gegenfeitigen Wirkungsver haͤltniſſe ſtehe; jene hängt.
alfo auch von der phyſiſchen Cauſalitaͤt ab.—
| 2) Es liege im Menſcheu, wie in affen ebene
den Maturwefen,. nach Selbſterhaltung und’ Wohl⸗
ſeyn zu ſtreben; alle Bewegungen feiner Mafchine ſind
norhwendige Folgen diefes Triebes; der Meñnſch liebt
das Vergnügen, und verabfcheut den Schmerz; fein
Wille muß alfo norpwendig durch die Objecte beſtimt
werden, die er für nöglich, oder für ſchaͤdlich haͤlt,
fie zu begehren oder zu verabfcheuen. Nas wir Des
liberation nennen, iſt nichts weiter, als ein ſuc⸗
ceſſives Begehren und Verabſcheuen, Angezogen oder
Zuruͤckgeſtoßen werden. Es iſt folglich auch Bier Als‘
(es mechanifh. Wir deliberiren nur, weil’ wir die
Beschaffenheit der Gegenftände nicht genug kennen,
auf welche fich unfere Thärigfeie beziehen foll; oder
. weil ung die Erfahrung von den näheren und entferns
teren Wirkungen noch nicht hinreichend belehrt‘ bat,
welche gemwiffe Handlungen für uns haben. möchten.
Der Werfaffer ſucht die Deliberation felbft aus
den phnfifchen Actionen des Gehirns begreift zu
machen.
3) Beym erſten Blicke ſcheint frehlich für die
Freyheit des ‚Menfchen zu fprechen, daß er die hefs
tigften teidenfchaften und. Begierden durch andermeis
‚tige Ideen, die er ihnen entgegenfeße, hemmen und
auch wohl ganz unterdrücken kann. .. "Uber dies ifk
ein ſehr precäres Argument, das beh genauerer Be⸗
leuchtung voͤllig unzureichend ſcheint. Man kann im⸗
merhin einräumen, daß oft die Vorſtellung einer deos
benden. Geſahr, eines: entfernten Hebel, uns won. ein
⸗ nem
108 Gecchichte der neuern Philoſophie
nemn gegenwaͤrtigen Genuſſe abſchrecke oder zuruͤckhalte.
Sogar eine: leiſe Erinnerung, eine geringe unmerkli⸗
he. Mopdification unſers Gehirns, vernichtet in jes
dem Augenblicke die reellftem Objecte, die auf unfern-
Willen einwirken. Gleichwohl laͤßt ſich hieraus gar
nicht auf die Freyheit ſchließen.
Die Aſſociation ber Ideen erfolge nach. mecha⸗
niſchen Geſehen, iſt von uns unabhaͤngig, wenigſteus
oft gar nicht in unſerer Gewalt. Die Erinnerung
wird ſtets durch den momentanen und habituellen Zu⸗
ſtand beſtimt, in welchem wir uns befinden. Deß—
wegen vermag auch oft die Reflexion gar nichts uͤber
unſer Thun und Laſſen; wir vermiſſen alsdenn in ums
ferm Bewußtſeyn ſolche Ideen, die unfere Willenss
beftimmung aufbalten oder abändern koͤnten, und
ſtuͤrzen uns darüber in Gefahr, obne daß unfere Frey:
heit daran Theil Härte. Boͤſewichter find mit Bes
trunkenen zu vergleichen; fie find in einer Art von
Wahnfinn. Indem fie ihre Verbrechen begeben, rais
ſonniren fie über die möglichen und wahrfcheinlichen
Folgen derfelben nicht; oder wenn fie es thun; fo ges
winnt doch das Raiſonnement Peine Mache über ihren
Willen. Iſt die Ruhe in ihrer Mafchine wiederhers
geftelle, dann entſteht freylicy bey ihnen eine vernünfs
tigere und wirffamere Meflerion tiber die Folgen ihrer
Handlungen, weil igt Ideen ihnen in’s Bewußtſeyn
Fommen, die vor dem Handeln fehlten. Aber alss
denn iſt es zu ſpaͤt, und diefer Zuftand des Gemuͤths,
welcher . nun erfolge, iſt es, welchen man mit dem
Mamen der Reue, des. böfen Gewiſſens, zu bes
zeichnen pflegt.
- Der Wille ift nicht ein erſtes und er
Princip der menfchlichen Handlungen. Man häte
ip ir: ſelbſtthaͤtig, weil man nicht höher *
eigt,
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 109
ſteigt, und die mannichfaltigen verwickelten Urſachen
nicht bemerkt, die das Gehirn diſponiren, und den
Willen, der bloß paſſiv iſt, in Thaͤtigkeit fegen. Der
Menſch alſo iſt nach dem Syſteme der Natur nie frey
in keinem Augenblicke ſeines Lebens. Er wird noth⸗
wendig durch die wirklichen oder ſcheinbaren
Vortheile determinirt, welche er mit Ideen der
Gegenſtaͤnde verbindet, die feine Triebe und Bes
gierden reizen. Diefe Begierden find not h⸗
wendig. in einem Weſen, das unaufpörlih nah
Gluͤckſeligkeit ſtrebt; ihre Thpärigfeie iſt not h⸗
wendig, weil fie von dem Temperamente abhängt;
das Temperament ift nochwendig, weil eg
durch die Natur der Elemente beftime wird, aus des
nen es zuſammengeſetzt ift; die Modificationen
biefes Temperaments find nothwendig, weil fie uns
fehlbare und unvermeibliche Folgen der Urt find, wie
die natürlichen und moraliſchen Dinge befländig auf
uns einwirken. |
— 4) Man beruft ſich oft auch zur Begründung
der Freyheit auf die fogenannten gleichguͤltigen
Handlungen, unter denen der Menfch frey wähle, wie
es z. B. von feiner gleichgäftigen freyen Wahl abs’
hängt, ob er in gewiſſen Fällen geben, oder ftille ſtehn
will. Allein auch diefe gleichgültigen Handlungen find
nur ſcheinbar frey, nicht wirklich. Sie fcheinen
nur frey zu feyn, weil wir ung bes eigentlichen Mos
tivs, das in einem folchen Falle die Handlungen bes
ſtimt, niche deutlich bewuße werden. In einem lebs
haften Difpute über die Freyheit Lönte vielleicht Je⸗
mand fragens Ob es nicht bey ihm fiehe, fich aus.
dem Fenfter zu ſtuͤrzen ein paar Stockwerke herimter?
— dieſe Frage kann man aber dreiſt Nein antwor⸗
ten.
’
a1o Geſchichte der neuern Philoſophie —
an, Hat Jemand feine vernänftige Beſonnenheit, |
‚fo wird zuverläffig fein Eifer, die: Freyheit zu bemei:
fen, ein hintänglich ftarfes Motiv fuͤr ihn ſeyn, nA
ihm ſein teben oder feine Geſundheit aufzuopfern.
Wenn er ſich aber doch wirklich zum. Beweiſe feiner
Freyheit aus dem Fenſter ſtuͤrzte; fo würde auch - dies
fes noch feinesweges zu dem Schluffe berechtigen, daß
‚er wir klich frey gehandelt babe. Man koͤnte nur mit
Recht daraus ſchließen, der Menſch muͤſſe ein ſehr
beitiges Temperament haben, wodurch er zu einer
folchen Thorheit getrieben werden Ponte. Denn jene
Handlung wäre die That eines Wahnfinnigen, und
der Wahnſinn har im heftigen Wallungen des Bluts
ſeinen Grund, nicht in dem Willen.
$) Die Erziehung, die Geſetzgebung im State,
Die Moral, die Religion, fegen fämtlich den not hwen⸗
digen Determiniemus voraus. Woju dieſe, wenn
man ihnen nicht eine Kraft zutraute, die Triebe, Be⸗
gierten und Leidenſchaften der Menſchen zu baͤndigen,
und ihr Thun und Laſſen zu beſtimten ihrem Wohle
heitſamen Zwecken binzulenken? Die Religion in
allen Ländern lehtt das Daſeyn eines nothwendigen
Weſens, defien unmiderftehlichem Willen das ganze
Menſchengeſchlecht und die Natur überhaupt unterwors
fen find, und das ihr Schickſal nad) ewigen Geſetzen
einer unveränderlichen Weisbeit anordnet. Iſt nicht
der Get, welchen die Menſchen anbeten, der unums
ſchraͤnkte Herr ihrer Beftimmung? ft er .es nicht,
der au serwaͤhlt, und verwirft? Sind die Drohungen
und Nerheißungen felbit, welche die Religion an die
Stelle der wahren Motive fegt, deren fich eine vers
nünfticye Politik bedienen follte, nicht: auf die Idee
der Wirkungen gegründet, welche dieſe Chimaͤten noth⸗
J wen⸗
I
während‘ d. achtz. Jahrhund. 5. auf Kant, 111
wendig ber; unwiſſenden, furchtſamen, twunderfüchtis
gen: Menſchen hervorbringen muͤſſen? Endlich frage
der Verfaſſer: Rene wohlthaͤtige Gottheit, die ihre Ge⸗
ſchoͤpſe in’s Daſeyn rufe, zwingt ſie dieſelben nicht,
ohne Wiſſen und Willen derſelben eine Rolle zu. fpies |
den, woraus ewiges Gluͤck oder Unglück für dieſe ent⸗
fptinge ?” | |
6) Wenn der Menfch zu allen feinen Handlun⸗
gen determinirt wird, haben einige Vertheidiger der
Freyheit behauptet, fo werden Werdienft und
Schuld zu Ungereimtheiten; Belohnungen und
Strafen find Thorheiten und Graufamkeiten; was
gleichwohl der gefunden Vernunft widerfpricht. Dies
Argument war e8 vorzüglih, das man auch in Eng»
land dem Fatalismus des Prieſtleyh entgegenfegte.
ı Der Verfaffer des Syſtems der Natur leugnet
feingrfeits , daß jene Begriffe, Verdienſt und Schuld,
Belohnung und Strafe, ihren Sinn und Zweck vers
lieren, und daß von diefee Seite das Syſtem bes
Fatalismus dem State irgend gefährlich fey ober wers
den koͤnne, fobald man daefelbe und jene Begriffe
nur recht verſtehe. Die Zurechnung einer Hands
fung beißt, daß man fie Jemandem als Urheber ders
felben beylegt. Dies kann gefchehen , wenn man auch.
Annimt, daß diefe Handlung eine Wirfung der Noth⸗
wendigfeie war. Wir verbinden die Begriffe von
Verdienſt und Schuld mit gemiffen Handlungen, we⸗
gen heilfamer oder nachtheiliger Wirkungen, welche
fie für Andere haben. KHandelte auch Jemand aus
Nothwendigkeit, fo wird darum feine Handlung
nicht weniger gut oder ſchlecht, ruͤhmlich ober
tadelhaft für alle diejenigen ſeyn, die ihren Einfluß
empfinden, danach fie den Beyfall oder die Misbii⸗
£ ligung
112 Geſchichte der neuern Philoſophie
ligung dieſer erweckt. Nun ſollen die Geſetze die Ge⸗
ſellſchaft in ihrem Beſtande erhalten, und die Glieder
derſeiben hindern, ‚einander zu ſchaden. Dazu bes
darf es aber für die Gefeßgebung bloß der Suppofis
tion, daß die handelnden Weſen modificire werden
innen, Die Strafen find Motive, welche uns die
Erfahrung als wirffam kennen lehrt, um die Antrie⸗
be der teidenfchaften auf den Willen der Menfchen zu
unterdrücken oder zu ſchwaͤchen. Mögen nun bie Lei⸗
denfchaften herrüßren, aus welcher nothwendigen Urs
ſache fie wollen; der Gefeggeber nimt ſich vor, ihre
Wirkungen zu vereiteln und zu hemmen; er gebraucht
die Strafen dazu, und wenn er diefe zweckmaͤßig ges
- braucht, Pann er eines glücklichen Erfolges ficher feyn.
Pas auch für eine Urfache die Menfchen handeln läßt,
jeder hat ein Recht, die Wirkungen threr Handlungen
zu hindern, fo wie Jeder, dem ein Fluß feinen Acker
überftröme, ein Recht hat, diefen durch einen Damm
einzufchränfen, oder gar den ganzen Fluß, wenn er
kann, abzuleiten. Vermoͤge diefes Rechts, fann die
Geſellſchaft drohen und frafen, um ihre Gluͤckſelig⸗
keit vor folchen Gliedern zu fichern, die faͤhig wären,
fie zu beeinträchtigen, oder fie wirklich beeinträchtigen.
Freylich darf die Gefellfchaft Handlungen nicht
beſtrafen, an denen der fogenannte freye Wille feinen
Ancheil hatte. Aber man muß wiederum diefe for
genannten unmwillfüßrlichen Handlungen nur
wicht misverſtehen. Der Wahnfinn ift ohne Zweifel
ein unwillkuͤhrlicher und nothwendiger Zuſtand, aber
Niemand finder es doch ungerecht, den Wahnfinnigen
ihre. Freyheit zu nehmen, obgleich. ihre Handlungen
nur der Zerruͤttung in ihrem Gehirne zugefchrieben wers
den koͤnnen. Wiewohl die Geſellſchaft ———
| che
während d. achtz. Jahrhund 6. auf Kant. 113
che Handlungen nich beſtraft, fo folge daraus nicht,
daß fie nicht determinieg waren. Sie waren allers
dings determinitt. Es trat bloß der Fau ein, daß
die Motive, welche die Gefeße fchädlichen Handlun—
gen in den Weg legen, diesmal nicht auf den Hans
beinden wirken konten; anſtatt daß wenn fie auf ihn
gewirfe hätten, er die Handlung tnterlaffen haben
würde, und nur aus diefem Grunde wird die Hands
lung verziehen. Das Spftem des Fataliemus hat
alfo Reinesmweges, wie man ihm ſo oft vorgeworfen
bat, leichgültigkeit gegen Werbrechen, gegen die
Gefuͤhle der Ehre und Schande, zur Folge Jeder
Verbrecher weiß, daß fein Verbrechen. ihm felbft und
Andern fchaden werde; und dieſes Bewußtſeyn muß
feine Gleichgültigfeie aufpeben. Die Gefühle der
Neue und Schande find fehmerzhafte Empfindungen,
welche die Wirkungen unfers Thuns und Laffens in
Hinſicht auf die Gegenwart oder Zukunft in uns bers
vorbringen. Die Furcht vor diefen ift alfo ein Mo—
tiv, fchlechte Handlungen nicht zu begeben, um ung
jene Empfindungen zu erfparen. Warum folkte beym
Syſteme des Fatalismus nicht dieſe Futcht dieſelbe
bleiben, und denſelben Effeet haben?
Diche mehr Grund hat ein anderer Vorwurf,
der. dem Syſteme des Faralisinus gemacht wird, daß
es die Menſchen überhaupt: in Apatbie verfenfe, “und
die Bande auflöfe, welche an das Intereſſe der Ges
fellfchaft fnüpfen. Geſetzt auch, daß man die Innigs
fie Ueberzeugung hegte, die Uebel, die man feibft deis
ber, oder. von denen man bey Andern Zufchauer ift,
ſeyen nothwendige Zolgen natürlicher Urſachen und
Verhaͤltniſſe; ſo wird man doch nichts. defto weniger
den Urſachen ſowohl der eigenen Uebel, als der Uebel
—
uhleo Geſch d. Philof. VL. | 5 uns
Eu
ar Geſchichte der neuern Philoſophle
unſerer Nebenmenſchen abzuhelfen oder vorzubauen
| fuchen, |
Wie die Lehre von der Freyheit, bemuͤht ſich der
Verfaſſer des Syſtems der Natur auch die gangbaren
Meynungen von der Immaterialität und der Uns
fterblichkeie der Seele noch umfiändlicher zu wis
derlegen. Der Wunfch nach Fortdauer entfpringe im
Menfchen ganz natürlich aus der Tendenz eines ent:
pfindenden Weſens, die varauf gerichtet ift, fich ſelbſt
erhalten zu wollen, und’ die fehr leicht die Taͤuſchung
erzjzeugt, oder wenigftens beguͤnſtigt, daß es ſich wirks
Lich immer erhalten werde. Aber der Menfch wünfche
ja auch, feinen Körper zu erhalten, und doch fießt
er diefen Wunfch vereitelt; er wünfche, reich zu wers
den, und wird es nicht; wie follte es ihm mit dem _
Wunſche der FZortdauer nach dem Tode in Unfehung
der Realifirung desfelben beffer ergehen?
Unfere Seele ift nichts weiter als ein Prineip.
der Empfindlichkeit. Denken, Genießen, Leis
den, iſt ein Empfinden. Das ganze eben ift ein Ins
Begriff von Mobificarionen oder Thätigfeiten, wie fie
einem organifirten Weſen zukommen. Gobald diefes
organifirte Wefen, der Körper, zu leben aufpört, kann
die Empfindlichkeie ſich nicht mehr äußern; es kann
alſo auch Feine Vorſtellungen, und folglich feine Ges
danken mehr haben. Alle Vorftellungen empfangen
wie durch. die Sinne; wie fönnen wir fie fernec em⸗
fangen, wenn die Sinne nicht mehr erifticen? Bei
rachtet man die Seele als ein von dem befeelten Körs,
per getrenutes Weſen: warum betracheee man niche -
auch das. teben als eine von. dem lebenden Körper abs
gefonderte Subſtanz? Das organifirte Weſen über;
haupt laͤßt ſich mie einer Lie: vergleichen. —— |
* > einma
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant: 115
einmal zerbrochen, fo iſt fie nicht mehr zu dem Zwecke
zu gebrauchen, wozu fie beſtimt war. Behaupten,
daß die Seele nach dem Tode empfinden, denken, ges
nießen, leiden werde, heißt behaupten, daß eine im
tauſend Stuͤcke zerbrochene Uhr fortfahren koͤnnue, zu
geben und deu kauf der Stunden anzuzeigen. Mer
uns überreden will, daß die Mopvificationen eines
Ryan erhalten werden mögen, obgleich die Subs
nz desfelben vernichtet fen; behauptet, daß Qualis
ren ohne Subjece eriftiren Pönnen, was eine offens -
bare Ungereimtheit iſt.
Die Theologen erwiedern hierauf freylich, daß
die Erhaltung der Seelen nach dem Tode des Koͤrpers
eine Wirkung der goͤttlichen Allmacht ſey. Aber dies
heiße eine Ungereimtheit durch eine willkuͤhrliche Hys
potheſe unterftügen. Wie man fich auch die görtliche
Allmacht denfen mag; fie kann nicht bewirken, daß
ein Ding zugleich fey, und nicht ſey; fie kann niche
bewirken, daß eine Seele empfinde oder denke, ohne
Die norhwendigen Mittel, wodurch allein fie zu em
‚pfinden und zu denken vermag.
Der Verfaffer gebt noch weiter, Er fucht daes
zuthun, daß die Hoffnung der Unſterblichkeit nicht nur
gar nichts Tröftliches in der That fire die Menfchen
babe, niche nur die Furcht vor dem Tode gar nicht.
aufbebe oder mindere ; fondern vielmehr dieſe noch
vergrößere durch allerhand religiöfe Vorurtheile die
mit ihr in Verbindung geſetzt werden.
Sao uͤberzeugt auch Jemand von der Wahrhen
und Realitaͤt der Ausſicht in eine ſelige Zukunft ſeyn
mag; fo fuͤrchtet er ſich doch, und zittert, wenn er at
- Die Auflöfang feines Körpers durch den Tod denkt
Die Hoffnung der Unſterblichkeit nügt ihm alfo bier⸗
in zu nichts. |
ni & 2 Aber
116 Geſchichte der neuern Philoſophie
Aber warum fuͤrchten denn die Menſchenden
Tod? — Es find zwey Haupturſachen, die dazu bey⸗
tragen. Die eine iſt, daß gewoͤhnlich heftige Schmer⸗
zen den Tod begleiten, und daß er den Menſchen eine
Exiſtenz raubt, die ihnen angenehm iſt, an die ſie
gewöhnt ſind. Die andere iſt die Ungewißbeit des
Zuftandes, der auf Die gegenmärtige wirkliche Exiſtenß
folgen wird. Diefen Urfachen der Todesfurdht kann
man inzmifchen durch. eine vernünftige Erwägung ders
ſelben ſehr teicht begeguen. Man betrachte den Tod
nur aus dem Gefichtspuncte eines norpwendigen Mas
turzwecks. Wenn das Leben ein Gut ift, und wir.
genörhigt find, es zu lieben; fo. ift es nicht minder
norhwendig, es zu feiner Zeit zu verlaffen, und bie
VBernunfe muß uns lefren, und in den Willen des
Schickſals ruhig zu ergeben. Ein großer Mann ers
Plärte die Philofopbie für. eine Betrachtung
des Todes, Er wollte damit nicht fagen, daß wir
uns beſtaͤndig mit der traurigen Befchäfftigung unters
halten müßten, an unfer Ende zu denken, und das
Schrecken des Todes zu nähren; vielmehr er mollte
einladen, uns mit einem Gegenſtande vertrauter zu
machen, den die Matur uns als norhmwendiges Zieh
vorgefteckt hat, und ihn mit heiteree Stirn zu ev
warten. | J | |
In Hinſicht auf den Zuſtand nach dem Tode hat
ſchon Baco bemerkt, daß die Menſchen den Tod
aus demſelben Grunde fuͤrchten, aus welchem Kinder
nicht gerne im Dunkeln ſind. Wir mistrauen Al⸗
lem, was wir nicht kennen, und ſcheuen es. Wie.
wollen deutlich erkeunen, um uns vor Dingen zu vers
wahren, die unfer Wohlſeyn bedrohen, und uns fol
che zu verfchaffen, die uns nüglich und angenehm ſeyn
5 22 u koͤn⸗
—
‚während ds arhtz. Jahrhund. b. aufiffant. 117
koͤnnen. Der lebende Menfch- kann ſich das Micht⸗
daſeyn gar nicht vorſtellenz der Zuſtand nach dem Tos
de beunrußige ihn. .alfo;::und aus Mangel: an wirklis
cher Erfahrung arbeiter nun feine Phantafie, ihm .jes
nen ungemiffen Zuftand gut oder übel vorzumahlen.
Gewohnt zu empfinden , zu denfen, thätig,: in gefells
ſchaftlichem Verhaͤltniſſe und Genuſſe zu ſeyn, ſcheint
ihm die Aufloͤſung durch den Tod das groͤßte Ungluͤck,
das ihn aller Freuden des Lehens berauben wird, um
ihn in das Nichts herabzuſtuͤrzen.
Indeſſen find doch dies alles leere Einbildungen,
Ein tiefere Schlaf kann uns das mwahrfie Bild von
unferm Michtfegn nach dem Tode geben. Er raube
auch uns Alles, er vernichtee uns gleihfam für. die
Melt, und die Welt für ung. Und ift der Tod etwas
anders, als ein tiefer und dauernder Schlaf? Bloß
‚weil der Menfch fich Feine wirkliche dee vom Tode
‚machen kann, fürchtet er ihn; koͤnte er jenes, würde
er von dem Augenblicke an ihn zu fürchten aufhören.
Da er inzwifchen von einem Zuftande gar feinen Bes
griff bat, wo er nicht empfindet; fo wähne er doch,
er werde, auch wenn er nicht mehr eriftire, doch noch
Bewußtſeyn diefes feines traurigen Zuftandes habenz
er waͤhnt, fein Begräbnig und fein Liegen im Grabe
eben jo zu fühlen, wie er es lebendig fühlen würde,
O Sterbticher , ruft der Verfafjer. aus, wie verblens
det dich deine Furcht! - Mach deinem Tobe werden deis
ne Augen nicht mehr fehen, deine Ohren nicht mehr
Hören; in deinem Sarge wirft du nicht ein Zeuge des
Leichenbegaͤngniſſes ſeyn; du wirft an Allem, was. man
mit deinem entfeeltew.teichname macht, fo wenig Theil
nehmen, wie du den.Zag vor deiner Geburt au eu
was Theil nehmen konieſt, — heiße aufboͤ⸗
ve,
18 Geſchichte der neuern Philoſophie
ren, zu ‚empfinden. und zu. denken, zu geniefien und
. zu feiden; . deine. Ideen werden mit die verfihwins
den; deine Leiben werden bir. ——— in's Grab nach⸗
lolgen. es
Härte auch die Hoffnung der Lnfterblichkeit em
was Tröftliches, und Lönte fie wirklich die Furcht vor
dem Tode mindern; fo find doch fo viel abergläubis
fche refigiöfe Vorurtheile mit jener vergefellfchafter,
daß der Gedanke des Todes durch fie noch um Vieles
: empörender und quälender wird. Die pofitive Nelis
gion flelle uns den Tod als den furchtbarften Augens
blick vor, der niche nur ‚allen unfern Vergnuͤgungen
ein Ende macht, fondern auch uns hülflos der uner⸗
hörten Strenge "eines - unerbittlichen Deſpoten überlies
fert, deſſen Richterſpruch nichts. zu mildern vermag.
Mach ihr ift der tugendhafteſte Menfch nie ficher, daß
er der Gottheit wohlgefällig feyn werde; er hat Ur⸗
fache, vor der Strenge ihres Gerichts zu zittern.
Schreckliche und ewige Büßungen erwarten die Opfer
ihres: Eigenfinnes, wegen unwillkuͤhrlicher Schwäs
chen oder umnvermeidlicher Vergehungen, die ihren '
Zorn eneflamt haben, Dieſer unverföpnliche Tyranu
‚wird fie firafen, daß fie Triebe und Neigungen bes
friedigten, die er ſelbſt ihren Herzen einpflanzte; er
wird fie firafen wegen Irrthumer des Verſtandes, - wes
gen Borftellungen, Meynungen und $eidenfchaften,
die fie in. der Geſellſchaft empfiengen, in welcher er -
ſelbſt fie geboßten werden lieg. Er wird ihnen nicht
‚verzeihen, daß fie fein unbegreifliches Weſen verfanns
sen; daß fie wagten, felbfiftändig zu ureheilen ; daß
. fle fich weigerten, fchwärmerifchen betriegerifchen Fuͤh⸗
rern zu geborchen; daß fie die Stirn Gatten, ihs
ze eigene Vernunft zu Rathe zu a ‚die e —
leich⸗
—
während: d. achtj. Jahrhund. 5. auf Kant. 119.
gleichwohl, ertheilt hatte, damit. fie ihnen zum Leit⸗
fieene auf den Wege des Lebens dienen -follie,
Wenn man unbefangen diefe Vorurtheile übers
legt, welche die pofitive Religion mit ber Hoffnung
ber Unfterblichkeit verbindet, was hat denn diefe wohl
für vernuͤnftige Menfchen für einen XGereh? Und wie
kaun fie geeignet feyn, uns von der Todesfurcht zu
- befreyen, die ins Gegentheile durch fie erft unendlich
quäiend wird? Wollte man einmenben, daß, went
die Religion auf gleiche Weife den Guten wie den Boͤ⸗
fen die ewige Seligfeit verfpräche, boch jedermann
an das andere Leben glauben würde: fo antwortet bee
Derfaffer geradezu: daß die Religion auch den Boͤſen
den Himmel zyerfenne, fofern fie oft den unnüßeften
und fchlechteften Menfchen einen Plag darin angemies
fen habe *). Sie ſtaͤrkt die Leidenſchaften der Boͤſe⸗
wichter, indem fie Berbrechen legitimire, welche fie
ohne die Kirche fich gefürchtet und geſchaͤmt haben
würden zu begehen. Kurz die Priefter der pofitiven
Meligionen gewähren den vermorfenften Menfchen die
Mittel, um den Bannftrapl von ihren Häuptern abs
zumenden , und troß der ungeheuerften Sünden dens
‚noch. zur ewigen Seligfeit zu gelangen. .
Man Pönte landen, daß die Politik die Begriffe |
von Himmel und Höle nad) dem Tode für Gute Kon
öfe
) As Beyſpiele nennt er in einer Note (P.I. p.272) den
Mofed, Samuel, David bey den Juden; den
Mohammed bey den Mufelmännern; bey den Chris
fien. den Eonftantin, den Beil. Cyrillus, Atha—
nafius, Domiyicus, die Krenzbrüder, die Ligiſten,
et tant d'autres brigands religicux et ablẽs perſceu-
teurs, que l'Egliſa rivere. ;
24
120 Gefchichte der neuern Philoſophie
Boͤſe zur Sicherung der Geſetzgebung erſonnen habe,
und daß ſie wenigſtens hierzu heilſam ſehen. Aber
wie viel Menſchen moͤgen wohl durch die Furcht vor
einem kuͤnftigen Vergeltungszuſtande von lafterhafsen
Handlungen abgehalten werden? Diejenigen, die ſo
etwas vorgeben,’ hintergehen entweder uns, oder ſich
ſelbſt. Sie föpreiben der Furcht vor der Hölle zu;
was nut die Wirkung gegenwätriger Motive ift, wie
der Schwäche ihres Körpers, "der Difpofition ihres
Temperaments; der geringen Energie ihrer Seele,
ihrer natürlichen Schuͤchternheit, durh Erziehung
eingeprägter Sdeen und Maximen, der Beforgniß vor
den unmittelbaren phyfifchen Folgen ihrer Ausſchwei—⸗
fungen und fchlechten Handlungen. Dieſe find die
wahren Motive, wodurch fie zurückgehalten werden,
„nicht aber unbeftimte Begriffe von einem Fünftigen tes
ben, das die Menfchen, follten fie auch davon noch
ſo überzeuge feyn, doch jeden Augenblick vergeffen,
wenn ihr Intereſſe fie zur Suͤnde tif
‚Der Menſch, fagt der Verf. vielleicht sche
wahr, ann nicht vom Boͤſen zurückgehalten merden,
wenn er niche in fich felbft hinreichende Beweggründe
‚findet, die ihn zurückhalten, over zur Vernunft zurück
u fahren, Es giebt nichts weder im dieſer, noch in eis
ner anderen Welt, was einen. Menſchen tugendhaft
machen fönte, den eine unglückliche Organifation, ein
ſchlecht gebildeter Verſtand, eine verwahrlofte Phans
taſie, eingemurzelte Gewoßnpeiten, böfes Beyſpiel,
große Vortheile, von allen Seiten zum Lafter einladen, |
Keine Sperularion vermag einen Boͤſewicht abzufchreds
‚Sen, der der oͤffentlichen Meynung troßt, das Gefeg
verachtet , taub gegen die lauteſte Stimme feines Ges
wiſſens iſtz den aber feine Mache in diefer Welt —
tra
|
während d. achtz Jahrhund. 5: auf Kant. rer
Strafe und Tadel ethebt. Jede Idee einer entfern⸗
ten Vergeltung wird bey ihm weichen vor dem, was
er für fein unmittelbares geyenwärtiges Glück noth⸗
wendig findet. Jede heftige Leidenfchaft macht uns
blind für Alles, mas nicht ihr Object iſt. Die Schreßs
ken eines Fünftigen $ebens, deſſen Wahrſcheinlichkeit
unfere keidenfchaften immer zu verringern willen, vers
mögen nichts über einen Boͤſewicht, der die viel näs
beren Strafen der Gefege, und den gewiſſen Haß der
rer nicht achtet, die ihn umgeben. , Wer fih einmal
dem Verbrechen überläßt, hält nichts für gewiß, als
den Vortheil, um deffen willen er das Verbrechen bes
gebt... Alles übrige erfcheine ihm ſtets falfch oder pros
blematifch,
Der Meynung, die der Verfaffer des Syſtems
ber Natur von dem Werthe der. Unfterblichfeitelehre
batte, konte man nicht nur ihren Einfluß auf die Mos
- talität entgegenfeßen; fondern es blieb auch noch die
Frage uͤbrig: Wie denn die Triebe, Begierden und
teidenfchaften der. Menfchen zu regieren und zu bus
digen ſehen, wenn fie nicht. auf einen Pünftigen Vers
... geltungszuftand Ruͤckſicht naͤhmen? Der Verf. bes
bauptet, daß die. Erziehung, die Moral und die Ges
fege hierzu. völlig hinlaͤnglich ſeyen. Die Erziehung
es muß, den erfien Samen des Guten in's Herz legen;
ſie muß die ſich entwickelnden Keime desfelben pflegen;
die Neigungen und Faͤhigkeiten vortheilhaft richten
und bilden, die durch die individuelle Organiſation
beſtimt werden; das Feuer der Phantafle naͤhren, es
fuͤr gewiſſe Gegenftände entbrennen laffen, fiir andere
laoͤſchen und erſticken; fie muß endlich den Gemuͤthern
Gewohnheiten’ mittheilen, die für die Individuen und
* far die Geſellſchaft u find. Sind
Men:
*
222 Geſchichte der neuern Philoſophie
Menſchen fo erzogen, fo werden ſie der himliſchen
Belohnungen nicht als aufmunternder Preiſe der Tu⸗
gend beduͤrfen; man wird nicht noͤthig haben, ihnen
die brennenden Schluͤnde der Hoͤlle zu zeigen, um ih⸗
nen Abſcheu vor dem Laſter zu erwecken,
Eben fo wenig hat eine gerechte, aufgeklaͤrte, tu⸗
gendhafte, wachſame Regierung, die ſich aufrichtig
das gemeine Beſte vorfegt, noͤthig, Fabeln und küs
gen zu Hälfe zu nehmen, um vernünftige Unterthanen
zu regieren. Gie würde fih fhämen, Mittel zu
brauchen, um "Bürger zu täufchen, die ihre Pflichten
kennen, billigen Gefegen unterworfen find, und dag
Gute zu fchägen wiffen , das ihnen von der Regierung
bereitet wird. Gie weiß, daß die Achtung des Pus
Blicum’s mehr Einfluß. auf gut erzogene Menfchen hat,
als die Furcht vor dem Geſetze; daß die Gewohnheit
hinreicht, einen Abfchen felbft gegen folche Verbrechen
einzuflößen,, die im Werborgenen gefchehen und fich
der Bemerkung der Gefellfchaft entziehen; daß ſichtbare
Strafen in diefer Welt mehr auf rohe Menfchen wirfen,
als Androhungen derfelben in einer entfernten und uns
gewiffen Zukunft. Sie weiß endlih, daß die finns
lichen Güter, welche die höchfte Gewalt im State
verdienſtvollen Bürgern ertheilen kann, die Gemuͤther
der Menfchen unendlich mehr rühren, als alle die luf⸗
tigen Belohnungen, die man ihnen in einen Fünftts
gen Leben verfpricht.
4 Will die Politik jedie Idee von dem Leben nach
dem Tode zur Sicherheit der Gefeggebung, als Aus
reiß für die Bürger zur Tugend und zum Verdienſte
benußen; fo mache fie die Menfchen aufmerkſam anf
den. Nachruhm nach. dem Tode, und flärfe die Em⸗
pfänglichkeit, die jeder Meuſch für den Br
en
während; d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 223
ben hat. Niemand kann die Vorſtellung ertragen,
ganz aus dem Andenken ſeiner Mitmenſchen zu ver—⸗
ſchwinden; und Wenige haben den Muth, ſich uͤber
bie Urtheile der Nachwelt ganz hinwegzuſehzen, und
ſich in den Augen derſelben herabzuwuͤrdigen. Wer
iſt unempfindlich fuͤr das Vergnuͤgen, daß ſein Tod
denen Thraͤnen entlocken werde, die ihn uͤberleben,
daß ihre Seelen fih noch mit ihm beſchaͤfftigen, daß
er noch aus dem Grabe auf ſie wirken werde. Die
Moral und die Politik mögen alſo die, Bürger ans
feuern, fich ihren Eltern, Kindern, Verwandten,
Freunden, Hausgenoffen, perfönlich werth zu mas
hen; ſich Achtung bey ihren Mirbürgern zu erwerben;
treu ihrem Vaterlande zu Dienen, das ihnen ihr Wohl⸗
feyn fichert; Arbeiten zu übernehmen und auszufühs
ren, bie den Preis der Nachwelt erwerben; und fo
im Boraus den Reig’des Ruhmes zu genießen, den
fie nach ihrem Tode haben werden. Haben die Bürs
ger in diefer Stimmung gelebt und gehandelt; fo füns
nen und werden fie den Tod mit Gleichgültigkeit bes
trachten und mit Standhaftigfeit erwarten, und jene
ungemwifjen Hoffnungen der Zukunft, jene Furcht vor
ihren Schredden, den Träumen und Schwärmern
uͤberlaſſen. | | Mer
Es war confequent, daß der Verfaffer des Sy⸗
ſtems der Natur bey diefer feiner Philoſophie über die
Natur und Beflimmung des Menfchen insbefondre,
aud) den Selbſtmord nicht bfoß entfehuldigte, fons
dern fogar vertheidigte, vechtfertigte, und unter ges
wiffen Umſtaͤnden empfahl. Er dringt folgende Grüns
de für denſelben an: |
.. I) Die Verbindung des Dienfchen mit der Nas
tur iſt weder ſreywillig von feiner Seite eingegangen }
x. "ie nv
124 Geſchichte der neuern Philoſophie ">
noch gegenſeitig unter beyden. Der Wille des Mens
ſcheu harte keinen Theil an feiner Geburt, und gemei⸗
niglich wird er auch wider feinen. Willen gezwungen,
das Leben zu verlaſſen. Alle Handlungen. des Men⸗
ſchen find nothwendige Wirkungen unbekanter Urſa⸗
chen ‚die ſeine Willensaͤußerungen determintren. Er
iſt in den Haͤnden der Natur, was ein Schwerdt in ſei⸗
uer eigenen Hand iſt. Dieſes kann iin entfallen, ohne
daß man es beſchuldigen duͤrfte, es fen undankbar ger
Yen ibn, oder braͤche ſeine Verbindlichkeit. Mur um
‚ser der Bedingung, daß er glücklich iſt, fann der
Menſch fein Daſeyn lieben; fobald ihm die game
Matur die Gluͤckſeligkeit verfagt; alles, was ihn. ums
‚giebt, ihm beſchwerlich wird; traurige. niederfchlagens
de: Bilder fich ‚feiner. Phantaſie darftellen, darf. er eis
hen Poften verlaffen, dem er nicht entſpricht, und
wo es ihm an aller Unterſtuͤtzung gebricht; er exiſtirt
alsdenn fchon nicht mehr; er ſchwebt in einem leeren
Raume; er kann weder fich, noch Andern, weiter nüßs
lich feyn. ER EACH BER Er
I) Sieht man auf. den Vertrag, der den Mens
fchen mit der, bürgerlichen Gefellfehaft verbindet; ſo
ift jeder Vertrag bedingt und gegenfeitig; beyde Pars
. genen verfprechen fih Worrheile davon. Der Buͤr⸗
“ger hänge nur mie der Geſellſchaft, dem Vaterlande,
feinen Hausgenoſſen, zuſammen, ſofern er durch ſie
gluͤcklich iſt. Faͤllt N Bedingung weg, fo iſt er
in Freyheit geſetzt. Wie koͤnte man einen Menfchen
tadeln, der ‚feinen Aufenthalt in der Stadt. unnüß .
fände, fein Mittel haͤtte, ſich dort zu ernähren, und
nun in eine tiefe Einöde flüchtete, um hier feines Rum:
imers und feinee Sorgen ju- vergeffen?- Alſo auch mit
welchem Rechte tadelt man -Denjenigen; deu; ſich an |
ee 147,
während d. achtz Jehthund. b. auf. Kant, - 125.
Verzweiflung toͤdtet? Thut diefer etwas anders, ale
daB er fih von der Geſellſchaft entfern? Dee Tod
ift die einzige Rettung des Verzweifelten. So lange
dem Menfchen die Hoffuung bleibt; fo lange ihm feis
ne wirklichen oder eingebilderen Leiden nicht unerträgs
lich ſcheinen; fo lange er fich fchmeichele, fie werden
ein Ende nehmen, und es werde noch eine angenehme
Eriftenz fie ihn folgen, wird er fih auch nicht des
tebens berauben.. Aber wenn nichts mehr die Liebe
zu Daſeyn im ihm näpre, dann ift ihm das Leben
die druͤckendſte Buͤrde, umd Sterben erfcheine demjer
nigen als: Pflicht, der fi ihrer zu entledigen fucht,
- Eine Gefellfhaft, die uns das Sur, defien wir bes
duͤrfen, nicht verfchaffen kann oder will, verliere alle
ihre Rechte auf uns; eine Natur, Die daben beharet,
unfer Daſeyn eleud zu machen, befiehlt uns, dass
feibe zu verlaſſen. Indem wir flerben, erfüllen wie
einen ihrer Beichke, wie wir bey der Geburt gerpan
haben.
Man hat von diefen Grundfäßen über die Rechts
maͤßigkeit ind Zuläffigkeit des Seibſtmordes, meynt
der Verfaſſer, nichts zu fürchten. Solche Grunde
fäße find es nicht, Die die Menfchen beſtimmen, fo
gewaltfome Maaßregeln zu ergreifen. Es ift ein Durch
Kummer und Sorgen verdorbenes Temperament, eine
gallichte und melancholifche Conſtitution, ein. Fehler
in der Organifarton des Körpers, eine Unordnung im’
der gefamten Mafchine; kurz es ift die Nothwendig—⸗
- Reit, und nicht eine raifonnirende Speculation, wel
che in: einem Menfchen den Entfchluß erzeugt, fich
ſelbſt zu enzleiben. Richts verführe zu diefem Schrit⸗
te, fo lange Jemand Bertiunfe, oder Hoffnung, dies
fen. Balfam für alle Leiden, hat. Der Unglückliche,
| . der
126 Geſchichte der neuern Philoſophie
der ſeinen Kummer und ſeine Schmerzen nie aus den
Augen verliert, vor deſſen Geiſte nur der Gedanke an
Leiden ſchwebt, kann auch nur von dieſen allein Mo—⸗
tive des Entſchluſſes annehinen. Ueberdem welchen
Vortheil, welche Huͤlfe, kann ſich die Geſellſchaft
von einem Ungluͤcklichen verſprechen, der zur Ver⸗
zweiflung gebracht iſt, von einem durch Trautigkeit
niedergebeugten, durch Gewiſſensbiſſe gefolterten Mis
fanehropen, der keine Beweggründe mehr hat, Ans
dern nüßlich zu werden, der fich felbft aufgiebt, und
Fein Intereſſe mehr daran finder, feine Tage zu vers
längern? Wuͤrde die bürgerliche Gefellichaft, frage
der Verfaſſer fogar, nicht viel glücklicher fen, wenn
man alle Böfewichter überreden Lönte, fich dem Ans
blicke des Publicum’s zu entziehen, damit nicht die
Gefege genörhige würden, fie zu vertilgen? Würden
ſelbſt diefe Böfewichter nicht viel glücklicher fegn, went
fie dee Schande und den ihnen beſtimten Strafen zus
vorfommen wollten und dürften, die ihnen die Ges
fege zuerkennen.
Doch eine hierher gehörige, ohne KHinficht auf
die Rechtmaͤßigkeit des Selbftmordes, am fich fehr ges
gründete Bemerkung des Verfaſſers will ich anfüßs
ten. Nichts ift für den Star erfptießlicher, als ben
Bürgern Verachtung des Todes überhaupt einzuflös
fen, und die falfchen Ideen aus ihren Gemuͤthern zů
verbannen, welche fie von den Folgen desfelben haben,
Die Furcht vor dem Tode muß nothwendig die Voͤl⸗
fer feig machen; und die Furcht vor feinen Folgen
muß Fanarifer und melancholifche Froͤmler berwors
bringen, die fich felöft und Andern zur Laſt ſind. Dee
Tod iſt eine Zuflucht, die man der unterdrückten, durch
die, Ungerechtigkeit der Menfchen oft in
geſturz⸗
. während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 127
geſtuͤrzten, Tugend nicht entziehen muß. Wenn die
Menſchen den Tod weniger fuͤrchteten, wuͤrden ſie
weder ſelaviſch, noch abergläubifch feyn. Die Wabhr⸗
beit würde die eifrigften Vertheidiger finden, die Rech⸗
se des Menſchen würden auf das murhigfte und flands .
Haftefte behauptet, die Irrthuͤmer auf’s kraͤftigſte bes
ſtritten, und die Tyranney würde von allen Natio⸗
en verbannt werden; anftart daß Feigheit und Furcht
famfeit das Gegenteil bewirken. Mit einem Wor⸗
se: Die Menfchen koͤnnen nicht zufrieden und glück
th ‚werden, folange ihr abergläubifcher Wahn fie
vor — zittern macht.
Ueberhaupt muß der Nutzen der einzige Maaß⸗
ſtab alter praktifchen Lircheile des Menſchen ſeyn.
Müglich feyn, heißt zum Wohle; Schädlich
feyn, Heiße zum Ungfücke feiner Mitmenſchen beys
tragen. Wenn der Menfch in jedem Augenblicke feis
nes Lebens feine Gluͤckſeligkeit fucht; fo darf er auch
nichts misbilligen, als was ihm dieſe felbft oder die
Mittel dazu verfchaff. Man nennt denjenigen Ges
genftand ein Intereſſe, «oder lege ihm ein folches
bey, an welchen der Menfch nach feinem Tenperas
mente und feiner Vorftellungsart den Begriff feines
Wohlſeyns knuͤpft. Miches har für uns ein wahres
und eigentliches Intereſſe, mas wir nicht. als norhs
wendig zu unferer Glückfeligkeit betrachten. Niemand
"in der Welt ift ganz ohne alles. Intereſſe; denn Mies
mand ift ganz ohne das Bedürfniß der Gluͤckſeligkeit.
Aber das Intereſſe eines Seden, des Guten wie des
Schlechten, des Vornehmen wie des Geringen, des -
Reichen wie des Armen, iſt verſchieden. Wenn alfo
das Intereſſe die einzige Triebfeder der menfchlichen
Handlungen iſt; fo Heißt das foniel, daß Jeder am
1,7433 der
1
128 Gefchichte der neuern Philoſophie |
der Beförderung feiner. Gluͤckſeligkeit auf feine eigene ..
Are arbeiter. In diefer Hinfiche, kann auch kein
Menfh unintereffire :(uneigennügig) genannt wer⸗
den. Mir geben Diefes- Prädicae bloß ſolchen Mens
fhen oder Handlungen, bey denen wir die wahren
Zriebfedern nicht - Bennen, oder deren. Intereſſe wir
billigen. : So nennen wir. einen Freund treu, edel
hebig, unintereffict, wenn er mehr durch das Vers
gnuͤgen gerührt wird, uns in unferm Ungluͤcke beys:
zuftehen , als unbrauchbare Schäße aufzuhaͤufen.
‚Kurz alle diejenigen halten wir für uneigennüßig, ‚die
für irgend einen Gegenftand, an welchen fie ihre Glücks.
ſeligkeit knuͤpfen, Anfopferungen machen, welche uns
zu koſtbar vorkommen, weil wir ‚jenem Gegenfiande
nicht denfelben Werch beymeſſen. Das Intereſſe Ans
derer, fo mie unfer eigenes, beurtheilen wir oft ſehr
unrichtig, bald zu ihrem und unſerm vermeynten |
Vortheile, bald zum Nachtheile.
Ein wirklich tugendhafter Menfch ift nur
derjenige, der beftändig das Intereſſe vor Augen hat,
die Zuneigung, Achtung und Hülfe Anderer zu vers
dienen, fo wie das Bedürfniß, fich ſelbſt zu lieben
und zu ſchaͤtzen; der voll von diefen ihm habituell ges
worden Ideen fich felbft geheimer Verbrechen enthaͤlt,
welche ihn in feinem eignen Urtheile erniedrigen würden,
etwa fo, tie Jemand, der von Kindheit auf zur’
Deinlichkeit gewoͤhnt ift, fi vor der Unfauberfeit
ſcheuet, auch 'wern er von Miemand bemerkt wird.
Dieſe Principien find nach dem Verfaſſer des Syſtems
der Naͤtur die wahre Örundfage der Moral. |
Nichts iſt chimaͤriſcher, als ein Moralbtisei
das: ſich auf eingebildete Gründe ſtuͤtzt, die man aus.
berhalb die Natur verfeße, ‚oder auf angebohrne er
lehtze,
waͤhrend d. achtz. Jahthunde b. auf Kant. 129
ſetze, die vor aller Erſahrung hergehn, und von den
ortheilen, welche aus unſeren Handlungen fuͤr uns
euntſpringen, unabhaͤngig ſeyn ſollen. Es gehoͤrt zum
Weſen des Menſchen, ſich ſelbſt zu lieben, ſich er⸗
halten zu wollen, ſich ein angenehmes Dafenn zu verr
ſchaffen; alſo ift auch das Auterefje, over das
Streben nah Ölücfeligfeit, das einzige Prins
eip aller feiner Handlungen. Diefes Jutereſſe häuge
aber von feiner natürlichen Organifation, feinen. Bes
bürfniffen,. Kentniſſen und Gewohnheiten ab. Er
äft ohne Zweifel im Irrthume, wenn eine fehlerhafte
Drganijation, oder falſche Meynungen, ihn fein Wobl⸗
ſeyn in. Dingen fuchen laflen, welche ibm oder Ans
dern unnüß oder gar fchädlich find. Hingegen mans
delt er auf dem fichern Pfade, zur Tugend, menu er
nach, richtigen Ideen feine Glückfeligfeit in ein Bes
tragen ſetzt, das feinen Mitmenfchen und ihm ſelbſt
wahrhaft nüglich.ift, das deswegen auch) Andere. bifs
ligen, fo daß, es für diefe felbft ein Gegenftand des
Intereſſe's wird.
Mur duch Tugend kann der Menſch
glüclich werden. Ohne Tugend kann die Ger
Feufchaft weder Mugen bringen, noch auch fubfifttr
ren; wirkliche Vorcheile Pönnen nur mit ihr verbung
ben ſeyn, wenn fle aus Gliedern zuſammengeſeht If;
von dem Verlangen befeele, einander gefällig uf ,
Uund für ihr gegenfeitiges Wohl zu mirden. ' Zihdee
Diefes Wohlwollen der Bürger gegen einander nicht
flate‘, fo kann auch der Stat nicht gedeihen; er ges
waͤhrt alsdenn den Individuen Peine Gluͤckſeligkeit;
fo wenig eine Familie diefelbe ihren Angehörigen ges
waͤhrt ‚ wenn dieſe mit einander unfriedlich und feinds
ſelig Ieben.
‚Buble's Geſch d. Philoſ. VI.2. S an
‘
#
130 Geſchichte der neuern Philoſophie
Man kann hier freylich einwenden, daß die Tu⸗
gend ſehr oft nicht vergolten, mit Ungerechtigkeit, Uns
danke, belohnt werde, und alſo ihren Zweck nicht er⸗
feiches dagegen das Laſter ungeſtraft bleibe und rrium⸗
phirt. Die Staten werden hicht felten durch Mens
ſchen regiert, melde Unmiffenheit, Schmeidheley,
Vorurtheile, Misbraud und Straflofigkeit der hoͤch⸗
ſten Gewalt, die fie in Händen haben, zu Feinden
der Tugend macht; die daher ihre Achtung und Wohl
thaten an unmürdige Unterthanen verſchwenden; nur
unnuͤtze, überflüfige oder gar fchädliche Qualitäten
‚belohnen, und dem Verdienſte die Gerechtigkeit vers
weigern, die ihm gebührt: Uber der tugendhafte
Mann teachtet auch hiche nach der Belohnung oder
dem Beyfalle einer fo ſchlecht conftituirten Regierung.
Zufrieden mit feinem häuslichen Gluͤcke fucht er nicht,
feine äußern Vechaͤltniſſe zu vervielfältigen, Die nur
feine Gefahren vervielfältigen würden. Er weiß, daß
eine laſterhafte Gefellfchaft ein Wirbel ift, im wels
chem der tugendhafte Mann fich nicht mit herumbres
ben kann; er. hält ſich in der Entfernung weit von
dem Gerimmel, wo er zuverläfjig erdruͤckt werden
würde. So viel er fann, thut er Gutes in feinem
Wirkungskreiſe. Den Böfen, die mit einander auf
deu Rampfplaß treten wollen, läßt er freyen Spiels.
raum. Er bedauert die Mationen, die durch ihre
Jerthuͤmer ungluͤcklich werden, und durch die Leiden⸗
ſchaften, welche die natürlichen und nothwendigen Fol⸗
gen derſelben ſind. Solche Nationen koͤnnen nur aus
unglücklichen Bürgern beſtehen, die ferne von dent Ö&
danken an ihr wahres Intereſſe, ferne von dem Be⸗
fireben zu ihrem gegenfeitigen Wohle, ferne von der
Einſicht, mie werth ihnen die Tugend ſeyn müßte,
fi offenbar befehden, oder einander heimlich ſcha—
den,
—
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 131
den, und eine Tugend verabſcheuen, die ihre regello—
fen geidenfchaften einfchränfen würde. Wenn es au -
nach dem Spfteme der DMarur heißt, daß die
* Zugend ihre eigene Belohnung fey; fo fol dieß nur
fo viel fagen, daß in einer Geſellſchaft, deren Zwecke
und Handlungen durh Wahrheit, Erfahrung und
Vernunft beitime werden, auch jeder Menich ſein
wahres Jurerejje kennen, den Zweck der Geſellſchaft
richtig faſſen, und alfo auch reelle Borrheile oder Mos
tive für ſich felbft finden würde, um feine Pflicht zu
tbun, Andere glücklich zu machen, und feibft gluͤck⸗
lich zu werden.
Nah der Entmwickelung feiner — Vorſtel⸗
lungsart über die Principien der Natur und das Ver—⸗
aͤltniß des Menfchen zu eben diefer, unternimmt der Vers
affer eine Prüfung der älteren ſowohl, als der neueren,
entgegenftehenden Vorſtellungsarten, die den zweyten
Haupttheil des Syſteme de la nature ausmacht. Er
fucht bier zuoörderft den Urſprung unferer Ideen von
der Gottheit aufzuffären, und bemüht ſich, darzus
tbun, wie hierin die Veranlaffungen zu den mannich—
faltigen Religionen und religloͤſen Mythologieen bes
Alterthums liegen.
Das Hauptrefultat iſt: Ungeachtet aller Beſtre⸗
bungen der menschlichen Phantafie,- die dee oder das
Bild der Gottheit über die Sphäre aller Naturdinge
“ und auch der Menſchheit jelbft zu erheben, Eonte fie
doch niche umpin, die Qualitäten aus der menfchlis
hen Natur felbft zu entlebnen, welche fie den vers
meynten Urheber und DMegenten des Liniverfums beys
legte. Dieſe menfchlihen Qualitäten aber ,- da fie
mie einander im Widerfpruche fteben, und miche eis
‚em und demſelben Weſen ze fönnen, bewir⸗
44 2 — ken
I
‚132 Gefchichte der neuen Philoſophie H se |
"kei nothwendis eine unvertraͤgliche Miſchuũg umb
das hat die Widerſpruͤche erzeugt, die von jehet in
der Theologie, in der Älteren, wie in der neueren, de
merklich waren. Die Theologen fühlten ſelbſt gar .
“wohl die unüberwindlichen Schwierigfeiten , weiche
mit ihren Gottheiten für die Vernunft verbunden wa⸗
ken. Sie konten ſich niche anders davon. befreyen,
als dadurch, daß fie allen Gebraud der Ber
nunft unterſagten, die Geifter der Marion: bien
deren, "die fhon am ſich fo verworrenen und widet⸗
ſtreitenden : Borftellungen noch confufer und verwickel⸗
‚ tee machten, und fo thr ganzes Religionsweſen ld
einer Wolfe umpüllten, wo das Innere unzugaͤnglich
wurde, und es ihrer eigenen Phantafie überlaflen blieb,
das raͤthſelhafte Wefen zu erklären, das die Wölfe
anderen follten. Für diefen Zweck erweiterten fie de
Begriff der Gottheit immer mehr und mehr. Weder
Zeit, noch Raum, noch die ganze Natur, konte feine
Unermeßlichfeit, umfaffen. Alles wurde bey ihm ein
unergruͤndliches und unverſtaͤndliches Geheimniß.
Obgleich der Menſch anfangs die vornehmſten
Zuͤge, aus denen er das Bild feiner Gottheit jufams
menfeßte, von fich ſelbſt hernahm; obgleich er daraus
einen mächtigen, neidifchen, rachſuͤchtigen "Monats
chen gebildet. hatte, der ungerecht ſeyn konte, ohne
doch feine Gerechtigkeit zu verlegen, and kurz, DEE
den verfehrteften Regenten glih; fo verlor doch "die
Thveologie nach und nach, durch ihre Träumereyen vers
leiter, die menfchliche Natur ganz aus dem Gefichtez _
‚und um die Gottheit möglichft verfchieden von ihren
eigenen Gejchöpfen darzuftellen, gab fie derſelben Eir
genſchaften, fo wunderbare, fo feltfame, fo’ entfernt
von Allem, was der menfchliche Verſtand faſſen -
| e⸗
4*
—
+ a
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 133
begreifen kann, da ß fie ſich ſelbſt darin verlor. Sie
waͤhnte ohne Zweifel, daß jene göttlichen Eigenſchaf—
gen eben deßwegen göttliche wären, meil fie nicht bes
griffen werden fonten, und hielt fie eben darum für der
Gottheit würdig und angemeffen, weil fich der Menſch
‚gar Feine Borftellung davon zu machen vermochte.
Die Theologie brachte es auch in der That fo
‚weit, die Menfchen zu überreden, daß man glauben
müffe, was man nicht begreifen Fönne; daß man
mie demuͤthiger Unterwuͤrfigkeit Syſteme annehmen
muͤſſe, die der Vernunft ſchlechthin widerſpraͤchen;
daß dieſe blinde Reſignation das angenehmſte Opfer
ey, was ſich einem phantaſtiſchen Regenten darrei
chen ließe, der nicht wolle, daß man von der Vers
. nunft, die doch fein eigenes Gefchen? feyn folte, Ge
brauch machte. Kurz man überzeugte die Menfchen,
daß fie nicht gefchaffen wären, dasjenige zu begreifen,
- was für fie unter allen Gegenftänden der Erkentniß
der wichtigfte fen. Die eheologifchen oder meras
pbyſiſchen Attribute Gottes find nichts ans
ders, als bloße Megationen von Eigenfchaften,
Die fich beym Menfchen und allen ibm befanten Dins
gen finden. Die Attribute follen die Gottheit von
Allem befreyen, was der Menfch an fich felbft oder
den ihn umgebenden Dingen Mängel, Schwächen
und Unvolllommenpeiten nennt. Die Unendlich
keit Gottes heiße nichts anders, als daß Er nicht,
wie dee Menfch und andre Dinge, einen Anfang ges
habt hat, und ein Ende haben wird. Die Unveräns
derlichfeit Gottes heiße, daß Er nicht, wie Alles
Uebrige, Veränderungen unterworfen iſt. Die Geis
ſtigkeit Gottes heißt, daß er von einem Weſen ift,
welches wir gar nicht begreifen, und das von Allem
Derichieden if, was wir kennen.
ſch ſt, * Au⸗
134 Gefchichte der neuern Philofophie na
Aus diefem verworrenen Inbegriffe negativer
Qualitaͤten entſpringt der theologiſche Gott, je _
nes metaphyſiſche Ganze, wovon es dem Men⸗
ſchen flets unmöglich feyn wird, fi eine. dee zu
machen, Wenn man- diefe Worte ohne Bedeutung
und Sinm mit einander verbindet, fo glaubt man, eine
Wiſſenſchaft von Gott zu Staude gebracht zu haben;
man wähnt, einen Gott zu denfen, indem man doch
nur eine Chimäre denkt. Man bildere fi) ein, daß
jene Qualitäten der Gottheit zukommen müßten, meil .
> fie feinem andern uns befanten Dinge zukommen ; man
Hlaubte, daß ein unbegreifliches Weſen auch unbe⸗
geeifliche Eigenfchaften haben müßte; und fo entftand.
jenes unerflärliche Phantom der Theologie, vor wel
chem ſie den Menfchen befieple, die Kutee zu beugen.
Aber alle diefe Eigenfchaften,, abgerechnet, daß
fit an ſich unvorftellbar find, fliehen unter einander, .
und noch mehr in ihrer Anwendung auf die Welt, in
einem Widerftreite, in melchem fie nothwendig
‚einander vernichten. Gore foll z.B. au ein guͤti⸗
ges MWefen feyn. Die Güte aber fchreiben wir nur
ſolchen Menfchen und ipren Handlungen zu, die einen
wohlthaͤtigen Einfluß auf uns Außen. Kann nun
wohl dem Heren der Matur in eben‘ diefer Bedeutung
Güte zugefchrieben werden? . Wenn Er Urheber al⸗
See Dinge ift, fo muͤſſen wir auch die «Kranfpeiten,
die Naturverwuͤſtungen, die. Hungersnoth/ die Krie⸗
ge, welche das menfchliche Geſchlecht aufreiben , auf
Ihn juruͤckfuͤhren. Gore ift es alſo, der dieß Elend
4
süber die Menfchen: verbreitet; umd wie verttaͤgt ſich
Dieß mit der Eigenfchaft der Güte? ' Wenn eine nachs
Naſſigenoder verrehrte Regierung · das Elend, adie:lims
ſruchtbarkeit , die Enmwölterung, die Pluͤnderung in
mei⸗
-
*
—
_ während: d. achtz. Jahrhund. 5. auf Kant. 135
meinem Vaterlande hervorbringt und vervielfacht; Mo
iſt hier die Güte Gottes in Beziehung auf diefes?
0 bleiben die göttlichen Abfichten (caufae finales),
die man in der Matur annimt, mnd die man als die
ſiaͤrkſten Gründe für die. Weispeit und Allmacht Gots
tes anfuͤhrt?
Man verſichert, Gott habe das Univerfum nur
für den Menfchen gefehaffen, und diefer fen beſtimt,
Regent der Natur zu ſeyn. Schwacher Menfh! ruft
der Berfaffer aus‘, dem ein Sandförnchen, ein Trops
‚ ‚fen Galle, einige Feuchtigkeiten an der unrechten Stels
‚Je, die Eriftenz und Regierung auf einmal rauben koͤn⸗
nen! ‚Du wähnft, daß ein.gütiger Gott Alles für
Dich gefchaffen habe? Du verlangft, daß die ganze
Matur Dein Gebiet fey, und kannſt Dich nicht ges
gen, ihre Bleinftien Stoͤße ſchuͤtzen? . Uber bemerkt
—Du nicht, daß jeden Augenblick ſich ‚feine Güte ges
gen Dich verleugnee? Bemerkſt Du nicht, daß bie
Thiere, die Deiner Herrfchaft untergeben ſeyn follen,
‚oft Deines Gleichen frefien, daß das Feuer fie, ver-
brennt, daß das Meer fie verfchlingt, daß bie Ele⸗
mente, deren Ordnung Du bewunderſt, ſie zu Opfern
ihrer furchtbaren und. fchrecklichen Unordnung machen?
Was ift das menfchliche Gefchleche in Vergleichung
mit der Erde? , Was ift diefe Erde in, Bergleihung
mie dee Sonne? Was ift biefe Sonne in Berglei-
‚hung mit dem zahlloſen Heere von Sonnen, die den
- ‚weisen. Raum des. Univerfums, ausfüllen? Sie find
wahrlich nicht beftime,, Dich durch ihren Anblick zu
exgoͤtzen, Deine Bewunderung zu erregen, wie Du
Dir einbildeſt. Sie ſind da, um den Plag einzus
nehmen, welchen die Nothwendigkeit ihnen anweiſt.
Kehre demnach zur Wahrheit zuruͤck, o Menfh! Cr
a. kenne
—
136 Geſchichte der neuern Philoſophie
Mine Deine wahre Natur und Werättniffer Dh
biſt ein Kind der Nothwendigkeit und des Schidfals,
wie es das Univerfum if. Der Verfaffer zeige nun
noch weiter das Wider ſprechende in den nörtlichen Ei⸗
genſchaften in ihrer Beziehung zur Welt und zum
Menſchengeſchlechte, worin ich ihm aber nicht folgen
Fann, „Die ganze, Argumentation gegen die gangbare
natürliche Theologie dreht ſich um die philofophifche
Unmöglichkeit einer Theodicke wegen des Uebels und
Böen in ber Welt herum. CHR
ie Verfaffer prüft hierauf die vornehmften Ber
weife für Bas Daſeyn Gottes, Als einer von
Der Welt —— profi wlichen Intelligenz,
ſowohl die fogenannten popularen, z. B. den aus dem
allgemeinen Glauben der Menfchheit an Götter -ents
Lehnten, welchen er ſehr bündig widerlegt, als auch
Die philoſophiſchen, befonders diejenigen, welche von
den neuern metaphyſiſchen Theologen vorgebracht ſind.
Er greift von den letztern zuerſt den Elarkeſ hen
Beweis an. Das Raifonnement Clarke’ s- war:
Es muß nothwendig Etwas von Ewigkeit exiſtirt ha⸗
ben. Dieſes Weſen mug unabhängig und unveräns
derlich ſeyn; denn dies folge unmittelbar ans feiner
nothwendigen Exiſtenz von Ewigkeit her. Eben dies
ſes Wefen eriftirt durch ſich ſelbſt, weil es in Beinem
andern feinen Grund haben kann. Die innere Mäs
ur eines folchen Weſens, das nothwendig durch ſich
H6ft eriftice, iſt unbegreiflih. So wie aber ein noth⸗
yendig durch ſich ſelbſt exiſtirendes Weſen ewig iſt,
Fo iſt es auch nothwendig unendlich, aligegenwäriu
einzig, es muß die boͤchſte Intelligen, ein boͤchſt freheo
au.machtiges, allweiſes,gerechtes/ guͤtiges wahr⸗
haftes Wefen u. w. ſehn.
he — Die
* d. at — 4. * Kant. — |
Die erſten Säge giebt der Verfaͤſſer zu, foferm
* von einem ewigen durch ſich vorhandenen not hwen⸗
digen Weſen, von der Natur, die Rede iſt. "Aber
er verwirft die Folgerungen, daß dieſes Weſen eine
Sutelligenz ſeyn, und die boͤchſten moraliſchen
Bollkommenheiten haben muͤſſe. Sobald man die
Sottheit ats Intelligenz darſtellt, räume man
ihr eine menſchliche Qualitaͤt ein. Die Intelligenz
iſt eine Eigenſchaft gewiſſer organiſirter und belebter
Weſen, die wir außerhalb dieſen Weſen weiter gar
sticht kennen. Um eine Intelligenz zu ſeyn, muß
man denken; um zu denken, muß man Ideen
ben; um Ideen zu haben, muß man Sinne hae—
in; wenn man Sinne hat, 'ift man matertellz
und mern man materiell ift, iſt man Fein Geiſt,
‚wie doch die Gottheit fern fol, went fie nicht ſuͤr
Adentiſch mit der materiellen Ratur angenommen wird.
Man ſagt: die Gottheit muß auch alle die Eigenſchaf⸗
sen befigen, die in ihren Gefchöpfen am vortreffliche
fien find. Zu diefen Eigenfchaften- gehört Die Ver⸗
aunft. Wie fönte das Geſchoͤpf vollfommner ſeyn,
als fein Schöpfer? Und doch würde diefes der Fall
feyn ‚ wenn der Gottheit. die. Vernunft abgefprochen
werden müßte Allein diefer Einwurf ift leicht Aus
dem Wege zu räumen. Gollen einmal der Gottheit
Die, vortrefflichen Eigenfchaften der Menſch peie
oder der Geſchdpfe überhaupt beygelegt werden;
‚fo. würden nach demſelben Principe ihr auch alle ans
dere -Eigenfchaften beygelegt werden muͤſſen, welche
wir in den Gefchöpfen antreffen., Daß dieß aber ges
yet, wird ſelbſt der eiftigſte Ehriſi nicht zugeben.
Sm die‘ Freybeit Gottes wendet der Ver
ff Daſeyn des Uebels und des Böfen ein,
Ss Wollte
—
z8 Gecſchichte der neuern Philoſophie
Wollte Gott, daß das Uebel und das Boͤſe in der
Melt exiſtiren? Oder Bone Er, es. nicht verhin⸗
‘dern? Im letztern Falle ift Gore. nicht. frey; ‚denn
fein Wille fand: unüberwindliche 2
erſtern Falle hat Gott in die Sünde gewilligt; er Ad
zu, daß man ihn beleidige, daß die Menſchen feine
Freyheit einfehränfen, und- feine: Rathſchluͤſſe vereiteln.
Es iſt nicht abzuſehen, wie die Theologen dieſem Die _
emma entweichen koͤnnen, und damit. wird bie Frey⸗
heit Gottes ſchlechthin aufgehoben. Eben dieſer Eins
wurf trifft auch die göttliche. Allmacht, Weisheit,
- Güte u. w. Was alſo in dem Clarkeſchen Raiſon⸗
nement Wahres iſt, beſtaͤtigt den allgemeinen Mate⸗
xialismus und Fatalismus der Natut. Auf ‚der ans
‚deren Seite aber zeigt es auf’ evidenteſte die Unpalts
barkeit des theologifchs metaphyſiſchen Begriffs von
‚Gore, indem ſich bey der Beziehung desfelben auf die
Melt unauflösliche Widerſpruͤche darbieten.
Auch gegen die Beweiſe für das Daſeyn Gottes
von Des Cartes, Malebrandie, Newton,
Ha. argumentirt der Verfaffer. Der Beweis des
Ecrſtern berußt darauf, daß der Menfch nicht feyn koͤn⸗
fe, was er iſt; daß er folglich nicht eine ſolche Idee
von Gott haben koͤnte, wie er hat, wenn nicht wirk⸗
Ulch ein Gore exiſtirte. Der Menſch hat eine Idee
von Gott als einen allervollkommenſten Weſen,ohne
Boch die abſoluten goͤttlichen Vollkommenheiten begrel⸗
ſen zu koͤnnen. Es muß alſo ein Weſen vorhanden
ſeyn, das jeuer Idee entſprich. vn
5, Diefer. ‚Yrgumentation ſeht. aber, Der Verſaſſer
folgende Gründe entgegen: Erſtlich: Wir ſind gar
‚wicht berechtigt, aus der Idee, welche wir von eis
nem Gegenſtande haben, : auf das, wirkliche Das
STIER ſeyn
waͤhrend d, acht. Jahthund. B.auf Kant. 139
feyn desſelben zu fchließen. Wir haben Ideen von
"einem Sphinx, einem Hippogryphen; daraus folge
nicht, daß folhe Dinge wirklich in der Natur vor⸗
handen find. Es ift zweytens unmöglich, eine
poſitive und wahre Idee von einer ſolchen Gottheit
zu haben, deren Eriftenz Des Cartes mit den
Theologen beweifen will. Der Menſch als ein ma⸗
terielles Weſen kann ſich durchaus feine Idee von eis
‚nem Geifte bilden, einem Weſen, das unförperlich
amd ohne Ausdehnung iſt, und Doch auf die koͤrper⸗
diche materielle Natur wirken fol. Drittens iſt
unmöglich, daß der Menſch fich pofitive und reelle
Ideen von den abfoluten göttlichen Vollkommenheiten,
der Unendlichkeit, der Unermeßlichfeit, und andern
Attributen machen: koͤnne, : welche die Theologen der
Gottheit beylegen. Der Eartefifche Beweis des Dar
ſeyns Gottes iſt alfo völlig unguͤltig.
| Ä ra
Des Eartes mache aus dep Goreheit einen -
Gedanken, eine Intelligenz. Aber wie-täge
fih ein Gedanke, eine Intelligenz, ohne ein
Subject vorfielen, dem jene Qualitäten inhaͤtiren
fönnen? Des Eartes behaupte zwar, daß man
Gott nur wie eine Eigenfchaft oder Tugend vorftels
Jen koͤnne, die fich fucceffive über die Theile des Unis
verſum's ausbreitet; daß Gott nur in dem Sinne
ausgedehnt genannt werden koͤnne, wie das Feuer eis
nes glühenden- Eifens, das eigentlich Feine andere
ng bat, als bie, welche dem Eifen ſelbſt
zukomt. Aber nach dieſen Begriffen kann man: ihm
vorwerfen, daß fein Gore Fein anderer als die Nds
tur; daß feine Theologie der bare Spinozismus iſt.
Es iſt daher auch ſehr erklaͤrlich, wie Spinoja er
feinem Syſteme von Carteſtaniſchen Peincipien au
— gehen
. FR Seite der meuern Philbſophie
gehen konte. Der: Verfaſſer mehynt, man habe: den
Des Cartes, mit Recht des Atheismus beſchuldigt.
Denn bevor Gott. die Materie geſchaffen harte, kon⸗
te er doch nicht mit ihr eoexiſtiren, ‘und zugleich aus⸗
gedehnt ſeynz und in dieſem Falle gab es nah Des
Eartes Leinen Gott, indem die Modificationen, wenn
ihnen ihr Subject entzogen wird, felbft: verſchwinden.
Wenn Gott die bewegende Kraft der Matur ıft, fo
exiſtirt er niche mehr durch: fich ſelbſt; er exiſtirt nur
mit dem Subjeete, welchem er inhaͤrirt, d. i. mit der
Matur, deren Bewegkraft er iſt; wird die Matur oder
die Materie aufgehoben, ſo hebt man zugleich die
Gottheit auf. Gott iſt alſo nichts ohne eine Welt,
in welcher er ſeine Thaͤtigkeit aͤußern kann; er iſt von
Der Welt abhaͤngig, und ohne fie nicht. Auſtatt alſo
das Daſeyn Gottes zu beweiſen, hat Des Cartes
dasſelbe vielmehr vernichtet, und ſeine Theologie ig |
— fi ſelbſi im Widerſotuche.
Daeſelbe Urtheit faͤllt der Verfaſſer von der Te⸗
logie des Malebranche. Dieſer behauptete; Das
Univerſum ſey nur ein Gedanke, eine intelligi—
bie Emanation Gottes. Mir erkennen alle Din⸗
‘ge in Gott, und was wir erfennen, ift Gott
ſelbſt; Gore allein bewirkt Alles, was. gefchiehtz
Er ſelbſt ift Alles, was Handlung und Thaͤtigkeit
in der Natur beißt; kurz Gore. ift ganz Weſen und
Das einzige: Weſen. Auch diefe Vorftellungsare ift
soͤllig ideneifch mit der Behauptungs Die Natur
fen die Gottheit. Zudem Malebranche verficherte,
Daß wir. “ Dinge in Gott erkennen, bezweifelte er
‚zugleich... ob es wirklich eine Materie oder Körper ges
be, ‚und meynte, daß nur der Glauben uns von
dieſen großen Geheimniſſen unterrichten koͤnne; a
4 we
=
woqrend dacht: Yahefumd: bi auf Rank. 141
welchen wir ‘gar feine gewiffe Kentniß hiervon haben
WÜRDE N ee
Sier kann man ihn aber fragen: Wie ſich die
Eriftenz Gottes als des Schöpfers der Materie bemweis .
fen lafje, wenn, bie Erifienz „der ‚Materie ſelbſt noch
ein Problem iſt? Ale übrige theologiſche Dogmen
werden von der anderen Seite, duch. die Nicrflellungss
art des Malebrance umgeworfen, . Wie kann mit
ber Freyheit Des. Menjchen ‚Die Idee von. einem Gotte
bereinigt werden, der, die Bemegurfache der ganzen
Natur ift, der unmittelbar Die Materie und die, Körs
per. bewegt," ohne deſſen Willen nichts in Univerfum
geſchleht, und der die Geſchoͤpfe zu: allen ihren’ hs
tigfeiten pradetermiuirt ? , Wie läßt fih dabeh b
haupten, daß die menjchlichen Seelen. die Faͤbigkeit
haben, frey Ideen zu bilden, und ſelbſtſtaͤndig Ense
ſchluͤſſe zu faſſen? Setzt man voraus, daß die Er⸗
haltung der. Creaturen eine fortgeſetzte göttliche Schoͤp⸗
- fung iſt; fo ift es Gott, der. die. Grfchöpfe unaufköts
lich in den Stand ſetzt, Boͤſes zu ihun. Rach Ma—
lebranche thut Gott Alles, ——
find nur paſſive Wertzeuge in ‚feiner Hand; ihre Ti
genden alfo,, wie ihre Sünden, find Ihm beyzumeſſen;
die Menfchen können fid) Fein Verdienſt erwerben
and feine Schuld zuziehen. Damit wird die Nelk
gion vernichtet, und das Syftem des Malebrande
kann zum Beyſpiele dienen, wie die gangbare pofitis
ve und,philofophifche Theologie ſich durch ihre eigenen
Innern Widerfprüche am Ende ſelbſt zerſtoͤrt. |
Newton, deffen großes Genie die Natur und
ihre Gefege errieth, veritrte ſich ebenfalls, fobald er
die Natur und: ihre Gefege aus den Augen verlor,
Ein Sclav der Vorurtheile feiner ‚Kindpeit wagte er
Ä | es
142 Gefchichte der neuern Philoſophie
88 nicht, mit der Fackel feines Verſtandes die Chimaͤ⸗
re zu beleuchten, die man ohne Grund jener Natur
beygeſellt harte. Er erhob ſich nicht zu dem Gedan⸗
ken, daß die Kräfte der Natur allein hinreichend wär
ren, alle die Phänomene hervorzubringen, die er ſelbſt
fo gluͤcklich erkläre harte. “Der erhabne Newron
iſt nicht mehr, als ein Kind,” wenn er die Phyſik
und die Evidenz verlaͤßt, um fich in die traumvollen
Regiouen der Philofoppte zu verlieren. Gore,” fagt
0, “beberefche Alles, nicht wie die Seele der Welt,
fondern tie der Herr und’oberfte Regent aller Dinge.”
Newton macht alfo aus der Gottheit, gerade wie
die Theologen, einen geiftigen Monarchen, einen Def
"+ goten, der das Univerſum regiert, etwas Analoges
mir einem mächtigen menfchlichen Fürften, der feine
Unterrhanen wie Selaven betrachter und behandelt,
Aber er beftimt die unbedingte Herrſchaft Gottes noch
genauer... Der pöchfte Gore ift ein ewiges, unendlis
ches, vollfommenftes Wefen. Das Wort Gott bes
deutet Herr; aber jeder Herr it miche Gore; es ift
die Herefchaft des geiftigen Weſens, melde die
Gottheit conſtituitrt; es iſt die wahre Herr
ſchaft, die den wahren Gott conſtituirt; es ift
die falfhe Herrfchaft, die den falfhen Gott
eonftirnirt, Aus der. wahren Herrſchaft folge, daß
der wahre Core lebendig, intelligent und mächtig iſt,
und aus feinen anderen Vollkommenheiten folgt, daß
er der höchfte oder hoͤchſt volllommen iſt. Er ift ewig,
unendlich und allwiſſend, d.i. er dauert in der Ewig⸗
> geit und wird nie endigen; er beherrſcht Alles, und
weiß Alles, mas gefchieht und geſchehen kann. Cr
iſt weder die Ewigkeit, nod die Unendlichkeit; aber
er ifi ewig und unendlich; er iſt nicht bie Dauer, oder
der Raum, aber er dauert und ifl ————
| an
"äßrend Dh Zehhund Si auf — 143.
Man kann in dieſer unverſtaͤndlichen Tiade
Newton's die größte Anſtrengung nicht verkennen,
die theologiſchen Attribute oder abſtraeten Qualitaͤten
der Gottheit mit menſchlichen Attributen eines vergoͤt⸗
terten Monarchen zu vereinbaren. Wir bemerken nes
gative Qualitäten, die dem Menfchen nicht mehr zus
fommen, einem Oberheren der Natur beygelege, der
. doch wie ein menfchlicher König vorgeftelle wird. Dens
fen, wie ihm wolle; der höchfte Gott hat doch als
lemal Unterthanen zu feiner Herrfchaft nörhig; fo ben
darf aud) Gott der Menjchen, um feine Herrichaft
auszuüben, indem er fonft nicht Regent fenn würde,
Wie kann aber diefer Regent wirklich feine Herrſchaft
Über geiftige Werfen ausüben, die dech oft niche thun,
was er befiehlt, die unaufbärlich ihm widerſtreben,
and Unordnungen in feinem Reiche werurfachen : Wie
kann Gott dee Monarch der geiftigen Weſen ſeyn,
wenn er ihnen bie Freyheit und das Vermögen lief,
fich gegen ihm zu empören. Eben diefer Monarch, der
Alles mit feiner Unermeßlichkeit erfüllt und regiert,
regiert Er den Menfchen, mern biefer fündige, lenkt
Er die HandInngen desfelben, ift Er in denfelben,
wenn dieſer Ihn (Gore) felbft beleidige? Das bös
fe Princip, oder der falfche Gott (der Teufel), bat er
nicht ein meit ausgedebnteres Reich, als der wahre
SGSdott, deffen Plate und Unternehmungen er nach dem
£ehren der Theologen beſtaͤndig durchkteuzt, und zu
vereiteln ſucht, oder wirklich vereitelt?
Newton fagt: “Gore ift Einer und berfelbe,
immer und überall, nicht bIoß durch feine Kraft und
Energie, fondern auch der Gubjianz nad.” — Aber
wie kann ein Weſen, das handelt, das alle Veräns
derungen der Dinge hervorbringt, immer —
ſeyn
%
4 N F
aa Geſchichte ber neuem Pbilafephie >
ſeyn? Was verſteht man ‚unter: der. K raft, dee
Energie, der Subftanz Gottes? Wenn dieſe
Subſtanze geiſtig und unausgedehnt iſt; mie kann fie,
ircgendwo exiſtiren? Wie kann fie. die. Materie in
> Zhpärigfeit- fegen? Wie vorgeftelle werden? Und
voch fagt wiederum Newton, daß alle Dinge in
Gott enthalten ſind, und ſich in Ihm bewegen, nur
ohne reciproke Thaͤtigkeit (fine mutua paſſione).
Gein einpfindet nichts von der Bewegung der Körper,
and vieſe empfinden ‚nichts von ſeinet Gegenwart.
Hier giebt Newton der - Goreheit- Merkmale, die
den bioß Leeren und dem Michts zukommen. Sonft
iſt unbegreiflich, wie unter- Subſtanzen Feine recipros
fe Action und Paffion-feyn koͤnne, die einander Durchs.
dringen und fich vom allen Seiten umgeben. ‘ Mau
fleht offenbar, Newton har fi ſelbſt nicht verſtan⸗
den. Auf aͤhnliche Weiſe geht der. Verſaſſer noch an⸗
pre Auribute durch; die der Engliſche Weltweiſe dee
Sedöttheit zugeſchrieben, und deckt die Nichtigkeit der
Begriffe davon, oder ben Widerſtreit berfelben. mit
‚andern, Begriffen, oder mit unleugbaren Thatſachen
der Erfahrung auf. Ä —
=
Man ſage gegen das Syſtem der Narus
nicht, daß wir keine Vorſtellung von einem Kunſtwerke
haben koͤnnen, wenn wir uns nicht zugleich einen davon
derſchiedenen Kuͤnſtler denken, der. es hervorbrach⸗
te. Die Marne überbaupe-ift Bein erſchafe
fenes Wert. Sie hat immer durch fich felbft erie -
ſtirt, und nur in ihrem Schooße geſchieht Alles, was
geſchieht. Ste iſi eine unermeßliche Werkſtaͤtte mit
Materialien. verſehen, und wo zugleich die Werkzeu⸗
ge gubereitet werden, Deren fie ſich zu ihren Wirkun⸗
gen bedient. Alle ihre Producte find Effette au
eo. ner⸗
—
während de achtz· Jahrhundih. auf Kant. - 145
Energie, und der Urſachen oder Agentien, welche fie
erzeugt, in ſich enthaͤlt, und in Thaͤtigkeit ſetzt. Ewi⸗
ge, unerſchaffene, unzerſtoͤrbare Elemente, unaufhöts
dich in Bewegung, ſich mannichfaltig verbindend,
laſſen alle die Weſen und Phänomene zum: Daſeyn
kommen, die wir wahrnehmen, alle angenehmen oder
wmangenehmen Wirkungen, die wir empfinden, die -
Ordnung oder. Unordnung, die wir nur nach den weis
ſchiedenen Arsen uuserfcheiden, wie fie uns afficiren,
mit. einem Worte, alle die Wunder, die unfer Staus
nen erregen, und unfer Machdenfen befchäfftigen. yes
we: Elemente. bedürfen hierzu nichts weiter, als die -
ihnen eigenehümlichen Qualitäten , und diefe mie eins
ander vereinigt, dann die ihnen weientliche Bewegung;
ohne daß man noͤthig haͤtte, zu einem unbefanten
Schöpfer feine Zuflucht zu nehmen, der fie ordnete,
formte, combinirte, die Combindtionen erhielte und
: wieder auflöfle -
>. Ingwifchen einmal angenommen, «6 fey unmoͤg⸗
lich, das Univerſum zu begreifen ohne einen Schoͤp⸗
fer, der es hervorbrachte, und ſein Werk erhält; wor
bin wollen wir diefen Schöpfer fegen? Wird er ins _
nerhalb oder außerhalb des Univerfum’s fen? Spt
er Materie oder Bewegung ?. Dder. ift er nur der
Kaum, das Nichts, das Leere? Mach allen dieſen
Vorausſetzungen würde er entweder Michts feyn, oder
er wäre in der Natur begriffen‘, und den Gefeßen ders
felben unterworfen. Iſt Er aber in der Marur ent⸗
halten, fo kann man Ihn für nichts anders erkennen‘,
als für die: Materie in Bewegung; und darans laͤßt
ſich ſchließen, daß das thaͤtige bewegende Princip in
Der Natur koͤrperlich und materiell, folglich der Auf⸗
Kfang:unterworfen fen. Waͤre dieſes Princip- aber
Dubles Befch. d. Philoſ. Vi.B. K au⸗
246 Geſchichte der neuern Philoſophle =
außerhalb der Matur,ſo verſchwindet jede Idee von
dem Orte, welchen es einnimt, da man ſich weder
‚ein immaterielles Weſen vorſtellen, noch ſich die Art
denken kann, wie ein Geiſt ohne alle Ausdehnung
auf die Materie wirken moͤge, von welcher er doch ge⸗
trennt iſt. Jene unbekanten Räume, weiche die Phau⸗
taſie jenſeit der ſichtbaren Welt ertraͤumt, exiſtiren gar
nicht fuͤr ein Geſchoͤpf, das kaum ſieht, mas vor ſei⸗
nen Fuͤßen liegt. Die idealiſche Macht, welche ſie
bewohnt, kann ſich uns nur darſtellen, wenn unſte
Phantaſte willkuͤhrlich die phantaſtiſchen Farben ver⸗
Binder, die fie. doch immer aus der Welt entlehnen
muß, in welcher wie. leben. Jn diefem Falle pros
Duciren wir Doch nur eine Idee von dem, was. unfere
Sinne fhon wirklich. wahrgenommen haben; und die
Gottheit, die wir. uns. beftrebten, von der Natut zu
unterſcheiden, und außer den Bezirk derfelben zu vers
feßen, wird immer nothwendig und wider unfen Wil⸗
len in denfelben zurückfehren. |
Ein Wilder, der eine Uhr ſieht, fagt man, wird
wicht umhin koͤnnen, auf ein vernünftiges Weſen zu
fließen, das fie verfertige hat. Sollten wir nicht
eben fo genörhige feyn, anzuerkennen, daß auch die
ganze Mafchine des Univerfums, der Menfch, die
Phänomene der Natur, Werke eines Urhebers ſeyn
wuͤſſen, deffen Weisheit und Macht Alles übertrifft ?.,
7 Mir nennen einen: Mann weife und geſchickt,
antwortet der Berfaffer, der Dinge machen kann, Die
wir felbft nicht machen -Fännen. Die Matur ann Ale
les, „und fobald ein. Ding zum Dafeyn gelangt, fo
iſt diefes felbft ein. Beweis, daß ſie es hat mache
koͤnnen. ‚Immer alfo nur relativ zu uns beurtheilen
wir die Weis heit und Geſchicklichkeit der Natur; wie
— — BTL TAU BP U ETW R 117]
;
un
während. d. achtz. Jahthund b. auf Kant. 24
vergleichen ſie dann mit uns ſelbſt, und da wir uns
eines Vermögens bewußt find, mas wir Intelligenz
nennen, mittelſt deſſen mie Kunſtwerke hervorbringen,
öder unfere Geſchicklichkeit zeigen; fo folgern wir dars
aus, daß die Werke der Natur, die am meiften unfre
Bewunderung erregen, nicht von ihr feldft herrühren,
fondern einen verftändigen Kuͤnſtler, dergleichen wie
find, zum Urheber haben, deſſen Verſtand wir nur
der Bewunderung angemeffen denken, zu der uns ſei⸗
ne Werke flimten, d.i. angemefjen unferer Schwäche
und unſerer eigenen Unwiſſenheit.
Der Wilde, welchem man eine Uhr oder Stas
gue zeigt, wird von dee menjchlichen Induſtrie entwes
der Begriffe haben, oder nicht. Hat er ſchon Begrifs
fe davon, fo wird er urtheilen, daß die Uhr oder Star
tue nur Werke eines Weſens feiner Are feyn können,
das aber Fähigkeiten beſitzt, die ihm fehlen. Hat dee
Wilde feinen Begriff von menfhlicher Induſtrie und
von den Hilfsmitteln der Kunft, und bemerkt er die
Scheinbar willführliche Bewegung der Uhr; fo wird
ee glauben, es ſey ein Thier, das nicht das Werl
eines Menfchen feyn koͤnne. Eben fo wird der Wils
de auffallende DMaturerfcheinungen einem Genius,
einem Geifte, einem orte, beylegen, das heiße,
einee unbefanten Kraft, der er ein Vermoͤgen
jutraut, wovon er glaube, daß es den Weſen feis
ner Art fchlechehin mangle. Beweiſen wird aber
der Wilde durch fein Urtheil über Die Urſache der fcheins
bar willkuͤhrlichen Bewegung der Uhr nichts weiter,
als daß er niche weiß, was Alles der Menſch hervors
zubringen vermag,
Fuͤhrt man alle Erfcheinungen auf die Energie
der Natur als ihre Urſache zurück; ſo wird damit Pets
‚u Ä 2 nes⸗
148 Geſchichte der neuen Philoſophie
nesmweges .die Entſtehung des Weltalls aus einen
blinden Zufalle hergeleitte Blinde Urſa⸗
ben nennen wir nur diejenigen, deren Kräfte, Ges
fege und Zufammenflimmung wir nicht Pennen; und
Zutall heißt uns, wo wir überhaupt die Urſache nicht
zu entdecken vermögen. Die Natur wirkt nie-blind;
fie handelt nte nach Zufall; was fie chut, würde dem
nie zufällig erfcheinen, der im Stande wäre, ihre Are
zu baudeln, ibren Gang, ihre Mittel zu durchfchauen.
Alles, was fie hervorbringe, ift nothwendig, iſt ſtets
nur eine Folge ihrer unmandelbaren Geſetze. Alles
iſt in ihr durch unfichebare Bande verfnüpft, und
die Wirkungen, die wir feben, fließen nothwendig
aus ihren Urfachen, mir mögen diefe Fennen, oder
nicht. Freylich mag hier auf unferee Seite eine gros
ße Unwiſſenheit ſtatt finden; aber die Wörter, Gott,
Geiit, Intelligenz, werden dieſer Unwiſſenheit
nicht abhelfen; fie werden im Gegentheile fie vermeh⸗
ren, indem fie uns abhalten, den natuͤrlichen Urſachen
der Phänomene nachzuforſchen. Man hat alfo ſehr
Unrecht, wenn man den Maturaliften vorwirft, daß
fie Alles durch Zufall entftehen laffen. Der Zufall
ift nichts, als ein leeres Wort, wie der Mamen Gott
es ift; nur erfunden, um die Unbekantſchaft mit dem
wirkenden Urfachen in einer Natur zu verfiecken, des
ren Verfahren ung oft unerfläclich if. Man wirft
3.9. dem Maruraliften ein: Nie babe der Zufall,
‘oder ein zufälliger Wurf der Lettern, ein Gedicht, wie
die Ilias, hervorgebracht, oder koͤnne es hervors
bringen. Ganz richtig; aber find es denn die fettern,
welche das Gedicht hervorbringen? Iſt es nicht wies
derum die Natur, welche nach gewiffen und norhwens
‚digen Öefegen einen Kopf fo organifirt, daß er-fähig
wird, ein folches Gedicht zw verfertigen? Die Nas
sur
während d.achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 149
sie: IR es, welche das Gehirn, das Temperament,
die Phantaſie, die teidenfchaften des Dichters fo bil:
dere, daß er fähig wurde, ein Meiſterwerk zu fchafs
fen. Ein fo organifirter Kopf, wie der des Homer,
verſehen mit derfelben Kraft, derfelben Imagination,
mie denfelben Keneniffen bereichert, in diefelben Um—
Hände und Verhaͤltniſſe gefegt, wird nothwendig
und nicht zufällig eine Ilias machen; oder
man müßte feugnen wollen, daß vollfommen gleiche
Urſachen nicht vollfommen gleiche Wirkungen, hätten.
Jener Einwurf gegen den Naturalismus ift alfo Pins
diſch und ungerecht.
In einer anderen Hinſicht kann man einmal das
theiftifhe Syſtem als wahr einräumen, und feinen:
Einfluß auf die Moral und Politik unterfuchen.
Hier wird es ſich offenbaren, daß es für dieſe weit
verderblicher ift, als das entgegengefegte Syſtem des
Naturalismus und Fatalismus.
Die gangbaren Begriffe der Theologen wom Theis
mus können nie die Grundlage der theologifchen und
natärlihen Moral werden. Eine Hypotheſe, bie den
Menfchen nüglich ſeyn fol, müßte fie glücklich mas
chen. Wie koͤnte aber eine Hypotheſe, welche die
Menfchen hiernieden elend macht, fie zu einer dauer⸗
haften Gluͤckſeligkeit füpren? Hat Oott die Gterbs
lichen gefchaffen, um in diefee Welt, welche fie kens
nen, zu zittern und zu feufzen; aus welchem Grunde
kann man fich verfprechen, daß er fie in einer uube
kauten Welt mir mehr Milde behandeln werde? Wenn
wir irgend einen. Menfchen eine ſchreyende Ungerech—
tigkeit auch nur benläufig begeben fehn, muß er uns
nicht für immer verdächtig werden, und unfer Ver⸗
trauen verlieren ?7 Auf der anderen Seite, eine Hy⸗
| 83 potheſe,
150 Geſchichte der neuern Philoſophie
potheſe, die Licht uͤber Alles verbreitet die eine ſehr
leichte Aufloͤſung alter Fragen giebt, bey welchen man
ſie anwenden moͤchte, wenn man auch ihre Gewißheit
nicht mit dee ſtrengſten Buͤndigkeit demonſtriren koͤn⸗
rte, wuͤrde doch wahrſcheinlich die richtige ſeyn; rich⸗
ruiger zum mindeſten, als ein Syſtem, das die klar⸗
Begriffe verdunkelt, das alle Probleme, welche
man durch dasſelbe aufloͤſen zu koͤnnen wuͤnſchte, noch
unaufloͤslicher macht, das folglich mit Recht für falſch,
unnuͤtz, ja gefaͤhrlich, angeſehen werden kann.
Nrun unterſuche man aber einmal ohne Vorur⸗
theil, ob das gangbare theologiſche Syſtem von der
Gottheit je eine Schwierigkeit hat heben koͤnnen von
Berien, die bey dieſer philoſophiſchen Forſchung unver⸗
meidlich find? Hat &8 nicht gänzlich die Moral
verdunkelt, die mwefentlichen Pflichten unferer Natur
veifelhaft gemacht, alle Begriffe des Rechts und
echts des kafters und der Tugend, verwirrt? Was
iſt die Tugend nach dem gangbaren theologifchen Sys
fieme? Es ift.die Hebereinftimmung- der menfchlichen
- Handlungen mit dem Willen des unbegreiflichen Wer
fens, welches die Natur behertſcht. Aber was- ifk
Diefes Wefen, von welchem man unaufpörlich redet‘,
ohne es zu begreifen? : Und wie koͤnnen wie feinen
Willen erkennen? Die- Theologen erklaͤten aladenn,
was dieſes Wefen nicht iſt, ohne je ſagen zu koͤnnen,
was es iſt. Wenn ſie es unternehmen, eine Idee
davon zu geben, ſo haͤufen ſie, wie vorher gezeigt worden,
auf jene hypothetiſche Subſtanz w.derfprechende Praͤ⸗
dicate, die zuſammen ein Hirngeſpinſt ausmachen,
das ſchlechterdings ſich nicht ſaſſen läge; oder ſie ver⸗
weiſen auf uͤbernatuͤrliche Offenbarungen, durch wel⸗
che jenes Phantom feinen goͤttlichen Willen; den Men⸗
hen Eund gethan habe. Aber wie ge =
— 8* then⸗
-
FR
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 151
thenticitaͤt der Offenbarung beweiſen? Das wird
durch Wunder geſchehen. Wie laſſen ſich aber
Wunder glauben, die ſelbſt den Begriffen zuwider
laufen, welche uns die Theologie von der allweiſen,
unveränberlichen, allmaͤchtigen Gottheit mitgetheilt
hat? Es bleibt alſo eigentlich zuletzt nichts uͤbrig,
als daß man ſich auf die Ehrlichkeit der Prieſter ver⸗
laͤßt, die den Auftrag gehabt haben, uns die goͤtt⸗
lichen Orakel zu verkuͤndigen. Uber wer buͤrgt uns
wiederum fuͤr ihre goͤttliche Sendung? Sind ſie es
nicht ſelbſt, die ſich als unfeblbare Ausleger eines
Gottes ankuͤndigen, von welchem ſie geſtehen, daß
fie ihn nicht kennen? Dann werden die Prieſter, wenn
fie als Ausleger eines aöttlichen Willens angenommen
werden, ungeachtet fie perfönlich verdächtig, und
nichts weniger als unter einander einftimmig find, Die
Schiedsrichter dee Moral; fie werden nach ihren uns
gewiffen Einfihten, oder nad ihren Leidenfchaften,
Die Regeln feſtſetzen, welche die Menſchen zu befols
gen haben; der Enthuſiasmus oder das Tintereffe wer;
den den Maapftab ihrer Entſcheidungen abgeben; ihre
Moral alfo wird wechfeln, wie ihr Fanatismus und
ihre Launen; ihre Machfolger werden nie wiſſen, wors
an fie eigentlich ſich zu halten haben. In ihren ges
sffenbarten Büchern «wird man immer eine wenig mos
zalifche Gottheit antreffen, die bald die Tugend ges
bieten, bald Verbrechen und Ungereimtheiten befehs
Ien wird; die bald als: Freund, bald als Feind des
menfchlichen Geſchlechts fich zeigt; ; bald: wohlthaͤtig,
vernünftig und gerecht, bald unvernünftig, eigeufin-
nig, ungerecht und defporifch ift.
Was fuͤr ein Reſultat kann nun hieraus für eis
nen vernuͤnftigen — hervorgehn ? Daß wer
ges 4
Dee
152 Geſchichte der. neuern Philoſophie re
der die unbeftänbigen Gottheiten, "noch ihre Priefter,
> Deren Intereſſe fich jeden «Augenblick verändert, Die
Mufter oder Schiedsrichter einer Moral: feyn koͤnnen,
welche eben fo beftändig und ſicher ſeyn muß, wie es
Die unveränderlichen. Gefege der Matur ſind, denen die
wahre Moral nie Eintrag thun darf: Mach: den a2
wöhnlichen theologiſchen Begriffen. von Gott beru⸗
higt die göttliche: Guͤte den Boͤſen, und. beunrubige
die goͤttliche Strenge den Rechtſchaffenen, und folg⸗
lich gereichen die Eigenfchaften, welche die gangbare
Theologie der Gottheit beylege, der -gefunden Moral
fogar zum Nachtheile. Auf die unendliche Guͤte Got⸗
tes wagen die vwerdorbenften Menſchen zu rechnen,
wenn ſie ſich Laſtern und Verbrechen uͤbergeben haben.
Die Prieſter aller Nationen beſitzen ſogar untriegliche
Geheimuiſſe, um auch die boshafteſten Suͤnder mit
der Gottheit wieder auszuſoͤhnen. Man mag :alfe -
die theologiſche Gottheit betrachten, aus welchem Ges
firhespuncte, und von welcher Seite man will; fie
kann der Moral nice zur. Bafis-dienen, bie immer
unabänderlich diefelbe feyn muß, und nice in = .
ſchiedenen Zeiten und Laͤndern verſchieden ſeyn bar.
Eine wahre Moral kann allein auf die Ra
sur des Menfchen gegruͤndet werden, auf die. Bere
haͤltniſſe, die unter vernünftigen Weſen nochwendig:
find, deren jebes feine Gluͤckſeligkeit liebt, fich zu er—
> halten firebe,, und defwegen in Geſellſchaft lebt, um:
biefen Zweck defto ficherer zu erreichen; : Kurz man kann
der Moral nichts: anderes-zuc Baſis geben ,. als den
Faralismus (la necefhrd ‚des chofes). ; Die Eigene
thuͤmlichkeiten der wmenfchlichen Natur bleiben diefels
‚ben, was es auch für. eine Urfache: gemeſen ——
ae de⸗ Menſchen ur igigen a
während d. achtz. Jahrhund.bi auf Rant. 133
und ihm ſeine Faͤhigkeiten gab. Wollte man ſagen,
daß ohne die Idee der Gottheit der Menſch keine mo⸗
raliſche Geſinnungen haben, d.i. das Laſter nicht von
dee Tugend unterfcheiden könne; fo würde man eben
damit behaupten, daß ohne die dee von ort dee
Menſch das Beduͤrfniß der Speifen zum Leben nicht
empfinden, Beinen LUnterfchied oder feine Wahl unter
feinen Maprungsmitteln treffen koͤnte. Es hiehe bes
baupten, daß wir, ohne den Namen, Charakter und
die Eigenfchaften des Kochs zu kennen, niche im Stans
de wären, zu urtheilen, ob ein Gericht angenehm
oder unangenehm, gus oder fchlecht fey.
Wer da weiß, woran er ſich in Anfehung des
Dafeyns und der moralifhen Attribute Gottes zu
bälten habe, oder wer auch diefe förmlich leugnet,
kann doch nicht am feiner eigenen: Eriftenz zweifeln.
Er kann eben fo wenig zweifeln an dem Dafeyn gleich
ihm organiſirter Weſen, bey denen ihm Alles Quali⸗
täten zeige, die mie den feinigen analog find, und
deren Siebe oder Haß, Hülfe oder Misshandlung, Ach⸗
sung oder Verachtung, er durch gewiſſe Handlungen
ſich zugießen kann. Diefe Kentniß ift für ihn hinrei⸗
chend, um das Moralifch: Gute und Böfe zu unters
feheiden. Kurz jeder gefund organifiete Menſch, und
der dabey die Fähigkeit befige, fich eine wahre Erfah⸗
rung zu erwerben, brauche nur fich felbft zu betrach⸗
ten, um einzufeßen / was er Andern ſchuldig if. Geis
ne eigene Matur wird ihn beffer über feine Pflichten
aufflären, als jerie Gottheiten, die er doch nicht ans
ders befragen kann, -als in feiner eigenen Phanrafie,
feinen eigenen Leidenfchäften , "oder in den Leidenfchafs
er von Enthuſiaſten und Bettlegeen.
X
4er —3 Bee. WE W
J | 8; Das
"254 Geſchichte der neuern Philoſophie
Das Bisherige, meynt der Verfaſſer, beweiſe
wohl hinlaͤnglich, daß die religidfe Moral um
endlich verkieren würde, wenn man fie mit dev nas
sürlichen: Moral in Parallele fegt, der fie in den
mueiſten Puneten widerſpricht. Die natuͤrliche Mo⸗
ral ſodert den Menſchen auf, ſich ſelbſt zu lieben,
zu erhalten, und ſtets auf die Erhoͤhung der Summe
feiner Gluͤckſeligkeit bedache zu feyn. Die Religion
befieble dagegen, einzig -einen ſurchtbaren haſſens⸗
würdigen Gott zu lieben, ſich ſelbſt zu verabſcheuen
dem ſchrecklichen Idole die ſuͤßeſten und gerechteſten
Freuden des Herzens aufzuopfern. Die Matur ſagt
dem Menſchen, daß er feine Vernunft fragen, und
ihr als feiner Fuͤhrerinn folgen ſollez die Religion.
lehrt ihn, daß Diefe Vernunft verderbt uud nur eine
treuloſe Fuͤhrerinn ift, die ein triegerifcher Gore dem
Menſchen gab, um ſie auf Irrwege zu leiten. Die:
Mazur beficple den Menſchen, ſich aufzutiären, die
Wahrheit zu fuchen, und ſich über feine Verhaͤlt⸗
niffe zu umterrichten; die Keligion- macht ihm que:
Pflicht, nichts zu unterſuchen, in der Unwiſſenheit
zu bleiben, die Wahrheit zu fuͤrchten; ſie uͤberredet
ihn, es gebe fuͤr ihn kein wichtigeres Verhaͤltniß, als
dasjenige, was zwiſchen ibm und einem Weſen exi⸗
ſtiren ſoll, wovon er nie eine Erkentniß haben wirds
Die Natur raͤth dem ſich ſelbſt liebenden Menſchen,
ſeine Leidenſchaften zu mäßigen, ihnen zu widerſtehen⸗
ſobald fie fuͤr ſein Wohl verderblich ſind, ihnen d
aus der Erfabrung eutlehnte reelle
gengewicht zu halten; die Religion —* dem Mens
ſqen, als empfindenden Weſen, Beine: ta
zw gaben, . eine todte unempfindliche ſeyn⸗
der die Neigungen durch Motive zu ur
— der age ur und. rn. Ä
‚sr
während D, ah Jahrhund. 6. auf Kant. 155
diefe felbft, find. Die Natur lehrt den Menfchen,
feines Gleichen lieben, gefellig, gerecht, friedlich,
nachfichtig, wohlthaͤtig ſeyn; die Religion heiße
ibm, die Gefellfchaft zu fliehen, fih von feinen Ne—
bengefchöpfen zu befreyen, fie zu haſſen, wenn ihre
Phantaſie nicht eben fo träume, wie die feinige, aus
Liebe zu Gore die heiltgften Bande zu zerreißen, und
alle diejenigen zu beunruhigen, zu verfolgen, und gar
zu toͤdten, die nicht auf gleiche Weife deliriren wol—
len. Eudlich die Natur lehrt den fchlechten Mens
fchen über feine tafter, über feine ſchaͤdlichen Neigun⸗
gen und Verbrechen errörhen; fie zeige ihm, daß aud)
die gebeimften Unordnungen in feinem Betragen noth⸗
wendig einen fchädlichen Einfluß auf feine eigene Gluͤck⸗
feligfeie, und auf die Gluͤckſeligkeit Anderer Außern.
Die Religion aber fage dem Böfewichte: Du darfft
zwar den unbefanten Gore nicht beleidigen. Wenn
Dur Dich aber gegen feine Gebete der Sünde über
laͤſſeſt, fo erinnere Dich, daß er leicht zu verſoͤhnen
ift. Geb in feinen Tempel, wirf Dich demuͤthig zu
den Füßen feiner Diener, verföhne Deine Vergebune
gen durch Opfer, Geluͤbde, Büßungen und Gebete.
Diefe wichtigen Ceremonien werden Dein Gewiſſen bes
zubigen, und Dich im Urtheile des Ewigen reinigen.
Am Schluffe des Werks füge der Verfaſſer eine
Apologie der in demfelben vorgerragenen Srundſaͤtze
hinzu, aus welcher ih noch Einiges ausheben will,
Sie find, fagt er, vonder Befchaffenheit, und fo ers
wiefen, daß fie vernünftige &efer, die zum Dachdens
ten fähig und geneigt find, wohl von ihren Vorur⸗
theilen befreyen koͤnnen. Aber auch Die. Deutlichfien
Wahrheiten gewinnen kelnen Eingang, wenn Fana⸗
sismus, Gewohuheit und Furcht ihnen ‚im —
N.
156 Geſchichte der neuern Philoſophie
ben. Es iſt nichts ſchwerer, als alte verjaͤhrte Jrr⸗
ihuͤmer aus den Gemuͤthern der Menſchen auszurot⸗
ten. Vollends find dieſe unuͤberwindlich, wenn’ ſie
ſich auf eine allgemeine Uebereinſtimmung ſtuͤtzen, durch
die Erziehung ſortgepflanzt, durch die Gewohnheit
eingewurzelt, durch das Beyſpiel beſtaͤrkt, durch Ans
ſehn erhalten, und unaufhoͤrlich durch Hoffnungen
und Beſorgniſſe der Voͤlker genaͤhrt werden, die oſt
ihre Jrrthuͤmer ſelbſt als Huͤlfsmittel gegen die Uns
giuͤckofaͤlle betrachten, welche ihnen begegnen. Telles -
font les forces reunies, qui foutiennent l' empire des _
Dieux en ce monde, et qui paroiflent devoir'y ren«
dre leur tröne inebranlable; Mari darf ſich alſo gae
nicht wundern, wenn ber größte Theil, der Mienfchen
ſeine Blindheit liebe, und fih vor der Wahrheit
ſcheut. In Religionsfachen giebt es Wenige, die
nicht mehr oder minder denfelben Meynungen mit dem
großen Haufen anhiengen. Wer fid) von der gands
baren Vorftellungsart diefes entferne, wird fofore für
einen anmaßenden, dünfelvollen, oder gar unfiunis
gen. Freydenker gehalten, der weifer zu ſeyn waͤhnt,
als alle Uebrigen. Bey dem Zaubernamen der Re
Kigion und der Gottheit bemächtige fich plöglich
ein panifches Schrecken der Gemuͤther; fobald man
jene angegriffen ſieht, geräch die Geſellſchaft in Uns
zube; jeder glaubt ſchon, feinen himlifchen Monarchen
den Fächenden Arm gegen das Land oder die rebellifche
Natur aufheben zu ſehen, die ein Ungeheuer hervor⸗
Bringen Fonte, das verwegen genug war, feinem Zors
ne zu trotzen. Selbſt die befcheidenften‘ Perfonen wer⸗
fen :doch demjenigen Thorheit und aufruͤhriſche Denk:
art vor, der ihrem: eingebilderen goͤttlichen Regenten
Rechte flreitig mache, die ihr gefunder Verſtand nie
unterſucht hat. Man haͤlt alfo auch Jeden, —
5 ins
— d acht;. ——— 6. auf Kant. 137
Vinde des Vorurtheils vor den Augen wegzieht, für
einen gefäßrlichen Bürger; faſt einftimmig wird did
Verurtheilung ‚über ihn ausgefprochen; die oͤffentli⸗
he Indignation, durch. Fanatismus und Betriege⸗
gen noch mehr empört, verurfacht, daß man gar auf
feine Gründe nicht hört; Jeder würde fich einer Theil⸗
nahme an dem Verbrechen ſchuldig Halten, wenn «&
darauf hörte
Auf: diefe Weiſe wird ein Menſch, der ſeiner
Vernunft ſolgt, der Zoͤgling der Natur, wie eine oͤf⸗
ſentliche Peſt angeſehen. Der Feind eines ſchaͤdlichen
Phantoms gilt fuͤr den Feind des menſchlichen Ge⸗
ſchlechts; der Unternehmer eines Verſuchs, um einen
dauerhaften Frieden unter den Menſchen zu begruͤu⸗
den, erſcheint als ein Ruheſtoͤter der bürgerlichen Ges
ſellſchaft. Bloß bey dem Mamen eines Acheiften
fchaudert der Abergläubige; der Deift felbft wird bes
geoffen; der Priefter wird würhend; die Tyranney bes
reitet den Scheiterhaufen; der Pöbel jauchze bey der
Zuͤchtigung, die unvernünftige Gefege gegen den wah⸗
gen: Freund. des menfchlichen ‚Gefchlechts anordnen.
Aber was ift denn eigentlich ein At heiſt? fragt der
Verfaſſer. Verſteht man darunter einen Menſchen,
welcher das Dafeyn einer der Materie einwohnenden
Urkraft leugnete, ohne welche fich doch die Natur niche -
begreifen läßt; und wäre es gleichwohl jene Beweg⸗
kraft der Materie, weldher man den Namen Gore
‚beit beylegte; ſo würde es feine verwünfrige
Arheiften geben, und das Wort würde nur Nars
ren bezeichnen: Verſteht man hingegen Darunter Mens
ſchen vom Fariatismus befteyt; geleitet Durch die Er⸗
fahrung und das Zeugniß ihrer gefunden Sinne; die
— Naiut nur das Pu was fich wirklich. —
158 Geſchichte der neuetn Philofopgie.
ſindet, oder was ſie wirklich zu: erlennen vermoͤgen;
Die nichts; anders wahrnehmen und wahrnehmen koͤu⸗
nen, als eine Materie, ihrem Weſen nach thaͤtig
und beweglich, verichieden combinirt, durch fich ſelbſt
mit verfchiedenen Eigenſchaften begabt, und faͤhig,
die Dinge hervorzubringen, die wir erblicken; bie übens
geuge find, ‚daß.man, ohne ſich auf eine‘ chimärifche
Urfache berufen zu müffen, durch die bloßen. Gefege
"der Bewegung die verfchiedenen Beziehungen der Dins
ge zweinander, ihre Verwandtſchaft, Analogie, Ats
traetion und Nepulfion, erklären koͤnne; bie nicht zu
begreifen. vermögen, ‚was ein Geift iſt, und auch
gar kein. Beduͤrfniß haben, koͤrperliche Uefachen zu
vergeiftigen, di. unbegreiflich zu machen; die nicht
der Meynung find, daß man, die Bewegkraft des
Univerfums beffer kennen lerne, wenn man fie einem
Weſen außerhalb dem großen. Natur: Oanzen, def
- fen Dafenn unvorfiellbar, wie fein Ort, ift, beylegt;
die endlich die negativen and abfiracten theologischen
Attribute der Gottheit durchaus nicht mit den menfchs
lichen und moralifchen Qualitäten zu vereinigen wiſ⸗
fen, welche ebenfalls der Gottheit zugefchrieben wers
den: verfiehe man unter Aeheiften :folche Menfchen,
fo iſt freylich an. ihrer Exiſtenz nicht zu zweifeln „und
es wuͤrden ihrer: noch mehr fenn, - als wirklich ſeyn
moͤgen, wenn das Licht einer gefunden. Vernunft und
Ratutkentniß allgemeiner verbreitet wäre.. Dann würs
de man ſie aber auch ‚nicht alsı unvernünftige oder as
fende Meufchen veruerheilen. : Im Gegentheile man
würde fie für Meuſchen ohne Vorurtheile erklaͤ⸗
zen, deren Meynungen, oder, wenn man will, deren
Unwiſſenheit dem menſchlichen Geſchlechte weit, nüglia
cher wäre, als die eitelen. Wiffenfchaften; und- Hypes
tbefen , : die. nun ſchon ſeit ſo langer. Zeit eine: feinen,
nn vor⸗
während Dachtj. Jahrhund. 6. auf Kant. 159
vornehmſten Plagen ausmachen. Die Theologen Leis |
nen alfo. den wahren Sinn des Atheismus nicht, ins
dem: fie ihn verdammen. | |
Zulegt wirft der Verfaſſer noch die Frage auf:
Ob der Arheismus mie dee Moral verträglich fey?
Wie er diefe Frage beantmworter bat, läßt fih aus
dem Bisherigen leicht erachten. Als feinen Gegner
ftelit er den Abbadie auf. Diefer behauptete: Ein
Arheift könne feine Tugend haben; die Rechrfchaffens
beit und Frömmigkeit feyen für ihn Ehimären; er feus
ne fein auderes Geſetz, als fein Intereſſe; und bey
diefer Borausfeßung merde das Gewiffen ein Worurs
theil, das Recht ein Serefum, dem Wohlwollen wers
de fein Grund entzogen, die Band der Gefelifchaft
soürden zerriffen, die gegenfeitige Treue_ aufgehoben,
der Freund Fönne den Freund, der Bürger fein Bas
terland, der Sohn den Vater verrarhen und ermots
den, Sobald das Jutereſſe es fodere, und die Hands
fung nicht die Ahndung der Obrigkeit zu fürchten habe,
Die unverleglichften Rechte und heiligſten Geſetze Lüns
ten dann für nichts anders, als für Träume und Bi
ſionen, gelten,
Der Verfaſſer erwiedert: Ein ſolches Betragen
koͤnne niemals von einem empfindenden, denkenden,
vernünftigen Weſen erwartet werben; ſondern nur von
einem Raſenden, einem wilden Thiere, das gar keine
Idee von den natürlichen Verhaͤltniſſen habe, die uns
ter Weſen ſtatt finden, welche einander für ihr gegens
feitiges Wohl nothwendig bedürfen. Das entwors
fene Bild eines. Atheiſten, und die vermennten Fols
gen dieſer Denfart, mären alforin der Wirklichkeit
unmöglih. Der Atheiſt kennt die Gefeße feiner: eis
genen. Natur, und der Matur dev. ————
11729 e
160 Geſchichte der’ neuern Philoſophie
Er hat Erfabrung, und dieſe lehrt ihn, daß ihm
das Laſter ſchaden koͤnne, daß ſeine geheimſten ſchlech⸗
ten Abſichten und Verbrechen einſt an's Licht kommen
moͤgen; daß die geſellſchaftlichen Verbindungen mit
andern, Menſchen ihm nuͤtzlich und wobhlthaͤtig find;
daß alſo fein Intereſſe fodere, fich an das Vaterland,
das ihn fhüße, und ihm den fihern Geruß der Nas
turguͤter verſchafft, anzufchließen, daß er, um ſelbſt
glücklich zu werden, die Liebe Anderer zu gewinnen
fuchen muͤſſe; daß Gerechtigkeit und Wohlwollen zur
Erhaltung der Geſellſchaſt fchlechterdings nothwendig
feyen, und Niemand, mie viel Macht er auch immer
befigen möge, ruhig und mic fich felbft zufrieden feyn
koͤnne, der fich bewußt ift, daß er ein Gegenftand des
öffentlichen Haſſes ſey. Unter diefen Umftänden kann
auch der enrjchiedenfte Atheiſt feine Pflichten nicht vers
kennen, die er fich felbft und Andern ſchuldig if. Er
bar alfo eine Moral, und fehr trifftige Gründe, fie
zu befolgen, und wenn feine Vernunft niche durch
blinde Leidenfchaften oder böje Gewohnheiten verderbt
iſt; fo wird er einfehen, daß die Tugend für jeden
Menfchen der fiherfte Weg zur Glückfeligkeit ift.
Der Arheift und der Fatalift gründen ihre Sys
ſteme auf die Mothwendigkeit. Ihre moralifchen Spe
eularionen, auf Demfelben Grundererbauer, find we
nigftens ficherer und unmandelbarer, als diejenigen‘)
die fich nach der veränderlichen Idee einer Gottheit
richten, welche wiederum von. den Einfichten,, Leiden⸗
ſchaften und Gemächsftimmungen derer abhängt; die
fie bilden. Die Natur der Dinge. und ihre Gefege
find feiner Veränderung unterworfen. -: Der Atheifk
iſt immer gezwungen, Laſter und Thorheit zu nennen,
was ihm ſelbſt ſchadet, fo wie Verbrechen, was Una
in dern
waͤhrend d: achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 161
dern verderblich iſt; hingegen mit dem Namen der Tus
gend zu bezeichnen, was ihnen Vortheil ſchafft, und
zu ihrem dauernden Gluͤcke beyträgt. In jeder Hins
fieht find alfo die. Principien des Arheiften unerfchüts.
gerlicher, als die des theologiſchen Enthuſiaſten. Leugs
net ‚jener auch die Eriftenz Gottes, fo kann er doch
feine, eigene und die Eriftenz anderer ibm ähnlicher
Weſen nicht leugnen, und eben deßwegen kann er auch
sicht ‚die Eriftenz von Principien der Moral bezweis
feln. Wender der Arheift diefe Principien nichr auf
fein Betragen an; wird er ein Spiel eines verderbten
Temperaments, und läße er fich durch fehlerhafte Ges
wohnheiten und Leidenfchaften zu Laſtern fortreiffen; fo
ſcheint er freylich jene zu vergeffen; aber es folgt dars
aus nicht, daß er gar feine moralifche Grundſaͤtze has
be, oder daß fie faljch feyen; es folge bloß, daß er
feiner Vernunft nicht gehocche, wie dies- nicht minder
oft bey denen der. Fall ift, die fich zur theologiſchen
Moral befennen. u
Nichts iſt gemeiner unter den Menfchen, als eis
ne auffallende Unginigfeit zwifchen ihrem Verftande
und ihrem Herzen, d. i. zwifchen ihrem Tempergs
mente,. ihren geidenfchaften, Gewohnheiten, Phans
. - tafieen, und ihren. Uccheilen, fofern diefe die Refuls
tate einer undefangenen Reflerion find. Nur dann,
wenn unter dieſen Harmonie ſtatt finder, bemerkt
man einen Einfluß dee Speeulation auf die Praris,
Die ficherften Tugenden eines Menfchen find fiets dies
jenigen, Die aus feinem Temperamente hervorgehen,
und auf_demfelben beruben. . Es komt folglich alles
‚mal darauf an, zu unterſuchen, ob die Principien
“des Ucheiften wahr fenen? nicht aber, ob fein wirk⸗
liches praftifches Verhalten Beyfall verdiene ?
Buhle's Geſch. d. Philoſ. VI. B. Ein
162 Gecſchichte der neuern Philoſophie
Ein Atheiſt als ſolcher kann eine vortreffliche auf
die Natur der Dinge, die Erfahrung und die Ver—
nunft gegründere Theorie haben, und überläße fich
denne Ausichweifungen, die ihm felbft und der Ges
fellichaft gefährlich find. Dann ift er ohne Zweifel
ein inconfequenter Menſch; aber er ift nicht mehr zu
fürchten, als ein religiöfer Zelot, der an einen guten,
gerechten und vollfomnen Sort glaubt, und nicht ums
terläße, im Namen desfelben die abjcheulichfien Hands
Aungen zu begeben. Warum follte ein arheiftifcher
Tyrann furchebarer ſeyn, als ein fanatifher? Ein
unglaͤubiger Philoſoph flifter bey weitem das Unheil
nicht, und fann es nicht fliften, was ein fanatifcher
Priefter bewirkt, der die Zwietracht unter feine Mits
buͤrger verbreitet. Allerdings mag es wohl Atheiſten
gegeben haben, die den Unterfchied zwifchen dem Gus
ten und Böfen leugneten, und damit das Fundament
allee Moral vernichteren. Bon diefen läßt ſich aber
nichts weiter fagen, als daß fie über diefen Punet
falſch urtheilten, daß fie die Natur des Menfchen und
Die wahre Duelle feiner Pflichten’ verfannten, und in
dem irrigen Wahne fanden, die Moral fey eine eben
Be fo ertraͤumte MWiffenfchaft, wie die Theologie, und
wenn bie Götter einmal vernichtee wären, fo wären
damit alle Bande der menfchlichen Gefellfchaft zerriſ⸗
fen. Eine ſolche VBorftellungsare mwidertege fich ins
zwifchen ſelbſt, fobald die vernünftige Meflerion dars
auf gerichtet wird. Man darf nur die Leugner des
Unterfchiedes zwifchen Tugend und Laſter fragen: ob
es ihnen gleichgültig fenn würde, gefchlagen, beraubt,
verleumder, undankbar bebandele, von ihren. Gatten
. entehre, von Kindern inſultirt, von Freunden vers
rathen zu werden? Die Antwort wird bemeifen, daß
es einen Alnterfchied des Werthes der menfchlichen
Zu Ä Hands
während. d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 163
‚Handlungen gebe, und daß dieſer Peinesweges durch
eine Convention unter den Menfchen entſtehe, oder
auf Ideen von der Gottheit, und Belohnung und
Beſtrafung von derjelben in einem andern Leben bes
ruhe. | | |
Ueberhaupt, meynt der Verfaffer, Bönne man _
die Feinde der menfchlihen Vernunft auffodern, ein
einziges Beyſpiel anzuführen, aus welchem erweislich
wäre, daß bloß pbilofophijche der Religion entgegens
gefegte DVorfiellungsarten und Behauptungen Uneus
- ben in einem State erweckt hätten. Alle Religiongs
Rreitigkeiten ruͤbrten von theologiſchen Mehunngen
her, weil die Regenten und Voͤlker ſo thoͤricht waren
fi einzubilden, daß fie daran Theil nehmen müßten,
Dur jene eitle Philofophie iſt gefäprlich, welche die
Tpeofogen mit ihren Spftemen verbunden haben. Es
giebt ja faft feine theologifche Frage, welche niche
der menſchlichen Geſellſchaft unzählige Uebel zuges
zogen hätte, während alle Schriften, ſowohl der
ältern als der neuern Atheiſten feinem Andern ges
fehader haben, als ihren eigenen Verfaſſern, die niche
felten Opfer der allmächtigen Betriegerey der Priefter
wurden. Freylich ift der Atheismus Fein Spitem .
das für den großen Haufen paßte, fofern dieſer ges.
meiniglich unter der Vormundſchaft feiner Priefter
fiepe. Eben fo wenig tauge er für die leichtſinnigen
Charaktere, die der Geſellſchaft mir ihrer Unnuͤtzlich⸗
keit und ihren Laſtern befchwerlich fallen, für ehrgei⸗
zige, intriguante, unruhige Koͤpfe, die ihr Intereſſe
darin finden, Alles in Bewegung zu ſetzen und zw.
verwirren; noch weniger für eine, große Zahl ſonſt
wohl unterrichterer einfichtsvoller Meufchen, die nicht
den Muth haben, ſich von ipren einmal gefaßten Vor⸗
oo | 2 urthei⸗
164 Gefchichte der neuern Philoſophie
urtheilen loczumachen. Es fommen fo mande Ur—
fachen zufammen, melche die Menfchen in den mit
der Muttermilch eingefogenen Irrthuͤmern beftärken,
daß jeder Schritt, mit welchem fie ſich davon entfers
nen, ihnen unendlich fhwer wird. *
Selbſt die aufgeklaͤrteſten Leute baͤngen zuweilen
von irgend einer Seite an dem allgemeinen Wahne.
Man ſieht ſich gleichſam iſolirt; man redet die Epras
che der Geſellſchaft nicht, wenn man allein feiner eis
genen Meynung if. Es gehört ein hoher und feltes
ner Grad des Murhes dazu, eine Denfart anzunehs
men, die nur von fehr Wenigen gebillige wird. In
ändern, wo die Wiſſenſchaften beträchtliche Fort
fchrirte gemacht haben, und wo zugleich die Freybeit
des Denkens herrſcht, wird man leicht eine große Zahl
Deiften oder Ungläubige antreffen, die zufrieden, die
- - gröbften VBorurtheile des großen Haufens abgelegt zu
baben, doch niche wagen, bis zur Quelle zurüczus
gehen, und die Gottheit felbt vor den Richterftupf
der Vernunft zu fodern. Blieben diefe Denker nicht
auf halbem Wege fteben, fo würde ihnen die weitere
Nachforſchung bald beweifen, daß der Gott, deflen
Daſeyn und Natur fie nicht den Much haben, ges
nauer zu prüfen, ein eben fo fchädliches Wefen und
für die gefunde Vernunft eben fo empörend iſt, als
es alle Dogmen, Fabeln, Myfterien, und abergläus
bifchen Gebräuche find, deren. Verwerflichkeit fie ber
reits anerkannt haben. Sie miürden einfehen, mas
nun von dem WVerfaffer ausführlich dargethan ſeyn
fol, daß alle ‘jene Mehnungen bloß norhivendige Fols
gen’ gewiffer Grundbegriffe ſind, welche ſich die Miens
ſchen von einem göttlichen Phantome gemacht haben,
das, ſobald man feine Exiſtenz einraͤumt, auch als
SE Br 74 * len
—
u waͤhrend d. achtz Jahrhund. b. auf Sant, 265
z den den Wahn. nach ſich zieht, welchen bie Phbanta⸗
‚fie daruͤber erſinnen kann. Kin wenig Nachdenken
wuͤrde ihnen auch zeigen, daß gerade dies Phantom Ä
bie mahre Urſache aller der Uebel iſt, welche die bür:
‚gerlihe Gejellichaft drücken. Endlofe und blutige
‚Streitigkeiten, die unaufpörlich durch. die Religion
and den religiöfen Parteygeiſt erzeuat werden, find die
unvermeidlichen Wirkungen der Wichtigfeit, welche
‚man auf.eine Ehimäre lege, die flets geeigner.ift, die
Gemuͤther gegen einander zu erhißen.
Sehr viele Menfchen erkennen wohl, daß bie
Ausfchweifungen des Aberglaubens für die menfchliche
Geſellſchaft ehr -mefentliche Uebel find; fie Flagen über
die Misbräuche der Religion. "Aber: fehr wenige ers
kennen, daß eben jene Ausfchmweifungen nothwendige
Folgen von den Fundamentatprineipien aller und
jeder Religion find, die ſeibſt nur auf faliche und
wachtheilige Begriffe (notions faeheules) gegründet
fenn kann, welche man fich von der Gottheit zu mas
chen genoͤthigt ift.
"Man bemerkt oft Menfchen, bie fich für ie
Perſonen über religiöfe Worurtheile erhoben haben,
‚aber dennoch behaupten, daß diefe VBorurtheile noch
wendig für den großen Volkshaufen feyen,
‚weicher ohne biefelben niche in Schranken gehalten
- ‚werden fönne. Heißt dies Raiſonnement nicht eben
ſo viel, ‚ale wenn man behauptete: Das Gift fen dem
Volke nothwendig, oder man müfle es nothwendig
‚wergiften, damit es feine Kräfte nicht misbrauche?
- Heißt e8 nicht, eine Nothwendigkeit annehmen, das
Volk unvernuͤuftig zu machen, und durch Phantome
‚zu blenden, damit es ſich Fanatikern oder Betriegern
F unterwerfe, ‚bie hernach feine Thorheiten benutzen mers
3 den,
166 Geſchichte der neuern Philoſophie
den, um die ganze Welt zu verwitren, und auf den
Truͤmmern aller bürgerlichen Macht ihre eigene Herr⸗
ſchaft zu erheben? |
Ueberdem follte es wirklich wahr feyn, daß die
Keligion auf die Sitten der Völker einen wahrhaft
nuͤtzlichen Einfluß habe? Man ficht Teiche, die Re
ligion unterwirfe den großen Haufen, ohne ihn zu
beſſern; ſie macht daraus “einen Haufen unmifjender
Sclaven, die durch panifche Schreefen unter dem os
che von Tyrannen und. Prieftern feufzen; fie macht
‚Dumme Menfchen,- die auf gewiſſe leere und unnüße
Gebräuche einen weit höhern Werth legen, als auf |
die wirklichen und -nüßlichen Tugenden und. Pflichten
der Moral, in denen man fie niemals unterrichtete,
Wenn auch die Religion zufällig einzelne, furchtfame
Menfchen in. Schranken hält; fo bar fie doch Feinegs
weges diefelbe Wirfung bey der großen Volksmaſſe,
Die ſich nichts defto weniger von den epidemifchen Las
ſtern binreiffen läßt, welche unter ihr herrſchend ges
worden find. Da wo der Aberglaube am meiften tris
umpbirt, wird man immer die wenigfte Sittlichkeit
finden. Es ift allemal ein trauriges Vorurtheil an
— J
ſich ſelbſt, daß es nuͤtzliche Irrthuͤmer gebe,
und daß Wahrheit gefährlich werden koͤnne.
Das Vorurtheil fann das Elend auf der. Erde vers
ewigen. Die Menfchheit verdanft alle ihre Leiden
vielmehr dem Irrthume; mas man finden wird, ſo⸗
bald man nur den Gründen jener mit Unbefangenheie
nachforfcht. Unter diefen Irrthuͤmern aber find eben
die religidfen die verderblichften wegen des Werthes,
"den man ihnen beymiße; wegen des Stolzes, den fie
den Herrfchern einfloͤßen; wegen der Herabwuͤrdigung
Der Unterthanen. Hleraus fließt unmittelbar, * F
J ‚even.
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, - 167
eben die gebeiligten Zerthämer der Menfchen
es find, zu beren gänzliher Vernichtung dag
Jutereſſe, dee Menfchheit auffodert,. welche fi alſo
auch die gefunde Phitofophie am angelegenſten ſeyn
laffen muß. Buͤrgerliche Unruhen und Revolutionen
find ‚hiervon gar. nicht zw beforgen. Je frener die
Wahrheit fprechen wird, deſto einfeuchtender wird fie
ſeyn; defto weniger wird fie alfo auch die. Menjchen
zu. Unordnungen verführen | | |
Die Urfache demnach, warum der Atbeism
von jeher auch vorurtheilftege Perfonen "beunruhigt
hat, und noch beunruhigt, fiege darin, daß man die
Gründe und Folgen desfelben nicht genug entwik⸗
felte. Man finder einen zu großen Abftand zwifchen
dem gemeinen Aberglauben und der abfolus
ten Jrreligion. Man glaube alfo, einen weiſen
Mittelweg einzufchlagen, indem man gemwiflermaßen
den Irrthum mie der Wahrheit zu vermählen fuchtz
man täßt allenfalls das Princip zu, aber man vermwirft
Die Folgerungen. So behält man das Phantom bey,
und wird niche gewahr, daß diefes über kurz oder
Tange diefelben Wirkungen und Thorheiten in den
Köpfen dee Menfchen hervorbringen muß, die man
Doch gerne verhüten oder ausrotten wollte.
Die meiften unglänbigen und philofophifchen Res
formatoren behauen einen vergifteren Baum, wagen
es aber nicht, die. Art an die Wurzel zu legen; als
ob aus diefee Wurzel nicht bald derfelbe Stamm wies
der. bervorfchießen würde. Die Theologie oder bie
Religion werben immer brennbaren Stoff enthalten;
und diefer wird in der. Phantafie der Menfchen fich
immer auf’s neue entzuͤnden. So lange die Priefters
ſchaft das Recht haben wird ? der Jugend die Köpfe
j | ‘4 zu
168 - Gefchichte der neuern Philoſophie
ju verdreßen, fie zu gewöhnen, vor Worten zu zit⸗
Keen, die Mationen durch den Mamen eines furchtbar
ren Gottes zu Beunruhigen, wird auch der Fanatigs
mus der Tyrann der Geiſter ſeyn, und der Bes
trug wird nah Willkuͤhr in den Starten Verwirrung
erzeugen und verbreiten koͤnnen. Das anfangs tw
bedeutend fcheinende Phantom, durch die Phantafie
der Menſchen ſtets genährt, ausgebildet, verarößerr,
wird nach und nach ein hinlaͤnglich mächtiger Koloß
werden, um alle Köpfe in Verwirrung zu. bringen,
‚und bürgerliche Reiche zu zerftören. Der Deismus
alſo iſt uͤberhaupt ein Syſtem, wobey der menſchli⸗
che Geiſt nicht lange verweilen kann, ohne daß ſein
wahres Wohl darunter leidet. Auf einer Chimaͤre
erbaut, muß er bald und nothwendig in einen gefaͤhr⸗
J Abel ausarten.
*
Abſichtlich habe ich den Inhalt des Syfleme de
la nature ausführlicher dargeftellt. Weder im Alters
thume, noch in den neueren Zeiten, iſt der Natura⸗
lismus und Fatalismus ſo vollſtaͤndig, ſcheinbar gruͤnd⸗
lich und blendend, und mit ſo ſorgfaͤltiger Hinſicht
auf die entgegengeſetzten Syſteme der Theologie und
Moral vorgetragen worden, wie es von dem Verfaſ—⸗
fer des Syſteme de la nature gefchehen if. Er ifk -
Daher auch als der Herold des neuern Atheismus, bes
fonders.fo wie diefer aus den Schriften der fogenanns _
ten Encyklopaͤdiſten bervorleuchtet, zu betrachten. Die
übrigen franzöfifchen Maruraliften haben nur feine phis
lofopbifchen Gründe wiederholt, weiter ausgeführt,
mit ihrem Wie ausgeftatter, oder fie durch Spoͤt⸗
terenen Über die pofitive Religion, und die m
quelle
r
- während d/ achtz. Jahrhund.b. auf Kant. 169 |
quelle derſelben/ die Bibel, zu unterſtuͤtzen gefucht.
Für tefer, die nicht in der :philofophifchen Specula⸗
sion jehr gebt, und mit dem Geiſte der verſchiedenen
philoſophiſchen Syſteme fehr vertraut find, kann es
daher. auch keine gefaͤhrlichere Schrift geben, als das
Syſteme de Ja:nature; zumal da der Verfaſſer bey als
Lem feinem: Eifer für Naturalismus und Fatalismus
doch die Nothwendigkeit der Moral behauptet, und
Diefe auf eine eigene Weiſe zu begründen fuche.. In
manchen einzelnen Puncten, befonders was: die fals
ſchen Religionen, und den Misbraudy des Chriftens
thums bereifft, bat er auch unleugbar Rechte, und
Diefes ift es vorzüglich, was für feine Philofoppie
überhaupt einnimt.
Die Hauptfrage, von deren Entfcheidung die _
Goͤltigkeit des Maruralismus und Fatalismus, wie
er bier aufgeftellt worden ift, abhängt, ift diefe: Ob
fih das Weltall, wie es ift, namentlich
die insellectuale und moralifhe Welt, ei u
zig aus den Gefegen der Bewegung der
ewigen Materie, aus dem bloßen Mecha—
nismus, erklären laffen?
Hier bleiben aber zwey Puncte übrig, die in dem
Mechanismus ihre Auflöfung nicht finden , die Zweck
mäßigfeit der Dinge, und die Freyheit. Die
" Materie, ſoweit wir fie durch Erfahrung Pennen ler⸗
nen, ift ein Syſtem blinder Kräfte, deren Wirffams
keit freylich gewiſſen Geſetzen, ‚die in der Matur der
Materie felbft ihren Grund haben, unterworfen iſt;
"aus deneir'fich aber Alles, was wir auf Bernunft
zurückfüßren,, fchlechterdingssnicht herleiten laͤßt. Ein
blindes Schickfal für den Urheber der Zweckmaͤßigkeit
halten; die Vernunft zu einem Producte der Unver⸗
85 nunft
Af
170 | Geſchichte der: neuern Philoſophie
nuuft machen, iſt doch der offenbarſte Widerſpruch.
Wollte man auch eine zweckmaͤßige Wirkſamkeit in der
ſogenannten lebloſen organiſchen Natur, und auch in
der thieriſchen Welt leugnen; ſo iſt ſie doch in der
Matur des Menſchen unverkennbar. Es exiſtirt eine
menſchliche Kunſt, die nach Zwecken wirkt, und
mie welcher die Natur bey ihrer Thaͤtigkeit eine Anas
logie bat; jo daß ſich auch die Natur als das uners
meßliche Laboratorium. eines unendlich mächtigen und
weiien vernünftigen Künftlers anſehen laͤßt. Das
Vermögen des Menfchen aber, nach einen Zweckbes
geiffe zu wirken, für eine zufällige oder. gar nothwen⸗
dige Combination der. Bewegkraͤfte der Materie zu ers
klaͤren, ift eine Erklaͤrung, die fich nie beweifen läßt,
und alfo auch für die Vernunft emig unbefriedigend
bleibe. Abſtrahiren wir von aller Intelligenz, allem
vernünftigen Principe in der Natur, fo ift die Zwecks
maͤßigkeit der Naturwirkungen ſchlechthin unbegreifs
lich. Keine Kraſt weiß von der anderen; jede wirkt
blind und ungabſichtlich; mie wäre eine Zuſammen⸗
flimmung der Kräfte zu Zwecken, und wiederum als
Ver diefer einzelnen Zwecke zum Ganzen möglih? Es
ift auch eine auffallende Lücke in dem Syfteme ber
Natur, daß der Verfaffer nicht verfucht hat, die
Zweckmaͤßigkeit aus den bloßen Bewegfräften der Mas
serie, und mannichfaltigen Sombinationen derſelben
berzufeiten.. Muß man aber einmal, um die Zweck⸗
mäßigfeit zu begreifen, ein von der Materie weſent⸗
lich verfchiedenes Princip, eine Weltintelligenz, oder
ein Princip aller Intelligenzen überhaupt annehmen;
fo verliert der Maruralismus die Einheit und Gelbfts
ſtaͤndigkeit feines Principe, der fich felbft bewegenden
Materie, und kann fi ch nicht gegen den — be⸗
m. &
x
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, 171
Zu einer Prüfung: aller der Gruͤnde, die der
Vf. für den Fatalismus vorgebracht har, iſt hier
nicht der Ort. Sein Naturalism haͤngt mit die
ſem auf's genaueſte zuſammen. Mur Eines hat er
hinreichend zu erklaͤren unterlaſſen, woher das Be
wußtſeyn der Freyheit beym Menſchen ſtam—
ine, Wenn dieſer nichts weiter, als eine Maſchine iſt, |
Die durch ein ewig nothwendiges Schickſal Determinirt
wird? Sein Moralfnftem, das er in der Folge ent⸗
wickelt, ſteht auch mie. feinem Determiniem in dem
geradeſten Widerſpruche. Cr giebt einen: Unterſchied
des Guten und Böfen in den menfchlichen Handluns
gen zu. Jenes ift das, was dem Menfchen felbft und
Andern nüßtz> diefes ift das, mas ihm und Andern
fchadet. Mach diefer Borausfeßung empfiehlt er als
fo auch Pflichten des Wohlwollens und der Menfchens
liebe gegen Andere. Wie find aber diefe Pflichten
und ihre Erfüllung möglich, wenn bey den Handelns
den gar feine Freyheit obwaltet? KHerrfcht in Allem,
was der Menfch empfinder, vorftelle, will und tur,
ein nothwendiges Schickſal; fo ift alle Moral nur
Tand, und alle Moralitäe Wahn und Täufchung.
Der größte Böfewicht, deſſen Handlungen ihm ſelbſt
und der Geſellſchaſt am nachtheiligfien find, Handelt
alsdenn fo, wie ibn das Schickfal mechanifch dere
minirt, und kann nicht anders handeln; fo wie der
wohlmwollendfte edelfte Menfch ebenfalis nur ein Werks
zeug in der Hand der fatalen Nothwendigkeit if. Es
kann hier weder von $after und Schuld, nodj von
Tugend und Würdigkeit die Rede feyn. ‘Die Moral,
welche der Verfaſſer mit feinen theoretiſchen Princis
pien in Verbindung zu) feßen, und fogar aus diefen
rzuleiten ſucht, iſt an fich felbft nur erfchlichen, und
jenen Principien geradehin enrgegengefeßt. Daß aber
.. | dur
are GSeſchichte der neuern Philofophie
durch den Naturalismus ‚und Fatalismus alle Mora⸗
litaͤt aufgehoben wird, und als: Chimaͤre und; Taͤu⸗
ſchung erſcheint, iſt ein Hauptvorwurf, welchen man
dieſer philoſophiſchen Vorſtellungsart machen kann.
Auf eine unwiderlegliche Art hat der Verfaſſer
gezeigt, daß keine theoretiſche Erkentniß von
Sort und feinen Eigenſchaften möglich iſt, und
Daß eine. jede Theologie, die eine folche zu enthalten
vorgiebt, aus innern Widerfprüchen ;beftebt. Eben
fo richtig urtheilt ee auch über die verderblichen: Fol
gen des religioͤſen Aberglaubens, der Herrſchſucht der
Priefter, für das menfchliche Geſchlecht. Allein Bes
weiſe feines Naturalismus hat er. mit: Linrecht Hiervon
entlehnt. Wenn auch Feine eheorerifche Erkentniß von
Gott möglich ift,- fo find wir doch zum Glauben an
eine intelligente und moralifche Gottheit berechtigt,
Die der Urheber des Reichs der Natur und der Sitten
ift, und deren Wefen und Verhaͤltniß zur Welt eben
Darum nicht erfanne werben Paun, weil feine Eigen:
ſchaft endficher Dinge auf fie paßt. Wenn falfche
Meligionen und Aberylauben verderbliche Wirkungen
für die Völker Hervorbringen; fo kann man keineswe⸗
ges dasfelde von einer wahren auf Moralität gegrüns
‚beten Religion, vielmehr muß man von diefer ſchlecht⸗
bin das Gegentheil behaupten. Daß aus dem -vers
breiteten Naturalismus und Vernachlaͤſſigung aller
Religion auch die größte Sitrenlofigfeit der Erfahrung
nach ſowohl bey Individuen als bey Völkern entfprins
gen kann und wirklich entfpringe, hat der Bf. viel
zu wenig in Erwägung gezogen, Es mag frenlich
. einzelne Menfchen geben, die auch bey naturaliftifchen
Mrincipien dennoch Mechtlichkeit und Wehlmollen ges
gen ihre Mitmenſchen beobachten; Deren Charakter —
N)
während d. acht;. Jahrhund. 6. auf Kant. 273
fo durch den Mangel an Religion nicht zum Schlim
men ausartet; alleim bey dem’ großen Haufen -felbf
der eultivirteften Marionen wird aller Erfahrung nach
diefes niemals der Fall ſeyn. Kine moralifche Reli⸗
gion wird deßwegen auch immer Beduͤrſniß und Wohl⸗
that fuͤr die Voͤlker bleiben, und eben dieſe wird auch
dem Aberglauben und jedem hierarchiſchen Unfuge vors
beugen *).
* z * |
Faſt um diefelbe Zeit mit dem_ Syſteme der
Natur erfchien das Werk des J. B. Robinet de
la nature, das aber eine jenem ganz entgegengefeßte
Tendenz hat; daher ich es igt des Contraſtes wegen
zugleich mie jenem characterifiren will **).
& ‚ Der Verfaffer verfolgte in demfelben vier Haupts
zwede. Erftlich wollte er eine befjere Theodicaͤe
begründen, als die bisherige Philoſophie aufgeſtellt
hatte. Ein durchaus gutes Weſen fann nicht Urs
heber des Uebels und des Boͤſen feyn; ſelbſt niche
durch eine bloße Zulaffung, welche die Folge vorhes
tiger guter Nachfchlüffe war; denn fofern die Gott—
beir abſoluter Beberrfcher der Ereigniffe ift, muͤſſen
ah
+) Bol. Examen du Materialisme, ou Refutation du Sy-
fleme de la nature. Par Mr. Bergier; à Paris 1771.
2.Tomes, 8, — Obfervations fur le livre —
Suſteme de la nature. Par Mr. M. J. de Caflillon; à
Berlin 1771. 8. — Reflexions philofophiques fur le
Suſteme de la narure) Par Mr. Hodand; à Paris, 1772.
5. Beim ke yrai fens du Syfleme de la nature (par Hel-
verius); Quvr. poſth. 4 Londres 1774. 8. Deutfd:
Sranffurt und Leipzig 1783. 8.
®%*).De'la nature. Par 7. B. Robiner; à Amfterdam
— 68; V Voll. 8.
7
174 Gefchichte der neuern Philoſophie
auch die Folgen von Rathſchluͤſſen in ihrer Gewalt
ſtehen, und bey jener Vorausſetzung komt mau alfo
in Gefahr, die Höhfte Bosheit mit der hoͤch—
fen Güre vereinigen zu muͤſſen. Robinet wolls
se alfo dagegen zeigen, Daß vermoͤge einer metapbys
fifhen Nothwendigkeit in einer endlichen
Welt das Uebel wefenelih mit dem Guten vers
bunden fen; daß daher von beyden ohngefaͤhr eine
gleiche Summe in der Welt eriftire; und hieraus ein
nothwendiges Gleichgewicht des Uebels und des Gus
ten in der Natur entfpringe, welches bie Hormonie
derſelben bewirke.
Zweytens wollte R. die Principien der —
gung und Fortpflanzung in der Natur aufklaͤren. Die
‚Analogie der Natur fodert, daß vom Atom, der fich
unferer finnlihen Wahrnehmung entzieht, bis zum
leuchtenden Welikoͤrper, alle Wefen ſich auf. diefelbe
Art wieder erzeugen. Vermoͤge der Einfoͤrmigkeit dier
fes Gefeßes fehen wir alle Reiche, Gattungen und
Arten der Natur fich erneuern und immer wiederfehs
ren. Mie Hülfe einer genauen Logik. und einer bins
laͤnglichen Menge von Tharfachen, muß fih alfo die
einförmige Erzeugung der Marurdinge, die anfangs .
— ſcheint, mehr als wahrſcheinlich machen
laſſen.
Drittens da auch der Verfaſſer der Hypothe⸗
ſe der Engliſchen Philoſophen beypflichtete, daß die
Moralicäe ſich auf einen beſondern Inſtinet im
Menfchen gründe; fo wollte er den Faden der Unters
ſuchung hieruͤber da aufnehmen und ſortſetzen, wo ihn
jene fallen ließen. Er wollte den Mechanismus dies
fes fehsten (moraliihen) Sinnes entwickeln,
der den übrigen Sinnen Ähnlich, aber edler, als fie,
| — und,
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, 175
und, anſtatt daß jene bloß zum Gebrauche des Indi⸗
viduum's dienen, für die geſamte Menjchengattung
beſtimt iſt. Hiermit hieng denn auch eine Erörterung
des Einfluffes der Theorie vom moralifchen Sinne auf
die bürgerische Geſellſchaft und die Gefeggebung zus
fammen.
Viertens, Inter Geiftern verficht Robis
net denfende Subjlanzen, wie auch ihr Weſen und
Urfprung beſchaffen ſeyn möge, über welche letztern
Puncte er ih nur Muthmaßungen erlaubt. Die
Tbeorie der Tpätigkeit diefer Geifter nach den Regeln
der Optik und Akuſtik, als befländigen und unwan—⸗
deibaren Prineipien, nennt er die Phyſik der Geis
fter, die den Befchluß feines Werkes ausmacht.
Das Raiſonnement, wodurch Robinet zus
voͤrderſt feine Theodicaͤe zu begründen ſucht, iſt in feis
nen Hanpemomenten folgendes: |
I. Nur das Unendliche ift unmandelbarz es
ift ganz und immer, was es ift, und kann fein
neues Geyn empfangen. Eben fo wird auch das,
was niche ift, micht verändert, fondern bleibe im;
mer in derfelben Negation des Dafeyns. BZmifchen
beyden, dem Unendlihen, und dem Abfoluts
negativen, liegt das Endliche in der Mitte. Dan
Bann weder von ihm fagen, daß es unwandelbar, noch
auch, daßes nicht fen. Es ift vielmehr das ſchlecht—
bin Veränderliche. Jedes endlihe Ding hat
die Eriftenz nur zum Theile, und die Portion, wels
che es davon auf einmal befiße, iſt die möglich Pfeins
ſte. Sie ift durch den gegenwärtigen Augenblick bes
grenzt; denn das Endliche iſt fchlechterdings keiner
Dauer fähig. Koͤnte das Endliche mehr ae
ar na
176 Geſchhichte der neuern Philoſophie
nach einander in demſelben Zuſtande beharren, fo wuͤr⸗
—
de es auch eine längere Zeit dauern fönnen, und
dann würde man die Dauer in der Zeit mit dee
Ewigkeit verwirren, obgleich die eine eben fo we
fentlich veraͤnderlich, als die andere beftändig iſt.
Die endliche Eriftenz enehält gleichwohl eine Art
von Unendlichkeit. Sie refultire aus einer unendlis
hen Summe unendlich kleiner Exiſtenzen, wie eine
unendliche Summe unendlich Fleiner Ausdehnungen
‚einen endlichen Raum bewirkt. In gewiffem Sinne
kann man mit Wahrheit fagen, daß die Gejchöpfe in
jedem Augenblicke leben und ſterbei. Sie fterben,
indem fie in jedem Augenblicfe die Eriftenz verlieren, _
die fie den Augenblick vorher hatten; und nichts defto
weniger leben fie, weil die augenblicfliche Eriftenz ,
welche fie in einem Momente verlieren, unmittelbar
durch eine neue Exiſtenz von derfelben Art wieder ers
fege wird. Robinet wendet diefe Ideen ſehr inters
effane auf die Schöpfung des Univerfum’s an, und
beweift daraus, Daß eine unendlihe Mache erfodert
‚wurde, um das Univerſum aus der Nichterifteng zum
Dafeyn zu erheben, und es in Diefem zu erhalten.
U. Ale Naturdinge bedürfen einer Nahrung,
und zwar erhält fich die Natur immer auf ihre eigene
Kofter. So naͤhren fid) die überall verbreiteten und
unter einander gemifchten Elemente gegenſeitig. Das
Feuer verzehre die Luft und faft alle andre Dinge; die
Luft färeige fich mir Waſſer, und wird nach dem verſchie—
denen Grade der Sättigung dicker oder dünner genannt;
das Waſſer feinerfeits wird von Luft und Feuer ges
ſchwaͤngert; und die Erde naͤhrt fi von allen den bes
terogenen Subſtanzen, die fie aufnimt, und die man
als ihre Erzeugnifje betrachtet. Dasſelbe en
| ies
—
während. ds achtz · Jahrhund. b. auf Kant, 177
bietetstms der Himmel dar. Es iſt nicht unwahr⸗
ſcheinlich, meynt Robinet, daß die Seuchtenden .
Himmelskoͤrper ihre Nahrung von den Dünften ems
piangen, welche ihnen ‚die Dunkeln Himmelskoͤrper
zuſenden; und daß umgekehrt die natürliche Nahrung
dieſer der, Zufluß der. Feuertheilchen iſt, welche jene
ihnen unaufhoͤrlich zuſtroͤmen laſſen. Auf eine anas
loge Weiſe gilt auch dasſelbe bey den. Mineralien,
Pflanzen, und in der thieriſchen Natur. So ver—
zehrt eine Haͤlfte der Matur die andere, und wird
wieder von ihr verzehrt, und ‚die Nabrung der. Natur⸗
dinge auf Koſten anderer iſt zugleich: ein: Princip ihret
Zerſtoͤrung.
MM, Eine dritte nothwendige Eigenſchaft der Nas
turweſen, woducch fie zugleich im Ganzen erhalten;
and im Einzelnen wieder deſtruirt werden, nachdem.
fie ihren Beytrag zur Erfaltung des Ganzen geleiftet _
haben," iſt die Weproduction derfelben. Die Ge
fchöpfe haben das Leben weniger, um es zu genießen‘,
als um es auf ihres Gleichen fortzupflarzen, und die“
Arten dee Dinge zu erhalten, um deren tillen die May
tur ſich lediglich für die Individuen intereſſirt. Wenn
zwey Körper gegen einander ſtoßen, gebt eben fo viel:
Bewegung auf der einen Seite verloren, als von det -
anderen mirgetheile wird. Eben fo in der Hervorbrins
gung eines Wefens durch zwey andere Weſen verlie.
ten dieſe beyden eben fo viel am Leben, als das neue:
‚daran gewinnt. Robinet ſucht ausführlich zu bes.:
weiſen, wie die Natur in der Entwickelung ber Orgas
nifationen zur Deife, von den erfien Keimen des Das -
feons an, Alles auf dies Fortpflanzung richtet, und.
wie. fie: am meiſten "fie: Diefen. Zweck bey den Geſchoͤp⸗
fen ſorgt, menn auch audere Zwecke, Die ſonſt. dem
‚Buhle's Geſch. d. Philoſ. VI.®. M Ge⸗
178 Geſchichte der neuern Philofophie
Gefchöpfe möglich waren, die aber durch die Umſtaͤn⸗
de gehindert werden, ſich nicht ſollten erreichen laſſen
khhnnen. Das Alter komt nur den Individuum
zu Gute, und iſt auch nur fuͤr dieſes beſtimt, nicht
für die Are. Das Individuum, wenn es dem Zwek—e
fe der Natur enrfprochen Has, ruht fich endlich aus,
und. genieße fein eigenes Dafeyn. Jedes Individuum
bat eine verhälenißmäßige Portion von Kraft, um
fein Daſeyn fortzupflanzen. ⸗Von diefer Kraft iſt
überhaupt eine gewiffe Quantitaͤt im Univerfum, die
unter alle Iebendige Weſen vertheilt if. Die neuem
Zeugungen erfegen alfo nur die alten, die geweſen
find. — 2
UV. Der Menſch Hält ſich gewoͤhnlich fuͤr den
Mittelpunet, um welchen ſich die ganze Schoͤpfung
dreht, und für den Hauptzweck derſelben. Er wähnt,
baß die Harmonie des Univerfum’s bloß zu feinem Vers
gnügen eriftire, entweder um feinen Geift aufjupeis
gern, oder um feinen Sinnen zu fehmeicheln. Dies
iſt inzwifchen nur ein leerer Hochmuth des Menſchen.
Die Ordnung der Natur beſteht Feinesweges in Bes
iehungen allee Naturweſen auf ein einziges. - Dian
Mr geglaubt, durch eine folche Hypotheſe die Güre
Gottes zu ehren; allein dieſe Hypotheſe ift der Traung
eines Spbariten, während feine Vernunft fchläft, der
entfliegt, fobald feine Vernunft erwacht. Die Har⸗
monie der Natur ift durchaus nicht um der Menſchen
willen, fondern um ber Vollkommenheit der
Natur felbft willen da. | |
Die Harmonie der. Natue befteht in der Unend⸗
lichkeit der Formen der Materie, die wieder: zwey ans
dere Linendlichfeiten, der regelmäßigen und der unre⸗
gelmaͤßigen Formen, in ſich ſchließt, und — ein
— | tr acht et. Ba
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 279
Ganzes ausmacht. Sie beſteht fernen in den unends
lich mannichfaltigen. Eigenfchaften'der Körper, von
denen feine weder abfolue gut, noch abſolut böfe ift.
Sie beſteht endlich in der Verfchiedenheit der Geiſter
und der Charaktere, wo immer das Gute dem Boͤſen
das Gleichgewicht hält, niche nur die Wiffenfchaft der
. Unwiffenheit, die Wahrheit dem Irrthume, die Tu—
gend dem Lafter; fondern auch die Vortheile der Wis
fenfhafe, Wahrheit und Tugend die Macheheile der
Unmifjenheit, des Irrthums und des Laſters, ausglei⸗—
chen, und zum Beſten des Ganzen fäntlich dienen.‘
. Die Verbindung des Guten und Uebels mar alfo im
dem Plane jeder möglichen Schöpfung endlicher Din⸗
ge nothwendig. Jede Veränderung des Einen erzeugt
eine proportionirte Veränderung des Andern, und
wenn das. Schaufpiel des Univerfum’s im Guten uns
endlich mannichfaltig ift, fo muß es auch alle Nuans
sen des Uebels haben. Die Mannichfaltigkeit der
Matur und ihre Harmonie zum Ganzen erfodert Ucht
und Finſterniß, Kälte und Wärme, durch das Vers
hältnig dee Himmelskoͤrper zu unferer Erde. Sie iſt
aber nirgend auffallender, als in der regelmäßigen
Suceeffion der Wefen, wo flets die Zerſtoͤrung lebens
Diger Keime andern zum Leben Plag inacht; in dem
ſchicklichen Mitteln zur Erhaltung der Individuen auf
eine gewiſſe Zeit und zur Fortpflanzung der Arten, wels
che Mittel gleichwohl wieder wirffam zur Zerftörung
ſind; damie fich feine Are zu fehe zum Machrheile ans
derer Arten vervielfältige, und eine zu lange Dauer
einer Generation das: Gedeihen der folgenden hindere.
Achter man auf die Individuen, fo follee man
glauben, daß Alles ſtirbt, Alles vergeht, Alles vers
nichtet wird. Achtet man * die Gattungen, ſo ſoll⸗
a se
180 Gefihithte der neuern Philoſophie ·
te man glauben/ daß Alles ewig und unveraͤnderlich
fe). Wie wäre aber dieſes Verhaͤltniß in der Matur⸗
dieſe Harmonie: des: unendlich Mannichfaltigen zum
Ganzen; ohne eine Verbindung des Wohles und Ue⸗
bels des Guten und Boͤſen, moͤglich? Die Har⸗
möonie der Ratur iſt alſo der vollkomne Ei
klang des Uebelsſſund des Guten; und hie
in beſteht die. Theodichen: "m, „nass du
Die vollfoinmenfte Erkentniß der. Harmonie des
ÜUniverfum’s har derjenige Geift, der mit, der dee ,
ollee Mannichfaltigkeiten des. Guten im Univerfun
auch die aller Formen des Mebels vereinigt, , Aus dem⸗
fetben Principe läßt fich nach der Meynung des Ver;
faffers auch die Eriftenz des Schmerzes‘ insbefons
- dre. bey den empfindenden, Subftanzen, techtfertigen,
Die Naturwefen Fonten nicht empfindende Subſtänzen
feyn, ohne Organe zu haben, nnd diefe mußten ans.
genehmen und ſchuerzhaften Reizen ausgefegt ſeyn;
damit in dem allgemeinen Spfteme der empfindenden
Bubflänzen eine‘ Quantität des Schmerzes eriflive,
die genan der Quantitaͤt des Vergnuͤgens gliche. Die
Meyiung, daß die Summe der angenehnien Empfins
dungen die. Summe der ungngenehmen weit überfteige,
ſchon dadutch, daß Menfchen: und Thiere fo viel, Mit
tefin ihret Gewalt baden, den Teßteren auszumweichen, -
bemuͤht ſich Robinet eifrig, zw widerlegen... ..,
—Eben die Gleichheit des Uebels und Guten er
haͤlt ſich auch in: den. Zuſtaͤnden der buͤrgerlichen Geſell⸗
ſchaft. Der Menſch iſt ein geſelliges Weſen,mit
einem thaͤtigen Geiſte, und einer Vernunft begabt,
die einer unendlichen Vervollkomnung fähig ft. Die
buͤrgerliche Geſellſchaft iſt das nothibendige Prodüct
der Entwickelung jener Faͤhigkeiten des Menſchen, und
2 ae." mit
während d; Adi. Jahrhund b. au ſMant 181 |
mit ihr und durch ſie wer den die Geſetze, der Handel,
der Krieg, die Kuͤnſte, Reichthum und Armuth, Eh⸗
re und Schande, und alle übrigen: geſellſchaftlichen
Verhaͤltniſſe und Einrichtungen in den Plau der Nas
sur aufgenommen. Der Menſch verliert durch die
Geſellſchaft an ſeiner urſpruͤnglichen Freyheit; allein
ee wird dafür durch die oͤffentliche Sicherheit enrfchäs
digt. Zudem er fich des Rechts begiebt, Güter: zu
erwerben, obue alle Rücklicht auf ſeines Gleichen, er⸗
wirbt er ein, anderes, fich alle gleichjaun zinsbar zu
machen, daß fie zu feinem Wohle und feiner Linters
haltung beyeragen müffen. Der Schwäche wird durch
die Unterftügung der Gefege dem Staͤrkern glei. :
> Ingwifchen ift nicht zu vergeffen, ‚daß in jedem
Stage eben fo viele Meuſchen bey dem Ungluͤcke dess
felben intereffire find, als.andere Buͤrger bey dem los
.. ze besfelben, weil ihr eigener Wohlſtaͤnd auf’s ges
naueſte mit bein. feinigen verbunden ift. Das Ynters
effe, diefe große Triebfeder der menfchlichen Hands
lungen, welche Altes. für, Ale und gegen Alle in Be⸗
wegung feßt, wird gerade fo viel Unorduung als Hars
monie, fo viel Gutes als Uebel, in die Geſellſchaft
bineinbringen. . Erwäge man: die Staten, daß e6
darin Regenten, Geſetze, eine Religion, eine: Moral, -
eine. bürgerliche Ordnung, einen Handel, gehorſame
und treue Völker, patriotiſche Helden, uneigennugige
Obrigkeiten giebt 5>fo- kann man. nicht umhin, die buͤr⸗
gerliche Geſellſchaft zu bewundern. Dante man aber
zugleich an die Meuchelmorde, Meyneide, Verraͤthe⸗
reyen, Raͤubereyen, Treuloſigkeiten, Metzeleyen, am
Die Werbrechen aller Art; die ſich ebenfalls in Staten
ereignen; ſo wird man vom Unwillen ergriffen, und
fuͤhlt ſich geneigtDdas — e⸗⸗ ba
er 3
fen.
162 Geſchachte der neuern Philoſophie
ſen. Dieſe entgegengeſetzten Empfindungen entſprin⸗ |
gen natürlich beym Anblicke der entgegengefegten Sce⸗
nen, welche die menſchliche Gefellfehaft darbietet.
Gleichwohl muß das genaue und beftändige Gleiche
gewicht des Guten und Uebels, das aus der bürgers
lichen Geſellſchaft im Ganzen entfpringe, uns lehren,
bag eine um des andern willen zu ertragen, bie hohe
dee herabzuſtimmen, die ung die Vortrefflichkeit eins
zelner Menfchen von der Gattung geben koͤnte, durch
Die Betrachtung der ausgezeichneten Bosheit Anderer,
Robinet wirft die Frage auf: Könte Gott
das Uebel in der Welt verhindern? —
Es iſt ein anerkannter Grundfag, daß die goͤtt⸗
Kihe Allmacht ſich nicht auf das Unmoͤgliche erfirecke,
Man Bann ſchlechthin leugnen, daß Gott 5.3. einett
Berg oßne Thal, oder fonft etwas fich geradezu Wi⸗
Derfprechendes Hervorbringen koͤine, und DMiemand
wird hierin eine Befchränkung der goͤttlichen Allmacht
finden. Lleße ſich alſo beweiſen, daß die Negation
des Uebels in der Natur einen Widerſpruch enthaͤlt;
fo wäre die obige Frage zur Befriedigung beantwortet.
‚Berner: Alles Erfchaffene ift endlich, und alles
Enpliche ift unvollfommen und mangelhaft; denn eine
Vollkommenheit des Weſens und der Eigenfchaften
kann nur dem Unendlichen zufiehen. Um alles Uebel
in der: Welt aufzuheben, waͤre zuvoͤrderſt das einzige
Mittel, das ganze Naturſyſtem fo abzuändern, Daß
gar Leine Weranlaffung zum Schmerze für die eny
pfindenden Subftanzen mehr obwaltete:. : Dann wuͤr⸗
de auch alles phyſiſche Uebel verfchwinden. . Det Ver⸗
ſtand und der ‚Wille müßten der Untegelmaͤßigkeit und
Unordnung durchaus ‚unfähig ſeynz; und bey *
— in⸗
waͤhrend de achtz/ Yahehund.6.:auf Kant. 183
Einrichtung derſelben wuͤrde es auch weder Irrthum,
noch Laſter geben; allein dieſe vorgeſchlagene Abaͤnde⸗
zung der Natur iſt unmoͤglich. Eine geſchaffene
Welt, ſo gut ſie ſeyn mag, iſt immer mangelhaft,
ihrem Weſen nach, in ihrer Totalitaͤt, in jeder Ver⸗
bindung ihrer Principien, und in jeder Beziehung
der Weſen, welche fie enehält, zu einander. Die
reine, abfolute, vollkomne Güte komt nur dem Uns
endlichen und LUnerfchaffenen zu. Go mie ein uns
endliches Weſen möglicherweife feine befchränfte Güte
haben kann; fo widerfpricht es auch der Natur eines
endlichen Weſens, daß die Natur desfelben abfolut
vollfommen und unbefchränft fey. Dies läßt fich zus
nächft auf die Drdnung der Elemente im Univerfum,
und auf das Gute der mannichfaltigen Combinatios
nen der Materie anwenden, das feiner Matur nach
nicht ohne Mängel feyn ann. Wäre ein Gut frey
‘son allem Uebel, würde es ein unendliches Gut feynz
e6 wäre feines Wachsthums, keiner VBerminderung,
überhaupt feiner Veränderung fähig; denn Dies wuͤr⸗
De eine Mangelhaftigfeit desfelben ausdrücken. War
es nun aber der göttlichen Allmacht unmöglih, das
Unendlihe hbervorzubringen; fo konte fie
auch nicht eine durchaus gute und fehlerlofe Welt (hafe
fen; und was ihr zu einer Zeit unmöglich iſt, iſt es
für fie fhlechehin; fo daß folglich die Aufpebung des
phyſiſchen Uebels im Univerfum eine fich felbft
widerfprechende Unmöglichkeie ift.
Auch die Irrthümer des Verftandes und
die Lafter des Willens haben eben fo in der Lins
vollftändigkeit diefer beyden Vermögen ihren Grund,
d. i. darin, daß ſie nicht unendlich find, Erſchaf⸗
fene Weſen koͤnnen aber nicht unendlich ſeyn, und es
se | M4 folge
⸗
—
184 Geſchichte der nein Wiloſobhie ·
‚folgt nothwendig auch hiet wieder der Schluß: daß
es eben ſo unmoͤglich für Gott iſt, Irrthuͤmer und
Aaſter ſchlechthin aufzuheben, als dem Verſtaunde und
Willen ihre Schranken gaͤnzlich zu nehmen. Die
Gottheit mag die Grenze des Endlichen ſo weit ent⸗
fernen, wie fie wolle; fie würde nie das Endliche zum
Unendlichen zu machen im Stande ſeyn. Zwiſchen
einer Intelligenz, die ihrer Natur nach dem Jer⸗
thume unterworfen, und eier ſolchen, die ihrer
Natur nach untrieglich iſt, giebt es gar kein Mits
telding. Nicht mehr zwiſchen einem abſolut ge⸗
rechten Willen, und einem ſolchen, der —
"Dig ber Ungerechtigkeit fählg iſt. so
Die Frage nach der Möglichkeit die "fe ſchen
und moraliſchen Uebels im Verbaͤltuiſſe zur Gottheit
kann man demnach ſo beſtimmen; War es fuͤr die
Goͤttheit möglich, eine ſchlecht hin gure Srdnung
der Dinge, einen untrieglichen Verfland, .
und einen abfolut gerechten Willen zu e%
fhaffen? Diefe Frage wird Miemand zu bejahen
wagen, Die abſolute Güte, Untrieglichkelt und Ges
rechtigkeit find Eigenfchaften der Gottheit allein; fie
kann fich derfelben nicht entäußern, ohne daß fie aufs
hörte zu ſeyn, was ſie iſt; noch kann fie ein Gejchöpf
damit begaden, ohne fie fich felbft zu entziehen, was
ſich widerſpricht. Die unendlichen Eigenſchaſten Got⸗
tes ſind an ſich ſelbſt unvertraͤglich mit einer erſchaffe⸗
nen Welt. So wie ein unendlicher Abſtand zwiſchen
dem Nichts, und dem Seyn, iſt; ſo iſt er nicht gerins
ger zwiſchen dem Geſchoͤpfe, und ſeinem Schoͤpfer.
Man koͤnte ſagen, daß Gott, um das moraliſch
Boͤſe in dee Weit zu verhuͤten, den Menſchen unwi⸗
derſtehlich zum Guten habe beſtimmen koͤnnen. Ei⸗
u 6 Dr nige
waͤhrend di achtz. Jahrhundb. auf Kant. 285
“ ige haben ſogar geglaubt, daß diefes für Gore möge
lich gewefen ſeyn würde, aud ohne dem Willen des
Menfchen Zwang anzuthun. Dieſe legrere Behaups
tung erflärt der Verfaſſer jedoch mie Recht für unden
ſtaͤndlich. Der Mille Ponte fchlechrerdings nicht an⸗
ders unabänderlich zum Wollen des Guten beſtimt
werden, als wenn ibm die Fähigkeit, das Boͤſe zu
wollen, durchaus genommen wurde. Behaͤlt der Wils
fe die Teßtere Fähigkeit, fo wird er auch zu beyden
Contrarien, dem Guten und Böfen, gleich geneigt
ſeyn. Er wird alfo bald das Gute, bald das Boͤſe
mwollen, und es ließe fich Fein anderer Grund hiervon
angeben, als eben das Vermögen des Willens, fich
bald zu dem einen, bald zu dem andern binzuneigem.
Auch laͤßt fich nicht annehmen, die Gottheit habe den
Menfherin Umftände verfegen koͤnnen, die für feine
natuͤrliche Gerechtigkeit fo guͤnſtig waren, daß er nie
von dieſet abgewichen wäre. Was hätten dies für
Umfände ſeyn ſollen bey einem Wefen, deſſen natürs
liche Gerechtigkeit allemal unvollkommen ift, und das
fotafich dem Laſter nicht unbedingt auszutveichen vers
mag? Es gehöre mirhin zum Weſen des menfchlis
chen Willens, daß er das Vermögen habe, das Gu—
te und Böfe zur wollen, und Gott Ponte keinesweges
denfelben unabänderlich zum Guten determiniren,. obs
ne die Natur desfelben zu vernichten. Auch würde
ein abfolur guter Wille eben fo unendlich feyn, wie
ein abfolue böfer; und beydes ſteht mit den Schrans
fen eines endlichen Wefens im Widerſtreite.
| Noch — Robinet drey andere Saͤtze aus,
die natuͤrliche "Folgen aus feinen Principien waren:
1. Es kann nicht mehr und nicht weniger Uebel und
Gutes in der Welt geben, * ſich wirklich darin kon
5
186 Gecſchichte der neuern Philoſophie
finden. II. Die vortrefflichſten Weſen find nothwen⸗
Dig auch die laſterhafteſten, weil die Summe des Boͤ—⸗
fen- immer mit der Summe des- Guten im Chleichs
gewichte ſteht. II. Es giebt in der Natur Feine
Act der Dinge, die — — — ale bie
MPeren. og
Es Bey Rs kg des aften. Satzes 2
ih nicht verweilen; ich will mich ‚hier nur auf die beps
den andern einfhränfen, fofern fie zu auffallend pas
zodor zu ſeyn fcheinen. . Der zweyte Gag geht aus
folgendem Rarfonnement hervor: Jeder Grad des Our
m iſt notwendig verbunden mit einem ihm gleichen
icade des erfchaffenen Boͤſen. Diejenigen Subs
flanjen, die den hoͤchſten Grad des Guten enthalten,
enthalten zugleich den höchflen Grad des Boͤſen. Die
vorirefflichſſten Weſen find alſo nothwendig zugleich die
laſter hafteſten. Man denke ſich eine Ordnung vernuͤnf⸗
tiger Weſen, die den. Menſchen an Vollkommenheit
sben fo weit uͤbertraͤfen, wie er die Thiere übertrifft;
fo würden bey jenen auch verbältnißmäßig ärgere Uns
vollkommenheiten feyn, als bey dem Menſchen in Bes
dehung zu den Thieren ſind, die gar keiner eigentli⸗
‚chen Laſter faͤhig ſnd. Die Vollkommenheit und Uus
vollkommenheit der Menſchen verhaͤlt ſich, wie ihre
Diſtanz vom Unendlichen. Je weniger ſie der abſolu⸗
‚sen Unabhängigkeit unterworfen find; deſto unabhängis |
ger find fie ſelbſt, und deſto mehr gleichen fie gewiſſer⸗
maßen der abſoluten Unabhaͤngigkeit. Aber je mehr
ſie auch ſich ſelbſt uͤberlaſſen ſind, deſto weiter ſind ſie
entferne von der. Duelle der Ordnung und des abfos
‚Iuten Guten; fie gerathen alfo defto mehr in Unords
‚nung und Elend, ‚und das macht gi relativ größere
Mewolifommenbeik auf.
—— REN | Kor
während d. acht}. Jahrhund. b. auf Kant, 187
Robinet meynte daher: Kine befjere Welt,
als die unſrige, koͤnte nur eime viel fchlechtere fun;
aus einer vollfomneren Eombination der Elemente wüts
den auch größere Inconvenienzen enefiehen; die Me⸗
teore wuͤrden fuͤrchterlicher ſeyn; die zarter organiſir⸗
ten Thiere wuͤrden zwar eine lebhaftere Wohlluſt em⸗
pfinden, aber auch dafuͤr deſto empfindlichere Schmer⸗
zen leiden; die hellern Geiſter wuͤrden mehr und groͤ⸗
Gere Entdeckungen machen, aber auch die Maſſe der
Irrthuͤmer in eben dem Verhältniffe vermehren; ber
kraftvollere und chätigere Wille würde mehr Faͤhig⸗
keit zur Tugend, aber auch mehr zum $after haben.
Noch bemwundernswürbiger, als die Grabation
der Wefen, iſt, daß ungeachtet dee Subordination der
niedrigſten Wefen unter die höchften, Doch unter ihnen
infofern eine vollkomne Gleichheit ift, als diefe durch
das genaue Gleichgewicht des Guten und des Liebels
Gervorgebracht wird. . Woher fönte ihre Ungleichheie
fommen, mern fie möglich wäre? — Lediglich von
einer abfoluten Güte. In Beziehung auf eine größer
re relative Güte, die immer; durch ein gleiches Lafter
aufgewogen wird, ann fie wohl zur Unterfcheibung
einer Art von der anderen dienen; aber fie kann nie
mals einen Anſpruch auf wahre Superiorität geben.
Eollie eine Art der Wefen wahrhaft beffer, -als die
anderen feyn; fo müßte nach Abzug der Summe der
Uebel von der Summe des Guten ein Reft von reis
ner Güte übrig bfeiben; und diefe reine Guͤte ift übers
haupt niche im Endlichen zu fuchen, wo die beyden
Größen des Guten und Uebels fters fich gleich, nach
Abzug der einen von der anderen, nur.ein Zero übrig
laſſen. Der Urheber der Natur hatte auch gar kei⸗
men Grund, eine Art der Gefchöpfe auf Koften A.
788 Gefhichte der: neuern Philoſochie J
Abrigen; zu beguͤnſtigen· Der bloße Willen iſt nur
ein Motiv fuͤr Tyrrannen. Bloß die Guͤte Gottes hat
bey der Schoͤpfung den Vorfig z: und: dieſe floͤßt thin
duechaus keine grhuͤſſige Vorliebe fürsdie eine oder die
andere Gattung der Dinge ein. Wir bemundermseis
wen Koͤnig, der auch die. Geringſten ſeiner Untert ha—
nen eben fo wenig vernachlaͤſſigt, wie ſeine Guͤnſtlin⸗
gez und finden: hierin den Maaßſtab wahrer Oroͤße
der Regenten. Sollte der. Urheber der: Empfindung
des allgemeinen Wohlmollens in ter Seele der Kinb
ge und Philofoppen ſich ſelbſt widerſprochen haben?
Da haͤtte er den Fürſten durch die parteyiſche Urt,
womit Er ſelbſt die Welt regierte, ein Beyſpiel gege⸗
Beh, wie ſie von ihrer Gewalt: einen thoͤrichten Ge⸗
brauch machen koͤnten. Die natuͤrliche und nothwen⸗
dige Gleichheit der Arten der Geſchoͤpfe aber, die hier
gemeynt iſt, beſteht darin, daß jede gerade fo viel Un
bei,'als Gutes, habe. - Sie haben zwar nicht alle eis
Men gleichen Antheil am Guten und Uebel; denn es
: Aftin die Augen fallend, daß ein Menfch mehr Gutes
“und mehr Webels: habe, als eine Pflanze; aber in jes
Dir Are ift die Summe: irer Uebel der Summe: ihrer
Guͤte gleich, und infofern kann Peine abſolut beſſer,
oder abfolur fchlechter, “als die Übrigen, genannt wers
Ben: 5 Ein denfendes Weſen hat unftteitig einen Vor⸗
zug vor dem bloß empfindenden: die größere Bollfom:
menheit des Geiſtes: hingegen hat es dafür auch Fehr
ler, die feinen Vollkommenheiten gleich find. Das
Thier hat vor der Pflanze das thieriſche Bewußtſeyn
voraus; das ſinnliche Vergnügen und den Schmerz.
Der Menſch hat hundertmal mehr Vollkommenheiten,
aber auch hundertmal mehr Mängel; er hat tauſend⸗
mal mehr Vergnügen; aber auch. tauſendmal mehr
Schmerzen. e if Ar
£ Der
während D. acht: Jahrhund. auf Kant. 1
ODet Verfaſſer geht hierauf zur Eroͤrterung und
zum: Beryeife des: zweyten Hauptpunetes ber; wel⸗
chen er: im feinem Werke fich vorgenommen hatte, aufe
zuklaͤren, nehmlich der einförmigen Erzeugung -
aller Naturweſen. Da. diefe Materie mehr. in: die
Marurgefchichte, als in das: Gebiet der Ppilofoppie
ee: fo will ich. feine Reſultate nur kurz und im
Ügemeinen andeuten.
Dieie beyden ſchwierigſten Gegenſtaͤnde, obgieich
die weſentlichſten für die Erzeugungstheorie, find erſte
lich die Erzeugung lebender Geſchoͤpfe, und zweys
tens die Verſchiedenheit der Gefchledter,
So wenig. das Ausgedehute aus dem Michtausgedehns
ten entſtehen kann, und wenn diefes unendliche mal’ ges
geben'und verbunden würde; eben jo wenig kann das
tebendige ans den Michtlebendigen entfpringen. Man
muß durchaus lebende Wefen voransfegen,. damit ein
lebeudes hervorgebracht werte. Bloße organiſche
Grundförperchen (molecules organiques) fünnen ein
organifches Wefen erzeugen, genau von der Organis
fation, weiche die Grundkoͤrperchen Gaben; ein lebens
Diges Thier aber kann nie aus ihnen entftehen. Es
heißt alſo nichts erflärt, wenn Büffon die. lebens
digen Thiere-bIoß aus_einer Kombination organifcheg
fen berleitet. Das tebendige fann nur aus Lebens
igem, das größere Thier. aus kleinern Thieren von
der elben Are der Animalicde, ein Hund aus Pleinen
Huudefeimen, ein Menſch aus Heinen. Menfchenfek
J bervorgehen.
Die Verſchiedenheit der Geſalechter haͤlt Nobi
ner nicht ſchlechthin für zur Erzeugung nothwendig;
fondern nur ;bey den Arten, welche fich durch - Bereir
nigung der Geſchlechter erzeugen. Er nahm alſo noch
‚290 Gefchichte der neuern Philoſophie -
zu ſeiner Zeit die Geſchlechtsloſigkeit gewiſſer lebender
Geſchoͤpfe, und die Moͤglichkeit einer Fortpflanzung
ohne Begattung an. Mit Recht verwarf er den
Unterſchied der Geſchlechter, den man ſchon in dem
kleinen Samenthierchen hat entdecken wollen, die aber
lediglich in der Phantaſie der Entdecker exiſtirten.
Dieſe ganze Unterſuchung des Verfaſſers iſt reich
an ſcharſſinnigen und intereſſanten Bemerkungen. Geis
ne Idee von urſpruͤnglichen Keimen, aus denen bes
flimte organifirte und lebendige Individuen und Arten
entfieben, wendet er auf bie Elemente an. 3.3.
- Das Princip der Luft ift nur ein Keim der $uft. Ver⸗
möge der Verbindung mit Waſſer und Feuer im vers
fchiednen Graden gehe der Keim nach und nach: durch
verfchiedene Zuftände des Wachsıhums hindurch; ex
wird zuerft Luftembryo; dann vollfomne und reife
Luft; er wird wieder feinen Keim abfondern, verals
sen, fich auflöfen, und fterben. Es ſcheint dies ins
Defien Doch eine zu weit getriebene Anwendung der Hy⸗
porbefe Robiner’s zu feyn, und an Spielerey zu
grenzen. Die Luft als Embryo, als Kind, als ers
wachfene Luft, als Greis, find von der organifchen
und ehierifchen Natur entlehnte Zuftände, die in: Ans
wendung auf die rohen Elemente gar feinen Sinn haben.
Noch eine ſonderbare Idee Robinet's muß ich
hierbey beruͤhren. Auf unſerer Erde faͤngt die Erzeu⸗
gung aller Naturdinge unter der kleinſten Form an,
die fuͤr ſie paßt. Der groͤßte Baum iſt anfangs nur
ein Korn, das der Wind verweht. Der Menſch in
feinem Urſprunge iſt ein Wurm. Ein Fluß in feiner.
Quelle iſt wie ein Eimer voll Waſſer. Wollen wie
nun die Generationen: auf den andern Weltkoͤrpern nach
denen auf unferee Erde beurtheilen; ſo — ie
—J n⸗
während Baht · Jahrhunde 6. auf Kant 198
Dinge auch hier zuerft eine ſehr kleine Portion von
Exiſtenz haben ;- die fich nad) einer gleichförmigen Gras
dation immer vergrößert, bis fie den Punct ihrer Volle
kömmenbeit erreichen, bey welchen fie: fteben bleiben ,
ibre Art vervielfaͤltigen, und-wieder aufgelöft werden,
dem allgemeinen toofe allee Gefchöpfe gemäß. Was
nun von den Körpern wahr ift, welche die Firfterne
und Planeren enthalten; follte das nicht auch von dem
Firfternen und Planeten felbft wahr ſeyn? Wo wuͤr⸗
den aber denn die fchönen Theorieen von der Zormas
tion jener unermeßlichen Weltkoͤrper bleiben, die man
aufgeftelle hat, wenn diefe Weltförper ‚ebenfalls auf
dem Wege der Generation einer von dem andern ers
zugt würden? Sie würden dann nicht von ihrem
Anbeginne an bie enorme Größe gehabt haben, die fie
in ihrem gegenwärtigen Zuftande haben; fondern fie
hätten diefelbe nad) und nach bekommen durch die nas
tuͤrliche Erweiterung eines Keims, der ſich ausdehne
und zunimt. Robinet vermuthete daher, daß die
Himmelskörper mit einer befondern Lebensfraft und
einem Vermögen begabt ſeyen, ihres Gleichen hervors
zubringen. Sterne erzeugen Sterne; fie werden,
fo zu fagen, gebohren, wachfen und ſterben. In dee
. That, frage R., wie viel neue Producrionen dee Ark
bat man nicht am Himmel bemerkt? Wie vicl-am
dere Sterne find verfchmunden? Mehrere find fichts
bar größer geworden. Seit langer Zeit hat das Ges
flirn der Piejaden feinen fiebenten Stern verloren;
feit hunderte Jahren‘ hat das Sternbild des Eridanus
zwey neue Sterne befommen; vier andere find um den
Polarftern entſtanden. Im J. 1626 verlor-das Stern⸗
bild des Schwans einen feiner Sterne; zehn Jahre
hernach erfchien wieder einer an derfelben Stelle, aber
viel kleiner, als der vorherige; und ige iſt dieſer eis
a venta lad ter
192. Geſchichte der neuern Philoſohhie
ner der groͤßten des; ganzen Sternbildes. Die Plane -.
ten waͤren nach jener Hypotheſe ebenfalls mit dem Zeu⸗
gungsvermoͤgen verſehen, „und braͤchten wieber andre
Pianesen hervor. Wer weiß denn,.:nb: die Sonne
wicht ehedem ‚noch audre. Planeten: gehabt: hat, „Die -
nachher geſtorben ſind? Wer kann dafuͤr buͤrgen,
daß ſich in der Folge nicht neue Planeten erzeugen were -
den? Die Trabanten des Jupiter, die Galilei
1610, und die des Saturn, welche Hungens und.
Eaffini der Vater entdeckten, und,der Trabant der
Venus; find vielleicht neu geboren, und darum nicht.
früher entdeckt worden. Lebte Robinet zn unferer.
Zeit, ‚fo würde, er. vermuthlich auch die. Entdeckung :
des Uranus, der Ceres und Pallas, auf biefelbe Weiſt
erklärt haben. Urſpruͤnglich waren die. Keime det
Sonnen und Planeten verworren unter einander 98
mifcht; denn diefe. Mifhung kann man als nothwen⸗
dig zue Befruchtung. der erſten Keime vorausfegen,
Bis dahin lag. die Finfternig auf dem Abgrunde; . bie
dunfeln Keime verhuͤllten das Licht der andern. . Aber
nach der Befruchtung trennten fie ſich; ‚die Lichtma—
terie bevölferte allmälig die Welt mit Sonnen, und
die dunkle Materie brachte mehr oder weniger Plane _
‚sen um jede Sonne in.verfchiedenen Entfernungen her⸗
X0r. ea IE We
, Das dritte von Robinet bearbeitete Haupt⸗
ſtuͤck iſt die Hypotheſe vom moraliſchen Siw
ne. In Anſehung dieſer will ich, nur das ihm Eis
2 genichümliche auspeben *). Dee. Pas WR: u :
Detr Urheber unſers Dafeyns gab ung eine inne⸗
te Anlage; gemiffe Handlungen und Eigenfhaften „
a Ir’ 2 PETE Zee ie
De Re RZ re Dan Eu in
: : wi Von *.. —
‚#) De la nature, T.I. p. 339 ſq.
*
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 193
billigen, und andere zu tadeln. Dieſe Anlage nenne
man moralifhen Inſtinct, ein inneres Gefühl,
das fich mit dem Gefchmacke des Süßen und des Bits
teen vergleichen läßt; und es ift mehr als wahrſchein—
lich, daß. der Schöpfer die Gefege dieſes Inſtinets
siach den wefentlichen und unveränderlichen Beziehuns
gen der Gefchöpfe zu einander angeordner bat. Kins
fer. und unmwiffende Menfchen fühlen es wohl, wenn
fie Unrecht thun. Man fage, daß die Vernunft es
fie lehre; aber die Vernunft ift ein Licht, das den Geiſt
auffläre, und Kinder und Unwiſſende find nicht aufs
geflärt. Wie koͤuten fie die Haͤßlichkeit einer Hands
lung, eines Triebes, nach Beziehungen beurtheilen,
die fie nicht kennen? Es muß alfo ein anderes Prinz
eip jene Bewegungen ihrer Seele regieren, das: mit
dem Verftande nichts gemein hat. Es ift die Stimme
eines innern Gefühle, das über die moralifchen Uns
terfchiede den Ausfpruch thut. Der fpigfindigfte Mer
taphyſiker kann in feiner Billigung und in feinem Tas
„dei moralifcher Handlungen nichts anders ausdruͤcken,
als die mächtige Wirkung eines —— In⸗
ſtinets.
Das Mittel des moraliſchen Inſtinets fuͤr den
Zweck, welchen die Moralitaͤt überhaupt haben ſollte,
war ſchnell, leicht und untrieglich. Es ſetzt weder
Ideen, noch Kentniß, noch Ralſonnement voraus,
Auch die Sorge für unſere Erhaltung bat der Schöps
fer nicht unferee Vernunft anvertrauen wollen. Er
bat fie vielmepe unfern Sinnen anvertraut, da er
in der Treue ihrer Operationen cine viel größere Si⸗
cherheit des Zwecks fand, als in der Unbeſtaͤndigkeit
der anderen; indem die Reflerion viel Tangfamer ift,
als die mechanifche Bewegung , die an bas Gefühl
„"Suble'e Gefch.d. Philof. VI. B. be
‚194 Gefchichte der nenern Philofophie
befchleunige wird. Muͤßte ih, wie Aba die bes
merkt, wenn ich mich verbrenne,. bevor ich die Hand
oder den Finger: zurückziehe, erft die Natur des. Les
beis deutlich erfennen, das ich empfinde; müßte ich
unterfuchen, wie die tebensgeifter in die Merven zu
ſchicken ſeyen, die das Glied zuruͤck ‚bewegen follen,;
und welches der genaue Grad der zu dem Effeete nös
ehigen Bewegung fey; fo würde ich offenbar mich fchon
laͤngſt verbranne haben, bevor ich irgend etwas vom
dem gethan hätte, was ißt ohne Mitwirfung und
Keneniß des Verſtandes in einem folchen Falle mit—⸗
telſt des finnlihen Mechanismus geſchieht. Nun
würde man aber große Urfache zur Verwunderung bas
ben, wenn das höchfte Weſen in der Wahl zweyer
möglicher Mittel, Uns zur Tugend zu leiten, fich des⸗
jenigen bedient hätte, was dem Zwecke am wenigſten
entſprach. Anſtatt daß die. Gottheit durd) eine lebs
bafte unmittelbare Empfindung die moralifchen Unter⸗
fhiede wahrnehmen laſſen Fonte, Härte jie die Erfents
niß derfelben von einer muͤhſamen Anftrengung Bu
ter Geiftesfähigkeiten abhängig gemacht.
Roſbinet ſtimt alfo den neuern Englifchen Mos
ralpbilofophen, insbefondre dem Häme und Huts
hefon, niche nur in der Hypotheſe vom moraliichen
Sinne völlig bey; fondern ſucht fie auch noch weiter
aufzuhellen und zu beſtaͤtigen. |
Bey jeder Senſation laͤßt fich dreyerley uns
gerfcheiden: das Objeet, welches unmittelbar auf;
das Drgan wirft; das Organ, welches den Eins
druck der Seele überliefert; -und.die Seele, melde
denſelben empfängt und aufnimt. Die Lörperlichen
Drgane find in dem gegenwärtigen Zuftande des Mens
ſchen die einzigen Mittel zum Empfinden. - Die mos:
rali⸗
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 195
raliſchen Wahrnehmungen ſind ebenfalls Senſationen,
aber von einer anderen Gattung. Sie beduͤrfen alſo
ein Empfindungsmittel, ein Organ, wie alle Sen⸗
fationen; denn fie Fönnen bey gewiffen gegenwärtigen
Handlungen oder Charakteren nicht zur Seele gelans
gen, alg durch Vermittelung eines Organs, melches
fie diefer uͤberliefert. Ale Sinne find Arten der
Berührung (efpeces de tat). Warum follte man
die Berührung nicht fo fein annehmen Lönnen,
daß fie ein moralifches Gefühl in der Seele er—
zeugee? Es kann uns nichts zu der Vermuthung bes
wegen, daß die Analogie der Natur, die wir bey als
len den übrigen Sinnen antreffen, fich allein bey dier
fen verleugnen ſollte. Beym AUnblicke eines Gegens
ftandes empfinden wir unmittelbar die Farbe desfelben ;
eben fo bemerken wir bey einer gegenwärtigen Hands
fung unmittelbar auch ihre Moralitaͤt. Mit Recht
koͤnnen wir hieraus folgern, daß jener nicht anders
auf unfere Seele wirfe, als diefe, d.i. daß diefe auf
ein eigenes Organ der Moralitaͤt wirke. Nothwendig
muß alfo ein moralifches Organ angenommen werden ,
das durch gegenwärtige moralifche Objecte afficire wird,
und folche Eindrücke in die Seele fortpflanzt, wo—⸗
durch fie die Moralitaͤt derfelben auf gleiche Weife ems -
pfinder, wie die Farbe eines Gegenftandes nach dem
Eindrucke, welchen diefer auf dag Geficht gemacht hat.
Man koͤnte fragen: Wie follen moralifche Ges
genftände durch das Medium des moralifchen Organs
auf die Seele wirfen? Ungeachtet Robiner diefe
Frage für unbeantworttlich erflärt; fo glaubt er doch
deshalb niche minder zur Hypotheſe eines moralifchen
Sinnesorganes berechtigt zu feyn. Die Gegenftäns
de wirken uͤberhaupt nicht unmittelbar und durch fich
LT M 2 felbft j
196 Gefchichte der neuern Philoſophie |
ſelbſt auf die Seele, fondern nur mittelft der Nerven,
die wir ale die Organe der Senfationen erfennen. Die
Are übrigens, wie fle ihre Functionen verrichten,
ift uns auch ben ihnen unbefant. Demungeachter tras
gen wir fein Bedenken, zu behaupten, daß die Sees
Nie, fo lange fie im Körper ift, nur Durch fie. empfins
de. Warum wollten wir alfo zweifeln, daß fie nicht
auch durch ein bejonderes Organ die Moralität der
Handlungen wahrnehme? Ä
Jede Subftanz führe ihre Farbe, ihren Ge
ſchmack, oder vielmehr alles dasjenige mit fi, mas
noͤthig iſt, um eine unmittelbare Senfation in der
Seele hervorzubringen. Jede Handlung oder Qualis
täc fuͤhrt eben fo ihre Moralität mit fih, oder das:
jenige, was die Vorftellung derfelben erzeugt. Cs
it wahr, die Moralität der Handlungen ift meder
fihtbar, noch beruͤhrbar; aber deswegen ann fie doch
durch das ihr entfprechende Organ empfindbar
werden? Auch der Schall läße fich nicht feben, und --
nicht berühren; gleichwohl fann ihn die Seele mittelft
des afuftifchen Merven enipfinden, |
Was bier. eine Dunfelheit zurückläße, ift nur,
dag wir nicht im Stande find, genau das moralifche
- Drgan ſelbſt zu bezeichnen und anzugeben. Nobinet
glaube, daß gewiſſe nähere Beziehungen zwifchen dems
felben, und dem Organe des Gefichts und Geboͤrs,
ſtatt faͤnden. Ich fehe einen Menfchen, der einen
andern tödeetz ich ſehe ihn, meil das Bild desfels
ben fich in meinem Auge darſtellt; ich fühle fogleich
die moralifche Schlechtigkeit diefer Handlung, nicht
weil diefe Schlechrigfeit fich ebenfalls in meinem Aus
ge abbildete; fondern meil fie auf die ihr eigene Art
moralifche Fibren affieire, die im Gefichtsorgane
ER € oder
“während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, 19%
oder. in einer befonderen Gegend des Hirnmarks, vers
breiter find, und mit dem Gefichtsfinne correfpondis -
ten. Man erzählt mir diefelbe Handlung.
höre fie durch den Eindruck, welchen die Worte oder.
Töne auf das Innere meines Gehoͤrs machen. Zus
gleich empfinde ich auch wiederum die Moralitär der
** Handlung, die man erzaͤhlt. Das moraliſche Organ
muß alfo auch mit dem Organe des Geboͤrsſinnes in
Verbindung ftehen. Ka
Woher rührt die Abgeneigtheit von der Mey
nung, daß auch im Mervenſyſteme eine Rerzbarkeit
für moralifche Gegenftände liege? — ‚Sie kann nur
daher rühren, dag man gewohnt ift, nur dasjenige
für empfindbar zu halten, mas zum Bezirke der bes
kanten fünf Sinne gehoͤrt, und daß ım der That die
moraliſchen Dbjecte - feinen dieſer Sinne affieiren.
Aber man fiept die Farben, und hört fie nicht, mag .
hört die Töne, und ſchmeckt fie nicht; weil jedes Obs
jeet einer von der anderen verjchiedenen, Senfarion ah
ein verfchiedenes Organ hat, welches allein „fähig iſt,
den Eindruck der Seele zu überliefern. Hietdurch
faͤllt die Schwierigkeit von ſelbſt weg. Obgleich man
das Moraliſche weder ſieht, noch hoͤrt, noch ſchmeckt;
fo könnte man es dennoch durch einen von den uͤbri⸗
7 gen verfchiedenen Sinn empfinden, der unendlich feiner,
edler, vollkomner, und vielleicht innerlicher wäre,
als jene. Was man aus der Schwierigkeit ſchließen
kann, iſt lediglich, daß der moraliſche Sinn weder
Taeı, noch Geficht, noch Gehör, ned Geruch, noch
Geſchmack ſey; nicht aber, daß er uͤberali fein Sinu
ſey. Es koͤnte ein Modus des Empfindens, und feim
Gegenftand eben fo empfindbar ſeyn, wie das Süße
und Bittere, das Weiße und Schwarze, mW. find,
| N3 Es
298 Gecſchichte der neuern Philoſophie
ESGs ſcheint hiermit dem Robinet hinlaͤnglich er⸗
wieſen zu ſeyn, daß die moraliſchen Unterſcheidungen
nicht unmittelbar vom Verſtande ausgehen; daß fie
nicht bloße intellectuelle Begriffe find, fondern Iedige
lich durch das Gefuͤhl beſtimt werden.
Die weitere Philoſophie Robinet's uͤber den
Einfluß des moraliſchen Sinnes auf die buͤrgerliche
Geſellſchaft und die poſitive Geſetzgebung will ich bier
nicht verfolgen, da er in der Hauptſache mit den Ideen
der Engliſchen Moraliſten harmonirt. Nur die Urs
ſachen will ich noch anmerken, aus denen er das Vers
derbniß des mioralifchen Sinnes herleitet, und bie
Mittel, welche er augiebe, ihn zu vervollkomnern.
Bloß in der Gefellfchaft kann der moralifche Sinn
fich zur Vollkommenheit ausbilden; aber in eben dies
fer kann er auch zum höchften Grade von Verderbt⸗
heit ausarten. Eben fo find’die Künfte das Mittel
der Verfeinerung, und auch der Verderbung, der fünf
Sinne Die erfte Urfache der moralifchen Verderb—
niß der Menfchen iſt überhaupt die Verfeinerung, be
fonders in den neueren Zeiten. Dicht als ob die Vers
feinerung ſchlechthin mit der Sittlichkeit unverträgs
lich waͤre; vielmehr kann ſie dieſe zur Vollkommen—
heit erhöhen. ber fie wird ein Laſter, und das groͤß⸗
te aller Laſter, fobald fie für ein Aequivalent der Tus
gend gehalten wird. Robinet fcheint bey diefer Bes
‚ Merfung vorzüglich feine Nation im Auge gehabt zu
haben. Der narürlichfte und wahrſte Menfch ift auch
der tugendhaftefte, und diefem Charakter widerfpricht
nichts mehr, als der Geift der Zalfchheit, wo die
Menſchen wetteifern, durch Hinterlift, Verſtellung,
Schmeicheley, und leere Dienftanerbierungen einans -
der zu bestiegen. Diefer Geift der Falſchheit u aber
* durch
waͤhrend d. achtz Jahrhund. b. auf Kant. 199°
duch die Eitelkeit berrfchend geworden Die Erste
hung ift oft nichts weiter, als ein Studium der nichts⸗
würdigen Kunft, zu heucheln,, um zu gefallen; zu
fchmeicheln, um zu gewinnen; zu betriegen, um reich
zu werden; Fury mie Ehre ein Gauner, Verraͤther,
Hypokrit und VBerführer zu ſeyn. Mit diefen Maris
men, deren Häßlichkeit der Firniß der Politur vers
birgt, verbinden die Leidenfchaften ihre Kräfte,
am ihnen den Triumph über die moralifchen Empfins
dungen zu fichern.
Wenn das yntereffe der äußern Sinne oft im
Widerſtreite mit dem des moralifchen Inſtincts iſt;
fo gefchieht dies dadurch, daß jene ihre legitimen Mech;
te uͤber die Schranken ihrer Natur ausdehnen; denn
fonft ift der Menfch niemals in der Nothwendigkeit,
fich; gegen die Matur zu empören, um ihr zu gehors
chen. Man: befriedige alfo die Außern Sinne nach
Maafgabe des philofophifchen Bedürfniffes! Aber
‚man wird ihnen niemals mehr, einräumen dürfen, obs
‚ne einen gewiffen innern Widerſtreit zu- empfinden,
der uns benachrichtigt, wo das Gute aufhört, und
das Boͤſe anfänge. Glücklich ift derjenige, der nies
mals feine Aufmerkfamkeit von den Warnungen des
moralifchen Inſtinets abwendet. Die Treue, mit
welcher er fie befolgt, macht nach und nach fernen mo⸗
raliſchen Sinn oder Tact fo fein, wie er werden kann.
Die Pleinften Nüansen des Laſters und der Tugend
Fönnen dann der Zartheit feines moralifchen Geſchmacks
nicht entgehen. Hingegen ein Menfch, der fich ſtets
den Megungen des natürlichen Wohlwollens verſagt,
um fich denen der Leidenfchaften und der Eigenliebe zu
uͤberlaſſen, wird die Unterfchiede der Moralitär viel
weniger empfinden. Der moralifche Inſtinet erftirbe.
| N4 - zwar
200 Gefchichte der neuern Philoſophie
zwar nie ganz; aber er wird ſchwaͤcher und verderbt;
fo wie man den Sinn des förperlihen Geſchmacks
durch den Gebrauch Pete m und Sutrhufe
verdirbt.
Eine dritte Duelle des Verderbniſſes der moralis
hen Empfindungen ift eine eitle Subrilität des Geis
ftes. Der verderblichfte Streich, den man je der
Moral beygebracht har, war, daß man fie den Opes
rationen der Vernunft untermarf. Dadurch daß man
Die Eingebungen der Matur von einer. ungewiſſen Mes
taphyſik abhängig machte, bat man die Menjchen um.
Die Fertigkeit gebrachte, Recht und Unrecht: zu empfins
den. Man hat. fie gelehrt, Begriffe zw verbinden
und zu analyficen, und den Urſprung derfelben da
zu ſuchen, wo er nicht anzutreffen war, und weil man
ihn wicht antraf, einen folchen zu erdichten. Was,
für ungeheure Moraifpfteme find nicht aus diefer Li⸗
venz entfianden? Man kann bier wohl mie Wahrs
heit jagen, daß der Mienfch der tugendhafteſte ift, der
am. wenigften raiſonnirt. Es ift feltfam und dem Un⸗
befangenen faft unglaublich, wie weit die Schriftflels
ler tiber Moral, das Recht, und die Politik, uns
‚die Pflichten des Menfchen und Buͤrgers vergeflen,
ja verachten gelehre haben, welche die Ratur ohne
alle Hilfe des Raiſonnements kennen lehren wollte,
Wer alfo den reinen und echten Sinn für die Tugend
behalten will, der fliehe jene Leute von Ehre (hom-
mes d’honneur), die mit fo vielem Anftande lügen
koͤnnen; jene verfeinerten Menfchen, deren Studium
ift, Andere zu bintergehen; die denen ſchmeicheln,
welche fie verachten; die das Lafler preifen, das ihe
Inneres verabfcheit ; die die Unfchuld lichbfofen, um -
ſie zu verführen. Seber mache es fich zum a.
| nie
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Sant. zor .
vie im Widerfpeuche mit den — zu fon,
welche die Masur. einflößt.
Noch ift der vierte ne übrig, welchen
Robinet in feinem Werke aufklären wollte: die von
ibm fogenannte Phyſik der Geiſter. Er hoffte,
hier eine Theorie von den Seelenthätigkeiten und ih—
ren Gründen darzulegen, die ſich auf gleiche Weiſe
mic dem Materialien, wie mit dem Smmatertalism,
vertrüge. Iſt der Geift mit dem Körper identiſch,
ſo ſchraͤnkt ſich die Erklaͤrung der Seelenthaͤtigkeiten
ganz auf die Organiſation ein, und in dieſer wollte
R. den Urſprung, Fortgang, und die Uebereinſtim⸗—
mung der Operationen des Geiſtes und Koͤrpers dar⸗
thun. Ohne über den Mechanismus des Gehirns
binauszugehen, wird man glauben dürfen, die gans
ze Thärigkeie der Serle, und was wirklich ihr Weſen
auemacht, eingefehen. zu haben. Iſt hingegen der
Geift eine von Körper verfchiedene Subſtanz, fo würs.
de Die Theorie darum nicht minder wahr, minder ges
nau, minder ficher ſeyn; weil doch das Förperliche
Bild der Modificationen eines unförperlichen Weſens,
Die alle durchaus geiftig find, wie dieſes ſelbſt, fo ins.
nig mitdem Spiele der Organe verbunden ift, daß es -
nur Durch diefes, wo nicht in diefem eriftirt..
Robinet Außert zuwörderft einige Vermuthun—
‘gen über den Urſprung der menſchlichen Seelen,
Er nimt an, daß die Seelen vom Anbeginne der
Schöpfung in den organifchen. menfchlichen Keimen
eriftire haben. Miche nur das GSenforium, das
materielle Subject, eriftirte urfprünglich em raccourci
in dem organifchen Keime; fondern die Seele ſelbſt
ganz war darin vor der Befruchtung des Keims; fo
wie . ie im Körper ift, auch nachdem er eine größere
R N5 Form
202 Geſchichte der neuern Philofophie
Form angenommen, hat. Man läßt doch die Geiſter
eine feltfame Rolle fpielen, wenn man glaubt, daß.
fie ſeit Jahrhunderten herumirten, und ein Moment
ausjpüren, ou la volupte infpireroit à deux indivi=
dus le, deflein, de leur former un etui propre a s’y
loger. Die Präeriftenz der Keime ift nicht ſowohl
eine Hypotheſe, als ein Factum. Gie zeige fich bey
den Thieren , Pflanzen und Mineralien, und die Ent
wicfelung gefchiehr vor unfern Augen, Der gegens
waͤrtige Zuftand des Univerfum’s ift nichts anders,
als ein beſtimter Grad der Entwickelung uriprünglich
eriftirender Samen, deren Inbegriff vorher von eis
nem fehr Pleinem Umfange feyn mußte. Der Menfch
iſt nicht bloß Körper, und nicht bloß Geiſt; er iſt
Geiſt und Körper zugleich, was auch der Zweck, die
Regeln, und die Natur diefee Verbindung feyn mös
gen. Mag man in den Thieren ein immatericlles
Princip annehmen, oder nicht; fo wird es doch ins
mer wahr bleiben , daß der Affe mehr Verſtand har,
ale eine Auſter, und dag, wenn der Affe den beftims
. ten Grad des Verftandes nicht härte, er ein anderes,
Thier unter der Form eines Affen feyn würde.
Dem Menfchen ift die Verbindung zwifchen Geift _
und Körper noch wefentlicher und norhwendiger. Oh—⸗
ne Seele würde der Menfch ein Thier , und ohne Körs
per eine Intelligenz von erpabenerer Natur ſeyn. Dee
Fetus iftein Keim, der anfängt, fich zu entwickeln,
Ein erwachſener Menfch ift ein zur Vollendung ents
wickelter Ferus, der nichts anders enthalten kann,
als was fchon urfpränglic in dem Menfchenfeime lag.
Diefer ift eben fo, volltommen in feiner Fleinen Perſon,
wie in der größeren Form. Er Fönte font nicht Keim
eines Menfchen feyn, wenn er nicht en =
' | - efa
*
während dacht. Zahrfund,-6. auf Kant: 203
befaßte, mas zur Defonomie der mienfchlichen Natur
gehört. Wird dies: alles zugeflanden, fo ergiebt fich
daraus der Beweis von felbft, daß das denkende Sub⸗
jeet im Körper gleich urfprünglich im Keime des Körs
pers eriftirt har. Als Eorollarium füge Robinet
noch hinzu, daß es dem Geifte an fich felbft gleich
gültig ift, ob er mit einem Körper von dem oder dem
Umfange verbunden fey. Der Geift wohnt fo gut
im Ferus, mie in dem Erwachfenen, und die Kleins
beit der menfchlichen Keime macht fie dadurch) gar a
ungeſchickt, ihn zu enthalten.
— Robinet geht hierauf zur Angabe ber Brig
der Verbindung zwifchen Geift und Körper fort. Es
ſcheint, daß diefe Verbindung überhaupt ein —
niß für die philoſophiſche Wißbegierde bleiben ſolle.
Die Bemuͤhungen der Philoſophen haben zum mins
beiten bisher nur gedient, das Geheimniß immer uns
durchdringlicher zu machen; weil man, flatt die Vers
bältnifje des denfenden Weſens zu der mit ihm verbuns
denen Materie aufzufuchen, was allein die Art der
Verbindung beyder hätte aufhellen koͤnnen, fhlechts
hin leugnete, daß Geift und Körper etwas mit einans
der gemein hätten.
Robinet beſtimt folgende Geſche der Verbin⸗
dung zwiſchen Geiſt und Körper, die aber eigentlich
nur die Verbindung felbft ausfagen, ohne diefe
in ihree Möglichkeit zu erflären, wie doc) in der
Meiaphyſik gefchepen müßte, wenn man einmal fpes
cifiſch den Geiſt vom Koͤrper unterſcheidet.
IL. Der Körper wirft auf den Geiſt, und dieſer
— auf den Koͤrper. Denn der Geiſt kann ſich
— verheelen, daß er Eindruͤcke von den ER
ins
204 Geſchichte der neuern Philofophie
Simen empfängt. Seine eigene Wirkung auf den
Körper aber ift bloß eine Reaction, weil die Des
terminationen, wovon die willführlichen Bewegungen
der Mafchine Gerrüßren, felbft ihren Grund in dem
organiſchen Spiele, der Mafchine haben. En
UIVI. Der Geift in Verbindung mit dem Körper
kann nur durch die Dazmifchenkunft des lehztern wir—
fen. Der Geift empfindet, denkt, und will nur mit
Hülfe der Sinne. Es ift hier nicht die Frage, ob
er abgefondert von der Materie nicht auch empfinden,
denken und wollen koͤnne? Hieruͤber koͤnnen wir im
gegenwärrigen Leben niemals entfcheiden, wenn wir
auch wollten. ——
I. Die gegenſeitige Uebereinſtimmung der beys
den vereinigten Subſtanzen, Geift und Körper, hängt
fo viel wie möglich von der koͤrperlichen Organifation
ab. Die völlige Uebung der Seelenfaͤhigkeiten fodert
die völlige Entwicfelung des Gehirns, und eine voll
komne Organifation der äußern und innern Sinne / -
Der Geiſt ift ein Kind im Körper eines Kindes. Ein
Fehler der Organe ftöre oder hemmt gänzlich den Einfluß
des Körpers auf den Geiſt, und umgekehrt die Ruͤck—
wirkung des Geiftes auf den Körper. |
IV, Der Geift erkenne fich ſelbſt ind empfindet feis -
ne Exiſtenz nur durch die Bermittelung des Körpers, mit
welchem er vereinigt ift -Empfände der Geift duch
fich ſelbſt, fo wuͤrde er fich nur fo empfinden, wie er iſt,
und dan Fönte über feine Natur gar Fein Zweifel obwal⸗
ten; er empfaͤnde fich als ausgedehnt oder unausgedehnt,
als körperlich oder unförperlich, als ‚materielle oder
immaterielle Subſtanz. Allein. der Geift empfindet
feine Exiſtenz nur in den: Eigenfchaften, : welche *
® fi
s
während d. achtz. Jahrhund. 5. auf Sant. 205
ſich entdeckt, und dieſe entdecft er einzig und allein
mittelſt der Eindrücke, welche er. von dem Körper em:
pfaͤngt. Das Bewußtſeyn ihrer Thpärigkeie hat die '
Geele bloß durch die Meigungen und Abneigungen )
welche die äußern Gegenftände in ihr erwecken. Haͤt—
te fie nie Bergnügen oder Schmerz empfunden, würs
de fie auch der Gluͤckſeligkeit oder Ungluͤckſeligkeit nicht
fähig feyu. Das Kind, das nie das: Vermögen, feis -
nen Arm zu bewegen, geübt bat, weiß nicht einmal,
daß biefes Bermöyen in ihm wohne u. w. Kurz bie
Seele ift über ihr eigenes Weſen nicht mehr unterrichs
ter, als über die WWefen anderer Dinge. ie dringt
in ihr eigenes Inneres nicht tiefer ein, als in die Maffe
ihres Körpers, deffen innere Triebfedern fie eben fo
wenig fieht oder empfindet. Sie gelangt zur Kents
niß ihrer felbft fediglich durch die Probe, welche fie
von ihren Fähigkeiten macht, und da fie vom Koͤr⸗
per in allen ihren Tpätigfeiten abhängt, fo verdankt
fie ihm auch Alles, was fie von fich ſelbſt weiß.
Robknet unterfucht nun, wie der Zuftand der
Seele, oder vielmehr ihrer Fähigkeiten, gemefen ‚feyn
möge, bevor die organifchen Keime, zu welchen fie
gehörten, befruchter und entwickelt waren. Er ftelle
bier folgende Mefultate auf:
I. Der Geifl mit dem organifchen Keime vers
bunden, empfinder, denkt und will niche vor der
Befruchtung des Keimes, und bevor die Entwice .
fung desfelben wenigſtens angefangen hat: Denn alle
Wirkſamkeit des Geiftes fegr die Wirffamfeit der koͤr⸗
perlichen Organe voraus ; diefe iſt aber nicht eher mögs
lich, als bis die organifche Maschine des Körpers dar
zu eingerichten ift, : und hierzu iſt die Entwickelung des
Ä befruchteten organiſchen en erfoderlich. Vor
der
206 Gefchichte derneuern Philoſophie
der’ Befruchtung kann dieſer feinen aͤußern Eindruck
empfangen; das Senſorium iſt noch nicht zubereis
ter; es ift alfo auch fchlechterdings alsdenn Feine geis
ftige Thaͤtigkeit möglich. Inzwiſchen ift: nicht zu vers
geffen, daß der Mangel an Entwickelung des orgas
nifchen Seelenfeimes die Functionen des Geiftes, fo
wie des Körpers, nur fufpendirt, aber Feinesweges
vernichtet. Der Keim behält den ganzen Fond feines
organifchen Apparats, mie er ihn im Körper des Ers
wachfenen bat; aber das materielle Subject, mitselft
defien die Funetionen ausgehbe werden, bat die Bes
dingungen noch nicht, die dazu gehören. |
II. Der Geift in dem organifchen Menfchenfeime
vor der Befruchtung und Entwickelung bat ſelbſt niche
das innere Bewußtſeyn feiner Eriftenz. Denn was
iſt dee Geift ohne irgend eine Are der Wahrnehmung?
Es ift der Geift freylich feinem Weſen nach, aber ges
trenne oder unabhängig von der Ausübung feiner Vers
mögen. Weiter wiſſen wir darüber nichts. Es läßt
ſich allerdings nicht annehmen, daß ein Geift oßne
die Vermögen zu empfinden, zu denken, zu wolr
fen, ſich zu erinnern, fey; denn diefe Vermögen ges
hen aus feinem Weſen hervor, ob fie gleich dasſelbe
nicht ausmachen. . Aber ihre wirkliche Ausübung
ift dem Geifte nicht wefentlich, befonders foferne er
mie denn Körper vereinigt ift, weil fie gänzlich von
der DOrganifation des Körpers abhängt; dahingegen
die bloßen Vermögen im Geifte unabhängig vom Körs
pet fi ch befinden.
Die Verbindung des Geiftes * dem Koͤrper
beſteht nach Robinet alſo nicht in der gegenſeitigen
Einwirkung dieſer beyden Subſtanzen, weil die Thaͤ⸗
tigkeit ſuſpendirt iſt vor der Entwickelung des mit =
oͤr⸗
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 207
Koͤrper verbundenen Geiſtes. Sie beſteht auch nicht
in dee Harmonie ihrer Operationen, weil dieſe Hars
monie nicht zwiſchen dem Geiſte und dem koͤrperlichen
Keime exiſtirt, zu welchem jener gehört. Sie iſt vıels
mebr nach Allem, was wir davon einfehen können,
das Princip der Communication beyder Eubftanzen,
‚der Grund der gegenfeitigen Correfpondenz ihrer Dos
> Yificationen, der eintritt, fobald die Eutwickelung des
Menſchenkeimes wenigſtens begonnen hat.
Was iſt alſo das Weſen der Seelen über
haupt? Das Wefen eines Dinges iſt dasjenige,
wodurch ein Ding ift, was es if. Das Weſen ber
Seele befteht alfo nicht im Denfen; denn die Sex
le eriftire im Keime ohne irgend eine Urt des Denfens,
ohne irgend einen Gedanken. Es befteht auch niche
in dem Bermögen zu denfen, zu wollen, u. m.
Das Wefen eines Dinges ift nicht der Inbegriff feis
ner Eigenfchaften; das, was es ift, iſt es weder durch
eine einzelne Eigeufchaft, noch durd alle zufammen. -
Jedes Vermögen liege in einem Subjecte; aber
diefes Subject ift nicht dies oder das Vermögen. Das
wahre Wefen der Seele ift alfo ein Princip, woraus
alle diejenigen Eigenfchaften entfpringen, welche wir
an ihr erfennen. Weiter über die Matur diefes Prins
eips zu fragen, würde anmaßend ſeyn. Wir koͤnnen
nun einmal nicht in die Weſen der Dinge eindringen,
und es fehlt uns dazu gänzlich an Mitteln. Freylich
verbreiter die obige Erklärung des Wefens der Seele
wenig Licht über dasfelbe. Aber fie fagt zum mindes
fen fo viel aus, daß die Erfentniß desfelben unfere
Einfiche überfteige. Das Gefühl, das der Geift von:
feiner Exiſtenz hat, betrifft nur feine Faͤhigkeiten und
. ihre Ausübung, nicht fein Wefen. Die Frage nach
dem
—
208 Geſchichte der neuern Philoſophie
dem Materialismus oder Immaterialismus der Seele,
die dadurch ein befonderes Intereſſe bekomt, weil maii
fie mie der Religion in Verbindung feßt, wozu man
gleichwohl Fein dringendes Bedärfniß hat, wird nie
ihre Auflöfung erwarten dürfen. Man muß fi dar
mit begnügen, daß man die Seele von feinem. Körs
per unterfcheiden Fönne, und dag man alle Urfadhe .
"habe, zu vermuchen, das Spiel der Organe fey noch
etwas mehr, als das repräfentative Zeichen der Modis
ficationen einer intelligenten Subſtanz.
Ueber die Erzeugung der Geifter äußerte Nobis
net folgende Vermuthung. Der Menfch befome Geift
und Körper von feinen Eltern durch denfelben Act.
Der Geift war von jeher mit dem Körper verbunden;
der mit ihm ein gewiſſes vollendetes Weſen, das menfchs
liche Judividuum, ausmachte. In dem Augenblicke, -
da der befruchtere Keim feine erfte Vergrößerung ems
pfänge, ereignet fich ein verhälnigmäßiger Forefchrite
in der Aeußerung der Thärigkeiren des dabey gegens
wörtigen Geiftes. Diefer erfte Punct der Entwicke⸗
Jung für die Geifter ift das, was man ihre Erzeu⸗
gung nennt; fo wie die Befruchtung oder die erfte
Erweiterung des Pörperlichen Keims in dem gemöhns
lichen Sinne die Erzeugung des Körpers if. Go
wie ſich aber der Pörperliche Keim jm Mutterleibe ims
mer weiter entwickelt, fo entwickelt fich auch die Les
bung der Geiftesfähigfeiten. Mit dee Empfängniß
des Ferus gehe der Geift aus der dumpfen Unthätigs
feit bervor, in welcher der Zuftand der Michtbefruche
tung. ihn erhielt. Seine Fähigkeiten winden fich
gleihfam von ihren Banden los. Freylich find die
erften Wahrnehmungen des Geiftes-in hohem Grade:
dunfel und verworren; es ift der Fleinfte —
| | | ns
L)
während d. achtz Jahrhund. b. auf Kant. 209
Intelligenz; ſo wie der Embryo exiſtirt mie den klein⸗
ſten Elementen der Organiſation. Es verhält ſich in
den Thieren eben ſo. Der Inſtinet, als Produet
des Naturmechanismus, folgt auf gleiche Weiſe der
Entwickelung ihter Organe, und die Mannichfaltigs
keit der thieriſchen Thaͤtigkeiten ift eine nothwendige
Folge der mannichfaltigen Zuftände, durch welche das
Thier vor feiner vollfonnen Reife hindurch gebt, oder
vor dem Alter, wo der JInſtinct Alles har, werfen er
bedarf.
Wenn der Inſtinet eine Subftanz zum Principe
baͤtte, die dem Körper fremde, aber ihm doch in Ans
febung der Ausübung. ihrer Functionen unterworfen
wäre, fo daß ihr bie ‚völlige Yusübung nur mittel
einer ‚gewiffen Ausdehnung der Förperlichen Subftanz
zukaͤme; fo müßteman abermals zugefteßen, daß bey
jeder Erweiterung der Ausdehnung des Körpers auch
der Inſtinet verhaͤltnißmaͤßig reifer würde, „bis er fe
ne vollkomne Stärfe serhielte, wenn das Thier vg
kommen ausgebildet iſt. Dieſe Iegtere Vorausſetzung
iſt num eigentlich im. Menſchen realifice Durch das Prin⸗
tip der Verbindung zwiſchen Seele und Koͤrper. Die
Diſpoſition des Geiſtes wird folglich allemal der des
Körpers correſponditen; jener wird an der vollkom⸗
neren Ausuͤbung feiner Faͤhigkeiten gewinnen, was
dieſer an größerer Vollkommenheit feiner Organe ges
winnt. Die Sutelligenz hat verfchiedene Grade der
Intenſitaͤt. Sie hat einen fiir jede Nuͤange der fürs
verlichen Organifation. Die Natur an die Gleichförs
migkeit ihres Ganges gebunden geht alle Nuͤangen der
Organiſation durch, um eine vollfomne Mafchine zu
bilden, und laͤßt wiederum. den Geiſt mittelſt jener
Muͤangen alle Zuftände hindurchgehen, deren, das ins
Dubhle's Geſch. d. Philoſ. VI. B. O tel⸗
310 Becſchichte der. neuern Philofophie
tellectuelle Vermoͤgen faͤhig iſt, und Beten eben fo viele
find, als Gtade der Organifation. |
Ro binet erörtert nun das Verhaͤltniß zwifchen
dem Geifte und dem Körper von der erſten Entwicke⸗
Yung des Fetus an ſehr umſtaͤndlich, und zeigt, daß
die Befchaffenpeit der. Perceptionen immer ſich veräns
dert und. Iebhafter wird, fo wie ſich der Menfchenkeins
hoch der Befruchtung immer-mehr vergrößert. Daß
hierbey viel Willkuͤhrliches ift, erhellt ſchon daraus;
daß der. Fetus von allen ſeinen Perceptionen gar Fein
SBewußtfeyn hat, und feine Beobachtung uns völli
verechtigt, die Lebenskraft von der Seelenktaft zu tren
nen. Die letztere muß fich freylich in dem Embryo
dem Principe nach befinden; aber ob fie in ihm wirk⸗
ſam iſt; ob nicht vieleicht der Embryo, fo lange e
im Mutterfeibe ift, bis zu dem Momente, da er ſich
fosreige, mit der Mutter Ein Ich ausmacht? Das
i eine Frage, welche niemals zur Beftiedigung de
antwortet werden kann. Robinet ſelbſt hat zwat
dieſe Fragen nicht ganz unberuͤhrt gelaſſen. Auf die
Fraͤge, warum wir uns der Perceptionen, die wir im
Mutterleibe hatten, nicht mehr erinnern, wenn wie
fie atıders wirklich hatten, da wir uns doch der Mops ,
‚nngen unferer Kindgeit im fpäten Alter noch erin⸗
seh können, erwiedert er, daß jede Empfindung,
bweiche der Geiſt von feiner Eriftenz haben kann, ſich
auf das Bewuͤßtſeyn feiner Modificationen und die
- Weflerion reducirt, welche er über die Art feines Dan
fenns anſtellt. Ich denke, atfobimid.. Ich
feide, alfo bin ich. Der Geiſt fühle alſo feinen ges
genwaͤrtigen Zuftand niemals anders, als wie durch Res
flerion auf ſich ſelbſt. Diefe Aufmerkſambkeit des Geiſtes
auf das, was in ihm vorgeht, iſt ohne Zweifel. eine
F — der
—3
J ar
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. aıı
oder ſchoͤnſten Prärogariven der Jutelligeng. Gleich⸗
wohi kann die Seele dieſen Vorzug nut erhalten von
leiner viel vollfomneren Organifation, als die des Fer
us, und felbft als die des ‚Körpers in den Jahren
Der erften Kindheit if. Es ift alfo gar nicht zu ver⸗
wundern, daß die Geele im Fetus noch nicht, empfas
on, ob fie exiſtire, umd wie fie exiſtire?
Die Seele des Gets mag ihe Dafeyn wobl em ms
pfinden; aber es iſt eine Dumpfe, ſehr ſchwache, ſehr
„wenig entwickelte, und in ſich ſelbſt unterſchiedene Rei⸗
he von Perceptionen. Daß der Geiſt folglich auch
‚An reiferem Alter fich feines Zuſtandes im Mutterleibe
nicht zu erinnern vermag, iſt aus dem Vorherigen
nah R. ſehr wohl begreiflich; obgleich R. die Eröbs
rgeerung dieſes Punctes ſchwieriger macht, als fie an
ſich ſelbſt ſeyn wuͤrde. So ſchwach auch Die -Perceps
tionen des Fetus ſeyn moͤgen, ſo muͤſſen ſie doch Ein⸗
druͤcke im Gehirne bewirken, und Spuren derſelben
zurüͤcklaſſen. Aber Eindruͤcke im Gehirne des Fetus
werden eben ſo geſchwind wieder verwiſcht, als ſie ge⸗
macht werden, ohngefaͤhr, wie Eindruͤcke, die man
‚auf Waſſer oder Luft machte. Dieſe Vergleichung iſt
um fo paſſender, da das Fluͤſſige die Luͤcken gleich
wieder ausfüllt, welche die Eindruͤcke in dieſen Ele⸗
menten hervorbringen, und auf gleiche Weiſe die Ma—
terie, welche zur Nahrung der Empfindungsfibren des
Fetus dient, auf diefe an alten ihren Enden eindringe,
und ohne alle Mühe Züge. auslöfche, die fo oberflächs
Gh in das Gehirn des Fetus gleichfam eingezeichnee
‚worden waren. Was nicht mehr fo im Gehirne ift,
iſt denn auch niche mehr in der Seele. Daher bleibe
uns fogar von unferer früheren Kindheit nichts übrig, .
als eine verworrene aaa verworrener Perseptios
. . 2 2 nen.
212 Geſchichte der neuern Philoſophie
nen. Das Bewußtſeyn unſerer Exiſtenz iſt für uns
ein Stern, den wir gegen die Zeit ſeines Culminirens
gewahr werden, und deſſen Aufgang ein dicker Nebel
vor uns verborgen hat. Der Nebel wird ſo langſam
zerſtreut, mit einer fo wechſelnden und mannichfalti⸗
gen Decoration, daß es uns ſchwer und meiſtens uns
möglich ift, "das Moment anzugeben, wo der Stern
aufgehäre hat, von ihm bedeckt zu feyn. Die Epoche
des erften Gedankens ift fchlechterdings nicht zu firts
ven. Unſere tiefe Linwiffenheit in diefem Stücke koͤn⸗
nen wir aber doch Feiner anderen Urſache beymefjen,
als der Schwäche der Organe, melche, da fie fehr
allmälig fich entwickelten, Leine heftige Revolution
im Geifte bervorbrachten, deren er fich wohl erinnert
haben würde. Eben diefe Schwäche der Organe. iſt
auch fhuld, daß fie uns Feine fichere Erinnerung von
unferm dermaligen Zuftande zuruͤcklaſſen. Der Mans
gel der Erinnerung aus den erften Jahren der Kinds
heit wird hierdurch allerdings erflärt; allein die Exi⸗
ftenz von Perceptionen im Fetus nicht bemwiefen. Die
Are übrigens, wie Robinet die wirklichen Empfins
dungen und Borftellungen aus der materiellen Befchafs
‚fenheit der Nerven und des Gehirns erflärt, enthält
nichts befonders Merfwürdiges. Gr nimt auch eine
Mibration der Merven an, welche durch die Dbjeete _
bewirkt werde, und der mechanifche Grund der Sons
fationen ſey.
* *
| Die Theodiche Robinet's ift ein im feiner
Art febe fcharffinniger Verſuch, die Möglichkeir des
Uebels und Böfen zu erflären , und in Beziepunganf
die Gottheit zu vechtfertigen ; der aber. Doch a
| ung
während: d.achtz. Jahrhund. 5; auf Kant. 2r3
fung der kritiſchen ſpeeulativen Vernunft aushaͤlt. Sie
beruht auf dem Satze: Es ſey ein Widerſpruch, daß
eine endliche Welt vollkommen ſey, und das Uebel
und Boͤſe ſey alſo eine nothwendige Eigenſchaft der⸗
ſelben. Im Weſentlichen unterſcheidet ſich hier Ro⸗
binee von Leibniz nicht. Es ſtreiten alſo auch
dieſelben Gründe gegen ihn, weiche gegen die Theo⸗
diche des Letztern ſtreiten. Es komt gar nicht auf eis-
nen Beweis an, Daß das Uebel und Boͤſe in einer
Welt endlichee Gefchöpfe unvermeidlich war; fondern
daß es ſich mit der Güte, Weisheit und Allmache
Gottes reime, eine endliche unvolltommne Welt, in
weicher nah Robinet felbft die Summe des Woh⸗
les und des Guten mit dee Summe des Liebels und
Boͤſen im Gleichgewichte ſteht, Hervorzubringen. Vom
Endlichen und Unvollkomnen zum Unendlichen und
Abſolutvollkomnen iſt freylich kein Uebergang; und
nur das hat Robinet mit mehr Aufwand bewieſen,
als noͤthig war. Aber vom Unendlichen und Abfoluts
vollfomnen ift umgekehrt auch kein Lebergang zum
Endlichen und. Unvollfomnen, namentlich zum Mor
raliſch⸗ Böfen. Dies war eg vorzüglich, was er hät
ei —— ſeuen, und zu beweiſen unterlaſſen hat.
7 Daß der Unendiiche und Abſolutvollkomne nicht
eine ihm gleiche Welt ſchaffen; daß das Geſchoͤpf nicht
ſo vollkommen ſeyn konte, wie ſein Schoͤpfer, kann
man allenfalls zugeſtehen. Allein wie kann denn das
Unendliche und Vollkommenſte ein Princip des Endlie
den und Unvollkomnen fegn ? Das iſt noch weniger
zu begreifen. Das genaue Gleichgewicht des Woh⸗
les und Uebels, der guten und boͤſen Eigenſchaften, in
den endlichen Maturdingen, iſt eine dem Robinet
| eigene, aber durchaus sg u Sie if =
214 Gefchichte: der neuern Philoſophie |
ihm durch eine Verwechſelung des reinen Verſtandes⸗
gebrauchs mit dem empiriſchen erzeugt. Man kann
fi von Allem ein Gegentheil als. lögifch möglich den⸗
fen, und fo Bann man fich auch vorfiellen, daß, wenn:
bie Geſchoͤpfe gute Eigenfchaften haben, ihnen entge⸗
gengeſetzte üble und böfe ebenfalls zukommen muͤſſen.
Da nun eine Gradation der, relativen Vollkommen—
heit unter den Gefchöpfen ftatt findet, . welche der:
. Analogie nach fich über den Menſchen hinaus erſtreckt;
ſo Ponte Robinet mie Anwendung jenes logiſchen
Prineips der Eontrafte den Sag aufſtellen: Das res
lativ vollfommenfte endliche Weſen ift auch. zugleich
” das relativ unvolllommenfte.e Der Menfch: hat die
meiſten Bolltommenpeiten in diefer fublunarifchen Welt,
aber auch die meiften Mängel und Fehler in feiner
Natur. Der Engel, welcher der Gottheit am nächs
ſten iſt, hat die Anlage zue wahrften Erkentniß, aber
auch zum groͤbſten Irrthume, zu den erhabenften Zus
genden, aber alıch zu den teuflifchften faftern. Gleiche
wohl wird jener Sag keinesweges durch die Erfah⸗
zung beflätiget. Den leblofen organifchen Gefchöpfen
Bann man gar feine Unvollkommenheit beylegen, die
der Natur aufgebürder werden Eönte, und welche. ih⸗
zer relativen Vollkommenheit gleich Fame. Die Drs
‚ ganifation dee Elemente, der Mineralien, der Pflans
zen, iſt fo vollkommen und zweckmäßig, wie es die
Marurbeftimmung jedes einzelnen Dinges und jeder
Gattung fodert. Was hat eine in ihrer Art vollens
dere Pflanze z. B. für Unvollkommenheiten? Etwa
daß ſie nicht ſo ſchoͤn iſt, wie eine andere, daß der
Kohlkopf kein Eichbaum iſt? Dann wuͤrde aber jene
"Pflanze nicht. dies beſtimte Ding ſeyn koͤnnen, was
ſie doch ift und feyn fol. Oder daß fie ——
— veift, verweltt, folglich are
*
während d. achtz Jahrhund. b. auf Kant. 225
—* wäre die Pflanze: Sein erdiche⸗ vedanoche⸗
ing.
Alerdings zerſtoͤrt — die Natur in der organi⸗ |
ſchen Schöpfung; aber dies ift mehr ein Verwandeln
und Wechſeln der Formen, als ein Zerfiören. u
Der thierifchen Welt wird jedes Thier fo vollfommen
in feiner Art, wie es werden kann. Es läßt fich nie
aus der Erfahrung beweifen, daß die Summe des
Schmerzes in der chierifchen Weile genau der Summe
‚Der angenehmen Empfindungen gleich fey. Nicht ans
- Ders ift der Fall beym menfchlichen Geſchlechte. Wels
cher Philoſoph Härte die Erfahrung für fich in der
Behauptung: daß jeder Menſch gerade fo viele anges
nehme Gefühle, als unangenehme, in feinem Leben
harte? Daß er fo viel Gutes, wie Böfes thue?
Und doch müßte diefe Behauptung durch die Erfah—⸗
zung beftätige werden, falls ſie gegruͤndet feyn follte,
Im Gegentheile die Erfahrung läßt uns im Ganzen
ein ‚großes Webergewicht des Ungenehmen und Guten
über das Uebel und Boͤſe in der Welt erkennen. Es
giebt freylich einzelne Menfchen, die im. Leben fehr
‚ungkicli find, z. B. Kinder, die ungefund geboßs
zen werden, und eine Zeitlang ihr Leben unter Schmers
zen fortfchleppen. Bey folchen Individuen ift ein
‚Mebergewicht des Uebels ber das Wohl. Es giebs
Böfewichter, deren Epriftenz mehr duch Miſſethaten,
als duch nügliche und tugendhafte Handlungen bes
zeichnet ift. Hier ift, wenn man will, eine größere
Summe des Böfen. Aber das gile nur von JIndi⸗
viduen, und beweift nicht für Robiner, fondern ge⸗
‚gen ihn. Es beweift, daß die Summe des Wohles
‚and Uebels, des Guten und Boͤſen in der Belt, gar
nicht ‚bey den einzelnen Sem im —
eh 4 ehe.
ſtehe. Robiner führt die Vorzuͤge und Tugenden
der bürgerlichen Geſellſchaft an, und ftellt die Maͤn⸗
gel und Laſter derfelben gegen über, als ob fie genau
einahdee gleich ſeyen. "Aber Diefe Behauptung wird
Doch auf feine Weiſe durch die Erfahrung beſtaͤtigt.
15 Mehr Werth für die Philoſophie und die N
turfunde hat das zweyte Hauptſtuͤck im Robinel⸗
ſchen Werke uͤber die gleichförmige Erzeu—
Yung der Weſen; obgleich das Priucip, wovon
MR. bey feiner Theorie ausgeht, nicht bloß falſch oder
wenigſtens zu einfeitig , ſondern auch; weit über‘ Die
Grenjen eines gültigen Gebrauchs, felbft falls es an
ſich wahr wäre, jangemandt worden if: Er’ führe
‚ Die geſamte lebendige Organifation in der Natur auf
bloße Entwickelung fchon urfprünglich organiſtr⸗
tee Keime zuruͤck. Das zur Reife gediehene Matur—⸗
weſen kann nichts anders enthalten, als was ſchon
in feinen’ Keime lag; der Keim ift in jenen tur 'ents
wickelt worden. Gogar das ganze dermalige Uni—
verſum ift eine“ beſtimte Entwickelung eines Inbe⸗
geiffs urſpruͤnglicher Keime, der zuerſt ein Univets
füm im Kleinen, Mifrofosnius im eigentlichen
Sinne, ausmachte. Zu ber Entwickelung bedärf'&
einer gefegenfeitlichen und veranlaſſenden Urſache, und
dieſe ſetzt Robinet in die Befruchtung; ſo daß
alſo die gleichfoͤmige Erzeugung aller Naturweſen dar⸗
in beſteht, daß ihre Keime beftuchtet wurden, und
ſch zur Reife entwickelten. Daß R. die Anwendung
vieſer Hypoͤtheſe bis in's Abentheuerliche uͤbertreibt,
And: auf der andern Seite oft dabey in Spielerehen
werfäne, Habe ich ſchon in der Darſtellung jener Hier
und da, bemerklich gemacht. So nimt er auch Line
Ebolution der Sonnen und Planeten aus kleinen Son⸗
25* J — nen⸗
‚während dachte. Jahrhund. b. auf Kan) 217
nenfeimen und Planetenfeimen an, die einander g&
genfeitig befeuchteten, dadurch ihre Evolution bewirks
sen, und auf diefe Weife erzeugten. Sterne erzeugen
Sterne, wie Thiere andre Thiere erzeugen. Gterne
werden gebohren, wachſen, blüßen, reifen, veralten,
und fterben. Auch die Elemente in dem Planeten, °
welchen wir bewohnen, entwickeln fi) durch Befruchs
tung aus urfprünglichen Keimen. Es giebt eine Luft
als Embryo, eine Luft als Kind, als Mann, als
Greis. Die tuft, fo wie die übrigen Elemente, wers
den gebohren und -fterben. In diefer letzteren Ans
“ wendung der obigen Hypotheſe, und den Folgerungen
aus derfelben zeige fich das Spielende und Abentheuers
liche zu auffallend, als daß es einer Hinweifung dars
auf beduͤrfte.
Das ganze Evolutions: und Befruchtungsſyſtem
Robiner’s ift einſeitig und unbefriedigend. Geſetzt
auch, daß zu jedem Naturweſen urfprüngliche orgas
niſche Keime nothwendig wären; fo tft freylich eine
Entwickelung der in demfelben fehlafenden Kräfte und
Anlagen nothwendig, und dieſe erfodere einem objectis
ven Reiz als: gelegenheitliche Lirfache. Allein mit der
bloßen Entwickelung reiche man nicht zur Erklärung
aus, und der objective Reiz kann niche einzig’ und
durchweg in der Befruchtung beſtehen. Denn mo
Nichts zu entwiefeln ift, kann nichts entwickelte wer⸗
ven. Wie fönte aber in: dem- urſpruͤnglichen Men⸗
ſchenkeime, in dem fogenannten hüpfenden Puncte im
Mutterleibe, der fich zuerft nach der thierifchen Be⸗
fruchtung bilder, das ganze ermachfene Thier, dee
ganze erwachſene Menſch, enthalten: ſeyn? Es ifk
nur ein Machtſpruch, der au ſich unbegreiflich iſt
und dem die Erfahrung ie widerſpricht, 7—
u 5 a oe
218. Geſchichte der neuern Philoſophie
Robinet behauptet, daß in dem erwachſenen Men⸗
ſchen nichts enthalten ſeyn koͤnne, was nicht ſchon
urſptuͤnglich im Menſchenkeime im Mutterleibe lag:
Der Unterſchied der materiellen Maſſe im Körper eis
- nes Embryo, und im Körper eines Mannes, ift doch
unleugbar; und woher diefer Unterfchied ? Die Ver⸗
* geößerung des Embryo, der zum Manne reift, iſt
Doch in die Augen fallend. Sie kann alfo niche Ente
wickelung ſeyn, und fonach fehle es im Robiner’fchen
Syſteme für diefe Vergrößerung als folche an einem
genugthuenden Erklärungsprineipe. |
Kerner müßte man bey der Entwickelungshypo⸗
theſe vorausfegen, daß ſchon im allererfien Keinie des
Maturweſens beym Anbeginne: der Natur alle folgens
den Generationen enthalten gewefen wären, die im
Saufe der Zeugungen während der folgenden Jahrhun⸗
Derte aus jenen Keimen hervorgingen. Yu einem eins
zigen Menfchenkeime des Adam oder der Eva. lagen
fon eine Menge Fünftige Gefchlechter eingewicelt,
Freylich Plinge es fhön, wenn man: fagt: Ju einer
einzigen Eichel fchlafen fünftige Eichenwälder. Dur
Schade, daß in diefen Behauptungen durchaus fein
Serſtaͤndlicher und begreiflicher Sinn ift. Auch die
Befruchtung kann nicht die einzige gelegenheitliche
Urſache felbft nach dem Evolutionsfpfteme feyn. Denn
fo weit unfere ficheren Beobachtungen reichen, findet
"fie nur in der lebendigen organifchen Matur, im
Zhiers und Pflanzenreiche ſtatt. Eine Befruchtung
der Mineralien ift bis ige nicht durch Erfahrung bes
wieſen, fondern nur eine gegenfeitige chemifche Eins
wirkung; und noch weniger laͤßt fie fich bey den Ele⸗
menten, und bey ganzen Sonnen⸗ oder Planetenförs
dern annehmen. —
* n ’ Deus
während d. achtz. Jahrhund. [2 auf Kant. 219
Demnach das Princip, daß die vorhandenen
Maturweſen fih aus urfprünglich vorhandenen Keis-
men entwickeln, ift falfh. Allerdings geht jedes ders
nalen vorhandne organifirte Maturwefen aus einem
organifchen Keime hervor, der fich weiter ausbilder.
Aber diefer Keim felbft wurde nach einem Gefege, wos
von das Mobiner’fhe Syſtem nichts weiß, erſt ews
zeugt. Bey den Elementen und den ganzen Weltkoͤr⸗
perm giebt es gar feine Entwickelung aus Keimen,
Diefe find urfprünglich in ihrer. materiellen Maffe
gleih vollſtaͤndig, und nur ihre mannichfaltige Mis
fhung und Combination, Die Folgen der Bewegung
find, bringen die mannichfaltigen Phänomene hervor,
weiche die Elemente in ihrer gegenfeitigen Wirkſam⸗
keit Darfiellen. Die Erde als Weltkörper wurde gleich
ganz der Mafje nad) von der Natur hervorgebracht;
es ift eine Ungereimeheit, daß fie ſich aus einem klei⸗
nen Erdfeime, wie dee Menfh aus dem büpfenden
Puncte im Mutterleibe, entwickelt hätte. Die Thats
fahen, deren Robinet erwähnt, daß gewiffe Sters
ne entftanden und verfchwunden wären ; daß die Gons
ne die Planeten und Trabanten, die man in dem neues
ren Zeiten entdeckte, erft erzeugte habe; daß Sterne -
und Planeten nah Analogie der Pflanzen, Thiere
und Menfchen geftorben, und darum verſchwunden
‚ wären, find fächerliche Misdeutungen aftronomifcher
Entdeckungen und Michtentderfungen, die Feiner Bes
richtigung oder MWiderlegung werth find. Daß ein
Stern der Bemerkung der Afteonomen fi entzieht,
rührt ja bloß vom Mangel des Lichts ber, der in der
inneren Befchaffenheit des Sterns feinen Grund hat.
Daher zeige fi auch der Stern wieder, und zwar
kleiner oder größer, mie es die phufifchen Revolutio⸗
nen, welche in ihm vorgeben, mit fich a
48
220 Gefchichte. der neuern Philoſophie
|
er: das dritte von Mobiner - bearbeitete
Hauptftüc, die Hypotheſe vom moralifhen Sim
ne betrifft, fo babe ich fchon zur Beurtheilung ders
felben Einiges oben erinnert , da ich die Gefchichte der
Engliſchen Motalphiloſophie erörtere. MRobiner
bat. hier nichts Sigenthuͤmliches, als. daß er die Anas
logie zwifchen dem. moralifchen Sinne und den fünf:
äußern Sinnen weiter aufzuflären fuchte, ohne daß
er. fie doch wirklich aufgeklärt und noch weniger ers
wiejen hätte. . Daraus, daß Jemand beym bloßen:
Sehen oder Hören eines Mordes auch innerlich die
Ungerechtigkeit desjeiben fühle, folgert er, daß
bier das Object gerade fo auf das Organ des moras
liſchen Sinnes wirke, mie auf. die Organe des Ger
fiches und Gehoͤre. Diefe Meymung wird aber gleich
widerlegt, wenn man nur an die Wilden denkt, 'die
Menſchen frefien, ohne daß fie die geringfte moralis
ſche Empfindung der Ungerechtigkeit und Graufamkeit
dieſer Handlung Härten. Solche Wilde fehen und
Hören dergleichen Handlungen nicht_ bloß, als von Ans
bern verübt; fondern fie veruͤben ſie ſelbſt. Man folk
se: alfo denken, wenn Robinet's Hypotheſe von
Der Congruenz des moralifchen Sinnes mit den fünf
Außern Sinnen wahr wäre, daß jener noch ungleich
mehr bey ihren in ſolchen Fällen empört werden müßs
se, als. bey Menfchen , welche von: Unchaten der Are.
bloße Zufchauer. oder Zuhoͤrer find. Man. braucht
ſich niche einmal auf Wilde zu berufen. Selbſt uns
ger den-cultivirteften Nationen giebt es Boͤſewichter,
Die Ungerechtigkeiten begeben, , ohne die Immoralitaͤt
Derfelben im Momente des Handelns ju empfinden,
Beruht aber das Bewußtſeyn der Moralität auf Im⸗
preffionen :des moralifchen Sinnes, ähnlich den Im⸗
zei der aͤußern Sinne; fo. müßte das Gefühl
der
’ 4 y
—
während d. achtz Jahrhund. b. auf Kant. 221
der Moralitaͤt oder Immoralltaͤt gerade dann am leh⸗
hafteſten ſeyn, wenn bie Handlung verübt wird; denn
bier iſt die Impreſſion auf den. moraliſchen Sinn ge⸗
gvenwaͤrtig und am ſtaͤrkſten. Die Erfahrung ">
gleihwohl das. Begencheil. - Der Menſch ſieht -ofe
Die Schlechtigkeit einer Handlung erſt nach berfeiben
. ‚ein, Durch Reflerion, indem er. fie mit dem Geſehze
der Moralitär zuſammenhaͤlt. Das Gefühl der Mos
ralitaͤt kann alfo nicht eine unmittelbare Aſſieirung eis
nes: innern moralifhen Sinnessrgans feyn. Was
Robinet von den Urfachen des: Werderbniffes des mo⸗
raliſchen Sinnes fagt, iſt freplich richtig; aber be⸗
weißt ‚nichts-für feine Hypotheſe. Diefelben. Urfachen
koͤnnen zur Verminderung oder Vermehrung der Dias
‚salitär in einer Marion beytragen, auch wenn. diefe: im - |
der menſchlichen Natur ein ganz anderes Princip barz
and gar nicht von beſtimten Afficirungen eines moras
ae Sinnesorgans abhängt. —
Das vierte Hauptſtuͤck des Robinet'ſchen Werkes
endlich, die von ihm fogenannte Phyfif der. Geis
ſter, drücke gewiffermaßen fchon im Titel einen Wis
derfpruch aus. Die Phyſik ift die Wiffenfchaft von
den Gefegen der Maturerfcheinungen, zu welchen die ,
Geifter nicht gehören, die ſich alſo auch nicht auf jene -
Geſetze zurückführen Taffeır, wenn man fie nicht zus
‚gleich in Körper verwandet, Robinet thar dies
“im eigentlichen Verftande, ohne jedoch es zu wollen,
und daher bemerkte er den Widerfpruch im Titel feis
ner Theorie nicht. Er wollte ein Syſtem über die
Geifter aufftellen, welches den Materialism mit dem
Spiritualism vereinigen follte. Den Bereinigungss
punct beyder Vorſtellungsarten glaubte er, darin zu
‚finden, daß er jede derſelben fuͤr ſich dogmatiſch uns
ol ent⸗
222 Geſchichte der neuern Philoſophie
ſſchieden ließ, und die Natur der Seele nur nach em⸗
. ipieifchen Merkmalen in Beziehung auf feine anders
weitigen Hypotheſen von der Natur der Dinge chas
rakteriſirte. Der Sag iſt völlig wahr, daß, wenn
die Seele auch geiftig iſt, - ihre geiftige Thaͤtigkeit ſich
Doch nur in dem Spiele der koͤrperlichen Organe ver⸗
aͤth. Um feine Philoſophie über die Seele mit dem
Sopoiritualism verträglich" zu machen, ſetzt alſo Rör
biner;die. Möglichkeit desfelben voraus, und fpriche
sämmer von der Seele, als ob fie erwiefenermaßen ein
geiftiges Weſen wäre. Eigentlich aber fehildere er
nur ihre empirifchen Thätigkeiten, und feine Phyſtk
der Geifter iſt nichts weniger, als eine rationale Pſy⸗
chologie. Manche Punete, in empiriſch⸗pſychologl⸗
ſcher Hinſicht, hat er inzwiſchen ſehr gut aufgeklaͤrt.
Dapii gehöre die Erörterung der Urfachen, watum
wir von unferm Zuftandeim Mutterleibe und von den
‚eefhen Fahren der Kindheit Leine Erinnerungen behal⸗
zen. Seine Erklärungsart der Harmonie zwiſchen
Be und Körper iſt unverftändlich.
* N *
In dem zweyten, dritten und vierten Theile des
Werks de la nature hat Robinet eine rationale
Theologie und Kosmologie den Prineipien feines Sys
ſtems gemäß vorgesragen, die auch Manches Eigens
thuͤmliche und Paradore enthalten, fich aber hier niche
"ausführlich darftellen laſſen. Ich will hier nur einis _
‚ge feiner merfwürdigften Reſultate mit den bebeutends
fien von ihm vorgebrachten Gründen angeben.
Es ift für den Menfchen bey der gegenwärtigen
Befchaffenheit feiner Matur unmöglich, fich einen ans
dern Begriff von den. göttlichen ———— zu
machen,
wahrend d. achtz Japıfund. b. auf Kant. ees
machen, als welcher denen analog iſt, die er ſich von
gewiſſen Fähigkeiten der Geſchoͤpfe bildete. Die eis | E
fachen Ideen der Exiſtenz, Macht und Erkentniß find
‚Die Elemente des vollkommenſten Begriffs, welchen
‚wir von dem höchften Weſen zu haben vermögen. Je⸗
ne Ideen erheben mir zur Unendlichkeit, oder wir dens
fen ung die Eigenfchaften, : welche Die Dbjecte derfels
ben find, unendlich und unbefchränft, ob. wir. gleich
fie in dieſer Unendlichkeit nicht zu begreifen im Stans
‚de ſind. Da aber das Unendliche nie.nach dem Enda
- lichen auch nur analogiſch fich beurtheilen laͤßt, fo ift
die göttliche Natur für uns ſchlechthin unbegreiflich.
Die gewöhnliche auch unter den Philoſophen herge⸗
brachte Vorftellungsart von Gott ift ein ſpiritualiſti⸗
fcher Anthropomorphismus. Gr entfleht aus. der
Schwaͤche der menfchlichen Vernunft, die ſich ein
Weſen zu erkennen anmaaßt, was fich ihrer Erkent⸗
niß ducchaus entzieht, und aus. dem. Miebrauche der
Abjtrastion. Sener Anthropomorphismus hat aber
‚mehr JIrrthuͤmer zu Folgen. Er verleitet erftlich, die
befchränften und erfchaffenen Geifter mit dem unends
lien und ‚unerfchaffenen Geifte, der Gottheit, zu
paralleliſiren. Das Denken wird fchlehehin für ein
gemeinfchaftliches Attribut der. endlichen Geiſter und
der Gottheit gehalten. Ro binet behaupter Dagegen,
daß weder das Denken, noch das Denkoermögen beyr
den.gemeinfchaftlich ſeyn koͤnnen. Dian entzieht durch
Abfteaction dem Denken und dem Vermögen alles, was
es Reelles hat, damit es der Gottheit zukommen koͤn⸗
ne, und eine Qualität, die in Nichts verfchwinder,
bloß negativ durch Die Abftraction von aller Realität
geworden ift, kann der Gottheit niche beygelegt wer⸗
ben. Gore ift alfo nach R. auch kein denfendes
Weſen, * folglich Fein Geiſt, wenn man unter
Geiſt
\
224 Geſchichte der neuen Philoſophie
F Geiſt nicht. ‚anders, als wie eine Intelligenz. vers:
‚ Meberhaupe, find dee. Gottheit alle die; Attribute nicht
beyzumefien, die ihr gewöhnlich zugefchrieben werben. |
Eine dritte Quelle desfelben Irrthums ift die Uns
vollkommenheit der menſchlichen Sprache und der Eins
fluß Hiervon auf die menfchlichen Vorftellungsarten.
Da wir uns ſtets derfelben Wörter und Ausdrücke ber
‚ dienen müffen, um geröiffe Attribute dee Gottheit und
gewiſſe Fähigkeiten des Menfchen zu bezeichnen; fo ger
wöhnen wir uns ohne Unterfchied in dem einen und
dem andern Falle, auch diefelben Begriffe damit zu
verbinden, und faſſen unter demfelben Worte zus
fanımen, was der Gottheit, und was dem Metis
fhen gebuͤhrt. Wir haben aber nur eine menfchs "
liche Sprache, den Dingen angemeffen, Die unſer
Verſtand begreifen Pann, und die alfo durchaus
unfähig iſt, etwas Uebernatürliches auszudrücken.
Alle die Eigenfchaften, welche man mit den Wörtern
Güte, Gerechtigkeit, Berſtand, andeutet, ſind
bloß der menſchlichen Natur eigen, außerhalb welcher
fie fie nicht feyn können. Von Goeit koͤnnen dieſe Wor⸗
ter gar nicht gebraucht werden, auf was fuͤr eine Art
' man fie auch von ihm möchte brauchen wollen, ſchlecht⸗
bin oder mit einem privativen Beyworte. Gogat
bie Wörter Sehen und Erkennen werden a
Gort angewandt; und in diefer Beziehung fehr ar
gemisbraucht.
Robinet führe eine Erklaͤrung an, weiche
Grew von der Dreyeinigfeit Gottes. gab, ohne wel⸗
che, tie dieſer meynte, Gott überhaupt nicht erfant
werben koͤnte. Grew behauptete, daß Gott, indem
er Sich Selbſt dächte, fubftantielle Formen von ſich
BEN und daß daher der Sohn und der heilige Geiſt
nur
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. 5. auf Kant; 225
nur fübfläntielle Formen des Vaters ſeyen. Dan
braucht nicht einmal zu fragen, wo Gott, deffen Gedan⸗
fe unveränderlich und einfach, wie er. felbft ift, zwey
fubftantielle Formen von fich felbft bilden koͤnne? Auch
nicht, wenn das erfte fubitantielle Bild, das unmittelbar
vom Water hervorgebracht wurde, ein anderes ihm aͤhn⸗
liches erzeugt, warum nicht diefes-dritte göttliche fubftans
tielle Bild ein viertes hervorbringt, und fo eine unendlis
he Reihe goͤttlicher fubftantiellee Formen erzeugt wird ?
Der Englifche berüpinte Phyſiker chat bier im Gruns
de nichts weiter, als daß er, felbft ohne es zu bemers
fen, die Are, wie er die Thärigfeiten feiner Seele
fih vorftellte, auf die Gottheit übertrug. : Er wähnt,
daß Gott, indem er an fich denkt, fubftantielle Ebens
bilder von fich erzeugt. . Aber wenn man ihm mu
ſagt, daß die dee, welche Gore von fich felbft hat,
feine eigene Subſtanz ift, die fich. feldft unmittelbar
betrachtet, wie will er das Gegentheil beweifen? . Folge
daraus, Daß Gott bey der Betrachtung feiner felbft
nur,eine Idee von feiner eigenen Natur bat, daß Er
‚ein, Wefen bervorbringe, deffen Eriftenz reell von dee
ſeinigen verfchieden it? Wenn man ſagt, Gore be
trachte fein Bild, fo tft dies eine menfchliche Art. zu res
. ben, die von der Befchaffenheit unfers Vorftellungsvers
mögens hergenommen ift, nach welcher die Ideen oder
Bilder ‚ver Begenftände, die wir haben, von der Natur
unferer Seele felbft verfchieden find. Uber die Art der
Erkentniß Gottes ift gar nicht diefelbe mit der unfrigen,
Man kann alfo nicht fagen, daß Gore auf eine
gewiſſe Weife erkenne, weil wir ſo erkennen. - Da
wir überhaupt Peine deutliche und gewiſſe Idee von
der Erkentniß Gottes haben, fo dürfen wir hieruͤber
fhlechterdings nichts behaupten. Woͤrter haben nie
Buhle's Geſch.d. Phildf- V. . P eine
226 Geſchichte der neuern Philoſophie
eine Bedeutung an und fuͤr ſich ſelbſt, ſondern nur in
ihrer Beziehung zu den Dingen, welche durch fie bes
zeichnet werden follen; und man ift ja ‚darin einſtim⸗
mig, daß Leine der Bedeutungen, welche wir. dem
Worte Erfennen beylegen, auf das unausiprech-
liche Wefen pafle. Es iſt eine Mothwendigkeit fuͤr
die Gelehrten ſowohl als die Laien, daß fie nicht von
Gott reden koͤnnen, ohne Wörter an die Stelle der
Ideen zu feßen, die ihnen fehlen; und es fcheint, ein
mit dieſer Subſtitution wefentlich verbundener Machs
theil zu feyn, daß man Beine andere Idee von Gott
bat, als diejenigen, welche die Wörter darbieten.
Eine vierte Duelle desfelben Irrthums ift die
Lehre von ewigen und allgemeinen Ideen der Wahrs
‚Denken, von dem Gegenftande des Denfens, und von -
ber denfenden Gubftanz, zu betrachten, und erfläs
heit, der Tugend, der Gerechtigkeit, der Ordnung,
n: w. Befonders ſpricht man in diefem Berrachte vol
der Wahrheit, und was man davon behauptet, wird
denn auf Tugend, Gerechtigkeit, Ordnung u. w. an?
ewardt. Die Metaphyſtker bilden fich ‘ein, Die
ahrheit an und für fi, abſtrahirt vom
ren fie für die Uebereinftimmung irgend eines Gedans
kens mit irgend einem Gegenftande in irgend einer Js
telligenz. Diefe Betrachtung, oder den Begriff, weh
chen fie dadurch zu erhalten wähnen, nennen fie denn
—
| nu Bemerkungen uͤber den REN der Zope
eine ervige Idee der Wahrheit, Die nothwendig, uns
veränderlich, unabhängig von allem Erfchaffenen und
Unerfchaffenen, von aller Eriftenz jeder Art fey. Aber
dieſe abftracte Wahrheit iſt keine allgemeine Idee des
Wabren überhaupt.
— Robinet macht bey dieſer Gelegenheit ſeht lebe—
tio⸗
FR 4
⸗
⸗
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 227
tionen. Die Syſteme Plato's, MWollafton’s,
Clarke's, und andrer Ppitofophen, in denen freys
lich viel Erhabnes über die Natur der Wahrheit und
Gerechtigfeit vorfomt, die auch, befonders was das
Einzelne berriffe, nicht alle in gleichem Grade falich
find, berußen auf Taͤuſchungen, durch welche Die Abs
ſtracta in einem Sinne genommen. werden, welchen
ſie nicht haben, und ihrer Marur nach nicht. haben
koͤnnen. - Es liege bey ihnen allen ein gemeinfchaftlis
ches falfches Princip zum Grunde, das fich nach Ro⸗
binet folgendermaßen ausdrücken läßt: Wenn Yes
mand in Gedanken alle Intelligenzen in dee Welt vers
tifgte, fo koͤnte er fich dennoch die Wahrheit vors
ftellen. Wenn er fogar in Gedanfen alle Weſen vers
tilgte, fo Fönte er dennoch Beziehungen und Verhaͤlt⸗
niffe derſelben denken. Wenn alle Gedanken und alle
Gegenftände derfelben vertifge wären; fo Pöute er ſich
dennoch die Webereinftimmung der Gedänfen mit ihe⸗
ren Objecten eindilden; wenn es endlich auch feinen
Schöpfer und kein Gefchöpf gäbe; fo wüsde es darum
nicht minder gerecht feyn, daß das Gefchöpf von feis
nem Schöpfer abhängig wäre. Hier offenbart fich.
alſo ein beftändiger Widerfpruch. Die Ideen fi nd
nur Vorftellungen der Dinge, Wo feine Dinge fi nd,
find auch Peine. Ideen. Die Ideen eriftiven nue und
koͤnnen nur eriftiren in einem WVerftande. Wo alſo
kein Verſtand iſt, da find auch Peine Ideen. Giebt
es keine Objerte, Peine Intelligenzen, fo Bann übers
haupt niches vorgeftelle werden. Giebt es Leinen
Schöpfer und Fein Gefchöpf, mie koͤnte es folglich
- auch gerecht feyn, daß die Gefchöpfe, deren Eriftenz doch
hier, wie die des Schöpfers fupponirt wird, von dem
» Schöpfer abhängig "”. Eriftiren weder ya
“te | Ä 2 - ih ſer,
*
moͤglich.
a228 Geſchichte der neuern Philoſophie
fer, noch Geſchoͤpf ſo iſt überall nicht einmal etwas
Der Erklaͤrung, welche Locke vom Urſprunge
der allgemeinen Begriffe gegeben hat, ſtimt Robi⸗
net bey. Nimt man an, wie Malebrande, daß
wir Alles, was wir fehen, in Gore fehen, fo würs
den wir doch nichts mehr darin fehen, als was mir
- ach den Schranfen unfers Gefichts darin fehen Füns
‘ten. Da aber unfer Geficht in der That befchränft
iſt, wird es jemals die Unermeßlichkeit möglicher Dins
ge darin fehen koͤnnen? Die Ewigkeit, Norhwens
digkeit, Univerfalität, wohnen nur in Gott; aber
ünfere Ideen find in uns, und nicht in Gott, außer
ins. Die Ewigkeit, Nothwendigkeit, Univerfalis
0 gär find alfo Feine Qualitäten, denen unfere Ideen
enefprechen koͤnten. Es ift nicht unfere dee, die eis
nen allgemeinen Typus ausmacht. Es ift das Wer
fen der Dinge, welches eine unerfhöpflihe Macht -
unendlich wiederholen fann, und welches dadurch in
fich ‚felbft das Mufter aller möglichen Individuen der⸗
feiben Are iſt. Unfere Idee ift für uns nur das Bild
ner beftimten Zahl aͤhnlicher Weſen, welche fie ums
fat. | ea. |
Noch andere Gründe für die Objeetlvitaͤt der alls
gemeinen Begriffe, und der möglichen Erkentniß jes
ner. Objeetiviräe werben von Robinet geprüft, bie -
ich hier übergehen Fann. Wichtiger aber ift ein Eins
wurf, welchen er felbft ‚gegen feine Vorftellungsare
beybringt, und zugleich beantwortet. Angenommen,
daß die Guͤte, Gerechtigkeit, < Weisheit, in Gore
nicht von derfelben Befchaffenheit find, wie im Mens
ſchen; fo vernichter man die ewigen been der Tu⸗
gend, die unabhängig von der Drdnung und "Z.
; Its
‚4
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant, 229
bäftniffen dee Dinge beſtehen muͤſſen. Robinet
leugnet die Nothwendigkeit der Folge. Es giebt Peis
ne wirklich eriftirende dee ohne eine Intelligenze, in
‚ welcher fie fich befinde... Es kann alfo auch nur ewir
ge Ideen in dem eivigen Geifte geben, und- diefer ewis
ge Geift ift Gott. Da der Gottheit nie erwas vers
borgen war, iſt, ‚oder feyn wird, fo fann man nach.
menfchlicher Art zu reden fagen, daß alle ihre Ges
danken ewig find, und. daß fie. die Dinge nach diefen
ewigen Ideen gefchaffen habe. Wie fönnen diejenigen,
welche die Ideen in der görtlichen Subftanz als repräs -
fentative Bilder der Gegenftände annehmen, enrfcheis
den, daß fie von der Drduung und den Berbäteniffen
der Dinge fchlechtkin unabhängig find? Die Bors
ſtellung eines Objeces feßt. voraus, daß dieſes wir
lich eriftire, oder war, oder wenigftens möglich iſt;
und dag, wenn man eine nothwendige Relation zwi⸗
ſchen zwey Dingen annimt, weder das eine, noch das
andre, von dem correlativen Dinge wirklich unabs
haͤngig if. Auch ift von dieſer Are der Unabhängige .
Peit bier nicht die Rede. Man will vielmehr, daß
die Ideen in Gort ewig eriftire Haben vor der Ordnung
und den Relationen der Dinge felbft, ‚welche er ges
fchaffen har; erſt nach feinen ewigen Ideen habe Gott
diefe Ordnung und Melarionen beftimt; die legtern
Fönten aufhören durch die Vernichtung der Matur,
ohne daß Gott die Ideen verlöre, welche er von Emigs
keit gebabe hat. Er würde fie zwar nicht mehr als
Ideen von wirklich eriftirenden gegenwärtigen Dine
gen haben, aber doch als Ideen: von Dingen, die
einmal wirklich waren, und wiederum wirklich feyn
fönten. Denn nach diefer Vorſtellungsart giebt die
bloße Idee Gottes den Dingen die Eriftenz nicht; es
bedarf erft eines förmlichen Schöpfungsactes, um die
P3 | Exi⸗
—
230 Geſchichte der neuern Philoſophie
Exiſtenz zu bewirken. Wenn man unter den ewigen
- Speen , die unabhaͤngig von der Ordnung und den Re⸗
- Jationen der Dinge fubfiftiren folen, nichts anders
verftcht; fo iſt nach Robinet nicht einzufehen, wie.
man jene vernichte, indem man behauptet, daß die '
Guoͤte, Gerechtigkeit, Weisheit, im Gote nicht von
derſelben Matur feyen, mie im Menfchen. . Mögen.
Die görtlichen Attribute ihrem Weſen nach noch fo vers
fchieden von den. menfchlichen „Zugenden feyn: warum
ſollte das höchfte Wefen nicht ewige Jdeen haben ſowohl
von feinen eigenen Attributen, als von den Tugenden,
womit es das Gefchöpf begabt hat, und von dem Mas
gerfchiede, der zwifchen beyden obwaltet? Warum
ſollten jene Ideen unabhängig von der Ordnung und
den ‚Relationen der Dinge in Gott exiſtiren, dieſe
möchten. num wirklich vorhanden ſeyn, oder nicht?
- Yebrigens Eigenfchaften, welche man betrachtet ohne
Ruͤckſicht auf Verhaͤltniſſe, welche fie begründen, oder
anf Subjecte, denen fie zufommen, oder auf die Art,
wie fie denfelben zukommen, haben gar Feine Dealis
zät. Dergleichen Eigenfchaften vernichten, beißt nur,
leere Phantome zerfireuen, welche die Spigfindigkeit
dres Geiftes fich felbft auf dem. Wege zur Wahrheit
entgegenftellt, als ob fie nicht ohnehin mit andern Hin⸗
derniſſen genug zu kämpfen hätte. I
Robiner treibt feine Skepſis an der AUngemefs
fenheit und gültigen ‚Unwendbarfeie der gewöhnlichen
göttlichen Attribute ſo weit, daß er das Attribut der
Vollkommenheit ſelbſt für auf die Gottheit uns
paſſend erflärt. Der einzige Sinn, welchen wir Dem
*
Worte Vollkommenheit beylegen koͤnnen, iſt:
daß ein ſogenanntes vollkomnes Ding Alles bar
be und enthalte, was es nach unferer Vorausfeguug
| von/
*
während d. achtz. Jahrhund. 5. auf Kant. 231
von einem Zwecke, zu welchem es da iſt, haben und
enthalten muß. Dieſer Begriff dee Vollkommenheit
kann aber durchaus nicht von einem Weſen gelten/
Das gar nicht erfehaffen ift, und weder Beftimmung, .
noch Zweck hat. Michts von dem, was in der Mar
tue ift, kann gut oder vollfommen genannt werden,
afs nur relativ zu einem Zwecke, wozu ung bie Gas
che geſchickt ſcheint; anſtatt daß Sort eine abfolute
Vollkommenheit haben muß, die das gerade Ges
gentheil deſſen iR, was wir unter Vollkommenheit
Sem:
Die abfolute Vollkommenheit ift aber
nicht, wie man gemeiniglich wähne, der In be—⸗
griff aller relativen. Denn 1) diefer Inbegriff
würde auch die Vollkommenheiten der Gefchöpfe in fich
fchließen, die nichts UWebernarfrliches haben, und
folglich auch der Gottheit gar nicht angehören koͤnnen.
2) In einem Inbegriffe relativer Bollfommenheiten
ift immer noch feine abjolute gegeben; jede Vollkom⸗
menheit der. Gefchöpfe ift nur gut durch ihre Relation
und Uebereinftimmung mie andern. 3) Inbegriff
druͤckt Vielfältigkeit aus. Die abfolute Bolls
kommenheit ift über jede Zahl, wie jede Schranfe ers
—
| — Vollkommenheit Gottes BAUR: zu zerſtuͤk⸗
P4
haben. Es giebt keine unendliche Zahl; die abſolute
Vollkommenheit aber iſt unendlich und einfach. 4) In
einem Inbegriffe relativer Vollkommenheiten koͤnte
man leicht die einzelnen aufzählen, fie von einander
unterfcheiden, die eine oder die anderen denken. " Wels
che Unterfeheidung aber kann ſtatt finden in der abſo⸗
Iuten Vollkommenheit, die nur wefentlih Eine iſt,
die fich niche theilweiſe, fondern bloß ganz, oder gar
nicht denken laͤßt? Es ift demnach anmaßend, Die
fein,
/
n
232 Geſchichte der neuern Philoſophie
keln, indem man ihm verſchiedene einzelne Attribute
beymißt. Wir machen dieſe Unterſcheidung der goͤtt⸗
lichen Eigenſchaften nach dem, was wir bey dem Men—⸗
-fhen wahrnehmen, und das ift Anthropomorphis—⸗
mus. Um ſich aber zu überzeugen, daß die Vollkom—
menheit Gottes wirklich abfolue ift, darf man nur
erwägen, daß der Begriff des Relativen nothwendig
ein Merkmal der Scyranfe und Unvollkommenheit mit
fih führe, welche doch mit der Unendlichkeit Gottes.
ſchlechthin unvereinbar find. Wenn wir alfo von der
göttlichen Vollkommenheit reden wollen, fo bleibe ung
nichts übrig, als diefe Eigenfchaft lediglich in einem.
negativen Sinne zu nehmen, fo daß fie bloß- eine reis
ne Megation der Endlichkeit und der relativen Vol
kommenheiten der erfchaffenen Weſen ausdruͤckt.
Es ließe ſich gegen das obige Raiſonnement der
Einwurf vorbringen: daß die Behauptung, wir haͤt—
ten feine dee von der Vollkommenheit fchlechthin,
auch entweder die Vollkommenheit fchlechthin von der
Gortheit verneine, oder die Natur der göttlichen Ges
fchöpfe für durchaus von der Matur Gottes verfchies
den erfläre. . Hat uns Sort in Beziehung auf Volls
kommenheit Ideen gegeben, welche er felbit nicht hat, .
fo täufcht er uns, und er verleitet uns fogar zum Boͤ⸗
fen, wenn wir den Ideen der Vollkommenheit folgen,
die er uns beygebracht hat, und die von der wahren
Vollkommeuheit entfernt find,
Robinet antworte: Wenn behaupter wird,
daß wir feine dee von der (abfoluten) Vollkommen⸗
heit haben, fo wird diefe damit der Gottheit nicht abs
geſprochen; fondern es wird nur gefagt, daß die. Ge
fhöpfe, deren (relative) Volllommenheit wir erkens
nen ‚eine: von der göttlichen ganz verfchiedene: Par
— aben.
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 233 e
Haben. Diefe Behauptung ift auf der unendlichen
Diftanz gegründer, die zwifchem dem Gejchöpfe und
Dem Unerfchaffnen iſt. . Es finder fchlechterdings Leis
ne Art von Analogie zwifchen den Attributen Gottes
und den Vermögen und Fähigkeiten der Gefchöpfe
ſtatt. Ferner: Wenu nun auch Gore Ideen von der
Vollkommenheit gab, die er felbft nicht hat; fo hat
er uns darum noch wicht getaͤuſcht. Er gab ung been
von der relativen Vollkommenheit der Gefchöpfe, die
wie nach unferer befchränften Natur zu faſſen vermörs
gen; Ideen von der abfoluten Vollkommenheit konte
Er uns nicht mittheilen, weil fie über die Faſſungs—
Fraft eines endlichen Wefens hinausgehen. Wenn wir
nur den Ideen der Bolltommenpeit folgen, fo wie wie
‚ fie von Gott empfangen haben, fo handeln wir unfes
rer Natur gemäß, und erfüllen unfere Beſtimmung;
wir entfernen uns dann fo wenig von der Vollkommen⸗
beit Gottes, als wir uns ihr nähern; wir bleiben
immer. von diefer in einer unendlichen Entfernung;
und das Wefen, das uns fo gefchaffen hat, wie wie
find, kann weder felbft daran Anſtoß nehmen, noch
uns Boſes wollen.
Auch) die Natur eines Geiſtes iſt uns ſchlecht⸗
hin unbefant. Der ganze Spiritualismus richtig ers
wogen reducirt fich auf den bloßen Sag: daß der Geift
eine immaterielle unförperliche Subſtanz fey; er rebus
eirt fich alfo genau befehen auch auf eine bloße Megas
tion. Wenn wir’ daher die Gottheit, die Engel, die
menfchlichen Seelen für Geifter erflären; fo will das
niicht mehr fagen, als, daß jene Weſen eine von. der
Materie verfchiedene Datur haben. Wenn aber auch
die, Geiftigkeit der Gottheit, den Engeln, und den
——— Seelen —— ift; fo iſt un
diefe
234 Gefhichte der neuern Philoſophie
dieſe gemeinſame Eigenſchaft fuͤr uns ein Nichts, weil
ſie bloß in der Negation der Materie beſteht. Man
kann daher auch feine Verſchiedenheit der Gradatio—⸗
nen der Geifter in Anfehung der Vollkommenheit 'be
haupten, gleichwie es verfchiedene Grädarionen der
Thiere und andrer Förperlicher Xefen giebt. Denn
Gradationen. der Geifter wären nicht mehr und nicht
weniger als Gradationen des Nichts. Hieraus fließe
Die Lingereimeheit der Behauptung derer, welche eine
generifche Verſchiedenheit der Thierſeelen, und wies
berum der menfchlichen im Verpäleniffe zu den hoͤhern
Geiſtern annehmen, und dadurch den Thierfeelen Eis
genfchaften beylegen, welche fie mit der ‚Gottheit und
den Engeln gemein hätten, |
Daß wir gleihwohl allen immateriellen Xefen ,
biefelbe Natur zufchreiben, die wir ben unferer Seele
wahrnehmen, hat feinen Grund in einer Uebereilung
Des Urtheils. Man fchließt aus einer Reihe willkuͤhr⸗
licher Prämiffen, ohne die Gültigkeit derfelben vors
ber tiberdache zu haben. Da wir bemerken, daß die
ganze Materie von homogener Beſchaffenheit it, daß
alle Körper ausgedehnte, folide, theilbar, beweglich
find; fo ſchließen wir daraus auf diefelbe Homogeneis
sär der Natur in Allem, was nicht materiell ift, mefr
fen alfo allen geiftigen Wefen die Eigenfchaften und
Faͤhigkeiten unſerer Seele bey, ohne einmal zu übers
legen, ob diefes möglich fey, oder nicht.
Roſbinet mirfe-die Frage auf: Ob das Dem
Pen dem Geifte überhaupt eben. fo notwendig zufoms
me, wie die Ausdehnung dem. Körper?: Das Letzte⸗
re erfennen wir als nothwendig; aber daß alles Uns
koͤrperliche nothwendig ein denfendes Weſen fern müffe,
wie Des Cartes bepauptere, erkennen wir fo we⸗
4 | nig
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 235
nig als nothwendig, daß vielmehr das Gegentheil ges
wiß zu ſeyn ſcheint: das Denken fen kein nothwendi⸗
ges Merkmal des Immateriellen. Zu behaupten, daß
Alles Unkörperliche denke, beißt bebatıpren, daß das
Michts denke. Daraus, daß ein individuelles uns
koͤrperliches Weſen, oder eine einzelne Gattung ders
felben denke, folge gar nicht, : daß alle andre unförs
perliche Wefen auch denken. Denn die Unförperlichs
keit an fih ift nichts, und kann das Denken nicht
begründen. Wir kennen nur zwey Gattungen der
Weſen, ausgedehnte und denfende, Alſo jedes nicht
ansgedehnte Weſen denkt. Der Fehler diefes Schluf:
fes fälle in die Augen. Es Bann eine Menge Werfen
geben, deren Natur von den ausgedehnten und dens
enden Wefen fehr verfchieden if. Als Benfpiel ims
materieller Wefen, die nicht denken, führt Robinet -
die fogenannten plaftifhen Maturen an. Wenn
gleich_diefe, mas ihre Wirklichkeit betrifft, nur auf-
einer Hypotheſe beruhen, fo find fie doch wenigfieng
möglih, nnd mehr bedarf es hier nicht. Die vers
fehiedenen Grade des Denfens aber find ebenfalls uns
"zureichend, um fpeeifijch verfchiedene Gattungen der
Geifter zu behaupten. Robinet meyne, daß das
Denfen ein fpecififches eigenehümliches. Merfmal bioß
unſrer Seele ſey. Denn der Begriff des. Denkens,
welchen wir ‚haben, ift für uns das Product eities
‚ Öeiftes, der mit einem Körper verbunden
iſt, oder mie andern Worten, das Denken erfennen
» wie. als eine Modification unfers Geiftes bewirkt durch‘
Vermittelung einer materiellen Maffe, welche diefer
Geift beſeelt. Diefer Begriff des Denkens aber, wie
er doch allein nur für uns möglich iſt, paßt lediglich
auf die menfchliche Seele, und ift auf: feine Weiſe
geiflige RER ——— die nicht ſolche er
terielle
. 236 Gefchichte der neuern Philoſophie
terielle Koͤrper haben, wie wir. Wir wuͤrden uͤber⸗
haupt gar keine Idee von Intelligenz haben, wenn
wir nicht daͤchten. ber wir denken nicht ohne Or⸗
gane. Man trenne die Seele von ihrem. organifchen
Apparate, fo wird fie feine Eindrüde mehr von den
- Dbjeeten empfangen; fie wird alfo auch nicht miehe
auf die Objecte zuruͤckwirken, und überhaupt. gar
nicht denfen. | *
Die Elemente demnach, welche unfre Idee von
ber. Intelligenz conftituiren, find: a) die Actfon der
Dbjecte auf die Sinne; b) die Action der Organe auf
die Seele; c) bie Reaction der Seele auf jene Eins
drücke, . Oder: die Thärigkeit des Denkvermögens
ift durchaus und nothwendig abhängig von der orgas
nifchen Thätigkeit des Körpers. Das Denken ift ung
befanter, fofern dee Körper dabey mitwirfe, wie als
Eigenfchaft des Geiſtes. Wir haben auch nur von
dem Denfen felbft eine innere Wahrnehmung; ‚aber
nicht von den Vermögen zu denfen.- R. folgerte
hieraus, daß es überhaupt weder einen ſchlechthin reis
nen Gedanken, . noch eine fehlechthin geiftige Intelli-
genz gebe, die ih unabhängig von einem Körper ent⸗
wicfele. Die Gottheit Bann daher ebenfalls Fein bloß
geiftiges Weſen feyn, nach den Begriffen, ‘welche wir
Menfchen von einem Geifte haben und haben können,
Auch die Moralitat gründen fih auf Verhaͤltniſſe,
‚welche nur unter Gefchöpfen ftatt. finden moͤgen. In
Beziehung auf die Gottheit ift zwifchen den metaphy⸗
fifchen und moralifchen Attributen nur der Unterfchied,
daß jene negativ find, und eben dadurch die Gottheit
von allem Endlichen abſondern, . oder. vielmehr über
dasfelbe erheben; da diefe hingegen pofitive Qualitäs
ten. ausdrücken. Jene laſſen fich folglich auf die y
eit
h
ı während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 237
heit anwenden, wenn ſie gleich nichts Reelles von der⸗
ſelben ausſagen; dieſe aber nicht.
Ohne mich nun weiter auf die Analyſe und Kris
tie Robiner’s auch von den uͤbrigen göttlichen Eis
genſchaften und Relationen zur Welt, die gewöhnlich
in der rationalen Theologie angenommen zu werben
pflegen, einzulaffen, will ich nur noch das allgemeis
ne Refultat, das er aus feiner ganzen Unterfuchung
‘zieht, kurz angeben. |
Die neuere rationale Theologie ift überhaupt
hichts weitet, als ein ſpiritualiſtiſcher Anthropomor⸗
phismus, der mit dem gröbften materiellen einerley -
"phitofophifchen Unwerth bat. Die metaphyfiſchen Ara
tribute fchließen von der Gottheit alles Endliche aus,
und erflären fie eben hierdurch für gänzlich unerkenn⸗
"bat und uirbegreiflich. Durch die moralifchen. Attri⸗
bute aber wird Gore mit der Meunſchheit analogiſirt;
man giebt ihm diefelbe Natur, welche erfchaffene ends
liche Weſen haben; und weh man jene Natur auch
zu einer relativ unbeſtimbar größeren Vollkommenheit
erhebt; fo bleibt fie Doch immer Hinter dem Unendlis
dien zuruͤck, und kann Diefem nie angemefjen fegn.
Gott kann alſo weder ein intelligentes, gutes, weiſes,
gerechtes Wefen genannt werden; noch auch das Gegens
theil. Die Ppitofoppen haben fich zu ſehr uͤbereilt,
Diefe Eigenfchaften von Gore zu bemeifen, und. mie
der endlichen unvollfomnen Welt in Harmonie zu brin⸗
gen; daher fie in unaufloͤsliche Schwierigkeiten -vers
wickelt wurden. Sie hätten vorher ruhig und: unbe⸗
fangen unterfuchen follen, ob jene Eigenfchaften in.
der That der Gottheit zukommen mögen. Robinet
ſucht zuleßt auch feine theologiſche VBorftellungsars
mit den Ausſoruͤchen der heiligen Schrift zu vereinba⸗
con,
⸗
4 |
En e:
238 Gefchichte, der neuern Philofophie
ren, fo gut es gehen will. Die pofitiven Theologen
> möchten gleichwohl Urfache haben, ſehr unzufrieden
mis ihm. zu ſeyn.
+ Dies Raifonnement. Robinet's über die vas
tionale Theologie ift zwar ſehr Iehrreich; aber es
kann auf der anderen Seite, weil es von ihm zu weit
getrieben ift, ſehr feiche gemisbraucht, und für den
Atheismus benußt werden. Keiner der Altern Metas
phnfiker hat fo ausführlich und fo ſcharfſinnig die Uns
moͤglichkeit einer. theorerifchen Erkentniß Gottes und
der göttlichen Eigenfchaften bewiefen, als von R. ‚ges
ſcheben ift. Mur darin geht er zu weiß, daß er als
fen Anthropomörppismus ſchlechthin, uud auch die
ee. h
Exiſtenz gültiger Begriffe von den motalifchen Eioenl
die
pin Gottes leugnet. Auch ein’ Glauben an %
WBeſchaffenheit der göttlichen Natur, mie ihn das Bei
duͤrfniß der menfchlichen. Vernunft fodert , wird ‚ganz
fich von ihm abgeſchnitten. Cine, ſolche Kritik der tgs
tionalen Theologie, kahn zu nichts Anderem, als jung
Heheismus, oder zw einem Jndiffereneismus führen, .
der nicht viel beſſer, als Atheismus, iſt. 3
Wenn. wie. einmal: das Daſehn Gottes, als letz⸗
ten Urgenndes des Vorhandnen, annehmen muͤſſen;
fo darf die dee von Gott auch nicht leer bleiben, ins
dem fie fonft eine wichtige dee wird; fondern wir muͤf⸗
ſen die Gortheit mit gewiſſen Merkmalen beſtimt den?
ken. Dieſe Merkmnale koͤnnen wir nicht anders ges
winnen, als daß wie fie von der menſchlichen Ver⸗
nunft entlehnen, die wir als das Edelſte in der Das
sur kennen, “und jene nur zum Unendlichen und Uns
bedingten erhöhen. Freylich fann das Endliche nie
auch nur ein Analogon abgeben, um die Eigenfchafs
ten des Unendlichen. danach zu beftinimen, Inſofern
| 2 ent⸗
N
*
— waͤhrend d. act, Jahrhund. b. auf Kant. 230
entzieht ſich die Gottheit ſchlechthin aller unſerer Er⸗
kentniß, und wird für uns das unendliche Unbefante;
* Aber theorerifch follen die Eigenfchaften Gottes auch
nicht dadurch beftimt oder’ erfane werden. Jene Mer
male find bloße Symbole, ‚von ber Natur der endlis.
shen vernünftigen Weſen hergenommen, init denen wig
uns die Gottheit denfen, und wodurch wir uns he
ehrfurchtsvoll in unendlicher Entfernung nähern. In
dieſem Sinne legen wir der Gottheit intellestuelle und
moraliſche Eigenfchaften bey, und betrachten fie zus
gleich als den Lirheber der- finnlichen, wie der vernuͤnf⸗
tigen Natur, als moraliichen Gefeßgeber und Richter:
Eben diefe Eigenfchaften find auch bloß Gegenfiände
eines VBernunftglaubens „ dee ans. den Bedürfniffe dee
Vernunft hervorgeht. Die Urtheile, daß Gott mes
> der ein denkendes, noch ein nicht denkendes Weſen, mes
der gut, noch böfe ſey, vernichten eigentlich den Be⸗
griff der. Gottheit ſchlechthin; es bleibe alfo nichts weis
ter, als das Dilemma übrig , entweder fich dem trofts
fofeften Atheismus Preis zu. geben, oder ſich an eis
nem beſcheidnen und vernünftigen Anthro—
pomorphismus zu halten. Der Gott, deſſen Exi⸗
ſtenz wir glauben, und auf dieſe Weiſe uns der Na⸗
tur unſerer Erkentnißart gemaͤß vorbilden, wird zwar
dadurch „ber menſchlichen Matur gewiſſermaßen aſſi⸗
milirt. Aber man muß nur dabey nicht vergeſſen,
daß dieſe Aſſimilation bloß zum Behufe eines prak⸗
tiſchen Gebrauchs der Idee von Gott ſtatt finder, und
. daß die Vernunft. nichts defto weniger auf eine Kon
anne Srestniß Gottes Verzicht -thur. |
Schr viel ntereffantes und- — — ode
auch fehr viel Paradores, enthalten noch die beyden
en. Theile des Kabinen ſchen Werts de la nature
ber
—
240 Geſchichte der neuern Philoſophie
Über die Stufenfolge (gradation) der Naturwe—⸗
fen... Ex entwicelt hier zunörderft das Gefeß der Ster
; tigkeit (lex continui) in feiner Anwendung auf die
Matur, umd zeigt, ‚wie diefes von den Naturphiloſo⸗
: phen zwar im Allgemeinen immer anerkannt; aber bey
der foftematifchen Anordnung und Beurteilung des
Details der Maturwefen häufig vernachläffige worden
19
wi Eg giehe nach R. nur einen einzigen Act in der
Matur, auf welchen fih alle Naturereigniſſe zuletzt
zuruͤckfuͤhren laſſen; Ein einziges Phaͤnomen, mit
dem alle Phaͤnomene als Theile verbunden ſind; Ein
einziges Urbild (Prototypon) aller Weſen. Es gab
alſo auch nur Ein moͤgliches Naturſyſtem, ſo wie die
Wirkung ſeyn mußte, die von ber. Urſache ausgieng;,
welche alle mögliche Werfen in fih fchloß, Dem Ge
feße der Stetigkeit zufolge machen die Maturdinge Ei⸗
ne einzige Claſſe aus, one Unterfchied der beſondern
Maturreiche. Es führt uns nehmlich darauf, daß
alle Thiere, Pflanzen, Mineralien: Modificationen
der organifirten Materie find, die alle’ an demfelben
Weſen und feinen Eigenfchaften Theil nehmen, ohne
Durch etwas Anderes, als durch das Maaß dieſes
Antheils gefchieden zu werden. Die Verbindung dee
thierifchen Natur (Animalitaͤt) mit der vegetalen ers
fodert, daß die leßtere infofern an jener Theil Habe;
als die Stufe nöchig macht, welche fie im Reiche der
Maturweſen einnimt. ‚Eben fo erfodert die Verbindung
des Vegetalen mit dem Mineralen, daß der verhäles.
nigmäßige Grad der Animalitaͤt, der. fih in jenem
findet, wiederum nach einem relativen Maaße fich dem
Mineralreiche mittheile; meil in einer uuunterbroche
nen Stetigfeit. der. Maturwefen, die ſich fo diche an
oe i . ein: -
während. d. acht}. Kaprhund..b. auf Kant. 241
einänder fehließen ‚ wie möglich, alle wefentliche Quas
litäten des erſten fi gradmeife bis auf das legte nuͤaan⸗
giren müffen, ohne daß die Reihe durch eine unaus⸗
— Luͤcke unterbtochen wuͤrde.
Robinet geht hierauf zur genaueren Beſtim⸗
* des allgemeinen ſowohl als des diſtinetiven Cha⸗
racters der Thierheit über. Gemeiniglich nimt man
etwas fuͤr das Weſen der Thierheit, was nur eine
Variation desſelben iſt. Man bilder einen allges
meinen Begriff des Thiers uͤberhaupt, nach beſon⸗
bern Begriffen. ber Individuen. Die Auſſuchung des
wefentlichen Charakters der Thierheit leiter auf die
offendare Unmöglichkeit, irgend ein Maturmefen aus
der Claſſe der Thiere auszufchließen. Robinet fiel
te. aljo hier folgende Grundfäge auf: Es eriftire
Peine befondre äußere oder innere Form,
bie dem Thiere als folhem nothwendig wär _
te. — Es exiſtirt aber auch feine befondre
äußere oder innere Form, die nothwendig
von der Thierheit ausgefchloffen wäre
Den Beweis diefer Säge entlehnte er aus ‚der ends
loſen Mannichfaltigkeit der thieriſchen Formen, und
. ihrer Verwandlungen. Die legteren find oft ſehr
eritferne von einander in Anſehung der Form, und
dennoch läßt. die Natur gemiffe thieriſche Geſchoͤpfe
nach und nach durch fie alle hindurch gehen. Robis
net erläutert Dies durch mehrere interefjante Beyſpie⸗
le aus der Naturgeſchichte.
Dann unterfucht er die Matur der Organifas
tion überhaupt. Ein Organ ift ein bopler natuͤr⸗
lich ehätiger Enlinder (un trou allonge). "Auf dies
fen einfachen Begriff laͤßt ſich auch die verwickeltefte
Drganifarion zurückführen. Der menfchliche Körper,
‚Bühle's Geſch. d. Philoſ. Vl. B. Q das
. 242 Geſchichte der neitern Psitofopfie
ee Meifterftück der Organiſation, iſt nur ein Ss
ſtem von biegfamen, geordneten, _ in einander verflochs
genen Röhren, mit einer inneren Kraft begabte, wels
che aus ihrer Structur entſpringt. Jedes Organ iſt
aus andern Pleinern Organen zuſammengeſetzt; dieſe
wieder aus andern noch Fleinern Organen, und dies
gebt fo in einer dem Reichthume der Natur ——
nen Progreſſion weiter fort.
Hier erhebt fich die Frage: Ob es eine rohe Mar
terie giebt, oder geben koͤnne? — Mobiner bes
hauptet: Es eriftive bloß organifche Materie, und
feine rohe. Denn der Plan der Natur ift einfach und
einig. Gaͤbe es organifche und nichtorganifche Mar
terie, fo würden die Einheit und der Zufanmenhang
des Maturplans aufgehoben feyn. R. ſucht die Uns
möglichkeit einer unorganifchen Materie noch aus mehr
andern Gründen zu beweifen. Sie würde ein Widers
ſpruch ſeyn, und die Erfahrung kann auch ſchlechter⸗
dings feine rohe Materie aufzeigen,
Bonner fege in feinem Werke: Contempla«
tion de la nature, die Mineralien als rohe und unorgas
nifche Subſtanzen den Thieren und Wegetabilien,
weiche das Reich der organiſitten Weſen ausmachen,
entgegen. Er betrachtet die einen und die andern aus
allen. Gefihtspuncten, in Hinſicht auf Formation,
Wachsthum, Structure, und findet in den Mineras
lien nichts, was berechtigte, fie in die Elaffe organis
ſcher Wefen aufzunehmen; vielmehr, was er daran
wahrnimt, berechtige, fie davon auszufchließen. Des
‚Hanifation und Michtorganifation find alfo nach: feis
nem Syfteme Modificationen der Materie, und zwar.
nicht bloß mögliche, fondern im Univerfum wirklich
Viſurende a ie =
Zee Ro⸗
‚während d: achtz. Jahrhund. b, auf Kant. 234
Mobiner. erinnert dagegen, daß alle angeſuͤhrte
Gruͤnde zum Beweiſe, daß die Foſſilien aus rohem
‚Stoffe beſtehende unorganifhe Subſtanzen, obne tes
ben und eigenehümliche Thaͤtigkeit ſeyen, entweder
gar nichts, oder das Gegentheil beweifen. Was fich
im Allgemeinen von den Eigenfchaften oraaıfirter Das
turdinge fagen läßt, laͤßt fich auch auf die eine oder
die andere Urt von den Mineralien jagen. Es ift
durchaus unmöglich, zu beflimmen, wo die Organis
fation aufhört, und die Natur organifire immer noch,
auch wo fie es gar nicht mehr zu thun ſcheint. R. bes
ruft fich Hier unter andern auf Bourgust wegen der
Drganifation der Kryſtalle. Man muß aber wohl
unterfcheiden zwifchen den Producten der Natur und ,
den Merken der Kunſt. Die Kunſt fege zufanımenz
fie führe alle ihre Werfe nur Theilweife durch Trent
nung und Verbindung der Materialien aus, Die
Producte der Marur find ganz. in Kleinen, wie im
Großen; es find organifche Ganze, deren Theile fich
nicht einer nach dem andern bilden; fondern die vong
Anfange des Dinges in dem Keime vereinigt find, und
ſich zuſammen durd ihren innern Organismus ents
wickeln. Eine andere Wirkung diefes Organismus if,
daß die natürlichen Diafchinen andere ihnen gleiche herz
vorbringen koͤnnen; die kuͤnſtlichen Mafchinen hinges
gen find fchlechehin unfruchtdar. Die ganze Mares
> sie befieht daher nur aus Samen und Keimen; die
Drganifation tft eine ihre wefentliche Eigenſchaft, die
Grundlage aller, den Subſtanzen gemeinfchaftlichen
Vermögen, fich zu ernäßren, zu wachfen, und ihres
Gleichen zu erzeugen. Robinet folgerte hieraus,
daß auch die Materie weſentlich auimaliſch ſey;
denn Die Vermoͤgen der Ernährung, des Wachsthums
und der Erzeugung, welche der gefanten Materie zus
np Q 2 kom⸗
*
244 Geſchichte der neuern Philoſophie
kommen, machen den unterſcheidenden Charakter der
Animalitaͤt aus.
Die Gruͤnde und Gegengruͤnde, welche R. ums
ſtaͤndlich vorträge, kann ich nicht hier verfolgen. Nur
noch einige allgemeine Bemerkungen desfelben will
ich hinzufegen. Die Pflanzen find an den Boden
gebeftere Thiere (animaux fedentaires), Ihre Ernäps
tung, ihr Wachsthum, und ihre Zeugung gefchehen
völlig eben fo, wie bey den Thieren. R. führe Bey⸗
fpiele an, daß Pflanzen in Thieren feimten; ein Rog⸗
genkorn keimte in dem Magen einer Frau; Schwaͤm⸗
me wuchfen im Körper eines Mannes u.m. - Wenn
auch die Pflanzen Pein äußeres Zeichen der Empfins
"dung und Vorſtellung geben; fo haben wir doc) deßs
halb Fein Recht zu behaupten, daß fie Leine hätten.
Auch von der Empfindlichkeit der Pflanzen führe Ros
binet mehr merkwuͤrdige Fälle an, die ſich aber frey⸗
fich auch anders erklaͤren laſſen. Er frage: ob übers
all eine Eriftenz ohne Empfindung oder Vorſtellung
möglich fen? In Anſehung der Pflanzen, meynt er,
daß ihre Empfindung zwar fehe ſchwach, ihre Wors
ftellungen ſehr verworren und dunkel ſeyen; daß fie
"aber doch überhaupt Empfindungen und Borftelungen
hätten von einer folchen Beſchaffenheit, wie fie ihrer
Natur angemefien wären.
Der unterfcheidende Charakter der Animalitaͤt
iſt von allen Formen unabhängig ; er ift weder mit bes
flimten Organen und Eigenfchaften, noch mit einer
beftimten Defonomie des Raturdinges nothwendig vers
bunden; weil ſich auf altes diefes blog individuelle
Verſchledenheiten gründen. Es giebt auch Grade dei
Animalitaͤt, die für unſre Sinne gar niche wahr
nepmbar find. Die einzigen wefenslichen Merkmale
| ber
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 245
der Animalirät find Nahtung, Wachsıhim und Zeus
gung. Diefe find auch den Steinen, Metallen, und
allen Arten der Foffilien eigen. Auch die Foffilien
baben Animalitaͤt. R. fchildere ihre Lebensalter, ihre
Faͤhigkeiten, und die Ausübung derfelben. Das
Wahsıhum gefchieht auch bey ihnen in allen ihren
foͤrmlichen Thellen zugleich, und das ift nur in einem
lebendigen organifirten Körper moͤglich. MR. verfällt
bierbey indefjen duch feine Hypotheſen verleitet in's
Spielende und Abentheuerliche. Er nimt fogar unter
den Mineralien eine gefellige Verbindung an, -
Sie theilen einander ihre Fähigkeiten mie, wirken
auf einander, fuchen fich, ftoßen fih ab, behaupten
fih duch Verbindung. Sm hohen Alter verlieren
. fie nad) und nach ipre Vermögen und ſterben. R.
wendet auch Die Seh der — auf die REN |
per an,
Dicht bloß als Zeitgenoffen, fondern auch we
gen der Verwandtſchaft der Studien und der philofos
phifchen Denkart kann dem Robinet an die Geite
geftelle werden Earl Bonner, obgleich Beyde in
- vielen Stücken verfchiedener Mieynung waren, und
auch einander befiritten. Er wurde gebobren zu Genf
im J. 1720, lebte gewöhnlich auf feinem Landgute
Genthod in der Naͤhe diefer Stadt, und flarb im
J. 1793. Er war niche nur ein ſehr gelehrrer und
denkender Naturforſcher, fondern auch einer der ges
ſchmackvollſten Schriftfteller; nur dag man ihm viel
leicht eine zu Angftliche Sorge für Correetheit der Spra⸗
che und Ründung der Perioden, eine gewiſſe rhetori⸗
ſche überladene Eleganz, die zur einförmigen Manier
wird und am Ende. ermüder, vormwerfen koͤnte. Mebs
rere berũhmte Hypotheſen zur aeg, der organ
| N 3 *
*
Be 246 Geſchichte der neuern Philofophie
ſchen Matur find theils von ihm erfunden, theils auss
‚gebildet und zur Kentniß des größern Publicum’s ges -—
bracht: worden. eine Philofophie hat das Eigens
thuͤmliche, daß fie vom Empirismus ausgeht, und
Dennoch durch Schlüffe fi einen Weg in die über:
finntiche Welt zu bahnen fucht. Hier will ich nur fein
Verdienſt um . die empirifche Pinchologie, und: bie
Principien und allgemeinen Refultate feines Marurs
ſyſtems kurz charakterifiren, da das Detail feiner meis
fen Unterſuchungen eigentlich naturpiftorifch ift, und.
nicht weiter hierher gehört. |
Seine empirifbe Pſychologie laͤßt ſich auf fols
gende Hauptſaͤtze zurückführen: I: Alle unfre Vorſtel⸗
lungen eurfpringen aus den Sinnen, und diefe find
Die erfte Duelle derfelben. in Blindgebohrner wird
niemals Ideen von Licht und Farben bekommen. Geis
ie Seele hat gleichwohl diefelben Faͤhigkeiten, welche
die unſrige hat; was fehlt ihr alfo, um auch Geſichts⸗
vorftellungen zu haben? — Das Organ, daß dies
- fen. Vorftellungen entfpricht. - Wäre diefer Blindges
bohrne auch zugleich taub geboßren, hätte er ben feis
nee Geburt weder Gefühl, noch Geſchmack, noch Gy
ruch ‚gehabt, wie hätte möglicherweife feine Seele
Ideen erhalten koͤnnen, und was fir welche? — Man
wird antworten, daß er wenigftens fein Dafeyn eims
pfinden würde. Uber wie erwerben wir denn die Ems
pfindung unfers Dafeyns? Bloß dadurch, daß wir
über unſere Senfationen reflectiren, die immer we⸗
fenelich mie der Empfindung verbunden find, es fey
unſre Seele, welche fie leider, und dieſe leßtere Ems
pfindung ift es eigentlich, welche wir Bewußtſeyn der
Eriſtenz nennen. «Eine Seele, die niemals überhaupt
Objecte empfunden hätte, koͤnte — nicht Be, |
| daß ſie — |
I,
4
—
wihrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant.
II. Inzwiſchen ſind doch nicht alle unfere Ideen
Empfindungsvorſtellungen. Eine andere Quelle der⸗
ſelben iſt die Reflexion. Wenn auch alle unſre
Ideen den Sinnen ihren Urſprung verdanken, ſo ſind
fie doch darum nicht alle bloß finnlich. Die Res
flerion durch Verbindung und Trennung der Vorſtel⸗
Jungen und ihrer Merkmale gelange mie KHülfe ber
Zeichen, 3.8. der Wörter, Seceauie zu den abs
firactefien Begriffen.
UI, Die Gegenftände ſelbſt, oder die aor⸗
perchen (corpuscules), welche von ihnen ausſtroͤmen,
wirfen nue durch einen Eindruck Cimpulfi on) auf uns -
fre Sinne Sie tpeifen diefen eine gewiffe Erſchuͤt⸗
terung mit, die fich in’s Gehirn fortpflanzt, und wo⸗
durch die Seele Senfationen bekomt. Der Philos
foph frage hier gar nicht weiter, mie die Bewegung
eines Merven in der Seele eine Idee erzeugen koͤnne.
Er nimt dies ſchlechthin für ein Factum an, und ents
ſagt der Neugierde, die Urfache desfelben zu: wiffen.
Er fieht ein, daß dies von dem Geheimniffe der Wers-
einigung der beyden Subſtanzen, Körper und Seele,
abhängt, und daß ihm diefes Geheimniß unerforfchs
lich if. Für ihn ift die Erkentniß hinreichend, daß
einee Erſchuͤtterung diefes oder jenes Nerven allemal
in der Seele diefe oder jene Senfation correfpondirt.
Er betrachtet alfo die Senfation nicht wie eine phyſi⸗
ſche und unmittelbare Wirkung der Mervenbewegung,
fondern wie eine von diefee Bewegung unzertrennliche |
Folge. Gewiſſermaßen ſieht er. fie an, wie ein nas
türliches Zeichen der Genfation, das der Schöpfer
unmittelbar angeordnet hat.
IV. Bonner hält es nicht für eine Unmöglichs
kit, daß die Seele ohne Sürper denke; es Lönte reis
4 ve
s
*
248 Geſchichte der neuern Philoſophie
ne Geiſter geben, die Ideen haben; aber er geſteht,
daß er Durchaus nicht begreife, mie fie diefelben haben
koͤnten. Das Gefühl, welches der Menfch von feis
nem Jh har, dit imimer einig, einfach, untheilbar;
und Daraus fließt, daß er nicht ganz Materie if. Das
Dafeyn der Seele ift alfo das, Dafeyn einer immas
teriellen Subſtanz, welche es dem Schöpfer gefallen
bat mie einem organifirten Körper zu verbinden. - In
dieſem Verhaͤltniſſe feheine es,‘ daß der Menjch nur
duch Bermittelung feines Körpers Ideen haben koͤn⸗
ne, und je mehr er ſich ſelbſt beoachtet und ſtudirt,
deſto mehr fuͤhlt er ſich gedrungen, den großen Ein⸗
fluß der koͤrperlichen Maſchine auf alle ſeine Seelen⸗
thaͤtigkeiten anzuerkennen. Ueberdem lehrt nun noch
Die Offenbatung, daß die Seele ewig mit einer Por⸗
tion Materie verbunden, der Menjch alfo ewig ein
gemifchtes und zufammengefeßtes Weſen ſeyn merde,
Es Fonte daher auch niche die Abfiche des Schöpfers
ſeyn, daß er ein reiner Geift feyn ſollte; vielmehr fols \
te die menfchliche Seele immer nur ihre Fähigkeiten
duch Vermittelung des Körpers Außen. Hätte e6
der Schöpfer anders gewollt, fo würde der Menfch
auch anders philofophiren, weil er dann eine ganz
andre Urt, wahrzunehmen und. zu urtheilen haben
. würde. Die Uuterfuchung des menfchlichen Wefens
muß alfo der Natur desfelben angemeffen ſeyn; bie
Seele kann ſich nicht felbft fehen und beruͤhren; aber
fie fieht und berüßee Körper vermittelſt deffen , mit
welchem fie zunächft vereinige if. Die Sinne feßen
fie in Verbindung mir Allem, was fie umgiebt; durch
jene hänge fie mit allen Tpeilen des Univerfum’s zufams
men, eignet fie fich gemwiffermaßen die geſamte Natur
an, und erhebt ſich — dieſelbe zu — odttlichen
— ee
v.
wahrend d. act Jahrhund. b. auf Sant. 249
. Kür die Unterfuchung des Erkentnißvermoͤ⸗
gens ſeiner Beſchaffenheit iſt wenig daran gelegen,
ob wir uns in Anſehung des wirklichen Daſeyns der
Koͤrperwelt außer uns taͤuſchen, oder nicht. Waͤre
auch das ganze materielle Syſtem nur ein Phaͤnomen,
ein bloßer Schein relativ zu unſerer Art wahrzuneh⸗
men und zu urtheilen; ſo wuͤrden wir doch nichts de⸗
ſto weniger unſere Senſationen von einander unter⸗
ſcheiden; wir wuͤrden nichts deſto weniger uͤberzeugt
ſeyn, daß einige derſelben in unſerer Gewalt ſind,
und andere nicht; daß außerhalb unſerer Seele etwas
ſeyn muͤſſe, was Senſationen unabhaͤngig von ihrer
Willkuͤhr hervorbringt. Dieſes unbekante Etwas aus
Ber uns iſt es, was Materie genannt werden kann.
Nach Bonnet kann man nicht behaupten, daß die
Materie in der That ſey, was ſie uns zu ſeyn ſcheint;
wohl aber kann man behaupten, daß das, was ſie
zu ſeyn ſcheint, ein weſentliches Reſultat ſowohl des⸗
jenigen iſt, was ſie an ſich iſt, als desjenigen, was
der Menſch iſt im Verhaͤltniſſe zu ihr. Die Geſchoͤp⸗
fe, welche die Materie unter anderen Beziehungen
wahrnehmen, haben auch eine andre Ratur, als er;
und der Menfch. felbft würde die Außere Körpermwele
unter anderen Beziehungen erfennen, fobald feine Nas
tur fich ‚änderte. Es ift deswegen auch völlig übers
flüffig, die mannichfaltigen Hppothefen zu prüfen,
die man zur Erklärung der Verbindung zwifchen Leib
‚und Seele. äufgeftellt hat, ‚weil alle jene Hypotheſen
auf gleiche Weife eine beftändige Relation voraus⸗
fegen zwifchen den Mobdificationen dee Seele und dem -
Bewegungen des Körpers. Bonner hält fih an
dem phyſiſchen Einfluffe, — als Thatſache,
pumbetn als —
Q5 vi.
/
250 Gefihiihte der neuern Philoſophie *
VI. Jeder Sinn des Menſchen hat ſeinen Mes
chanismus, feine Art zu wirken, ſeine Beſtimmung
Jeder überliefert der Seele: eine Mannichfaltigkeit vers
ſchiedener Eindrücke, denen eben fo viel verſchiedene
Senſationen entiprechen. - Es fcheint unmöglich, daß
voͤllig gleiche Fibren hinreichend feyn koͤnten, um ſo
viel verſchiedene Eindrüche ohne Verwirrung aufjuneßs
men, und in die Seele fortzupflanzen. - Jede empfin⸗
dende Fiber befinder ſich, wie Bonnet meynt, als
denn in dem Zuſtande eines Körpers, der auf einmal
durch mehrere verfchiedenartig wirkende Kräfte geftos
en wird; diefee-Körper würde eine zufammengefeßte
Bewegung empfangen, Die das Product jener Kräfte
wäre, und feine derfelben insbefondre darftellen würs
de. . Betrachter man aber die finnliche Wahrnehmung -.
bes Menfchen aus diefem Gefichtspimere, fo fann man“
von der Verſchiedenheit der Genfationen durchaus
Feine Rechenfchaft geben. Man muß alfo annehmen, _
Daß jeder Ginn Fibren enthalte, die jeder Art der
Senſation angemeffen find. Die Organifation der
‚Sinne felbft: hat auch mande Eigenheiten, welche
dieſe Vorausſetzung rechtfertigen. Beſonders gehören -
dahin die Beobachtungen über. die verfchiedene Refran⸗
gibilität der gefächten Strahlen, und bie verfchieder
nen Schwingungen der Saiten der Toninſtrumente.
VII. Die menfchlicde Seele iſt inzwifchen nicht
Darauf. beſchraͤnkt, bloß miteelft dee Sinne zu ems
pfinden. Gie hat auh Erinnerung deflen, mas
„von ihr empfunden ift: Sie hat die Empfindung der
'»Meubeit einee Senſation. Eine Genfation, bie
ihr mehrmal dargeboten iſt, afficire fie nicht genau
fo, wie das erfiemal. Die DObjecte. gelangen immer
nut durch die Sinne zur Seele. Diem, die er
"X ma
waͤhrend d. acht;. Jahrhund. b. auf Kant. sr
mal erſchuͤttert find, koͤnnen nicht-genau in dem’ Zu⸗
ſtande ſeyn, worin fie waren, bevor fie erſchuͤttert wur⸗
den. Diewiederholte Einwirkung der Objecte muß
hierin einige Veränderungen ‚bervorbringen. Wenn
Die Gattung der GSenfationen mit einer gewiſſen Gat⸗
tung von Fibren verbunden iſt, fo hat die Erinnerung
‘an die Senfationen nur an dem dermafigen Zuftande.
der Fibren haften koͤnnen. Jungfraͤuliche Fibren
(des.fibres vierges), wie fie Bonner netint, affis
eirten alfo die Seele nicht genau fo, - wie nicht jungs
fräuliche, und das Bewußtſeyn der Meupeit eines
Empfindungszuftandes hat in der Sungfrauf Haft
der empfindenden Fibren feinen Grund.
Boermoͤge der Vereinigung der beyden Subftans
zen kann nichts in der Seele ſich ereignen, wenn niche
im Körper. etwas gefchieht, was der Veränderung
in jener correfpondirt. Diefe Veränderung im Körs
‚per läßt ſich aber oft gar nicht entdecken, oft nur vers
‚muthen.
vm. Die € Seele hat einen Willen und iußer.
ihn. Sie Hat Triebe und ift thaͤtig. Diefe Thaͤ⸗
. tigkeit, wie fie auch befchaffen feyn möge, muß ein
Subject haben, mittelſt deffen fie fich entwickelt. Bons
net glaubt, daß fich Fein anderes finden -laffe als wies
derum diefenfiblen Fibten. Wie alfo die Sinne auf
die Seele: wirken, fo kann die Seele ihrerfeits auf
‚die Sinne wirken. * Die Gerle wirft hierbey nicht
nach Art des Körpers; fie ift nicht Körper; aber die
Wirkung ihrer Thaͤtigkeit entfpriche einer Pörperlichen |
Wirkung. Kurz die Seele erſchuͤttert nah Willkuͤhr
die ſenſiblen Fibren, obgleich ſich das Wie nicht er⸗
kennen laͤßt. Die bewegende Hauptkraft der Seele
iſt das Vermoͤgen der Aufmerkſamkeit. Wird es
zu
252. Geſchichte der neuern Philofophie
zu fehe angeſtrengt, ſo entſteht in der Seele das um
angenehme Gefuͤbl, welches wir Ermuͤdung mens _
nen. . Aber kann die Ermüdung eigentlich zu reden
anderswo ihren Gig haben, als in den Organen, und
iſt 8 nicht die Seele felbft, welche jene durch eine
Wirkung ihres Willens verurfacht? Wollte die
Seele nicht aufmerffam ſeyn, fo würde fie auch nicht
ermuͤdet werden. Gie wirft alfo auf die Fibren, wel⸗
che der Sig der Ermüdung find. Daß die Ermüs
dung aufhört, wenn die Seele die Gegenftände ihrer
Befchäfftigung aͤndert, ruͤhrt daher, meil fie alsdenn
auf andere Fibren wirft; denn es ift wahrſcheinlich,
daß jedes Objert im: Gehirne beſondre feiner Einwir⸗
kung correſpondirende Fibren im Gehirne hat. Die
Matur und die Wirkungen der Aufmerkſamkeit find es
voczuͤglich, deren Berfchiedenheit auch unter den Mens
ſchen die größte Verſchiedenheit hervorbringt. |
IX. Die een, welche die Gegenſtaͤnde in der
Seele erwecken, werden der Seele auf’s neue gegen⸗
waͤrtig, ohne eine neue Dazwiſchenkunft dieſer Gegen⸗
ſtaͤnde. Die Reproduction der Ideen verdanken wir
dee Imagination und dem Gedächtniſſe. Je—
de neue Vorſtellung baftete urfprünglich can der Er⸗
ſchuͤtterung gewiffer Fibren des Gehirns. Ihre Res
production durd) die Einbildungsfraft kann alſo wies
Derum nur miteelft einer folchen Erſchuͤtterung derfels
ben Gehirnfibren ftate finden. Zufaͤlle, die an fi -
‚bloß den Körper afficiren koͤnnen, ſchwaͤchen und zer⸗
ftören fogar auch die Imagination und das Gedaͤcht⸗
niß. Diefe Fähigkeiten Haben alfo auch einen Sig
‚im Körper, und diefer Sig. kann nur bas Organ feyn,
‚welches der Seele alle Außere Eindrücke überliefert:
‚Die empfindenden Zibren find.fo eingerichtet, daß E
| Ä mehr
I
—
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 253
| mehr oder meniger fortgefeßte Action der Objecte, mehr
oder weniger dauernde Dererminationen erzeugt, wort
in die Natur des Gedächtniffes beſteht. Was diefe
Determinationen an fich felbft find‘, laͤßt fich nicht er⸗
lären, weil uns die Strurtur der empfindenden Fb
bren unbefant iſt; aber wenn jeder Sinn feinen eis
genen Mechanismus hat, fo ift auch glaublih, daß
er jeder Gattung der empfindenden Fibren zufomme.
X. eve empfindende Fibre wird von Bonnet
vorgeftellt, als ein fehr Pleines Organ, das feine eis
genehümlichen Functionen hat, oder als eine fehr Pleis
he Mafchine, welche der Eindruck dee Objecte zu dem
ihr angemeſſenen Tone ſtimt. Das Spiel oder die
Wirkung der Fiber reſultirt wefentlich aus ihrer ur
fprünglichen Structur, und diefe wiederum aus der
Matur und Combination der materiellen Elemente,
Wenn das Geſicht niche fo wirkt, wie das Gehör,
fo hat dies feinen Grund in der mefentlich verfchiedes
nen Struetur ihrer Organe, und darin, daß das Licht
nicht ſo einwirkt, wie der Schall. Die Fibren, welr
che den verfchiedenen Gefichtsempfindungen cortefpons
diren, haben alfo wahrfcheinlich eine andee Structur,
als die Fibren, Die mir den Perceptionen des Gehoͤrs
jufammenhängen. Doch mehr! Jede einzelne Pers
teption has ihren -befondern Charakter, wodurch wir
die eine von der anderen unterfcheiden. 3.8. Jeder
‚gefärbte Strahl har fein eigenes unveränderliches We⸗
fen; ein rorher Strahl wirft niche. fo auf-das Geficht,
wie ein blauer. Es muß daher auch unter den Ge
fichtsfibren Werfchiedenheiten geben relativ zu denen,
die unter den Strahlen obwalten. Webrigens ift fehe
leicht zu begreifen, wie die Matur die Steuetur dee
. empfindenden Fibren fo hat variiren mögen, daß fie
| dee
_
cs
254 Geſchichte der neuern Philoſophie
Der: ungeheueren Verſchieden heit der Perceptionen ent⸗
ſprechen konte, welche wir haben. Wie ſehr kann
Die menfchlihe, fo unvollkomne, fo beſchraͤnkte, Kunſt
Die. Productionen variiren von: derfelben Gattung!
ie mancherley Formen weiß fie nicht z. B. einer Kette
zu geben! Welche Abwechslung vermag fie nicht in die
einzelnen Glieder einer Kette zu legen! Wie unends
lich: viele Verbindungen laſſen nicht diefelben ‚Elemens
‚te zul Und vollends welche Mannichfaltigkeie ents
ſieht, wenn man annime, daß bie Elemente‘ ſchen u.
Brünglich verſchiedenartig waren! NET
ZIl. Die Seele hat niche nur Era der
Perceptionen überpähpt, welche fie afficirten; fie kann
ſich diefelben auh in der Ordnung zuruͤckrufen,
nach welcher fie ehedem davon’ afficirt wurde. Dies
f eine der wichtigften Wirkungen des Gedächtniffess -
Da. unfere Ideen jeder Urt eine die andere erwecken,
und alle urfpränglich mittelſt dee finnlichen Organe ers
zeuge wurden; fo.müflen auch die empfindenden Fis
bren jeder Urt in unmittelbarer oder mittelbarer Coms
munication mit einander ſtehen. Diefe Finnen dem⸗
nach eine habituelle Difpofition befommen, eine die
andre in einer beftimten und beftändigen Ordnung zu
erſchuͤttern, und diefe Difpofition erhalten fie durch
die Wiederholung derfelben Bewegungen in demfelben
Sinnesorgane. Die Aufmerkſamkeit, welche dee
Erfchürterung einen neuen Grab von Stärke hinzus
füge, hilfe auch noch, die Folge der Gegenflände in
das Gedaͤchtniß einzuprägen. Dieje Folge wird ins
Gehirne ducch eine Kette von Fibren und Fibrechen
( ſibrilles) repräfeneirt, Tängft deren die Bewegung
fi in einer um ſo beftimteren Ordnung forepflanzt,
* und ſi ſ cherer das Gedaͤchtniß fe Die Sri |
feit
während’: achtz Jahrhund. he auf Mint) ayg
keit des Gedaͤchtniſſes hänge aber zuletzt von der he⸗
fonderen Dererminarton der Elemente ab, wodurch es
die eingeprägten Deterininarionen bewahrt. Bonner
zieht bieraus die Folgerung, daß eine Intelligenz ,
welche den Mechanismus des Gehirns gründlich Fenne
te, Die im größten Detail Alles, was darin vorgeht,
wahrzunehmen vermoͤchte, darin mie in einem Bu⸗
he leſen mürde Die bemundernswürdig große
Buhl unendlich Eleinee Organe deg Empfindens und
Denkens würden fuͤr diefe Sutelligenz feyn, was für
uns gedruckte Buchftaben find. Wir blättern in dem
Büchern; wir fludieren fie. Jene Sutelligenz würde
bloß die Gehirne betrachten.
Bonner nimt Feine Spuren oder Bilder
im Gehirne an, um die Phantafie und das Gedächts
niß zu erlären. Er gefteht, daß er ſich davon kei:
nen Begriff zu machen im Stande fey. Das Spiel
der Lebensgeifter, deren Exiſtenz er für erwiefen hält,
fhließt er babey nicht aus; aber ein Fluidum kann
nicht der Gig dauernder Eindrücke ſeyn es Bann nur
mit foliden Organen conenrriren, und von diefen Im⸗
pulſionen empfangen, die feinen Lauf modificiren im
einer zu Ihrem dermaligen Zuftande ftehenden Du
ziebung.
Wenn alle unfere Ideen an eigenen Fibren haf⸗
‚sen, fo haften auch die Vorurtheile an folchen.
* Sie werden genaͤhrt, mwachfen, und verſtaͤrken fich mie
diefen. Daher bat es fo große Schwierigkeit, went.
man verſucht, fie auszurotten. reife man fie an,
ſo erſtaunt man oft über den Widerſtand, melchen
fie leiften.. Man denft bierbey nicht daran, daß man
eigentlich gegen die Natur ankämpfe, Noch größer
iſt der. Widerſtand, wenn man unternimt, einen Chas
RL ; after
256 Geſchichte der neuern Philoſophie
gafter- zu ändern, ber aus der Vereinigung von De
germinarionen hervorgeht, welche eine unendliche ua |
ge Fibren befommen hat.
XII. Gehe oft ereignet es ſich, daß die Site
auf Veranlaffung einer dee eine andere fucht, und
fih endlich derfelben. erinnert. Gemeiniglich glaubt
man, daß dieſe Erinnerung eine Wirkungs des Wils
lens fey. Gleichwohl ift fie. nur die bloße Wirkung
der Verknüpfung der fenfiblen Fibren. Indeſſen i
der Wille keinesweges ohne allen Einfluß auf unſern
Ideengang, und auf unſere perſoͤnlichen Zuſtande
bethaupt.
Die Freyheit iſt nichts — als die aus⸗
| hend Fähigkeit des Willens (ſacultéẽ executrice de
Ja Volonte),. Mach Bonner ift es alfo nicht die
Freyheit, welche wählt; der Wille wähle,
‚und die Freyheit realifire nur das Gewählte,
Jede Wahl erfodere ein Motiv; der Wille hat nur
Ein Object; man will nichts ohne Grund, warum
man will; und die Vollkommenheit des Willens, zu
welchem Syſteme man ſich auch befenne, wird ewig in '
ber Vernuͤnftigkeit (rationabilit€) der Motive Seftehen.
Es giebt feine Tugenden one Motive, und die Res
ligion fol nur dienen, uns die Präftigften Motive zur
Tugend darzubieten.
Gaͤbe es eine durchaus gleichgüftige Freybeit, fo
würde fie zum mindeften Fein Gegenftand für den Mos
raliſten ſeyn, weil fie zu der Tugend gar nichts beys
tragen würde. Koͤnte aber die Seele fich inner ges
gen die deutlichſte Einfiche der dringendfien Gründe
Determinicen,, hätte dasjenige, was ihr der gefunden
Vernunft, oder ihrem gegenwärtigen Sntereffe am
ge⸗
wihrend d achtz. Johehum B.auf Hart, e5
gemaͤßeſten ſcheint, gar keinen Einfluß auf ihre Wil⸗
lensbeſtimmungen; fo wiirde alle Sicherheit in der
menſchlichen Gefelfchafe aufhören, weil nichts da
ſeyn würde, was uns für die Handlungen Anderer
Buͤrgſchaft gewaͤhrte. Die acdheungswerthen Theolo⸗
gen, welche eine gleichguͤltige Freyheit behaupten,
ſetzten ſie nicht in den pathetiſchen Reden voraus, wor⸗
in ſie ſich beſtreben, den Menſchen die großen Maris
men ber Tugend und der Sociabilität einzuflößen,
Alle unfere Fähigkeiten find einander untergeordy
net, und Alle werden zulegt befiime von der Einwirs
fung der Objecte und von verfchiedeuen Umftänden in
Anſehung ihrer Yeußerung und Entwicelung. Wer
kann insbejondre die Macht der Erziehung verfennen ?
Newton, in Californien gebopren, von barbarir
fen Eitern erzogen, würde nie Die Geſetze des Welt⸗
ſyſtems entdeckt haben. Und was vermag über die Faͤ⸗ |
higkeiten des Menfchen nicht fchon allein die Art, wie
er erzeugt wurde, und das Temperament, welches dar
von eine unmistelbare Folge fit
Wenn die Motive die Seele zum Handeln bes
flimmen, fo dererminiren fie Die Seele nicht fo, wie
ein Körper den andern zur Bewegung determinirk.
Der Körper har Peine Bewegung durch ſich ſelbſt;
aber die Seele har in ſich ein Princip der Tpärigkeie,
welches fie dem’ Urheber ihres Dafeyns verdankt. Ges
mau genommen fann Man Überhaupt nicht fagen,
-YHap die Motive die Seele determinirten; fordern dfe
Seele dererminire ſich felb zufolge ihrer Erfeneniß
der Motive, und diefer metaphyſiſche Unterfchied iſt
wichtig. Verwirrt man diefe benden Dinge, fo vers
wirrt man Alles, und man verfällt in einen gaͤnzlich
pbiyſiſchen Fatalismus. Derjenige aber iſt kein Fa⸗
Buble's Geſch. d. Philof. VI.2. R ta⸗
talift, der nur ‚behauptet, daß die Seele ſich ſtets für
‚dasjenige eutſcheidet, was ihr wirklich das Beſte iſt,
oder doch zu ſeyn ſcheint. Wäre dies, fo würde. es
‚eben fo viel wahre Fataliſten geben, als es wahre
Pbhiloſophen giebt ‚welche behaupten, daß die Liebe
zur Glaͤckſeligkeit das allgemeine Princip der menſch⸗
lichen Handlungen ſey. Seine, Ölückjeligkeit lieben,
beige fich ſelbſt lieben, und fich ſelbſt lieben, beißt,
fih in Beziehung ‚auf, feine Olückfeligfeit zu Deteumis
niren. Wenn es unmöglich ift, daß ein intelligens
des oder bloß empfindendes Weſen fih’niche ſelbſt lie⸗
bez ſo iſt auch unmöglich, daß es ſich nicht zu dem
determinire, was ihm feiner gegenwärtigen Lage, oder
feinen Beduͤrfniſſen am angemeſſenſten ſcheint. Die
wohlverſtandne Selbſtliebe, die Liebe unfrer Gloͤckſe⸗
figfeit, die Liebe zur Vollklommenheit, find nach Bohr
ner völlig einerley. "Ein intelligentes Weſen muß die
Vollkommenheit lieben, in weiche es feine Gluͤckſe⸗
ligkeit ſetzt. —*
XI. Den Materialismus erklaͤtte Bonnet
uͤr keine an ſich ſelbſt gefährliche Vorſtellungsart;
falls er ſich erweiſen laſſe. Ueberhaupt iſt auch eine
in gewiſſer Hinſicht gefaͤhrliche oder, bedenkliche Wahr—⸗
Ki darum nicht minder eine Wahrheit; unfere Be⸗
‘griffe Lönnen ‚die. Befchaffenheit der Dinge nicht Aus
dern, ſoadern müffen ihe ‚gemäß fern ; denn der Vexr⸗
ftand bringe, nichts Gervorz er betrarhtet nur das Her⸗
Yorgebrachte, . Ließe ſich / auch demonſtriren, daß die
Sedcle materiell ſey, fo wuͤrde man um deſto mehr. bie
goͤtiliche Allmacht bewundern muͤſſen, welche der Mas
‚terie die Fähigkeit zu denken mittheilte. Bonnse
konte fich inzwifchen aus der Vorausjegung der Mates
rialitaͤt der Seele das Bewußtſeyn der einfachen, *
2* * ———— * aD PER ns
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kantz 259
ſoͤnlichkeit nicht begreiflich machen, und deßwegen vers
warf er jene. Er glaubte, mit Evidenz eininjehen,
daß das cine, einfache, uneheilbare Ich in mus nicht
eine Modification einer ausgedehnten Subſtanz, auch
nicht das. Reſultat irgend einer materiellen Bewegung
ſeyn föune.
Mit den pfychofsgifchen Unterfuchungen nnd Hy⸗
pothefen Bonnet's hängen feine phyſiologiſchen über
die Natur und die Organifation auf das ne
nauefte zufammen. Er verlange auch, daß die Piys
chologie und die Phnfiologie ſich gegenſeitig autbellen
ſollen, da fie viel gemeinfchaftliche Berüprungspimete
haben, und ber Menfch das vornehmfte Object der
einen wie der anderen if. Zum Bebtfe beyder Difeis
plinen nime er vorläufig die Hypotheſen in Schuß.
Wollte man fir gänzlich bey diefen Unterſuchungen vers
bannen, jo würde man fi auf bloße Beobachtungen
einfchränfen muͤſſen; und mas nügen Beobachtungen,
wenn: daraus -Feine wiſſenſchaftliche Folgerumgen ge⸗
zogen werden? Da haͤuft man unaufhoͤtlich Mate⸗
zialien, ohne jemals zu bauen; man vermechfelt im⸗
wier das Mittel mit dem Zwecke; und- en
bleiben in unſerm Geiſte ifolire, während im Uni
fum Alles verbunden iſt. Freylich darf man fich nicht
mic der Aufführung von Syſtemen übereilen ; aber es
giebt auch Thatſachen, aus denen ſich die Fol geruñ⸗
gen ſo handgreiflich und’ unmittelbar darbieten, daß
man ſie mit aller Sicherheit wirklich ziehen, und als
Principien zum weitetn Sortfihteiten “int der Auftla⸗
zung der Natur gebrauchen‘ kannn“
Alle unfere Erfentniffe erweitern und bervollkom⸗
nen ſich nur durch Vergleichungen, welche wir zwi⸗
ſchen unſeren Erfahrungsideen machen, ©. vergleis
| | R 2 95
260 Gefchichte der neuern Philofophie |
hen wir mehr Facta derfelben Urt, bemerken die Res
ſultate der Vergleihung, und wenn alle in demfelben
Buncte übereinftimmen, fo fchließen wir daraus, daß
dieſer Punct wahr ſey. Dadurch gelangen wir zu
mehr oder weniger allgemeinen Refultaten aus unferen
eigenen oder aus fremden Beobachtungen; oder wir
gelangen auf diefem Wege zur Entderfung dee Urfa:
Ken, und zur graduellen Decompofition dee Wirkuns
gen. Diefe Bemerkungen Bonner’s über die logis
fche Methode der Naturforfhung find an und für fi
völlig richtig; es komt nur auf die richtige Anwendung
derfelben an, inwiefern dabey Erfchleihungsfehler. und
Inconſequenz vermieden werden! Und diefe nicht vers
mieden zu haben, ift die Urfache, daß Bonner’s -
Hypotheſen ungeachtet der von ihm dabey befolgten
Methode fich nicht haben bewähren können.
Man braucht die Natur nur ein wenig zu fludie
ren, fo erkenne man bald, daß alle Theile derfelben
in verfchiedenen Beziehungen und Verhaͤltniſſen auf’s
engfte zufammen verfnüpft find. Die Befchäfftigung
des Phnfikers ift, dieſe Verbindung, Beziehungen,
Ver haͤltniſſe derfelben zu erforfchen. Unter Beziebuns
gen und Verhaͤltniſſen werden bier diejenigen Deter—
minationen verftanden, wodurch die mannichfaltigen.
Maturdinge zu Einem Zwecke fich vereinigen. Da
der Ponfifer weiß, daß die ihm unbekante Urfache,
welche er fucht, in irgend einer geheimen Verbindung
‚mit dem ihm Bekanten ſteht; fo ſteigt er an der Ket⸗
te der Tharfachen fo weit hinauf, wie es ihm möglich
ift, verfolge alle ihre mannichfaltigen Wendungen;
und wenn er auf diefem mühfamen Wege auch nicht
zum Ziele gelangt, wenn er fich demjelben niche eins
mal fehe nähert; fo läuft er doch zum: mindeften auch
% | nicht
*
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 261 |
nicht Gefahr, fih in die Made der Träume zu vb
lieren. Je mehr die Zahl der uns bekanten Bezie⸗
hungen ber Maturdinge anwaͤchſt; deſto mehr Gewiß—⸗
bett, Genauigkeit und Ausbreitung werden auch uns
fere Marurfenenife gewinnen. Wuͤßten wir die Bes
ziehungen jeder Art, weiche die Pflanze mit der Erde,
‚ dem Wafler, der Luft, dem Feuer, und allen den
Körpern verknüpfen, die auf fie einwirken, oder von
ihr Einwirkungen empfangen; Bennten wir überdem
die Beziehungen, welche wiederum unter Diefen vers
ſchiedenen Weſen ftare finden; fo würde unfere Theos
rie der Begetation vollftändig feyn, und wie würden
“ ‚eben fo deutlich einfehen, wie die Pflanze vegetirt, als
‚ wie einfeben, wie der Zeiger einer Uhr fich bewegt.
. Wir würden nicht mehr durch Schlüffe darüber ur⸗
theilen, fondern durch eine Urt von Intyition; und
die Kunſt zu conjectueiren würde fih auf diefen Gegen⸗
ftand gar nicht mehr anwenden laſſen. Aber fo weit
ift es mit unſerer Marurfunde noch nicht gediehen.
Die Wiffenfchaft der Beziehungen der Marurdinge iſt
noch fo unvollkommen, daß es nicht ein einziges giebt,
ſelbſt unter den dem Unfcheine nach unbedeutendften
Maturproducten, das uns nicht dunfle Seiten. dars
böte, und nicht | bald den Scharffinn des gefchickteften
Maturforfchers ermuͤdete. Ein Salzkorn, ein Moos,
ein Würmchen werden bald für diefen wahre Labyrin⸗
the, in denen er fi) von dem Augenblicke an veritet,
da er. den Faden der Erfahrung verläßt. |
Nach dieſen Principien ſtellt Bonnet ſeine Uns
** über die Erzeugung und die Entwis.
kelung der erzeugten Maturwefen an, Vorausgeſetzt,
daß ein forgfältiger Naturaliſt fih durch genaue und
o aͤfter — — uͤberzeugt haͤtte, F
11
*
262 Geſchichte der neuern Philoſophie ei |
der Keim ini Weibchen’ zur Befruchtung praͤexiſtire; daß
er firenge bewiefen babe, Partikeln, deren Eriftenz
man nicht glaubte, weil mar fie nicht wahrnimt, eriftics |
sen wirklich und äußerten wefentliche Functionen: wels
che Folgerungen koͤnte er mit Recht hieraus ziehen? Und
welchen Gang müßte er nehmen, um das Geheimniß
der Erzeugung aufzuflären? Seine erfte Folgerung
wuͤrde ohne Zweifel feyn, daß, wenn der Keim vor der
Befruchtung exiſtire, er nicht durch dieſe erſt hervorge⸗
bracht werde ,: oder, mas hiermit einerley ift, daß er
nicht eingezeuge werde. Gleichwohl ift durch Erfah⸗
rung entfchieden,, daß der Keim in einem weiblichen
Vogel fich. nie entwickele ohne !die Mitwirkung des
Maͤnnchens. Es muß alfo etwas in dem Keime feyn,
‚ welches ihn hindert, fich aus fich felbft entwickeln, und |
in der befruchtenden Feuchtigkeit des Männchens muß
etwas — an Entwicklung befördert. :
Aber was Geiße, fih entwifeln? Es beißt
Wachſen im jedem Sinne; mehr Maſſe und Umfang
gewinnen. Der Keim nimt alſo fremde Stoffe auf,
die ſich mie ſeiner Subſtanz vereinigen; er wird ers
naͤhrtz denn wie koͤnte er mehr Maſſe und Unmfang
gewinnen, wenn gar kein fremder Stoff zu ihm bins
zußäne?. Die Ernäßrung z. B. in einem Vogel, fegt
Cireulation voraus, und diefe wiederum die Thärigs
feit des Herzens.” Das Herz des Embryo fehläge al⸗
fo unmittelbar nach det Befruchtung; es treibt in alle
Partikeln desfelben die Feuchtigkeit, die zu feiner Nah⸗
rung und zut Entwichelnng diefer dient. Man fann
in einem Eye das Kiopfen des Herzens im Küchlein
nwach dem erfien Tage der: Ineubation ſehen, und mañ
bat Beyſpiele, daß es noch früher angefangen, hat.
Das Ss des — ‚tote ſotglich vor der Be⸗
fruch:
“während d: achli. Jahrhund b auf Kant. 263
Fellsrung noch nicht den zur ——
tad der Kraft; dieſer muß ihn e P durch die Be⸗
fruchtung mitgetheilt ſeyn. Was bringt- aber zuerft
das Schlagen. des Herzens im Embryo hervor?
Jede Mufkelfiber sießt ſich zufammen, ſobald ſie
| | n irgend einem Körper beruͤhrt wird, es mag. ein
feſter oder ein flüffiger feyn; und die, Zufammenziefung
hört auf, wenn Die Berührung aufhoͤrt. Dies hat
man Irrita bilitäͤt genannt. Die Matur diefer
geheimen Kraft laͤßt fich nicht weiter erklären; man
nimt ſie an, wie der: Newtonianer die Anziehungs⸗
kraft annimt, als ein gewiſſe Factum, deſſen Urſa⸗
che uns immerhin unbekant bleiben kann, ohne daß
wir darum uns in den Folgerungen daraus irren. Das
Herz iſt ein Muſkel, und zwar einer der reizbarſten
Muſkeln. Es faͤhrt fort, ſich noch einige Zeit. zu
bewegen, nachdem es von der Bruſt getrennt iſt.
Aber dieſe Bewegungen, welche man willkuͤbrlich nen:
nen koͤnte, hören in dem Momente auf, daß in det
Herzenshöle fein Blut mehr iſt. Sie zeigen ſich wies
der, ſobald man auf's neue Blut, Waͤſſer oder bloß
Luft in die Höle läßt. Scharfe Senchrigfeiten erwek⸗
ken ſie noch mehr. Die Urſache der Bewegungen des
Herzens iſt alſo die Irritabilitaͤt desſelben. Wenn
der Keim im Weibchen ſich nicht entwickelt ohne
e Hülfe der Befruchtung; geſchieht dies nicht deß⸗
wegen, weil das Herz noch nicht Kraft genng bat,
um durch feine Smpulfion den Widerftand der feften
Theile; zu. überwinden; zen Die, befruchtende —
iſt demnach eine Art von Reizmittel.
Bonnet faͤhrt in feinen Fofgerungeh aus Bei
obachtungen weiter fort. Das Stimorgan des Efels
| iſt ein ſehr a "7 Werkzeug; —
Tbei⸗ |
\
‚ 264 Geſchichte der neuern Philoſophie
Theile von einer aͤußerſt merkwuͤrdigen Struetur. Das
Stimorgan des Pferdes iſt verſchieden davon, und
viel einfacher. Der Mauleſel, der aus der Begattung
des Eſels mit der Stute erzeugt wird, hat ohngefaͤhr
das Stimorgan feines Vaters. Wenn der Keim bier
dem Weibchen angehörte, fo war es ein Pferd, und
nicht ein Maulchier oder ein Efel, das in Miniatur
im Eperflocfe dee Stute entworfen war. Ueber die
Exiſtenz der Eger in den lebendige Zunge gebäßrens
den Weibchen zu -chicaniren, würde zu nichts dienen;
man hat einen ſehr gut angedeuteren Foͤtus im Eyers
flocke bemerkt, und es giebt lebendige Junge gebäßs
sende Thiere, die zu gewiſſen Zeiten ihrer Eger fich
entledigen. Br #
Die befruchtende Feuchtigkeit muß alfo auch auf
das Innere des Keimes wirken, meil fie einige innes
re Theile desfelben auf eine befoudere Weiſe modificire.
Sie modificirt auch die äußern Tpeile, wovon die Oh⸗
zen, der Rücken, und der Schweif des Maylthiers u
evidente Proben find. Aber wenn der Keim vor der
Befruchtung eriftire, und nicht eingezeugt iſt; wenn
Partikeln wirklich vorhanden find, die überhaupt nicht
eriftiven zu Pönnen ſchienen: ift es denn nicht ſehr
wahrfcheinlih, daß auch das Stimorgan des Diauls
thiers nicht eingezeuge fey? Das Stimorgan dee
Keims iſt folglich nur durch) die Befruchtung des Was
ters modificire, und fo geht es auch mie den übrigen
äußern Gliedmaßen.
Die befruchtende Feuchtigkeit kann inzmifchen die -
Innern Theile des Keimes nicht modifieiren, ohne in
deu Keim einzudringen, Man muß alfo annehmen,
daß fie denſelben durchdringe, ob wir gleich nicht
begreifen, wie? Sie muß fi. fogar. mit al
> en
mährend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 265
fen vereinigen, welche fie modificirt; denn diefe Theis
fe werden ernährt, wachſen und entwickeln fich in eis
ner mehr oder minder directen Beziehung zum Männs
hen, und diefes hat nur die befruchtende Feuchtig⸗
keit dazu hergegeben. Die legtere muß alfo auch ges
beime Beziehungen und Verbindungen mit verfchies
denen Theilen bes Männchens haben, weil fie das Ges
präge derfelben den correfpondirenden Thetlen des Keime
aufdruͤckt, welche fie befruchter. Um dies aber zu
vermögen, darf fie nicht bloß eine reizende, fie muß
auch eine ernährende Feuchtigkeit feyn, und dadurch
zue Entwicelung und Vergrößerung der Theile des
Keimes beytragen. Diefe näprende Kraft des maͤnn⸗
lichen Samens offenbart fich auch deutlich genug durch
die traurigen Folgen, welche die Erfchöpfung nach
ſich zieht.
Jede näprende Feuchtigkeit muß ferner zu ‘dem
bermaligen Zuftande der Theile im angemeffenen Vers
bältniffe ſtehen, welche durch fie ernäßre werden follen.
Sind diefe Theile von außerordentliche Feinheit und
Zartheit; fo muß auch jene Außerft: fubeil, Außerft
für den Zweck zubereitet (elaboree) feyn. Bringt fie
große Veränderungen in den Thellen hervor, fo kann
‚man mit aller Sicherheit ſchließen, daß fie mit einer
befondren Wirkſamkeit und Thaͤtigkeit verfehen. ift;
und da jeder Theil feine eigenthuͤmliche Structur ber
fißt, Die unftreitig aus der. Natur feiner Elemente und
der Verbindung derfelben entfpringe, fo muß fie auch
dieſen Elementen analoge Grundftoffe enthalten; denn
nichts fcheint - mehr die Wereinigung elementarifcher
Partikeln zu. begünftigen, als ihre Verwandtſchaft.
Ein Tropfen Waffer vereinigt fich leicht mit. einem ans
bern; anſtatt daß ein Tropfen Waſſer und ein Trops
fen Del fich gegenfeitig abftoßen.
Rs Wahrs
’
l
266 Gecſchichte der neuern Philoſophie n
Wahrfcheinlich dringt die ſehr feine, ſehr zufams
mengefeßte, ſehr thaͤtige befruchtende Feuchtigkelt zum
Herzen des weiblichen Keimes, weil fie die Itrita⸗
‚ bilität und mithin auch die Impulſtvktaft des’ Her⸗
ens vermehrt. Was für Determinationen im Ems
ryo, namentlich im Herzen desfelben, auf diefe At
entſtehen, iſt uns unbekant; mir koͤnnen überhaupt
nur das Factum durch Schlüffe entdecken, ohne die
Are und Weife desfelben mirteift der Anfchauung ji
ergründen.
Bonner fege nun feine Gruͤnde für die Praͤexi⸗
ſtenz organiſirter Kelme, ſo wie ‚diejenigen, welche
anderen Hypotheſen über. das Princip der Organiſa⸗
tion widerſtreiten, umſtaͤndlicher aus einander.
nimt hierbey den Gruudſatz zu Hülfe, daß das, waß
nicht zu erifticen ſcheint, doch wirklich exiſtiren kann,
und erwaͤhnt Beyſpiele aus der Naturgeſchichte, wo
ſich thieriſche Keime zu vollendeten Thieren entwickeln,
ſo daß alſo in jenen das organiſirte Ganze, wiewohl
im Kleinen und. unſichtbar, ſchon ent halten geweſen
ſeyn muß. — — J
Der Schoͤpfer der Natur hat freylich in ſeine
Producte eine unendliche Mannichfaltigkeit gelegt, und
dieſe ſcheint mehr oder weniger der analogiſchen Mer
thode der Erzeugung der Organifation, nehmlich der
— praͤformirter Keime zu widerſtreiten.
Beh) aller Verſchiedenheit indeſſen, die ſich in Anſe⸗
hung der Steucrur, z. B. zwifchen dem Regenwurme
und dem Huhne finder, pflanzt ſich doch jener auf dies
felbe Art fort, wie diefes, durch Eyer. "Aush die
BDfiahze,, die noch weiter ‘vom Huhne in der Sttuctur
fich entferne," als der Regenwurm erjeugt tpresGtele
chen durch Körner, die nichts "ande 7. als eine Are
Eyer,
während d. acht;. Jahrhund. b. auf Kant. 267
Eyer, find, in denen ſich die Theile der kuͤnftigen
Pflanze fchon in Miniarur befinden. Ungeachtet der
unendliche WVerfchiedenheit der Producte der Natur
giebt es alfo doch. unter ihnen eine gemiffe Analogie.
Vom Menfchen bis zum Regenwurme, und von Dies
ſem bis zum Mofe vervielfältigen ſich alle Producte,
Die wir feinen, durch Pleite lebendige Keime, oder
durch Eyer. Selbſt die Thiere, welche lebendige
unge gebähren, Gaben Eyer; nur daß die Jungen
ſchon im Murterfeibe daraus hervorkriechen,
Wenn die organifirten Körper nicht präformirt
find, fo müffen fie fich täglich bilden nach Geſetzen eis
ner befonderen Mechanik. Aber man fage doch, wels
che Mechanik wohl die Bildung eines Gehirns, eis
nes Herzens, einer $unge, und fo vieler anderer Or⸗
gane, bewirken folle? Die Schwierigkeit befteht nicht
bloß darin, ‚dies oder jenes Organ, das an ſich felbft
aus fo viel verfchiedenen Stücken zufammengefeßt ift,
ſich mechanifch bilden zu laffen; fie ift hauptſaͤchlich
‚biefe: wieferne fih aus bloß miechanifchen Gefegen
ein Grund von der Menge der mannichfaltigen Bes '
ziebungen angeben laffe, welche die organifchen Theis
le fo innig mie einander verfnüpfen, ‚und „durch wels
che fie alle zu einem gemeinfchaftlichen Zwecke zufaı
menftinnmen, um die Einhele hervorzubringen, die
wir ein Thier nennen, ein organifches Ganzes, wel⸗
ches lebt, waͤchſt, empfinde, fich bewegt, ſich ets
hält, und fich fortpflänzt. Man muß bierbey date
auf achten, daß das Gehim das Herz vorausfeße,
und diefes wiederum das Gehirn. Beyde feßen abers
'mals Merven, Schlagadern und Blutadern voraus,
Sofern fih das Thier ernährt, erfodern die Orga
der Circulation auch die der Ernaͤhrung. Und as
* ßerdem
268 Geſchichte der neuern Philoſophie
herdem muͤſſen auch Organe der Empfindung, ber Bes
wegung, der Fortpflanzung hinzukommen, die ſich
alle gegenſeitig verausfegen. Es zeigt fich hier die
Unmöglichkeit jedermechanifchen Auflöfung des Pros -
blems. Vielmehr feine alles zu beweifen, daß je
des organifche Ding feinee Grundanlage nach auf eins
mal gebilder fey, und fih nur in Anfehung des Um—
fangs von Zeit zu Zeit entwickle. Warum fol man
fi foltern,, mechanifche Auflöfungen zu fuchen, die -
doc nicht genugthuend find, da es fehr entfcheidende
Thatfachen giebt, die uns, wie an einem fichern Leit⸗
faden zu dem Glauben an die Präeriften; organifcher
Keime leiten? Was für Mittel der Schöpfer gewaͤhlt
haben mag, um die Eriftenz fo viel verſchiedener or⸗
ganifcher Ganzen zu bewirken, barüber dürfen wir
uns fein Ureheil anmaagen. Bey der gegenwärtigen
Beſchaffenheit unferer Naturkunde, vermögen wir nicht
auf eine vernunftmäßige Art die Bildung eines Thiers, |
und felbft des Pleinften Organs, mechanifch zu erfläs
cn. Es ſcheint alfo, fehle Bonner, der gefuns
den Philofophie und der Erfahrung, angemefjener zu
feyn, als wahrfcheinlich anzunehmen, daß die orgas
nifchen Körper gleich vom Anfange präeriftirten.
Er fucht dies noch weiter durch Benfpiele aus
der Maturgefchichte zu erläutern und zu beflätigen.
Anſtatt daß in den großen Thieren und in vielen Schaal:
tbieren und Inſecten der Eyerſtock fih an einem bes
fondern Drte befindet, ift er über den ganzen Körper
des Regenwurms, mehrer Würmer im füßen Waſſer,
der Polnpen u. a. vertheilt. Man ann daher die Körs
per dieſer legten Art von Thieren als Eyerftäcke übers
upt betrachten. Wenn man einen Regenwurm oder
lypen in Stuͤcke ſchneidet, bilden ſi ich neue Ieyen
würs
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 265
wärmer und Polypen aus den Städen; Bier 'müffen
alfo gewiſſe Mahrungsfäfte die einzelnen Keime ent:
wickeln, die vorher zur Ernährung des ganzen Koͤr⸗
pers beftime waren. Daraus läßt Die Entwickelung
der Keime in den Theilen des zerfchnittenen Polypen,
und aus diefer Entwickelung die PEIRTERE fih ers
klaͤren.
Inzwiſchen machte doch Bonner bey feiner
Hypotheſe eine Bedingung. Man müffe ſich nice
. einbilden, fagt er, daß alle Theile eines organifirten
Körpers im Kleinen genau das feyen, mas fie in dem
entwickelten Ganzen im Großen zu feyn fcheinen. So
haben in einem Huhne alle Theile, ſowohl die Außern
als die innern, im Keime folche Formen, Proportios
nen, - Eonfiftenz, und Verbindung, welche von des
nen, die fie in der Folge befommen, wejentlich vers
fhieden find, und welche die natürlichen Folgen der
befeuchtenden Feuchtigkeit und der Entwickelung find,
Unter dem Worte Keim (germe) wird übrigens hier
jede Präformarion verftanden, -die Durch fich ſelbſt
‚fähig iſt, die Eriftenz einer Pflanze oder eines Thiers
zu beftimmen. Die Knöpfchen oder Pünctchen, welche
bie jungen Armpolypen hervorbringen, find an ſich
felbft noch nicht Polypen in Miniatur unter dee Haut
des Mutterpolypen verborgen; aber es giebe in bee
Haut des Mutterpolypen gewiſſe Theilchen, die fo
pröerganifice find, daß aus ihrer Entwickelung ein
kleiner Polyp entſtehen kann.
Wenn es nun aber wahrſcheinlich iſt, daß die
‚organifirten Körper vom Anbeginne an präeriftieten; fo
iſt es auch wahrſcheinlich, daß das fie befeelende Prins
cip vom Anbeginne an präeriftitte.e Bonner ents
ſcheidet nicht über die Erifienz der Thierfeelen; —
= ft
270 Geſchichte der neuen Philofophie
hält fie nach ‚der Analogie für wahrſcheinlich. Der
Polyp feine ihm unbezweifeldare Zeichen von Enu
pfindung zu geben, und ein organifirges Wefen, das
feine Beute verzehrt, das fie gleichjam mit einer Am
gel fiſcht, und zur Nahrung zubereiter, iſt feine Pflans |
je, „Das Gehirn, oder was die Stelle degfelben.im.
Polypen vertreten mag, kann an und für fich nicht
enipfinden, wie es überhaupt die Materie nicht kann;
was DB. noch gründlicher als feine Vorgänger erwies
fen zu haben glaubt; es muß aljo in dem Polppen
eine Seele geben, weil-er empfinden fan. Ein A
‚somat kann freyfich ale Zeichen der Empfindung: Aus.
ern, ohne wirklich zu empfinden; aber wie viele Opes
tationen würde man mechanifch nur gezwungen 'erz
klaͤren koͤnner? Ein Menge Thiere haben uͤberdem
- Sinne, die den unfrigen aͤhnlich find, und ihnen folg⸗
lich auch zu demfelben Zwecke von der Natur geges
ben feyn muͤſſen. Niemand wird Doch zugeben, daß
der Menſch ein bloßes Automat ſey. Sobald es nun
wahrſcheinlich iſt, daß gewiſſe Thiere eine Seele Has
ben; fo muͤſſen auch alle eine haben, und diefe muß
nothwendig immateriell und uneheilbar ſeyn. Die
Seele des Polypen wird alfo auch untheilbar ſeyn
Man theilt folglich diefe Seele nicht, indem man den
Polypen theilt; aber man giebt gemwiffen Keimen Ge
legenheit, fich zu entwickeln, und die Seele, welche
urfpränglich in jenem Keimen wohnt, wird anfangen‘,
Empfindungen zu bekommen, bie auf: die Erhaltung
des Individuum's fich beziehen. Es werden fich eben
fo viel neue Perfonen, neue Ich's bilden, wie
ſich neue individuelle Ganze entwickeln. Die Frage,
ob der Polyp ein Gehirn oder Merven habe, wie die
geößern Thiere? verbittet Bounet. Cr giebt zu,
daß er dieje nicht babe. Aber der Polyp has Organe
| | der
’
I
—
— —
/
während dabchtz Nahrhund, b. quf Kant. 221
der Empfindung, wie ſie feiner Natur angemeffen finds
und davom iſt bie allein. die Rede. Die Phänonyne
feiner, Reproduction thun der Lehre von der Immate⸗
ialitaͤt dev, „Seele gar Peinen Eintrag. 4 un +
Bynmer’giebt der Hypotheſe vor der Eins
ſchachtelung präformirter Keime (emboitement)
einen Befall, vhne ſich doch fuͤr diefelbe als die
einjig mögliche und wahre zu 'enefcheiden. ine uns
&idliche: Repe von in einander enthaltenen Kelmen
kann wohl die Mhankafie erfchrecken:; tft aber: kein die
Vernunft ederſchlagendes Argumint. Die Mani | |
bringe auch im’ Kleinen Alles hervor, was fie will?
und die letzten Grenzen der Thenung der Materie find _
uns unbekant. "Mar braucht niche zu behäuptein‘;
daß fie! wirklich N’s: Unendliche getheilt ſey; aber die
Grenze‘ ber "Tpeitbarfeit Eee — —
NE INIÄERDIITO ie 2 LAU SIE ⏑⏑⏑—
we gleich guͤltige Erzeugung (generatig
aequiuoea) Wird. vom Bo un et ſchlecht hin verwar⸗
en. In ‚ber, Erfahrung wird ſie micht bemerkt ‚amd
die Hwpotheſe widerſtreitet vielmehr· Allem, was wir
über die Erzeugung der, Pflanzen und Thiere wiſſen
Die von den, Wertheidigern derſelben angeführten Facta
beweifen fie nicht. Berufe man ſich auf Die Wuͤr⸗
mer, „die in den Eingeweiden, den Adern, den, Mufs
Pen erzeugt werden; ſo iſt ihre bloße Gegenwart, an
ſo verborgenen Orten noch Bein’ Beweis, daß fie uns
mittelbare Prodnete einer gleichgüftigen Erzeugun
ſeyen. Aus‘ der Eriftenz dieſer Wuͤrmer folge nicht
weiter, ats daß ſie erifticen, "und daß wir nicht wiß
fen, wie ſie in den Theilen des Körpers erzeugt wer⸗
- ben. Aber unſere Unwiſſenheit über Die Art, wie eis
ne Sache entſteht, macht eine Hypotheſe darüber noch
nicht wahrſcheinlich. Dusch wie mancherley Mittel
—— fans
272 Seſchichte der neuern Philoſophie
koͤnnen ſich nicht unſichtbare Samen jener Inſeeten in
das Innere des Körpers einſchleichen? Die Analos
gie der Erfahrung bejtätige dies. Oft war ber wahre
Urfprung von Dingen geheim, und ward doc, ends
fich entdeckt. Hätten auch jene Würmer nicht einen
fo regelmäßigen Urfprung, wie fo viele andre Inſecten;
verdanfien fie ihn nicht Eyern, oder kleinen lebenbis,
gen Keimen, oder irgend anderen Urfachen dieſer Art;
. fo würde man fagen müffen, daß. fie aus der. Vereis
nigung gewiffer molecules par appofition. entftanden
wären, wodurch ſich ein organifches Ganzes bildete,
das lebt, fich bewege, und fortpflanzt. Go einfach
man aber die Dryanifation jener Würmer annehmen
—* ſo unvollkommen ſie uͤberhaupt in Vergleichung
andern Thieren ſeyn mögen; fo werden fie doch
Wi defto weniger Thiere feyn; und wer von einem _
Thiere redet, redet von einem organifi eten Ganzen,
aus einer regelmäßigen Verbindung ſehr verfchiedes
ner, fämtlich organifirter, und zu einem gemeinfchafts
fihen Zwecke zufammenftimmender Theile gebildet.
Wie koͤnte jedoch die bloße Bereinigung gewiſſer mo⸗
lecules par appofition unter den Theilen jene zahlrei⸗
chen und mannichfaltigen Beziehungen bewirken, aus
denen ein Thier hervorgeht?
Um die Misgeburten zu erklaͤren iſt Bons
- met nicht abgeneigt, präformirte Keime derfelben (des
ermes originairement monftrueux) anzunehmen, wies
Beh er fie doch nicht ausdrücklich behauptet, weil es
ihm noch an entfcheidenden Erfahrungsgränden fehle,
und fie auch von accidentellen Urfachen herruͤhren koͤnnen.
Mach diefer Digreffion über Bonner’s Hypor
theſen von den Principien der organificten Körper, nas
mentlich der thieriſchen Organiſation, kehre ich itzt
m
während di achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 273
zu feiner pfochologifchen Theorie zuruͤck, um noch eis
iger feiner intereffanteften Folgerungen aus derfelben:
zu erwaͤhnen. Dabin gehört zuvörderft feine mechanis
ſche Erklärung der Zdeenverbindung. - Alle Ideen
entſpringen aus den Sinnen; das Gedaͤchtniß ift uns
miircelbar mie dem Gehirne verbunden; die Erinne
sung hänge ab von den Determinationen, welche der
Eindruck der Objecte den Fibren des Gehirns miteheile,
und die an diefen haften; jede dee har im Gehirne
eine gewiſſe für fie geeignete Fiber, deren Spiel auch
die mie ihe verknüpfte dee in's Bewußtſeyn wieder
hervorruft. Jemand hat das Wort Oſtracis mus
behalten, ee erinnere ſich, daß es eine Verbannung’
eines Bürgers aus Arhen auf zehn Fahre bejeichne ,)
und dag diefe gemeiniglich die angefehenften Bürger
betraf. Das Bündel Fibren im Gehirne, das den
Worte Oftracismus angeeigner war, hat alfo die Des
teeminationen behalten, welche die Lefung jenes Wor⸗
tes ihm mirtheilte. Mit der Erinnerung an das Wort
muß auch die Erinnerung an die dee erwachen,, weil
fonft das Wort ohne Bedeutung feyn würde. Mit
der Idee der Verbannung hängen noch mehr andere
Ideen zufammen, 3.8. von Zeit, von Kummer
über das Eril. Auch diefe haften an gemiffen Fir
been, und fo wie die erfte Fiber, mit welcher die Idee
des Dftracismus verfnüpfe ift, erſchuͤttert wicd, theilt
fie die Erfchütterung den übrigen Fibren mit, fo daß
auch die mit diefen verfnüpften Ideen erweckt werden.
Aber warum erinnern wir uns bey einem Worte
nicht immer derfelben Ideen; fondern zumeilen auch
anderer, und einiger nicht? Dies. hängt von der zus
fälligen Verbindung der Fibren und ihrem Zuſtande
kin Öehicne ob, die ſich zu jeder Zeit und unter allen
Duhie's Geſch. d. Philoſ. VI. B. S Ums
274 Geſchichte der neuern Philoſophit
Unmſtaͤnden nicht gleich ſind. Zum Beweiſe feiner, Hyy⸗
potheſe berief ſich Bonnet auch darauf, daß eine
Senfation nicht bloß eine andere von derfelben Art
erweckt. Ein Ton z. B. erinnert an einen audern
Ton, eine Farbe an eine andere Farbe; hingegen bes
merken wir auch, daß ein Ton uns an eine Farbe ers
innere. Der Ton hängt au Fibren des Gehoͤrs; die
Farbe an Fibren des Geſichts; Die Fibren des Gehoͤrs
und Geſichts müffen alfo mir.einander in Communi—⸗
eation ſtehen. Dasſelbe Raiſonnement ‚läßt ſich auch
auf die uͤbrigen Sinne anwenden, und ſo folgt, daß
unter allen Fibren des Gehirns ‚eine Gemeinſchaft
ſtatt findet. Wenn mir uns alſo bey dem Worte
Ofracismus nicht der Wörter und Ideen Dims
fchel, Stimmen, Athenienfer, erinnern; ‘jo.
waren die Verbindungen der Fibren diefer Ideen mit
jenem Worte erlofchen, und darin Liegt der Grund
des Mangels der Erinnerung. Ben ber Mannichfals
tigkeit der Jdeenverbindung erfcheint bier die Structur
des Gehirns und die Thaͤtigkeit desfelben als fehr ber
wundernswäürdig.
Da das Gehirn überhaupt das Organ — ban⸗
keiten der Seele iſt, ſo muß auch der Sig derſelben ir⸗
gend ein Theil des Gehirns ſeyn, ‚welcher - die Eins
drücke aller. Sinne vereinigt, und. mittelft deſſen die
Seele auf alle übrige Theile des Körpers wirkt ober
zu wirken ſcheint. Die Einwirkung det Objecte ift
niche bloß auf die äußern Sinne befchränft; fondern
fie erſtreckt fih auch auf die Derven,. welche ihre vers
fehiedenen Impreſhonen in's Gehirn fortpflanzen. Dies.
jenigen, welche nach dem Verluſte der Hand doch noch
ihre Finger. empfinden, beweiſen zut Genuͤge, daß der
Sitz der Empfindung. nicht da war, WO: eh; nn
\ .
wihrend dachtzJahrhund. 6, auf Kant. 275
ſchien. Die Seele alſo empfindet nicht ihre Finger
in den Fingern ſeibſt; fie. iſt in den Fingern eben ſo
wenig, wie ſie in den Außern Sinnen tft. Ueber den
änneen Bau. des Gehirns find wir fehe wenig unters
xichtetz wir benierlen, daß die Merven aller Sinne
in demſelben zufammenlaufen; aber indem wir ihren
auf verfolgen wollen, entwifchen fie uns, und wie
werden auf Muchmäßungen befchränft. Auf eine_ges
naue Angabe des Theils des Gehirns, melcher den
Sitz der Seele ausmacht, müffen wir dennach Vers
zicht thun. Bonner führe mehrere Mepnungen der
berübmteften Anatomen an, ohne ſich für eine zu ent⸗
ſcheiden. So wenig inzwifchen das ganze Auge der
Sitz des Geſichts iſt; ſo wenig fann das ganze Ges
bien der Sig der Seele ſeyn. Am wahrfcheinlichften
iſt dem B. die Meynung Lorry's, daß das verläns
gerte Hirnmark-der Sig der Seele fy. Man mag
indeſſen annehmen welchen Theil des Gehirns man will
zum naͤchſten und unmittelbaren Organe der Seele;
ſo kann diefer Theil der innere Sinn genannt wers
den. Er ift der Jubegriff aller Sinne, weil er. fie
alle mit einander vereinigt. Alle Nerven mäffen ſich
auch in dieſen innern Sinn verlieren. Er iſt daher die
Nevrologie in Miniatur. hr 2
Die Wörter find Zeichen unferer Ideen, und
die Ideen haften an gewiffen Determinationen der Ger
hienfibren, die wiederum Zeichen der geiftigen Ideen
find. Man kann alfo in dem Sitze der Seele ein dops
‚ peltes repräfentatives Syſtem der Zeichen der Ideen
annehmen.
Auch mit der Moral har Bonner feine Theos
tie von. der Ideenaſſociation in Verknuͤpfung gebracht.
Die Moral. par zum Zwecke, dep WB ihken <pinceis
ni 62 hend
276 Gefchichte der neuern Philoſophie
hend flarke Motive zu gewähren, um ihn flets zum _
wahren Guten hinzulenken. Diefe Motive find ims
- mer Ideen, welche die Moral dem Verſtande darbie⸗
ter, und diefe Ideen haben immer ipren Gig in ge
wiffen Fibren des Gehirns. Die Moral macht alfo
die befte Wahf unter diefen Ideen, fie verbinde und
verkettet fie in der directeften Beziehung zu ihrem Zwek⸗
fe. Je mehr die Eindrücke auf die den mocalifchen
Ideen angeeigneten Fibren Kraft haben, je dauerhafs
ger und harmonifcher fie find, defto mehr Einfluß hat
auch das Spiel diefer Fibren auf die Seele. : Ein als
gemeiner Begriff faßt eine Menge befonderer unter fich,
Der allgemeine Begriff muß alfo im Gehirne an ein
Haupebündel (failceau principal) gehefter feyn, wels
ches einer Menge kleiner Bündel und Fibten correfpons
Diet, welche jener auf einmal oder faft auf einmal ers
ſchuͤttert. Es find gleichfam eben fo viel kleine Kräfs
te, die fich vereinigen, um einen allgemeinen Effect
heroörzubringen, und das moralifche Reſultat dieſes
phnfiichen Effects ift eine gewiſſe Determination des
Willens.
Der Gegenftand einer Seidenfchaft würde nicht ei⸗
ne fo große Gewalt haben, wenn er allein wirkte; aber
er ift mie einer Menge anderer Gegenftände verfettet, -
deren Ideen er erweckt, und von der Auferweckung
diefer aſſociirten Ideen bekomt er feine vornehmſte Staͤr⸗
ke. Das Gold iſt z. B. der unmittelbare Gegenſtand
der Leidenſchaft des Geizigen; aber der Geizige haͤuft
nur Gold, des Vergnuͤgens wegen, es aufgehaͤuft zu,
haben. Das Metall repräfentire ihm den Werth der
Güter, von weichem es ein Zeichen if. Gegenwaͤr⸗
tig genieße er diefen Werth nicht; aber er nimt jich im:
mer vor, ihn zu genießen, und genieße ihn — der
- der.
\
wahrend: d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, | 277
Idee. : Er mache von feinem Golde in der Einbildung
mannichfaltigen Gebrauh, nach feinem Geſchmacke
und feiner Eitelkeit. Befonders vergißt er nicht, fich
im Stillen mit denen zu vergleichen, die feinen Meichs
thum befißen. Dadurch entfieht in feiner Seele die
Vorſtellung einer gewiffen Unabhängigkeit, und der
Guperiorität, die ibm um fo mehr fchmeichele, je
weniger fein Aeußeres dergleichen ausdrückt Die
Idee des Goldes hafter alfo im Gehirne des Geizigen
an einem Hauptbündel von Fibren, und diefes Büns
del ifi wieder mit einer Menge anderer verknuͤpft, die
zugleich erjchürtert werden , fobald jenes erſchuͤttert
wird. An’ den affociirten Fibrenbündeln haften z. B.
die Ideen von Häufern, Equipagen, Würden, von
Credit u..dgl., und wie viel untergeordnete Fibrenbüns
del hängen wiederum allein mit der Jdee Credit zus
fammen! Könte die Moral ſtatt der Idee des Gols
des die dee der Freygebigkeit und Wohlthaͤtigkeit zur
herrſchenden machen; koͤnte fie an die legtere lebhafte
Ideen des Vergnuͤgens knuͤpfen, das die Wohlchätigs
keit gewährt; koͤnte fie fo die Reihe der verkfetteren
Ideen bis zur Idee des Hauptzwecks der Gluͤckſelig⸗
keit führen; . fo würde fie den Geizigen in einen freys
gebigen oder wohlthaͤtigen Menfchen verwandeln, Dies
jenige Fähigkeit, welche die Ideen, oder die Bilder
der Gegenftände, behält und verbinder,, die fie aus
‚ Ährem: eigenen innern Vorrathe reprobueirt, ordnet,
verbindet, modificirt, träge den Namen der Einbil:
dungskraft. Cs ift einleuchtend, daß diefe Faͤhig⸗
keit über Alles im menfchlichen Leben enıfcheidet. Das
große Geheimniß der Moral dürfte alfo darin beftes
ben, fich gefchickt der Einbildungskraft felbft zu bes
dienen, um den Willen defio ficherer zu bem wahren
Guten zu richten. |
63 Auch
278 Geſchichte der neuern Philoſophie
Auch über. den Zuftand der lebenden Weſen vor
und nach dem gegenwärtigen bat Bonner philofos
phirt, und dies macht den Inhalt feines Werks unter
dem Titel: Palingenefie aus. Da er niche bloß den
Menfchen, fondern auch allen Thieren ohne [Untere
fchied eine Seele beylegt; fo Eonte er die Frage nicht
umgehen: inwiefern die Seelen der Thiere präeriflire
baden, und wie ipre Eriftenz nach dem Tode des Koͤr⸗
pers feyu werde? — Man bat oft die Unſterblichkeit
der Thierfeelen geleugnet, weil es fehien, daß die Ber
bauptung derfelben fich nicht mit der Lehre von der Un⸗
fterblichFeie der menfehlichen Seelen vertrage, vollends
nicht, fo wie fie:duech die pofitive Religion beſtimt
wird. Bonner verlange, daß man hiee die pofitis
ve Religion gar nicht einmifchen folle, da fie dr Spe#
eufation über dieſen Punkt gang freyen Spielraum
laͤßt; und fo ſcheint es ihm nicht unglaublidy, "daß!
auch den Thieren ein Fünftiger Zuftand nach dem ges
genwärtigen Leben bevorſtehe. Zwiſchen der Organi⸗
ſation der groͤßern Thiere und der menſchlichen iſt die
größte und auffallendſte Aehnlichkeit. Warum ſollte
ſich aber dieſe Aehnlichkeit gerade nur auf das eins
ſchraͤnken, was mir kennen? Bevor cs eine vergleis
chende Anatomie gab, ante man viele Theile und Eis
genfchaften nihe, welche Mienfchen und Thieren ges
mein find; und fie waren es doch wirklich. Unter
Diefen Aehnlichkeiten fönten fich alfo auch! wohl ſolche
finden, die aufeinen kuͤnftigen Zuſtand ber Menſchen
und Thiere Beziehung hätten.
Man- darf doch wohl annehmen, daß der a
Sig der Seele dey dem Thiere ohngefaͤhr Diefelbe Be⸗
ſchaffenheit habe, wie der Sitz der imenfchlichen, und“
A deſer einzigen Voraueſetzung iſt das —*
c u
während d. achtz. Jahrhund. b.auf Nant. 279
Fundament zur Hypotheſe eines kuͤnftigen Zuſtandes
der Thiere gegeben. Jener kleine organiſche Koͤrper,
weichen die Seele einnimt, iſt ungerfiörbar, und er
wird die Perfönlichkeit des Thiers erhalten, während
der gröbere zerfiöebare Körper desfelben anfgelöft wird.
Eben diefer Fleine organifche Körper fann eine Menge
Drgane in ſich begreifen, die nieht beftimt waren, fich
in dem gegenwärtigen "Zuftande auf unſerm Globus
gu entwickeln; die fih aber wohl einmal entwickeln
Fönnen, fobald diefer Die Revolution erfahren haben
" wird, wozu er beſtimt zu feyn feheint, Der Urheber
Der Natur fchafft eben fo im Kleinen, wie im Gras
‚Benz; oder vielmehr der Unterfchied des Großen und
Steinen ift niches für ipn. Unſere Erde’ fcheint ſchon
mauche Revolutionen erlitten zu haben, die noch ders
jenigen vorhergiengen,, welche Mofes als die Schöps
fungsgeſchichte erzaͤhlt, und von denen vielleicht die
Bewohner der benachbarten Weltförper einige Kent⸗
miß haben. . So koͤnnen auch itzt neue Revolutionen
vorbereitet werden, Die für uns in den Tiefen dee Zur
Eunft verborgen: find.
Michts beweift mehr das Dafeyn einer hoͤchſten
Jutelligenz, als jene fo zahlreichen, mannichfaltigen
umd unzertrennlichen Beziehungen, wodurch alle Theis
le der Erde fo innig mie einander verbundar: find, daß
ſie zuſammen nur Eine große Mafchine ausmachen;
aber dieſe Maſchine iſt doch felbft nichts weiter als
ein Bleines Rad in der unermeßlichenMafchine des
Univerfum’s. Vermoͤge diefer Beziehungen , : welche
alle Produete unferer Erde mit einander und mit der
Erde felbft verketten, hat ınan -Urfache zu glauben,
Das audy das organifche Syſtem, auf welchen alle aus
dere Syſteme, wie auf m Endzweck, fich beziehen,
ku iu Ä 4 ur:
14
280 Gelchichte der neuern Philoſophhie
urſpruͤnglich auf jene Verhaͤltniſſe berechnet ſey. Der
kleine organiſche Koͤrper demnach, welcher als der Sig
‚der Thierfeele augenommien wird, kann. vom Anbegins
me. der gegenwärtigen Schöpfung: zum voraus in einer
heftimten- Beziehung zur der neuen: Revolution. angeord⸗
met “(on welche: usſere Toon fahren. foll sr
Bannıı 54 deß diefer. ——— Körner
aus einem; ächeriichen Stoffe. gebilder fen, welche
nicht durch Feuer zerſtoͤrt werden. koͤnne. Ehen: die
verfchiedenen Verwandlungen, melche:die groͤhere thie⸗
zifche Huͤlle desſelben durchgeht, bevor ſie zu dem
Punete ber Vollendung: komt, den fie in dem gegen⸗
waͤrtigen Leben, erreicht; : gewähren auch die. Analagie
für ähnliche Verwandlungen: in; einem. kuͤnftigen Zus
flande, Gegenwärtig hänge bie: Vollkommenheit ei⸗
nes Thiers von der Zahl und Schärfe feiner Sinne ab.
Se größer die Zahl der Sinne und. die Feinheit derfelr
ben iſt, deſto mehr iſt es Thier. Durch die «Sinne
komt das Thier, wie der Menſch, mit. der Natur in
Verbindung; durch jene erhaͤlt es ſich, pfianzt es ſich
fort, und genieße ſein volles Daſeyn. Dach der Zahl
der Sinne richtet ſich die Zahl der Qualitaͤten, die
für ein Thier empfindbar find; nach der Feinheit der
SEinne richtet. fich die Lebhaftigkeit, Voliſtaͤndigkeit
und Dauer der Eindruͤcke. Die Gottheit kann in den
ung organifchen, Koͤrper, den Sig der. Seele, ‚neue
d ‚feinere Sinne, und Diefen -entfprechende ‚anders
— Gliedmaßen gelegt haben, die für einen kuͤnf⸗
eigen Zuſtaud unjerer Erbe paſſen/ und. fich erfi in’
Diefem enswickeln. : Niemand kann leugnen, daß das
Thier ein. perfeceibles Wefen iſt, und dag der Grab
der Perfectibiticäe in’s Unendliche fleigen kann. ; Man
E vebe einem — bes aus Einen Sinn a be
btis
—
waͤhrend d. achtz. Jahrhund, b. auf Kant, 2611
uͤbrigen Sinne, und die denſelben angemeſſenen Glied⸗
maßen; wie ſehr wird es an Vollkommenheit gewin⸗
nen! Es giebt gar keine philoſophiſche Gruͤnde, die
uns noͤthigten, zu glauben, daß der Tod auch das
Ende der Dauer des Thiers ſey. Warum ſollte ein
perfectibles Weſen für immer vernichtet werden, da
es doch ein Princip der Perfectibilicäe in fich hat, defs
fen Grenzen unbeftimbar find? Unabhängig von dem
Eleinen organifchen Körper betrachtet, welcher der Gig
der Seele fenn fol, ift dieſe Seele felbft, die wir doch
den Thieren beylegen, durch ihre Immaterialitaͤt von
aller Einwirkung der Urfachen frey, welche die Zers
flörung des gröbern Körpers nach fich ziehen. Zue
Vernichtung derfelben waͤre der pofitive Wille des
Scöpfers erfoderlih; wir haben aber in der uners
meßlichen Güte desfelben nur Motive, daß Er die Sew
im erhalten werde.
Sofmn. inzwifchen jede Seele eines organifirten
Körpers bedarf, um ihre Functionen fortzufeßen, fins
dee Bonner wahrfcheinlicher, daß diefer Körper
fchon im Kleinen in dem Thiere exiſtirt, als dag ihn
Gott von neuem jedesmal fehaffen werde. Er nimt
bier feine Einſchachteluugshypotheſe zu Huͤlfe. In
einem kuͤnftigen Zuſtande werden bie Thiere nicht dies
felbe Form, denſelben Bau, diefelben Theile, diefels
be Größe haben, welche wir ige an ihnen wahrneh⸗
men. Sie werben alsdenn: von ihrer dermaligen Ber
fhaffenheit eben fo verfchieden feyn, als der Lünftige
Zuftand unferer Erde von dem dermaligen verfchieden
fegn wird. Waͤre es ung vergönne, in jenes neue
Scaufpiel von Metamorppofen einen Blick zu thun;
wie würden feine der Thierarten wieder erkennen, mit
denen: wie ihzt am u find. Wir ae
Ä I. eine
282 Gefchichte der neuern Philoſophie
eine ganz neue Welt entdecken, wovon wir uns ißt
gar feine Vorftellung zu machen vermögen. Der neue
Körper, welchen die Thiere im Pünftigen Zuftande ans
neben werden, wird obne Zweifel die Reparationen
nicht bedürfen, Die der gegeriwärtige'nötbig hat. Sein
Mechanismus wird über denjenigen noch weit erhaben
ſeyn, welchen wir ſchon ige fo fehr bewundern. Es
{ft nicht wahrſcheinlich, daß die Thiere fich im fünfs
tigen Zuftande begarten und fortpflanzen; aber wenn
es geſchehen follte, fo müfjen die Prineipien der Korte
pflanzung auch ſchon in dem Pleinen Atherifchen Koͤr⸗
per enthalten ſeyn. Es ſcheint jedech, daß gemifchte
zu diefer Are von Unfterblichkeie beſtimte Weſen ſich
nicht mehr fortpflanzen dürfen, machdem fie wirklich
dazu aelangt find. Die verfchiedenen Arten der Forts
pflanzung, die wir fennen, und die zu dem gegems
wärtigen Zuftande unferer Erde gehören, fcheinen viel⸗
mehr zum Hauptzwecke zu haben, den Gattungen eine
Unfterblichkeie zu verfchaffen, deren die Individuen
nicht theilhaft werden koͤnnen.
Im kuͤnftigen Zuſtande duͤrfte auch vielleicht die
gegenwaͤrtige große Verſchiedenheit der Thiere von den
enſchen in Anſehung der geiſtigen Eigenſchaften weg⸗
fallen, oder doch ſehr vermindert und geaͤndert wer⸗
den. Das menſchliche Gehirn zeichnet ſich durch die
größere Vollkommenheit feiner Structur vor dem thle⸗
rifchen aus, ‚und daraus ift die Ueberlegenheit der Ver⸗
nunft über den Inſtinct zu erklären. Selbſt das hös
bere. philoſophiſche Talent einzelnee Menfchen fegt eis
ne relativ vollkomnere Organifation ihres Gehirns
voraus. Helvetius har viel zu einfeltig geurtheilt,
wenn er die Vorzüge des Menfchen vor den Tieren
bloß. auf den Bünftlichen Ban der äußern: Gliedmaßen
ev. ! jenes,
während». acht. Jahrhund b. af: Hank? 283°
jenes, 3.8. die Finger und Zehen, gründete. Was
aber in diefem Leben dem Gehitne der Thiere an Boll
Pommienheit abgeht, dazu kann die Anlage in dem
kleinen ätherifchen Körper, dem Sitze der Seele, ents
‚halten ſeyn, der ein fehr zufammengefeßtes organifches
Syſtem begreifen kann, demjenigen analog, welchen
der Menſch hienieden feine Erhebung über alle Thiere
verdankt.
Nicht nur die Sinne des Thiers, welche es biss
ber hatte, können vervollkomnert werden; es kann auch
neue Sinne, und mit :denfelben neue Principieh des
Lebens und der Thaͤtigkeit empfangen. Die: Metem⸗
pſychoſe fcheine dem Bonnet eine fehr unpbilofoppi?
fehe Hypotheſe zu feyn. Und warum? Das Ges
daͤchtniß hat ſeinen Sitz im Körper, und gebe mit
dem Koͤrper verloren. Faͤnde eine bloße Wanderung
der Thierſeelen aus einem Koͤrper in den andern ſtatt;
ſo wuͤrde das Thier niemals eine Erinnerung an jeig
nen vorherigen Zuſtand haben. Dieſe will jedoch
Bonner: den Thieren im kuͤnftigen Zuſtande beyi
gen. Denn die Verbindung, welde das aungerflöns
bare Seelenorgan mit dem vergaͤnglichen Koͤrper un⸗
terhielt, ſichert dem Thiere die Erhaltung feiner. pers
ſoͤnlichen Identitaͤt; die Erinnerung des vergangenen
Zuſtandes wird dieſen mie dem kuͤnftigen verknuͤpfen,
und die Vergleichung beyder wird ein Gefuͤhl des Zu⸗
wachſes an Gluͤckſeligkeit erzeugen, und zur Erhöhung
dieſer Gluͤckſeligkeit ſelbſt beytragen. Auch iſt die
Metempſychoſe unvertraͤglich mit der Praͤexiſtenz der
Seelen: in, den organiſirten Keimen. Offenbar vers
warf Bonner die Metempſychoſe als eine unphilo⸗
fopbifche Hypotheſe, um auderer noch unpbilofophis
ſcherer Hypotheſen von ſeiner eigenen Erfindung willen⸗
Zn Unter
284 Geſchichte der neuern Philoſophie
— Unter den lebenden Weſen, vom Mooſe und
dem Polypen bis zur Ceder und dem Menſchen, herrſcht
wine bemundernsmürdige Stufenfolge, die in. dem Mar
turgeſetze der Stetigkeit ihren metaphyſiſchen Grund
hat, Eben diefe. Drogrefjion wird ohue Zweifel auch
in dem kuͤnftigen Zuftande unferer Erde flatt haben;
aber fie wird fich nach anderen Proportionen richten,
die durch den Grad der Perfeeribilicht jeder Gattung
beftime ſeyn werben. Der Menfh, alsdenn in eis
sien andern Aufenthaltsort verſetzt, der der größern
Vortreſflichkeit feiner Fähigkeiten angemeffen iſt, wird
dem Affen oder dem Elephanten den erſten Rang übers
laſſen/ welchen er bisher unter den Thieren unfers
Planeren hatte. Bey: diefee allgemeinen Erhebung
der Thiere koͤnten ſich alsdenn unten den Affen oder
Elephanten Mewtone und Leibnize, unter dem
Bibern Perrault's und Vaubau's finden, Die
niederen Thiergattungen, wie die Auſtern, die Poly⸗
pen, werden für die: höheren in dieſer neuen Hierar⸗
&ie ſeyn, was die Vögel und vierfüßigen Thiere dem
Menſchen in der gegenwärtigen ſind. Vielleicht wird
noch ein befländiges nur mehr oder weniger Tangfames
Fortſchreiten aller organifchen Gattungen zu einer Höher
ren Vollkommenheit feyn; fo daß alle Stufen der Leiter
der Geſchoͤpfe fich nach einer feften Degel immer vers
ändern; : oder die Veränderlichkeit jeder Stufe‘ wird
Immer ihren Grund in der: Veränderlichfeit derjenigen
haben, welche unmittelbar vorher gegangen iſt.
Auch feiner Einfchachtelungsppporhefe fuchte Bo us
wer durch die Palingenefie eine neue Stüge zu vers
ſchaffen/ die inzwifchen eben fo ſchwach und gebrechs
Uich war, wie alle uͤbrigen, deren er fih in der Ab⸗
ſicht bedlente. Wenn alle organifirte Weſen ———
| während: d. acht. Jahrhund. 6. auf Kant 285
lich präformire waren, Pönte man fragen, mas wird
denn aus den Milliarden von Keimen, die in dem ges
genwärtigen Zuftande unfrer Welt nicht zur Entwickes
lung fommen, und die gleichwohl mit einer mendli—
Ken Kunſt organifire find, fo daß ihnen nichte feble,
um ihres vollen Daſeyns zu genießen, als befruche
tet, oder auch nur erhalten zu werden, nachdem fie
einmal erzeugte waren? Bonnet antwortet: Jeder
‚Keim ſchließt einen andern unvergänglichen Keim
(germe imperiflable) in fich , der ſich erft in dem kuͤnf⸗
tigen Zuſtande unſers Planeten entwickeln wird. Nichts
gehe in den unermeßlichen Vorrathshaͤuſern der Nas
tur verloren; alles wird hier angewandte, und hat feis
ne möglich befle Beitimmung.
Man koͤnte weiter fragen: Was wird aus beim
unvergänglichen Keime, wenn das Thier ftirbe und
der gröbere Körper in Staub zerfaͤllt? Auch auf dies
fe Frage zu antworten, ift niche ſchwer. Unzerſtoͤr⸗
bare Keime koͤnnen in alle befondre Körper zerſtreut
werden, die uns umgeben. Sie koͤnnen in dieſem
oder jenem Körper ſich aufbalten Bis zum Momente ſei⸗
ner Auflöfung, hernach ohne die geringfle Alteration
in einen andern Körper übergeben, aus diefem in eis
nen dritten u. w. Es laͤßt fich mit der größten Leiche J
tigkeit begreifen, tie der Keim eines Elephanten ans
fangs in einem Pünctchen Erde wohnen, aus dieſem
in eine Frucht übergehen, dann in den Schenkel einer
Eleppantin u. w. Ilne faut pas, feßt Bonner pins
zu, que l’Imagination, qui veut tout peindre et tout
palper, entreprenne de juger des chofes, qui font
uniquement du reflort de la Raifon, et qui ne peu-
veot-Etre appergues, que par un oeil: philofophique.
Jene Keime trogen dem Einfluſſe aller Elemente —
aller
236 Geſchichte der neuern Philefonhie 3".
alter Jahrhunderte, und gelangen endlich. in den Zw
ſtand der Vollkommenheit, zu welchem ſie durch die
Alefe Weisheit praͤdeſtinirt waren, die das Vergan—
gene mit dem Gegenwaͤrtigen, das Gegenwaͤrtige mit
dem Kuͤnſtigen, das Kuͤnftige mit der Ewigkeit ver⸗
einbart. Zwifchen den Thieren, die nicht unter der
gegenwärtigen Oekonomie unſerer Welt gebohren ſeyn
werden, und denen von derſelben Gattung, welche
darin gelebt haben, wird ame der Unterſchied ſeyn; Daß
die erflern fo zu ſagen wie tabulae ralae in der. Fünftis
gen Dekonomie werden gebohten werden. Da ihre Ges
bien Leine Eindrücke der äußern Dbjecte bar aufneh⸗
men koͤnnen, fo kann es auch der Seele feine Erinnes
zung an Gegenftände darftellen. Es kann feinen ges
genwaͤrtigen Zuftand wicht ‚mit einem vergangenen vers
gleichen ,; der gar nicht für dasſelbe exiſtirt haben wird.
Es wird folglich auch nicht das Gefühl des Zuwach⸗
fes von Gluͤckſeligkeit haben, das aus dieſer Verglei⸗
chung entſpringt. Aber jene tabula raſa wird ſich bald
in ein reiches Gemählde verwandeln, das eine Menge
verfchiedener Objecte mit Präcifion darfiellen wird,
Kaum wird das Thier zum Leben gelangt feyn, ſo wers
den fich feine Sinne einer unendlichen Zahl von Eins
drücken öffnen, deren Lebhaftigkeit und Mannichfals
tigkeit umaufpörlich feine. angenehmen Enpfindungen
erhößen und vermehren, und alle feine Faͤhigkeiten in
Wirkfamfeit fegen wird.
Bonner wendet die Hypotheſe vonder Palins
geneſie auch auf die Pflanzen an. Die Tpiere has:
. "ben mit den Pflanzen fo viel gemeinfchaftliche Züge,
daß beyde faft zu Einer: Elaffe organifirter Weſen zu,
gehören fcheinen. Es iſt aͤußerſt fehwer, dan Chas,
rakter genau zu beſtimmen, ‚ber das Pflanzenreich er
ns | Ä em
⸗
—
waͤhrend d.· as Jahrhund. b. auf, Kant, 2
dem thieriſchen unterſcheidet. In der Empfindung
annm dieſer Charakter nicht liegen; . denn jene ſcheint
auch den Pflanen nicht fehlechtpin abgefprochen. werden
zu fönnen. Zum mindeften ift die Empfindlichkeit ‚bey
ihnen möglich, und wenn fie das ift, fo kann fie ſich in
einen andern: Zuftande noch wieder entwickeln und vers
vollkomnen. Dieſe Entwicelung koͤnte fehon bewirkt
werben durch die größere Vervollkomnung der, Des
gone, und durch die Hinzukunſt neuer Otgane. Hat
aber, die. Pflanze Empfindung, ſo hat ſie auch eine
Seele als, Prineip derſelben; denn die Empfindung
kann nicht eine Wirkung der bloßen Drganifation feyus
Die Pflanze wäre alfo auch rin gemifchtes Weſen, wie
die Thiere und Menjchen. Der Pflanze müßte auch
Thaͤtigkeit zukommen; dena mit. dem Empfinden
iſt auch das Wahrnehmen des Ungenehmen und Uns
angenehmen verbunden, und dieſer Wahrnehmung
müfen gewiffe Handlungen entfprechenz die Pflanze
- muß nach. dem Angenehmen fireben, und das Unan—⸗
genehme zu.vermeiden fuchen. So mie, aber die Em⸗
pfindlichkeit der, Pflanze überhaupt. fepe ſchwach if,
werden. es auch ihre angenehmen oder unangenehmen
Empfindungen „und ipre diefen correfpondicenden Thaͤ⸗
Karel feyn...
‚Der Siß der See in der Pflanze kann fein j’
Gegenftand der Forſchung ſeyn, da fich Fein Mittel
darbieter, ihn. zu entdecken. Die Anatomie der Pflans
zen iſt noch hoͤchſt mangelhaft. Mau kann leichter
die äußeren Formen der. Pflanzen. und Thiere verglei⸗
chen, als die innere Struetur beyder; und. das ns
nere ‚der Pflanze Täße ſich boch immer noch eher. jers
gliedern und unterſuchen, als das Innere der Thiere.
Wenn alfo.die Pflanze eine Seele hat, fo kann man
un — nur
288 Gefhiähte dei neuern Philoſohhie
nur uͤberhaupt ſagen, daß der Sitz bdiefer relativ zur .
befonderen Natur eines gemifchten Wefens feyn muͤſſe.
Wie aber auch dieſer Sig befchaffen feyn möge, er
muß einen unvergänglichen Keim enthalten, der das
Weſen der Pflanze bewahrt, und diefes die Zerftörung
des fichtbaren Körpers überleben läßt, welcher gegens
waͤrtig allein die Wißbegierde der Botaniſten befchäff:
tige. Jener Keim kann denn wiederum, wie der uns
vergaͤngliche Keim des Thiers, die Elemente neuer
Drgane in fich faffen, wodurch in einem fünftigen Zus
ftande unferer Erde die Fähigkeiten der Pflanze weiter
entwickelt und veredelt werden.
Auf was für eine Stufe der Animalitaͤt die Pflan⸗
ze dadurch erhoben werden wird, laͤßt fich nicht bes
flimmen; aber auf'jeden Fall wird fie einen beträcht⸗
lihen Zuwachs an Schönheit im organifchen Reiche
gewinnen. Die Pflanze ift inzwifchen nach einem ganz
andern Typus geforme, als der thierifche Körper:
Die Thiere machen organifche Ganze verfchiedener
Theile aus, welche Theile aber nicht wieder Tiere find,
und jenes Ganze nicht wieder bervorbringen koͤnnen
Ein Baum ift nur Ein Ganzes in einem metaphyſi⸗
ſchen Sinne. In der Wirklichkeit ift er aus eben
fo viel Bäumen und Bäumchen zufammengefegt, als
er Hefte und Zweige bat. Diefe Zweige werden einer
Durch den andern ernährt; und hängen fo mit dem
Hauptbaume durch unendlich viele Communicationen
jufammen. Jeder Zweig bat fein eigenshämliches &es
ben, und feine eigenthuͤmlichen Drgane;. er ift ſelbſt
ein kleines individuelles Ganzes, das mehr oder wer
niger verjünge das große Ganze darftelft, von welchem
es einen Theil ausmacht. ‘Die Uebereinftimmung’ifk
bier genauer ,. als.man es ſich vorfiellen ſollte. Micht
nur
während d. achtz. Jahrhund. 5. auf Kant. 289
nur jeder Zweig, fondern fogar jedes Blait, ift .fo
fehr ein Baum im Kleinen, daß abgetrennt von dem
großen Baume und mit gewiſſer Vorficht in die Erde
gepflanze, der Theil durch: fich ſelbſt vegetirt, und
neue Productionen hervorbringt. Denn die weſent⸗
lichen: tebensorgane find in dem ganzen Körper der
Pflanze vertheilt. Eben diefelben, welcheder Stamm
eines Baumes enthält, finden ſich in allen Zweigen
und Blättern des Baumes wieder. Der Baum iſt
alfo ein viel fonderbareres organifches Product, ale
man fich gewöhnlich vorſtellt. Er ift ein Inbegriff
organifcher einander untergeordneter Producte, die auf’s
innigſte mit einander verbunden find, alle an einem
gemeinfchaftlichen Leben und Beduͤrfniſſe Theil nehmen,
und deren doch jedes fein eigenes Leben, Beduͤrfniß,
und ſeine eigenen Functionen hat.
- Ein Baum. ift alfo gleichfam eine Art von orgas
nifcher Societät, deren Jndividuen zum gemeinen Wohs
le derfeiben arbeiten, indem fie zugleich für ihr Preis
vorwohl ſorgen. ZA num dee Baum mie einem ges
wifjen Grade von Empfindung begabt; fo muß jeber
Meine Baum, woraus er zufammengefeßt ift, den⸗
ſelben ebenfalls haben, wie er fein eigenthuͤmliches
geben und Bedürfniß hat. Es wird demnach in jes
dem Pleinen Baume einen Siß der Empfindung ‚geben,
und: diefer wird einen unvergänglichen Keim in ſich
fehliegen, der beſtimt ift, das Weſen des Vegetals
zu bewahren, und es einſt unter einer neuen Form
wiederherzuſtellen. Nun iſt möglich, daß der kuͤnf⸗
tige Zuſtand unſers Globus nicht wieder die Vereini⸗
gung mehrer individueller Ganzen in einen organiſchen
Inbegriff mit fih bringt, und daß jedes diefer Gans
zen_ berufen ift, alsdenn beſonders zu eriftiren, und
Buͤbhle's Geſch.d. philoſ. VID. T Fune⸗
290 Gefihichte der neuern Philoſophie
Functionen anderer Art, edler als die bisherigen, zu
außer. Da aber die Faͤhigkeit, ſich von ber Stelle
zu bewegen (facultas loco motiva), gar ſehr zur Volks
kommenheit organifirser und empfindender Weſen ge
höre; fo läße ſich vermuthen, Daß Die Pflanze ebens
falls in ihrem neuen Zuftande fi von einem Orte zum
andern ihren Trieben gemäß werde bewegen, und mit
Huͤlfe iprer neuen Organe fich auf eine Art äußern koͤn⸗
nen, von der wir uns ißt gar. keine Vorſtellung zu
machen im Stande find. | dee 2
> Die Unterfuchung der Pflanzen und ihrer fpecis
fifchen, Verfchiedenpeit von den Thieren führt Bonnet
auf die Polypen als eine Mittelgattung zwifchen
heyden. Zwiſchen der Thierpflange (arbre ani«
mal) und der eigentlihen Pflanze (arbre vn
getal) ift der weſentliche Unterſchied, daß in der letz⸗
ten die. Zweige und Aeſte niemals den Stamm vers -
laſſen; anftatt daß in der erfien die Zweige fich. felbft
von ihrem Stamme, (dem Mutterpoigpen) trennen,
beſonders leben, und neue Vegetationen der erfteren
ähnlich hervorbringen. Die Kunft fann den Polys
pen zu einer Hyder mit mehr Köpfen und Schwaͤnzen
machen, und wenn man diefe abpaut, werden eben fo.
viel vollfomne neue Polypen ſich daraus bilden. Ju
der Matur ereignet es ſich nur zufällig bey dem Poly⸗
pen, daß er fich felbft in mehr Stücke theilt. Aber
es giebt zahlreiche Familien ſehr Eleiner Polypen, die
Blumenfträuße bilden, und fih von felbft in mehr
Stücke theilen. Jede Polypenbiume Bilder fi aus,
nime die Form einer Olive an, und theilt fich der Läns
ge nach in zwey Eleinere Oliven, die hernach Blumen
eutwickeln. Andere Arten ſehr Eleiner. Polypen thei⸗
ten ſich noch auf, eine andere Weiſe. Bar
F | ; | | Kenn
während b. acht}. Jahrhund. b. auf Kant. 291
Wenn ſich nun ſchon nicht beweiſen laͤßt, daß
es den Pflanzen an aller Empfindung fehle; ſo laͤßt
ſich dies noch viel weniger von den Polypen beweiſen.
Alte find ſehr gefräßig, und der Modus, mie fie ihre
Beute fangen: und verzehren, kann nur wahren Thies
-zen Zufommen, Haben die Polypen Empfindungen,
fo haben fie eine Seele, und diefe muß von der Ent⸗
- fteßung jedes Polnpen an in dem Keime wohnen, aus
welchem der Körper des kleinen Thiers feinen Urſprung
nimt. Wo der Sitz der Polypenfeele ift, laͤßt ſich
wiederum nicht beſtimmen; aber die Seele muß doch
alle die verſchiedenen Eindruͤcke empfangen, die auf
die verſchiedenen Punete des Körpers gemacht werden,
mit welchem fie vereinigt iſt. Wie koͤnte fie fonft fuͤr
die Erhaltung ihres Körpers forgen? Es muß alfo
in dem Körper des Polypen ein Organ geben, das
mit allen Theilen desfelben in Verbindung ſteht, und
mittelſt deſſen die Seele auf alle dieſe Theile einwirken
kann. Wie auch der Ort und die Structur dieſes Or—
gans ſeyn moͤgen; ſo kann es ein anderes enthalten,
welches ſich als der wahre Sitz der Seele betrachten
laͤßt, und das Werkzeug der kuͤnftigen Regeneration
ſeyn wird, wodurch der Polyp zu dem Grade der
Vollkommenheit fich erhebt, der bey dem gegenmwärtis
gen Zuftande der Dinge nicht. möglich war.
Wie Bonner feinen pbilofophifchen Traͤumen
über den Zuftand der. menfchlichen und ehierifchen See—
len nad) dem igigen Leben, wozu ihm feine naturhi—
ſtoriſchen Hypotheſen Beranlaffung gaben, nachhieng;
ſo ſtellte er auch aͤhnliche Muthmaßungen uͤber ihren
Zuſtand vor dem gegenwärtigen auf. Die Revolu—
tion unferer Erde, welche vorm Mofes als urfprüngs
liche Schöpfung derfelben vorgefielle wird, war un⸗
—F 7 2 ſtrei⸗
292 Gefchichte der neuern Philofophie
ftreitig nicht die erfte, welche die Erde erfuhr; fie ift
nur die erſte, deren die Gefchichte erwähnt. Mofes
befchreibt zwar die Erde beym Anbeginne der von ihm
fogenannten Schöpfung als wüfte und leer; was wohl
nichts anders heißt, als daß es an allen natürlichen
und individuellen Productionen, zum mindeften dem
Anfcheine nach, fehlte. Wenn indeffen die Erde Abers
haupt vor jener Epoche ſchon eriftirte ; fo ift doch nicht
wahrſcheinlich, daß fie burchaus nackt, durchaus oh⸗
ne alle Productionen gewefen wäre. Es laͤßt ſich gar
nicht von. der Weisheit und Güte des Schöpfers: dens
Pen, daß er eine ganz öde irdifche Kugel gefchaffen
haben follte, lediglich damit fie fi um die Sonne
bewege. Die Erde war alfo ſchon damals mit einer
unendlichen Dienge verfchiedener Producte ausgeſtat⸗
tet, dem primitiven Zuftande angemeffen, welchen fie
unmittelbar nach dee Schöpfung hatte. Die inneren .
ſowohl als die äußeren Urfachen, welche die Geftale
der erften Erde haben verändern mögen, fo daß fie erit
den Zuftand des Chaos hinducchgehen mußte, ehe fie
ihre gegenwärtige ganz neue Geſtalt erhalten konte,
feinen wir gar nicht. Als Planer macht die Erde eis
nen Theil eines großen Planetenfsftens ‚aus; Die
Stelle, welche fie in diefem einnime, konte fie aͤuße⸗
ren Wirkungen ausfegen, die mehr oder weniger auf
ihre urfprüngliche Defonomie Einfluß gehabt haben.
Eine folche Veränderung mußte im Plane der götts
lichen Weisheit liegen, die eben fo die Welten. präfors
mirte, wie die Pflanzen und Thiere.
Die Schöpfung der Pflanzen und Thiere auf uns
feree Erde erfläre Bonner für eine natürliche Evors »
Iution derjenigen organifirten Weſen, welche die erfte
Welt bevölferten, wie a ie unmittelbar aus ben Haͤn⸗
den
*
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 293
den des Schoͤpfers hervorgieng. Wenn das Univer⸗
ſum uͤberhaupt durch einen goͤttlichen Willensact ge⸗
Schaffen wurde; fo mußte dieſer Willensaet jeder Welt
die Anlagen zu den Reparationen aller Art mitgetheilt
haben, welche die Revolutionen, denen jeder Welt⸗
koͤrper unterworfen ſeyn ſollte, erfodern wuͤrden. Gott
hat alſo urſpruͤnglich die Pflanzen und Thiere praͤfor⸗
mirt in einer beſtimten Beziehung zu den verſchiedenen
Revolutionen, welche unſere Erde dem ewigen allges
meinen Weltplane gemäß treffen follten, |
Da es für die Gottheit nichts Vergangenes und
Künftiges giebt, und alle Ewigkeiten ihr auf einmal
gegenmärtig find; da auch die Totalitaͤt der coeriftis
renden wie der fuccefjiven Dinge für diefelbe nur eine
Einpeit iſt; fo bedurfte die Gottheit der Erkentniß der
Folgen nicht, und was diefe etwa zur Erhaltung und.
Vervollkomnung des göttlichen Werks nörhig machen
würden. Das Weſen der ewigen Vernunft ift ganz
‚ Harmonie, und diefen erhabenen Charakter hat fie
ollen ihren Werfen aufgedrüct. Alle harmoniren mit
einander und mit dem Univerſum; alle arbeiten zü
dem großen Endzwecke, der allgemeinen Glückfeligfeit
bin, fo weit diefe nur fir endliche, empfindende und
denkende Gefchöpfe möglich if. Die Welten mußten
alfo zu einander, und jede zu den Geſchoͤpfen, wels
che fie bevölfern follten, und diefe wieder zu jener, it
Beziehung ſtehen. Das Univerfum ift im philofos
ppbiſchen Sinne Eins, aus Einem Stücke; der große
— desſelben har es mit Einem Wurſe ges
ildet. | |
Die Erde, ein unendlich kleiner Theil des Unis
i verfum’s, bat nicht erfi zu einer Zeit empfangen, was
fie zu einer anderen noch wicht befaß, In dem Mor
E 5 J T 3 mente,
J
294 Geſchichte der neuern Philoſophie
mente, da ſie aus dem Nichts in's Daſeyn gerufen
wurde, ſchloß fie in ihrem Schooße die Principien
aller organiſirten und beſeelten Weſen in ſich, die ſich
entwickeln ſollten. Dieſe Principien waren die Kei—
me, welche die fünftigen organifchen Weſen im Kleis
nen befaßten. Bey jenen Keimen und ihrer Entwicke⸗
lung ift auf die fünftigen verfchiedenen Revolutionen
Der Erde gerechner. Bonner nahm hier drey Urepo—
hen an. Die erfie, da die Erde aus den Händen des
Schöpfers hervorging. Die zwente, da die durch
görsliche Weisheit vorbereiteten Urfachen von allen
Seiten die Keime zur Entwickelung braten. Die
dritte, da die organifirten Wefen anftengen, ihre Exi⸗
ſtenz zu genießen. Wahrfcheinlich waren diefe damals
ſehr verfchieden von dem, was fie ige find, eben fo,
wie die Erde in der erften Epoche von derjenigen vers
fehieden war, welche wir gegenwärtig bewohnen. Es
fehle uns nur an Mitteln, um jene Verfchiedenpeiten
zu erkennen und zu beureheilen. Der gefchieftefte Nas
turforſcher, in die Epoche der Urwelt verfeßt, würde
vielleicht unfere heutigen Thiere und Pflanzen gar nicht .
wieder darin erfant haben. Bonner macht hierauf
manche intereffante Bemerkungen über das Alter uns
ferer Erde, foferne fi audy noch aus ihrer dermali—⸗
gen Beſchaffenheit darauf ſchließen läge, uͤberhaupt.
Er vergleicht ausführlich die $eibnizifche Hypotheſe
der praͤſtabilirten Harmonie mit den ſeinigen, und vers
wirft fie, Er ſucht feine Meynung von dem Lünftigen
Zuftande dee Menfchen und Thiere nach diefem Leben
mit dem Dogma der poflitiven Religion von der Auf—
erfiehung der Leiber zu vereinigen; und gebt. hierauf
zur Auseinanderfegung feiner Ideen über bie morali⸗
ſche Natur des Menſchen uͤber.
Der
- während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 295
Dee’ Menfch kann durch Geſetze zur Gluͤck⸗
ſeligkeit geleitet werden, weil er faͤhig iſt, ſie zu erken⸗
nen und zu befolgen. Sofern alſo der Menſch in Ans
feßung feines Willens Gefegen unterworfen feyn kaun,
ift er ein moralifhes Weſen, und die Moralis
tät feiner Handlungen ift eine bloße Unterordnung uns
ter jene Gefege. Der Verſtand regiere den Willen,
und der-MWille durch den Verftand regiere iſt
ein überlegender- Mille (volonté reflechie).
Der Wille ift aber auf das wirfliche ober fcheinbar
Gute gerichteei" Der Menſch handele nur in Hinfiche
auf feine Gluͤckſeligkeit, obgleich er fich oft darin irrt.
Die Fähigkeit, wodurch er ſeine beſonderen Wil⸗ |
lensbeſtimmungen ausführt, ift die Frey heit. Alte
Handlungen des Menfhen, bie von feinem überlegens
den Willen ausgeben, Fönnen ihm zugerechnet wers
den, ‚weil dieſer Mile ihm angehört, und er mit Kents
niß deffen handelt, was er thut. Die Imputatiog
beftehe mwefentlich in den natürlichen Folgen der Beob⸗
achtung oder der Uebertretung der Geſetze, der mos
‚zalifchen Wollfonimenheit oder Unvollfommenpeit, wie
Gott jene Folgen im Univerfum angeordnet hat. Die -
görtliche Anorduung Außert ihre Wirfungen nicht ims
mer auf unferee Erde; die Tugend führt nicht immer
zum Gluͤcke, und das Laſter nicht immer zum Uns
gluͤcke; allein da die Unfterblichfeie des Menfchen fein
Daſeyn in’s Unendliche verlängert; fo wird er das,
was ihm in dieſer Zeit niche zu Theile wurde, in eis
ner anderen empfangen, und die göttliche Weltords
nung wird ihr Recht behaupten. - Die Thiere find Leis
ner Moralitaͤt fähig, well fie nicht mit Vernunft bes
gabe find. Sie haben einen Willen, und. üben bens
felben aus; aber er wird nicht bey ihnen durch ers
* T 4 | nunft
*
J
296 Geſchichte der neuern Philofophie |
; | : “ j :
munft regiert, fondern lediglich durch das Empfins
Dungsvermögen. Alle ihre Ydeen find Empfindungen;
ſie vergleichen dieſelben und urtheilen; aber zu abſtrae⸗ -
ten Ideen fönnen fie fich nicht erheben. Da die Hands
lungen der Thiere Feine moralifche find, ‚fo können fie
ibnen auch nicht imputirt werden; und da fie Geſetze,
die fie nicht Pennen, weder beobachten noch übersreren
mögen; fo koͤnnen fie auch in Ruͤckſicht jener Geſetze
- weder belohnt, nach beſtraft werden. Sind alfo aud)
die Thiere zu einem kuͤnftigen Zuftande berufen, fo
wuͤrde Dies doch gar nicht aus demfelben Gründen ges _
ſchehen, wie bey den Menfchen, weil ihre Natur und
Verhaͤltniſſe mefentlich von denen des Menfchen abs
weichen. Es folge aber hieraus nicht, daß darum
die Thiere auch nicht eines hoͤhern Grades von Boll
Pommenpeit und Gluͤckſeligkeit fähig wären, , Sie
Fönnen vielleicht in der Folge Verſtand und Freyheit
gewinnen, und dann eben fo Verdienſt und Schuld
| ‚erwerben, wie es igt bie Menſchen koͤnnen.
Becen dein genreinen Vorurtheile, ſagt Bonner,
welches die organifirten Weſen alle zu einem ewigen
Tode verdamt/ verarmt das Univerfum. Es flürzt
eine zahllofe Menge empfindender Gefchöpfe für immer
in den Abgrund des Nichts, Die doch eines beträchts
lichen Zumachfes an Gluͤckſeligkeit empfaͤnglich waren,
und indem fie eine neue Erde wieder bevölferten und
verfchönerten, zur Werherrlichung ihres Schöpfers beys
getragen haben würden. |
Bonner Enhpft hieran Betrachtungen über die
Zweckmaͤßigkeit des Organismus in der Natur, über
merkwürdige Erfcheinungen der Reproduction, über
das Wachsthum organiſtrter Koͤrper, die ich hier nicht
die Hauptarten der organiſchen Praͤformation, uͤber
weiter
—
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 297 |
: weiter erörtern Pann.. Er bemüße fih auch, feine
Hypotheſe der Palingenefie überhaupt noch von mehr
Seiten theils weiter auszuführen, theils zu beftätis
gen. Die Möglichkeit, uns durch das bloße. Licht
der Vernunft von der Gewißheit eines künftigen Zus
flandes zu überzeugen, fucht er darin, ob unfre Sinne
oder Werkzeuge uns im Gehirne eine Prägrganifation
entdecken laſſen, die in offenbarer und directer Bezie⸗
hung auf jenen Zuftand ſteht; ob fin der Keim eines
- neuen Körpers im Gehirne wahrnehmen lafle? Dieſer
Kein muß feinee Hypotheſe gemäß freylich da ſeyn; ‚aber
«8 läßt fich annehmen, er fey von fo feiner Natur, daß
er ſich dem Auge des Forfchers entziehe; und deßwegen
kann aus der Nichtſichtbarkeit keinesweges auf die Nicht⸗
exiſtenz geſchloſſen werden. Wir wiſſen uͤberhaupt nicht,
was die menſchliche Seele an ſich, oder als reiner Geiſt,
iſt; mir kennen fie nur ein wenig durch die vornehm⸗
sten Wirkungen ihrer Verbindung mit dem Körper,
Es ift mehr der Menſch, welchen wir beobachten,
als die menfchliche Seele, Uber wir dedueiren
mie Recht aus den mwahrgenommenen Phänomenen
des Menfchen die Eriftenz einer geiftigen Subſtanz,
Die mit der materiellen concurrire, um jene Phaͤnome⸗
ne zu bewirken. Unfere finnliche Wahrnehmung fo
wenig als unfere Verſtandeserkentniß koͤnnen uns alfo
einen demonftrativen Beweis von der Gewißheit eir
nes fünftigen Zuftandes gewähren, der dem Menfchen
bevorftehe; einen Beweis nehmlich, der fih aus der
wefentlichen Natur des Menfchen felbft führen ließe.
Wenn die Vernunft aus der Erwägung der Voll⸗
Fommenpeiten Gottes, befonders der Gerechtigfeit und
‚Güte desfelben, Folgerungen für einen künftigen Zus
‚fand des Menfchen ziehen nn fo find denn doch = Ä
; 5 | Ä e
‘298 Gefchichte der neuern Philoſophie
ſe Folgerungen nichts mehr als wahrſcheinlich. Denn
die Vernunft kann das ganze Syſtem des Univerſum's
nicht durchſchauen, und es wäre möglich, daß die—
fes Syſtem Urfachen enthielte, die der Fortdauer- des
Menſchen zumiderliefen. Die Vernunft kann auch
nicht mir binteichender Sicherheit einfehen, was eis
gentlich die Gerechtigkeit und Güte im hoͤchſten We⸗
fen find. Was inzwifchen hier den Vernunftbewei⸗
fen an Evidenz abgeht, das, meynt Bonner, wer
de erfegt durch die Präfumtionen, "weiche die Pünftis
ge Defonomie der Thiere wahrfcheinlich machen. Ums
faßt der Plan der göttlichen Weisheit die künftige
Miederherftelung und Vervollkomnung fogar eines
Wüuͤrmchens; warum follte er diefe niche für das Ge
ſchoͤpf umfaſſen, das mic fo großer Superioricät über
alle Thiere herrſcht? Könten wir in die Tiefe des
thieriſchen Gehirns Bineinblicken, und bier genau’ die
Elemente jenes neuen Körpers unterfcheiden, . deffen
Möglichkeit wir fo klar einfehen ;. koͤnten wir in bier
ſem neuen Körper Manches entdecken, was uns gar
nicht mit der gegenwärtigen Oekonomie des Thiers und
Der gegenwärtigen Beſchaffenheit unfers Globus in
Verbindung zu feyn fcheint; follten wir hieraus niche
auf Die Gewißpeit, oder zum mindeften auf die höchr
ſte Wahrfcheinlichkeie eines Lünftigen Zuftandes des
Thiers fchließen Fönnen? Dieſer große Zuwachs der
MWahrfcheinlichfeie aber in Hinſicht auf das Thier,
wäre ee niche ein noch beträchtlicherer in KHinfiche auf
den fünftigen Zuftand des Menfchen? Hiermit häts
ten wir pi opngefäße die moralifche Gewißheit ers
weicht, die ung fehlte, und die wir wänfghten.
Aber leider kann auch it unſere intultive Kent⸗
nuiß nicht fo tief in das Innere ber organiſchen Weſen
ein⸗
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 299
‚eindringen. Um das Geheimniß zu entraͤthſeln, muͤß⸗
ten wir nothwendig neue Organe, oder neue Faͤhig⸗
feiten , befommen. Wenn aber unfre anjchauende
Ecrkentniß fih auf eine folche Art veränderte, würden
wir nicht mehr genau diefelben Menfchen feyn, die
wir itzt find, wir wären alsdenn Weſen höherer Art,
und hörten auf, mit dem gegenmärtigen Zuftande uns -
ſers Globus in Beziehung zu ſtehen. Konte alfo der
Urheber unfers Weſens uns diefe moralifche Gewiß⸗
heit, den großen Gegenftand unferer cheuerften Wins
fche nicht geben , ohne unfere dermalige natürliche Con⸗
ftieusion umzuändern? . Sollte uns die höchfte Weis⸗
heit alle die Mittel verweigert Gaben, um uns ſelbſt
zu en) was zu wifjen für uns von fo großem In⸗
— iſt?
Es laͤßt ſich wohl begreifen, warum Gott die
Thiere ihre kuͤnftige Beſtimmung nicht erkennen ließ;
ſie wuͤrden dann aufgehoͤrt haben, Thiere zu ſeyn, ſo⸗
bald ſſe dieſe Beſtimmung erkant, oder auch nur ge⸗
ahndet haͤtten; ſie wuͤrden Weſen von einer hoͤheren
Ordnung geworden ſeyn; anſtatt daß der Plan der
goͤttlichen Weisheit es mit ſich brachte, daß es auf
der Erde lebendige Geſchoͤpfe gab, die auf bloße Sen⸗
ſationen beſchraͤnkt waren, und ſich nicht zu abſtracten
Ideen erheben konten. Allein dee Menſch als vers
nünftiges und der Moralitaͤt fähiges Weſen war ges
macht, um feine Blicke noch über das Irdiſche zu
erheben bis zu dem Weſen aller Weſen, und aus dies
fer heiligen Quelle die hoͤchſten Hoffnungen zu fchöps
fen. Sollte demnach die göttliche Weisheit der Schwäs
‘he feiner Vernunft nicht auf irgend eine Art haben
zu Hülfe kommen Lönnen, oder zu Hülfe gefommen
ſeyn, um ſeine ſehnlichſten Wuͤnſche zu ——
ollte
f
‚300 Geſchichte der neuern Philoſophie
Sollte ſie auf die ſterblichen Menſchen nicht einen
Strabl des himliſchen Lichts haben fallen laſſen, der
die höheren Intelligenzen erleuchtet? Hier macht
Bonner den Uebergang zum Chriſtenthume, fos
- fern biefes als göttlich geoffenbarte Religion dem Men:
ſchen diejenige Aufklärung über feine Natur, feinen
Urfprung, feine Beftimmung, und die Mittel, fiezu
erreichen, gewährt, welche die Vernunft vermißt. Er
‚gebt dabey von einem philofopbifchen Beweiſe des Das
feyns Gottes aus, der aus dem gemeiniglich fogenanns
ten ontologifchen und Fosmologifchen zufammengefeßt
iſt, und entwickelt aus dem Begriffe von Gott, der
durch jenen Beweis begründet wird, auch die ;görtlis
chen Eigenfchaften. Die weitere Philsfophie Bons
net's über das Chriſtenthum kann ich hier nicht were
folgen *). | |
| Die
*) Die zur Pbilofophie gehörigen Schriften Bonnet's
find: Eſſai de Pfychologie, ou Confiderations fur les °
-operations de l’ame, fur l’habitude, et fur l’educa-
tion. Auxquelles on a ajout€ des principes philofo-
phiques fur la caufe premiere et fur fon effet; à Lon-
dres 1755. 8.- Deutfh: Karl Bonnet's pſycholo⸗
giſcher Verfuh, als eine Einleitung zu feinen philofos
phifhen Schriften. Mit Anmerkungen von €. W.
Dohm; Lemgo 1773. 8. — Effai analytique {ur les
facultes de l’ame; ed. III; d Copenhague et d Geneve.
1776. 2 Tomes. 8. Deutſch mit einigen Zufäßen von
Chr. Gottfr. Shüß; Bremen 1770; 2 Theile. 8.
— Confiderations fur les corps organif&s, ou l’on traite
de leur origine, de leur developpement, de leur re-
produdion &s.; à Geneve 1762. Il Tames. 8. Deutſch
mit Zufägen von oh. Aug. Ephraim Goͤze; Lem—
90 1775. I Bände, 8. — Contemplations de la na-
ture; 3 Amßerdam 1764; IL Tomes. 8. Deutſch mit
Zufäßen aus der_italiänifchen Leberfegung des Spals
lanzamt und eigenen Anmerkungen von Joh. Dan.
Titius;
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 301 |
Die Phitofoppie Bonner’s fand eine Zeitlang
bey einem anfehnlichen Theile des gebildeten, beſon⸗
ders franzöfifchen umd deurfchen, Publicum’s großen
Benfall. Sie fehlen die richtige Mittelſtraße zu hats
ten ztoifchen dem damals zur Mode werdenden Natu⸗
ralismus oder Materialismus, und einem bigotten
Aberglauben, als dem entgegengefeßten Ertreme, Sie
ſchien die Anſpruͤche der philofophirenden Vernunft
und des Offenbarungsglaubens auf die fhicklichfte Are
mit einander zu vereinigen. Ihr Ton empfahl fich
durch Beſcheidenheit, durch die ruhigſte Mäßigung
im Urtheile über entgegengefeßte oder abweichende Vor⸗
ftellungsarten. Dazu fam die innige Verbindung,
in welche Bonner die Speculation mit der Erfah:
„tung, hauptfächlich mit dee Maturgefchichte, feßte,
das Neue und deym erften Blicke Siunreiche und Ans
wendbare feinee Hypotheſen über die Principien der
Organiſation in der Natur, was, indem es eine theils
feheinbare, theils wirkliche Belehrung gewährte, zus
gleich die Wißbegierde anzog und ii
Iunde ſen iſt dieſer Beyfall, den man anfangs
Bonner’s Spfteme und feinen Hypotheſen und Träus
men zollte, nicht von langer Dauer. geweſen. Gegen
feinen Empirismus, mas die Möglichkeit der Erkents
niß betrifft; gegen feine Erflärung des Urfprungs der
Senfationen und Värftellungen aus einer Erſchuͤtte⸗
‚zung der Gehirnfibren, und die hiervon rt
us
Titius; Imente Auflage. Leipjig 1772. 8. — Eine
neuere Prachtauegabe von Bonnet's fämtlihen Wer⸗
ken, mit Inbegriff der zur Naturgeſchichte gehoͤrigen,
unter dem Titel: Oeuvres d’hiftoire naturelle et de phi-
— iſt erſchienen zu Neufchatel 1779 in acht Quart⸗
nden.
—
—
302 Gecſchichte der neuern Philoſophie
hängenden Erklaͤrungen der Seeleufaͤhigkeiten, z. B.
des. Gedaͤchtniſſes, der Phantaſie, und der Ideenaſſo⸗
etation, find fo trifftige Gründe vworgebracht worden,
daß die neuern Pfochologen fie mit Recht als fchlechts
bin verwerflich betrachten. Auch feine Hypotheſen über
die Prineipien der Organifation, ' feine präformirtem:
Keime, die Einfchachtelung verfelben vom Aubeginne
der Schöpfung, der unzerftörbare Geelenfeim, auf
welchem der ganze Bonner’fche Traum von der Palins
genefie beruht, Haben ſich nicht behaupten koͤnnen.
Sie find dur das von Blumenbach u. A. aufges
ſtellte Syftem der Epigenefis, durch die Reſultate
der Kantifchen Kritiß der Urtheilskraft, und vollends
durch die Schelling’fepe Naturphiloſophie gänzlich vers
‚ drängt worden. | a.
x A *
Edb' ich in der Charakteriſtik der Franzöfifchen
Philoſophen, die gegen und um die Mitte des. vorigen:
Jahrhunderts blühten, weiter forıfchreite, will ich
einige hifterifche Bemerkungen uͤber das Verdienſt der
Franzoſen um das Naturrecht und die-Philofor-
phie der Gefeggebung einfchalten. Die Franz
zofen haben fpäter, als die benachbarten Nationen
angefangen, beyde Difeiplinen zu bearbeiten, woran
wahrfcheintich ihre monarchiſche Verfaſſung ſchuld
war; denn die politiſchen Schriften des Bodin und:
$a Boerie, die in den Zeiten der Ligue erfchienen,
waren nur vorübergehende Meteore, die ohne alle Fols
gen für-die Denfart des Publitum’s ‘über feine Rechte
und politifchen Verhaͤltniſſe blieben. Die Gtreitigs
keiten der Parlamenter mit ber Fönigl. Gewalt, vor⸗
nehmlich ſeitdem fich dieſe gegen die Mitte des 3
| Ä ehn⸗
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant; 303
zehnten Jahrhunderts durch eine Reihe großer Statss
männer, Die das Ruder führten, und die Monarchie
begründeten, völlig confolidirt hatte, Außerten auf.
die Rechtstheorie faft.gar feinen Einfluß. Auch vers
riethen diefe Steeitigfeiten je mehr. und mehr das. Les
bergewicht der Könige und der Großen, und die Un⸗
terdruͤckung der Stände und des Volks. Eine ſehr
wachſame Cenfurpolizey Fam dazu, um alle und jede
Unternehmungen Lühner Köpfe, das Volk über feine
Rechte aufjzuflären, ‚entweder in der: Geburt zu erz
flächen , oder doch ihre Wirkſamkeit zu verhindern und
zu vereiteln. In dem jüngft verfloffenen Jahrhunderte
‚bat es zwar durchaus. nicht an Winken über die Uns
gerechtigkeit und Verderbtheit der: Defpotie in Frank⸗
veich gefehlt, welche die talentvollſten Schrififteller. im
ihren. Werfen anbrachten; fie erlaubten fich beyläufig
und im Einzelnen ſogar heftige und: Teidenfchaftliche
Angriffe; aber gerade weil diefe Angriffe nur indirecte
und beyläufige waren; ſo las man fie, ließ ihnen im
Privarurcheile als: fehe wahren und treffenden Bemer⸗
Bungen ©erechtigfeit ‚wiederfohren, und vergaß fie
den nächften Augenblicf, nachdem man fie gelefen hats
te. Erſt mußte der Misbrauch der Föniglichen Gewalt
unter Ludwig XV auf’s hoͤchſte fleigen, und dee
geoße Haufen den Druck fehmerzlicher fühlen, unter
welchem er fihmachtere, ehe das Volk zu der Mevolus
tion reif wurde, von der wir die Zeugen gemwefen find,
und die. freylich.unter vielen guten und fchlimmen Wirs
ungen auch die gute gehabt Hat, ‘daß die Philoſophie
bes Rechts in Frankreich in unfern Tagen fee viel an
Aufklaͤrung gewonnen hat. Ä
Fuͤr die Philoſophie der poſitiven Gefeßgebung
bat inzwifchen. Frankreich auch unter ERS Alterır
Bier a chrift⸗
304 Gefchichte der neuern Philoſophie
Schriftſtellern "einen claſſiſchen aufzuweiſen, ob
er gleich ebenfalls erſt in der goldenen Periode der Frans
zöfifchen Literatur lebte. Diefer ift Montesquieu,
‚der Verfaſſer des berühmten Werks vom Geifte dee
Geſetze. . Auch diefer würde fchwerlich der Verfol⸗
gung und Unterdrücung des Hofs entgangen fe,
defjen Abneigung er ſich fchon vorher, ehe er jenes
Werk herausgab, durch eine muthvolle Vertheidigung
der Rechte der Parlamenter zugezogen hatte, wenn
ibn nicht felbft das Amt, das. er befleidere, fein ces
fpectabler perfönlicher- Charakter, und der Inhalt feir
nes Werks, gegen das auch die giftigfte Verleumdung
ihre Pfeite vergeblich richtete, gefchügt hätten. Mons
segquieu ſtudirte die neueren Statsverfaffungen und
ihre Geſetze eben ſo, wie Ariſtoteles die des Alters
thums ſtudirt hatte; und was Daher Die Politik des
letztern in Beziehung auf das Alterthum iſt, das iſt
das Werk jenes in Beziehung auf die neuern Voͤlker.
Mur hatte der franzöfifche Pbilofepp mauche betraͤcht⸗
liche Vortheile vor dem geiechifchen voraus... Die Ges
ſchichte, welche diefer um Rath fragen - Eonte, war
zu feiner. Zeit noch ſehr wenig cultivirt, und bezog
fich faft einzig auf die griechifchen Staten; denn. was
Ariftoteles von der Gefchichte der Morgenländifchen
Völker wußte, war fragmentarifh, und beftand in
allgemeinen Datis. Won der monarchifchen Gattung
der Starsverfaflungen kaunte Ariftoreles, außer der .
orientalifchen Defpotie, ‚nur. wenige Arten, . und die
republicaniſchen Formen, die er freylich in großer Mans
nichfaltigkeit, und mit den verfchiedenften ſucceſſiven
Veraͤnderungen, wie eine bunte Gruppe, vor fi hats .
te, konte er doch nur in ihren Wirkungen auf einzelne
Eommünen oder Pleine Bölkerfchaften beurtheilen, niche
aber in Seen Wirkungen u große Deipeen, bie
| aus
während d. achtz. Jahrhund 6. auf Kant. 305
aus mehreren Millionen Menſchen beſtehen: Gewiſſe
Eigenheiten, welche die Siatsverfaſſungen der neuern
Voͤlker haben, z. B. ſtehende Heere, eine Geiftlichs
keit von einem ganz andern Charakter, als die Pries
ſter der alten Welt, waren dem Ariftoteles durchaus
fremde; Dagegen er wiederum bey feinen Republiken
auf'die eingeführte Sclaverey rechnen fonte, die in
den neuern Starten, welche für die heutigen Polirifer
vorzüglih in Anfchlag kommen, weggefallen iſt;
denn: die Leibeigenfchaft bey den Neuern ift Doch nicht
ganz das, was die Sclaverey bey den Alten war,
. und was die Degerfclaverey noch gegenwärtig iſt.
Welch eine reichhaltigere lehrreiche Gefchichte hatte
Dagegen Montesquieu vor fi, fobald es ihm dar⸗
auf anfam, von ihr zu lernen, was gewiffe politifche
- Einrichtungen und Gefege für Mugen oder Schaden
im Ganzen und im Einzelnen nach fich gezogen haben,
wenn man nur allein die Geſchichte der Roͤmer er»
wägt, und vollends die Gefchichte der neuern Gtaten,
die fih nach der Völferwanderung in Europa bildes
ten: , Welch eine ungleich größere und mannichfals
“ igere Menge von Statsformen, namentlich von Are
ten der Monarchie, bot ſich ihm dar, um überhaupt
ein -richtigeres Urtheil Über den Werth des Monars
ſchismus in Bergleihung mit dem Republicanismus
fällen zu können! Hatte Ariftoreles die Wirfuns
Yen republicaniicher Statsformen nue im Kleinen und
unter viel einfacheren Bedingungen beobachten Fäns
nenz3=fo Ponte fie Montes quieu im Großen, und
unter viel complicirtern Bedingungen und: Umftänden
beobachten, und danady fehle politifchen Mefultate
modificiren. - Es ift daher nicht zu verwundert, Daß
Montesquieu’s Geift der Gefeße ein für die
neuern Voͤlker unverhaͤltnißmaͤßig fruchtbarers und
BDubhle's Bei. d. Philoſ. VI.D. u inters
9 x
Ä 306 Geſchichte der neuern Philoſophie
intereſſanteres Werk geworden iſt, als es die Politik
des Ariſtoteles ſeyn und werden font. Was
. hierbey dem Montesquieu vorzüglich zum Ruhme
gereicht, ft die weife Sparfamfeit und Zweckmaͤßig⸗
feit, womit er die allgemein wichtigeren Statseinrich⸗
tungen und Gefege aus dem unermeßlichen, Chaos
derfelben,, welches die Gefchichte der Völfer darftellt,
bervorhob; der richtige unbefangene Blick, womit
er fie würdigt; und die furze und gleichwohl deute
liche Präcifion, womit .er feine Refultate ausdrückt,
erläutert und beweift. Das Wer des Montess
quieu ift ein Tert, der zu weitläuftigen Commentas
zen Stoff enchält, und doch, um verftanden und ber
nußt zu werden, Feines Commentars bedarf. Daß
nicht alle Refultate und Maximen Montesquieu’s
- gegründet oder anwendbar find; daß er auch in dies
fem. und jenem Urtheile den Fehler der Einſeitigkeit
nicht vermied und vermeiden Fonte, Tann ihm nicht
zum Vorwurfe gereihen. Die größte Vorlliebe
fcheint er für eine vermifchte Statsverfaffung
gehabt zu haben, und daher hielt.er unter den neue»
sen die Englifche Conſtitution für die verhäfts
nißmaͤßig befte, obgleich er. auch Mehreres an ihr
zu: tadeln fand, wie es denn wirklich zu tadeln iſt.
Dieſer günftigen Meynung Montesquieu’s. von
der Brittifchen Berfaffung iſt hauptfächlich die allge
‚meine Achtung zuzufchreiben, welche diefelbe.in Eus -
ropa, felbft in ihrer gegenwärtigen Verderbtheit har,
Uebrigens ift Montesquien nächft den Ariftoteles
als der Schöpfer der Philofophie des pofitiven Rechts
anzufehen. Die Bahn, welche er fo glücklich ge⸗
brochen bat, ift nach ihm von vielen andern mit grös
‚Kerm oder geringerem Erfolge betreten worden. Aber
noch Feiner feiner Nachfolger har feinen . _
| bdunrkeln
während d. achtz. Jahrhund. B. auf Kant, 307
Dunkeln, oder das Studium. feines Werfs für dem
philofoppifchen Rechtsgelehrten und. Statsmann ent⸗
behrlich machen koͤnnen *).
Auſſer Montesquieu ſind um die Mitte des
—— Jahrhunderts noch drey andere franzoͤſiſche
Schrifiſtellee, Joh. Jac. Burlamaqui, de
Vattel, und de Real durch ihre Bearbeitung des
Stats; und Bölferrechts nach allgemeinen naturrecht⸗
Uchen Principien beruͤhmt geworden.
Der erſte war ein Genfer von Geburt, lebte
auch daſelbſt als Profeſſor der Rechte, und nachdem
er wegen ſchwaͤchlicher Geſundheit dieſes Amt nieder⸗
elegt, ward er Mitglied des innern Raths dieſer
epublik. Er ſtarb im J. 1748. Von ihm iſt das
erſte franzoͤſiſche eigentliche Compendium des Natur⸗
und Voͤlkerrechts, dem er hernach auch noch einen
Entwurf des Statsrechts (droit politique) beyfuͤgte.
Beyde Werke find nach dem Tode des Verfaſſers ans
ſehnlich vermehrt von de Felice in acht Theilen her⸗
alisgegeben worden *).
Der zweyte, "Emmerich de Vattel, war
aus dem Fuͤrſtenthume Neufchatel gebuͤrtig, und ſtu—
die ” *— Theologie und Philoſophie. Im Fr
Ä 1746
4 *) Qeuyres de Mr. de Monserguien; & Amſterdam 17695
‚VO T. 8. Ron dem Werke de Pefprit des loix hat
man mehr einzelne Ausgaben, ine deutſche Weberfetn .
gung tft erſchtenen zu Frankf. und Letpzig 1753, III B. 8.
cch Prineipes du droit de la nature et des gens. Par Mr,
FL. Burlamaqui, Avec la fuite du droit de la ne«=
‚ ture, qui n’avoit point encore paru. Par Mr de Fa
* à Xverdon 1766. 67. V. T. 8, |
4a
308 Gefchichte der neüern Philoſophie
1746 ward er Legationsrath zu Dresden ‚ febte eine .
Zeitlang als Churfähfifher Minifter zu Bern, ward
aber 1758 nach Dresden zurücgerufen, und mit
dem Zitel von Geheimen Rath bey der geheimen Canz⸗
ley zu Dresden angeftell. Er ftarb im J. 1767.
Sein Droit des gens hat ſich bey den neuern Statss
männern großes Anfeht erworben. Es ift aber in
der Hauptjache nichts weiter, als eine Umarbeitung
des groͤßern Wolfichen Werfs über das Völkerrecht,
und eine Einkleidung desfelben in eine leichtere gefäls
figere Form. Selbſt der Drdnung des. Wolffchen
Syſtems ift Vattel auf’s genauefte treu: geblieben.
Aud die Hauptideen Wolf’s hat er beybehalten,
ausgenommen die Hypotheſe von der allgemeinen Voͤl⸗
ferrepublif (civitas gentium maxima), welche jener -
als Fundament des Voͤlkerrechts betrachtete, und die
Vattel mie Recht beftreitet und vermwirft, und auch
einige andere einzelne Meynungen, worin der leßtere _
von feinem Vorgaͤnger abweicht. -
Es ift alfo nicht ſowohl Verdienft um die Mar
terie, was das DVattelfche Werk bey den Statsmän:
nern empfohlen, und das Wolfſſche verdrängt hat;
fondern fediglich die Form. Als Fehler find Wols
fen fowohl als auch noch Vattel'n vorzuwerfen
die Verwirrung des Bölferrechts mit dem Statsrechs
te, Mangel an Gruͤndlichkeit bey mehrern wichtigen.
Puncten, gänzlihe Webergehung anderer, die bey
den Gteeitigfeiten der Voͤlker in Frage kommen.
Auch hat fih Vattel faft allein’auf die allgemeinen
Regeln eingefchränft, obne ihre Anwendung duch
Beyſpiele aus der Gefchichte zu erläutern oder zu bes
ſtaͤtigen. Freylich komt leider die Voͤlkerrechtstheorie
bey den Streitigkeiten der Nationen nicht PR
u ——— — n⸗
-
> ie
-
während d. achtz Jahrhund. b. auf Kant. 309 F
Anſchlag, als die groͤßere Macht. Das Voͤlkerrecht
iſt nur eine Satire auf die Geſchichte, oder vielmehr
die Geſchichte iſt eine Satire auf das Wölferrecht,
Die Machthaber berufen ſich oft nur auf das Wölfers
recht, ſo lange es mit ihrem Intereſſe zufammenftimt,
⸗
und treten es ohne Bedenken mit Füßen, wo es ihr
rer Eigenſucht zuwider laͤuft. Inzwiſchen kann doch
Darum dem Voͤllerrechte, wie dem Naturrechte übers
haupt, nicht aller Werth für die Nationalverhaͤltniſſe
und die. praftifche Leitung derfelben abgefprochen wer⸗
den. Es dient wenigftens zur Beurtheilung des ger -
genſeitigen Verfahrens der Voͤlker für die Cabinetter, .
die nicht unmittelbar bey den Angelegenheiten anderer
DMationen intereffire find, und alfo als Vermittler
auftreten fönnen. Es bilder überhaupt eine öffents
ä liche -Meynung, welche auch die mächtigften Res
genten ſcheuen, und durch Die fie.oft von Gemwaltthäe -
sigfeiten zurückgehalten werden, welche. fie fich ſonſt
ohne Bedenfen erlauben würden, In diefer Hinficht
bat auch die Voͤlkerrechtstheorie den -gerechteften Ans
ſpruch auf die forgfältigfte Bearbeitung; und. :die
Mängel und Fehler derfelben muͤſſen um fo.mehr.ges
ruͤgt und verbeffert werden ,. je bedeutender die Wirs
kungen derſelben feyn Finnen *). ! —
Der
*) Le Droit des gens, ou principes de la-Joi naturelle
» appliquds A la conduite et aux affaires 'des nations. ef
des Souverains, Par;Mr. de Vartel; à Londres 17583
„UT. 4 Deutfh: Leipzig 1759. IIB. 8 — Qud-
. © Rions de droit naturel et obferyationg fur le Traite
du droit de la nature de Mr. le Baroo de Wolf. ‚Par
Mr. de Varel 3 Berne 1762. 8. Deutfh:. Mitan
"amd Leipzig 1771. 8. en IHR
.
370 Gefchichte der neuern Philoſophie
Der dritte, Gafpard de Heat, Königlicher.
Rath, gab im J. 1758: ein, Werk über die gefamte
Starswiffenfhaft in act Theilen heraus, deſſen
Braucbarfeis nicht bekant genug iſt *). Es hat
den Titel: La Science du gouvernement. Der erſte
Theil enthält einen allgemeinen Grundriß der Statss
Yunft; der zweyte eine Charafteriftif der verfchiedenen .
Europdifchen Starsverfaffungen; der dritte entwickelt
Die allgemeinen Printipien des Naturrechts; der vier⸗
te das allgemeine Statsrecht; der fünfte das Voͤlker⸗
recht; der fechste Die Politif ; der fiebente das fanos.
nifhe Recht; und im achten ift eine Notiz der vor⸗
nehmften zue Statswiſſenſchaft gehörigen Schriften
mitgetheilt. Die Bearbeitung der Materien ift uns
gleich zweckmaͤßiger und praftifcher , “als in den Bur⸗
Jomaquifchen und: Bartelfhen Werfen, obgleich eins
gelne Theile beſſer geratben find, als andere. ‘Ge
iſt z. B. der Theil, welcher die Statiſtik betrifft, bey.
Der Bervollfomnung diefer Wiſſenſchaft in den neueren
Zeiten, und bey der Veraͤnderlichkeit ihrer Gegens
fände, ige nicht mehr zu brauchen. Auch muß man
nicht vergeflen , daß das ganze Werk des de Real
im Geſichtspuncte und mit der Vorliebe eines Frans
gzoſen für fein Vaterland gefchrieben iſt. |
Es wuͤrde eine zu große Weltläuftigfeit erfodern, -
wenn ich bier die neuern Franzöfifhen Bearbeiter des
Naturrechts, und der. pofitiven Rechtsphiloſophie,
deren Zahl durch die Nevolution fo groß geworden _
it, auch nur im Allgemeinen charafterifiren wollte. -
un | | Unten
' ®) La Science du gouvernement. Par Mr..de.Real, Ou-
yrage de morale, de droit, et de politique dc. à Pa«
‚ ris 1762-1764; VIET. 4. Deutſch: Frankfurt und
Leipzig 1762 - 67. VI Theile, 8 nz
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 311
Unter den Schriftſtellern vor der Revolution iſt Lin⸗
guet noch einer der merkwuͤrdigſten. Von den Wer⸗
ken mehrer unter denen, die ſich während der Revo⸗
lution ausgezeichnet haben, ‚haben wir eine fcharffins
nige und lehrreiche Kritif von Rehberg erhalten *).
Auch die franzöfifchen Schriftſteller über die Stats⸗
wiſſenſchaft muß ich ‚hier übergehen, da ihre Unters
ſuchung größtentheils mit der neueren franzöfifchen
Statsverfaflung und Statsverwaltung, und der Ges
fhichte Frankreichs in zu enger DBerbindung ftehen,
als daß fie ohne ausführliche Erlaͤuterungen Be
——— werden koͤnten.
Zwanzigſter Abſchnitt.
Beſchhe⸗ der neuern Philoſophie in Frankreich en bed |
achtzehnten Jahrhunderts. Fortſetzung.
Gi die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bil,
dete fich eine Reihe Sranzöfifcher Philofophen,
die durch ihr Genie und ihre Werke nicht bloß in Bes
ziehung auf das Franzöfifche Publicum, fondern auch
Durch den entfcheidenden Einfluß für, die Gefchichte
| — geworden N — welchen ſie auf die Lite⸗
ratur
9 A. W. Nehberg’s Unterfuchungen über die franzda
fifche Revolution nebſt Eritifchen Nachrichten von dem
merkwärdiäften Schriften, welche darüber in ———
r in find; ‚Hannover 1793. 11 Theile, 8.
ns
312 Gecchichte der neuern Philgfophie
tatur überhaupt und die Philoſophie insbefondre auch
in Deutſchland gehabt haben, Friedrich der Gros
"ge, in der Franzöfiihen Literatur von den fruͤhſten
Fahren an erzogen, und in reiferm Alter einer ihrer
versrauteiten Kenner, gewann, bey dem damaligen
Zuftande Der Wiffenfchaften und des Geſchmacks in
Doeutſchland, eine herſchende Vorliebe für diefelbe,
Die ihn auch nicht verließ, nachdem der Genius der
Deutſchen durch originales Verdienft fich die gerech⸗
teten Anfprüche auf feine Achtung erworben hatte.
Er verjammelte die beften Köpfe und Schriftfteller
Frankreichs an feinem "Hofe, unterhielt fie auf die
ehrenvolleſte Weiſe, und lebte mit ihnen, wie mit
Günftlingen und Freunden. Mit mehrern derjelben
theilte er nicht bloß feine Muße, um fid in ihrem
Umgange zu erheitern und zu zerſtreuen; fondern er
arbeitete auch, mit ihnen gemeinfchaftlich, übergab ihs
nen feine eigenen Werfe zur Prüfung und legten Feile,
und kritiſirte wiederum jeinerfeits die ihrigen. ‘Die
Akademie der Wiffenfchaften in Berlin, deren Stifs
ter und erſter Präfidene Leibniz von der Franzöfis
fchen Literatur eine fehr hohe Meynung begte, und
Daher auch die Aufnahme der ausgezeichneiften Frans
zöfiichen Gelehrten zu Mitgliedern gleich anfangs jeher
begünftigte, beftand unter Sriedrich’s Regierung.
größteneheils aus ſolchen, und mar mehr als eine
Franzöfifhe Akademie in einer der erften Refidenzftäds
te Deutſchlands, wie als ein deutfches literariiches
Inſtitut zu betrachten. Dem fcbimmernden Bey⸗
ſpiele des großen Königs ahmten mehrere deutſche Fürs .
ſten nah; man fludirte, ebrte, bemwunderte an ihren
Höfen die franzöfiiche Literatur und jhre vornehmſten
Herolde; auf welche die Achtung und Freundicaft, -
die der. gefegerte Held für dieſe äußerte, ein he |
De Far nr glaͤm⸗
—
—
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 313
—— du bon Sens *), ein Werk, das in der.
| glänzenderes Lichte warf; während man auf die Deuts
ſche Mufe herabfah, und fie als eine Barbarinn vers
achtete, oder als Pedanting verlachte. In der That
iſt aber auch nicht zu leugnen, daß Frankreich gerade
in dieſer Epoche Urſache — ſich ſeiner Schrift⸗
ſteller zu ruͤhmen.
Bey der Charakteriſtik derſelben kann ich mich
bier nicht Darauf einlaſſen, was jene Schriftfieller als - .
Dichter, oder in andern wifjenfchaftlichen Zeidern,
leifteten. Für mich kommen fie nur in Betrachtung,
oferne fie die Philofophie bearbeiteten, und auf den
uftand diefer ſowohl in ihrem Waterlande, als im
Deutſchland ‚ einwirkten. Ueberhaupt find fie wich⸗
tiger fuͤr die Form und Darſtellung, welche die Phi⸗
loſophie durch fie erhielt, als für die Cultur und Auf⸗
bellung ihrer Gegenftände. In die Tiefen der Mes
tbanbof e verlor. fich faft Feiner von ihnen fo, daß in
Anſehung der philofophifchen Principien ihm etwas
zu verdanfen wäre, wenn man anders nicht die Ver⸗
‚werfung und. Verhoͤhnung allee Metaphnfif, die dem
Witz einiger beſchaͤfftigte, dahin rechnen will. |
. Einer der erften, gutmüthigften und geliebtes
ſten Günftlinge- Sriedrich”s war der Marfis d’Ars
gens. Am berühmteften ift er geworden durch feine
‚Zeit,
6 La Philoſophie du bon Sens, ou u Reflexiogs philofo-
phiques fur Pincertitude des connaiflances humaines,
- A Puſage des Cavaliers et du beau Sexe. Huisieme
eclition, corrigede, augmentde de deux differtations mo-
xales, fur les douceurs de la Societe; et fur la vie
“ "heureufe; de plufieurs nouvelieg notes; et d’un exa-
men critique. des -gemarques de Mr. Y’Abbe d a
u 5 Br ... ‚de
-
2 \
— J
| g14 Geſchichte der neuern Philoſophie —
Seit, da es zuerſt erſchien, wie die vielen Auflagen
desielben beweifen, hauptſaͤchlich in Deutſchland,
das tieblingsbuch der vornehmern "und. ‚gebildeten
De war, für die es auch nad) der Abficht des
erfaſſers ſelbſt geeignet ſeyn follte. D’Argens
wollte ein Philoſoph nicht fuͤr die Schule, ſondern fuͤr
die Welt und das wirkliche Leben ſeyn, und den Con⸗
traſt, auf weichen er zuerſt lebhaft aufmerkſam mach⸗
te, zwiſchen dem, was die Philoſophie für das
menſchliche Leben ſeyn ſollte, und dem, was die Phi⸗
loſophie der Schule wirklich war, mußte ent
für ihn einnehmen, fo wenig auch fein Wert in Hi
ficht auf den Zweck, welchen es hatte, dem ſtrengern
Forſcher und Prüfer befriedigen konte. Er wirft den
Philoſophen der Schule, wobey er wohl namentlich
die Deurfchen am meiften im Auge hatte, Mangel
an Brauchbarfeit ihrer Unterfuchungen, an gefaͤlli⸗
ger Anordnung, an gefehmackvoller Einfleidung vorz
und daher rühte es, daß ihre Bemühungen zur Aufs
Häring und-Weredlung des großen Pubficums nichts
beytruͤgen, und der Werth derfelben , welchen: fie it
wiſſenſchaftlichem Betrachte etwa hätten, gänzlich
überfehen. und verfant würde. ir: Haus RR
“Die Gelehrten,” fagter, “beklagen ſich Bits
ter über die Denkart ihrer Zeitgenoffen, die nichts
als Romane und Bagatellen laͤſen, und dagegen bie
Schriften jener verfchmähten. Aber fie haben großes
Unrecht. Das Publicum lieſt mie "Begierde und
Mugen die Werfe eines Bayle, eines Leibniz,
eines Locke u.a Es har alje Sinn, für echtes
'
®
—
lite⸗s
de PAcademie Frangoife fur la Theologie des philofo-
.» . phes grees. Par Mr. le Marquis-d’Argens, -Tomes IL
A Dresde 1754. 8.
“ . eben genannten großen Männer. Eine laͤcherliche |
Zeiten nicht zu vergeffen iſt. Aber er uͤbertrieb es,
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 315
niterdeiſches und philoſobhiſches Verdienſt Anh
die Schriften jener wuͤrden von ihm mit Intereſſe ge⸗
leſen werden, wenn fie ihre Gelehrſamkeit und Phi⸗
loſophie fo anzuwenden verſtanden haͤtten, wie die
Einbildung iſt es, welche die Schulgelehrten haben,
daß unter den Weltleuten ſich nicht eine große Zapf
befinde,’ Die fehr gründliche Studien- getrieben haben, .
und ſehr viele Kentniſſe befigen. . Wenn die Herrn
Doctoren in us nur mit den Eavalieren der Höfe; den
Offizieren, und felbft den Damen in den höher
Ständen ein wenig genauer befant wären; ſo würs
Den fie bald von ihren Vorurtheilen zurückfommen.
Daraus aber; daß Jemand ſeinen Geiſt cultivire und
mit Kentuiſſen bereichert, feinen Geſchmack verfeis
nert hat, folge feinesweges für ihn eine Verbindlich
Part ,> fich durch‘ die Leerüre eines grundgelehrten Werks
Ermũdung und Langeweile zu verurfachen, deſſen Ju⸗
ee Kram und leere Spigfindigfeiten- find.”
es oft geht, d’Argens ſprach hier in feines
Epoche, im Verhältniffe zur damaligen deutſchen Li⸗
teratur, ein wahres Wort, das ſelbſt nod) in unfern
und-indem er dem gelehrten Pedantismus ein’ Ende
"machen wollte, empfahl er eine Geichtigfeit der Phi
loſophie und“der vorffenfepafeltchen Studien, die nicht
minder verderblich war.
Die von ihm Gefofgte Methode, eine Dfitofür
phie des gefunden Menfchenderftandes zu begründen
und in das Publicum einzuführen, iſt im Weſentli⸗
chen von den Pyrrhoniern entlehnt; nur mie dem Un⸗
terfchiede,, daß fie nicht die Buͤndigkeit und Strenge
bat, mis welcher die Pyrrhonier fie brauchten, ‚und
ER | Ä in
816 Geſchichte der neuern Phlloſophie
in naͤherer Beziehung auf die Beſchaffenheit der neuer
zen Literatur, Culture, und des gefellfchaftlichen Lew
bens ftebt. Als-die einzigen Quellen-und Führer der
Erkentniß nime er bloß die Sinne anz von Princis
pien des Verftandes a priori will er. gar nichts wiſ⸗
fen; und er eifert insbefondre auch gegen den philoſo⸗
phifchen Dogmatismus des Ariftoteles , Des Eartes,
Malebranche, obwohl er von-ifrem philofophifchen
Genie und ihren Werken mit Hochachtung urtheilt,
Weil aber die Sinne triegen, und die Refultate dee
finnlichen Wahrnehmungen der Menſchen fo verfchier
- den und ‚einander. widerfireitend ſind; ſo folgert eg
hieraus Die Ungewißheit der menfchlichen Einſicht
überhaupt, Fuͤr die Wiſſenſchaften, in welchen man
noch die meiſte Gewißheit antrifft, und: wo ſich we—
nigſtens die Irrthuͤmer am leichteſten und ſicherſten
entdecken laſſen, erklaͤrt er die Mathematik, einen
großen Theil der Aſtronomie, und die Experimental⸗
phyſik. Hingegen ſucht er vornehmlich die Ungewiß⸗
heit der Geſchichte, der Logik, der rationalen Phyſik
und Metaphyſik, und der Aſtrologie in einzelnen
Abſchnitten darzuthun; bringt aber keine neue Argu⸗
mente vor, deren ſich nicht ſchon die aͤltern Skeptiker
und die Pyrrhoniſten bedient haͤtten. Der Logik
ſpricht er nicht allen Werth ab; aber er fodert, daß
*
man ſie nur auf wenige einfache Gründe und Regeln
zuruͤckfuͤhren, und alfe überflüffige Subtilitaͤten, wos
bin er. die Spllogiftif mit ihrer ganzen barbarifchen
Terminologie zähle, von ihr abfcheiden folle, durch
welche fie zu einem trockenen. abſchreckenden Studium
würde, und ftatt den Verftand zum richtigen Den⸗
Ten anzuleiten und zu: gewöhnen, ihn vielmehr vers
| ar und die Bee: zu ſophiſit gen Schwägern
mare, Hr
N
Biel
—
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kahl. 317
Viel Gutes enthaͤlt das Werk des d’Argens
über die Anmaßung und den Dünfel der Gelehrten;
befien Untechtmäßigfeit und Unanftändigfeit er auch -
aus wiflenfchaftlihen Gründen beſtreitet. Inzwi⸗
ſchen iſt er ſelbſt in den Fehler verfallen, den er an
den Gelehrten tadelt. Er wollte die Gelehrſamkeit
A la portée de tout le monde darſtellen, ſich dabey
ſelbſt als einen Gelehrten zeigen, der aber Geiſt und
Geſchmack habe, und kramte daruͤber mehr Gelehr⸗
ſamkeit aus, als für feine Cavaliere und Damen diens
ld war. D’Argens empfahl fich übrigens auch’
dadurch, daß er nicht bloß die Moral unangefochten
ließ, fondern auch die pofitive Religion und ihre Aus
toritaͤt durch feine Art zu philofophiren unterflügen
wollte. Unter den Günftlingen Friedrih’s und
ben damaligen franzöfifchen Philoſophen überhaupt
war d' Argens vielleicht der einzige, der noch mit
Aufrichtigfeit dem katholiſchen Kirchenglauben fich ers
geben Hatte; anſtatt daß die übrigen es füch recht zue °.
ernftlichen Angelegenheit machten, diefen katholiſchen
Kirchenglauben herabzumürdigen, ihn von einer laͤ⸗
cherlichen oder veraͤchtlichen Seite zu fchildern, und
dagegen den Deismus oder den entſchiedenſten Natu⸗
ralismus anzupreifen,
, Ein großes aber ſehr voruͤbergehendes Auffehen,
am meiften in Deutfchland, erregte ein anderer Guͤnſt⸗
ling Friedrich's des Größen, fa Mertrie. -Sein
vornehmſtes Beftreben, und auch die Tendenz aller feis
ner Schriften *), zielten dahin ab, den Naturalismus
als das einzig wahre philofophifche Syſtem geltend zu
machen. Die Grundlage feiner Vorſtellungsart war
| | | vom
. ®) Oeuvres philofophiques de Mr. de la Mersrie; London _
/ /
318 Gefchichte der neuern Philoſophie
vom Epifur erborgt. Er bat nur die Epifurifche
Lehre durch manche Data aus der neueren Maturs
kunde aufgeftußt, und fie in eine moderne ‚gefälligere
Form gebracht. Unter feinen Schriften finder ſich
auch eine befondere Erörterung des Epikuriſchen Sys
ſtems, ‚die aber der Charafteriftif eben diefes Syftems
in den Werfen des Gaſſen di an hiftorifcher und philos
ſophiſcher Richtigkeit und VBollftändigkeit weit nachfteht,
‚und eine Parallele defielben mie andern Syſtemen.
Anm bekannteſten ift Ia Mettrie geworden als
Verfechter des pfyhologifhen Materialismus.
In drey Abhandlungen: L’homme machide, Traitg
de.l’ame, und L’homme plante fuchte er die Michteris
ſtenz einer geiftigen Seele, und die abfolute Identitaͤt
der fo genannten Geele mit dem Körper und der Or⸗
ganifation defjelben,. zu beweifen. eine Gründe
Laufen meiftens darauf hinaus, daß die Seele in allen
ihren Aeußerungen vom Körper abhängig ſey, und
ſich alfo die Selbſtſtaͤndigkeit und abfolute Wirkſam⸗
keit jener gar nicht darthun laſſe. Beym erſten
Blicke iſt das Raͤſonnement des la Mettrie ſehr
taͤuſchend und einnehmend. Jene Broſchuͤren gehoͤr⸗
ten daher bey ihrer erſten Erſcheinung ebenfalls zu den
Ueblingsſchriften fuͤr eine gewiſſe Claſſe des Publi⸗
eum's, unter andern für die Offizire der Preußiſchen
Armee im fiebenjährigen Kriege; und felbft der große
Friedrich feine, zum mindeften eine Zeitlang,
vielleicht durch Mitwitfung des la Mertrie, dem Mas
texialismus angehaugen zu haben. Bey firengeree
Prüfung aber beweifen la Merrrie’s Argumente
nicht mehr und nicht weniger, als daß der Körper
in dem geaenmärtigen empirifchen geben ein unentse
behrliches Drgan der Seele fey; die wu
Ä \ legten
während D-acht}. Jahrhund. 5. auf Kant. 319
legteren alfo durch. jenen. beſtimmt und modificire
werde; allein den Materialismus beweifen fie.nicht,
Gegen la Mettrieerfchien eine Schrift von Luzae:
Lhomme plus que machine, die aus der gemeinen
Denkart ohne wahre philoſophiſche Gruͤndlichkeit
argumentirt. Den la Mettrie kann man uͤbrigens
mit Recht einen Atheiſten nennen. Seine Grund:
ſaͤtze waren zugleich fuͤr die Moral und Religion hoͤchſt
verderblich. | | Ä —
Als Philoſoph, wiewohl noch ungleich mehr als
Mathematiker und Phyſiker, zeichnete ſich auch unter
Friedrich's Lieblingen de Maupertuis aus,
Praͤſident der Afademie der Wiſſenſchaften in Berfin.
Seine Werke find größtentheils marhemasifchen und
pbyſikaliſchen Inhalts. Im philoſophiſchen Fache
verdienen nur zwey Schriften von ihm erwaͤhnt zu
werden, die auch einzeln gedruckt find: Eſſat de Cos-
mologie und Eflai de philofophie morale *). |
In der erfteren unterfcheidee Maupertuig zwey
Hauptparteyen der Metaphyſiker ſeiner Zeit. Die
eine glaubte an. eine bloß materielle Maturordnung ,
und ſchloß jedes: intelligente Priucip von det Natur
aus. Zum mindeften verlangte fie, dag: man zur
Erklaͤrung der Naturphaͤnomene niemals zu diefem
Principe feine Zuflucht nehme, und die Finalur⸗
ſachen gaͤnzlich verbanne. Die andere berief ſich
unaufhoͤrlich auf dieſe Finalurſachen, entdeckte uͤberall
RE En in
D Oeuvres de Mr. de Maupertuis. Nouvelle edition
orrigie et augmentöe. Tomes IV. à Lyon 1756. 8.
Der Eflsi de Cosmologie fteht im erften Bande, Es
erſchien beſonders zu Berlin 1750. 8, und in einer
bdeutſchen Ueberfegung ebendafelbft 1751. —
’
: f —* X
320 Gecſchichte der. neuern Philoſophie NER er,
in der Natur Abſichten des Schöpfers, und wollte
dieſe Abfichten auch in den kleinſten und geringfügige
ften Phänomenen errathen. Der erfteren Partey zus
folge fann das Univerfum ganz ohne die Gottheit bes
ſtehen. Die größten Wunder fogar, welche man
in demfelben wahrnimmt, beweifen die Nothwendig⸗
keit der Gottheit nicht. Mach der anderen Partey
find umgekehrt Die unbedeutendſten Dinge im Univerſum
eben fo viel Demonſtrationen des Daſeyns Gottes.
Die goͤttliche Allmacht, Weisheit und Guͤte / ſind
gleichſam abgebildet auf den Fluͤgeln der Schmetter⸗
linge und in den Geweben der Spinnen. Beyde
Parteyen führten mit einander den lebhafteften Streit, _
ur mit ungfeichen Waffen. Die erfte Partey focht
- bloß mir philofophifchen Gründen, und war im Gans
gen toferant; die andere aber focht mit Firchlichen
Waffen (des armes facrdes), und ſuchte diejenigen
verhaßt zu machen, und als gefährliche Menfchen zu ,
verfchregen, die ſich nicht von ihr überzeugen laſſen
wollten,
Manpertuis trat zwifchen beyde Parteyen im
die Mitte. Er eiferte fehr bitter gegen den Miss
brauch der Tefeologie, die er für ein Hirngefpinft er⸗
Märte. Das: Spftem der Natur als Ganzes genonis
men ift völftg hinreichend, uns von der Exiftenz eines
unendlich mächtigen und weifen Weſens als Urhebers
und Regierers dDerfelben zu belehren. Wenn man ſich
aber, wie mehrere Philofophen gerhan haben, bloß
an einzelhen Dingen und Theilen des Weltalls hältz
fo wird man eingeftehen müffen,, daß die Argumente,
welche die Philoſophen von diefem erborgen, die Stärke
nicht haben, die fie ihnen beymeſſen. Es giebt des
Guten und des Schönen in der Welt genug, =
die
N
»
| während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, 321
die ſchaffende Hand der Gottheit darin zu erkennen;
aber nicht jedes Ding einzeln und an und fuͤr ſich ift
gut oder fehön genug, um jene göttlich fchaffende
Hand nicht darin zu verfennen. Maupertuis führe
mehrere Raiſonnements der unmeifen teleologifchen Bes
wunderer der Natur an, die der Atheiſt eben fo gut
benugen fönte, wie fie. Die, göttlichen Abfichten,
Die man in den einzelnen Naturdingen findet, werden
oft in diefeiben bineingeträumt, und es ift eine läps
pifhe Befchäfftigung, dergleichen darin aufzufuchen. |
Der Zufall kann eben fo gut eine Menge Gefchöpfe
heroorbringen, die ſehr zweckmaͤßig fcheinen; und fo
koͤnte er auch wohl beym Urfprunge der Welt die
Mannichfaltigfeit der Maturdinge gebildet haben,
son welchen fih nur diejenigen erhielten, Die fo ges
baut waren, daß ihre Organifation eine Fortpflaus
zung möglich machte. Maupertuis verwarf des⸗
wegen auch den phnfifchtheofogifhen Beweis des
Dafenns Gottes, fofern er aus den Eleinen Details
des Baues einer Pflanze oder eines Inſeets, wie zu
feiner Zeit von den Theologen oft gefchehben war, ge:
führt wurde; da wir das Verhaͤltniß diefer Einzelheis
zen zu dem unermeglichen Ganzen nicht kennen, weis
ches wir gleichwohl kennen müßten, um Daraus die
Allmacht und Allmeisheit des. Schöpfers zu bes
weiſen. Achtet man aber auf. das Weltganze als
ſolches, fo mögen wir immerhin in einzelnen Theile,
des Univerfums Ordnung und Schicklichkeit vers
miſſen; das Ganze bietet Gründe genug dar, Die
allen Zweifel an dem Dafeyn eines allmäcdhtigen und
— Schoͤpfers vernichten.
In einem der allgemeinſten Naturgeſetze glaubte
Maupertuis einen neuen und fihern Weg entdeckt
Buble's Geſch. d. Philof. VI. 2. x RL
322 Geſchichte der nenern"Philofophie
zu haben, auf welchem man zur Erfentmiß Gottes
: Al8 des Urhebers der Natur gelangen koͤnne. Jenes
Maturgeſetz war dasjehige, auf welches fich übers
haupt die Gefege der Bewegung gründen: Wenn
fich irgend eine Veränderung in der Natur
ereignet, fo ift die zu. diefer Veränderung
angewandte Auantität der Thaͤtigkeit im—⸗
mer die möglich Meinfte Die Thaͤtigkeit iſt
Das Product der Maſſe des Körpers, multiplicitt
Durch feine Gefhwindigfeit, uud den Raum , welchen
en durchläuft. Maupertuis hatte dieſes Princip
querſt in einer der Akademie der Wiffenfchaften zu
Maris vorgelefenen Abhandlung -aufgeflellt, die auch
An die Sammlung feiner Werke aufgenommen iſt.
Er unterfcheider es noch von dem alten befanten Foss
‘mologifhen Arieme: Daß die Natur immer-bie
seinfachften Mittel zu ihren Zweden wählt
- (Que la nature agit toujours par les voies- les plus
fimples.) Diefes Ariom, das nur gültig ift, wenn
die Eriftenz und Vorſehung Gottes fhon vorher bes
wieſen find, ift fo unbeſtimt, daß: man den wahren
Sinn und die Anmendbarfeit defielben ‚gar nicht zw
errathen vermag. : Es komt bier darauf an, alle
Gefege der Mitteilung der Bewegung aus einem
‚einzigen Principe abzuleiten, oder.nur ein einziges
Primeip zu finden, womit fich alle jene Geſetze vertras
gen: eine Bemuͤhung, die mehrere der geößten Phi
-Jofophen bis dahin vergeblich unternommen: haben. : ©»
- - Dem Des Cartes gelang #8 nicht, das Princip
zu ergründen, und das beweiſt binlänglich , wie viel
Schwierigkeiten die Entdecfung desfelben haben müfle.
Er glaubte, Daß in der Natur diefelbe Quan⸗
sität der Bewegung fih immer erhielte, ins
; | ae Ä dem
mährend d. acht. Jahrhund. B. auf Kant: 923
den er das Product der Maſſe multiplieitt durch die
Geſchwindigkeit fuͤr die Bewegung nahm. Bey der
entgegengeſetzten Wirkung verſchiedener Theile der
Materie ſey die Modification «dev: Bewegung: jo bes
Schaffen, daß die Mailen, -jede durch ifre Geſchwin⸗
digkeit multiplicirt, nach dem Stoße diefelbe Summe
ausmachten, welche fie vorher ausgemacht Härten,
Hieraus entwicfelte er feine Gefeße der. Bewegung.
Die Erfahrung bat gezeigt, daß fie falfch waren
weil das Princip ie falfh war
Leibniz irrte ſich hierin ebenfalls. — die
— Geſetze der Bewegung ſchon eutdeckt waren,
ſo gab er doch gerade ſo falſche an, wie die Carteſi⸗
ſchen ſich erprobt hatten. Nachdem er feinen Irr⸗
thum einſah, ſtellte er ein neues Princip auf:: Daß
in Der Natur Die lebendige Kraft fih immer
gleich bleibe. Unter der lebendigen Kraft vers
ftand er das. Product der Maſſe multiplieire durch
das Quadrat ihrer Gefhwindigfeit. . Wenn die Körs _
per fih in entgegengefeßter Richtung bewegten, ſo
fey die Modification der Bewegung vonder Art, daf
die Summe’ der Maffen, jede durch das Quadrat
ihrer Gefchwindigfeit multiplicire, nah dem Stoße
Diefelbe bliebe, Die fie vorher war. Diefes Theorem
war mehr eine Folge einiger bejonderer Geſetze der
Vewegung, als des Princips dieſer Geſetze. Huy—
gens, der das Theorem zuerſt erfand, hatte es nie
als Princip-berrachtet, und Leibniz, Der immer vers
ſprach, es a priori zu begründen, hat doch fein Vers
fprechen nie erfüllt. Die Erhaltung der Iebendigen
Kraft finder unftreitig im dem Stoße elaftifcher. Körper
ftatt; ‘aber feinesweges in dem Stoße harter Körs
der; ; und man kann Die Öefege der Bewegung dieſer
X 2 Koͤr⸗
*—
324 Gefchichte der neuern Philoſophie
Körper nicht nur nicht daraus deduciren, fondern die
Geſetze, weichen die Bewegung diefer Körper folgt, find
ſogar mit jener Erhaltung der lebendigen Kraft im
Widerſtreite. Als man dep teibnizianern dieſen Ein⸗
wurf machte, nahmen fie lieber die Ausflucht, daß
es gar. feine harte (unelaftifhe) Körper in der
Matur gäbe, als daß fie ihe Princip hätten der
Wahrheit aufopfern follen. Sie ergriffen alfo das
feltfamfte Paradoron, mozu die Vorliebe für: ein
Shyſtem nur verleiten kann; ‚denn Die primitiven
Körper, oder diejenigen, welche die Elemente aller
Körper ausmachen, können nah Maupertuis
durchaus niches anders, als harte Körper, ſeyn.
’ Vergebens, behauptete der franzöfifche Philos
ſoph in Berlin, haben alfo die Ppilofoppen bisher
Das Prineip der Gefege der Bewegung in einer uns
veraͤnderlichen Kraft, in einer Quantität derfelben,
die bey allen Eollifionen der Körper fich gleich blie⸗
be, geſucht. Es exiſtirt fo etwas nicht: Vergeblich
träumte Des Cartes fi eine Welt, die nach ih⸗
ger einmaligen Schöpfung der Hand des Schöpfers
entbehren könne. Vergebens fuchte Leibniz dasſelbe
Reſultat aus einem andern Principe abzuleiten, Kei⸗
‚me’ Kraft und feine Quantität derſelben, die man als
NUrſache der Vertheilung der Bewegung anfehen kann,
Bleibe unveränderlih. Aber es ift eine vorbans
den, Die in jedem Momente von neuem herz
‚vorgebraht, und fo zu reden von neuem ges
fhaffen, immer mitder möglich größten Des
Fonomie hervorgebracht wird. Dadurch vers
raͤth das Univerfum feine Abhängigfeit von feinem
Urheber, und fein Bedürfnig der Gegenwart desfels
ben, und bemweift zugleich, daß dieſer Urheber eben
| fo
während de achtz. Jahrhund. 6, auf Kant. 325
fo: allweife, wie allmaͤchtig iſt. Dieſe Kraft iſt das,
was M. Thaͤtigkeit (adion) nennt. Aus dem
Principe: deducirt er. alle Geſehe der Bewegung ſo⸗
* der elaſtiſchen, als der harten Koͤrper.
7 Dieſes Princip entſoricht nicht nur der Idee,
welche. wir von dem hoͤchſten Weſen haben, weil
Diefes nach demfelben ftets auf. die weifefte Art
handeln muß; ſondern es ftelle auch das Univerſum
in feiner unbegrenzten Abhängigkeit yon dem hoͤchſten
Mefen dar. Die aus ibm abgeleiteten Gefege dee
Bewegung find genau diefeiben mit denen, welche
wir in der Natur beobachten; und wir können jegt die
Anwendung davon auf alle Phänomene, in der Bes
wegung der Tpiere, in der Vegetation der Pflanzen,
im Kreislaufe der Geſtirne, bewundern. Das
Schaufpiel der Welt wird viel größer, viel fchöner,
viel würdiger feines Urhebers. Dur auf diefe Art ges
langt man zu einer richtigen Vorſtellung der. Allmache
und Weisheit des Schöpfers; micht aber, wenn:
man fie nach einzelnen Dingen oder Fleinen Partieen
des Liniverfum’s beurtheilt, deren. Conftruction,. Ges:
Brauch, Verbindung mir allen übrigen uns unbekant
find. Welche Satisfaction für den. menfchlichem,
Geiſt, in der Erwägung jener Gefeße, die das Prinz
eip der Bewegung aller Körper im Weltalle find,
den Beweis des Daſeyns deſen a finden, der das
Weltall beherrſcht!
Diefe fo einfachen Gefege find vielleicht die ein⸗
zigen,. welche der Schöpfer in der Materie begrüns
det hat, um alle Phänomene der fihrbaren Welt zu
bewirken: Einige Philofophen find fühn genug ges
page Aus * allein - ganzen ——
& 3 un
336 Gefchichte der neuern Philoſophie —J
und ſalbſt die erſte Blidung des Weltalls zu erklaͤren
Gebt uns, riefen fie aus, Materie und Bewegung,
und wir fchaffen euch eine Welt wie die gegenwärd
tige! Eine Anmaaßung, die jedoch unftreitig zu aus⸗
ſchweifend war! Es iſt allerdings eine Moͤglichkeit,
daß die Abhaͤngigkeit des Univerſum's von ſeinen pri⸗
mitiven und allgemeinſten Bewegungsgeſetzen aufge⸗
hellet werde. "Aber es wird doch immer große Luͤcken
zwiſchen den einzelnen noch ſo ſchoͤn verketteten Sy⸗
ſtemen der Kosmologie geben; und wenn wir über:
die- Unvollfoninienheit des Werkzeuges nachdenken,
mitielſt defien wir diefe Syſteme bilden; fo werden’
wir. dennoch: mehr Urfache haben, über unfere Ente
deckungen zu erftaunen,, als darüber, daß uns noch
ſo vieles verborgen ift. —
Das Argument des Maupertuis für das Das
feyn Gottes, daß die Matur für ihre Zwecke immer
den geringften Aufwand von Kraft mache, und daß
dieſes einen allmeifen und allmächtigen Schoͤp—
fer derfelben erfodere, weil Fein Anderer urfprünge
lich das Fleinfte umd doch ftets hinreichende Maaß von-
' Kräften, das zur Erzeugung und Erhaltung der Nas‘
turdinge noͤthig war, hätte erfennen und beſtimmen
mögen — iſt bei) genauerer Beleuchtung nicht fo viel
werth, wie es zu fenn fcheint, und ſchon Reimas
rus- der. Ältere hat im feinen Abhandlungen über die
— Theologie die Schwaͤchen desſelben aufge⸗
eckt. —
Es beruht erſtlich auf der Vorausſetzung, daß
das Geſetz der Sparfamfeit- (lex minimi) als ein
norhwendiges Grundgefeg in der Natur anerfannt:
werden muͤſſe; was noch problematiſch ift.. Es
u Ze Ze ſcheint
-
während. d. ur Jahrhund. b. auf Kant. au
ſcheint zwar durch die Erfabrung beſtaͤtigt zu werden;
aber es ift Doch kein Geſetz a priori, und folglich kein
nochivendiges Marurgefeß. Selbſt aus. der Exfahs:
zung läßt fich Die Induction niche vollftändig machen..
‚ Manche Wirkungen menſchlicher Kunſt find eine In⸗
ftanz dagegen. Die Kunft kann mit geringeren Kräfs
ten durch eine zwecfmäßigere Richtung und Combinas
tion derfelben eben die Wirfungen hervorbringen,
welche die Natur mit groͤßerm Aufwande von Kraft
hervorzubringen pflegt.
Man kann inzwiſchen — das Geſetz der
Sparfamfeit der Natur als ſolches gelten laſſen; es
wuͤrde dennoch von demſelben kein Beweis fuͤr das
Daſeyn Gottes entlehnt werden koͤnnen. Denn jenes
Geſetz gilt doch immer nur fuͤr unſere ſubjective Vor
ſtellungsart. Wir koͤnnen keine kleinere Kraft den⸗
ken, welche die Natur zur Erreichung ihrer Zwecke
haͤtte gebrauchen moͤgen. Es waͤre aber doch gar wohl
moͤglich, daß ein Weſen von tieferer und vollſtaͤndi⸗
gerer Erkentniß, als wir beſitzen, eine noch kleinere
Kraft kennte, wodurch ſich die Naturdinge hätten bes
wirfen laſſen. Womit will man beweiſen, daß nicht
noch eine-Fleinere Kraft möglich wäre zu Demfelben
Zwede, als wir in der Natur wirflich gebraucht ans
treffen? Das Dafeyn eines allweifen und allmäch:
sigen Schöpfers ergiebt fich demnach aus dem Öefege
der r Sparſamleit im geringſten nicht.
Wollte man auch davon abſtrahiren, daß das
Geſetz der Sparſamkeit nur eine Bedingung unſerer
ſubjectiven Vorſtellungsart ſey, und ſich darauf ber
rufen, daß die Wirkung nie groͤßer ſeyn koͤnne, als
bie Kraft; daß folglich, — allemal die: kleinſte
X4 Kraft
328 Geſchichte der neuern Philoſophie
Kraft gebraucht ſeyn muͤſſe, um die ihr entſprechende
Wirfung bervorzubringen; fo fann man gerade Dies
nicht ein Gefeg der Sparfamfeit nennen; denn
diefer Begriff bringt mit ih, daß die Natur eine
größere Kraft gebrauchen koͤnte, als fie wirklich. ges
braucht, d. i. daß die Wirfung geringer ſehn fönte,
als die auf fie gewandte Kraft. Dies ſtimt gleiche
wohl nicht mit der obigen Vorausfegung zufanımen,
Muß die Wirkung allemal der Kraft nothwendig ents
fprechen; fo gefchiebt Dies auch bey dem Syſteme der
faralen Nothwendigkeit und des Zufalls,; und es
würde hieraus fih durchaus nicht auf die Exiſtenz
eines allweifen und allmächtigen Schöpfers der Nas
tur fchließen laſſen. >
Der vermeynte Beweis des Maupertuis für
das Dafeyn Gottes war alſo nichts weiter, als ein
blendender Einfall, dergleichen oft in der Philofophie
die Stelle von Beweifen haben vertreten follen ‚:bis
man den täufchenden Schein davon aufdeckte. Was
er aber gegen den Misbrauch der Teleologie' fagte,
war fehe gegründet; obgleich er gegen die Teleologie
überhaupt ‚genommen tiederum zu einfeitig decla⸗
mirte, ba er. den wahren Urfprung, Grund und Werih
dev teleologifchen Reflexion verfannte. “ra
Mod ehe der Ältere Reimarus den fosmolos
giſchen Verſuch des Präfidenten Maupertuis feiner
Kritif unterwarf, fand diefer einen Gegner an Koͤ—
nig, ehedem Mitglied der Afademie zu Berlin.
Der legtere geiff im 9. 1751 in einem befondren Aufs
fage nicht nur mehrere Artikel jenes Verfuhs anz
fondern bebauptere auch, Daß einige vermeynte Ent⸗
deckungen des Franzöfifchen Philoſophen dem teibniz
ger.
während: d: achtz. Jahrhunde bi auf Kant. | 329 -
gebührten, und eitirte zum Beweiſe dieſer Behaup⸗
nung ein Fragment eines Leibniziſchen Briefes. Da
König ih auch hierauf nicht einjchränfte, und auch
andere Mitglieder der Akademie zın Berlin eines an
Leibniz begangenen Plagiars befchuldigte,: das fie
fih in ihren der Akademie vorgelefenen und abge⸗
drucken Memoires erlaubt hätten; fo war die ganze
Akademie bey; diefer Beſchuldigung inteteffirt, und
es erhob fich zur Vertheidigung ihres: Literarifchen Eis,
genthums zwijchen ihr uud König ein Streit, der
wit — er und Bitterkeit geführte wurde.
ei; Die Arademie foderte König’en anf 4 den
Driginalbrief vorzuzeigen, aus welchem er das Frag⸗
ment citire hatte, und der große Friedrich.als Pros
‘sector der Akademie, fchrieb felbit an den Magiftrat
zu Bern, um.den Brief da aufjuchen zu laflen, mo
er nach Koͤnig's Angabe feyn follte. Der Magiftrat
in Bern verficherte aber, daß ungeachtet der genaues
ſten Nahfuhung fich feine Spur von Leibnizifchen
Briefen in Bern finde. König bemühte ſich jetzt,
die Verbindlichfeit abzulehnen, die er habe, den
Leibniziſchen Driginafbrief vorzuzeigen, und entſchul⸗
digte ſich auch mit der Schwierigfeit, ihn wieder zu
finden. Die Afademie erffärse hierauf diefen Um—
ftänden ‚zufolge, und felbft nach der Beſchaffenheit
des Fragments und. der Art, wie es citirt war, dem
angeblichen teibnizifchen — für unecht und ers
Dichter... er
König ergoß fi — als ob ihm Un, |
recht wiederfahren fen, in Snvectiven gegen: Maus
pertuis und die Afademie zu Berlin, und anflatt
fi weiter auf den Seibnisifgen Brief zu erufey)
5 es
330 Geſhichte der neuern Philoſophie a
beſttebte er ſich, ——— daß das von Mauper⸗
tuis aufgeftellte Princip nicht nur ſchon von Lei bniz
anderweitig aufgeſtellt ſey oder habe aufgeſtellt werden
koͤnnen; fondern Daß es überall gar Fein neues oder
unbekantes Princip fey, und mie dem’ alten Ariſtote⸗
liſchen Axiome: dag De Marur:in thren Wir—
fungen nichts um ſonſt thue, und immer den
beſten Zweck beabſichtige, zuſammenſtimme
Euler unternahm alſo eine eigene Unterſuchung,
was die aͤltern Philoſophen, die ſich des Ariſtoteli⸗
ſchen Axioms bedienten, darunter verſtanden haͤtten,
und ſetzte die neue Ungerechtigkeit. in’s Licht, welche
König feinem Gegner zugefügt babe: Aus der Ans
wendung, welche-Leibniz feldft von dem Ariſtoteli⸗
ſchen Axiome gemacht hatte, zeigte er; daß dieſer das
Princip des Maupertuis nicht -gefant habe. Er
bewies fogar, daß ſelbſt Wolf, der treuſte, eifrigfte;
und einfichtsvollfte Schüler Leibniziens, da er dass
felbe Axiom auf denjelben Gegenftand anwenden
wollte, gänzlich feinen Lehrer verließ, ohne fich deshalb
dem Principe des Maupertuis mehr zu näher.
Kurz Euler hob aus den Werfen Leibniz'ens die
entfcheidenditen. Beweife hervor, daß die Authenticis
tät des angeblichen Leibnizifchen Briefes ſchlechthin
unmöglich fey. Leibniz habe von den Mauperruiss
ſchen Princip nicht bloß bey ſolchen Gelegenheiten gar
feinen Gebraudh gemacht, wo das: dDringendfte Bes
duͤrfniß dazu für ihn eintrar; fondern er fen auch,
um zu benfeben Folgerungen zu gelangen, von. einent
ganz entgegengefeßten Principe ausgegangen. Die
Stärke dieſer Beweife fen fogar für diejenigen, welche
| | fie mie mathematiſcher Strenge unterſuchten, fo groß,
Daß wenn man felbft dem Heren König einen Brief von
2 ie ibniz, der das von ſeuem citirte Fragment enthielte,
vor⸗
während de achtz. Jahrhund. b auf Kant, 331
yorgewiefen hätte, doch aus den Beweifen erhellen
würde, man habe ihn in Anfehung diejes Briefes be⸗
trogen. Da die Schriften Leibniz'ens bey feinen
Lebzeiten und unter. feinen. Augen „gedruckt feyen, fo
hätten fie mehr Autorität, als irgendein angeblich:
von ihm befchriebeies Blatt, das zu einer Zeit ‚zum:
Borſcheine komt, da zeibniz nicht mehr lebte.
Geſetzt aber. auch daß Leibniz das Princip,
des Maupertuis. gefant, und andern in Briefen
mitgerheilt hätte, fo. würde dennoch) diefem das Vers
dienft gebüßren, dasſelbe glücklicher angewandt und
beuußt zu haben, als jener, Denn bey aller Kents
niß, welche Leibniz von dem Principe gehabt haben
möchte, iſt es doch außer Streit, Daß weder er, noch
irgend ein Andrer, die allgemeinen Gefege der Des.
wegung aus einem Principe abgeleitet haben, welches -
die Weisheit. und-Allmacht des höchften Weſens auss
drückte,, und dan die geſamte Natur unterwor⸗
war.
Zur theoretiſchen Phuhſerhie gehoͤrt auch eine
——— Maupertuis's vom Syſteme der
Natur, oder dem Principe der Organiſation
Sie erſchien zuerſt in Form einer lateiniſchen Diſſer⸗
tation, angeblich zu Etlangen gedruckt, und unter
dem erdichteten Namen des Doctor's Baumann,
ward aber bald hernach, da der wahre Verfaſſer
bekant wurde, in's Franzoͤſiſche uͤberſetzt, und in
dieſer Ueberſetzung ſteht ſie au in Manpertuis
Werf en ).
Die
\
— Oeuvres ei Munperteis T. II. p. 137. E⸗ ‚giebt
drey beſondere — des — ————— — rm
332 Geſchichte der neuern Philoſophie | |
Die Hauptideen find diefe: In der körperlichen
Natur müffen -fich norhwendig ein marerielles und
ein-intelligentes Primcip vereinigen, da ſich die⸗
felbe aus einem dieſer beyden Principien allein fe
wenig, wie ans" anderen Hypotheſen, befriedigend
erklären läßt. Das Körperliche Weſen hat noch bes
fondere Modifieationen, die in dem intelligenten Prin⸗
eipe ihren Grund haben, und welche Maupertuis
im Allgemeinen durch die Wörter und Begriffe
Trieb, Abneigung, Gedaͤchtniß, Verftand
efir, averlion, meıinoire, intelligence) bezeichnet‘
und beftime "Bon. diefem intelligenten Principe
überhaupt befinden fich Anlagen in der Fleinften mas
teriellen Partifel, und in dem größten Thiere, Haͤt⸗
te es Schwierigfeit, den molecules der Materie einige
Grade von Intelligenz zuzugefteben, fo würde es nicht
minder Schwierigfeit haben, fie in einem Elephanten
oder einem Affen, als in einem Sandkorne, vorauss
zufegen. Ungeachtet dieſer Hypotheſe proteftirte gleichs
wohl Mauperruis lebhaft gegen den Vorwurf des
Atheismus. Er wollte ſich nur deswegen zu ihr bes
fennen, well fie ihm die dunfelften Phänomene hin⸗
länglich begreiflich mache. Ueberhaupt fuchte Maus
pertuis die kühnften pbilofophifchen Ideen, vollendg
zu. feiner Zeit, mit der tiefften Ehrfurcht gegen die
Religion ju vereinbaren. Gott hat die Welt geſchaf⸗
IROn- fagt er, und nun iſt es N des Mens
i ſchen,
la mature: die erſte lateiniſch — 1751; bie
zweyte mit einer franzöfifchen Ueberfegung ohne Jahtzahl
‚ und Drucort; die dritte bloß franzöfifh avec un aver-
etilſement et des conjedtures fur P’Auteur; Berlin 1751.
(fie ward zu Paris gedruckt). Der Abdruck in den
Oeuvres iſt nach ber zweyten diefer Ausgaben veranftale
set, und es ifb eine Reponfe aux objedions- (vornehms
4 Mh Diderot '6) ————
— c
>
während d. acht}. Japıhund. b. auf Kant. 333
ſchen, wenn es möglich iſt, Die Geſetze aufzufinden, |
durch die Er fie erhalten wollte, und: die Mittel, die
er zur Meproduerion der Individuen auserwähle bar,
Der Samenftoff der Eltern, der bey der Ber
gattung abgefondert wird, ift empfindend und den»
kend, und hat alfo auch einiges Gedaͤchtniß feines
vorherigen Zuftandes. Daher rührt die Erhaltung
der Arten, und die Aehnlichfeie der Jungen mit den
Alten. Es kann fich ereignen, dag der Samenftoff
in zu großer Menge vorhanden ift, oder dag ihm ges
wiſſe Elemente fehlen, oder Daß zweckwidrige Vereint-
gungen ‚überflüffiger Elemente entftehen. Dadurch
werden die Unmöglichfeit der Erzeugung, oder mon:
ftröfe Zeugungen, mie fie auch beſchaffen jeyn mögen,
verurſacht. Gewiſſe Elemente nehmen nothwendig
eine bewundernswuͤrdige Leichtigkeit an, ſich beſtaͤndig
auf dieſelbe Weiſe zu verbinden. Wenn ſie deswegen
verfchieden find, fo entſpringt hieraus die Bildung
mifroffopifchee Thierchen, die doch in’s Unendliche
varliren. Sind fie von einerley Natur, fo fann man
das Dafeyn der Polypen daraus erflären. Man
‚ Kann die Polypen mir einem Haufen unendlich Feiner
tienen vergleichen, die nur die lebhafte Erinnerung
(VBorftellung, memoire) eines einzigen Zuſtandes
haben, und daher in diefem Zuftande, der ihnen nas
türlich und gewöhnlich ift, bleiben. Wenn der Eins
Öruck eines gegenwärtigen Zuftandes des elementaris
(hen Samenftoffs mit det Erinnerung des verganges
nen das Gleichgewicht hält, oder fie ganz unterdrückt,
fo daß eine Gleichguͤltigkeit für jeden Zuftand erfolgt,
fo gebt hieraus Unfruchtbatfeit hervor, daher die Uns
feuchtbarfeic der Maulthiere.
Wer
334 Gecchichte der neuern Philoſophie
Wer haͤtte die elementariſchen intelligenten und
empfindenden Theile verhindern koͤnnen, ſich in's Uns
endliche von der Regel zu entfernen, welche die Art
conſtituirt? So entſtand eine unendliche Zahl von
Thierarten aus einem einzigen Urthiere; eine unend:
liche Zahl von Geſchoͤpfen, die aus dem Urgeſchoͤpſe
emanirten. Die organiſirte Natur beruht auf einem
einzigen Aete. ae N „
Aber wird nicht jedes Element, indem es fi
mit andern zufammenbäuft und combinirt, den kleinen
Grad von Empfindung und Perception verlieren,
welchen es befigt? Maupertuis antwortet: Keinegs
weges. Jene Qualitäten find ihm mefentlih, und
von ihm in jeder Mifhung und Verbindung. unzers
trennlich. Was. wird alfo geſchehen? Aus den vers
fihtedenen Perceptionen der vergefelljchafteten und »
verbundenen Elemente wird eine einzige entpringen,
der ganzen Mafje und Dijpofition angemefjen, und,
diefes Syſtem von Perceptionen, in welchen jedeg
Element das Bewußtſeyn feines Ich verloren haben,
und zum Bewußtſeyn des Ganzen concurriren wird,
wird die Seele des Thiers fey. Omues elemento-
sum perceptiones confpirare, et in unam fortiorem
et magis perfedtam perceptionem coalescere videntuf,
Haec forte ad unamquamque ex aliis perceptioni--
bus fe habet in eadem ratione, qua corpus organiſa-
tum ad elementum, Elementum quodyis ‘pofl foam
cum aliis copulationem, cum fuam perceptionem
illarum perceptionibus confudit, et fui confcientiang -
perdidit, primi elementorum ftatüs memoria nulla
fupereft, et noftra nobis origo omnino abdita manet,
Diderot machte gegen- diefe Hypotheſe des
Maupertuis einen ſehr erheblichen Einwurf. —
* ag⸗
waͤhrend d. achtz Jahrhund. b. auf Kant: 485
ſeagte, ob das: Univerſum, oder der Inbegriff alter
empfindenden und denfenden . materiellen Partikeln
(molecules), ein Ganzes bilde, oder, nicht? Bil⸗
Det er feim Ganzes, fo wird durch die Hypotheſe die
Eriftenz Gottes zweifelhaft gemacht, und die Unords
ung in die Welt eingeführt. Damit wird aber die
Balis der Philofophie vernichter, indem man Die
Kette. zerreißt, welche alle Weſen mit einander vers
Enüpft. Giebt aber Maupertuis zu, daß er ein
Ganzes iſt, wo die Elemente nicht weniger geordnet
ſind, als ihre Theile, wo die Theile der Elemente
wenigſtens intelligibel eben ſo regelmaͤßig geſchieden
ſind, wie die Elemente im Thiere; dann muß er auch
einräumen, Daß zufolge dieſer allgemeinen Ver—⸗
knuͤpfung Die Welt, gleich einen großen Thiere, eine
Seele habe; und daß, da die Wett unendlich fern
Tann, die Weltjeele auch-ein unendliches Syſtem von
Derceptionen ſeyn koͤnne, und folglich mir der Gott⸗
heit eine Identität ausmache. Wie auh Maupers
tuis gegen dieje Folgerungen fich auflehnen mag, fie
werden. darum nicht minder aus feinen Principien
‘ fließen, und nicht minder abjchreckend feyn. Es _
war nur nöthig, die Folgerungen zu verallgemeinern,
am Das Ubichreefende derfelben zu beinerfen. : Llebers
haupt ift das Verallgenteinern für Die Hopothefen des
Metaphyſikers, was wiederholte Beobachtungen und
Erfahrungen für die Conjecturen des Phofifers find:
Sind die Hypotheſen wahr; je mehr man ihre Folgen
entwickelt, defto mehr gewinnen fie an Evidenz und.
Guͤltigkeit. Im Gegentheile find die Hypotheſen und
Eonjeeruren falfch oder ſchlecht begründer; jo ſtoͤßt
man.bey den Folgerungen daraus, oder bey ihrer wei:
teren. Anwendung, entweder auf eine entfchiedene
— die mit ars in. offenbarem N
‚ ul,
336 Geſchichte der neuern Philoſohhie
iſt, oder auf eine Thatſache, wodurch ſie widerlegt
werden. Diderot geſtand uͤbrigens der Hypotheſe
feines tandsmannes das Lob zu, daß fie ſehr fi nureich
ſey, und von biefer Seite. Achtung verdiene. |
Die Vertheidigung des Maupertuis gegen
den Einwurf Diderors war eben nicht Die gründs
lichfte.. Er tadelt die Methode, eine Hypotheſe dar⸗
um zu verwerfen, weil fich abſchreckende Folgerungen
aus ihr ziehen laſſen. Es gebe feine. philoſophiſche
Hypotheſe, und wenn fie noch: fo wahrfcheinlih au
fich ſey, die nicht nach diefer Methode als verwerflich -
erfcheinen muͤſſe. Man leſe z. B. die Werke des
Des Cartes, des Malebranche, und ſehe, wie
dieſe großen Maͤnner die Bildung des Univerſums er⸗
klaͤrt haben, ziehe dann aus ihrer Erklaͤrung Folge
tungen, und frage fih; mas aus der. Körperwelt;,
aus der Bibel, aus der Allmacht und Freyheit Got⸗
tes werde? und man wird nicht umbin koͤnnen,
. jene. Exflärungen zu misbilligen, wenn man fie ledigs
lich in diefer Beziehung beurcheile und ſchaͤtzt.
Ferner: Wo wird der befchränfte menfehliche
- Geift je ein Syftem auffinden, aus welchem alle Fols
gerungen zufammenftimmen? Ein folhes Syſtem
- würde die Erklärung von Allem feyn, und dazu wird
es der Menſch nie bringen. Alle unfere philofophis
ſchen Naturſyſteme, ſeibſt die umfaſſendſten und voll⸗
ſtaͤndigſten, begreifen Mur. einen unendlich kleinen
Theil des Plans, welchen die hoͤchſte Intelligenz ber
. folge hat; wir Finnen das Verhaͤltniß weder aller
Theile zu einander, noch zum Ganzen, einſehen. Wols .
ten wir das Syſtem, das zunächft einen diefer Theile
beirifft, und. von ihm entlehnt ift, zu weit treiben,
und
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 337 .
aud bis innerhalb. der Grenzen eines andern Theils
serfolgen; ſo ftoßen wir auf Schwierigfeiten, Die uns
überwindlich fcheinen, und. es vielleicht wirflich find;
Die aber auch wielleicht nichts weiter als bloße Luͤcken
in unferer Erfenntniß find, und gegen die Wahrheit des
Syſtems nichts: beweifen ; hoͤchſtens nur uns ‚belehren, /
was wie noch wiſſen müßten, und daß wir nicht Alles
wiſſen. Erklaͤrt ein Philoſoph oder, ein Naturfor⸗
ſcher ein Phaͤnomen, ſo ruft die eine Partey ſogleich
Boll Jubel: nun ſey alles entdeckt; während einer au⸗
deren irgend eine Schwierigfelt übrig bleibt, wodurch
*
*
fie bewogen wird, jene Erklaͤrung ſofort zu ver
fhmähen. Beyde Parteyen übereilen fih, und jede
bat unrecht nur jede aus einem andern Grunde.
Beh dem von Diderot vorgelegten Dilemma A
daß der Inbegriff der empfindenden und denfenden
materiellen Parrifen entweder ein Ganzes feyn
muüuͤſſe, oder nicht, ‚und daß in beyden Fällen der °
Theismus fich nicht behaupten koͤnne, bemerft Maus
pertuis, daß Diderot in negatiben Falle den Bes
griff des Ganzen unbeflimme gelaffen babe, - Verſteht
er unter. dem Ganzen dasjenige, jenfeit deſſen
nichts mehr iſt; fo.ift die Frage: ob das Unis
verſum ein Ganzes fey, oder nicht? für die
gegenmärtige Unterfuchung gleichgültig. Dies fcheint
jedoch nicht der Sinn zu fegn, welchen Diderot mit
- dem- Ganzen verband. Verſteht er aber darunter
ein regelmäßiges Gebäude, eine Verbindung verhälts
. mäßiger zufammenftimmender Theile, deren jeder an
inem ſchicklichen Orte ift; fo kann man ihm auf die
—3 ob das Univerſum ein Ganzes ſey, oder
nicht? autworten Ya oder Mein, wie Diderot
— will. Antwortet man, daß das: Univerſum fein Öau;
Buhle's Geſch. d. Philoſ. VI. 2. Y zes
338 Gefkhichte der neuern Philoſophie
zes ſey, fo laͤuft man nicht mehr Gefahr, uud hat
nicht mehr zu fürchten, daß Das Daſeyn Gottes dabey
problemarifch werde, als es die fromſten Philofophen,
3. B. Malebrande, davon gefürchtet haben, die,
weit entfernt, das Univerſum als ein, regelmäßiges.
Ganzes anzunehmen, es vielmehr wie einen Haufen
von Ruinen betrachten, in welchem man bey jedem.
Schritte Unordnungen aller Are antrifft, im Phyſiſchen,
Metaphyſiſchen, und Moralifhen. Beantwortet
man hingegen die obige Frage mit Ja, das Univers
fum fen ein Ganzes, fo folgt daraus, daß in einis.
gen befondern Körpern, z. B. dem thierifchen, die
elementarifhen Perceptionen fidy vereinigen, ‚um eine
einzige Perception zu bilden, nicht, daß diefe Vers
einigung der Perceptionen fich nothwendig auf das
ganze Univerſum erſtrecken müffe. Die Art zu rais
fonniren, welche Diderot das Verallgemeinern
(’ade de la generalifation) nennt, ift nichts weiter,
als eine Art von Analogie, bey der man ſtehen
bleiben fann, wo man will, und wodurch fich weder
die Falſchbeit, noch ‚die Wahrheit eines Syſtems
beweifen läßt.
Sollte aber unter dem Ganzen etwa der Gott
des Spinoza gemeynt werden, fo leugnet Maus
pertuis beftimt, daß das Univerſum ein Ganzes
fey, .und behauptet, daß fein Syſtem Feinesweges
anf diefes Reſultat führe, Die Vereinigung der Pers
ceptionen efementarifcher Theile, welche die Körper
der Thiere bilden, meynt er, ziehe fo wenig gefährs
liche Folgen nach fih, daß man fie dreift fogar in dem -
betraͤchtlichſten Theilen des Univerfums annehmen,
und z. DB. deu großen Himmelskoͤrpern eine Art von
Inſtinet oder BEER at fönne, ohne daß
man
während d. achtz Johrhund. 6. auf Kant. 339
man damit das Dafeyn von eben fo viel Gsttern ans
nehme. Maupertuis beruft fih auf die anjehnliche
Zapht heydnifcher und chriftlicher Philoſophen, die den
Geftirnen Seelen zugejchrieben haben. -
Es fällt in die Augen, daß die Hypotheſe des
Maupertuis aus der Leibniziſchen Monadenlehre
hervorgegangen, und nur eine befondere Anwendung
diefer iſt. Sie hat alfo auch diefelben Gründe gegen
ſich, die gegen die Monadologie flreiten, und würde
von den philofophifchen Zeirgenoffen ihres Urheberg
leichter haben widerlegt werden koͤnnen, wenn fie die
rapie angegriffen hätten, auf denen fie beruhte
Erftlich mußte das Dafeyn von Perceptionen in der
Materie bewiefen werden, fo daß fich dergleichen auch
in den Meinften Partifeln der Materie fänden, und
wefentlich zu ihr gehörten; was fich nie wird beweis
ſen laſſen. Dann hätte Maupertuis au aufbels
fen müffen, wie die Wereinigung einer Menge vers
fehiedener Perceptionen auf eine folhe Art möglich
fey, daß Daraus eine einzige Perception, die Eins
beit Des ch, werde; was ſich wiederum aus feis
nen Vorausſetzungen nicht aufbellen ließ, Die Hy⸗
potheſe hat uͤbrigens mit der Monadologie einerley
Schickſal gehabt; ſie iſt vergeſſen worden.
Mehr Intereſſe für Die wiſſenſchaftliche Phikofos
phie, als Maupertuis kosmologiſche Ideen haben,
bat fein Eſſai de philofophie morale *%), Er hebt
mit ſehr fcharfinnigen Beſtimmungen der Glücks
ſeligkeit und Ungluͤckſeligkeit des Menfchen
an. Das Öute (le bien) ift eine Summe anges
£ neh⸗
oeurrer de ir“ 2 I, pe 171.
/
| 440 Gefchichte der neuern Philoſophie
nehmer Momente; das Webel (le mal) eine Summe
unangenehmer Momente. Dieſe Summen, um eins‘
ander gleich zu ſeyn, brauchen niche gleiche Zeit⸗
raͤume auszufüllen. In der einen koͤnte mehr In⸗
tenfität und weniger Dauer ſeyn; in der anderen
tönte die Dauer länger feyn, und die Inten ſi⸗
tät geringer. Jene Summen find aber die Elemente.
der Glücfeligfeit und Unglücfeligfeit. Die
Gtücfeligfeit ift die Summe der Güter, welche,
nach Abzug aller Uebel übrig bieibt. ‘Die Ungfü ds
fetigfeie ift die Summe der Uebel, als der Reſt
nach Abzug aller Güter. Gluͤckſeligkeit und Unglücks
- feligfeit hängen alfo von der Compenfation der Güter
und der Uebel ab. Der glücktichfte Menfch ift nicht
innmer der, welcher die größte Summe der Güter,
gehabt hat. Die Uebel, welche ihm im Laufe feines, -
Lebens wiederfuhren, haben feine Gflückfeligfeit ges - -
mindert, und die Summe jener kann fo groß ges
wefen feyn, daß fie feine Gluͤckſeligkeit mehr vermins
derten, als die Summe feiner Güter diefe vermehrte.
Der glüctihfte Menfch. ift vielmehr derjenige, wel⸗
chem nach Abzug der Summe der von ihm erlittes
nen Uebel noch) Die größte Summe von Gütern übrig
geblieben ift.... Sind die Summe der Güter und
Uebel einander gleih, fo fann man denjenigen, wels
chem dies Loos zu Theile wurde, weder gluͤcklich, |
noch unglücklid nennen. Le neant vaut fon -£tre. -
Ueberwiegt aber die Summe der Uebel: die Summe
der Güter, fo.ift der Menfch unglücklich, mehr oder:
weniger, je nachdem jene Summe mehr oder: Rn.
BR Son Etre ne vaut pas le.ndant.-
Da alfo die Güter und Uebel Die Elemente der
mienſchlichen Gluͤckſeligkeit oder Ungluͤckſeligkeit find,
ſo
⸗
’ ”
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant, 341
fo müßte unſere ganze Sorge darauf gerichtet ſeyn,
ſie genau kennen zu lernen, und ſie mit einander
ihrem Werthe nach zu vergleichen, damif wir immer
das ‚größte Uebel vermieden, und das..größte Gut .
vorzögen.. Bey diefer Vergieichung aber bieten fih
viele Schwierigfeiten dar, die Maupertuis aus der
Erfahrung weiter erörtert. Jeder ſtellt fie auf feine,
und die Meiften auf eine verkehere und —
an. |
Merkwuͤrdig iſt die deciſive Behauptung des
"Maupertuis, daß im gewöhnlichen menfchlichen
Leben die Summe des Uebels die Summe des Guten
uͤberſteige. Das Vergnügen (Augenehme, Gute)
erklaͤrt er als eine Perception, welche die Seele lie⸗
ber empfindet, als nicht empfindet, die ſie gerne fixiren
maoͤchte, und während deren fie weder den Mebergang
- zu einer anderen Perception, noch den Schlaf,
wuͤnſcht. Der Schmerz (das Uebel, ;Unanges
nehme) ift nach ihm umgefehre jede Perception, weis
she die Seele lieber nicht empfindet, als, empfindet,
Die fie gerne vermeiden möchte, und während welcher
fie. den Uebergang zu einer anderen Perception, oder
den Sdlaf, wuͤnſcht.
Bender man dieſe Begriffe anf das menſchliche
Leben an, ſo wird man erſtaunen, wie viel Schmer⸗
‚gen man darin ontreffen ‚wird, und wie wenig Ver⸗
guügen. Wie felten find die Perceptionen, deren
dauernde Gegenwart die Geele in. der- That: liebte;
Das menfchliche Leben ift Ein-unaufhörlicher Wunſch,
Die Perceptionen zu verändern; es fliege unter Wuͤn⸗
Shen, Begierden und Hoffnungen hin, und jeben
Zeitraum, der die Fran. dieſer entfernt, —
3 er
*
342 Gefchichte der neuern Philofophie
der Menfch gerne vernichtet ſehen; oft wünfchen wir
ganze Tage, Monate, Jahre, aus unferm leben weg,
und wir erwerben fein Vergnügen, fein Gut, was
wir niche mit unferm geben bezahlen müffen. Reali—⸗
firte die Gottheit unfere Wünfche, vertilgte fie für
ung die ganze Zeit, die wir im Leben gerne vertilgt
gefehen hätten; fo würde ber äftefte Greis fih über
Die furze Zeit wundern, die er eigeritlich gelebt hätte,
und die Dauer des längften Lebens reducirte fich viels
leicht auf einige Stunden. Die ganze Zeit aber, die
wir gerne vertilgt hätten, um zur Erfüllung unferer
Wuͤnſche zu gelangen, d. i. nur von gewiſſen Pers
eeptionen zu anderem überzugehen, enthaͤlt nichts als
unglückliche Augenblicke. Es möchte wohl wenig
Menfchen geben, Die nicht eingeftänden, daß ihr tes
ben mehr folhe Zeiträume, als angenehme, befaßt
babe, fobald fie auch in diefen Zeiträumen nur auf
die Dauer achteten. Nehmen fie zugleich auf die In⸗
tenfiräe der Empfindungen Ruͤckſicht, fo dürfte die
Summe der Uebel noch beträchtlich vermehrt, und
der Satz um defto wahrer werden, daß das menſch—
liche Leben mehr Unangenehmes ale Angenehmes
babe.
Alle Vergnuͤgungen, welche die Menfchen fur
hen, beweiſen ihren. unglücklichen Zuftand. Bloß
um unangenehmen. Petceptionen auszuweichen, ſpielt
der eine Schach, während der andere auf der Jagd
umberläuft, Alte fireben, in ernften oder frivolen Be⸗
ſchaͤfftigungen fich ſe lbſt zu vergeffen. Diefe Zer⸗
ſtreuungen find ‚für die Meiſten bey weitem noch nicht
binteichend; fie nehmen zu ſchlimmern Mitteln ihre
Zuflucht. Der-eine erregt Durch higige Getraͤnke in
feiner Seele einen Tumult, um ſich dev Idee zu ents
— — ſchla⸗
}
\
waͤhrend d. achtz· Jahrhund. b. auf Kant. 343
ſchlagen, die ihm zuwider iſt oder ihn beunruhigtz
der Andre raucht Tabak, um ſich gegen die Lange⸗
weile zu betaͤuben; der Deitte nimt wohl gar Opium;
Kurz; in:allen vier Erdrpeilen fuchen die Menfchen, fü
J verfchieden fie auch ſeyn mögen, Arzneyen gegen: das
Elend desitebens vom Ölanze des Thrones big
zur dürftigften: Hütte herab... Man frage vernünftige
Menfchen, ob fie wohl ihr Leben, fo wie: es geweſen
ift, mit allen feinen. .abwechfelnden. Zuftänden und
VBerbhältniffen noch einmal, von vorne an wiederholen
möchten? Es werden ſeht wenige feyn, die fi im
Ernfte und nach reiflicher Erwägung dazu. enefchließen
Fönten. Dies ift doch ‚das deutlichſte Geſtaͤndniß,
daß ihnen das Leben mehr aan als
Wergaügen, darbot.
Bey den Gütern und Uebeln — man biejenh
gen unterfheiden, welche. den Körper, und diejenis
gen, welche die Seele angehen. Die angenehmen
oder unangenehmen Gmpfindungen des Körpers
find eben fowohl wahre Güter oder: Uebel, als Die
Güter oder Llebel des Geiftes. Der Philoſoph, dee
den heftigften Gichtſchmerz nicht für ein Uebel erflärte,
fagte entweder eine Sottiſe, oder wenn er bloß fagen »
wollte, daß die Seele nicht dadurch Tafterhaft werde,
ſo ſagte er etwas ſehr Triviales. Die Güter und
Uebel des Körpers. fowohl, als die der Seele, mas
hen auf gleiche Weife Summen glücklicher oder uns
glücklicher Momente aus; man darf weder die einen,
noch die andern vernachläffigen, fondern. muß beyde
in Auſchlag bringen. Bey den. Vergnügen. und
Schmerzen des Körpers ift nur die traurige Bemer⸗
fung zu machen, daß das Vergnügen fich durch feine
rom vermindert; und der. Schmerz durch. Diefelbe
Y4 vers
344 Geſchichte der neuern Philoſophie > +
vergrößert. ° Die Fortfegung der Eindrücke, welche
die angenehmen Empfindungen des Körpers bewirken,
ſchwaͤchen die Intenſitaͤt derfelben, anftart daß: die
Intenſitaͤt der Schmerzen durch die Fortdauer Der
Eindrüce vermehrte wird, welche fie verurſachen.
Ferner: Es giebt nur einige Theile des Körpers,
» welche uns Vergnügen gewähren Finnen; alle übris
gen bereiten und geben uns Schmerz. Die Spiße
des Fingers, ein Zahn, Finnen uns: mehr quaͤlen,
als die Organe des lebhafteften Bergnügens uns gluͤck⸗
lich machen fönnen. Endlich: der zulange vder zu haͤu⸗
fige Gebrauch von Gegenftänden, die uns ein förpets
liches Vergnügen verfchaffen, führe zue Schwäche des
Körpers; und eben fo. wird man immer fehwächer
durch die zu oft wiederholte Anwendung von Ur—⸗
fahen des Schmerzes, Es finder hier aber gar
feine Commpenfation ftatt. Das Maaß des Vergnüs
gens, das wir unferm Körper verdanfen mögen, if
beftimt und ſehr Fein; gebt man darüber hinaus,
muß man dafür büßen, das Maaß des Schmerzes
iſt unbefchränft, und felbft das Vergnügen trägt Dazu
bey, es anzufüllen. - Wollte man fagen, daß auch
der Schmerz feine Grenzen habe, indem er das Ges
fühl abftumpfe oder vernichte, fo gilt dies nur. von
den heftigfien Außerfien Schmerze, aber nicht zu
dem gewöhnlichen Zuftande, mit welchem fich Feine
Art des Vergnuͤgens vergleichen läßt.
Die Vergnügungen der Seele laſſen fih auf
zwey Gattungen von Perceptionen zurüchfüpren, wo⸗
bey: alle diejenigen ausgefchloffen find „ die nicht das
Intereſſe der Seele felbft, fondern indirecte das In⸗
teteffe des Körpers zum Gegenftande und Zwecke has
ben. Die eine Gastung befteht in ——
wir
waͤhrend d.-adhtg. Jahehund. b. auf Haut. 345
wie bey. der Mebung der Gerechtigkeit, die andere
in folchen, die. wir bey der Exfentniß dee Wahr⸗
—heit haben. Gerechtigkeit üben. heißt. thun, was
man für. feine Pflihe haͤlt; und: Wahrheit —
nen heißt von der Evidenz feiner: Vorſtellungen von
De überzeugt fenn.. Diefe Vergnügen haben
eine den Vergnügen des Koͤrpers ganz entgegengejegte
Natur. 1) Sie gehen nicht fo ſchnell vorüber, wer⸗
den nicht ſchwaͤcher durch den Genuß, ſondern find
von Dauer, und die Wiederholung derſelben erhoͤht
fie. 2) Die Seele empfindet „fie in ihrem ganzen
Weſen. 3): Der-Genuß dieſes Vergnügens ſtaͤrkt
‚die Seele, auſtatt fie zu fehwächen. Auch die
Schmerzen der. Seele,. wenn man: ungerecht; geweſen
iſt, oder die Wahrheit nicht; hat entdecken koͤnnen,
find von den Schmerzen des Körpers aͤußerſt verſchle⸗
den. Cs ift wahr, daß die. Vorftellung, man babe ,
feine Pflicht nicht gethan, ſehr peinlich ift;.:aber es
hängt von uns ab, dieſe Vorſtellung zu vermeiden;
fie diene felbft, uns zur Erfüllung unferer Pflicht ans
zubalten; je Iebhafter wir fie empfinden, defts mehr
fichert fie uns.vor der Gefahr, auf’s nene durch fie
gefoltert: zu werden. Um bey Unterſuchung ‚der
Wahrheit dem Verdruſſe zu entgehen, daß: man. fie
nichs entdeifen kann, wird, dei: Weiſe nur folhen
Wahrheiten. nachforfehen , die ihm wirklich nuoͤblich
ſind, und dieſe wird er leicht enidecken.
Da Maupertuis behauptet, daß das u
liche Leben mehr Elend, als Gluͤckſeligkeit, habe ſo
koͤnte man einwenden, ob nicht die Freuden des Gei⸗
ſtes den Menſchen ſo gluͤcklich machten, daß das
Elend uͤberwogen würde. Man denke ſich z. B. weiſe
ONE: die be Leben he Uehung den Gerechtigkeit
5 und
345 Geſchichte der neuern Philoſophie
und: Betrachtung der Wahrheit hinbringen. Mans
pertuis antwortet, er wolle gerne glauben ‚daß es
ſolche Weiſe gegeben habe, und noch gebe: ı Aber
außer den teiden des Körpers, welchen fie Doch immer
ausgefegt find, wenn man Die Ariftides und Mewtone
zähle, fo wird man bemerfen, daß: fie zu felten find,
als daß jene Behauptung umgeſtoßen würde,
Was giebt es nun aber nah Manpertnis für
Mittel für den Menfchen, um bey feinem Zuftande fo
glücklich zu werden, wie er möglicherweife werden
Tann? — Er öffne feine Seele folchen angenehmen
Perceptionen, die ein mäßiger und vorfichtiger Ges -
Brauch der Außern: Dinge darin erzeugen mag; und
er entferne die Menge von Feinden, die ihr den Rui
drogen. Er fuche überhaupt die Summe der Guͤter
zu vermehren, und die Summe der Uebel zu vers
mindern... Da der Menſch in Anfehung des Koͤr⸗
pers weit mehr Schmerzen hat, als er Vergnügen ges
mniießt; da die Dauer den Schmerz’ vergrößert, und
Das Vergnügen vermindert; fo würde es unſtrei⸗
tig am. beften für-ihn feyn, falls es. ihm möglich
wäre, fih ganz den Eindrücken der äußern Gegens
flände zu entziehen, den Freuden der Sinne völlig zu.
entfagen, um fi) von den damit verbundenen Leiden _
zu befregen; es wäre dabey allemal mehr zu gewin⸗
nen, als zu verlieren. . Uber wie kann der Menfch
der Einwirfung der Dinge ausweihen? Sein Koͤr⸗
per iſt ein "Theil der Natur, Die auf ihn nach unabs
änderfichen Gefegen wirft; und. nach anderen Ge⸗
fegen, denen: die Menſchen auf gleiche Weiſe noth⸗
wendig unterworfen ſind, fuͤhren jene Eindruͤcke der
Seele die Perceptionen des Or und des
Sqhuerzes zus
Hu
/
während d. achtz. Sahrhund. 6. auf Kant. 347
In dieſem Zuſtande, der bloß paſſiv ſchein,
bleibt jedoch dem Menfchen noch eine Waffe übrig,
um der Einwirkung, der Objecte zu begegnen, oder fie
ganz abzumehren. Sie ift die Freybeit, dieſes fü
unbegreifliche,, aber eben fo unbejweifelbare Vermös
gen, gegen welches Soppiften difpuriren mögen, das
‚aber der rechtfhaffene Mann fters in feinem Gewilles
‘anerfennt. Mittelſt dieſes fann er gegen die ganze Nas
tur anfämpfen, und wenn er fie. nicht ganz zu befiegen
vermag, fo kann er es doch dahin. bringen, daß ek
ſelbſt nicht ganz von ihr beflege werde. Leider kehrt
er nur Diefe arme fatale fo oft gegen fich ſelbſt! Weiß
der Menſch von ſeiner Freyheit rechten Gebtauch zu
machen, fo wird er die Objecte fliehen, deren Eins
druͤcke auf ihn von traurigen Folgen feyn fönnen, und
wenn fie unvermeidlich find, fo wird jene ihn dienen,
‚ Vie Stärke derfelben zu mindern. : St der fchmerzlichs
ften Situation iſt Niemand, der fi ch nicht eines gewiſſen
Vermoͤgens bewußt waͤre, das er ſelbſt gegen den
— gebrauchen kann.
Kann die Freyheit uns aber vor —* |
Elideider der-Gegenftände verwahren, Fann fie un
gegen die Schmerzen des Körpers ſchuͤtzen, und die
Vergnügen desfelben uns mit mweifer Oekonomie ge
hießen laffen; ſo bat fie noch eine andere Herrichaft
über die Freuden und Leiden des Geiftes, und bier
* es, wo ſie voͤllig zu triumphiten vermag.
Den Unterſchied der beyden Haup iparteyen un⸗
* Moraliſten des Alterthums, der Epikureer
und der Stoiker, beſtimt Maupertuis folgender⸗
maßen: Beyde kamen darin uͤberein, daß die groͤßte
———— des Menſchen diejenige wäre, = Die
ums
x
348 Gefchichte der neuern Philofophie
Summe der Güter nach Abzug der Uebel die größte
bliebe; allein in den Mitteln, den Zuftand des Mens
fchen zu verbeffern, hatten die Epifureer die Vermeh⸗
zung der Summe der Güter im Auge, und die Stois
fer mehr die Verminderung der Summe der Uebel.
Hätten wir eben fo viel Güter zu hoffen, als Uebel
zu fürchten; fo würden beyde Syſteme gleich gegruͤn⸗
der feyn. Hingegen bey dem großen Uebergewichte
des Uebels über das Gute ſcheint es ungleich vers
nünftiger, Die Verbeſſerung des menfchlichen Zus
ftandes eher in der Verminderung der Uebel zu füs
chen, welche denfelben drücken, als in der Vermeh⸗
zung dere Güter. Maupertuis zieht daher das
Stoiſche Syftem dem Epifurifchen bey, weitem vor.
Die Stoifhe Moral fegt er inzwifchen doch der
ehriſtlichen weit nach, welche leßtere ihm die voll
‚fommenfte und. der Menfchheit angemeffenfte ifl,
Man ftelle ih, ſagt er, zwey Inſeln vor, die eine
von vollfonnen Stoifern , die andere von vollkomnen
Chriften bewohnt. In jener Fennt feiner der Philos
fophen die Süßigfeit gegenfeitiger Liebe und Freund⸗
ſchaft; jeder denft nur darauf, fich von den übrigen
unabhängig zu machen; er hat genau berechnet, wag
fuͤr Vortheile er von ihnen erwarten, was für Nach⸗
sheile ſie ihm zufügen fonten; und er hat deßwegen
‚ alle Verbindung mit ihnen abgebrochen. Ein neuer
Diogenes, feßt er feine Vollkommenheit darin-, ‚ein
noch engeres Faß zu bewohnen, als das feines Nach⸗
bars iſt. Welche Harmonie hingegen wird. man auf
der andern Inſel gewahr! Bedürfnifle, die eing
eitle Philofophie nicht verbergen kann, ‚befriedigt Durch
Serechtigkeit und Wohlthaͤtigkeit, haben hier die
Menſchen mit einander verbunden. . JIeder füpse
| — —
3
P ur En
J
während ddchtz. Jahrhund. b. auf Kant. 339
Růcklich buich das Gluͤck des Andern, und ne: * |
mehr Durch die Hülfe, die er ders Andern Feiftere,
Eine der Folgerungen, die Maupertuis ans
feinen Moralprincipten zog, war, daß der Selbſt⸗
mord erlaubt und nüßlich feyn fönne, ſobald man
von dem Glauben an ein Fünftiges teben und eine
moralifche Vergeltung abſtrahire. Da indeflen das
Chriſtenthum den Gelbftmord verbietet, und Maus
pertuis diefem aufrichtig ergeben war, fo erflärte.
er ihn als Chrift für die unvernünftigfte und verbres
cheriſchſte Handlung. Selbſt mit der Philofoppie
der Vernunft ift der Selbſtmord unvertraͤglich. Waͤ⸗
re nichts mehr nach diefem Leben zu hoffen, fo koͤnte
es zumeilen rathſam feyn, es mwillführlich zu beendis
gen; aber gerade das mit unferm gegenwärtigen Zus
ftande verbundene Elend, anſtatt daß es ung berechz
tigte, unfer Heil in der Vernichtung zu ſuchen, bes
weiſt vielmehr, daß wir noch zu einem glücklicher
Leben beftime find, deſſen Hoffnung uns das gegen?
waͤrtige erträglich machen muß. ——
Der Verſuch des Maupertuis über die Mos
tat ift offenbar nur etwas. Fragmentarifches, - Eins
jelne treffende und finnreiche Bemerkungen abgerechs
net über die Natur der menfchlichen Gluͤckſeligkeit, bed
lehrt er ung gerade über das am wenigften, woruͤber
wir von einer Moral vorzüglich Belehrung erwar⸗
ten, worin die wahre menfchliche. Ctückfeligfeit be⸗
ſtehe, wie fie zu erreichen und zu erhaften fey, wenn
man nicht etwa die Empfehlung des Chriſtenthums
von feiner moralifhen Seite für eine ſolche Beleh⸗
tung halten will. Die Lieblingsbehauptung des Vers
faſſers, fo traurig und niederfchlagend fie an fich ſelbſt
* * i .
*
#
}
|
350 - Seſchihtt der neuern Dhloſebhi
iſt, daß die Summe des menſchlichen Elends im
anzen die Summe der Gluͤckſeligkeit uͤberwiege, iſt
nicht ſo buͤndig von ihm erwieſen, wie es Manchen
efchienen. hat. Das Streben nach immer neuen.
ade liegt in der Natur eines Weſens, deſſen
Eriftenz an die Bedingung der Thätigfeit und Ver⸗
Auderlichfeic in der Zeit gebunden ift; es beweift aber
nicht, daß uns deswegen eine gegenwärtige Perceps
tion unangenehm oder peinlich ſey, weil wir den Trieb '
haben von ihr zu einer anderen überzugehen. Bloß
in der Summe dev gegenwärtig unangenehinen Ein⸗
pfindungen als folcher beſteht der verpältnißmäßige
Grad des menfchlichen Elends, und ob dieſe bey als
len: oder auch nur den meiften Menſchen größer ſey,
‚dis die Summe der. gegenwärtig ‚angenehmen. Em—
pfindungen ,. ift fehr zweifelhaft, und zum mindeſten
von Maupertuis nicht ermwiejen. Die Regel der
Moral, man ſuche die Summe dee unangenehmen
Empfindungen ju vermindern, ift fo allgemein, dal
fie, wenig nuͤtzt; denn es fragt ih, wie man die
Regel in wirklichen Leben befolgen. folle. Auf das
Problem; ob das Ziel der Moral Gtückfeligfeit,
oder eine moralifhe Vernunftwuͤrde fey, von der’
finnlihen Otücjeligfeit unabhängig, -hat Maupere
tuis gar niche Bedacht genommen. . Vielmehr: ift
ihm nach einzelnen Aeußerungen eine reine moralifche -
Vernunftwürde, der Die Gluͤckſeligkeit untergeordneg
if, oder wobey diefe gar nicht in Anſchlag tom, es
was Erträumtes oder Ueberfpanntes.
Eine der ſonderbarſten und fuͤr den Beobachter
des menfchlichen Herzens anziependften Rollen fpielte
unter den neuen Franzoͤſiſchen Philofophen, Jobann
Jacob Rouſſeau. Er gan durch feine
| groͤ⸗
| waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, 358
„größeren Einfluß auf Mitwelt und Nachwelt, als alle
feine Zeitgenoffen. Seine tebensgefchichte hänge mit
feinem perfönlichen Charakter, und diefer wiederum
‚mit feinen: Schriften: und deren Eigenthuͤmlichkeiten,
‚fo innig zufammen „ daß eine umftändlihe Erzählung
jener nothwendig iſt, um Diefe aus dem vichtigen Ges
ſichtspuncte charafterifiren zu koͤnnen. Rou ſſeau
iſt gewiſſermaßen ſelbſt aller Biographie in Hinſicht
auf ihn zuvorgekommen. Er hat in ſeinen Confef.
fions feine Schickſale, Studien, Denfart, Launen,
Maximen, gute und boͤſe Handlungen, ſelbſt geſchil⸗
dert mit einer Offenheit und ſubjectiven Wahrheits⸗
Uebe, wie man fie nur erwarten kann, und wie fie
fhwerli viel Nachahmer finden möchte, obgleich er
dennoch Manches verfchönert oder verſchleyert hat,
was ein unparteyiſcher Gefchichifchreiber feines $er
bens, Der hinlängli von den vorhandenen Datis
unterrichtet wäre, ganz anders würde darftellen und
beurtheilen muͤſſen.
Rouſſeau wurde gebohren zu Genf im J.
1712. Gein Vater war ein Uhrmacher, ein Mann
nicht ohne literariſche Bildung, der Griechiſch und
Lateiniſch verfland, und gerne im Plutarch und Tas
itus las. Cr unterrichtere auch den Sohn früh in
e
ber alten elaſſiſchen Literatur, fo. viel er ſelbſt davon
perfiand, und dieſer Fam durch feine brennende Wiß⸗
begierde dem Vater fehr zu Hülfe. Schon als Kuas
be hatte Rouffeau eine fhmächliche oft durch Kränfe '
lichkeit unterbrochene Gefundheit, mas der erſte
Grund zu der trüben wunderlich abwechſelnden Ges
muͤthsſtimmung wurde, ‚die ihn in der Folge fein
ganzes Leben hindurch begleitete. Cine unbefonnene
jugendliche Uebereilung ward Urſache, daß er das
vaͤter⸗
352 Gefchichte der neuern Philoſophie
vaͤterliche Haus verließ. Während er. als Fluͤcht⸗
ling herumirrte, in einem fremden kande, ohne Geld,
ohne Freunde und Befante, faßte er den Entſchluß,
“ feine Religion zu verändern, um ſich den nothwen⸗
digen Unterhalt bey den Geiſtlichen als Profelyt, oder
in einem Klofter zu verſchaffen. Er wandte fih an
den Biſchof von Annecy, gewann die Theilnahme
diefes Männes, und wurde von ihm einer Dame de »
Warens, einer geiftvollen nnd Tiebenswürdigen
Frau, die auch zur katholiſchen Religion übergegans
gen war, und für ſich privatifirte, zur Erziehung es
pfopfen. Ä 9
Die Frau von — * — und 4
eine dreyfache Stelle bey Rouffeau. Sie war erſt
feine Pflegemutter, und erzog ihn mit großer Zärts
lichkeit, als ob er ihr eigenes Kind wäre. Er nahm
ſich Dagegen ifres Hauswefens mit an, beſorgte ih⸗
ren Garten, trieb zugleich mit leidenfchaftlicher Hef⸗
tigkeit die Muſik, und fegte auch’ feine‘ literarifchen -
Studien fort, fo gut er in feinen Verhaͤltniſſen fons
te, und die Huͤlfsmittel es erlaubten, Die ihm zu Ges
böte ftanden. Mit der Zeit, da Rouſſeau mehr
heranwuchs, und fein Geift ſich mehr entwickelte,
ward aus der Dame de Warens, die bisher Pfleges
mutter geweſen war, eine Freundin und endlich fogae
eine Geliebte desfelben. Inzwiſchen Fonte er Doch
fein Erabliffemene von dieſer Verbindung hoffen:
Er verließ alſo feine Fteundinn mehrmal, um ein Uns
terkommen zu füchen, und fehrte nur dann. wieder zu
ihr zuruͤck, wenn ihn die Noth dazu trieb. Wegen
feines muſikaliſchen Talents Hoffte er in der Könige
Capelle ju Paris angeftelle zu werden; da aber die
| Hoffnung ——— ſo ſah er ſich zug
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 353
zum J. 1741. als Mufifmeifter iu Ehambery —
ein zu erwerben.
Um diefe Zeit gieng er nah Patis, und brachte F
hier einige Jahre in ſehr duͤrftigen, oft verzweifelten,
Umſtaͤnden zu. Man hat Briefe von ihm aus dieſer
Periode, im welchen er beſonders daruͤber wehklagt,
daß das Brodt ſo theuer ſey, und daß er nicht genug
verdienen koͤnne, um ſeinen Hunger zu ſtillen. Durch
Verwendung einiger ‚feiner aͤltern Freunde kam er if
das Gefolge des franzöfi ifchen Gefandten von Mong
taigu zu Venedig, und begab fih mie demfelbem
dorthin, Aber. nach feinem eigenen Bekentniſſe waren
fehon damals eine ftolge Mifanthropie, eine Ver—
achtung des Reichthums und Vergnügens, Grunde
züge in feinem: Charaftee geworden, Er fonte ſich
nicht fange mit ‘dem: Geſandten vertragen; das ‚Ges
fuͤhl der Abhaͤngigkeit war ihm unausftehlih, und er
gab-dte Stelle wieder auf. Kurz nachher Fam. er. in
Verbindung mir Dupin, einem Generalpächter, dee
ihn.in feinem Buͤreau anſtellte, und wo er. nicht un⸗
beträchtliche Ginfünfter- hatte. Diefe Einnahme: vers‘
wandte er. aber meiftens zur Unterftüßung feiner erftew:
Wohlthäterinn, der Dame de Warens, die durch
mehrete Ungluͤcksfaͤlle ihr anfehntiches Vermögen: ver⸗
loren batte, und auch in Duͤrftigkei gerathen war“
Erſt im $: 1750 fing ſich feine fiterarifche ale
bahn an, auf welcher er fich fpäterhin fo außerordent⸗
f
lich «hervorthat:: Die Afademie zu Dijon hatte bie
Preisfrage aufgegeben:. Ob die Wiederherſtele
lung der Künſtenund Wifſenſchaften zus:
Verbeſſerumg der Sitten beygereagen habe?
Ein Freund Raufſeams aͤußerte ihm bey der Ge⸗
Dubdie's Geſch. d. Philoſ. 1.2. 3 legen⸗
354 Geſchichte der neuern Philoſophie |
Iegenbeit den: Gedanfen: Diefe Frage ſey eine wahre
Eſelsbruͤcke. Alle gemeine Köpfe: würden fie beja⸗
bend beantworten, und würden nicht genug rühmen
zu fönnen glauben, was die Sitten durch die Wieder⸗
derberftellung der Künfte und Waflenfchaften gewon⸗
nen hätten. Er (Rouffeau) möge einmal die ent⸗
gegengeießte Partey nehmen, und behaupten, daß die
Wiſſenſchaften den Sitten ſchaͤdlich geweſen feyen.
So kam R. juerft durch den Scherz eines Freundes auf
Die Idee von der Schädlichfeit der Wiſſenſchaſten,
die nachher eine der Hauptideen in ſeinem ganzen
moraliſch politiſchen Syſteme geworden iſt. Er ver⸗
folgte anfangs die Idee weiter, arbeitete mit der Fuͤlle
und Lebhaftigkeit ſeines Geiſtes eine Schrift daruͤber
aus, und hatte das Gluͤck, von der Akademie zu Dijon
den Preis zu erhalten. Diefe Schrift erregte die
groͤßte Senfation; ihr Inhalt war:auffallend paradox;
aber das Paradoron war mit einer Beredfamfeir und
Wärme, mit fo viel ſcheinbarer Gruͤndlichkeit vorge⸗
tragen, und mit ſo manchen Zuͤgen des Genies und
ausgebreiteten literariſchen Kentniſſen durchwebt,
daß man auf den Verfaſſer allgemein aufmerkſam
wurde. R. bekam freylich mehrere Widerſacher, ges:
gen welche er ſich vertheidigen mußte; ein Diſput
folgte aus dem. andern; aber dieſe Streiterey befoͤr⸗
derte immer mehr feine Celebritaͤt, weil ſie ihm Ver⸗
anlaſſung darbot, ſeine ungewoͤhnlichen Talente zu
entwickeln, und ſeine Ueberlegenheit uͤber ſeine Geg⸗
ner zu zeigen. Munmehro beſſerten ſich auch ſeine
Gluͤcksumſtaͤnde. Er gerieth mit einigen vornehmen
Familien, die Geſchmack an Literatur und Kunſt hat⸗
sen oder zu haben affectirten, ins Verbindung, und
wurde von dieſen oft auf eine: laͤngere Zeitufehr liberal
unterhalten, oder. wenigſtens unterſtuͤtzt. Co:
m, 4 £ “EL sy 4302 — 8 . —*
j
en d. acht, Iehrhund b. auf Kant. 358
Bald darauf erſchien ein zweytes Werk Rouf
5* s eben' ſo voll von Paradoxieen, wie das erſte,
und eben ſo anziehend geſchrieben, wie dieſes: : Dis-
cours fur Porigine' et les fondemens de linegalite
parmi les hommes. Hier führte er Die Säge aus:
Die -Menfchen find nicht urfprünglich gefellig ; fons
dern’fie haben vielmehr einen Hang zum folitären um
abhängigen Leben. — Alle Menfchen find urfprüngs
lich frey, und einander an Rechten gleich. — Det
DMarurftand, der nicht weit von dem thierifchen ent?
ferne ift, iſt eigentlich der der Menfchbett angemeſſen⸗
ſte Stand. — Jede buͤrgerliche Geſellſchaft ift eine
Unterdruͤckung der Menſchenrechte, und die Men⸗
ſchen haben die Ordnung der Natur dadurch umge⸗
kehrt, daß ſie ſich in Statsverbindungen eingelaſſen
haben. Wie uͤbrigens dieſe zweyte Schrift mit jener
erſten zuſammenhieng, und wie ſeine Speculation ihn
vom erſten Paradoxon zum zweyten führen konte, iſt
ſehr leicht einzuſehen. Damals hielt man dieſe
* Rouſſeau's für zwar intereſſante, aber müfs
fige Philofoppeme. Was würden die franzöfifchen
Großen, die dem R. fchmeichelten, mit ihm und feis
nen Schriften wohl angefangen haben, wenn fie vors
aus geahndet hätten, was eben jene Philoſopheme
nach dreyßig Fahren in ihrem Vaterlande für eine
Bedeutung erlangen würden? Rouffeau dedicirte
fein zwentes Werk dem Magiftrate zu Genf, wurde
dafuͤr von demfelden in alle Bürgerrechte wieder eins
geſetzt, lebte auch nun einige Zeit zu Genf, und
ſchwur während feines dortigen Aufenthalts nicht ohne
vielen Kampf mit ſich ſelbſt die katholiſche Religion
— ab.
32 nu Im
356 Gefhicjte der neuern Philoſophie
Im J. 1756 gieng er von, neuem nad) Paris,
lebte aber daſelbſt hoͤchſt eingezogen, ‚und unterhielt
bloß Correfpondenz mit wenigen Freunden und einigen
franzöfifhen Großen, theils um der Kritif auszus-
weihen, die ihn damals recht eiftig zu ihrem Ges
genftande machte, theils auch aus Diät, weil er ſehr
an einer Strangurie litt, wo ihm das Leben in der
großen Welt zu Paris, bey der damals noch ‚her:
fchenden zwangvolleren Etikette, oft hoͤchſt beſchwerlich
fallen mußte. Diefe Periode ift jedoch für die Literar⸗
geſchichte Rouſſe au's merfwürdig, Er arbeitete
hier feine mieiften. Aufſaͤtze über die Mufif aus,
- die er nachher in feinem Dictionaire de mufique
bekant machte, und die in diefem Fache nach dem Ur⸗
theife von Kennern claſſiſch find. Er verfertigee auch
mehrere mufifalifhe Stuͤcke für das Theater, und,
harte Streitigkeiten mit Voltaire über dramatiſche
Begenftände. . Zu eben diefer Zeit ſchrieb er aud die
wewe Heloife, die zuerft 1761 herauskam. Ans
fangs machte diefer Roman. fein fonderlihes Glüd:
Weit größeres Aufſehn erregte fein Emil im J.
1762, worin er das Mufter einer neuen Erziehungs“
theorie .aufftellte. Das Parlament zu Paris ver⸗
dammte das Buch, und ordriete eine gerichtliche Unter⸗
ſuchung gegen den Werfafler an; fo daß diefer des⸗
wegen fich ſchleunig aus Paris flüchten mußte. Er:
begab fih nach Genf, wo man ihn. aber nunmehr:
aus Furcht vor dem. Franzöfifchen Minifterium die
Aufnahme verweigerte. Jetzt alfo trieb er ſich in, der
Schweiß herum von einem Orte zum andern. : Ende;
lich wandte er fi an den König von Preußen, und
bat diefen um einen fihern Aufenthalt in Neufchatel.
Der König gewährte ihm feine Bitte. Hier vertheis
digte er feinen Emil gegen den Erzbifhof von Paris,
de
während d. achtz Jahthund. 6, auf Kant. 357
‚ der ihn anarhematifire hatte. Er ſchilderte in diefer
Apologie feinen Character, feine Abfiht bey feinen
Schriften, und daß er weit entfernt davon fen, den
Stat oder die Religion in Gefahr fegen zu. wollen.
Kaum aber war die Unruhe vorüber; fo vers
wickelte er ſich in eine neue, die fehr gefährlich für
ihn hätte werden koͤnnen. Er ſchrieb die Lettres de
la montagne, die eine Menge Anzüglichkeiten für dem:
Magiftrae und die Geiftlichfeit in feiner Vaterſtadt
enthalten. Die letztere ward darüber ſehr erbittert,
da fie ohnehin wegen feines erften Ueberganges zur
Farholifchen Religion eine Empfindlichfeit gegen ihn
begte, die er durch fein nachheriges Abſchwoͤren ders
feiben noch nicht ganz ausgelöfcht harte. Ungeachtet
M. bey Meufchatel in einem Dorfe Preußifchen Ges
biets lebte, fo wußte doch die Genfer Geiftlichfeie
den Pöbel der dortigen Gegend. wider ihn aufjus
begen; fo daß R. fid) genöthigt ſah, zu entfliehen,
und fi nah Bern begab. Aber die Berner, die
es mit dem Magiftvate in Genf nicht verderben mwolls
ten, und auch die Verbreitung nicht fowohl feiner
politiſchen, als feiner refigiöfen Grundfäge fürchteten,
verboten ihm den längern Aufenthalt in ihrer Stadt.
Es war ftrenger Winter, und R. war franf, Er bat,
man möge ihn bis zum Frühlinge in ein Gefängniß
fegen, um feiner ficher zu ſeyn, Damit er nur im
eirier" befferen Jahrszeit reiſen koͤnne. Aber ah
das fchlug man ab. Er mußte fi entfernen, und
kam nun in einem elenden Zuftande zu Straßburg an.
Dun nahm ihn der Marfchall von Contades wohl⸗
wollend auf, und behielt ihn bis zum Fruͤhlinge bey:
fih, da er ſich wieder nach Paris begab.
33 Hier
.
358 Gecſchichte der neuern Ppilofophie
Hier entfchloß er fh, mit David Hume, der
fih damals im Paris aufhielt, im J. 1766 nach
England zu teifen. In London wirkte ibm Hume
beym Könige eine Penfion aus, und lebte. mir ihm
auf dem freundfchaftlichften Fuße. Es erwachte aber
in Rouffeau durch unbedeutende zum Theile lächers
lihe Urſachen ein Mistrauen gegen feinen Freund 5;
Die Engländer fpotteren darüber, daß ein franzöflicher: ..
Gelehrter eine Königliche Penfion erhalte; Hume
fah ein paar mal oder erfundigte fich nach. den Ads:
Drefien der Briefe, mwelhe Rouffeau an feine
- Freunde in Frankreich ſchrieb, oder von dort empfieng;
das natürliche Phlegma jenes disharmonirte mit der,
momentanen enthufiaftiichen Lebhaftigfeit diefes ; ends
lich ereignete fich ein Umftand, der beyde Philoſophen
völlig entzweyte. Es erfchien in öffentlichen Blaͤt⸗
sern ein “Brief an Rouſſe au angeblich von Fries
Deich dem Großen, der den Ritter Walpole zum
Verfaſſer hatte, und in der That für. den erftern fehr-
Beleidigend war. Dieſer fchrieb ihn ohne Bedenken
feinem vermeynten Feinde, dem Hume, zu; und
nunmehro entfernte er fich aus dem Haufe ‚desfelben ,:
fieng eine heftige Fehde mit ihm an, worin er ihm
fogar die beym Könige von England ausgewirfte Pens
fion zum Vorwurfe machte, und verließ bald darauf
Ä Easland gänzlich.
| Auch bey ſeinem — Aufenthalte in
Frankreich nahm ſeine Unzufriedenheit mit Andern,
und ſein Hang zum Mistrauen immer zu; und die
letztern Jahre ſeines Lebens brachte er faſt ganz ein⸗
ſiedleriſch und auf eine phantaſtiſche Art bin. Sehr
viel trug zu dieſer Stimmung Rouſſeau's eine alte,
a a bu, die er in der Folge felbft heyra⸗
there,
waͤhrend b achtz. Jahrhund. 5. auf Kant.) 359:
there, die Demoifelle fe Vaſſeur, eine gemeine
Perfon ohne Reize und vorzügliche Talente, Die ihn’
aber durchaus zu beherfchen wußte. Gie pflegte ihn’
‚ in feiner Kräuflichfeit, und bemächtigte ſich dadurch
feined ganzen Vertrauens. Gleichſam als ob aus
Eiferfuche machte fie nach und nach Alle bey ibm vers:
daͤchtig, Die mie ihm freundfchaftlichen Umgang uns
terhielten, und ihn befuchten, oft durch die nieders'
trächtigften Inſinuationen, und wenn Rouſſeau
ſich nicht daran kehrte, fo verweigerte fie denſelben
geradehin den Zutritt. Rouſſeau har auch Kinder‘
mit diefer feiner Freundinn und nachherigen Gattinn
erzeugt, die er aber im Findelhauſe zu Paris erziehen
ließ. Man hat dies Verfahren oͤfter getadelt. Er
entſchuldigte ſich mit ſeiner Traͤgheit und Armuth; er
ſey uͤberzeugt geweſen, die Kinder wuͤrden im Findel⸗
hauſe beſſer erzogen werden; und man muß wenig⸗
ſtens ſo billig ſeyn, zu glauben, Daß ihm in feiner"
Einbitdung' diefe Rechtfertigung ein Genüge gerhan
babe. Rouffeau hatte fonft einen fehr feinen und
zarten Sinn für Elterliche Pflichten. Er fam einft
mir dem Grafen Büffon zufammen, und fagte ihm
Darüber etwas VBerbindliches, daß er den Müttern
bewieſen babe; :fie müßten ihre Kinder ſelbſt Täugen.
Buͤffon erwiederte diefes Compliment mit einer bit⸗
teren Anfpielung auf die Art, wie R. feine Kinder bes
handle : “Aller vernünftige $eute haben das immer
geglaubt, antwortete er; nur Sie, Here Nouffean,
allein, waren nicht dee Meynung, und leider Ihnen
folge man.” |
Auſſerdem waren in R’s Charakter bey vielen
Sonderbarkeiten und raͤthſelhaften Widerſpruͤchen auch
ſehr viel gute liebenswuͤrdige Zuͤge. Er war —
Hr 34 mäßig,
’
360 Geſchichte bee neuern Philoſophie —
maͤßig, edelmuͤthig, mitleidig, begnuͤgte ſich mit dem
Nothwendigen, und verſchmaͤhte und verachtete jedes
ignoble Mittel, das ihm Reichthum oder ein eintraͤg⸗
liches Amt hätte verfhaffen fönnen. Inſofern hatte:
er eine echt philoſophiſche Denkart. Nur Dankbars
feit war ihm läftig, und er befeidigte manche ſeiner
Gönner und Freunde dadurch, daß er ihre Dienfte
und ſelbſt ihre kleinen Gefälligkeiten und Höflichkeiten ;
ausſchlug, und nicht felten auf eine unfeine, oder:
rauhe, oder feltfame Art ihnen auswihd. Man kann
ihn mit dem Diogenes, dem Cyniker, vergleichen, "dee
die größte Simplicitaͤt der Lebensart mit allem Stolze
. eines philofopbifchen Genies vereinigte: Wie manche
andere unter feinen Zeitgenoflen, kann man ihn nicht
beſchuldigen, daß er in ſeinen Schriften der Sittlich⸗
keit Abbruch gethan habe. Wenn er von Pflichten
des Menſchen ſpricht, von den nothwendigen Maxi⸗
men der Gluͤckſeligkeit, ſo ſpricht er mit einer Waͤrme
und Fuͤlle, daß man ſieht, es floß bey ihm aus dem
Herzen. Aber die ganze Art, wie er ſeine moraliſchen
‚Lehren einkleidete, war immer zu phantaſtiſch, won
feiner eigenen Art zu empfinden und zu denken zu fehe: .
afficiet, als daß die Lecrüre der Werfe des Noufs
feau, zumal in frühern Jahren, nicht:auch auf die:
Bildung des Charafters nachtheilig einwirken köntei’
Man muß feine Schriften lefen, um dag menfchliche.
Herz in feinen. verborgenften Falten „; im feinen Sons
derbarkeiten, in feinen feinern Gefühlen und: Stims
mungen kennen zu lernen; um zu. fehen, wie: Die,
menfchlihe Vernunft oft die größte Sophiſtin gegen
ſich ſelbſt iſt; aber man muß ſie nicht leſen, um ſich
eben nach ihnen zu bilden... Sie können uns leicht zu
paradoxen, empfindfanen ; eigenfinnigen, fuͤr Die:
wirkliche, Welt unbrauchbaren Schwaͤrmern —
— — en⸗
während:D; Achtz ’Sahehund: b. anf Kant. 368
Menſchen Ya Röuffeau , die dabey fein: ‚Genie, feine
Kunſttalente und. Fertigkeiten ‚und feine großen und
guten Eigenfchaften nicht haben, werden in der Belt
noch diel ungluͤcklicher ſeyn, : als er ſelbſt wat. Es
iſt eine richtige Bemerkung, die ein franzoͤſiſcher Aka⸗
demiker über Rouſſeau's und Voltaire's Tu⸗
gend. gemacht har: Voltaire's Tugend war
obue Herz. und me, 8 ann war
‚ohne Kopf Baar rt
Die Schrififtelleren 9 und Sbhiloſorhie Koufr
feau’s muß: man: vornehmlich aus dem Geſichts⸗
punete betrachten und wuͤrdigen, daß ſie der ges
meinen gangbaren Denfart gemöhnlich geras
dezu entgegengefeßt ift, und wo diefe auf Vor⸗
urtheilen und Irrthuͤmern berußf, eine Menge ders
felben wegräumt und berichtigt; aber auch fich ſelbſt
wieder in das andere Extrem verliert, und in ihrer
Art ebenfalls, nur umgekehrt, einfeitig und falſch ift.
ig |
\
2 ©. mnsbeſondre· Reeueil de toutes les pieges,. qui.
ont eı& publides à l’occafion du Discours de Mr. Aous- -
' feat: Si le retabliffement des’ fciences et des arts a con.
‚tfibue: d epurer les mocurs; à Gotha 1753. 8. —
PDiscours ſur llorigine et les fondemens de „inegaliee
parmi les hommes. Par ‘Jean Faques Ruusfeau; à
Amftd. 1755. 8. Deutfh: Berlin 1756. 8. — Let-
> tres-ecrites de Ja montagne. Par J. $, r
Amfterd. 1764. Ib-P. 8.-—:: Du contrat focial, ou
prineipes du droit politique; 3 Amftd. 1762. *
Deutſch mit Anmerkungen von Geiger; Marburg
1763. 8. —.. Emile, ou fur l’education; à Amfd. ,
* 1762. 4 W. 8. Deutfch Berlin 1763. 4 Th. 8. Von
den fämtlichen Schriften Rotffeau’s hat: man meh⸗
rere Ausgaben, auch eine neuere deutſche Ueberſetzung.
2 35
—
362 Gefhichte der neuern Phifofophie 7
Daß die Wiſſenſchaften und die Eultur über“
haupt der menfchlichen. Gefellfchaft ‚namentlich in
Ynfehbung der Moralität, manche Nachtheile ges
bracht haben, ift nicht. zu bezweifeln; darin hat R.
Recht, und die enehufiaftifchen Lobredner der. Wiſſen⸗
fhaften und der Cultur find hier in der Regel viel zw’
einfeitig, . Daß aber durch die miffenfchafttiche Cul⸗
tur das menjchliche Geſchlecht unglücklich gemordem:
fen; daß es befler daran feyn würde, wenn es ſich
wieder dem thierifchen Zuftande nähere; daß die Euls
tur bloß zur Verſchlimmerung der Sitten diene;
Darin hat R. Unrecht, : und: er iſt zu einſeitig: das)
wahre. Mepaltst liegt — — — in der
Mitte.
Eben fo kann man-im Ganen von ‚der Erzie⸗
Gungstheorte urtheilen, die im Emil aufgeſtellt
iſt. Daß man bey der älteren Erziehungsart die:
Natur zu fehe verließ, und durch ungereimten Zwang.
und Künfteley, oder Fabrläffigfeit, ſowohl den Koͤr⸗
per, als den Verftand und das Herz der Kinder vers
bildete, verfrüppelte, verfäumte, ift Tharfahe. R.
bat fich allerdings ein großes Verdienft dadurch ers
worben, daß er die Aufmerffamfeit feiner Zeitgenofs
fen auf dieſen Punct hinlenfte, und in feinem Emil
einen Zögling der vernünftigen Natur fchilderte, um
mich fo auszudruͤcken. Er hat audy dadurch zu gros
Ben und wefentlichen. Berbefferungen in Deutſchland
Anlaß gegeben. Allein wiederum der rohen Natur
bey der Erziehung zu viel überlaffen, in einer Welt,
Die fich fo weit vom Naturſtande entfernt har, das
war ein entgegengefeßtes fehlerhaftes Ertrem , in wel⸗
ches R. gerieth. Viele Jünglinge, die nach feinen
Grundfägen: erzogen wurden, ſind misrathen. =
| n
⸗
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant: 363
In ſeiner politifchen Theorie folgte R. auch
mehr ſpeculativen Begriffen, als der Erfahrung.
Seine Idee vom Naturſtande und von der uts
ſpruͤnglichen Freyheit und Gleichheit der Mens
ſchen gründet fi auf die Vorausfegung der LUnges
felligkeit der Narurmenfchen, die aber ſchlechthin faljch
iſt. Der Dienfch ift von Natur nichts weniger, als.
ein ungefelliges Wefen. R. urtheilte bier von dev;
gefamten Menfchheit nach fich felbft, und folglich wies
derum hoͤchſt einſeiiig. Gaͤbe man aber auch die.
Dorausfegung zu, fo würde doch daraus. nicht die
urfprüngliche Gleichheit der Menfchenrechte folgen.
Daß jeder Star eine Unterdrückung der Menfchens
rechte fen, ift.nur halb wahr. Der Stat befhränfe:
die Menfchenrechte, aber er unterdruͤckt fie nicht;
er befchränft fie, um fie zu fichern, fo mweit fie neben
einander beftehen mögen, wenigſtens der. Theorie
nach. Kin Gefellichaftsvertrag (contrat Social), wie
ihn R. für eine vollfomne Statsverfaflung fodert, iſt
in der Wirklichkeit nicht denkbar. . Er felbft hielt ihn
für einen fpeculativen Traum. Der befle Stat fanın
überhaupt nicht aus Begriffen; er muß aus Erfah⸗
zung über Welt und Menfchen abftrapire, und nach
den localen Berhältniffen und temporellen Umftänden
eines Volks beftime werden. _ In dieſem Berrachte:
erfheinen Roufjeau’s politifche Schriften als po⸗
litiſche Phantafieen, die leider eben dadurch, dag man
fie raſch und unbefonnen zu realificen fuchte, fo ver⸗
derblich geworden ſind.
Noch will ich dieſen Bemerkungen das urtheil
beyfuͤgen, welches R. ſelbſt über die poſitive Re—
ligion faͤllte, und uͤber die Bemuͤhungen ſo vieler
ſeiner Zeitgenoſſen, dieſelbe zu untergraben. In ei⸗
F nem
364 Geſchichte der neilern Philoſophie
nem: Briefe an Verues ſchreibt er: “Ich habe Re⸗
ligion, lieber Freund, und ich glaube nicht, daß ein
Menſch in der Welt ſie ſo noͤthig hat, wie ich. Ich
habe mein Leben unter Unglaͤubigen hingebracht, oh⸗
ne mich irre machen zu laſſen; ich liebte ſie und ſchaͤtz⸗
te fie; und doch war mir ihre Lehre unertraͤglich.
Ich fagte ihnen immer, daß ich fie nicht beſtreiten
wolle, aber ihnen nicht glauben fünne. — Die Philos‘
fopbie ift nichts, als ein Meer von Ungewißheit und:
Zweifeln, aus denen der Metaphnfifer fich nie bes
ausfinden fann. Ich habe alfo mein Gefühl ges
fragt unabhängig von meiner Bernunft; laſſe
>. meine Freunde die Welt nach Zufalle bauen, und fins
de in den Baumeiftern ſelbſt, ihnen zum Troße, das
Daſeyn Gottes und ihres Scyöpfers.”
Mit den bisher genannten franzöfifchen Philo⸗
ſophen will ich gleich die Erwähnung, einiger andern
verbinden, da fie mit jenen einen gemeinjchaftlichen
Wirfungsfreis theilten, und noch ungleich mehr als
jene auf den philofophifchen und literariſchen Charak⸗
tee fowohl ihrer Marion, als aud der Deutſchen,
Einfluß gehabt haben. Es gehört ‚dahin zunächft
Voltaire, der umnftreitig nicht nur vor allen übris-
gen Günftlingen Friedrichs des Großen den Bors
zug genoffen, und zur Entwicelung und Richtung
des Geſchmacks und der philsfophifchen Denfart des
Königs am meiften beygetragen; fondern überhaupt
in gewiſſer Hinfiche im Face der ſchoͤnen Literatur,
und wo nicht in der Philofophie felbft, Doch in der
Are der Behandlung’ derfelben Epoche gemacht hat.
Seine frühere Lebensgeſchichte enchält mehr edle Züs
ge, unter andern die gefchicfte und. muthige Vertheis
digung des ungiüetiügpen Calas und feiner Familie,
den
| waͤhrend d. achtz. Jahrhund. ii anf Kant. 365
den er von der Folge eines ungerechten Urtheils ſpru⸗
ches vettete. Den erſten und groͤßten Ruhm verdankt
Voltaire feinem poetiſchen Genius, hauptſaͤchlich
feinem ſo fruchtbaren Talente: für die dramatiſche
Kunft, dastanfangs in Paris, um. ſo mehr gefhäge
und bewundert wurde, Da es feit dem Tode der bey»
den Eorneille und des Racine der franzöfifchen
Bühne an: nemen. vorzüglichen dramatiſchen Werfen;
befonders im Fache der Tragödie, gefehlt hatte; ob⸗
gleih Boltaire,. fosenthufiaftifch er auch von feinen
Landsleuten und vom vielen Deutſchen gepriefen ifl‘/
Die dramatifche Kunſt nicht viel weiter brachte, als
feine Vorgänger, wie Leffing’s Kritif gezeigt hat
Aufferdem: wurde Voltaire auch ſehr berühmt ale
epiſcher Dichter Durch feine Henriade, von welder
er. einen Theil während feiner Gefangenfchaft in der
Baftille verfertigte, durch feine Pucelle d’Orleans,
und als profaifcher biſtoriſcher und philoſophlſcher
Schriftſteller.
Friedrich der Große ließ ſich mit ihm —
in eine Correſpondenz ein, hatte nachher auf ſeiner
Reiſe nach Weſtphalen eine perſoͤnliche Zuſammen⸗
kunft, und lud ihn zu ſich nach Berlin ein, wohin
ſich Voltaire auch begab, und dort mehr Jahre mit
dem Könige als deſſen vertrauteſter Freund lebte, mies
wohl nur in literarifchem Betrachte. Da jener-bey -
feiner reichen Ader des Wißes auch einen hoben Grad
von eigenfüchtiger -Eitelfeit und haͤmiſcher Laune be⸗
faß; fo entzweyten fich beyde zuletzt, fo daß ihn der
König fogar nady feiner Abreife unterweges verhaften
laſſen wollte. In der Folge fuhr inzwiſchen der Koͤ⸗
nig fort, ihn freundfchaftlich. zu behandeln, und ihm
— — Briefen zu ſchmeicheln, wozu in —
DE
366 Gefchichte der neuern Philoſophie hg
fruͤhern perfönfichen Werhätmiffe mie ihm Gründe
lagen. — re **
Unter den eigenthuͤmlichen Zügen in Voltai⸗
reꝰs Charakter war auch ein ſchmutziger Geitz, wovon
er wenigſtens waͤhrend ſeines Aufenthalts in Deutſch⸗
land manche zum Theile ſonderbare Proben gegeben
hat. Nach ſeiner Abreiſe aus Deutſchland hielt ſich
Voltaire gewöhnlich zu Paris auf, ſuhr fort fuͤr
das Theater zu arbeiten, nahm an den»Arbeitem'der
Eneyklopaͤdiſten Theil , und hatte vielerley Streitig⸗
keiten. Im böhern Alter zog er ſich auf fein Landgue
nad Ferneh zuruͤck, brachte hier feine Muße in der:
Gefeltichaft der. Befanten Marfife de Chatelet zu,
und zeichnete fih nunmehro durch Wohlthaͤtigkeit ger
gen die Gutsleute und Landleute der Gegend aus
Nicht Sange vor feinem Tode erfuhr er die Demürhir‘
gung, daß der Kayſer Joſeph IT, der den Franfeit: '-
Haller zu Bern befucht hatte, den Philoſophen
von Kernen nicht befuchte, ungeachtet er in der Naͤhe
vorbey fam. | re *
Die Schriften Voltaire's über philofophifche
Gegenftände harten nicht eigentlich einen wiſſenſchaft⸗
lihen Zweck. Er behandelte die Philoſophie, wie
Altes, was er behandelte, mehr als Stoff einer. ine
tereffanten launigten wigigen Darſtellung, foferne' fie '
diefer fähig war, und wenn philofophifche Materien
Diefer nicht fähig waren, gab er ſich auch nicht damit
- ab... Anfangs bemühte.er fi, das: Newtonſche Sy⸗
ftem zu populariſiren, und. die Kentniß desſelben
in Frankreich und Deutfchland auch ‚unter dem groͤ⸗⸗
ßern Publicum zu verbreiten; wobey er Vergleichun⸗
gen zwiſchen Rewton und Leibniz anſtellte, die
1F zum
währenbib, achtz Yahrhund: v. auf Kant: 367
- zum Nachtheile des Letztern ausſielen; wiewohl ;er
von Leibniz perſoͤnlich, und auch von Wolf, (nur
nicht von deſſen weitſchweifiger ſyſtematiſcher Schul⸗
manier und feinen zahlreichen lateiniſchen Quartan⸗
ten) mit Achtung ſprach. Ein deutſcher Gelehrter
und Philofoph Ludwig Martin Kahle tratzwar
als Apologet Leibniz'ens gegen Voltaire auf;
und bewies die Unrichtigkeiten, die bey desfelben Pas
rallele zwiſchen Newton und Leibniz zum Grunde las
gen; ward aber dafuͤr mit hoͤhniſchem Spotte abge⸗
fertigt und laͤcherlich gemacht *) |
Bald nachher diente der Optimismus. dem
DB oltaire zum. Gegenftande feiner ſpoͤttiſchen Laune;
und hierin hatte er nicht Unrecht. Die Metaphyſiker
warfen in der That damals manche ungereimte Fragen:
über diefen Punct auf, und beantworteten fie mo,
möglich. noch ungereimter. - Da fie bey der Voraus⸗
fegung des Theismus Die gegenwärtige Welt für die;
befte unter allen möglichen erklärten, welche Gott has.
be fchaffen koͤnnen; fo ſahen fie ſich genöthige, ent⸗
weder die Wirflichfeit des Uebels in der Welt ſchlecht⸗
Hin zu leugnen, ‚wogegen die Erfahrung doc fo laut:
+ — pro⸗
=, Elemens de la philofophie de Newron mis ä la portée
“de tout le monde, Par Mr. de Voltaire; A Amfterdam '
*.. 1738. 8: — La Metaphyfique de Newron; ou paral-
lele des Sentimens‘de Newron et de Leibnitz ; &. Am- ,
fterd. 1740. 8. — Vergleichung der. eibnizifchen und ,
Newtoniſchen Metaphyſik, wie auch ‚verfchiedener andes
rer philoſophiſcher und mathematiſcher Lehrer behyder
Weltweiſen, angeſtellt und dem Hrn. von Voltaire:
entgegengeſtellt von Lud. Mart. Kahle; Göttingen
1740. 8. Franzoͤſiſch à la Hayę 17448. Voltaire.
erwiederte eine Courte Reponfe, aux, longs discours
"P’um’Dodeut allerhand. Mom den fämtlichen Oeu-
vres.de Voltaire has man ebenfalls mehrere Ausgaben.
— — er Fe 7,
368 Gefchichte der — Philoſophhie
proteſtirte, oder mit ſich im Widerſpruche zu bleiben;
und trotz allem Uebel die Welr doch: für: die befte Welt
zu erflären. Dies: leßte insbefondre. war es, was
den Boltaire zu: feinem: Momane Candide ver⸗
anfaßte; Einige andre geiſtvolle und: intereſſante phis
loſophiſche Aufſaͤtze von Voltaire finden. ſich noch
in feinen Melanges:de — d — et de —
loſophie. ei | Si
Dögteich die: eigenilid — Schriften
Voltaire’s nicht an fich von ſonderlichem Belange
für die Wiſſenſchaft find; fo hat er ſich dennoch) ducch
den Charafter feiner Werte überhäupt;, auch feiner:
biftorifchen, um die Cultur der Philoföphie in mans
chen anderen Hinfichten ein großes indireetes Verdieuſt⸗
erworben. Er bar erftlich -unftreitig "eine vermünfits!
gere religisfe oder vielmehr theologiſche Denkart ums
ter den Gelehrten bewirfen helfen. Es ift hier’ kei⸗
nesiveges die Abſicht, alle die Spoͤtterehen in Schuß:
nehmen zu wollen, welche fih Voltaire gegen die
Bibel, am meiften den biftorifchen Theil derfeiben,
fo wie gegen die pofitive Religion im Ganzen erlaube’
bat, oder gar fie als Ruhmwuͤrdig hervorzuheben‘;
Die Zügellofigfeit des Voltairiſchen Wißes hat hier
allerdings die Grenze weit uͤberſchritten. Gleichwohl
bat auch dies feine gute Folgen gehabt. : Dadurch
daß er den hiftorifchen Theil der Bibel angriff; mans
che fiheinbare oder wirflihde Widerfprüche und Sons
derbarfeiten in den Sagen und Erzählungen des al⸗
ten und neuen Teſtaments aufderkte; auf die Be⸗
mühungen der Exegeten und Theologen, felbit :die
offenbarſten Unniöglichfeiten und Ungereimtheiten: zu
erfläven, und zu vereheidigen, ein lächerfiches Licht
warf. zur, er. mit — MR: may den — — |
an wsigeleV ausge
während d, achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 369
Theit der Bibel von demjenigen, der wirklich als
Duelle einer pofitiven Religion. gelten kann, fchärfer
abfonderte, das Dogma von der göttlichen Inſpira⸗
tion der biblifchen Bücher ftrenger prüfte, Die Ans
‚ wendung Desfelben auf diefe und jene einzelne biblis
fhe Bücher immer mehr einfchränfte, es überhaupt
ganz anders beftimte, und jo nach und nach der bie
bliſchen Exegeſe eine andere Richtung gab, wobey die
Bibel weniger den Sarfasmen eines San: wie
| Boltaice, ausgefegt war.
. Was übrigens Voltaire'n u feinen —
liſtiſchen Zeitgenoſſen wegen ihrer Ausfälle auf die
pofitive Religion auch noch zur Entfchuldigung ges
‚reicht „. ift, daß fie dabey nicht. ſowohl den Proteſtan⸗
tismus, als vielmehr die katholiſche Religion und
Kirche im Auge hatten. Der Contraft, der fich zivis
ſchen dee Dummpeit und dem Aberglanben des gros
sen Haufens, der Mönche, und der niederen Fathos -
liſchen Geiftlichfeit, in Franfreih, Stalien,. den
-Miederfanden, und zwifchen ‚der. auf den höchften
Grad geftiegenen firtlichen VBerdorbenheit der vorneh:
mern Geiftlichfeit und Stände in Paris fand, muß⸗
te jene Köpfe zu Ausfällen der Art reizen, um fo
‚mehr, da diefe Wißeleyen über Religion und Bibel
„in den Zirfeln vorzüglich bewundert wurden, in des
nen fih Voltaire und feine Freunde berumtrieben.
r Zweytens Voltaire zeigte durch fein Benfpiel
‚auffallend, daß die Einführung nicht allein der Phis
Iofophie, fondern auch der wiffenfchaftlichen Literatur
. überhaupt. in das große Publieum, nicht ſowohl won
der ſteifen ſyſtematiſchen Form, als vielmehr von
der Are der Darftellung abbänge, ‚daß man durch
„Buble's Geſch. d. Philof. VI.D. Aa dies
— —
370 Geſchichte der neuern Philoſophie
dieſe zu intereſſiren und zu gefallen wiſſe. Er weckte
alſo die Gelehrten, vornehmlich die deutſchen Gelehr⸗
sen, in dieſem Puncte zur Nachahmung. Sie fiens
gen ige auch an, mehr Fleiß auf Compofition und
Schreibart zu wenden, als fie bis dahin gethan hats -
ten. Man bemerft häufig bey den deurfchen Schrifts
ftellern aus der Periode, wo Boltaire’s Ruhm
am hoͤchſten war, einen pofemifhen Ton und Sti⸗
chelegen gegen ihn. Das ift eben ein Beweis‘, daß
fie ihm nachzueifern fuchten, und die Ueberlegen⸗
2 heit, die er im Urtheile des gebildeten Publicums
geroonnen hatte, durch das, was fie felft leifteren,
mindern wollten. Voltaire war in feiner Art ein
greffliches Mufter, wie man Iiterarifhe Gegenſtaͤnde
popular, praktiſch, und anziehend behandeln muͤſſe.
Er verband Zerftreuung, Unterhaltung und Beleh⸗
zung des tefers auf die angenehmfte Art mit einander.
- Seinen Hiftorifchen Arbeiten mache man den Vor⸗
wurf, daß er zumeilen die Gefchichte In einen Mo
man verwandelt habe, und der Vorwurf ift nicht n
gegründer. Hier ift aber von feinen Werfen,
alfo auch von feinen Hiftorifchen, nur als Pr
des Genies und philofophifhen Beiftes die Med,
und es ift die Frage, wenn er ſich um hiſtoriſche
Wahrhaftigkeit und Gruͤndlichkeit mehr bemuͤ J
te, ob er nicht dennoch alle Annehmlichkeiten ſein
hiſtoriſchen Manier beybehaften baben wiirde 97
- Einer der vornehmſten franzöfifchen Nafürafiften
war d’Alembert, ein trefflicher geiſtvoller Schrift⸗
ſteller, zugleich großer Phyſiker und Marhemätifer, -
der auch einige Zeit fich im Berlin aufhielt "übrigehs
größtentheils zu Paris lebte. Er und Diderst was
ven die Hauptunternehmer der großen: franzöfifehen
‚es == En—⸗
| während d. achtj. Jahrhund. b. auf Kant. 371
Eneyklopaͤdie, diefes berüßmten Werkes, zu / wel⸗
chem ſich damals Die beſten Köpfe Frankreichs vers
einigten, und Das für die Franzoͤſiſche Litteratur, für
den Geschmack und die wilfenfhaftlihen Studien der
Franzoͤſiſchen Marion, und vornehmlich für die philo⸗
ſophiſche, moralifche, politiiche, und religiöse Denk⸗
art derſelben von den entfcheidenften Folgen gewejen
iſt. Dan wollte in diefem Werke die mwichtigiten
Materien aus allen Difeiplinen alphaberifch zufammens
ſtellen; einzelne Artifet wurden befondern Gelehrten
zur, Ausarbeitung übertragen; und es ift miche zu .
leugnen, daß viel Gutes und WVortreffliches darin
geleiſtet ift. Die philofophifchen Artifel find aber
fort jämelich in dem einfeitigen naturaliftifhen Geifte
und Tone gefchrieben, der die Urheber des Werkes
beſeelte. Gie zwecken Darauf ab, den Karhölicisinus
nicht bloß, fondern Alles, was pofitive Religion
‚beißt, zu untergraben. D’Alembers und Dis
derot wählten in, dieſem Fache zu ihren Mitarbeitern
» ‚feine andere, als folhe, von denen fie-wußten, daß
‚fie mit ihnen einffimmig dächten; und man hat daher
nicht Unrecht, wenn man den heutigen Verfall der
Heligion und Sittlichkeit in Frankreich bey den vora
nehmern und gebildetern Ständen größtentheils den
fogenannten Encyflopädiften zuſchreibt. Wie leis
denſchaftlich und felbft wie unedel fie in dem Stücke
verfuhren, davon fann ein Beweis fenn, daß fie in
einem Artikel Feuilles eine Stelle aus einem Werke
Bonnet's einrückten, und ſtatt der Woͤrter Dieu,
Providence, die naturaliftifcher flingenden Nature,
Loix generales, unterſchoben, alſo ads Haß gegen
die pofitive Religion offenbate Falſatii wurden.
Für die Gefäriche der Philoſophie ift bey der
Granzoͤſiſchen ae am inteteflanseften det Ge⸗
| | Ya |
ſichte⸗
372° Geſchichte der neuern Philoſophie
fihtspune, woraus D’Alembere und Diderot
den Zufammenhang der Wifjenfchaften und Künfte
betrachteten und darftellten. Ihre Ideen darüber find
entwickelt in dem Discours preliminaire der Encyflos
pädie. Dieſer enchäle zwey Theile, deren einer die
“ Genealogie der Wifjenfchaften, der andere die philos
ſophiſche Gefchichte der Fortſchritte des menſchlichen
Geiftes feit der Wiederherſtellung der Wiſſenſchaften
zu Gegenſtaͤnden haben. Vom Baco von Verulam
bat D' Alembert nur die eneyklopaͤdiſche Ordnung
der menſchlichen Erkentniſſe entlehnt, nicht aber ſeine
Vorſtellungsart von der Genealogie der Wiſſenſchaf⸗
sen, die ihm eigen iſt; daher man ihn infofern mit
Unrecht eines am Baco begangenen Plagiats befchuls
digt hat. ur | u
Die menfhlihe Erfentniß beſteht zunächft und
vornehmlich aus Ideen, welche wir unmittelbar durch
die Sinne empfangen haben, und aus der Verbin,
Dung und Vergleichung diefer Ideen. Die leßtere
wird im Allgemeinen Philoſophie genannt, und
. begreift auch die Mathematik in fih. Die Scheis
dung beyder in ihre einzelnen Zweige gehört für die
Encyklopaͤdie ſelbſt. Diefe Bergleihung, Annähes
sung und Verbindung der unmittelbaren Ideen ift
die erfte Operation der Meflerion. Aber die Erkent⸗
niffe, welche wir durch die Vereinigung der primis
tiven Ideen gewinnen, find nicht die einzigen, deren
der menjchlihe Verftand fähig if. Es giebt hoch
eine andere Öattung von Reflerionserfentniffen. Dieſe
beftehbn aus Seen, welche wir ung felbft bilden, ins
den wir uns ähnliche Weſen mie denen, welche die
Gegenftände unferer directen Erfentniffe ausmachen ,
einbilden oder zufanmenfegen. Dies nennen wir
| Nach⸗
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 373
Nachahmung der Natur, die den Alten fo bes
lant war und von ihnen ſo lebhaft empfohlen wurde.
| Da die unmittelbaren Ideen, welche uns am
lebhafteſten reizen, auch diejenigen ſind, deren Ans
denken wir am leichteſten bewahren; fo find es auch
‚eben diefe, welche wir durch die Nachahmung ihrer
Gegenſtaͤnde in uns am liebften wieder zu erwecken
fuhen. Wenn die angenehmen Objecte uns in der
Wirklichkeit mehr rühren, als in der bloßen Vorſtel⸗
lung, fo wird das, was fie im leßtern Falle an Ans
nehmlichkeit verlieren, auf gewiſſe Weiſe durch Dies
jenige Annehmlichfeit erfeßt, die aus dem Vergnügen
der Nachahmung entfpringe. In Anfehung der Obs
jecte aber, die in der Wirklichkeit nur traurige,
ſchmerzliche, beuuruhigende Empfindungen verurs
fahen würden, ift umgefehrt die Nachahmung ane
genehmer, als die Objecte ſelbſt; weil diefe uns im
Die angemeffene Entfernung verfegt, wo wir das Vers
gnügen einer Gemuͤthsbewegung empfinden, ohne die
in dee Mirflichkeit Damit verbundene Beſchwerde.
Erfeneniffe dieſer Art, die auf der Nachahmung der
ſchoͤnen Natur beruhen, find alle Künfte des Schoͤ⸗
nen, fowohl die.bildenden, als Die redenden. |
Sehr fein ſind die Bemerkungen D' Alem⸗
bert's über den Urfprung des Ranges, welchen die
‚Künfte und Wiffenfchaften des Schönen vor den
mechanischen Künften im Urtheile der Menfchen und
in der bürgerlichen Gejellichaft insbefondre gewonnen
baden. Man fann den Namen Kunft überhaupt
‚einem jeden Spfteme von Kentniffen beylegen, die ſich
möglicherweife auf Regeln bringen laſſen, welche ber
Bit. unveränderfih, und von dem Eigenfinne und
| ‚Ya 3 WBor⸗
374 Geſchichte der neuer‘ Philoſophie
Vorurtheile der Individuen unabhängig find. In
dieſem Sinne fönte man mit Recht fagen, dag mehr
rere unferer Wiffenfchaften von der praftifchen Geite
betrachtet Kuͤnſte find, - Aber fo wie es Regeln giebt
für die Operationen des Verſtandes oder der Seele s
fo giebt es fie auch für die Thärigfeiten des Körpers,
d. i. für Diejenigen, tbelche auf die aͤußern Körper bes
ſchraͤnkt, nur der Hand bedürfen, um ausgeübt zu
werden, Daher rührt die Unrerfcheidung der Kuͤnſte
in freye (liberale) und mechanifche, und die Guperios
ritaͤt, welche man jenen über diefe einräumt. Dieſe
Suveriorität ift ohne Zweifel in mehrfacher Hinficht
ungerecht. Go lächerlich inzwifchen Vorurtheile feyn
mögen; fo ift doch unter ihnen Feines ganz ohne
Grund, oder, um es richtiger auszudrücken, Feines
ohne eine Veranlaffung feines Urfprungse. Die Phis
loſophie ift zumeilen niche im Stande, die Miss
Bräuche zu verbeffern ; aber fie kann doch flets ihre
Quellen entderfen,
Da die förperliche Stärfe das erfte Princip
-war, was das Recht aller Menfchen auf Freyheit und
Gleichheit unnig gemacht hat, fo haben fi die
Schwaͤchern, deren Zahl immer die größte iſt, mit
einander vereinigt, um jenes Princip zu unterdrücken,
Sie haben alfo mit Hülfe der Gefege und verfchiedes .
ner Arten von Starsverfaffungen eine vertragsmäßige
u Ungleichheit eingeführte, fo daß Die Förperliche Stärke
aufhörte das Herfchaftsprincip zu feyn. Sobald diefe
legte Ungleichheit gefichere war, und die Menfchen
fh aus vernünftigen Gründen zu ihrer Erhaltuug
vereinigt hatten, unterliegen fie Doch nicht ihr ins:
geheim entgegenzuarbeiten, vermöge des Triebes nach
Superiorität, welchen nichts in den Menfchen vertils
Ä R gen
\
- während d. achtz. Jahrhund. b. auf Sant. 375
gen kann. Ste fuchten alfo eine Art von Entfchädis
gung in. einer weniger willführlichen Ungleichheit;
und da die förperliche Stärke, durch die Geſetze ges
bunden, ihnen fein Mittel der Superiorität mehr
darbieten Fonte; fo wurden fie genöchigt, die Vers
fhiedenheit der geiftigen Talente als ein Princip dee
Ungleichheit anzunehmen, dag natürlicher, der Ruhe
güufiger, und der menjchlichen Gefellfchaft nüglichee
war. Dadurch rächte fich der edelfte Theil unfers
Weſens gewiffermaßen wegen der Vorzüge, die der
ſchlechtere Theil desfelben ujurpirt hatte, und bie geis
fügen Talente wurden allgemein, als an Guperiotis
taͤt über die Förperlichen Anlagen erhaben anerkant.
Die mechanifchen Kuͤnſte, abhängig von der Hand⸗
arbeit, und, wenn man fih fo ausdrücen darf,
einer Art von Routine unterjocht, wurden denjenigeiz
Menfchen überlaffen, welhe das Vorurtheil in die
niedrigſte Claſſe verſetzte. Die Armuth, welche diefe
Menſchen zwang, ſich ſolchen Arbeiten zu widmen,
oͤfter als ihr Geſchmack und ihr Genie fie dazu leite—
ten, wurde hernach ein Grund, ſie zu verachten: ſo
ſehr ſchadet die Armuth Alem, womit ſie ſich ver⸗
arminajtet,
Die freyen Thärigfeiten des Geiftes wurden
Dagegen der Antheil derer, die ſich in dieſer Hinſicht
am meiſten von der Natur beguͤnſtigt waͤhnten. In⸗
zwiſchen wird doch der Vorrang, welchen die libera⸗
len Kuͤnſte vor den mechanifchen gewonnen haben,
durch die Anſtrengung des Geiftes, welche jene vor⸗
ausfegen, und durch die Schwierigkeit, fih darin
heroorzuthun, reichlich Durch den weit größern Nutzen
aufgeswogen,, welchen die leßteren meiſtens der Menſch⸗
* gewaͤhren. Dieſer —* ſelbſt iſt — ae
, 376 Geſchichte der neuern Philoſophie
worden, daß man fie auf eine bloß: mafchinenurdgige
Thärigfeit zurückgebracht hat, um ihre Ausübung:
- einer ‚größeren Zahl von Menſchen zu erleichtern.
Gleichwohl darf die bürgerliche Gefeltihaft, wenn
fie auch mir Recht die großen Genies verehrt, denen
fie ihre Aufklaͤrung verdankt, doch nicht die Hände
berabwürdigen und verachten, welche ihr dienen,
Die Entdeckung des Compaſſes ift dem menfchlichen:
Gecſchlechte nicht minder vortheilhaft geweſen, als
es fuͤr die Phyſik die Erklaͤrung der Eigenſchaften der
Magnetnadel ſeyn wuͤrde. Auch iſt nicht zu vers
geſſen, daß, wenn man das Princip des Unterſchie⸗
des der mechaniſchen und freyen Kuͤnſte an. fich ſelbſt
etwägt, es eine Menge Gelehrte giebt, deren Wiſſen⸗
ſchaft eigentlich nichts weiter, als eine mechaniſche
unſt, iſt, und daß zwiſchen einem Kopfe mit Kent:
niffen ohne Ordnung, Verbindung und Brauchbars
keit angefülle,. und dem Inſtincte eines bloß mechas
aloe Handwerfers gar fein ——— Unterſchied
obwaltet.
Die — — man gegen die —
niſchen Kuͤnſte hegt, ſcheint ihren Einfluß ſogar bis
auf die Erfinder derſelben erſtreckt zu haben. Die
Damen dieſer Wohlthaͤter des menſchlichen Ges
ſchlechts ſind faſt ſaͤmtlich unbekant; waͤhrend die Ge⸗
ſchichte der Eroberer, der Berwüfter desſelben, welt:
kundig geworden iſt. Und doch muß man vielleicht
gerade ben den mechanifchen Kuͤnſtletn die bewuns
dernstwürdigften Proben des menfchlihen Scharf:
finns, der Geduld und der. Hälfsmittel des menfchs
‚ Tichen Geiftes fuchen. Freylich ſind die meiften Küns
€ nur nach und nach erfunden worden, und es waren
wobl ineht Jabthunderte dazu REES um z. B.
—
mährend d. achtz. Jahrhund. b auf Kant 377
tie Uhren zu dem Grade dee Vollfommenheit zu bins
gen, welchen fie gegenwärtig erreicht haben. Aber iſt
nicht derſelbe Fall bey den Wiſſenſchaften? Wie viele
Entdeckungen, die ihre Urheber unfterblich gemacht
haben, ‚waren nicht durch die Forſchungen der vorher⸗
gegangenen Jahrhunderte vorbereitet, oft bis zur
Vollendung hingefuͤhrt, ſo daß es nur noch Eines
Schrittes weiter bedurfte, um ſie wirklich zu vollen⸗
den? Und warum ſollten auch nur diejenigen, die
einzelne Verbeſſerungen und: Vervollkomnungen des
Uhrwerks erfanden, nicht eben ſo viel Anſpruch auf
unſere Achtung haben, wie diejenigen, die nach und
nad) die Algebra vervollkomneten? Auſſerdem, wenn
man anders einfichtsvollen Männern Glauben bey⸗—
meſſen will, welche die. Verachtung, die der große
Haufen gegen die mechanifchen Künfte hegt, nicht ‚abs
gehalten hat, fie zu. ſtudiren; fo giebt es fo zuſam⸗
mengeſetzte Maſchinen, deren Theile ſo ſehr von ein⸗
ander gegenſeitig abhaͤngen, daß es kaum glaublich
iſt, die Erfindung derſelben ſey nicht das Werk eines
einzigen Kopfes geweſen. Ein ſo ſeltenes Genie,
deſſen Namen in der Vergeſſenheit begraben liegt,
haͤtte es nicht verdient, an die Seite der kleinen
Zadhl ſchoͤpferiſcher Geiſter geſetzt zu werden, die uns
in den Wiſſenſchaften neue Bahnen und Auoſichten
gebrochen und eroͤffnet haben?
Von den liberalen Kuͤnſten, die man — Prin⸗
cipien zuruͤckgefuͤhtt hat, werden diejenigen, welche
die Nachahmung der Natur zum Gegenſtande haben,
ſchoͤne Kuͤnſte genannt, weil das Vergnuͤgen
ihr vornehmſter Zweck iſt. Dies iſt jedoch nicht das
einzige Merkmal, welches ſie von den nothwendigeren
oder nüßlicheren‘ frehen Kuͤnſten, wie die Gramma⸗
J As tik,
378 Geſchichte der neuern Philoſehr
‚if, die Logik, und die Moral abſondert. ‚Die legs
teren haben fejte und allgemein ‚geltende Regeln, die
jeder Menfch einen Andern mitheilen kann; anſtatt
daß die Ausübung: der ſchoͤnen Künfte, vorzüglich iu
einer Erfindung. beſteht, Die ihre ‚Gefege nur vom
Genie empfängt: Die Regeln, welche man uͤber die
Kuͤnſte diefer Gattung feftgeftellt hat, betreffen eigents
lich nur den mechaniſchen Theil Derfelben ; -fie bringen
ohngefähr dieſelbe Wirfung mit dem Teleſtkop bevor,
fie Helfen nur denen, die ſehen fönnen.
Aus allem Bisherigen erhellt, daß die verfchies
I denen Arten, wie unſer Verſtand auf die Dbjecte
wirft, und Der verfchiedene Nußen, welchen er von
Diefen Objecten ſelbſt zieht, das erſte ſich uns darbie⸗
gende Mittel iſt, um im Allgemeinen unfere Kentniſſe
von einander zu unterſcheiden. Es bezieht ſich hier
Alles auf unfere Bedürfniffe, dieſe mögen nun
ſchlechthin nothwendig ſeyn, oder auf Convenienz und
Vergnügen, oder auf Gewohnheit, Eigenfinn und
Laune beruhen, Je entfernter die Beduͤrfniſſe find,
oder, je fchwerer zu befriedigen, deſto langſamer foms
men die Keneniffe, Die ihre Befriedigung vorausfeht,
in der Geſchichte der Kuͤnſte und Wiſſenſchaften zum
Vorſchein. Welche Fortſchritte würde nicht Die Arz—
neykunde auf Koſten der bloß ſpeculativen Wiſſenſchaf⸗
ten gemacht haben, wenn fie eben der Gewißheit faͤ⸗
big. wäre, wie die Geometrie? Es gieht aber auch
Hoch andere fehr ausgezeichnete Merkmale des Unters
ſchieds in der Art, wie unfre Kentniffe uns affieirem,
nd in den verjchiedenen Urtheilen, welche unfere
Seele über ihre Ideen faͤllt. Diefe Urtheile werden
mit den Namen Evidenz, Gewißheit, Wahr⸗
| y Mhlzatei⸗, gelatt und —— belegt. |
\ u | Die
' .
— —
mährend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 379
Die Evidenz komt ſtrenge genommen nur folr
chen Ideen zu, deren Verbindung der Verſtand auf
einmal einfieht und begreift; die Gewißheit folchen,
deren Verbindung nur mit Hüffe einer gewiffen Zahl
Zwiſchenideen singefehen und begriffen werden fann,
oder, was hiermit einerlery ift, folchen Gäßen, des
zen Identitaͤt mit einem an und für fich felbft evi⸗
Denten Principe nur durch einen längern oder fürs
zern Ummeg entderft werden mag. Aus dieſen Bes
ftimmungen folge, daß nach der Natur des menjchs
lichen Verſtandes dasjenige, was für den Einen evir
dent ift, zuweilen für einen Andern nur gewiß
feyn würde,
Man Fönte — die Woͤrter Evidenz und Ge⸗
wißheit noch in einem andern Sinne nehmen, und
ſagen, daß die erſtere ein Reſultat der bloßen Ope⸗
rationen des Verſtandes ſey, und ſich auf metaphy⸗
ſiſche und mathematiſche Erkentniſſe beziehe; die ans
dere aber mehr phyſikaliſchen Gegenftänden angehörte,
- deren Erkentniß die Frucht eines beftändigen und uns
weränderlichen Verhaͤltniſſes unferer Sinne iſt.
Die Wahrſcheinlichkeit betrifft vorzuͤglich
hiſtoriſche Thatſachen, und überhaupt alle vergange⸗
ne, gegenwaͤrtige und kuͤnftige Begebenheiten und
Ereigniffe, die wir einer Are von Zufalle zufchreiben,
weil wir ihre Urfachen nicht mit Zuverläffigfeit her⸗
auszubriugen vermögen. Derjenige, Theil diefer Er⸗
kentniß, welcher das Gegenmwärtige-und Vergangene
zum Objecte hat, 65 er fich gleich auf das bloße hi⸗
ſtoriſche Zeugniß gruͤndet, bewirft doch oft in uns
eine eben fo. flarfe Ueberzeugung, wie diejenige iff,
die aus Ariomen entfpringt, Das Gefuͤhl ift von
zwey⸗
380 Gefchichte der, neuern Philofophie
zweyerley Gattung, Das eine für moralifche Wahr⸗
heiten geeignet. nennt. man Gewiſſen; es ift eine
Folge des natürlichen Geſetzes und der Jdeen, wels
che wir vom. Guten und Boͤſen haben. Man fönte
es die Evidenz des Herzens nennen; denn [0
verichieden es auch von der Evidenz des Vers
flandes ift in Anfehung ſpeculativer Wahrheiten,
fo behericht es doch unſern Geift mit, derſelben Ge⸗
walt, Die andere Gattung des Gefuͤhls wird befons
ders afficiet durch die. Nachahmung der fehönen Mas
tur, und das, was man Schönheit der Darftellung
und des Ausdrucks nennt. Es faßt mit Entzücden
die erhabene frappirende Schönheit; es entwidelt und
entdeckt mit Feinheit die verborgene; es verſchmaͤht
und verbannt Alles, was nur den Schein des Schds
nen hat. Oft ſpricht es firenge Urtheile aus, ohne
ſich die Mühe zu geben ; daß’ es die Gruͤnde derfelben:
aus einander fegte, weil Diefe Motive aus einer Mens
ge von Ideen hervorgehen, die fih nicht gleih auf
- der Stelle angeben und noch weniger Andern mitthei⸗
fen Taffen , welche vielleicht dafür gar feine Empfängs
lichkeit haben. Diefer Art des Gefühle verdaufen .
wie insbefondre den Gefhmac und das Genie,
Beyde gehen darin von einander ab, Daß das Ger
vie ein Gefühl ift, welches erzeugt, ſchafft, und
bildet, der Geſchmack hingegen ein Gefühl, mwels
ches über das Erzeugte, Geſchaffene und Gebildete
Mach der Erörterung des fucceffiven Urfprungs
und der Verbindung der Künfte und Wiflenfhaften
laͤßt d' Alembert die. encyklopaͤdiſche Anordnung der⸗
ſelben folgen, wobey der vom Baco von Verulam
‚entworfene Arbor Scientiarum zum Grunde liegt, uur
| | | j mit
&
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 381
mie manchen Abänderungen im Einzelnen. Dieſe
encnflopädifche Anordnung, verglichen mit denjenigen,
die in unferen Zeiten entworfen find, hat fehr große
Mängel und Fehler, was auch ohne weitere Kritif
aus der erften Anficht derfelben erhellt. Den Bes
ſchluß des ganzen Discours preliminaire de !’Ency-
elopedie macht eine Ueberficht der vornehmſten Bers
änderungen in dem, neuern Zuſtande der — |
ven und Künfte feit Baco *.
Mit der Einleitung in die Encyklopaͤdie und
dem wilienfchaftlichen Plane derfelben hängt eine aus⸗
fuͤhrliche Abhandlung d'Alemberts unter dem Ti—
tel: Elemens de philoſophie, worin er die Princi⸗
pien ſeiner eigenen philoſophiſchen Vorſtellungsart
vorgetragen hat, auf's genaueſte zuſammen. Den
Inhalt dieſer will ich alſo etwas näher charafteri
firen_**),
Die ——— — iſt nach d’Alems
Bert die Anwendung der Vernunft auf verfchiedene
Gegenſtaͤnde, auf welche fie angewandt werden kann.
Die Elemente der Philofophie dürfen alfo nur,
aber müfjen auch die Grundprincipien aller menfchlichen
Erkentniſſe enthalten. Dieje Erkentniſſe find von dreys
facher Art; fie beftehn entweder aus Thatſachen,
oder aus®efühlen, oder aus Mefultaten der Re;
flerion. Die Iegtere Are ſchließt ſich einzig und
von
*) S. auch d'Alembert's Melanges de Litterature,
d’Hiftoire et de philofophie; nouv, edit. Tomes V,
Amſterd. 1760. 8. wo der Discours preliminaire de l’En-
eyclopedie an der Spitze des erften Bandes ſteht. Ans
gehängt ift eine Explication detaillde du Syſteme des
eonnaiflances humaines von Diderot:
®*) Ibid. T. IV.
382 Geſchichte der neuern Philoſophie
von.allen Seiten der Philoſophie an; Die beyden ans. _
dern nähern fich dieſer nur unter einigen Gefichtspuner
zen, aus welchen man fie betrachten kann. - Die
MWiffenfhaft der Tharfachen dee Natur ift einer
der großen Gegenftände des Philoſophen; nicht um
zu ihrer erflen und, oberſten Urfache binaufzufteige,
was faft immer unmöglich iſt; fondern um fie zu vers
Binden, zu vergleichen, in Claſſen zu: ordnen, die
einen Durch die anderen zu erflären, und ihren Ger
brauch in wirflihen Leben zu zeigen. Die Wiffens
ſchaft der hiftorifchen Thatſachen ſteht mir der
Philoſophie von zwen Seiten in Verfnüpfung, durch
die Principien , welche bey der Hiftorifchen Gewißheit
zum Grunde liegen, und Durch den Mugen, welcher
ſich aus der Gefchichte ziehen läßt. Die Menfchen,
welche auf der Schaubühne der Welt auftreten, wer⸗
den von dem Weiſen als Zeugen gewürdigt, oder alß
Scaufpieler beurtheilt; er ſtudirt das moraliſche Uni⸗
verſum, wie das phyſiſche, ohne von Vorurtheilen
geblendet zu werden. | J
Pd
Die Wahrheiten des Gefühls gehören fü
den Gefchmack, oder die Moral, und unter diefen
beyden Gefihtspuncten bieten fie der philoſophiſchen
Betrachtung wichtige Gegenftände dar. Die Prine
‘eipien der Moral ind mit dem allgemeinen Syſteme
der bürgerlichen Gefelljihaft genau verbunden, zum
gemeinfchaftlichen Wohle des Ganzen und der Theile,
aus welchen diefes zujammengefeßt ift. Die Natur,
„welche wollte, daß die Mienfchen in Gefellfchaft ler.
-ben follten, hat fie von der Mühe befteyt, die Mes
geln, nad) denen ſich ihr gegenfeitiges Berragen rich⸗
‚ten muß, duch Raͤſonnement zu fuchen; fie laͤßt fie
Diefelben durch eine Art von Iufpirasion erfennen,
| | | u: und
—
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 383
und gewährt ihnen ein inneres Vergnügen, wenn fie
ſie befolgen, fo. wie ſie antreibt, die Gattung forks
zupflangen durch die Luft, die fie damit verbindet.
Sie führe den großen Haufen durch den Meig des
Eindrucks, die einzige Impulfion, Die ihr angemefs
fen iſt. Wber fie überläßt es dem Weifen, - in ihre
Abfichten einzudringen. Waͤhrend andere Menfchen
fi ‚auf die Empfindungen einfchränfen, welche Die
Matur ihnen gegen ihres Gleichen verliehen hat; bes
obachtet und unterfucht der Welſe die innige Verbin⸗
dung dieſer Gefühle mit feinem eigenen Intereſſe; er
‚offenbart fie eben dieſen Menfchen,, die fie; nicht ers
kannten, und fnüpft nn die Bande * feſter,
m fi e vereinigen. =
Einer ähnlichen Analyſe unterwirft er die Wahe⸗
heiten des Gefuͤhls, die ſich auf Gegenſtaͤnde des Ge⸗
iſchmacks beziehen. Aufgeklaͤrt durch eine ſubtile und
gruͤndliche Metaphyſik, unterſcheidet er die allgemei⸗
‚nen Prineipien des Geſchmacks, die bey allen Voͤl⸗
kern gleich ſind, von denen, Die durch den Charak⸗
ser, das Genie, und den Grad der Empfindlichkeit
"Der Nationen oder Individuen modificirt werden.
Durch diefe Unterfcheidung fondert er das weſentliche
«Schöne von dem conventionellen. Gleich ferne von
seiner mechanifchen principienlofen Entſcheidung, und
seiner zu fpigfindigen Diſcuſſion, treibt er die Analyſe
des Gefühls nur ſo weit, wie fie gehen fann. Er
ftudire den Eindruck, welche, jhöne oder für ſchoͤn ges
haltene Gegenftände auf ihn machen, giebt fi und
Andern davon Nechenfchaft, und wenn er, fo zu res
"den, fein Vergnügen mit feiner Vernunft in Einſtim⸗
mung gebracht hat, fo beffagt er ohne Anmaßung,
Ä ‚amd ohne Beftreben, fie gleichfam mie Gewalt zu
übers
384 Geſchichte der neuern Philoſophie
uͤberzeugen, diejenigen, denen durch die Natur, oder
duch die Gewohnheit eine andere Art zu empfinden
zu Theile geworden iſt.
Da die Philoſophie Alles umfaßt, was zum
Beiirte der Vernunft gehört, und die Vernunft mehr
oder weniger ihre Herſchaft über alle Gegenftände
unſerer natürlichen Erkentniß ausdehnt; fo folgt, daß
man von den Elementen der Philoſophie nur eine ein⸗
zige Gattung von Erkentniſſen ausſchließen muͤſſe,
nehmlich diejenigen, welche mit der geoffenbarten Mes
ligion zufammenhängen. Dieſe find: den menfchlis
lihen Wiſſenſchaften durchaus fremde, nach ihrem
Inhalte, Charakter, und felbft nach der. Art der Ues
berzeugung, welche fie in ung bewirfen. Mehr, wie”
Pascal bemerfe, für das Her; beflimt, als für den
Verftand, verbreiten fie das lebendige ihnen eigens
thuͤmliche Licht nur in einer Seele, die ſchon durch
göttlichen Einfluß vorbereiter if. Der Glaube,
-fagt d'Alem bert fpottend, iſt einfehster Sinn,
den der Schöpfer nah Willführ den Menfchen ger
‘währe oder verweigert; und in eben dem Grade, in
welchem die erhabenen Wahrheiten der Meligion über
die trocknen fpeculativen der menfchlichen Wiffenfchäft
erhaben find, in eben Diefem erhebt fich auch der ins
nere uͤbernatuͤrliche Sinn, mit welchem auserwaͤhlte
Menfchen jene Wahrheiten faffen, über den groben
und gemeinen, wodurch jeder andere Menſch die .
boſophiſchen Wahrheiten erkennt. |
Wenn inzwifchen die Philoſophie nicht di. ent⸗
weihende raͤuberiſche Hand an die Gegenſtaͤnde der
Offenbarung legen darf; ſo kann und muß ſie doch
die Gruͤnde unſers Glaubens prüfen, Die Prinei⸗
pien
j
fange, alsihrer Natur, fo giebt es doch nichts defto
. waͤhrend d. achtʒ. Jahrhund. b. auf Sant.“ 385
pien dieſes Glaubens find in der That dieſelben mit.
deuen, welche der hiftorifchen Gewißheit zum Funda⸗
mente dienen, nur mit dem Unterſchiede, daß in Sachen
der Religion die Zeugniſſe, welche die Baſis davon ſind,
einen Grad der Evidenz und Kraft haben muͤſſen,
welche der Wichtigkeit und Erhabenheit ihrer Gegen⸗
ſtaͤnde entſprechen. Der Vernunft gebuͤhrt es alſo,
hier Regeln der Kritik feſtzuſetzen, um alle ſchwache |
Beweiſe zu entfernen; Diejenigen, welche alle Reli⸗
gionen für ſich benußen fönten, von denen zu trennen,
Die nur der einzig, wahren angemeffen find; endlich .
den wahren Beweiſen die Stärke und Deutlichkeit
ju geben, deren fie nur empfänglich feyn mögen.
Auf dieſe Weife kehrt der Glaube in das
Gebier der Philoſophie zurüd, wiewohl
nur — um seines defto ficherern Triumpfs
zu genießen, |
Die Gegenftände der Elemente der Philos
ſophie redueire D’ Alem bert auf vier Hauptbegriffe,
Raum, Zeit, Verſtand, und Materie. Die
Geometrie bezieht ih Auf den Raum; die Aſtrono⸗
nie und Gefchichte auf die Zeit; die Metaphyſik auf
den Verftand; die Phyſik auf die Materie; die Mes
chanik auf den Raum, die Zeit und die Materie zus
gleich; die Moral auf den Verſtand mit der Materie
verbunden, d. i. auf den Menfchen; Die fchönen
Wiſſenſchaften und die Künfte beziehen fich —
auf den Geſchmack und die Beduͤrfniſſe des Menſthen.
So verſchieden auch dieſe Wiſſenſchaften unter ein⸗
ander ſeyn moͤgen, ſowohl in Anſehung ihres Um—
/
weniger allgemeine Geſichtspunete, aus welchen ihre
Elemente behandelt werden muͤſſen. Es giebt eben..
Vuhle's Seid). d. Philof. VI, B. Bb ſe |
986: Gefchichte der neuem Philefophie . >
fo auch merfwürdige Unterſchiede in der Art; jene |
allgemeinen Gefichtspuncte auf die Elemente jeder bes
fonderen Wiſſenſchaft anzuwenden,
Die Wahrheiten, welche die. Elemente der. Ppis
Iofophie ausmachen, find zweyerley: erſtlich Diejenis
gen, welche das erfte Glied der. unermeßlichen Kette |
aller Erfeneniffe bilden; zweytens diejenigen, welche
den Vereinigungspunct mehrer Zweige dieſer Erkent⸗
niſſe abgeben. Die Wahrheiten der, erften Gattung
haben das unterfcheidende Merkmal daß fie von
keiner anderen abhängen , und. ihre Beweiſe felbft
mie fih führen D'Alembert will unter ihnen
nicht. die fogenannten Ariome verftanden wiſſen, , die
meiftens identifche Saͤtze find, durch. welche man in
⸗
der Erkentniß nicht einen Schritt weiter fomt.,. Zur
Die wahren Principien, von denen man- ausgeben
müfle, erflärt er einfache allgemein anerfaunte That⸗
fahen, die nicht wiederum andere Thatfachen vors
ausjegen, die man folglich nicht weiter erflären oder
ihrer Eriftenz nach beftreiten Faun; in der Phyſik z.
B. die alltäglichen Phänomene, welche Jedermann
wahrnimt; in der Geometrie die in die Sinne fallen⸗
den Eigenfchaften der Ausdehnung, in der Mechanif
Die Undurchdringlichfeit der Körper, als Quelle ihrer
gegenjeitigen Thätigfeitz in: der Metaphyſik das Res
fultat unferer Senfationen; in der Moral die ur⸗
fprünglichen allen Menjchen gemeinfchaftlichen. Deis
gungen und Gefühle. Demmach ift die Philoſophie
| Be. beftimt, fich. in die ‚allgemeinen Eigene
fhaften des Daſeyns und der Subftang, in unnä
Unerſuchung abftracter Begriffe, in willfüßrliche Dis
ſtinctionen und endlofe MNomenclaturen zu, Verlierem:
Sie. ift entweder eine Wiſſenſchaft von Tbeiſaden.
oder — von Chimaͤren. au
| —
—
\
während d. achtz. Japrhünd, b. auf Kant. 387
‚3° "Alle unfere Ideen hält d'Alembert für urs
ſpruͤnglich einfache; aber in einem eigenen Sinne,
Denn fo zufammengefege auch ein Dbject feyn mag,
fo tft doch die Operation, wodurch wir dasſelbe bes
greifen, nur Eine; jo daß folglich es eine einzige eins
-fahe Thätigfeic ift, wenn wir uns einen Begriff von
einem Körper bilden, als einer Subſtanz, die zus
gleich ausgedehnt, undurchdringlich ift, und Figur
und Farbe hat. Man muß deßmwegen über den Grad
Der Einfachheit der Ideen nicht nach der Natur der
Thaͤtigkeiten des Verftandes urtheilen; -vielmehr iſt
es die Einfachheit des Objects, Die hier entfcheiderz;
und Diefe Einfachheit wird nicht beftimt durch die
geringe Zahl der Theile des Objects, fondern durch
Die Zahl der Eigenfchaften, welche man dabey betrachs
tet. Sollte folglich auch der Raum aus Theilen zus
ſammengeſetzt, und fein einfaches Weſen ſeyn; fo ift
Doch die dee, welche wir Davon haben, eine einfache
dee, weil alle Theile des Raums von derfelben
Beſchaffenheit find, folglich die partiellen Ideen,
‚welche die Vorftellung des Raumes enthält, auch ein⸗
-ander völlig gleich find. Eben fo verhält es fich mit
der Vorftellung der Zeit. Die dee des Körpers
hingegen ift zufammengefeßt, weil fie die verfchiedes
nen und trennbaren Ideen der Undurchdringlichkeit,
der Figur und —————— in fi ch ſchließt.
Man ann die einfachen Ideen nah zwey
Hauptgattungen ordnen. Die erfte Gattung
befaßt die abfiracten Begriffe. Die Abftraction
iſt in der That nichts anders, als die Thaͤtigkeit,
wodurch wir au einem Objecte eine befondre Eigen⸗
ſchaft erwägen, ohne auf die anderen Eigenfchaften
RN zu ſeyn; dergleichen find Die ſchon ers
Bb 2 wähns
388 Geſchichte der neuern Philoſophie
waͤhnten Ideen der Ausdehnung und der Dauer, der
Eriftenz, der Senfation u. a. Die zweyte Gar
‚ tung der einfachen Ideen enthält die primitiven,
welche wie urfprünglich duch die Sinne erwerben,
wie. die Vorfiellungen der befonderen Farben, des
Kalten, des Warmen u, w. |
Dan faun eine einfache dee nicht beffer 4
ſtellen, als durch das Wort, welches fie bezeichnet.
Eine Definition würde fie nur verdunfeln. Aber
alle Begriffe, die mehr einfache Ideen in fich ſchlie⸗
‚gen, muͤſſen definire werden, geſchaͤhe es auch, nur,
um Ddiefe Ideen daraus zu entwickeln. So werden
3. B. in der Mechanik weder der Raum, noch die
‚ Zeit, definirg werden. dürfen, wohl aber die Bew
gung, weil die Idee der Bewegung die Ideen des
Maumes und der ‚Zeit in fi faßt. Die einfachen
Ideen, welde zu einer Definition gehören, muͤſſen
denn fo von einander unterfchieden werden, daß man
feine derfelben wegnehmen kann, ohne die Definition
unvollftändig zu machen. Hierauf muß man vorzüglich
achtſam feyn, Damit nicht Andere für zwey verſchie⸗
dene Begriffe halten, was individuell nur ein Und
derfelbe Begriff if, Mach diefein Principe wird: eine
Definition um fo deutlicher fenn, vorausgefegt Daß
an dem Uebrigen nichts vermißt wird, je kuͤrzer ſie
iſt; man kann ſogar, um ſie noch mehr abzukuͤrzen
zuſammengeſetzte Ideen in dieſelbe aufnehmen, nut.
muͤſſen fie vorher erklaͤrt oder an und fuͤr ſich ſelbſt
leicht erklaͤrbar ſeyn. Ueberhaupt dient eine leicht
verſtaͤndliche Kürze. mehr als man glaubt, zur Deut⸗
lichkeit; fie umterfcheider ſich nicht von der Praͤ⸗
elſton, welche darin beſteht, mir ſolche Ideen zuge
brauchen, die N er nd „ſie in eine: rn \
Ord⸗
| während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 389
Ordnung zw Gegen; und fie angemeſſen ausjne
—— |
Die meiften Philoſophen —— der —
der Definitionen ſey, die Natur der definirren Ob⸗
jecte ſelbſt zu. erklaͤten. Soll dieſe Behauptung einen
Siun haben, fo fälle ſie mit der obigen zuſammen,
welche letztere jedoch viel weniger gwendeutig ift. In
ber. That find wir nicht bloß in Anfehüng der Natur
jedes befondern Dinges als folchen unmwiffend; fons
dern wir wiffen auch’ nicht einmal, was die Natue
eines Dinges als, folche ſey. Die Natur der Dinge
in ihrer Beziehung zu uns betrachten ift bloß die Ents
goiefelung ber einfachen Ideen, melde in den. Be
griffen siegen , die wir) uns vom dieſen Dingen ma⸗
en, Der. berübmre Streit der Realiften und No—
- minaliften. war daher ein bloßer MWorrftrei. Die
Definitionen find weder‘ bloß real, noch bloß nomis
nal; fie‘ find mehr als ‚bloße Namenerflärungen,, und
weniger als Sacherflärungenz fie. erflären die Natur
des Gegenftandes, wie wir denfelben uns vorftellen
wad begreifen; aber AR, wie er iſt.
Bon Drikinten kinferer Erfenntmiß fönnen
wir nur reden, ſoferne dieſe von gewiſſen Vorſtellun⸗
gen und Begriffen anhebt. ' An fich mögen dieſe den
Namen der Principien nicht verdienen; fie ſind vlel⸗
leicht ſehr entfernte Folgerungen aus andern allgemei⸗
nern, — die i u fublimite unfern Blicken
entzieht. Wir nüffen icht die erſten Bewohner des,
Meergeſtades nachähiien , die, weil fie feine Grenze,
| * Meers erducuen ſich einbildeten, daß es feine: |
4 un ’» mh 9 6; 4
ae Wir
& . — » i
zei | Bb 3 Was
390 Geſchichte der neuern Philoſophie |
Was die Wahrheiten betrifft, welche die Ders
einigungspuncte der verfchiedenen Glieder in der Kette
der wiffenfchaftlihen Erfentuiffe ausmachen; fo find
Diefe-nicht Priveipien, weder an. fich felbft, noch im:
Beziehung zu uns, weil ſie die Mejultate mehr ander
rer Wahrheisen find. Sie gehören aber doch. zu dem‘
pbilofophifhen Elementen durch die große Zahl dee
Wahrheiten, die aus ihnen wiederum ‚hervorgehen;
und Fönnen in dieſer Hinficht ‚als Principien vom
zwenten Rauge betrachtet und behandelt werden.
Man wird diefe Principten an einem doppelten Merk⸗
“ male erfennen: fofern fie eine: große Zahl einzelner
Wahrheiten unter fich befaſſen, und felbft wiederum ,
von zwey oder mehr primitiven Wahrheiten abhängig
find. Bemerkt man. Diefe: Abhängigfeit-nicht ‚gleich
auf den erfien Blick, ſo laͤßt fich Das Intervall durch
einige Wahrheiten ausfüllen, die zur Bewirkung dev
Verbindung beftime find, und die fie zwar nicht
unmittelbar berühren Dürfen,‘ aber. dach in eine ange⸗
mefjene Diftanz geftelft find ‚: um dem Verſtande dem
Uebergang - von den ſecundaͤren zu den primitiven
Principien zu erleichtern. - jene Wahrheiten ,: welche
die erſten Principien mit denen des zweyten Ranges
: verbinden, ‚werden gewöhnlich einige andere Wahr⸗
heiten unter ſich faflen in coffateralen Zweigen, und
dadurch: deicht Für folche zu erkenwen ſeyn, welche man
vorzugsmeife in deu — der ger ges
brauchen hat .. Kur
Ben der populoren sollt, "bie d’Aleiibert
num vortraͤgt, will ich, hicht verweilen; aber, feine
dee von der Meraphufif, da ‚fie in den. philoſo⸗
phifchen Artifefn der Enchklopadie zum Grunde liegt«
ie einer kurzen Charafreriftif nicht unwerth.
! Kot Uns
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 391
EAnſere Ideen find das Princip unſerer Erkent⸗
niß, und dieſe Ideen ſelbſt haben abermals ihr Prin⸗
cip in unſeren Senſationen. Dies iſt ein Factum
der Erfahrung. Wie vermoͤgen aber die Senſatio⸗
hen unſere Ideen hervorzubringen? Das iſt die erſte
Frage, welche der Philoſoph ſich vorzulegen hat,
und auf deren Unterſuchung und Beantwortung das
Syftein-der philoſophiſchen Elemente zunaͤchſt gerich⸗
ver iſt. Die Theorie vom Urfprunge unſerer Ideen
gehoͤrt alſo der Metaphyſik an; ſie iſt einer ihrer vor⸗
nehmſten Gegenſtaͤnde; und vielleicht ſollte ſie ſich
ganz hierauf einſchraͤnken. Faſt alle uͤbrige Proble⸗
me ;-die fie. aufzuloͤſen ſtrebt, ſind unaufloͤslich oder
frivol; fie find bloß Nahrung des esprits temeraires,
ou des esprits faux. Man darf ſich deswegen gar
nicht daruͤber wundern, werin fo viel fpigfindige Fra⸗
gen, die Immer von neuem aufgewörfen und verhans
delt; iniergelöft wurden, bey allem 'duren Köpfen jene
- MWiffenfchaft, die man Metaphyſik, als leer an In⸗
- halte und voll Zänfereyen, verächtlich gemacht haben,
Gegen dieſe Verachtung würde fie gefichert geweſen
ſeyn, wenn? fie ſich innerhalb ihrer natürlichen
Schranken gehalten, und nicht nach Erkentniſſen zu
ſtreben ſich angemaaßt haͤtte, die ſie entweder nicht
erreichen fann, oder weiche zu erwerben nicht der
Mühe werth war. Man kann in- einem gemiflen
Verſtande von der Metaphyſik fagen: Daß ents
weder Jedermann fie weiß, oder Niemand;
oder, um es genauer auszudrücken, Daß Jeder⸗
mann die Metaphyſik nicht weiß, die Nie—
mand wiffen fan. Cs gebt mit metaphyſiſchen
- Gpftemen, wie mir Theaterſtuͤcken. Die Wirfung
iſt verfehlt, wenn fie nicht allgemein if. Das
Wahre in der Metäppufif gleicht dem Wahten du -
a Bb 4 Sa⸗
392. Geſchichte der neuern Philoſophie
Sachen des Geſchmacks; es iſt ein Wahres, wovon
der Verfiand jedes Menſchen den Keim in ſich trägt,
dem zwar die meiſten Menjchen feine Aufmerkſamkeit
widmen, das fie aber anerfennen, ſobald man eg ihnen
zeigt. Es ſcheint, daß Alles, was man aus einem
guten metaphufiichen Buche lernt, nur eine Are von
Erinnerung an das tft, was unfere Seele bereits ges
wußt hat. Die damit verbundene Dunkelheit fälle
immer dem Schriftfteller zur Schuld, weil die Wifs
feufchaft, welche er lehren will, ‚feine andere Sprache,
als die Sprache des gemeinen Lebens. bat. Man
kann auf gute metaphyſiſche Schriftfieller anwenden,
was von guten Schrififtellern oft gejagt ift: es iſt
Miemand, der, indem er fie lieſt, nicht-glaubt, eben
fo über die Dinge reden zu koͤnnen, wie fie. Wenn
inzwifhen ale Menfchen vie Anlage haben, metas
phyſiſche Theorieen zu verftehen, fo haben nicht alle
die Anlage, fie aufzuftellen und Andre dadurch zu bes
lehren. 2
Das Verdienſt, wahre und einfache Begrife
mit Leichtigfeit dem DBerftande Anderer beyzubringen, _
iſt viel größer, als man denkt, weil. die Erfahrung
ung zeigt, wie felten es ſey. Richtige metaphyſiſche
Ideen find gemeine Wahrheiten, die Jeder faßt, die.
aber wenig Menfchen das Talent, haben, zu ent⸗
wickeln; fo ſchwer iſt es, ben was fuͤr Matetien
auch fen möge, fi das eigen zu machen, was
dermann —
der a Dbjecte a, —
weichen die: Maarbent hun. muß.
waͤhrend d. achtz ¶Jahehund. B.auf Kant. 393.
geht unſere Seele gleichſam aus ſich heraus, um ſich
Der Exiſtenz deſſen zu vergewiſſern, was nicht ſie iſt?
Tous les hommes franchiffent ce. paſſage immenlſo,
tous le franchiſſent rapidement et de la meme ma-
niere. Es iſt alſo hinreichend, wenn wir uns felbft
ſtudiren, um in. uns Die Principien zu finden, wel⸗
he. dienen: koͤnnen, Die große Frage von der Exiſten;
der. äußerm Dinge zu beantworten: , Dieſe Frage
fchließt drey andere in fih, welche man nicht verwech⸗
ſeln und verwirren muß: 1) Wie fchließen wir von
unſeren Senſationen auf die Eriften, der aͤußern Dins
ge? 2) Iſt dieſer Schluß demonſtrativ? 3) Wie
gelangen wir mittelſt eben jener Senſationen dazu,
uns Ideen von Körpern und Ausdehnung zu bilden?
Das erfte Problem, meynt d’Alembert, da
es eine wahre Tharfache zum Gegenftande habe, Füns
be mit aller möglichen Evidenz. aufgelöft werden;
Der Schluß von Senfationen auf äußere Dinges
welche fie verurfachen und ihnen entfprechen, ift eine
;peration des Verſtandes, die nur den. Philofophen
in, Berwunderung feßt, wiewohl er fih darüber zu
verwundern ein. Recht hat, Das Volk lacht anfangs
über, feine. Verwunderung, theilt fie aber fehr bald
init ihm, wenn es nur erſt ein wenig, Darüber reflecs
sirt bat. Snzmifchen bleibt hier nichts auderg übrig,
glg der Anleitung der Natur zu folgen, die den Mens
{hen das Gefuͤbl gab, um ihn von der Eriftenz den
zußern Dinge zu überzeugen, Die, Undurchdringg
lichkeit, als, die weſentlichſte Qualitaͤt der Körper,
fernen wir nur durch das Gefühl kennen; und fo wie
wir dem gefunden Gefühle trauen koͤnnen und muͤſſen,
(0. Fönnen und müffen wir auch den, übrigen Sinnen
NER Dh 2; Um
— —
394 Geſchichte der neuern Phlloſophie
AUm uͤnſern eigenen Koͤrper von andern aͤußern
Koͤrpern zu unterſcheiden iſt folgende Wahrnehmung
hinlaͤnglich. Wenn ein Theil unſers eigenen Koͤrpers
einen andern beruͤhrt, ‘fo. iſt unſere Senſation gedop⸗
bpeltz hingegen iſt ſie einfach und ohne Replik, weun
wir einen fremden Körper beruͤhren. Auf dieſe Art
koͤnnen wir ſehr leicht Uns und das Unſrige von
een was nicht Wir, und was außer
Ins'i a et er 44*—
Aber iſt der · Schluß vom Gefuͤhle auf aͤußere
Dinge demonſtrativ? Die Philoſophen find über dies
fen Punet fehe'uneiriig ;: ob fie gleich ſaͤmtlich einge⸗
ſtehen, daß unſer Hang, die Eriftäm‘ der äußert
Dinge anzunehmen, unvertilgbar. und durch Feine
Philoſophie zu überwinden fe. D'Alembert mis
derlegt mehrere von den Philöfoppen vorgebtachte
Gründe, warum der Behauptung von der Exiſten
der äußern Dinge eine demonſtrative Gewißheit {ul
fommen müffe, unter andern das Cärtefifche Kaifons
hement, va6 n
2
ort, das wahrhaftigſte Weſen, une
fäufchen würde, wenn die aͤußern Dinge nicht wirk⸗
iſch außer uns wären, zumal’ da Gore ſelbſt der Ur⸗
beber unſerer Vorſtellungen von außern Dingen N
Die befte Antwort auf die obige Frage, hält er da
für; fen diejenige, welche einft Diogenes dem Ze⸗
Ho gab: Mer nicht am wirkliche Äußere Dinge
glaubt, der mag mit Phantonen leben und raiſonnie
den: Sehr —** findet d'Alembert imik
Mecht, dag Malebrauche Blöß aus dem Grunde
die Exiſten; der Materie nicht. geleuguer habe, “Wii
nicht der Offenbarung zu widerfprechen. Als vᷣd bie
Offenbarung ſeibſt nicht auf dem Glauben an aͤußere
Dinge berupte! — Man bewege doch einen Un
LIT de Are | glaͤu⸗
A
waͤhrend d. achtz. Jahrhund b. auf Kant; 395
glaͤubigen, die Eriftenz der Koͤrperwelt zu leugnen,
und er wird ſich bald ſchaͤmen, ein Unglaͤubiger zu
ſeyn, wenn er anders nicht den Verſtand ganz vers
foren bat. Bey den chriſtlichen Philofophen iſt ed
fonft immer die Wernunft, > welche den Glauben vers
sheidigt ; bier durch eine befondere Difpofition des
Berftandes :ift es der Glaube des Malebrande,
der feine Vernunft vor der- unpaftbatften. und ‚ung
telnet gehre Re Tab
ei’ Ueberhaupt iſt die aimig Ar Yuraekt, weh
che. man den Zweiflern an der Eriftenz der Körper ents
gegenſetzen kann, dieſe: :diefelben Wirfungen ents
fpeingen aus .denfelben Urfachen, - Nimt man num
für einen Augenblick die Eriftenz der Körper an, fo
Bönten die Senfationen , welche fie in uns hervorbrin?
gen, weder lebhafter, noch beftändiger, noch einförs
miger. feyn; als: diejenigen, welche wir haben; alſo
muͤſſen wir: vorausſetzen, daß die Körper exiſtiren.
So weit fann.das vernünftige Raiſonnement in dies
‚fer Materie nur gehen, und dabey muͤſſen wir —
bleiben.
Die Illuſton in Traͤumen EU ung 1 uneig
eben fo lebhaft, als. ob die Objecte uns wirffich ges
genwärtig wären. Aber wir entdecken doch Die Illu⸗
fion, wenn wir beym Erwachen wahrnehmen, daß das,
was wir glaubten zu ſehen, zu fühlen, oder zu hören;
gar Feine Beziehung oder Verbindung weder mit dem
Drte gehabt habe, wo wir. find, oder mit dem, was
wie uns vorher gethan zu haben erinnern. Wir un?
serfcheiden alſo Doch das Wachen von dem Schlafe
Durch den Zuſammenhang der Handlungen, die waͤh⸗
ud des ing auf einander folgen und einander
ver⸗
'
\ 396 Gefchichte Der neuern Philoſoyhie
veranlaſſen; dieſe bilden eine Kette, die von den
Träumen auf einmal zerriſſen oder unterbrochen wird,
und bey der wir. ohne Mühe; die ‚Lücken. beinerfen,
welche der Schtaf darin. verurfache hat, Hiernach
Fann. man die wirfliche- — - — von *
eercnaygen fondenm. ..
| | Das deitte obige, Problem: Wie ‚zu Kan
Ideen von Körpern und von Ausdehnung gelangen ?
ift unftreitig . mit den bedeutendften, und mit in eis
nem gewiſſen Sinne unaufloͤslichen Schwierigkeiten
verbunden. Das Gefuͤhl lehrt uns freviich das,
was unſer iſt, von dem, was unſern Körper um⸗
giebt, trennen; es macht, ſo zu ſagen, daß wir um
uns her, wie um einen Mittelpunst „das Univerſum
befchreiben; aber wie: kann es uns die Vorfiellung
von der. gegenfeitigen. Contiguitaͤt der Partikeln ‘ges
ben, worin eigentlich der.: Begriff. der. Ausdehnung
befteht ?. Hieruͤber kann uns die Philoſophie, wie
d'Alembert glaubte, nur eine. ſehr unvollkomne
Aufklärung geben. Wir fönnen nehmlich nicht bie
auf die einfachen Perseptionen zurückgeben, welche
die Elemente Diefer vielfachen Perception find, fo wie
wir nicht zupden Elementen der Materie zurückgehen
fönnen, Denn jede primitive, einzige und elemens
-
sarifche Perception fan nur ein einfaches: Divg zum
Objecte haben; und es iſt uns eben fo, unmöglichy
zu begreifen, mie Die Vereinigung einer endlichen
oder unendlichen Zahl einfacher. Perceptionem: eine zus
farnnmengefeßte hervorbringt, als zu: begreifen, wie
ein. zujammengefeßtes Weſen aus einfachen: entſtehen
könne. , Kurz. die Senfation, “welche ums die Aus⸗
Dehnung: etkennen laͤßt, iſt nach ihrer Matur eben fo
voerliacich, wie die Auedehnuns ſelbſt. * |
wird,
‚während d. achtz. Jahrhund⸗ bl auf Kant. 397
wird auch das Weſen der Materie, und die Art, wie
wir uns dieſelbe vorzuſtellen vermoͤgen, ſtets im Dum
keln bleiben. Wir koͤnnen aus unſeten Senſationen
ſchließen, daß es Dinge außer uns gebe; aber ob
das, was wir Materie nennen, der Idee gleich
ſey, welche wir uns davon machen; dies einzufeßen,
hg muͤſſen wir Verzicht thun.
In jeder Wiſeenſchaft giebt es wahre oder ver⸗
mehni⸗ Principien, die man durch eine Arc von In⸗
ſtinct faßt, dem man ſich ohne Widerrede uͤberlaſſen
muß. Sonſt müßte man bey den Principien ein dort
geben in’s. Umendliche annehmen, was eben fo unge
reimt fegn würde, wie ein Fortgehen in’s Unendfiche
bey den Dingen und Urſachen, wodurch Alles unges
wiß würde aus Mangel eines feften Punets, vor
welchen man anheben koͤnte. Unſere Genfationen
ſind uns verliehen, um unſere Beduͤrfniſſe, nicht
aber um unſere Neigungen zu befriedigen, um uns
von dem Verhaͤltniſſe zu unterrichten, worin die aͤu⸗
fern Dinge zu uns ſtehen, nicht, um uns dieſe an
ſich ihrem Wefen nad) kennen zu Iehren. Was liegt
und auch im Grunde daran, in das Weſen der Koͤr⸗ |
ger einzudringen,: fobald mir nur bey der Materie,
wie wir Diejelde vorftellen und begreifen, die Eigen⸗
ſchaften, die wir als primttive betrachten, von Denen
abfondern koͤnnen, die wir als ferundare wahrnebs
men, und fobald das allgemeine Syſtem der Erfihets
‚nungen, immer in Einigfelt und Jeſanmanhenge.
ans nirgend Widerſpruͤche darſtellt? |
Geſetzt aber auch daß die Materie, 6 weit
ir fie begreifen, ein von demjenigen, mas fie an
4 iſt, ſehr verſchiedenes — waͤre; daß wir
durch⸗
398 Geſchichte der neuern Philoſohie '
durchaus keinen richtigen Begriff von ihrem Weſen
‚ hätten; fo wuͤrde uns Doch Die tägliche, Erfahrung
lehren, daß die Vereinigung von Gubftanzen, was
fie auch an ſich ſeyn möge, die wir Materie ner
en, des Handelns, Wollens, Empfindens und
Deufens unfähig fey; - In jener -Wereinigung von
Subftanzen, welche Die Materie ausmacht, kann als
fo auch das denfende Princip nicht enthalten ſeyn.
Der Weiſe beſchtaͤnkt ſich alſo auch auf.diefe umftrei:
tige Wahrheit, oßne weiter die Gründe von den mei⸗
fien Phänomenen aufzuſuchen, die unſere Senſatio⸗
nen begleiten. Er wird. fih z. B. gar nicht um eine
Erklärung bemühen, :- warum und wie wir. das Ges -
fühl auf die Extremitaͤten unſers Körpers beziehen,
und warum das. empfindende Princip in uns, das
von Natur einfach und untheilbar-ift, bald ſucceſſiv,
' bald fimulten in alle äußere Theile Des Körpers verſetzt
wird, die. durch äußere Objecte afficirt werden. Im
Allgemeinen ift nie zu vergeſſen, je mehr man die ver«
fehiedenen Probleme, ‚die der Metaphyſik angewiefen
werden, zu ergründen . trachtet ; defto mehr erfennt
man, daß ihre, Loͤſung über die - Schranken unfers
Berftandes hinausgeht, und daß fie alfo von den
Elementen der Philoſophie ausgefchloffen werden muͤſ—⸗
fen. In dieſe Claſſe muß auch eine zahllofe Menge
anderer Fragen gerechnet werden 3.%. Worauf die
Vereinigung des. Körpers und der Seele und ihre ge⸗
enfeitigen Einwirkungen berupen? — Zu welcher
Seit die Seele. mit dem Körper verbunden fey? —
Sb die Gewohnheiten und Fertigkeiten im Körper
und in der Geele zugleich, oder in der Seele allein
liegen? — Worin die Ungleichheit der Geifter bes
fieße? — Ob dieſe Ungleichheit in den Seelenweſen
ihren Grund habe, ‚oder einzig vom: der Diſpoſition
* | Ä des |
—
I J
waͤhrend dachtz Jahrhund/ h. auf Kantz 399
des Koͤrpers, der Erziehung, den Umſtaͤnden, uud
den Verhaͤltniſſen in der buͤrgerlichen Geſellſchaft ab⸗
haͤnge? — Wie verſchiedene Objecte auf uͤbrigens
ihrer Natur nach gleiche Seelen fo verſchleden «ein
wirken koͤnnen, oder wie. einfache Subſtanzen ihrer
Natur nach ungleich ſeyn koͤnnen? — Wie die
Thiere, die mit uns gleiche Organe, gleiche, oft leb⸗
haftere, Senſatiouen haben, doch auf dieſe Senſa⸗
tionen beſchraͤnkt bleiben, ohne daraus, wie wir, ei⸗
ne. Manuichfaltigkeit abſtraeter und reflectirter Ideen
zu ziehen, ohne ſich metaphyſiſche Begriffe, eine
Sorache, Geſetze, Wiflenfhaften und Künfte ze
bilden ? — Endlich wie weit fann die Meflerion bey
den TIhieren gehen, und. warum gebt fienicht weiter?
Alle dieſe Fragen find unbeantwortlich, und die Phi⸗
loſophen follten fie deswegen für immer. aufgeben. -
5: Das Dafeyn der Objecte ‚unferer Senfationen,
unſers Körpers, und des Denfenden Weſens in uns
führe den Philoſophen zu der. großen Wahrheit vom
Dafenn Gottes. Dieſe Wahrheit kann nicht orſt
durch die Offenbarung erkannt werden, weil diefe jene
yorausjegt. Auch bier. muß der vernünftige Philos
ſoph bey den Beweiſen ftehen bleiben, die allen Sec⸗
ten gemeinfchaftlih find, und fih auf Principien
ftügen, welche in jedem Zeitalter von allen Menfchen
für gültig anerkant wurden, Er wird alfo das Das
feyn Gottes in dew Phänomenen des Univerſums zu
erfennen srachten, in den beiwundernswürdigen Ges
fegen der Natur, nicht in den metaphyſiſchen, die
fo vielen Einwürfen ausgefeße find, und die Jeder
nah Willführ ausdehnen, modificiren und einfchräns
ken kann, ſondern in den primitiven. Gefeßen auf die -
unmandelbaren Eigenfchaften der Körper gegründet.
J Moͤgen
400 GSecſchichte der neuern Philoſophie
Mögen: diefe fo einfachen Geſetze auch aus der: Exi⸗
ſtenz der Materie. feibft bervorzugehen feheinen; ſie
enthüllen um deſto beſſer die hoͤchſte Intelligenz⸗—
Durch die Art, wie dieſe die verſchiedenen Theile un⸗
ſers Univerſums zuſammenfuͤgte, ſcheint fie nichts
weiter bedurft zu haben, als der Maſchine nur den
erſten Stoß zu geben, um auf immer ihre mannich⸗
faltigen Phaͤnomene zu ordnen, und wie durch Einen
Willensaet den beſtaͤndigen unabaͤnderlichen Gang
der Natur zu bewirken; einen Stoß, der zu wunder⸗
bar iſt und zu ſehr den Eharafter. der Veruuͤnftigkeit
an fich trägt, als daß er die Wirfung eines blinden
Zufalls ſeyn koͤnte. Alſo in diefen allgemeinen Ges
feßen der Natur wird. der-Philofoph das hoͤchſte We⸗
fen antreffen, und: zwar in ihnen mehr, als in dem
befondern Naturphaͤnomenen. Ein Inſect, das dem
Anſcheine nach ſo wenig Raum im Univerſum eins
nimt, offenbart freylich einem aufinerffamen Beob⸗
achter die unendliche Weisheit eben fo ſehr, wie Die
allgemeinen Maturerfcheinungen; aber das Schau:
fpiel der leßtern ift doc). weit mehr geeignet, um Als
ler Augen auf fib zu ziehen, und die beften Beweife
für tehren diefer Art find immer Diejenigen, wodurch
die meiften Menfchen überzeugt werden fönnen.
Naͤchſt der Eriftenz Gottes intereffict uns unter
allen metaphyſiſchen kehren am meiften diejenige, die
uns die Linfterblichfeit nach dem Tode verfpricht,
Da Ddiefe zugleich ein Reſultat der Philofophie und.
der Offenbarung ift, fo muß :uan genau unterfcheis
den, was fie von der einen und von der anderen ents
lehnt. Die Philofophie liefert dringende Argumente
‚für die. Realität eines Fünftigen Lebens. Wir haben
fehe flarfe Gründe zu glauben, daß unfere Geele
/ ewig
waͤhrend d. achtj. Jahrhund. b. auf Kant. 401...
ewig foredauern werde, weil Gott fie nicht zerſtoͤren
Fönte, ohne fie zu vernichten, und die. Vernichtung
deſſen, was einmal von Ihm hervorgebracht worden
if, feiner Weisheit niche angemeflen- ſcheint; weil
fogar die Körper mur ihre Form umwandeln , aber
hrem Weſen nach nicht untergehen: Gleichwohl has
ben wir auf der anderen Seite das Beyſpiel der Thie⸗
re vor uns, bey denen die immaterielle Subſtanz mit
ihnen untergeht, und auch des großen Princips muͤſ⸗
fen‘ wir hier eingedenk ſeyn, ‚daß<fein erſchaffenes
Ding feiner. Natur nach unvergaͤnglich iſt. Gott
kann alſo die menſchlichen Seelen nur fuͤr eine kurze
Zeit gefchaffen haben, und die Undurchdringlichkeit
Der ewigen Ratbfchlüffe würde uns immer in einer
Art von Ungewißheit über diefen mächtigen Gegens
ſtand erhalten, wenn nicht die geoffenbarte Religion -
unferer ſchwachen Einficht zu Huͤlfe kaͤme, um das
zu ergängen, was ihr mangele. Auf der einen Geis
te fodere die Tugend, Die in dieſer Welt oft unglücks
lich ift, ‘von der: Gerechtigfeit des- höchften Weſens
eine Belohnung nach dem Tode; -auf der anderen _
Seite lehrt uns die Offenbatung, warum Gort dee -
Tugend die Belohnung in diefem eben nicht gewäßs
ve, oder zugebe, daß fie unglücklich fey, ungeachtet
fie‘ es niche verdiene hat. Bloß die Neligiom, ſagt
Pascal, verhindert, daß der Zuſtand des Denfihen
in .. eben ein Raͤthſel iſt.
Wied die Grifteng des hoͤchſten Weſens einmal
angenommen, fo muͤſſen wir uns auch nach der Art
der: Verehrung erfundigen,; die wir ihm ſchuldig
find. Aber obgleich die Philofophie uns bis auf
einen gewiflen Punet hierüber unterrichtet; fo ift Doch
die Aufklärung; welche fie uns verſchafft, ſehr unvoll;
N Duble's Geſch. d. philoſ. VI.2. Ce kom⸗
402 Gecſchichte der neuern Philoſophie or
fommen. Hingegen hat wiederum der Schöpfer ſelbſt
uns davon unterrichtet ‚ indem Er uns durch eine.bes
fondere Offenbarung die Art vorfchrieb, wie Er ver⸗
eher ſeyn will, welche alle Anftrengungen. der, Ver⸗
nunft nicht würden. haben entdecken fönnen. Die
‚Religion demnach, die nichts anders als der Cultus
iſt, welchen wir dem hoͤchſten Weſen widmen, ges
Hört nicht in die Elemente der Philoſophie. Selbſt
Die natürliche Religion darf nicht darin zum Vor⸗
fcheine kommen, außer bloß, um uns bemerklich zu
machen, daß fie unzulänglich ifl.- - vo
“Was aber wefentlich und einzig Angelegenheit dee
Bernunft, und daher auch bey allen Völkern gleiche
foͤrmig ift, das ift die Verpflichtung, die wir ges
‚gen unfers Gleichen haben. Die Erkentniß dieſer
Derpflihtung heißt Moral. Sie ift eine nothwen⸗
dige Folge der Gründung von Geſellſchaften, meil
ſie das zum Gegenftande hat, mas wir andern Mens
schen ſchuldig find. ‚Die Gründung der Gefellfchaften
beruhte auf einem Rathſchluſſe des. Schoͤpfers, der
Die Menfchen einander nothwendig gemacht hat, und
fo find auch die moralifhen Principien ‚als feine. ewi⸗
‚gen Rarbfchlüffe zu betrachten. Gleichwohl, feßt
dD’Alembert gleich hinzu, muß man nicht hieraus
mit mehr Phitofophen den Schluß ziehen, als ob die
Kentniß jener Moralprincipien die Kentniß Gottes
nothweudig vorausfeße. Denn hieraus würde, ges
gen die Abficht der Theologen felbft, fließen, daß Die
„Heyden Feine dee von der Tugend gehabt hätten.
‚Allerdings läutert und heilige die Religion die Mos
tige, die uns zur. Ausübung moraliſcher Tugenden
beſtimmen; aber Gott, ohne, ſich den Menfchen, uns
‚mittelbar zu offenbaren, hat fie auch die Nothwen dig⸗
während P. adj. Johthund $,nuf Kant. 403.
keit empfinden laſſen fönnen, und. wirflich empfinden
laſſen, ihres eigenen Vortheils wegen tugendhaft zu
feyn. Es har fogar durch eine Wirfung der goͤtt⸗
tichen Vorſehung, die über die Erhaltung der menſch⸗
lichen Geſellſchaft wacht, philofophifche Secten geges
bein, welche zwar die Exiftenz eines hoͤchſten Weſens
in. Zweifel zogen, aber doch die Tugend als Bes
ſtimmung des Menfhen mit der größten Strenge
lehrten. Zend, das Haupt der Stoifer, erkante
feine andere Gottheit, als das Univerfum; dennoch
ift feine Moral die reinfte, die je die menfchliche Vers
nunft vorgejchrieben hat. Die bürgerlichen Gefells
fhaften verdanfen aljo ihren Urfprung bloß menſch—
lichen Motiven ; die Religion har an ihrer erſten
Stiftung und Bildung feinen Antheil; und wiewohl
fie beſtimt ift, das Band derfelben noch enger zit
knuͤpfen, fo kaun man doch fagen, daß ihre eigents
licher und vornehmfter Zweck nur auf den Menſchen
als Menfchen gerichtet fe. Um fich hiervon zw
überzeugen, darf man nur auf die Marimen achten,
welche fie einflöße, auf die Gegenflände, welche fie
uns vorhält, auf die Belohnungen und Strafen nach
diefem Leben, die fie verheiße. Der Philoſoph
Batlediglih den Beruf, den Menſchen im
die bürgerlihe Gefellfhaft zu verfeßen,
und ihn darin zu leiten; hingegen ift es
Sache des Miffionars à l’attirer aux pieds des
autels.
Die Erkentniß der moralifhen Prineipien, bie
vor der Erkentniß des höchften Wefens hergeht, ſetzt
felbft andere Erfentniffe voraus. Durch die Gimme
erfahren wir unfere Berbältniffe zu andern Menfchen
und unſre gegenfeitigen Bedücfnife, und diefe gegen»
a a ſei⸗
454° Gefhlchte det Neuen Philbſobhle """""
fettigen Bedürfniffe lehren ung wieder, was mir der
Geſellſchaft ſchuldig find, und was fie uns ſchuldig
iſt. Man kann daher die Ungerechtigkeit, oder
was damit auf Eins hinauslaͤuft, das moraliſch
Boͤſe für dasſenige erflären, was Die Tendenz
hät, der bürgerlichen Geſellſchaft zu ſcha—
den, indem es das natuͤrliche Wohlſeyn ih—
rer Mitglieder vernichtet oder ſtoͤrt. Wirk⸗
lich ift das natürliche (phyſiſche) Uebel die gewoͤhn⸗
liche Folge des moralifhen; und da unfere Senfatios
nen, ohne irgend eine anderweitige Thaͤtigkeit unfers
Getites, binlänglich find, uns eine dee vom phyſi⸗
fchen Uebel zu geben; fo ift evident, daß es in der
Ordnung unferer Erfentniß die Idee desfelben ift, Die
uns zur Erkentniß des moralifhen Webels führt, ob
gleich beyde an fich ſelbſt von ſehr verfchiedener Nas
tur find. Wer dieſes Teugnet, denke fih einmal
den Menfchen als aller finnlihen Empfindung bes
raubt, und verfuche denn bey diefer Hypotheſe zu einem
Begriffe der Ungerechtigkeit zu gelangen.
Inzwiſchen erfoderr Doch der Begriff des morali⸗
ſchen Uebels noch einen andern, den Begriff ber
Freyheit. Es heiße die natürliche Ordnung der
Ideen umfehren, wenn man die Eriftenz der Frey:
yon aus der Eriftenz des Guten und des moraliſchen
ebeis beweifen will. Man bemeift hier eine Wahr:
beit, die ein Refultat bloß des unmittelbaren —* —
iſt, durch eine freylich eben fo unbeftreicbare Wahr⸗
heit, welche aber von einer Reihe mehr zuſammen⸗
geſetzter Begriffe abhaͤngt. Daß das Daſeyn der
Freyheit nur ein Reſultat des unmittelbaren Ges
fühls, und nicht des Raiſonnements ift, davon fan,
man ſich ſehr leicht überzeugen. Das Gefuͤhl
1) - s v gi I | - ey⸗ **
4
waͤhrend d· achtz Jahrhund. b. auf Kant, „405
Freybeit beſtebt in dem Gefühle des Vermögens,
"welches wir befißen, das Gegentheil deffen zu ihun,
was wir wirflih hun. Die Idee der Freyheit ift
„alfo die dee ‚eines. Vermögens, das wir nicht auss
‚üben, und deflen Weſen eben darin liegt, daß es
nicht in dem, Momente ausgeübt wird, da wir es
‚empfinden. Die Idee ift fonach nur eine Thaͤtigkeit
unſers Verſtandes, wodurch wir das Vermoͤgen zu
handeln von dem Handeln ſelbſt unterſcheiden, ins
dem wir das muͤſſige (obgleich reelle) Vermoͤgen als
ſubſiſtirend betrachten, während die Handlung oder
Ausübung desſelben nicht exiſtirt. Der Begriff der
Freyheit fann bloß eine Wahrheit des Bewußtſeyns
‚(de la confcience) ſeyn. Kurz der einzine Beweis,
deſſen diefe Wahrheit fähig ift, ift dem für die Eris
ſienz der Körpermelt außer uns analog. MWirflich
freye Wefen würden fein Iebhafteres Gefühl ihrer
Freyheit haben, als wir von der unfrigen haben; und
wir dürfen alfo glauben, daß wir wirklich frey find.
. Fragen, ob der Menſch frey fey? heiße nicht fragen:
ob er ohne Motiv und ohne Urfache handle? was _
unmöglich feyn würde; fondern: ob er nah Wahl
‚und ohne Zwang handle? und daß er dies ıhun föns
ne, dafür bürge.das allgemeine Zeugniß aller Diens
. Shen, Welcher Unglückliche, der für. feine Verbre⸗
‚chen mit Dem Tode beſtraft werden ſoll, hat je die
Hoffnung gehegt, er werde fich damit rechtfertigen
koͤnnen, wenn er vor feinen Richtern behaupte, daß
eine unvermeidfihe Morhwendigfeit ihn zu feinen
Verbrechen fortgeriffen habe? — Dies tft genug,
um die Philofopben zu überführen, wie unnüß Die
- metapbnfifhen Difeuffionen über die Freyheit am
‚der Spiße eines Tractats über die Moral find.
In dieſer Materie uͤber das innere Gefühl bins
€: 3 aus
466 Gecchichte der neuern Philoſophie
ausgehen, iſt ſich Kopf über in die Finſterniß
ſtuͤrzen. | |
Wiewohl das Menfchengefchlecht eigentlich nur
"Eine große FZamilte ausmacht, fo hat dod die zu
‚große Ausbreitung diefer Zamilte fie genoͤthigt, ſich
in verſchiedene GSocietäten zu fondern, die den Na⸗
men Starten angenommen haben, und deren Gfies
Der Durch befondere Gefeße-verbunden find, unabhäns
gig von denen, welche fie zum allgemeinen Syſteme
der Menfchheie vereinigen. Die Moral hat alfo vier‘
Gengenſtaͤnde: 1) mas die Menfchen einander als
Mitglieder der menfchlichen Gefellfhaft uͤberhaupt
fhuldig find; 2) was die befondern Staten für Vers
pfſlichtungen gegen ihre Mitglieder haben; 3) mas
fie gegen einander felbft feiften und beobachten follen;
endlid 4) was die Glieder jeder befondern Gocietät
einander felbft, und dem State, dem fie angehören,
zu leiften verbunden find. Die Pflichten der erfteren
Gattung enthält das natürliche oder allgemeine Ges
ſetz, das in allen Zeiten und an allen Drten dasselbe ift,
und welches man die Moral des Menſchen (Mo-
rale de I’Homme) nennen kann. Die Pflichten der
zweyten Gattung Finnen die Moral der Geſetzge⸗
ber (Morale des Legislateurs); die der dritten ats
zung die Moral der Staten (Morale des Etats);
die der vierten Gattung die Moral des Bürgers
(Morale du Citoyen) genannt werden. Man findet
alfo im diefer Abtheilung das fonft genannte Natur⸗
recht oder allgemeine Recht (Droit naturel ou
commun); das Stasrecht (Droit politique), das
man nicht mit der Policif verwechfeln muß, der es
oft zumiderläuft; das Bölferrecht, und das pofis
tive Recht (Droit des gens et le Droit pofitif).
| Dies
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 407
Diefen vier Zweigen Der Moralphitofophie kann noch
ein fünfter beygefügt werden, die Moraldes Phi—
fofopben (Morale du Philofophe) , die nur uns
feibft zum Objecte bat, und die Art, wie wir denfen
müffen, um unfern Zuftand .beffer, oder fo wenig
traurig und unglücklich zu machen, wie möglich.
Die weitere Entwicfelung der einzelnen Zweige dee
Möralphilofophie nach d'Alembert's Principe ger
bört nicht hierher.
Es iſt in der Anficht diefes franzoͤſiſchen Weltweis
fen von der Philofopbie überhaupt und der Meta⸗
phyſik insbefondre Manches, dem man feinen Bey⸗
fall nicht verfagen fann. Die Befchränfung der Mes
taphyſik auf Dinge, die in der Thar erfennbar find,
und deren Erfenmiß für den Menfchen wahren Werth
bat; die Abfchneidung aller unnügen Logomachieen,
Gubtilitäten, und Debatten über Probleme, melche
für die Vernunft unauflöstich find; die Zumuthung
an die Phitofopben, ihre Lehren in die Sprache des
gemeinen Lebens zu Fleiden, und fie dadurch dem
größern Publicum, nicht bloß der Schule, verftänds
lich und brauchbar zu machen: mer wird dies nicht
billigen? Won diefer Seite wären d'Alembert's
Elemente der Philofophie durchaus empfehlungswerth.
Wird aber die Metaphyſik fo eingefchränft, fo darf
man 'fodern, daß die Erfenmiß, Die fie alodenn ents
haͤlt, wirklich gültig iſt; und hier ift es gerade,
wo es jenen philofophifchen Elementen am meiſten
fehle. Die Ppilofophie d'Alembert's ift eine Phi:
fofophie der fünf Sinne und des gemeinen Menfchens -
verſtandes; fie hat nicht einmal die Gruͤndlichkeit,
deren fich noch die Warten der Englifhen Philoſophen,
wage den cominon Senfe zum Principe machten,
Ce 4 ruͤh⸗
/
408 Gefchichte der neuern Philofophie
ruͤhmen kann; ſondern ift ungleich. feichter und ‚ober
flächlicher‘, als dieſe. Daß aus der Natur des
menjchlihen Erkentnißvermoͤgens erklärt werden
müfle, warum es feine Metaphyſik in eigentlicher
Bedeutung des Wortes gebe und geben koͤnne; wars
um aber gleichwohl die Speculation von jeher danach
geſtrebt hat, eine folhe Willenfhaft zu. Stande zu
Bringen; und wie das in der Matur der. Bernunft
liegende metaphnfi ifche Bedürfniß zu befriedigen fey,
daran ift von D’Alembert gar nicht gedacht wors
- den. Madıfprühe follen die Stelle eines gründe
lichen Raiſonnements erſetzen.
Was am meiſten ihm, wie den uͤbrigen Fratjo⸗
ſiſchen Encyklopaͤdiſten vorgeworfen werden kann, iſt
die Parallele, die er zwiſchen der geoffenbarten Reli⸗
gion und der Philoſophie zieht. Es ſcheint zwar oft,
Daß er der erſtern Autoritaͤt zugeſtehe, und ihr das
Verdienſt einräume, daß fie der. Schwäche der menfchs
ken gluͤcklich bekämpfen zu koͤnnen; und ‚die Partey
lichen Vernunft zu Huͤlfe komme. Aber es ſcheint
auch nur ſo. Bey genauerer Erwaͤgung bemerkt man
leicht die hoͤhnende Perſifflage, die ſich nur unter
dem Deckmantel der Rechtglaͤubigkeit verſteckt, um
nicht geradehin zu beleidigen, und oft, um dem Nas
turalismus feinen Triumpf deſto mehr zu fichern.
Es war daher auch nicht zu verwundern, daß haupts
fählih die philofophifchen Artikel der Eneyklopaͤdie
ſehr lebhafte, zum Theile leidenſchaftliche, Gegner
fanden, die den darin verborgenen. Atheismus und
Maturalismus -aufdeckten, und fit der Sache der
Meligion anuahmen. Leider gebrach es nur auch dies
fen Gegnern. an philoſophiſchem Talente, um mit
Waffen der Vernunft das Spftem : der Eneyklopaͤdi⸗
die⸗
wahrend d. acht Jahthund. b. auf Kant, 499.
dieſer gewann daher in dem Streite leicht die Ober⸗
hand, zumal da ſie immer, wenn ſie ſich wirklich be⸗
drängt ſah, ſich hinter die angenommene Masfe ihrer
Religioſitaͤt und Ehrfurcht gegen die, —— der.
Offenbarung verbergen fonte Mer:
Aus d’Alembert’s Melanges de Litterature
et.de philofophie will ich nur noch ‚feiner Reflexions
Tur le Gout **) erwähnen. . Der Gefhmad ift nad
ihm niches Willkuͤhrliches; aber, er erſtreckt fich nicht
. auf alle Schönpeiten,, deren, ein Kunſiwerk empfänge
ih ift.. Es giebt frappante und erhabene Schönhets
sen, die auf gleiche Weife alle Geifter ergreifen, wel⸗
che die Matur ohne Anftrengung bey allen Völkern
und in allen Jahrhunderten hervorbringt, und wor⸗
über folglich auch alle Geifter,. alle Jahrhunderte,
und alle Völker Richter find. Es giebt aber auch
Schoͤnheiten, die nur empfindliche Seelen ruͤhren,
und uͤber andere unempfunden hingleiten. Die
Schoͤnheiten dieſer Art ſind nur vom zweyten Range;
Denn das Große iſt allemal dem bloß Feinen vorzus
gießen; nichts deſto weniger verlangen fie die meifte
Sagacitaͤt, um hervorgebracht, und die meifte Delis
Katefle, um empfunden zu werden; auch find fie häus
fig bey den Mationen, bey welchen die Annehmlich⸗
keiten der Gefellfhafs die Kunft zu leben und zu ge:
nießen vervollfomnert haben. Diefe Art von ir
| eis
*) Mehrere Abhandlungen und Auffäge d’Alemberts
beziehen fi auf die Streitigkeiten, melde durch die phie
lofophifchen Artikel der Encyklopaͤdie veranlaßt wurden;
fo wie auch dergleihen in den Schriften aller: übrigen
Encyflopädiften häufig vorkommen,
**). T. IV. p. 2093.
Cc
416 Geſchichte der neuern Philoſophie
heiten, tur für eine kleinere Zahl von Menſchen ges |
macht, ift eigentlich der Gegenftand des Geſchmacks
Man kann daher den Geſchmack definiren als das
Zaltent, in-den Kunftwerfen ju entdecken,
was empfindlihen Seelen, gefallen, "und
was ihnen misfallen kann.
Wenn nun der Geſchmac nicht nintähench iſt,
ſo muß er ſich auf unbezweifelbare Principien ſtuͤtzen;
und was hiervon wiederum die Folge iſt, es muß
Fein Werk! der Kunft geben, über welches man nicht
‚nach jenen Principien urtheilen fönne. - Die Quelle
unfers. Wohlgefallens und Misfallens iſt einzig und
ganz in uns; wir werden daher auch in ung ſelbſt bey
‚ einiger darauf gewandter Aufmerffamfeit allgemeine
und unmwandelbare Regeln des Geſchmacks antreffen,
Die einem Prüffteine gleichen, am weichen alle Pros
ducte des Genies und Talents gehalten werden koͤn⸗
nen. Derſelbe pbilofopbifche Geift, der uns nd;
thigt, aus Mangel an hinlänglicher Aufklärung, jes
den Augenblick unfern Fortſchritt im Studium der,
Matur und der Dinge außer uns zu hemmen, muß
"im Gegentheile bey Allem, was Object des: Ge⸗
ſchmacks ift, uns zur Difeuffion leiten, Zugleich
aber erfennt eben derfelbe philofophifche Geift, daß
dieſe Difeuffion eine Grenze haben müfle. Mit was
für eine Materie wir ung auch befchäfftigen moͤgen,
fo müffen wir Doch darauf Verzicht thun, daß wir
jemals zu den erſten Principien zurückfommen wers
den, die für uns immer eine undurchdringliche Wolke
verhält. Die metaphyſiſche Urfache unfers Wohlges
fallens auffinden, würde ein eben fo chimärifches
Project feyn, als die Erflärung der Einwirfung der
Objecte auf unfere Sinne unternehmen; So wie
man
*
waͤhrend d. achtz Jahrhund. 6. auf Kant. Ar.
man inzmwifchen den Urfprung unferer Erkentniſſe auf
‚eine fleine Zahl Senfationen zurüczyführen gewußt
bat, fo kann man auf Diefelbe Art die Principien uns
fers Mohigefallens in Sachen des Gefhmads auf
eine Feine Zahl unftreitiger Beobachtungen über uns
ſre Are zu empfinden reduciren. Wis fo weit geht der
Philoſoph zurück; hier bleibt er aber auch ſtehen,
und ſchreitet von dieſem Puncte vermoͤge ſeines natuͤr⸗
lichen: Hanges zu den Folgerungen wieder herab⸗
waͤrts. | |
| Ein gefunder richtiger Verftand, ſchon an fich
‚felten, iſt doch bey meitem zum Geſchmacke noch
nicht hinreichend; nicht bloß eine zarte und empfinds
liche Seele ift dazu hinlänglich ; es ift noch mehr nds
thig, und, wenn der Ausdruck erlaubt ift, es darf
feiner der befondern Sinne fehlen , aus denen der
Geſchmack befteht. In einem Werke der Poefle z. B.
muß man bald zur Imagination reden, bald zum
Gefühle, ‚bald zur Vernunft; aber immer zu einem _
Organe. Die Verſe machen eine Art von Gefang
aus, in Anfehung deſſen das Ohr unerbittlich ift,
fo daß die Vernunft felbft zumeilen gezwungen wird,
ihm ein Eleines Opfer zu bringen. in Philoſoph
demnach, nicht mit den Organen verfehen, auf welche
bie Poefie zunächft und hauptſaͤchlich wirft, befäße
er auch alle Übrige Geifteseigenfchaften, wird über
poetifhe Werfe ein fchlechter Richter ſeyn. Er wird
behaupten, daß das Vergnügen, das fie uns gewähs
ren, nur von einem Vorurtheile herrühre; dag man
ſich begnügen müffe, in jedem Werke, wie es auch
befchaffen feyn möge, bloß zum Verſtande zu reden;
er wird felbft durch captiöfe Raiſonnements ein fcheihs
bares Lächerliches auf die Sorgfalt werfen, womit
| der
1
—
412 Secchichte der; neuern Philoſophie
der Dichter die Worte dem Ohre zu Gefallen waͤhlt
und ordnet. So würde ein Phyſiker, der bloß den
- Sinn des Gefühls hätte, behaupten, daß die ents
-fernten Objecte nicht auf unfere Organe einwirken koͤn⸗
nen, und würde dies durch Sophismen beweifen, des
‚ nen man nur dadurch antworten fönte, dag man ihm
Gefiht und Gehör verſchaffte. Unfer Philoſoph
wird wähnen, einem poetiſchen Werfe nichts entz0#
gen zu haben, wenn er alle darin gebrauchte Wörter
bebäft, und nur das Sylbenmaaß vernichtet; einem
Vorurtheile, deflen Sclav er ift, ohne es zu wollen,
wird er, die Art von Mattigkeit beweifen, Die das
poerifche Werk durch. die Umfegung desfelben. in die
Form der Profe erhalten hat. Daß er durch Auf⸗
hebung des Sylbenmaaßes und Verfegung der Wor⸗
ie die Harmonie vernichtet hat, die aus ihrer vorhe⸗
‚rigen Verbindung und Anordnung entfprang, wird
er gar nicht einfehen. Was würde man aber von eis
nem Tonfünftler urtheilen, der, um zu bemeifen,
daß das Wohlgefallen an Melodie nur eine leere Eins-
bildung ſey, ein Tiebliches Lied enrftellte, indem ee
Die Töne, aus denen es componirt ift, nah Wille:
kuͤhr verfegte? Der wahre Philofoph wird über das
Vergnügen, welches dies Poefie gewährt, nicht fo
‚entfcheiden; er wird über diefen Punct weder in Al⸗
lem der Natur, noch, der Meynung nachgeben; er
wird vielmehr eingeftehen, daß mie die Mufif. eine.
‚allgemeine Wirfung auf alle Voͤlker macht, obgleich
‚die. Mufit des einen nicht immer. dem andern gefällt,
„eben: fo alle Völker für Die poetiſche Harmonie em⸗
‚pndlic find, fo verfchieden, auch ihre befondre Poe⸗
‚fie ſeyn mag. SSudem er diefe Verſchiedenheit —
merkſam unterſucht, wird er zur Entſcheidung gelan⸗ |
„gen, bis wie weit Gewohnheit und Vorurtheil auf
; e
—
waͤhrend d. "acht. Jahrhund b. Auf Kant Ai}
dis Woblgefallen Einftut haben, das uns Poeſte
und Muſit gewaͤhten; was die Gewohnheit Reelles
und was das Vorurtheil A zu dieſern |
Wobigefallen binzufuͤgt. — |
Für, einen Philoſophen lomt es * nicht allein
darauf.an, alle Sinne zu haben, auf denen der. Ges
ſchmack beruht. Es ift auch nothwendig, daß die
Uebung diefer Sinne bey ihm nicht auf ein einziges
Odbject eingeſchraͤnkt geweſen ſey. Makebrande
konte die ſchoͤnſten Verſe nicht one Langeweile leſen,
ungeachtet man in feinem Style alle dichteriſche Qua⸗
litaͤten bemerkt, Phantaſie, Gefühl und Harmonie,
Aber er hatte feine Aufnierffamfeit zu ausfchließlich
auf das Objeet der Vernunft oder vielmehr des: phis
Iofophifchen Raifonnements gerichtet; feine Phanta⸗
fie hatte bloß philofophifche Hypotheſen ausgebrütet,
und fein Gefühl hatte nur beygetragen, daß er diefe
mit übergroßer tebhaftigfeit für philofophifche Wahr⸗
heiten hielt. Wie harmonisch auch feine eigene Pros
fe. feyn: mag, die poetifche Harmonie m. dennoch
- feinen Reiz fürihn, fey es daß wirklich die Empfinds
lichkeit feines hrs bloß für Die Harmonie: der „Profe
empfänglich „war, oder daß, ein natürliches Talent
ihn eine harmonifche Profe fchreiben ließ, ohne daß
er felbft es gewahr wurde, wie ein mufifalifches Zus
ſtrument Accorde bervorbringt, ohne es 2 J
wiſſen. |
Es ift aber doch nicht allein der Mangel, an Eu
pfindlichfeit der Geele oder des Organs, ‘dem man
die falfchen Urtheile in Sachen des. Gefchmacks bey:
. meflen muß. - Das Vergnügen, welches uns ein
Werk der Kunft verſchafft, rührt her, oder Farin aus
mehr verſchiedenen Quellen perrüßren. Ohne —
muͤſ⸗
414. Seſchthte der neuern Philelochie
muͤſſen die Regeln des Kunſt von Werken abſtrahirt
werden, Die in jeder Gattung des Schönen Gluͤck
gemacht haben; aber die Regeln dürfen Doch keines⸗
weges ſich auf das allgemeine Reſultat des Vergnuͤ⸗
gens gruͤnden, das uns jene Werke verſchafften, ſon⸗
dern auf eine uͤberlegende Unterſuchung, wodurch
wir die Stellen unterſcheiden, die uns wirklich ange⸗
nehm afficirten, von denen, die nur zur Schattirung
öder zur Erholung des Leſers oder Zuſchauers beftime
waren, oder die ein Schriftfteller vernachläffigte, obs
ne es zu wollen: > WBefölgen wir diefe Methode nicht,
fo wird die Smagination , geblender durch einige
Schönheiten vom. erften Range in einem fonft: mon⸗
firöfen Werke, ſehr bald die Augen gegen ſchwache
Stellen verfchließen, ſelbſt die Fehler in Schönheiten
verwandeln, und ung nad) und nady zu jenem froſti⸗
gen und ſtupiden Enthuſiasmus verfuͤhren, der nichts
empfindet, um Alles zu bewundern, einer Art von
Paralhyſie des Geiſtes, der uns unwürdig und unfäs
big macht, reelle Schönheiten zu genießen. Auf ei⸗
nen verworrenen mechänifchen Eindruc wird: man fal⸗
ſche Principien des Geſchmacks gruͤnden, oder was
nicht minder gefaͤhrlich iſt, man wird etwas bloß
Willkuͤhrliches zum Principe des Geſchmacks erheben;
man. wird die Grenzen der Kunſt beengen, und ums
ferm Vergnuͤgen Schranken fegen, weil man nur
Eine Gattung ſchoͤn finden will; man wird um das
Talent und Genie einen engen Kreis ziehen, aus wels
chem man ihm nicht erlaubt herauszugeben. . Bon
diefen Zeffeln muß uns eine richtige Phildſophie des
Geſchmacks befreyen.
Es giebt noch eine andre Art des Irrthums, vor
welcher ſich der Ppilofopp um ſo mehr verwahren
| * a en
waͤhrend d. achtz / Dahrhund,.. aufRant; 47
muß, je leichter es ihm wird, in denſelben zu verfal⸗
len. Dieſe beſteht darin, auf Gegenſtaͤnde des Ges
ſchmacks an ſich ſelbſt wahre Principien desfelben ans
zuwenden, welche aber. auf; dieſe Gegenſtaͤnde feine
Anwendung jeiden. D' Alem bert führt hiervon ins
tereſſante Beyſpiele an. Uebrigens darf man nicht
befuͤrchten, daß die Diſcuſſion und Analyſe das Ges
fuͤhl abſtumpfen, oder das Genie bey denen ſchwaͤ⸗
chen werden, welche dieſe herrlichen Geſchenke der
Natur beſitzen. Der Philoſoph weiß, daß im Au⸗
genblicke der Production das Genie feinen Zügel lel⸗
det, und daher oft das Ungeheure neben dem Erha⸗
benen hervorbringt. Die Vernunft - läßt deswegen
auch dem fchaffenden Genie. feine unbedingte Freys
heit; fie erlaube ihm, fich fo lange zu erfchöpfen, bis
es der Ruhe bedarf, wie man ein wildes Roß nur
Daducch zaͤhmt, daß man.es ermüder. Dann kehrt
fie aber zur. firengen Kritif jener Producte des Genies
zuruͤck; ſie erhält, was die Wirfung des wahren Ens
thuſiasmus iſt; fie fchneider die Auswuͤchſe ab; ‚und
fo hilfe fie, ein Meifterwerf zu Stande bringen. .
Hiernach laͤßt ſich auch die oft verhandelte Frage
‚beantworten, ob das Gefühl der Kritif bey der
Schägung eines Werfes des Geſchmacks vorzuzieheit
ſey? Das Gefühl des Eindrucks ift der. narürliche
‚Richter des erſten Moments; die Difeufjion ift der
natürliche Richter des jiwenten. Ben Perfonen, die
‚mit der Feinheit und Richtigfeit des Gefühls eine ges
funde Urtheilsfraft verbinden , wird der zwente Rich⸗
ter in der Regel die Ausfprüche des erften beſtaͤtigen.
Man koͤnte ſagen, wenn beyde Richter nneinig find,
‚wäre, es ba.nicht.beffer, ſich in allen Fällen. an d
erſte Eutſcheidung des Gefuͤhls zu halten %,. Bug
en 9 | | 7
446° Gefehichte der neuern Phtlsfophfei
eine traurige Beſchaͤfftigung, fein eigenes Wergnligen -
chicaniten zu wollen? Was für Danf verdiente die
Philoſophie, wenn fie nichts anders feiftet, als’ daß
fie unſer Vergnügen minder: ?7— D'Alenbert
aAntwortet, daß dieſe Unannehmlichkeit das Loos der
menſchlichen Natur fey: Wir erwerben fat nur neue
Kentniffe, um uns von einer Taͤuſchung loszumachen,
und unfere Einſicht wächft faft immer nur auf Koften
ünifers Vergnügens.‘ Unfere einfäfttgen Vorfahren
hatten mehr Freude an dem monftröfen Stuͤcken des
alten Theaters, als wir gegenwärtig an den kunſt⸗
vollſten fehönften Dramen, Die minder aufgeklaͤr⸗
ten Nättonen ſind in dieſem Betrachte darum nicht
minder gluͤcklich, weil ſie bey weniger Neigungen
auch weniger Beduͤrfniſſe haben, und grobe oder mins
der taffiniete Vergnuͤgungen für fie zureihend find.
Dennoch wuͤrden wir nicht unſere Einficht gegen Die
Unmiffenheit unferer Vorfahren oder roher Nationen
vertaufchen wollen. Kann die beffere Einſicht unfer
Vergnuͤgen verringern, fo fchmeichelt fle zugleich uns
ferer Eitelkeit; man gefällt fich felbit, weil man
ſchwerer zu befriedigen ift; man wähnt dadurch eine
Art von Verdienft errungen zw haben. Die Eigens
fiebe ift das Gefühl, daß uns am wehrteften ift, und
dem wir am meiften uns beflreben, genug zu fhun. |
Das Vergnügen, welches wir dadurch genießen, ift
nicht , wie manches andere Vergnügen, Die Wirfung
eines plögfichen und heftigen Eindruck ; es ift zufanıs
inenhängender, einförmiger, dauernder, umd laͤßt
ſich in langen Zuͤgen ſchoͤpfen.
Ditderot war mit d’Alembert in den natus
raliſtiſchen Grundfägen einftimmig; aber er übertraf
ihn an fchriftftelerifchem Talente, an Leichtigkeit u
KEN er
N
'
waͤhrend d. achtz. Sahehind; b. auf Kant; 419
Anmuth in der Darſtellung feinee Ideen. Geind
dramatiſchen Werke und Kiitifen darüber gehören
nicht hierher. Mut aus feinen Schriften philojoppis
Then Inhalts will ich Einiges anmerken, was fie
eharafterificen fann; und zwar will ich zuerſt feiner
vVenſées philofophiques erwähnen, teil diefe vorzuͤg⸗
lich feine philoſophiſche Denkart ausdrücken *).
Die vornehmſte Richtung, welche die Penfees
philoſophiques haben, iſt, den Naturalismus und
Atheismus gegen die orthodoxen Zeloten der katholi⸗
ſchen Kirche zu vertheidigen, und in Der That iſt dies
fer Dadurch ein harter Stand bereitet, ſofern ſie nicht
bloß jene philoſophiſchen Syſteme widerlegen, ſon⸗
dern auch ihren eigenen Kirhenglauben ſchuͤtzen wols
fen: Mur einige Proben, wie Diderot detiamirre
und taifonnirte: |
“Weiche Stimmen? welch” ein Geſchrey! wel⸗
che Seufzer! Wer bat alle dieſe klagenden Leichna⸗
me im dieſe Kerker eingeſperrt? Was für Verbre—
chen haben alle dieſe Ungluͤcklichen begangen? Ei—⸗
nige ſchlagen ſich mit Steinen gegen die Bruſt; az
dere zerreißen ſich den Leib it eiſernen Nägeln; aus
Den Augen Allee blicfen Kummer, Schmerz und Tod
hervor, Wer bat fie denn zu diefen Qualen ver⸗
dam? — Dei Gott, welchen fie beleidigt
haben. — Wer ift denn diefer Got? — Ein
Gott voll Guͤte. — Aber follte ein Gott voll
Güte Vergnügen daran finden, fich in den Thraͤnen
feiner Gefcpöpfe zu baden? Sollten die Leiden m
n⸗
24) — philoſophiques de Mt. D* (d Amflerd, 1774,
8.) T.H. |
Buple's Beich. 8: Philsf. Vn B. Do
.
418 Gefchichte der neuern Philoſophie
Ungluͤcklichen nicht feiner Gnade Eintrag thun ? Haͤt⸗
‚ sen Verbrecher die Wurh eines Tyrannen zu befänfs
tigen, mas fünten fie mehr thun?
“Nach dem Bilde, welches man uns von dem
pöchften Wefen macht, nach feinem Hange zum Zorne,
feiner Strenge in der Nahe, nach gewiſſen Bergleis
chungen der Zahl derer, Die es umkommen läßt, mit
Denen, welchen ed die Hand zur Hülfe reicht, muß
auch die gerechtefte Seele zu dem Wunfche geftime
werden, Daß es doch nicht eriftiren möchte. Man
wiirde in Diefer Welt ruhig genug feyn, wenn man
verfichert wäre, Daß man im einer anderen nichts zu
fürchten habe. Der Gedanfe, es fen fein Gott, hat
noch Miemand in Schrecken gefegt, wohl aber der
Gedanfe, es fen einer, fo wie man ihn gewöhnlich
zu ſchildern pflegt.” |
Diderot führe den Arheiften felbft redend ein:
„“„Ich fage Euch, daß fein Gore fey; daß die foges
nannte Schöpfung ein Hirngefpinft fen, daß die
‚Ewigkeit der Welt der Vernunft nicht mehr zumider-
ift, als die Emigfeit eines Geiftes; daß, weil ic)
nicht begreife, wie die Bewegung das Univerfunt
habe erzeugen koͤnnen, das ſich ſo gut zu erhalten
weiß, es laͤcherlich ſey, die Schwierigkeit durch die
angenommene Exiſtenz eines Weſens zu heben, das
nicht begreiflicher iſt; daß, wenn auf der einen Sei⸗
te die Wunder der Natur eine Intelligenz verrathen,
auf der anderen Seite die Unordnungen in der mo—
raliſchen Welt allen Glauben an eine Vorſehung ver⸗
nichten. Ich ſage Euch, daß, wenn Alles das Werk
einer Gottheit iſt, auch Alles die groͤßte Vollkom⸗
menheit haben muß; denn wein nicht Alles die groͤß⸗
| u?"
#
wihrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 419
te Vollkommenheit hat, ſo iſt Gott, der es ſchuf,
entweder ein ohnmaͤchtiges Weſen, oder er hat einen
boͤſen Willen. Waͤre es auch noch beſſer bewieſen,
als es iſt, daß jedes Uebel die Quelle eines Guten
ſey; daß es gut ſey, daß ein Britannicus, Daß der
befte Zürft umfam; daß ein Nero, der fchlechtefte
allee Menfchen , regierte; wie fönte man beweijen,
es ſey unmöglich , Denfelben Zweck zu erreichen, ober
‚ne fich derfeiben Mittel zu bedienen ?. Lafter zulajjen,
um den Glanz der Tugenden zu erhöhen, mwäre ein
ſehr unbedeutender Vortheil gegen eine fo reelle In—
eonvenienz. Das iſt's, was ich Euch entgegenfege;
was koͤnt ihr mir darauf antworten? — — "Daß
ih ein Böfewicht fey, und daß, wenn id
nicht Urſache hätte, Ihn zu fürchten, ich feiz
ne Eriftenz nicht bezweifeln würde” Das
ift aber eine Phrafe, die man Declamatoren. übers
laſſen muß; fie, beleidigt die Waprheit; die Urbanir
tät verbietet fie; und fie verräch wenig tiebe. Weil
Jemand Unrecht hat, wenn er nicht an Gore glaube:
find wir darum berechtigt, ihm zu fchmäben? Man
pflege. nur zu Invectiven feine Zuflucht zu nehmen,
wenn es an Beweifen mangelt. Ben zwey Streiten⸗
den läßt ſich allemal hundert gegen Eins werten, daß
der zürmen wird, der Unrecht har. “Du greifft nach
deinem Donnerfeile, -anftatt mit ju antworten, fagte
Menipp zum. Supiter, du haft aljo Unrecht. *
Diderot ſonderte die Atheiſten in drey Claſſen.
Einige behaupten geradehin, es fen fein Gott, und
denken es auch; Das find die wahren Atheiſten—
Eine andere anjebnliche Zahl weiß nicht recht, was
fie davon denfen foll, das find die: ffeprifchen
Arheifien. Noch viel — vleſchen es moͤchte
kein
*
420 Gefchichte der neuern Philoſophie
fein Gott ſeyn, fie ſtellen ſich, als ob fie davon uͤbers
jeugt wären, und leben fo, als ob fie es wirklich
wären. Das find die Fanfarouis der arheiftiichen
Partey. Dieſe legtern find zu verabfcheuen; fie
find falſche Philoſophen; die wahren Acheiften find zu
beflagen; fie verdienen jeden Troft; für die Skeptiker
muß man ju Gott beten; es fehlt ihnen an Vers
ftand. Der Deift behauptet das Daſeyn Gottes,
die Unfterblichfeit der Seele, und was weitet hieraus
‚» folgt; der Skeptiker entfcheidet über diefe Puncte
gar nicht; det Atheiſt leugnet fie ſchlechthin. Der
Stfeptifer hat aljo, um tugendhaft ju feyn, ein Motiv
mehr ald der Arheift, und einigen Grund weniger,
- als der Deifl. Ohne die Furcht vor einen Gefeßs
geber, ohne den natuͤrlichen Hang des Temperaments
und die Kentniß der wirklichen Vortheile der Tugend,
würde es der Tugend des Atheiſten an eineni Grunde
fehlen; und die des Sfeptifers würde auf ein Viel⸗
leicht gegründet ſeyn. Ä | |
Man räumt ein, führe Diderot fort, daß es.
von der hoͤchſten Wichtigkeit fey, zur Vertheidigung
einer poſitiven Religion und ihres Cultus nur ſolide
Argumente vorzubringen; und doch verfolgt man Dies
jenigen, welche ſchlechte Argumente und nichts bewei⸗
ſende fuͤr ſchlecht und nichts beweiſend erklaͤren. Iſt
es denn nicht genug, uͤbethaupt ein Chriſt zu ſeyn?
Muß man es noch dazu aus ſchlechten Gründen
ſeyn? — Wenn aberglaͤubiſche Orthodoxen einmal die
Sentenz gefällt haben, daß ein Schrift etwas ent⸗
halte, was ihren Ideen mwiderftteiter, ſo kann man
auf Verleumdungen allee Are den Verfaffer derfelben
betreffend rechnen. Die größten Männer, Des
Cartes, Montagne, Locke, Bayle, find nid -
i von
mährend d. achtz, Jahrhund. b. auf Kant, 421
son ihren gefchont worden; warum follten fie Die
Eneyflopädiften fhonen? Wären auch alle Beweife,
die man bisher für Die Wahrheit des Chriſtenthums
vorgebracht bat, noch fo treffend; dieſe Wahrheit
würde darum noch nicht für Jeden ermwiefen feyn.
arum, fagt Diderot, verlange man von. mir,
ich ſolle eben fo feft glauben, daß drey Perjonen in _
der Gottheit find, mie ich glaube, daß die drey Wins
kel eines Triangels zwey rechten ‚gleich find? Jeder
Beweis muß in mir eine Gewißheit erzeugen, Die
Denn Grade feiner Stärfe angemefjen ift; und die
Wirkung geometrifcher, phnfifalifcher und moralifcher
Beweiſe auf den Berftand muß verfchieden ſeyn ;
- oder dieſer ganze Unterſchied iſt nichtig.
In einer andern ſehr intereſſanten Abhandlung *)
hat Dideror die Grundfäge entwickelt, nach denen
feiner Meynung zufolge die Natur erflärt werden
muß. Auch aus diefer will Ih Einiges, was mir
befonders merfwürdig fcheint, ausheben. Diderot
hält es für eine der norhmendigften und heilfamften
‚ Wahrheiten, die zu feiner Zeit bervorgezogen und
behauptet worden fey, die vornehmlich der Phyfifee
fie aus den Augen verlieren dürfe, Daß das Gebiet
der Mathematik eine intellectuelle Welt fey. Was in
diefer für firenge Wahrheit angenommen wird, vers
liert durchaus diefen Vorzug, wenn man es auf uns
fere Erde und irdifche Dinge anwendet, Man
- bat hieraus gefchloffen, daß es der Experimentalphis.
lofophie zufomme, den Calcul der Geometrie zu bes
* richtigen, und dieſe Folgnerung ift von Geometren
ſelbſt anerfane worden, Gleichwoht wozu fremt Fed
en
*) Oeuvres philof, T. IT. p. 73 fq.
ea DD 3
422 Gefchichte der neuern Philoſophie
den geometriſchen Caleul durch die Erfahrung zu vers
beffern? Wäre es nicht fürzer,. ſich unmittelbar an
dem Reſultate diefer zu halten? da man fieht, daf
die Mathematik, Die überhaupt transjcendent iſt,
ohne die Erfahrung zu nichts Gewiſſem führt, daß
fie eine Are von allgemeiner Metaphyſik iſt, wo man
die Körper ihrer individuellen Qualitäten beraubt,
und daß zum nmindeften ein großes Werf übrig bleibt,
was man Anwendung der Erfahrung auf die
Geometrie oder Traitd de l’aberration des mefures
nennen fönte,
Es find drey Hauptmittel vorhanden, zu einer
wahren Erfentniß der Natur zu gelangen, und fie zu
erweitern, die Beobachtung der Matur, die Res
flerion, und die Erfahrung im engern Sinne,
Die erfte ſammelt die Thatſachen; die andere combis
nirt fie; die dritte verificire Das Mefultat der Combi⸗
nation. Die Beobachtung der Natur muß fleißig
und forgfältig; die Reflerion muß gründlich; die Ers
fahrung genau feyn. Selten ift der Gebrauch diefer
- Mittel vereinigt. Auch find die fehöpferifchen erfindes
riſchen Genies nicht fehr gemein. _ Der Philofoph will
nur jumweilen Die Wahrheit, wie der ungefchicfte Polis
fifer Die Gelegenheit bey dem kahlen KHinterfopfe ers
greifen; und weil ihm natürlich dies mislingt, ſo
giebt er vor, es fen fie zu ergreifen unmöglich; waͤh⸗
rend oft in demſelben Augenblicke der Praftifer, der
Handwerker, duch Zufall fie von einer andern Seite
beym Haare ergreift und feftbäfte. Inzwiſchen muß
man befennen, Daß unter. den bloßen Erfahrungss
praftifern und Handwerfern Viele fehr unglücklich
find, und nicht felten ihr ganzes Leben ———— b.⸗
obachten, ohne etwas Neues zu ſehen.
Eh
\
während d. achtz. Jahrhund. 5. auf Kant. 423
Eind es Menfchen von Genie, die dem Univer:
fun .gefeble haben ? Keinesweges. Mangelte es ihs
nen an Machdenfen und Studium? Moch weniger.
Die Geſchichte der Wiffenfchaften ift vol von beruͤhm⸗
ten Namen; und die Oberfläche der Erde ift mit dem
Monumenten der Arbeit des Menſchengeſchlechts
uͤberdeckt. Warum beſitzen wir denn aber ſo wenig
u gewiſſe Kentniffe? Durch was für ein Misgeſchick ha⸗
ben die Wiffenfchaften fo geringe Fortſchritte gemacht ?
Sind die Menſchen beſtimt, inmer Kinder zu
bleiben ?
Auf diefe Fragen, meynt Diderot, laſſe fih
Folgendes antworten! Die abftracten Wiſſenſchaften
haben ju fange und mit zu wenig Mugen die beffern
Köpfe beſchaͤfftigt. Entweder fiudirte man niche,
was der Mühe werth war, zu wiffen; "oder man bes .
obachtete bey den Studien weder Auswahl, noch Abs
fiht, noch Merchode. Die Worte wurden in’s Uns
endliche vervielfältigt, und die Kentniß der Sachen
blieb zurück. Die wahre Art zu philofophiren wäre
geweien, und würde noch feyn, den Berftand auf
den Verſtand, den Verftand und die Erfahrung auf
die Sinne, die Sinne auf die Natur, die Natur zur
Erforfhung der Inſtrumente, die Inſtrumente zur
Erfindung und Vervollkomnerung der Künfte anzu⸗
wenden. Dadurch würde man auch das Volk gelehrt
haben, die Philojophie zu refpectiven. Denn Das
einzige Mittel, die Philofophie in den Augen Des
großen Haufens wahrhaft empfehlungswerth zu mas
chen, ift, fie ibm von der Geite zu zeigen, wo ber
Mugen fie begleitet. Der große Haufen frage flets:
KB ozu ift Dies zu gebrauhen? Man darf fi
aber nie im dem Falle befinden, dap m man ihm erwies.
ar 4 dern
424 Geſchichte der neuern Philofophie
dern muß; zu nichts. Er weiß nicht, und begreift
nicht, daß dasjenige, was den Philoſophen aufklaͤrt,
und was dem großen Haufen nuͤtzt, zwey ganz ver⸗
‚ fehiedene Dinge find, weil der Verſtand des Philojos
phen oft durch das, was jchader, aufgeffärt, und
durch das, wag müßt, verdunkelt wird. Ä
Die Farta, von welcher Befchaffenheit fie auch
ſeyn mögen, machen den wahren Reichthum der Phis
loſophie aus. Aber es ift eines von den Vorurtheilen
der rationellen Phifofophie, daß, wer feine Thaler
nicht zu zählen verfteht, darum eben nicht reicher feyn
werde, als wer nur Einen Thater wirflic hat. ‘Die
rationale Philoſophie beſchaͤfftigt ſich unglücklicherweife
mehr Damit, die Facta, welche fie beige, einander
zu nähern, und zu verbinden, als nieue Facta zu fans
mein. Facta fammeln und verbinden find zmey ſehr
muͤhſame Arbeiten; auch haben fie Die Philoſophen
unter fich gerbeilt. Die eine Partey bringe ihr teben
damit bin, Materiallen zu fammeln; die andere Par⸗
tey, Die qus flolgern Architecten beſteht, fucht aus
jenen Materialien Gebäude zu errichten, Aber die -
Zeit bat bisher faft alle Gebäude der rationalen Phis
loſophie umgeftürze. Der ſtaubigte philoſophiſche
Tagloͤhner bewirkt uͤber kurz oder lang ein Souter⸗
rain, wo er wie ein Blinder das Gebäude unters
gräbt. Es fällg endlich zufammen, und nur verwors
ren yuter einander gemorfene Materialien bleiben
übrig, bis pin anderes fühnes Genie eine neue Ders
Bindung derfelben unternimt. Gluͤcklich ift der fuftes
matiſche Philofonh, welchem die Natur, wie ehedem
dem Epifur, Lucrez, Ariftoteles, Plato, eine ſtarke
Einbildungsfraft, eine große WBeredfamfeit, die.
Kunft, feine Ideen unter frappgnien und eehabene
| fs
während d. gehtz · Jahrhund. B. auf Kant. 425
OSitdern darzuftelfen, verlieh, Das Gebäude, das
gr erbaut, wird vielleicht und hoͤchſt wahrfcheinlich,
einſt einfallen ;- ‚aber feine Statue wird dennoch
mitten auf den Ruinen übrig bleiben; und
fein Stein, der fi vom Berge losreißt, wird fie
——— weil ihr Poſtument nicht von Thon iſt.
| Der Verſtand hat ſeine Vorurtheile; der
Sinn ſeine Ungewißheit; das Gedährni feine
Schranfen ; die Phantafie ihre Schatten; die
Werkzeuge haben ihre Mängel und Unvollfommens
beiten. Dagegen find die Phänomene unendfich
an Zahl; die Urfachen find verborgen; die Fors _
men vieleicht tranfitorifch. Gegen fo ‚viele Hinders
niſſe, die wir in uns finden, und welche die Natur
uns von außen entgegenfegt, haben wir nichts, als
eine langſame Erfahrung, eine begrenzte Reflerion,
Das find die Hebel, womit die Philofophie gewagt
hat, Die Welt aus ihren Angeln zu heben,
Die erperimentale Philofophie und die rationale
haben einen ganz verjchiedenen Charafter und eine
perjchiedene Tendenz. Jene fchreitet mit verbundenen -
Augen immer tappend fort, ergreift Alles, was ihr
unter die Hände fällt, und trifft am (Ende foftbare
Dinge an. Diefe ſammelt jene foftbaren Materias
lien, und fucht, fi davon eine Fackel zu machen;
aber diefe vermennte Fackel hat ihr bisher noch wenis
ger genüßt, als das Tappen ihrer Rivalin, und
das mußte der Fall ſeyn. Die Erfahrung vervielfäls
tigt ihre Bewegungen in’s Unendliche ; ; fie iſt unauf⸗
hoͤrlich in Thaͤtigkeit; fie wendet auf das Auffuchen
der Phänomene alle die Zeit, welche die Vernunft.
darauf wendet, Analogieen zu ſuchen. Die erperis
' Dd 5 men⸗
426 Geſchichte der neuern Philoſophie —
mentale Philoſophie weiß nicht, was ihr. bey ihrer
Arbeit vorfonmen und nicht vorkommen wird; aber
fie arbeiter unaufpörlih. Im Öegentheile die ratios
nale Philofopbie wägt im Voraus: die Möglichkeiten
ab, und thut darüber ganz furz entfheidende Yuss -
fprühe. Sie fagt geradehin: Man fann das
Licht nicht desomponiren. Die experimentale
Philoſophie Hört dies an, und ſchweigt dazu ganze
Jaͤhrhunderte; aber plößfich zeigt fie das: Prisma
vor, und fagts das Lichte laͤßt fich dennoch des
componiren, |
Diderot lege bey diefer Gelegenheit einen kur⸗
‚zen allgemeinen Entwurf der Erperimentalphilofophie
vor, welchen ich hier noch hinzufügen will,
Die Erperimentalphilofophie betrifft überhaupt
die. Eriftenz, die Dualitäten, und die Unwens
dung. Die erfiere umfaße die Geſchichte, die
Befhreibung, die Erzeugung, die Erhal—
tung, und die Zerflörung. Die Öefchichte bes
zieht fich auf die Derter, Die Einführung oder Aus⸗
führung, den Preis, die Vorurtheile dabey, u. w.
Die Befchreibung.dezieht ſich auf das Innere und
Aeußere nach allen empfindbaren Qualitaͤten. Die
Erzeugung wird unterſucht vom erſten Urſprunge
des Objeets, bis es in den Zuſtand feiner Vollkom⸗
menheit gelangt. Die Erhaltung bezieht ſich auf
alle die Mittel, wodurch das Object in .diefem Zus
ſtande bewahrt wird. - Die Zerftörung wird uns
terjucht vom Zuftande der Vollkommenheit des Obs
‚ jets an bis zum legten Grade der Decompofition,
doer Muflöfung, | | |
| Die
/
während d. acht}. Jahrhund. b. auf Kant. 427
Die Qualitäten find entweder alfgemehie oder
befondere. Won der erfteren Gattung find Diejenigen,
welche allen Wefen gemeinfchaftlich zufommen, und
fih nur durch den Grad der Quantitaͤt unterfcheiden,
Von der anderen Gattung find diejenigen, wodurch.
Das Dbject eine folche beftimte Befchaffenheit erhält,
und fie gehören entweder zu der Subftanz in Maffe,
oder zu der Subſtanz im rag der Theilung
und Decompofition,
Die Anwendung begreift unter fich Verglei⸗
ſchung, Gebrauch und Combination. Die er⸗
ſiere betrifft entweder die Aehnlichkeiten oder die Vers
ſchiedenheiten der Objecte; der andre muß ſo ausge⸗
dehnt und mannichfaltig dargeſtellt werden, wie moͤg⸗
lich. Die Verbindung iſt analog oder bizarre, Dis
derot ſagt analog oder bizarre, weil Alles in der
Natur fein Refultat bat, die ausfchweifendfte Er⸗
fahrung ſowohl, als die raiſonnirteſte (lexperience
la plus extravagante ainſi, que la plus raiſonnée).
Die Erperimentalphilofophie, die fich Fein beſtimtes
Ziel vorfteckt, ift fiets mit dem zufrieden, was ihr
vorkomt. Die rationale Philoſophie iſt immer von
ihrer Abſicht unterrichtet, felbft alsdann, wenn das,
was fie fich vorgefegt hat, ihr nicht vorfommen folls
te. Die Erperimentalphilofophie ift ein unſchuldiges
Studium, das faft gar feine Vorbereitung der Seele
erfodert. Bon den übrigen Theilen der Philoſophie
kann man nicht dasfelbe fagen. Die meiften vermeßs
ren bey uns die Wurh zu conjeeturiren. - Diefe wird
auf die Laͤnge durch die Erperimentalphilofophie ges
mäßige; denn man wird es früh oder fpät müde,
unglücklich zu muthmoßen.
Dide⸗
423 Geſchichte der neuern Philoſophie
Diderot macht von feinen Regeln der Inter⸗
pretation der Matur bejondre Anwendungen. Nur
Eine zur Probe. Die Producte der Kunft werden
jmmer gemein, unvollfowmen und geringfügig ſeyn,
ſo lange man ſich nicht zu einer firengeren Nachah⸗
mung der Natur gewoͤhnen wird. Die Natur iſt eis
genſinnig und langſam in ihren Operationen. Komt
es ihr darauf an, zu entfernen, zu naͤhern, zu verei⸗
nigen, zu theilen, zu erweichen, zu verdichten, zu
verhaͤrten, fließend zu machen, aufzuloͤſen, zu aſſimi⸗
liren, ſo ſchreitet ſie zu ihrem Ziele durch die unmerk⸗
lichſten Zwiſchengrade fort. Die Kunſt im Gegen⸗
theile uͤbereilt ſich, wird dadurch ermuͤdet, und laͤßt
zuletzt von ihren Beſtrebungen und Anſtrengungen
gaͤnzlich nach. Die Natur braucht Jahrhunderte,
m grob die Metalle zu praͤpariren; die Kunſt nimt
fib vor, fie in einem Tage zu vervollfomnern. Die
Natur braucht Jahrhunderte, um Edelſteine zu bils
"den; die Kunft maaßt fih an, fie in einem Momenz
te nachzumachen, zz -
—
Defäße man auch das wahre Mittel hierzu, fe
wuͤrde doch dies noch nicht hinreichend feyn; man
müßte auch, es anzuwenden, verſtehen. Man bilder
fi irrig ein, daß wenn das Product der Intenſitaͤt
der Thaͤtigkeit multiplicirt durch die Zeit der Anwen⸗
dung dasſelbe iſt, auch das Reſultat dasſelbe ſeyn
werde. NMur eine gradweiſe, langſame, ſtetige Ans
‚wendung iſt es, welche umbildet. Jede andere An⸗
wendung iſt nur zerftörend. Was koͤnten wir nicht
aus. der Mifhung gewiffer Subftanzen herausbrin⸗
gen, die uns ige nur fehr unvollfomne Compoſita ges
währt, wenn mir auf eine der Natur analoge Urt zu
Werke giengen? Uber man eile immer zum Öenufle;
man
—
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, 429
man will das Ende deſſen ſehen, was man angefans
gen bat. Daher fo viele unnuͤtze Verfuche; ſo viel
derlorner Aufwand und Mühe; fo viel Arbeiten,
welche die Natur uns anweiſt, und welche die Kunſt
nie unternehmen wird, weil ihr der glückliche Eirolg
Entfernt feine. Wer ift jeinals aus den Grotten
don Arey herausgegangen, ohne dürch die Geſchwin—
Digfeit, womit ſich die Stalaktiten darin bilden und
erfegen, überzeugt zu meiden, daß fie einft dieſe
Grotten ganz ausfüllen, und Eine ungeheure Maſſe
forniireri werden ? Aber wo ift der Marutforfcher,
der nachdenkend über diefes Phänomen, nicht die
Muthmaßung gehegt hätte, daß, wenn man dag
Waſſer durch verfchiedene Erd: und Steitiarten laͤu⸗
teen ünd filtriren fönte, und die Tropfen hernach in
geräumigen Hölen aufgefangen mütden, man mit der
Zeit dahin fommen fünte, Fünftliche Tropfs keituns
den von Marniot, Albafter und anderh Steinen attzus
legen, deren Qualitäten nach denen der Erdarten, der
Steinatten und des Waſſers varliren würden. Über
wozu dergleichen Muthmaßungen, ohne den Muth,
die Geduld, Die Arbeit, den Aufwand, die Zeit,
und vorjüglich den antiten Sinn für große Untetneh⸗
Mungen, wovon noch ige fo manche Denfmähler
übrig find, die ung nichts als eine kalte müfjige ‘Der
wunderung abgewinnen?
Ungleich mehr Anziehendes, als Diderot's
Bemerkungen uͤber die theoretiſche Philoſophie haben,
bar feine Anſicht der praktiſchen Philoſophie. Ueber
dieſe haben wir von ihm zwey in ihrer Art trefflich
Schriften: Eſſai ſur le mérite et la vertu und den Co
de. de la nature *
Om
®) Oeuvres philofophiques. T.l.
439 Geſchichte der neuern Philoſophie
Den Stoff der erſteren Schrift giebt D. ſelbſt
mit folgenden Fragen an: Was iſt die moraliſche
Tugend? Welchen Einfluß hat die Religion im All⸗
‚gemeinen auf die Rechtſchaffenheit? Bis auf wels
chen Punct fegt fie die Tugend voraus? Könte man
mie Wahrheit fagen, daß der Atheismus alle mota;
liſche Rechtſchaffenheit ausſchließe, und daß es uns
möglich ſey, eine moralifche Tugend M haben, UN
einen Gott zu glauben? | =
Zur Beftimmung des Begriffe der moralifchen
Zugend ift Dideror’s Ideengang diefer: Ben eir
nem vernünftigen Gejchöpfe ift Alles, was nit aus
Neigung (par affedion) gefchieht, weder boͤſe, nod)
gut. Der Menfch folglich ift nur alsdenn gut oder
böfe, wenn das Intereſſe oder der Machtheil feiner
Denkart und feines Verfahrens das unmittelbare Ob:
ject der Leidenfchaft ift, welche ibn in Thätigfeir fegt.
Weil alfo bloß die Neigung ein Gefchöpf gut oder boͤ⸗
fe macht, gemäß feiner Natur, oder von feiner Nas
tur entarter; fo ift ige zu unterſuchen, welches die
natürlichen und guten Neigungen, und welches die
böjen feiner Natur widerftreitenden find.
Jede Neigung, die ein eingebildetes Gut zum
Gegenftande bat, fobald fie überflüffig wird, und die
Energie folher Neigungen vermindert, die auf reelle
Güter abzwecken, iſt an ſich ſelbſt fehlerhaft unb böse
artiqg, relativ zu Dem befondern ntereffe und der
Gtückfeligkeit des Gefchöpfs. Könte man ferner vors
ausfegen, daß irgend eine derjenigen. Neigungen,
Wwelche das Geichöpf zu feinem befondern Intereſſe
hinlenken, in feiner legitimen Energie mie dem allge
meinen Wohle — en fo würde eine
Eu
während d. acht. Johthund. 6. auf Kant. 431
folhe Neigung laſterhaft ſeyn. Dieſen Erklaͤrungen
zufolge koͤnte ein Geſchoͤpf nicht feiner Natur gemäß
handeln, opne in der Gefellfchuft böfe zu feyn, oder
zum Intereſſe det Gefeltichaft beytragen, ohne in Bes
ziehung auf fich felbft von feiner Natur auszuarten,
Hat aber die Neigung ihr Privatintereffe, und iſt fie
nur der Gefellfchaft ſchaͤdlich, wenn fie ausfchweifend
wird, hingegen nicht, fo lange fie gemäßigt ift; fo
fsunen wir alsdenn fagen, daß das Uebermaaß eine
Neigung lafterhaft gemacht habe, die ihrer Natur
nach gut war. Jede Neigung alfo, die das Geſchoͤpf
zu feinem Privarwohle leitet, muß, um lafterhaft
zu werden, dem öffentlichen Intereſſe ſchaͤdlich feyn.
Dies iſt der Fehler, der einen intereſſirten Mens
ſchen charafterifire, ein Fehler, über welhen man
fo laut ſich beſchwert, wenn er gar zu auffallend ift.
Iſt bey. einem Gefchöpfe die Liebe zu feinem eiges
nen Intereffe nicht. mir dem allgemeinen Wohle uns
verträglich, fo concentrirt auch dieſe ſeyn mag; if
es ſelbſt für die Geſellſchaft wichtig, daß jedes ihrer
Glieder ernſtlich danach ſtrebe, was fein Privatwohl
betrifft; ſo iſt dieſe Geſinnung ſo wenig laſterhaft,
daß das Geſchoͤpf vielmehr nur unter der Bedingung
gut ſeyn kann, wenn es von ihr durchdrungen iſt.
Denn es hieße der Geſellſchaft Unrecht thun, wenn
ein Mitglied derſelben ſeine Erhaltung vernachlaͤſſigte;
dieſes Uebermaaß von Unintereſſirtheit wuͤrde das
Weſen eben ſo boͤsartig und unnatuͤrlich machen, wie
der Mangel an jeder anderen natürlichen Treigung,
Diefes Urtheil wirde man ohne Bedenken fällen,
wenn man fähe, daß Jemand feine Augen vor Abs
gründen fchlöffe, die ſich vor Ihm öffneten; oder ohne
alle Düfe auf fein Temperament und feine Ge⸗
funds
432 Gefchichte der neuern Philofophie
ſundheit, dem Unterſchiede Der Jahrsjeiten in Anſe⸗
hung ſeiner Kleidung trotzte. Auf gleiche Weiſe koͤn⸗
te man einen Jeden verurtheilen, der einen Abſcheu
gegen den Umgang mit dem andern Geſchlechte haͤtte,
und den ein verdorbenes Temperament, nicht ein Feh⸗
ler der Organiſation, zur Fortpflanzung det Gattung
ungefchickt machte.
- Die tiebe zjum Peioatintereſſe kann demnach gut
oder boͤſe ſeyn. Iſt dieſe Leidenſchaft zu heftig, z. B.
von der Art, wie die Liebe zum Leben, ſo daß ſie
uns jeder edelmuͤthigen Handlutig unfaͤhig machte, ſo
iſt ſie laſterhaft, und das Weſen, das von ihr regiert
wird, wird ſchlecht tegiert, und iſt mehr oder mins
der böfe. Derjenige, der durch eine ausfchweifehde °
Liebe zum Leben zufällig etwas Gutes thäte, wuͤrde
durch das Gute, was er thut, nicht mehr Verdieuſt
erwerben, als ein Advocat, det nur feine Bezahlung
im Auge bat, auch wenn et die Sache der Unſchuld
vertheidigt, oder als ein. Soldat, der auch in dem
gerechteften Kriege nur darum ficht, weil er feinem
Sold empfängt.
Was für Vortheile man auch der Gefellfchaft
verfchafft haben möge, nur das Motiv allein ber
gründet das. Verdienſt. Mache Dich durch noch fo
viel große Handlungen berühmt; du wirft laſterhaft
feyn, wenn Du nut nach eigennügigen Principien hans
deiteft, Du verfolgft vielleicht Dein Privatintereffe
mit aller möglichen Mäßigung; gut; aber harteft Du
- Bein anderes Motiv, indem Da Deinen Mitmen⸗
fchen leiftereft, was du ihnen zufolge einet natuͤtrlichen
Neigung zu leiften fchuldig warſt; fo biſt dis nicht tus
gendhaft, Was für eine fremde Huͤlfe es .
| | eyn
während d. achtz. Jahrhund. 5. auf Kant. 433
fenn mag, die Dich zum Guten leitete; wer Dir. aud)
ſeine ftarfe Hand gegen Deine verfehrten Meigungen
lieh ; fo lange Du denfelben Charakter bepätft, wird
‚ man in Dir feine moralifche Güte erfennen. Du wirft
nur dann gut feyn, wenn Du das Gute aus *
gung und von Herzen thuſt.
Wenn zufaͤllig eines der ſanften zahmen biete,
die dem Menfchen ergeben find, einen Charafter dus
Berte,, der feiner natürlichen Conſtitution entgegenges
feße wäre, und wild und graufam würde; fo würde
uns: diefe Erfcheinung unfehlbar frappiren, und. wie
würden von einer. Verderbrheit des. Thiers fprechen. _
Angenommen, daß Zeit und forgfältige Bemühungen
dem Thiere jene zufällige Wildheit wiederum benom⸗
men, und ihm die narärliche Sanftheit feiner Gate
sung wieder verfchaffe hätten; fo würden wir. ſagen
Das Thier fey in feinem narürlichen: Zuftand wieder
bergeftellt.. Wäre aber die Hellung nur ſcheinbar,
kehrte Das heuchleriiche Thier zu feiner Schlechtigkeit
zurück, fobald es von der Furcht vor feinem Zuchts;
meiſter befteyt wäre; wide man alsdenn urtheifen,
daß die Sanfıheit, die Gurmürhigkeie fein wahrer,
ſein gegenmwärtiger Eharafter ſey? Das Temperament
ift fo, wie es immer war, und das ee x immer!
Ä bösartig.
Die chieriſche Güte oder Jeebe des Ger
ſchoͤpſfs Hat alfo urfprünglich ihren Grund in feinem:
Temperamente. : Das Geſchoͤpf wird in diefem Sins,
ne gut feyıt, wenn es zufolge feiner Neigungen das
Sure lieben und ohne Zwang thun wirds wein: es
das Boͤſe haſſen und fliehen wird ohne Furde vor der
Zuͤchtigung. Im Gegentheile wird das Geſchoͤpf
Buͤhle's Seſch. d. Philoſ. Vi. B. Ee boͤſe
434 Geſchichte der neuern Philoſophie
boͤſe ſeyn, wenn es von ſeinen natuͤrlichen Neigungen
nicht die Kraft erhält, feine Functionen zu erfüllen,
oder: wenn verderbte ihm eigene Dieigungen es zum
Böfen fortreiffen und von dem Guten entfernen. Im
Allgemeinen fobald alle Neigungen des Gefchöpfs mit
dem Intereſſe der Gattung harmoniren, ift das na⸗
türliche Temperament vollfommen gut. Fehlt aber
irgend eine dem Intereſſe der Gattung vortheilhafte
Meigung, hat das Thier überflüffige, zu ſchwache,
fehädliche, und dem Hauptzwecke widerftreitende Nei⸗
gungen, fo ift das Temperament verdorben, und
folglich ift das Thier boͤſe. Es finder alsdenn hier kein
Unterfehted, als das Mehr oder Weniger ſtatt.
Es waͤre unnuͤtz, die einzelnen Neigungen bier
zu. charakterifiren, und: Darzuchun, daß der Zorn,
dee Meid, die Trägheit, der Hochmuth, und. die
- übrigen allgemein verworfenen Leidenfchaften an fich
ſelbſt boͤſe ſeyen, und ein von ihnen afficirtes Ger
ſchoͤpf boͤſe machen. Mur die- Bemerkung upon
zweckmaͤßig feyn, daß Die natürlichfie Zärtlichfeit , der
Mutter für die Jungen, der Eltern fir die Kinder,
beftimte Grenzen habe, jenfeit deren fie in Laſter auss
artet.. Das Uebermaaß der mürterlichen Neigung
Kann die guten Wirfungen der Liebe vernichten, und
zuviel Mitleid kann gänzlich außer Stand fegen,
Semanden Hülfe zu leiften. Bey andern Conjunctus
zen kann diefelbe Liebe fich in eine Art von Wahnfinn
ummandeln; das Mitleiden wird Schwaͤche; die
Furcht vor dem Tode geht in Feigheit uͤber; die Ver⸗
achtung der Gefahr in. Tollkuͤhnbeit; der Haß des
Lebens, ‚oder jede. andere Leidenſchaft, die auf Zer⸗
ſtcoͤrung gerichter ift, in Verzweifelung-oder Narsheit.
Pr;
[220
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.. “ 2* Von
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waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. Auf Kant. 435°
Ron der Entwicelung des Begriffs Diefer reis
nem und einfachen Güte, deren jedes em—
pfindende Wefen fähigift, geht Dideror über
zur Beftimmung der Eigenfchaft, welche man Tua
gend nennt, und die biernieden dem Menfchen
allein zufomt *). | |
Ben jeden Geſchoͤpfe, das fich beſtimte Ber
griffe von den Dingen machen fann, ift jene äußere _
Rinde der Weſen, welche in die Sinne fälle, nicht
das einzige Object feiner Neigungen. Die Handluns
gen an fich ſelbſt, die Paffionen, wodurch fie hervor—
gebracht wurden, das Mitleid, die Leutſeligkeit, die
Dankbarkeit, und ihre Antagoniften, ftellen fich bald
feinem Verſtande dar, und dieſe feindfeligen Famis
‚lien, die ihm nicht fremde find, werden für dasfelbe
neue Gegenſtaͤnde einer überdachten Zärtlichfeit, oder
eines raiſonnirten Hafles. —
Intelleetuelle und moraliſche Objecte wirken auf
den Verſtand ohngefaͤhr auf dieſelbe Art, wie die
organifirten Subftanzen auf die Sinne mwirfen, Die
Figuren, Proportionen, Bewegungen und Farben
‚ diefer fallen uns faum in die Augen; fo entfpringt aus
der Anordnung und Defonomie ihrer Theile entweder
eine Schönheit, die ung vergmügt, oder eine Häßliche
feit, Die uns: beleidigt. Gerade fo iſt es auch der
Effect des Verragens und der Handlungen der Mens
fhen auf dem’ Verſtand. Die Megelmäßigfeit oder
Unordnung in jenen Gegenftänden afficiren Die Mens „
ſchen verſchieden, und das Urtheil, welches fie ‚hiers
— uͤber
®) Eſſay fur le merite et la vertu p. 38.
.- . kea
’
436. Gefchichte der neuern Philoſophie eu
über fällen, iſt nicht weniger neceſſitirt, als das Ges
fühl der Sinne. — IR
Der Verſtand hat feine Augen; die Verſtaͤnde
Mehrer leihen einander das. Ohr; fie bemerfen Pros
portionen; fie find empfindiih für Harmonie; fie
meffen, fo zu reden, die Gefinnungen und Gedanfen ;
kurz, fie haben ‚ihre Kritik, der nichts entwiſcht.
Die Sinne werden nicht. reeller und nicht lebhafter
frappirt durch die Wohlflänge der Muſik, durch die
Formen und Proportionen körperlicher Dinge, als die
Verſtaͤnde durch die Erfentnig und das Detail det
Neigungen, Diefe unterfcheiden in den Charafteren
Milde und Härte; fie fondern darin das Angenehme
und Efelhafte, das Mistönende und Harmoniſche;
mit einem Worte, fie fondern darin das Häßliche und
Schöne, das Häßlihe, das fo hoch fteigen kann,
um ihre Verachtung und ihren Abſcheu zu erregen,
das Schöne, das fie zuweilen zur Bewunderung fort
reißt, und in Entzücken fege und erhält. Fuͤr jeden
Menfchen, der Die Sache reiflih erwägt, würde es
eine findifche Affectation feyn, wenn er leugnen woll⸗
ge, daß es in den moralifchen Gegenftänden eben fo,
wie in den förperlichen, ein wahres und wefentliches
‚Schönes, ein wirkliches Erhabenes gebe. 2
: Kerner die empfindbaren Objecte, die Bilder der
Körper, die Farben und Töne, wirfen beftändig auf
unfre Augen, Ohren, und Sinne überhaupt, ſelbſt
dann, wenn wir fchlafen. Die intellectuellen und
> moralifcben Dinge, Die nicht weniger Einfluß auf
den Verſtand haben, befchäfftigen ihm nicht minder zu
jeder Zeit. Diefe Formen reizen ihn fogar in Ab;
weſenheit der Realitäten. Ä |
Aber
fr
waͤhrend da achtz ¶ Jahrhund / 6: auf Kant, 437
nun fer: betrachtet das Herze mit Gleichguͤltigkeit
die ſittlichen Entwürfe, die der Verſtande zu ma⸗
hen genoͤthigt it, und die ihm faſt immer gegenwaͤr⸗
Kg: find? Dideror:beruft fi hierauf das innere
Gefühl. Es fagt uns, daß da das Herz eben fo
neceſſitirt ift in feinen Urtheilen, wie der Berftand in
feinen Thaͤtigkeiten, die Verderbtheit jenes nie fo weit
gehen kaun, um ihm gänzlich alles Gefühl des Schoͤ⸗
nen; uud Haͤßlichen zu: ranben, und daß es nicht ers
mangeln wird, das Raruriich und Edle zu billigen,
das Unedle und Niedertraͤchtige zu verwerfen, beſon⸗
ders in Augenblicken der uneigennuͤtzigen Laune. Als⸗
Denn iſtedas Herz gleich einem billigen Kenner, der im
einer. Bildergallerie umher wandelt, ſich bald :über
die Kuͤhnheit jenes Zuges. wundert, bald. über die
Sanftheit und Milde diefer Empfindung lächelt; der
fi) jeder wohlthaͤtigen Meigung um ihn her und ih⸗
‘ zen, Eindruche-Öffnet, und nur verfchmähend vor als
lem vorbeygeht, was die fehöne Natur beleidigt.
Die Empfindungen, Meigungen, Gefinnungen, der
herſchende Hang, die Difpofitionen, und folglich
das ganze Benehmen der Gefchöpfe in den verfchiedes
nen Zuftänden ihres Lebens. find die Sujets einer
endlofen Menge von Gemählden vom’ Verftande erecus
tirt, der das Gute und Böfe mit ——— faßt/
und mit ‚Sebendigfeit batftell,
E⸗ giebt — Feine a: Tugend
and fein Berdienft, ‚ohne einige Flare und deutliche
Begriffe des-allgemeinen Wohls, und ohne eine.
überdachte Erkentniß deffen, was moralifch que oder
boͤſe, gerecht oder ungerecht, bewunderns. oder hafs
ſeuswuͤrdig if. Go oft wir 5. B. aud im gemeinen,
deben von einem ‚fchlechten: Pferde reden, das Fehler
- Ee 3 bat,
r
438 Geſchichte der neuern Philoſophie ;:.
| hat, fo hat man doch: noch niemalsivon einem mora⸗
liſch guten. Pferde: gefprochen, oder: vom irgend einem
andern ſchwachen und ftupiden Thiere, fo gelebrig es
auch feyn mochte, “ es —. ——— unb
Tugend babe. 43
Sey ein Geſchopf EN ſanft, ieuiſelig
ſtandhaft und mitleidig; wenn es niemals uͤber das,
was es thut und Andere thun ſieht, nachgedacht hatz
wenn es ſich niemals eine reine und beſtimte Idee vom
Guten und Boͤſen bildete; wenn die Reige der Tun
gend und des moraliſchen Adels nicht Gegenſtaͤnde ſei⸗
ner Zuneigung waren; ſo iſt fein Charakter doch nicht
zugendhaft aus Principien; es muß. fich erft noch Die
‚wirffame Kentniß der -Gerechtigfeit: erwerben , wo⸗
Durch es ſich, um tugendhaft zu ſeyn, beſtimmen
laſſen ſollte; jene uneigennuͤtzige Liebe der Tugend,
Die allein feinen Handlungen — Werth zu
geben —
Alles, was aus einer — Neigung: ent⸗
fetingt, ift böfe, ungerecht und tadelhaft; find- aber
Die Neigungen gutartig; iſt ihr Gegenſtand der Ges
ſellſchaft vortheilhaft, und werth, zu jeder Zeit non
einem vernünftigen Weſen verfolge zu werden; fo wers
den dieſe beyden vereinigten Bedingungen das aus⸗
machen, was man Gerechtigkeit und Billigfeit der
Handlungen nennt. _ Schaden thun ift noch nicht Uns .
‚recht thun; denn ein edler Sohn fann, ohne daß er
aufpörte,. edelmuͤthig zu ſeyn, Durch einen unglücklis
chen Zufall, oder aus Ungeſchicklichkeit feinen Vater
ſtatt des Feindes toͤdten, gegen welchen er ihn ſchuͤt⸗
zen wollte. Hätte er ihn aber getoͤdtet, um einer
——— — au — einem Andern
bey⸗
während d. achtze Jahrhund. b. mififiank 439
"benjufpringen ; oder haͤtte er aus Mangel an Zaͤrt⸗
Bichkeit die Mittel zu: feiner Erhaltung vernachläffige,
% würde er der Ungerechtigkeit ſchuldig geweſen jegn.. |
og der Gegenftand. unferer Neigung vernunfts
PR tft er unfers Eifers- und unferee Sorge wärs.
Big, fo können die Unvoflfommenpeit und Schwaͤche
der Sinne uns nicht: ungerecht machen. Man ftelle
ſich einen Menfchen: von gefundem Urtheile und gut⸗
artigen Meigungen vor, aber von fo bizarrer.-Conflis
sution und fo verderdten Organen, daß er durch. diefe
betriegeriſchen Spiegel. die Dinge entſtellt, verſtuͤm⸗
melt, und ganz anders wahrnähme, als fie find; fo
iſt evident, daß der Fehler nicht in feinem edfern und
freyen Weſen, in feiner Vernunft liege. Das us
gluͤckliche Geſchoͤpf kann nicht für laſterhaft gelten.
So verhaͤlt es ſich inzwiſchen nicht mir den Meynun⸗
gen, die man annimmt, mit den Vorſtellungen, die
man ſich macht, mit den Religionen, zu welchen man
ſich bekennt. Haͤtte ſich in einem der Laͤnder, die
ehedenn dein abentheuerlichſten Aberglauben ergeben
waren, wo man die Katzen, die Crokodile, und an⸗
dere ſchlechte und ſchaͤdliche Thiere anbetete, einer der
aberglaͤubigen Schwaͤrmer in ſeinem heiligen Wahne
eingebildet, es ſey gerecht, die Wohlfarth einer Katze
der Wohlfarth ſeines Vaters vorzuziehen, er muͤſſe
nach feinem Gewiſſen jeden als feinen Feind behandeln,
der nicht denſelben Cultus beobachte; ſo wuͤrde dieſer
fromme Gläubige ein abſcheulicher Menſch, und jede
auf ·ſolche religioͤſe Dogmen — — un⸗
Bm und deteſtabet geweſen ſeyn.
Jeder — über den Werih der Dinge ; dee
Burn abzweckt, mn + ‚vernünftige: Meigung zu
4 —
. — \
440 Gefhichte der neuern Philofophle
gerflören,, oder üungerechte Neigungen hervorzubriu⸗
gen, macht lafterbaft, und. fein Motiv kann dieſes
Verderbniß.des Charafters entfchuldigen. Wer z. B.
duch glänzende Laſter verführt, fchlechten Dingen
feine: Achtung; widmet, iſt fetbft laſterhaft. Bisweis
den kann man ohne Mühe zu der Duelle einer folchen
Mationalcorruption zurückfommens“ Hier iſt irgend
ein Chrgeiziger, der auch durch das Geräufch feiner -
Thaten in Erſtaunen fegt; dort iſt es ein. Seeräuber,
oder ein ungerechter Eroberer , der durch illuſtre VBer⸗
brechen die Bewunderung der Voͤlker fi) erworben,
amd charafteren Ruhm verfchaffe hat, die man veraßs
ſcheuen ſollte. Wer folhen venommirten Mens
fhen Beyfall zollt, würdigt fich ſelbſt herab. Was
denjenigen betrifft, der in jemand einen tugendhaften
Menſchen zu achten und zu lieben wähnt, aber nur
son einem heuchleriſchen Boͤſewichte hintergangen
wird; ſo iſt er vielleicht ein Thor, ein Gimp; aber
er it deshalb nicht laſterhaft.
Irrthum in Thatſachen, der — die eig
gen angeht, bringt auch. fein Lafter hervor; allein ein
Irrthum in Anfehung des Rechts hat auf jedes ver»
nühftige und confequente Wefen Einfluß, auf feine
natürlichen Meigungen, und. diefes muß northwendig
Dadurch lafterhaft werden. Es ereignen fich inzwi⸗
fchen viele Fälle, wo Die Mechtsgegenftände ſelbſt fuͤr
die aufzefärtefien Menfcher zu verwickelt und unge⸗
wiß find,.als daß ſich das wirkliche Recht leicht und
mit Sicherheit entſcheiden ließe. Unter ſolchen Um⸗
ſtaͤnden kann ein kleines Verſehen einen Mann, deſſen
Charakter ſonſt für tugendhaft anerkant iſt, nicht um
feine, Achtung⸗bringen. Stuͤrzen ihn aber der Aber⸗
‚glauben :oder-batbarifche Gewohnheiten in grobe *
ER thu⸗
während de achtz. Jahrhund: b. auf Kart. au
chamer. uͤber die Obiecte und die Anwendung⸗ſeiner
Neigungen; find feine Verſehen ſo häufig; fo ge,
> fie ihn außer ſeinen natürlichen Zuftand.iverfegen;,
», i. daß ſie von ihm Gefinnungenfodern , der
anenſch lichen Geſellſchaft widerſtreitend und im buͤrger⸗
dichen Leben verderblich; hier dem en nach⸗
ſehen, hieße, ‚ber: Tugend entfagen.: 2.2. 70%
mr... ee
0 Mir — alſo immerhin a Reſulter *
ſetzen, daß das Verdienſt oder die Tugend von der
Kentniß der Gerechtigkeilt, und von der Geſundheit
und Feſtigkeit der Vernunft abhaͤngen, ſo daß dieſe
fähig ſind, uns in der. Anwendung unſerer —
zu regieren. Begriffe von Gerechtigkeit, Muth der
Vernunft, ſind die einzigen Hülfsmittel, wenn man
fih in der Gefahr befinder, feine Achtung, und ſelbſt
feine Anfteengüngen, an Abfcheulichfeiten zu ver;
ſchwenden, an Ideen, die jede natürliche Neigung
jerfiören. Die narhrlihen Neigungen, die Fundas
mente der’ nienfchlichen Gefellfhaft, werden oft von
den blutduͤrſtigen Geſetzen eines falfchen. Point d’hon-
neur, und den irtigen Prineipien einer faljchen Relis
gion untergraben. Diefe Gefege und Principien find
laſterhaft, und koͤnnen diejenigen, welche ihnen fol⸗
gen, nur zum Verbrechen und zur moraliſchen Vers
derbtheit führen, teil Die Gerechtigkeit und die Vers
nunft fie beftreiten, " Was es alfo auch feyn möge,
‚das unter den Vorwande gegenwärtigen oder Fünftis
gen Heils, dem Menfhen im Namen der Gottheit
PVerrärherey, Undanf, und Grauſamkeiten zur Pflicht
macht; mas es auch feyn möge, das ſie lehrt, ihres
Gleichen unter dem Vorwande der Freundfchaft für
fie zu verfolgen ‚: ihres Kriegsgefangenen zum Zeitvers
treibe zu quälen j« die Altaͤre mie Menſchenblute zu bes
Ee 5 | fudeln,
440 Geſchichte der neuern Philoſophie
ſubeln, ſich ſelbſt durch Kaſteyuingen zw peinigen;
durch Faſten aus zumaͤrgeln, ſich im religioͤſen Enthu⸗
ſiasmus in Gegenwart ihrer Gottheiten zu zerfleiſchen,
irgend eine; unmenſchliche oder brutale Handlung zu
Ehren oder zu Gefallen derſelben zu begehen: — ſie
muͤſſen den Gehorſam verweigern; wenn fie tugend⸗
haft ſeyn wollen;.fie Dürfen. dem eiteln Beyfalle der
Gewohnheit, oder den betriegeriſchen Orakeln des
Aberglaubens nicht die Gewalt einräumen;- daß da⸗
durch das Gefchrey der Matur und: die Warnung der
Tugend erſtickt und uͤbertaͤubt werden.Alle dieſe
Handlungen, welche die Natur verbietet, werden dns
mer. Abſcheulichkeiten bleiben troz barbariſchen Ge⸗
wohnheiten, eigenſinnigen Geſetzen, und falſchen Res-
liglonsculten, welche ſie anbefohlen haben mögen.
Es iſt hier aber noch Folgendes zu. beine
Diejenigen Gefchönfe, welche durch eimpfindbare
jecte affteirt werden, find gut oder boͤſe, je nachde
ibre ſinnlichen Affeetionen gut oder. ſchlecht geordne
find. Ganz anders verhaͤlt fi Dies aber ben.
fhöpfen, die in dem. moralifchen Guten oder B
vernünftige und raifonnirte Motive der „Zuneigun
oder des Abfcheus finden. Denn. bey Individnen
diefer Gattung, fo ungeregelt auch —
Affectionen ſeyn moͤgen; der Charakter wird dennoch
immer gut, ind, das Individuum wird tugendha
ſeyn, ſobald jene libertinen Neigungen vernuͤnftigen
Affectionen untergeordnet ſeyn werden. — ——
Noch mehr. Iſt ein Temperament heftig‘, 7a
zornig, verliebt, und hat ein Weſen ungeachtet dee
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. , 443
und darin haben: wir Recht. Waͤre fters Das Pris
vatintereſſe die einzige Schranfe ; : wodurch. e6 zurück
gehalten wuͤrde; wäre ohne Nückfiht auf die Reije
‘ der Tugend diefes Privarintereile die einzige Geißel
feiner Laſter; fo würde es darum nicht tugendhaft
ſeyn; aber: fo viel. ift gewiß, Daß, wenn aus freyem
Willen und ohne ein niebriges und ſelaviſches Motlv
ein: zorniger Menſch feine. teidenfchaft unterdrückt,
wenn der. Schwelger feinen: Hang zum Luxus maͤßigt;
ſo werden wir ihrer. Tugend viel lauter Beyfall zuru⸗
- fen, als wenn fie gar Feine. Hinderniffe zu uͤberwin⸗
den gehabt hätten. Aber wie das? Sollte der Hang
zum Laſter ein Relief für die Tugend feyn?:: Wer j
kehrte Neigungen follten nothwendig ſeyn, um den
tugendhaften Mann vollkommen zu machen?
Hier tritt, wie man ſieht, eine bedeutende
Schwierigkeit ein. Empoͤren ſich liberine Neigun⸗
gen auf irgend eine Art, und wird ihre Aeuſſerung
mit freyer Würde. der Vernunft unterdrückt; ſo iſt
dies ein umnftreitigee Beweis, daß die Tugend den
Charakter beherfcht, und darin prädominirt. Hat
es indeffen ein tugendhaftes Wefen leichter, empfin⸗
det es gar Feinen Aufruhr feiner feidenfchaften; fo
kann man fagen, daß es den Principien der Tugend .
folgt, ohne feine Kräfte weiter anzuftrengen. Die
Tugend, welde in dem legtern Falle feinen Feind
zu befämpfen hat, ift vielleicht nicht minder mächtig;
fo wie int erſtern Falle derjenige, der feine- Feinde
befiegt hat, nicht minder rugendhaft if. Im Ges
geutheile, befreyt von den Hinderniffen, die fich feis
nem Fortfchritte widerfeßten, kann er fich der Tugend
ganz übergeben, und fie im ‚einen ag Se⸗de
beſitzen.
ne
ze . | 5 Kup |
!
444 Geſchichte der neuern Philoſophie Fe
Auf diefe Art theilt fich Pie Tugend: bey der Gat⸗
tung der,vernünftigen Weſen in ungleiche Grade; obs
gleich amter den Menfchen vielleicht: nicht: Einer ift,
Der eine fo geſunde und kraͤftige Vernunft hat, Die
allein · einen harmoniſchen und vollkommen: Charakter
begründen. kann. Mit der Tugend diſponiet gleiche
ſam das Laſter gemeinſchaftlich über das menſchliche
Betragen, abwechfelud: Sieger und beſtegt. Denn
es iſt evident, wie auch in einem Geſchoͤpfe die Un⸗
regelmaͤhßigkeit der Neigungen ſowohl in:Beziehung
aufdieSinnenobjecte, .als. in Beziehung auf intellecs
guelle und moraliſche Weſen feyn mag; wie zuͤgellos
auch feine: Principien ſeyn moͤgen; wie wuͤthend,
wohlluͤſtig, grauſam es auch geworden ſeyn mag, ſo⸗
bald ihm nur die geringſte Empfindlichkeit für: die
Reize der Tugend uͤbrig bleibt, ſobald es nur noch
tigend ein Zeichen von Guͤte, Mitleid, Sanftmurh
oder-Danfbarfeit giebt , daß die Tugend nicht in ihm
völlig erftorben, uud daß es noch nicht” durchaus
laſterhaft und unnatuͤrlich geworden iſt.
Ein Verbrecher, der vermoͤge eines Gefuͤhls der
Ehre und der Treue gegen ſeine Genoſſen ſich weigert,
fie zu verrathen, und der lieber die Foiter erduidet,
als daß er fich dazu entfchließen follte , bat gewiß
noch einige Principien der. Tugend, die er aber nur
unrecht anwendet. Dasfelbe Urtheil kann man von
dem Boͤſewicht fällen, der lieber mit feinen Genoffen
ſterben, als fie felbft hinrichten wollte. Es ift faum von
Jemanden zu fagen, daß er ein vollkomner Acheift
ſey; fo laͤßt fih auch noch weniger behaupten, Sa
mand fey durchaus laſterhaft.
Itzt unterſucht nun Diderot das Verhaͤltniß
der Tugend, ſeinem Begriffe und Principe derſel⸗
| | ben
Par z0
DE F
J
J
waͤhrend deachtz Jahrhund. b. auf Kant. 445
ben gemaͤß, zu den verſchiedenen Syſtemen die Gottꝛ
heit betreffend, und in dieſer Unterſuchung liegt vor⸗
nehmlich das Charakteriſtiſche feiner Moralphiloſophie.
Da das Weſen der Tugend in einer gerechten
„Stimmung, in einer gemäßigten Meigung Des vers.
nünftigen Geichöpfes zu den intellectuellen und moras.
lichen Gegenftänden der Gerechtigkeit beiteht, fo muß.
man, um in ihm die Principien der Tugend zu vers.
nichten oder- zu ſchwaͤchen,
1) entweder ihm die natürliche Empfindung —
Idee der Ungerechtigkeit und Billigkeit er
oder
2) ihm falfche ‘Begriffe davon behbringen; oder
3) Andere Meigungen gegen jenes innere. Ges
fühl aufregen... Auf der anderen Seite, um die Prins
cipien der Tugend zu befeftigen und zu verſtaͤrken,
muß man
1) entweder das Gefühl der Biederkeit (droi-
ture) und Gerechrigfeit, fo zu reden, nähren und:
fhärfen; oder
2) es in feiner sangen Reinheit unterfalten ;
oder
3) ihm jede andere Neigung unterwerfen. Nun
font es Darauf an, welche diefer Wirfungen jede
Hypotheſe über die Gottheit nochwendig hervorbrins
gen, oder wenigftens begünftigen muß.
Wenn davon die Rede ift, ob ein Geſchoͤpf
des natuͤrlichen Gefuͤhls der Ungerechtig—
keit und Billigkeit gänzlich beraubt ſey,
ſo wird damit nicht gemeynt, daß es gar keinen Be⸗
griff des Guten und Boͤſen in Verebuns auf die Ge⸗
ſell⸗
\ !
446 Gecchichte der feuern Philoſophie
ſellſchaft mehr habe. Ein Weſen, das alles Gefuͤhl
für Recht und Unrecht verloren har, kann deshalb
noch inimer das Gute und Boͤſe in Beziehung auf
feine Gattung unterfcheiden. Es ift nur. durchaus
unempfindiich daflie geworden, und die Vortrefflichs
keit oder Diederträchtigfeit moralifcher Handlungen -
wecken in ihm nicht mehr Achtung oder Abſcheu; fo
daß, abgerechnet ein befonderes und enger concentrirtes
Intereſſe, das immer in ihm lebendig ift, und ihm
zuweilen günftige Urtheile über Die Tugend abnöthigt,
man von ihm behaupten kann, es firebe in feinen
Sitten weder nach Häßlichfett noch nah Schönheit,
und Alles fen bey ihm nur auf eine teuflifche monftrös
fe Einförmigkeit des Handelns angelegt.
Sn Verhätmig zu den Syſtemen über die Gott;
heit, mennte Dideror, daß feine dahin gehörige
Speculation, fein Glaube, feine Weberredung, fein
Eultus im Stande fey, das Gefühl der Lingerechtig:
feit und Billigfeit unmittelbar und Directe zu vernich⸗
ten, Da dieſes uns eben fo natürlich ift, wie unjere
Neigungen, und eine der elementarifchen Qualitäten
unferer Eonftitution ausmaht. Was uns natürlich
ift, Dies zu entftellen, zu verderben, ift das Werk
einer langen Gewohnpeit, welche allein eine Nature
gleichſam in eine andere Matur umjuformen vermag.
Der Unterfchied der Ungerechtigfeit und Billigfeit
ift in unferm Weſen urfprünglich gegründet. - Die
Haͤßlichkeit und Schönheit wahrzunehmen in den ins
telleceuelfen und moralifchen Weſen, ift eine eben jo
natuͤrliche Thaͤtigkeit unfers Verftandes , wie diefelbe
Wahrnehmung bey den organifirten Dingen, und
vieleicht aͤußert fie ſich noch früher, als diefe. Mur
eine enrgegengefeßte Hebung kann diefe Thaͤtigkeit auf
a ims
während. d- achtz Jahrhund. b. auf Kant: 447..
immer EN. oder — auf einige Zeit auf⸗
—
Kodermann weiß aus Erfahrung, daß wenn
| durch irgend einen Mangel der Bildung aus Zufall
oder aus Gewohnheit man eine unangenehme oder:
lächerlihe Manier annimt, alle Aufmerffamfeit,
Sorge, Vorſicht, um fich derfelben wieder zu.ents _
wöhnen, kaum zu dem Zwecke hinreichen. Die Nas
tur ift hierin aber ganz anders eigenfinnig. Jedes
Koch ift’ihe unerträglich, und fie ift ftets bereit, es
abzuſchuͤttein. Über fie meiftern will, hat eine Ars
beit ohne Ende, Die Ungelehrigfeit des Geiſtes ift
unglaublich, hauptſaͤchlich wo es auf natürliche Ges
fühle und urjprüngliche Begriffe ankomt, ‘wie die
Unterſcheidung des Nechts und Unrechts. Man mag
fih noch fo fehe mit Beſtreitung derfelben plagen;
fie laſſen fich nicht weabannen, felbft durch Die Aus
ferfte Gewalt nicht. Der ausjchweifendfte Aberglau⸗
be, das ungereimtefte Nationalvorurtheil, werden
ſie niemals ganz ausſchließen.
Aber inwiefern koͤnnen die verſchiedenen theolo⸗
giſchen Syſteme das Gefuͤhl und die Idee von Recht
und Unrecht verfaͤlſchen? Diderot antwortet zus
voͤrderſt, wie ſich von ihm erwarten laͤßt, daß der
Atheiomus feinen der Reinigkeit des natuͤrlichen
Gefuͤhls von Recht und Unrecht widerſtreitenden Eins
flug äußere Ein Unglücklicher, welchen diefe Hys
pöthefe zu Verbrechen verführt, und ihm diefelben
zur Gewohnheit gemacht hätte, kann von Gerechtigs
feit und Tugend ſehr verdunfelte Begriffe haben;
aber jene Hypotheſe an fich felbft kann ihn nie dahin
veisben, eine ſchlechte unedle Handlung für geoß und
ſchoͤn
448. Gefihichte der neuern Philofophie'
fhön zu halten. Der ‚Arheismus;; minder gefahe⸗
lich hierin, als der Aberglauben, predigt nicht, daß
es ſchoͤn ſey, ſich mit Thieren zu begatten, oder mit
dem Fleiſche ſeines Feindes zu ſaͤttigen. Aber es
giebt keine Abſcheulichkeit, die nicht fuͤr etwas Vor⸗
treffliches, Loͤbliches, Heiliges, angeſehen werden
koͤnte, wenn irgend ein verderbter Religionscultus es
ſo mit ſich bringt.
Wer einen wahren, gerechten und guten Gott
glaube, ſetzt das Daſeyn einer Gerechtigkeit und Uns
gerechtigkeit voraus, eines Wahren und eines Fal⸗
ſchen, einer Güte und einer Bosheit, und zwar uns;
abhängig von jenem böchften Wefen; denn er urtheilt
gerade nach dieſen Begriffen, daß Gott wahr, ges
recht, und gut ſeyn muͤſſe. Wenn die Rathſchluͤſſe
Gottes, feine Handlungen und Geſetze erit das Das
ſeyn der Gerechtigkeit, Wahrheit und Güte übers
haupt begründeten ;. fo wäre mit der Behauptung,
daß Gott wahr, gerecht, und gut fey, nichts gefagt;:
denn, wenn jenes höchfte Weſen die beyden Glieder
eines fich mwiderfprechenden Gaßes als wahr behaups
tete, fo würde dadurch das eine Glied fo wahr wer⸗
den, wie das andere; wein es ohne Grund ein Ger.
(Sof verdammte, für das Verbrechen eines Andern
zu büßen; wenn er ohne Urfache und Unterſchied den
‚ einen zur Qugal, den andern zur Geligfeit, vers
dammte, würden alle diefe Urtheilsfprüche ‚gerecht:
fenn. Demnach zufolge der obigen Suppofition be⸗
baupten, daß etwas wahr oder falfch, gerecht oder
ungerecht, gut oder böfe, fey, ‚heiße mit Worten.
fpielen, und etwas behaupten, worin fein Sinn ift.
Hieraus fließt, daß, wer atifrichtig und wirk⸗
ih irgend ein . u verehrt, das er doch
als
\
-
\
während, d. achtz · Jahrhund. bs auf Kante 449
ols / ungerecht und boͤs artig erkennt, der ſetzt ſich der
Gefahr aus, alles Gefühl von Billigkeit, alle Ideen
yon, Öerechtigfeit und Wahrheit, zu verlieren. Der
religioͤſe Wahn und Eifer muß in die Länge alle wahr
ze, Froͤmmigkeit und. Rechtichaffenbeit vergiften, ſo—
bald. ſich Jemand zu einer. Religion mıt Ueberzeugung
befenut, ‚deren Dorfchriften den Grundprincipien der
Moral zuwiderlaufen.
Wenn die anerkannte Boͤs artlgkeit eines hoͤchſten
Weſens auf ſeine Anbeter einwirkt; wenn ſie die Nei⸗
gungen verdirbt, die Begriffe von Wahrheit, Ges
zechtigfeit, Güte, verwirrt, und die natürliche Uns -
zerjcheidung des Rechts und Unrechts untergräbt; fo
iſt nichts geſchickter, die Leidenfchaften zu maͤßigen,
Die Begriffe zu berichtigen, und Die Liebe zur Ges
rechtigfeit und Wahrheit zu beftärfen, als der Glau⸗
be an einen Gott, den feine Gefchichte bey jeder Ge⸗
legenbeit als ein Muſter der Gerechtigkeit, Wahr⸗
baftigfeit und Güte darſtellt. Die Ueberzeugung von
einer. görtlichen Vorſehung, die fih auf Alles em
ſtreckt, und deren Wirkungen das ganze, Univerfung
zu, jeder. Zeit empfinder, ift.ein mächtiger Spoen;
uns.zu bewegen, Daß mir. beftändig denfelben, Prins
cipien in den engen Schtanfen unfeser- Sphäre fols
gen. Wenn wir äber in unferm Betragen niemals
das allgemeine Jutereſſe unſerer Gattung aus den
Augen verlieren; wenn Das. öffentliche Gemeinwohl
unfer Compaß iſt, fo tft unmöglich, daß wir uns in \
unſern Urtheilen uͤber Recht und Unrecht jemals irren
ſollten. J . Der |
Weas alſo die Verfätfhung der Begriffe on
Recht und Uureche anbelangt, fo wird. die Religion
Duble's Geſch. d. Philof. VI.D. - öf vie
-_
450° Gefchichte der neuern Philoſophie
viel Guͤtes oder viel Boͤſes veranlaſſen, je nachdem
ſie ſelbſt gut oder boͤſe ſeyn wird. Mit dem Atheis⸗
mus iſt es gar nicht eben ſo bewandt. Er kann in
der That eine Verwirrung der Ideen von Recht und
Unrecht mach ſich ziehen; aber das thut er gar nicht
in der Eigenfchaft eines reinen. und einfachen Atheis⸗
mus: dies ift nur ein Uebel, das mit jedem verderb⸗
ten religiösen Cultus verfuäpft ift, und mit phanta⸗
ſtiſchen Vorſtellungen von der Gottheit, einer mon⸗
ſtroͤſen Familie, die aus dem Aberglauben, und aus
einer anhaltenden Leichtglaͤubigkeit entfpringt, =
| —
Cine andre Frage iſt, was theologiſche Syſteme
von der Gottheit beytragen koͤnnen, die Neigungen
gegen das natuͤrliche Gefuͤhl des Rechts und Unrechts
zu empoͤren? Es iſt einleuchtend, daß die Princi⸗
pien der Rechtſchaffenheit auch die Regeln des Ber
tragens für ein Geſchoͤpf ſeyn werden, welches dies
felden beſitzt, wenn fie feinen Widerftand von Seiten
‚des Privarintereffes diefes finden, oder von heftigen
Leidenfchaften, die, indem fie jedes Gefühl der Vils
Higfeit. uͤberwaͤltigen, ſelbſt die Ideen des wahren
Privatintereſſe's verdunfeln, und das Geſchoͤpf gleich⸗
fam von dem Wege gewaltſam wegſtoßen, der zut
Gblauͤckſeligkeit führt. Be ee
Daß ein Weſen von der Häßlichfeit und Schoͤn⸗
heit intellectueller und moraliſcher Objecte geruͤhrt,
uͤnd folglich mit dem Uuterjchiede Des Rechts und Um
rechts vertraut geworden fern fünne, lange vorher,
ebe es Flare und deutliche Begriffe von der Gottheit
harte, iſt ausgemacht. Man begreift auch nicht
jeicht, wie ein folches Wefen, als der Menſch, bey
dem die Faͤhigkeit zu: denken und zu reſlectiren ſich
— —— 219 Were” PERrER in
” %
wihrem d. acht. —— b. auf Kant. 451
in nnmettlichen und langſamen Graden —S
bey ſeinem Austritte aus der Wiege genug geuͤbt woß
den wäre, ‚um die Nichtigkeit der fubttien metaphy⸗
hen Speculartonen’ über Die Eriftenz Gottes eingu⸗
ſehen. Aber man nehme einmal an, dag ein’
ſchoͤpf die Faͤhigkeit zu Denken und zu. reflecriren nicht
Habe; wohliaber gute Qualitäten und einige gerechte
Meigungen befige ; ‘daß es feine Gattung liebe, muß
thig, dankbar, mitleidig fen; dann ift gewiß, daß
- von den Augenblicke an, da man. diefem Automare
die Faͤhigkeit zu raifonniven beylegt, es atich jene eder
den Neigungen billigen, fich in den gefelligen Trieben
ſelbſt gefallen, Anmuth und Reiz darin finden, und
* entgegenſtehenden Leidenſchaften ‚haffen wird,’
Man fann aljo dreift behaupten, daß ein Ge
—* Ideen von Recht und Unrecht, Kentniß von
Tugend und kafter vorher haben koͤnne, bevor es deut⸗
liche und beftimte. Ideen von der, Gottheit beſitzt.
Die Erfahrung unterſtuͤtzt auch diefe Behauptung,
Deun bemerkt man nicht bey Völkern, die kaum eine
Apndung von Religion haben, unter den Individuen
Diefelbe Verſchiedenheit der Charaftere, wie bey Mr
geflärten Nationen? Sind es nicht das Laſter un
die moraliſche Tugend, welche die- gegenfeitige Achs
tudg der Individuen bey ihnen. befliimmen? Wah—⸗
rend ein Theil: hochmuͤthig, bari und grauſam, folg⸗
lich geneigt iſt, gewaltſame und Ahranniſche Hand⸗
lungen zu billigen; iſt ein anderer beil. von Natur
Teusjelig, . ſauft, „befcbeiden .. ——— und. des⸗
wegen auch aſeheducen und gelsligen Neigungen _
* nglich. el
um han Pr —* — dle Erkentniß
Gottes auf die Venſchen einwirfe, / muß man ieh,
Aua öfa durch
452 Gecchichte der neuern Philoſophie
durch welche Morive:und aus was für einem Grunde,
fie ibm dienen und feine Gefege befolgen. Entweder
geſchieht es in Hinficht auf feine Allmacht, und-in-der
Suppofition,, daß fie von ihm Gutes zu hoffen, und
Schlimmes zu fürdten ‚haben; ‚oder es geſchieht mit
Hinficht auf feine Vortrefflichfeit, und mit der Idee,
Daß die Nachahmung der göttlichen Handelnoweiſe der
er Grad. der Bolltommenpeit fe '
Ein Wefen, das bloß aus eigennüßiger Hoffe.
Mung oder felavifcher Furcht. Gutes thut und Boͤſes
vermeidet , hat an ſich felbft weder: Tugend noch
Güte; fo wenig wie man einem Tiger-an der Kette
Sanftmuth und Gelehrigkeit benlegen kann. Je be
reitwilliger der Gehorſam, je tiefer die Unterwuͤrfig⸗
keit eines ſolchen Menſchen ſeyn wird, deſto Mehr
Niedertraͤchtigkeit und Feigheit wird fein Beträgen
ausdrücen, was auch der Gegenftand feiner Hands
lungen feyn mag. Mag der Hetr gut oder ſchlecht
yn; was liegt daran? wenn dar Selav immer dets
ſelbe bleibe. Noch mehr, gehorcht ein Sclave einem
milden gürigen Herrn bloß aus heuchlerifcher Furchrz
fo ift feine Natur um fo bösartiger und fein Dienft um
fo verächtlicher. Denn diefe ihm zur Gewohnheit
gewordene Difpofition verbirgt die hoͤchſte Anhaͤnglich⸗
keit an fein eigenes Privarintereffe, und eine gänzfiche
Verderbeheit feines‘ Charafters. Iſt hingegen die
Gottheit sines Volks ein vortreffliches Weſen, Die
auch als ein folches von ihm verehrt wird; abſtrahirt
das Volk von ihrer Macht, und huldigt es **
ihrer Güte! bemerkt man in dem Charakter, welchen
ihre Priefter ihr geben, und in den Gefhichten,' Die
fie davon erzaͤhlen⸗eine Vorliebe fiir die Tugend und
eis allgemeines Wohlwollen gegen:alle RE fo
& ann
während. achtj. Jahıhund, 5. auf Kant. 453
rann es nicht fehlen, daß ein fo fchönes Mufter zum
- Guten anfeuere, und die tiebe zur Gerechtigfeit gegen
alle dieſe feindfelige Neigungen ftärfe und waffne.
Mit der Kraft des Beyſpiels verbindet ſich noch
ein anderes Motiv, um dieſen großen Effeet hervor⸗
zubringen. Ein volllomner Theiſt iſt uͤberzeugt von
der Praͤeminenz eines allmaͤchtigen Weſens, das Zu⸗
ſchauer des menſchlichen Betragens, und Augenzeuge
von Allem iſt, was im Univerſum vorgeht. In der
- finfterften Einoͤde, in der tiefften Einſamkeit, ſieht
ihn fein Gone. Er handelt alfo ftets in Gegenwart
eines Wefens, das für ihn taufend: mal mehr Ehr⸗
furcht verdiene, als die erhabenfte Verſammlung der
Welt. Welche Schande wäre es nicht für ihn, im
dieſer Gefellfchaft eine verabfheuungswürdige Hands
lung zu begeben ?: Welche Genugthuung im Gegens
theile, in Gegenwart feines Gottes tugendhaft ges
wefen zu ſeyn, felbft wenn fein guter Ruf durch vers
Jeumderifche Zungen. deshalb gefchmälert, und er der
Gegenftand der Schmad) der bürgerlichen Gefellichaft _
geworden wäre, Am welcher er lebt? Der Theismus
begünftige. folglich offenbar die Tugend; und der
Atheismus, welchen diejes große: Huͤlfsmittel abgeht,
ift hierin mangelpaft. !
- Bon ganz anderer Are: iſt der Einfluß, welchen
bie Hoffnung fünftiger Belohnungen und die Furcht
vor fünfsigen Strafen auf-die Tugend Auffert, fofern
ein Meligionsglaube jene mit fich Bringt. Zuvoͤrderſt
gehören überhaupt Hoffnung und Furcht :niche zu den . -
liberalen edelmuͤthigen Neigungen, und auch nicht zu.
"den: Motiven, auf denen das moraliiche Verdienſt der
Handlungen beruht. Haben: diefe-Wiorive einen *
öf3 er?
454 Seſchichte der neuern Philbſorhie
herſcheuden Einfluß auf das Verhalten eines Ge
ſchoͤpfs, Das durch uneigennügige Liebe vorzüglich tes
giert werden muͤßte; fo iſt das Betragen kuechtiſch,
und dag Gefchöpf iſt noch nicht tugendhaft. Dazız
komt insbefondre, daß bey jeder Meligionshynorheie,
wo Hoffnung und Furcht als. die erften und vornehm⸗
ſten Motive, unferer Handlungen angenommen wer—
den, Das Privatinterefie, das natürlich in ung nur
-zu lebhaft tft, durch: nichts gemäßige und beſchraͤnkt,
und fonach täglich Durch die Hebung der Leidenfchafs
gen bey Dingen von der Wichtigfeit immer flätfer
wird. Daher ift zu fürchten, daß jene Fuechrifche
Denkart in Die Laͤnge triumphirt, und. ihre Herſchaft
in allen VBerhältniffen des Lebens ausübt; daß eine
bhabituelle Aufmerkfjamfeit auf das Privatintereſſe im
eben dem Maaße die Liebe zum Gemeinwohle mins
dert, als jenes Intereſſe groͤßer iſt; "endlich das Merz
und Beritand gleichſam einfcheumpfen, ein. Febfer,
den man in moralifhem Berrachte faft bey allen HZelo⸗
ten im jeder Religionspartey bemerkt. |
So nachtheilig zwiſchen die Heftigkeit der Meis
gung für das. Privarintereffe-der Tugend feyn faun,
fo giebt Dide rot doch zu, daß Umftände und Vers
bältniffe hatt finden fönnen, wo Die Furcht vor Stras
- fen, und die Hoffuung der Belohnungen der Tugend
zu Stüßen dienen mögen, . Leidenfchaften, wie.Zorn,
Haß, Schwelgeren, u. a. fünnen die innigfte Liebe
des Gemeinwohls erſchuͤttern, und die: tief. einges
wurzeltften Ideen der Tugend ausrotten. Hätte der
Verftand gar feinen Damm ihnen entgegenzufegen,
fo würden fie ohnfehlbar nach uud nach ſelbſt den
beften Charafter. verwüften. und. verderben koͤnnen⸗
Die Religion * biergegen. Se. ruft. dem Men⸗
ſchen
pP
+
während. d. acht; Jahrhund. 5. auf Kant. 455
ſchen ſofort zu, daß ſolche Geſinnungen, und die
Handlungen, welche dieſelben nach ſich ziehen, vor
den Augen Gottes ſtraͤflich ſeyen; die Stimme der ,
Religion erfchreckt das kafter, und flärft die Tugend;
die Ruhe fehrt wieder in die Seele zurück; der Menſch
bemerft die Gefahr, im welcher er gewefen ift, und
beftee fich fefter als je an Prineipien, Die er auf dem
Puuncte war, führen zu laſſen.
Die Furcht wor Strafen und die Hoffnung der '
Belohnungen find auch noch geeignet, Jemandes
Maximen der Tugend zu befefligen, wenn ibn Das
Intereſſe der Neigungen darin mwanfen macht. Ja
man kann fagen, Daß, wenn einmal der Verſtand
Jemandes falfche Ideen aufaefaßı hat; wenn er Durch
Vorurtheile fih gegen die Wahrheit gleichſam verhärs
tet, das Gute verfenne, dem Laſter feine Achtung
widmet und den Borzug giebt, ohne die Furcht vor
Strafen und Hoffnung auf Belohnungen feine Rücks
Fehr zum Guten und Wahren von ihm zu erwarten
fey. Man denfe fich einen Dienfchen, der einige nas
sürlihe Güte und Biederkeit des Charafters hat,“
aber ein feiges und weichliches Temperament, was
ihn unfähig macht, dem Ungluͤcke die Etirn zu bies
sen, dem Elende zn trogen. Itzt komt er in eine une
gluͤckliche Situation; der Kummer bemächtigt fich
feiner Seele; Alles berrübt ihn; er wird verdriehs
lich; er zuͤrnt auf Alles, was er für Die Urjache ſei⸗
nes Ungluͤcks hält. Wenn er in dieſem Zuftande auf
den Gedanken geräch, oder feine Freunde denjelben
bey ibm erweden, daß feine Rechtſchaffenheit die
Duelle feiner teiden ift, und daß er, um fich ınte Dem
Gluͤcke wieder auszuſoͤhnen, nur mit der Tugend
brechen dürfe; fo ift — daß die Achtung,
| 14 wel⸗
—
‚456 Geſchichte der neuern Philofophie
welche er gegen Qualitaͤt hegt, in eben dem Verhaͤlt⸗
niffe abnehmen werde, als Verdruß und Schmerz its
feiner Seele zunehmen; ja, daß jene Achtung ganz
verfchmwinden wird, wenn die Betrachtung der fünftis
gen Güter, deren Genuß die Tugend verfpricht, zur
Entſchaͤdigung für diejenigen, welche er vermißt, ihn
nicht gegen -die truͤben Gedanfen, die. er hegt, oder
Die böfen Rathſchlaͤge, die er bekomt, aufrecht erhäfe,
die drohende Verfchlimmerung feines Charafters bins
dert, und ihn bey feinen vorherigen Prineipien- erhält,
| Hätte Jemand durch falſche Urtheile gewiſſe lq⸗
ſter lleb gewonnen, und waͤre er den entgegengeſetzten
Tugenden abgeneigt; hielte er z. B. die Verzeihung
| von Beleidigungen für eine Miederträchtigfeit, und
die Rache für etwas Heroiſches; ſo könte den’ Folgen
Diefes Irrthums vielleicht dadurch vorgebeugt werden,
wenn er bedächte, daß die Milde negen Beleidiger
durch die Ruhe und andere Vortheile fich belohnt,
welche fie mit fich führe, anſtatt Daß die Zwierracht
ſich durch ihre zerfiörenden Folgen beftraft. Durch
diefen heilſamen Kunftgriff fönnen die Befcheidenheit,
Eprlichfeit, Mäßigfeit, und andere Tugenden, Die
zuweilen verachtet werden, ihre Achtung auf’s neue
erhaften, und die ihnen entgegengefeßten Leidenſchaf⸗
ten in Die Verachtung fallen, welche. fie verdienen;
und man koͤnte mit der Zeit es dahin bringen, jene
Tugenden zu üben, und die Laſter zu verabſcheuen,
ohne die geringfte weitere Mückfiche auf Die Aunehm⸗
lichfeiten oder feiden, die damit verbunden find,
Aus diefem Grunde ift auch nichts vortheilhaf⸗
ter in einem State, als eine tugendhafte Verwaltung
und gerechte Vertheilung der Strafen und Belohnun⸗
ie: Zu: gen.
während d. achtz. Jahrhund. h. auf —R
en. Es iſt dies eine eherne Mauer, an welcher alle
erſchwoͤrungen der Boͤſewichter ſcheitern; es iſt ein
Damm, der ihre Beſtrebungen zum Wohle der Ge
ſellſchaft kehrt; es iſt noch mehr, es ift ein ficheres
Mittel, die Menſchen an die Tugend zu fefleln, ins
dem man ihr Privatintereffe an Die Tugend fefleltz
alle Vorurtheile auf die Seite zu ſchaffen, welche fie
vom der Tugend entfernenz ihr in den Herzen der
Menfchen eine günftige Aufnahme zu bereiten; und.
fie durch eine ſtandhafte Praris des Guten auf eine
Pfad zu führen, wovon man fie nicht ohne Muͤhe
würde ableiten koͤnnen. Hierbey iſt gleichwohl nicht
aus der Acht zu laſſen, daß wenn auch die gevechte
Vertheilung der Belohnungen und Strafen in einen
State wefentlich zur Tugend eines Volks beyträgts
Doch das Beyſpiel noch wirffamer über die Geſinnun⸗
gen und Meigungen diefes entfcheider, und feinen
Charakter bilder. Iſt die Obrigkeit nicht tugendhaft,
ſo wird die befte Verwaltung wenig wirfen; hingegen
werden die Unterthanen Die Gefege um fo mehr lieben
und ehren, wenn fie einmal von der Tugend ihrer Rich⸗
ter überzeugt find. Auch ift es nicht ſowohl der Reiz der
Belohnungen, oder der Schrecken der Strafe, die fie
der bürgerlichen Gefellfchaft erfprießlich machen; fon:
dern. es find vielmehr die Achtung vor der Tugend und
der Haß gegen das £after, welche Diefe öffentlichen Aus:
drücke der Misbilligung oder deg Todes des menſchli⸗
chen Gefchleches in dem ehrlichen Manne und in dein
Boͤſewichte erwecken. Bey Hinrichtungen von Verbre⸗
chern iſt es eine fehr gewöhnliche Beobachtung, daß die
Schande wegen des Verbrechens und die Infamie faft
die ganze Strafe der Verbrecher ausmachen. Es ift
nicht fowohl der Ted, der dem Patienten und deu
Zufhanern einen Schauder verurjacht, als vielmehr
| öfs der
I '
Be.
458. Geſchchte der meucem. Pilofondie
der Galgen ‚oder dag Rad, was einen Menfchen als
ein Weſen darftellt, Das die Gejege der Gerechtigkeit
und Menſchlichkeit verlegt habe, ee
In Familien -ift die Wirkung. der Belohnungen
> Züchtigungen Diefelbe, wie in der ‚bürgerlichen
eſellſchaft. Kim firenger Herr mit der Peitfche in
der Hand, wird ohne Zweifel feinen Sclaven oder
Zaglöhner auf feine Pflicht aufmerkſam machen ;: aber
Diefer wird Dadurch nicht gebeflert werden, - Unters
deſſen wird eben dieſer Menſch, ben einem fanftern
Charakter, mit geringfügigen Belohnungen und leich⸗
sent Züchtigungen tugendhafte Kinder erziehen. Mit
Huͤlfe bald mäßiger Drohungen, bald feiner Schmeis
cheleyen ‚und Gefälligfeiten, wird er ihnen Princis
pien einprägen, die fie demnaͤchſt befolgen werden.
ohne Rückjicht auf die Belohnung, welche fie vorher
antrieb, oder auf. die Ruthe, vor der fie fich fuͤrch⸗
zeten. Und dies ift es. gerade, was man eine honette
und liberale Erziehung nennt. Jeder andere Cultus,
welchen man der Gottheit, jeder andere Dienft, den
man einen Menfchen erweift, iſt unedel, und vers
diene gar Fein ob. 2: m. !
Wenn bey einer. Meligion die Belohnungen,
welche fie verfpricht, liberal find; wenn Die, fünftige
Gtückieligfeit in Dem Genuffe eines ıugendhaften Vers.
guügens befteßt, 3. B. in der Uebung oder Betrach⸗
zung der Tugend ſelbſt in einem andern teben, (wie
dieſes der Fall beym Chriſtenthume iſt); fo iſt evi⸗
dent, daß die Begierde nach dieſem Zuſtande nur
aus einer großen Liebe zur Tugend entſpringen, und
- folglich alle Würde ihres Urſprungs behalten kann.
Denn jene Begierde ift feine eigennügige Geſinnung;
| die
waͤhrend d. acht: Jahrhund Bi auf Känl 439
die Liebe der Tugend: ift niemals eine unedfe fordide
Neigung; die Begierde zum Leben aus Liebe zur Zus
gend kann alſo auch nicht Dafür gelten. MWenn aber
jene Begierde nach einem andern geben aus dem Ab:
jcheue. entweder vor dem Tode oder. por der Vernich⸗
tung entſtaͤnde; wenn fie durch irgend eine lafterhafte
Meigung erzeugte würde, oder Durch eine Anhaͤnglich⸗
feit:an Dinge, die der Tugend fremd find ; fo würde
fie nicht mehr tugendhaft ſeyn.
Wie verhaͤlt ſich aber nah Diderot die Tu⸗
gend zur menſchlichen Gluͤckſeligkeit? Hieruͤber ent⸗
ſcheidet er folgendermaßen. 1) Das Hauptmittel, mit
ſich ſelbſt vergnuͤgt und gluͤcklich zu ſeyn (d'etre bien
avec ſoi), iſt, durchaus geſellige und thaͤtige Neigun⸗
gen zu haben; fehlt es am ſolchen Neigungen, oder
find: fie mangelhaft, ſo ift man ungluͤcklich. 2) Es
ift ein Ungluͤck, zu energifche Neigungen in Bezie⸗
hung auf das Privarintereffe zu haben, Die über die
Subordinatiou hinausgehn, in welcher die gefelfigen
Meigungen fie halten follten. . 3) Der hoͤchſte Grad
des Elendes ift, -ausgearsere Meigungen zu befißen,
Die weder auf das Privatwohl des Geſchoͤpfs, noch
auf das allgemeine Intereſſe feiner Gattung m:
find. Dies: führe Diderot weiter aus.
Gemeiniglich unterfcheidet man Die Vergnügums
gen und Annehmlichkeiten des Menſchen in Förperliche
und geiftige; und man ift darin einſtimmig, daß die
letztern den erſtern vorzuziehen ſind. Sollte Jemand
bieran zweifeln, fo iſt leicht, es aus der Erfahrung zu
beweiſen. So oft der menfchliche Geift eine hohe
Meynung von den DVerdienfllichen einer Handlung
gefaßt bas, fo oft er lebhaft von dem Damit verbundes
nen
Geſchichte der neuern Phlloſophie
wer Heroismus frappirt wird, und dieſer Gegenſtand
feinen vollen Eindruck auf ihm gemacht har; vermoͤ⸗
gen weder Drohungen, noch Verſprechungen, noch
Strafen, noch koͤrperliche Vergnuͤgen, ihn Davon: zus
ruͤckzuhalten, Man fiehe Indianer, Barbaren, Bös
fewichter, oft Me armfeligften nichtswürdigften Mens
(hen , für das. Intereſſe einer Horde oder Bande,
aus Dankbarkeit, aus Rachſucht, aus Maximen
der Ehre oder der Öalanterie, unglaubliche Arbeiten
übernehmen, und dem Tode felbft troßen. Dage⸗
gen die geringfte Umwoͤlkung des Geiftes, der leichtes
2: ‚Kummer, ein Fleines Misgefchicf, Finnen. Die
Mergnügungen des Körpers vergiften und vernichten;
und zwar fogar alsdenn, wenn mau fih übrigens
in den gänftigften Umftänden befindet, im Mittels
puncte alles deſſen, was die Bezauberung der Ginne
bewirfen und unterhalten Fonte, ‚und in: dem Mos
mente, fi dem Genuſſe ganz hinzugeben. Umſonſt
bisten ſich dieſe Freuden’ dar, fo lange der Geift in
der Unruhe und Stimmung ſchwebt; alle Bemüßuns
gen, fie gewießbar zu machen, ſiud eitel, ‚und. ver⸗
urfachen nur Ungeduld und Leberdruß,
139, Sind nun aber die Vergnägungen des Geiftes
den förperlichen am Werthe vorzuziehen; fo fließt hiers
ous, daß Alles, was einer ntelligenz eine ftetige
Meihe intellectueller Vergnuͤgungen verfchaffen fann,
mehr zu ihrer Gluͤckſeligkeit beyträgt, als eine Abus
fiche Reihe förperlicher . Freuden. : Die intelleetuellem -
Vergnuͤgungen aber beftehen entweder in der Auss
übung der gefelligen Neigungen ſelbſt; eder fie fließem
aus diefer Ausübung in der Qualität von Wirkund
gen. Iſt alſo die Defonomie der gefelligen Neigun⸗
gen die — des — Vergnuͤgens deg
en⸗
wahrend d acht· Jahthund bi auf · Kant 468
Menſchen, ſo ſind auch dieſe geſelllgen Neigungen
allein im Stande, ihm ein dauerhaftes und reelles
Gluͤck zu verſchaffen. Sie find duch unabhängig von
der Gefundpeit, der Bequemlichkeit, Munterkeit,
und allen Vortheilen des Gluͤcks und: Wohlſtandes
Behaͤlt man nur in der Gefahr, im Zuftande der
Furcht, des Kummers, bey Verlufte von Gütern,
bey Schwaͤchlichkeit des Körpers’ die. gefelligen Mei⸗
gungen, fo ift die Gfückfeligfeie geborgen) Die
Schtäge des Schickſals, welche. die Tugend treffen,
zerftören die Zufriedenheit‘ nicht, Die fie begleiten,
Die Tugend ift eine Schönheit, die im Gewande
der. Trauer und in Thraͤnen etwas Ganfteres und
Mührenderes: bat, als mitten unter’ Bergnügungem
Ihre Melancholie hat eigenthuͤmliche Reize Die
gefelligen Neigungen zeigen ihre ganze Kraft nur bey
großen Berrübniffen. Wenn man diefe Are der Leis
denfchaften gefchickt zu erregen weiß, wie bey der Vor⸗
ſtellung einer guten Tragoͤdie gefchieht; fo giebt es
fein Vergnügen von ähnlicher Dauer, das ſich mit
dieſem aus Täufchung entipringenden Vergnügen ver⸗
Hleichen ließe. Der Dichter, der uns für das
Schickſal der Tugend und des Verdienſtes intereſſirt,
uns über das Les edler Menfchen erweicht, und alle
Empfindungen der Menfchlichkeit zus ihrem Vortheile
auftegt, verfeßt uns in ein Entzücen, und gewährt
ung eine Gatisfaetion des Verſtandes und Herzens,
die alle Freuden der koͤrperlichen Sinne überwiegt:
Der Zweck der geſelligen Steigungen in Beyer |
bung auf den Geift it, andern das Vergnügen mits
zutheilen, welches man empfinder, ‘oder mit ihnen
‚felbft die Bergnügungen gemeinfchaftlich zu genieße,
fich ihrer Uchtung, ihres Beyfalls au erfreuen: Nux
ein
{
462 Geſchichte der. neuern Philoſophhie
ein urſpruͤnglich verderbres ungluͤckliches Geſchopf
kann das Vergnügen verkennen, das darin liegt, zu⸗
‚gleich mit Andern froͤlich zu ſeyn. Und wie viel die
Achtung und der Beyfall Auderet zu unſerer Gluͤck⸗
ſeligkelt beytragen, erhellt dataus, dag auch diejent⸗
gen, welche die) geringſten oder gar keine Anſpruͤche
F auf. die Achtung ihrer Mitmenſchen haben, doch bey
Gelegenheit ſich dem Schein eines biedern moraliſch⸗
edeln Charafters geben, und damit paradiren. Sie
gefallen ſich in der Vorſtellung de. valoir quelque cho-
fe. Freylich iſt Dies in der Wirklichkeit eine chimaͤ⸗
zifche Vorſtellung, die ihnen aber Doch ſchmeichelt,
Die: fie ſich anſtrengen, in ſich ſelbſt hervorzubtingen,
indem ſie ein beben voll Unwuͤrdigkelten durch ein
paar dieſem oder jenem Freunde geleiſtete Dienfte ver;
ſtecken. Welcher Raͤuber, welcher offenbare Verbre⸗
cher, der gegen: alle Geſehze der buͤrgerlichen Geſell⸗
ſchaft handelt, hat nicht einen Gefährten, eine Sipp⸗
ſchaft ſeines Gleichen, deren gluͤckliche Abentheuer
ihn ergoͤtzen, denen er ſelbſt mit Freude die ſeinigen
erzählt, die er als Freunde behandelt, und deren In—⸗
tereſſe er wie feimieigenes verfolge? Welcher Menfch
in der Welt ift unempfindlich ‚gegen:.die Schmeiche⸗
leyen und Lobſpruͤche feiner vertrauteſten Bekanten?
Haben nicht alle unſete Handlungen irgend eine Bes
ziehung auf. dieſen Tribut? Beſtimt nicht der Beys
fall der Freundſchaft oft unfer ganzes Betragen?
Sind wir nicht eiferfüchtig Darauf ſelbſt in Anfehung
unferer Lafter? Kommen fie nicht in Anfchlag bey
Der Peripective-des Ehrgeizes, bey den Fanfaronas
den der Eitelfeit „bey den DBerfchwendungen deu tw
zus, und felbft bey den Ausfchnieifungen einer uns
edlen Wohlluſt? Kurz, wenn fi die Beranüguns
gen eben forberechnen ließen, wie viele andere Dinge;
| ſo
wäßrend daft Jahrhundeh auf Mark, Ad
fo Fönte man ie daß die behden Quellen, die
Theilnahme an den Gluͤcke Anderer, und das Stre \
ben nach ihrer Achtung, wenigftens Reun Zehntel
alles deſſen ausmachen, was wir fin Leben Angeneh⸗
mes ‚genießen; ſo daß alſo von der ganzen Summe
unſerer Freuden: kaum ein Zebhntel übrig. bliebe,
was nicht unmittelbar aus Hefelligen Neigungen flöffe,
und nicht unmittelbar von unſeren natuͤtlichen Seil
mationen ayeirepe |
ik, H 330 *
Auch ſeinen zweyten * ermäßnten Haupiſatz,
daß die Heftigkeit der Neigungen in Beſſehung auf
das Privatiniereſſe den Menſchen ungluͤcklich mache
ſucht Dider ot umſtaͤndlich darzuthun. Alle Leidem
ſchaften, die mit dem Ptivatintereſſe und dor Ptivan
zkonomie eines Geſchoͤpfes zufattimenhänget;saffen
ſich auf folgende reduciren: Lebe zum Leben; Rache
‚gegen Beleidigungen; Uebe zu den Weibern und ans
deren Annehmlichkeiten Ber Sinne; Begierde nach
den Bequemlichkeiten des Lebens; Weneifer tif Ans
dern oder Liebe des Ruhmes und Berfalls; Een
oder Liebe der Behaglichkeit und Ruhe. In allen
Diefen Neigungen relativ zum individuellen Syſteme
* Menſchen ee das er und Die Sen
lie e.
J ET 1’ 3
Sind; diefe Afteetionen gemiäfige und werden
in gemifien Schranken gehalten ‚ ſo beeintrachtigen fie
an fich ſelbſt die bürgerliche Geſellſchaft nicht, und
find auch nicht mit der morälifchen-Tügend im’ Wider⸗
ftreite. Bloß ihr Uebermaaß iſt es, was ſie laſter⸗
haft macht. Das Leben boͤher ſchaͤtzen, als es werth
iſt, heißt feige ſeyn; zu lebhaft eine Beleidigun
u ‚beißt tachfüchrtg; feyn; das andere Geſchl
‚und
464. Geſchichte der neuen Philoſophie ru
und die, ſiunlichen Vergnuͤgungen zu ausſchweifend
lieben, .geißt ſchwelgeriſch und liederlich ſeyn; hab⸗
ſuͤchtig nad Reichthum trachten, heißt gelzig ſeyn 3
fi) bündlings der Ehre und dem, Beyfalle Anderer
aufovfern, heißt. ehrfüchtig und, eitel feyn z in der
Behaͤglichkeit fein Leben yertraͤumen beißt faul ſeyn.
Hier iſt der Grad, uͤber welchen hinaus die Neigun⸗
gen des Privarinterelle 6 den Gemeinwohle ſchaͤdlich
werden;.. und auch det Grad ihrer Intenſttat iſt es
welcher fie für Das Geſchoͤpf felbft verderblih macht. :
Ben nr: —W er Bra veoi eh
Koͤnte irgend eine. Neigung des Privatintereſſe ẽ
ber. Reihung zum allgemeinen, Wohle das Öleihger
wicht haften ‚ ohne der befonderen, Gluͤckſeligkelt. des
Geſchoͤpfs präjudicirlich. zu werden, fo. würde es ohne
alten: Widerſpruch die Liebe zum Leben ſeyn. Wer
follte aber glauben, daß es gleichwohl keine unter je⸗
nen giebt, die fo große Unordnungen, pervorbringen
und der Gluͤckſeligleit ſo verderblich werden koͤnte,
wie Riefet 000.40
Das dag Leben zuweilen ‚ein Uugluͤck ſey, it
eine allgemein anerkante Thatſache. Iſt ein Geſchoͤpf
fo.weit gekommen, Daß es aufrichtig ben, Tod wuͤnſcht;
ſo wuͤrde man es mit zu großer Haͤrte behandeln,
wenn man ihm befoͤhle, oder es zwaͤnge, noch läns
ger zu leben. Unter folchen Umſtaͤnden, obgleich
Religion, uud Vernunft den Arm des Menfcen. zu⸗
ruͤckbalten, und ihm nicht erlauben, feine Leiden zus _
gleich mir feinem. Leben zu beendigen, kann er doch
jede “honeite und plaufible” Gelegenpeit ohne Skru⸗
gel benußen, wobey er fich der Würde des Lebens ent
jedigen mag. . Unger: folden Umftänden, freuen ſich
die Verwandten und Freunde des Todes einer, —
a ”
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, | 465
fon, die ihnen theuer mar; hätte fie auch vielleicht
die Schwäche gehabt, fich der Gefahr entziehen, ‚und
ige Elend fo ſehr verlängern zu wollen, wie moͤglich.
Weil die Nothwendigkeit zu leben, zuweilen
ein Ungluͤck iſt; weil die Unannehmlichkeiten und
Schwaͤchen des Alters das Leben gemeiniglich zur Laſt
machen; weil es uͤberhaupt in jedem Alter ein Gut
iſt, welches das Geſchoͤpf zu einem hoͤhern Preiſe
zu erhalten ſuchen muß, als es werth iſt; ſo iſt klar,
daß die Liebe zum Leben oder die Furcht vor dem Tode
Jemanden von ſeinem wahren Intereſſe ableiten,
und ihn durch ihr Uebermaaß zu dem BETRETEN
Dach feiner felbft machen fann.
4 Wenn man indeflen auch a ; daß es —
Intereſſe des Geſchoͤpfs mit ſich bringt, ſein Leben
unter allen Umſtaͤnden und zu jedem Preiſe zu erhal⸗
ten; ſo kann man dennoch leugnen, daß es zur
Gluͤckſeligkeit desſelben gehoͤre, jene Leidenſchaft in
einem zu hohen Grade zu haben. Das Uebermaaß
leitet ſie von ihrem Zwecke ab, und macht: fie uns
wirkſam; was feines Beweifes bedarf. Denn was
iſt der Erfahrung nach gewoͤhnlicher, als daß: Je⸗
mand durch Furcht im die Gefahr geraͤth, vor: wel:
cher er floh? Was fann derjenige zu feiner Verthei⸗
digung und für feine Wohlfarth thun, der den Kopf
serloren har? Mun iſt aber gewiß, Daß das Ueber⸗
maaß von Furcht die Gegenwart des Geiftes aufhebt.
In Gefahren ift es nur Muth und Standhaftigfeit,
‘Die ung retten mögen. "Der Tapfre entgeht einer Ge⸗
‘fahr, Die er vorherſieht; aber der Feige ftürze fich
ohne Weberlegung und ‚ohne Gegenwehr in den Abs
grund, den feine Verwirrung ihm verbirge, und
\ - Buble's Geſch. d, Philof, VI.2. Ög “den
466 Gefchichte der neuern Philoſophie
den er hätte vermeiden fönnen, ſobald er mit Beſon⸗
nenheit handelte, ner |
Wären auch die Folgen jener Leidenfchaft nicht
ſo traurig, wie ſie bereits dargeſtellt ſind; fo kann
man doch nicht verkennen, daß ſie an ſich ſelbſt ver⸗
derblich iſt, ſofern es uns ungluͤcklich macht, feige zu
ſeyn: und ſo fern nichts bedaurenswerther iſt, al.
immer durch Geſpenſter nnd Schreckniſſe beunruhigt
zu werden, die denen uͤberall folgen, welche ſich vor
dem Tode fuͤrchten. Denn dieſe Furcht quält nicht‘
bloß bey wirffihen Gefahren, und da, mo unfer:
Los vor Zufalle abhängt; wenn einmal das Tempes
rament davon beberfcht wird, fo läßt fie nirgends Rus
he finden; man zittert in der ficherften Einfamfeit;
und in dem ruhigften Aufenthalt fährt man erſchrocken
aus dem Schlafe auf. Alles dient, diefe Leidenfchaft -
zu begünftigen; den Augen, welchen fie biendet, iſt
jeder Gegenſtand ein Ungeheuer; fie wirkt in ‚Dem
Augenblicde, wo Andere es am wenigften bemerfenz
‚fie äußere fich bey Gelegenheiten, die man am wenig,
ften vorherſah; es giebt Feine noch fü angenehm ‚eins
gerichtete Luftbarkeit, Feine noch fo angenehme Ges
nuͤſſe, feine noch fo wohlluͤſtige Vierthelſtunde, Die
fie niche ſtoͤren, verwirren, vergiften Fönte. Schaͤtzt
man die Gluͤckſeligkeit nicht nach dem Beſitze aller der
Vortheile, mit denen fie verbunden iſt; ſondern nach
‚der inneren Satisfaction, Die man dabey enipfindekz
fo ift nichts in der Welt ungflücklicher ; als eine feige °
furchtſame Ereatur.: Rechnet man nun zu allen dies
fen Inconvenienzen. noch die Schwächen und Mieders
teächtigfeiten, zu denen eine zu ausfchweifende Liebe
zum Leben verführt ;. bringt man afle Handlungen
Anſchlag, an weiche: man ſich nie ohne mm
I? LT ur era
3
#
waͤhrend d. ach. Sohrhund. b. auf Kant. 467
Aerger erinnert, wenn man ſie begangen hat, und
die man doch nicht zu begehen unterlaͤßt, ſobald man
feige iſt; erwaͤgt man die erbaͤrmliche Noth, unauf—
hoͤrlich aus ſeiner natuͤrlichen Ruhe herausgeſchuͤchtert
zu werden; ſo laͤßt ſich kaum ein ſo verworfenes Ge⸗
ſchoͤpf denken, das einiges Vergnuͤgen daran haben
koͤnte, um dieſen Preis zu leben, nachdem es ſeine
Tugend, feine Ehre, feine Ruhe, und alles aufges
opfert bat, was das Glück des Lebens ausmacht.
Eine ausfchweifende Liebe zum Leben ift alfo dem
soirflichen Intereſſe und der Glückfeligfeit eines Ges
schöpfes widerftreitenDd. |
Die Beglerde, Beleidigungen zu ahnden (le res-
fentiment) ift eine von der Furcht fehr verfchiedene Lei⸗
denjchaft; aber in einem gemäßigten Grade: ift fie
nicht minder nothwendig zu unferer Sicherheit, niche
minder nüßlih zu unferer Erhaltung. Die Furcht
bewegt uns, vor der Gefahr zu fließen; die Begiers
de,. Beleidigungen zu ahnden, flärfe ung dagegen,
und motivirt uns, jede Ungerechtigfeit, Die man fich
gegen ans erlaubt, jede Gemwaltchätigfeit, womit man
uns bedroht, abzuwehren. Es ift wahr, daß in -
einem tugendhaften Charafter, bey einer vollfomnen
Defonomie der Meigungen, die Bewegungen der
Furcht und der Rachbegierde zu ſchwach find, un Lei—
Denfchaften abzugeben. Der Brave ift vorfichtig,
ohne fich zu fürchten; und der Weiſe widerfegt fich,
oder ftraft, ohne fi zu erzürnen. Aber bey gemei⸗
hen Temperamenten Fönnen fih Klugheit und Muth
mit einem leichten Anfluge von Indignation und
Furcht vereinigen, ohne das Gleichgewicht der Nei⸗
gungen zu zerruͤtten. In diefem Sinne kann man
den Zorn als eine nothwendige Leidenfchaft betrachten.
m — Gg 2 Er
458 ' Gefchichte der neuern Phifofophie
Er iſt es, der durch die äußern Symptome, welche:
feinen erften Ausbrucd begleiten, einen jeden, der
etwa geneigt ſeyn möchte, den Andern zu beleidigen,
im Boraus ahnden läßt, daß fein Berragen nit uns
; geftraft bleiben werde, und ihn durch die Furcht, wel⸗
che dieſe Apndung erzeugt, von feinem böfen Vorfage
ablenkt. Er ift es, der ein beleidigtes Wejen wieder
aufrichtet, und es zu Repreſſalien anfeuert, Je vers
wandter er mit Wuth und Verzweifelung wird, Defto
furchtbarer wird er. Bey folhen Extremen giebt er
einem Menfchen Kräfte und eine Unerfchrockenheie,
deren man ihn gar nicht fähig gehalten haben würde.
Obgleich die Züchtigung und Buͤßung des Andern
fein Hauptzweck find, fo ift er doch auf das Privatins
tereffe des Weſens gerichter, und felbft auf das allges
meine Wohl feiner ganzen Gattung.
Aber auf der anderen Seite hat auch das Lebers
maaß der Rachbegierde, wenn fie in einen leidenfchafts
lichen Zorn übergebt, die ſchrecklichſten und gehaͤſſig⸗
ſten Folgen. Der Rachbegierige eilt, ſeinen Schmerz
in dem Uebel eines Andern zu erſticken; die Ausfüh:
rung feiner Begierde verfpricht ihm die hoͤchſte Wohl⸗
luft. Doc was ift dieſe Wohlluſt? Es ift die erfte
DVierthelftunde eines Werbrechers, nachdem er bie
Folter ausgeftanden hat; es ift die plögliche Aufhe⸗
bung feiner Qual, oder die Milderung derſelben, die
er von der Machficht feiner Michter oder der Ermüs
dung der Henferfuechte erlangt. Jene Verkehrtheit,
jenes Rafinement der Unmenſchlichkeit, jene eigen⸗
ſinnige erfinderiſche Grauſamkeit, die man bey mans
‚Ken Handlungen der Nachfucht bemerkt, find nichts
anders, als fortgefeßte Anftrengungen eines Unglück
lichen, der fich beſtrebt, fi ch vom Rade loszuwinden;
es
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 469
es iſt nur die Sättigung einer m die ſich — |
‚börlich erneuert,
Es giebt Menfchen, ben denen die ——
des Zorns nicht leicht entbrennt, wo ſie aber um deſto
ſchwerer aufhoͤrt, wenn ſie einmal entbrannt iſt. Hier
iſt der Geift der Rache eine fchlafende Furie, die,
wenn fie einmal erwacht ift, nicht eher nieder ruht,
als bis ihr ein Genüge gefcheben if. Dann ift ihr
‚Schlaf um fo tiefer, ihre Rube feheine um fo’ fanfter,
se größer die Unruhe, je drückender die auf ihr lies
"gende taft war, von der fie fich befreye fühle. ’ "Wenn
"man in der Spräde der Galanterie den Genuß des
"geliebten Gegenftandes das Ende der Leiden’ des tier
benden nennt; fo laͤßt fich diefe Medensart in einer
“ganz anderen Bedeutung auf den Nachfüchtigen ans
Wenden. Die teiden der Liebe find angenehm und
ſchmeichelhaft; die Leiden der Rache find nur graus
ſam. Dieſer Zuſtand iſt nur das Gefuͤhl eines tief
eingreifenden Elends; eine bittere Empfindung, deren
Galle durch nichts gemildert wird. Kine Aeuſſerung
Diderot's uͤber die Rachſucht will ich mit ſeinen
eigenen Worten hinzufuͤgen: Quant aux influences de
cette paſſion fur Pesprit et fur le corps, et à ſes
funeſtes fuites dans les differentes conjondlures de la
"vie, c’eft un detail, qui nous meneroit trop loin.
D ailleurs nos Miniftres fe font empares de ces mora-
litẽs analogues & la Religion, et nos facres Rheteurs
‚en font retentir depuis fi long tems leurs Chaires et
"nos Temples, que pour ne rien ajouter à la Satiete
du genre humain, en anticipant ſur leurs droits,
"nous n’en dirons pas davantage.
Waͤre es wahr, Daß der befte Theil der Freu⸗
den des Lebens in den Vergnuͤgungen der Sinne be⸗
Gg ſtehe;
470 Geſchichte der neuern Philoſophie
fiehe; wäre diefes Vergnügen mit äußern Objecten
auf eine folche Art verbunden, Daß diefe jenes Durch
ſich felbft hervorbraͤchten, und immer angemefien ihrer
Quantitaͤt und ihrer Kraft; fo würde es ein unfehlba⸗
xes Mittel zur Gluͤckſeligkeit ſeyn, ſich reichlich mit
jenen koͤſtlichen Dingen zu verſehen, die zur Ölückfes
Tigfeit nothwendig find. Allein man mag.die Borftels
Jung, eines wohllüftigen Lebeus fo-fehr ermeitern, wie
man will; alle Quellen und Hülfsmittel des Ueberfluffes
werden nie binreichen, unferm Geifte eine wahre und
Dauernde Gluͤckſeligkeit zu verfchaffen. Wie leicht man
‚auch die Annehinlichfeiten der Sinne vervielfaͤltige, ins
dem man fich Alles erwirbt, was den Sinnen ſchmei⸗
cheln faun; Alles ift verlornes Gut, wenn irgend ein
Fehler in den innern Organen - und Fabigkeiten des
Menſchen, irgend ein Mangel in der natuͤrlichen
Diſpoſition den Genuß verdirbt und verleidet.
| Man bemerkt, daß diejenigen, welche ſich durch
ihre Unmaͤßigkeit den Magen verderben, darum nicht
weniger Appetit haben; allein es iſt ein falſcher und
kein natuͤrlicher Appetit. Er iſt ſo, wie der Durſt
‚eines Betrunkenen oder Fieberkranken. »Die Befrie⸗
digung des natuͤrlichen Appetits, des wahren Durſtes
und Hungers uͤbertrifft unendlich allen ſinnlichen Ge⸗
nuß unſrer gelehrteſten und verfeinertſten Petrone.
Es iſt gar nicht ungewöhnlich von Perſonen, die ans
fangs ein arbeitfanes wuͤhſeliges Leben fuͤhrten, einen
einfachen und frugalen Tiſch, zu hören, daß fie miss
ten. im Ueberfluſſe des Reichthums, zu dem fie ges
langt waren, und der luxurioͤſen Schwelgeren, wels
cher fie fich überließen, ‚den Appetit und die Gefunds
beit zuruͤckwuͤnſchen und fchmerzlich vermiffen, deren
fie ih in ihrem vorherigen aͤrmlichen Zuftande erfreu⸗
ten. Wenn der asus Gewalt angethan wird, wenn
man
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. a71
man den Appetit erzwingt, und die Sinne zum Ge⸗
nuſſe zw. ſehr anſtrengt; fo verliert ſich die Delikateſſe
der Organe. Dieſer Mangel verdirbt hernach die
ausgeſuchteſten Gerichte, und die Gewohnheit raubt
bald allen ſolchen Genuffen ihren Reiz. Der. Efel
amd Weberdruß, von allen Genfationen die widrigs
ften, verlaffen die Unmäßigen niemals. : Anſtatt der.
ewigen Fottdauer hoher Sinnenfreuden, welche die
Schmelger von ihrem $urus erwarteten, erndten fie
nichts. als Schwächen, Kranfheiten, Lnempfindlich:
feit Der Organe, und gänzliche Unfähigfeit zum Sen
Ä gnuͤgen uͤberhaupt.
Wer das Gluͤck gehabt hat, von ſeiner frͤhen
Jugend an zu einer natuͤrlichen Lebensweiſe, zur Maͤ—
Bigfeit und Frugalitaͤt gewoͤhnt zu werden, und vol⸗
leuds wer eine gewiſſe Anlage bat, ſich vor Auss
ſchweifung in der Wohlluft zu hüten, hat auch feinen
Appetit durchaus in der Gewalt. Aber diefer Sclave,
eben weil er ihm unterwuͤrfig ift, dient er defto beſſer
. dem Vergnügen desſelben. Gefund, munter, voll
Kraft und Thpätigfeit, die ipm Unmäßigfeit und Miss.
brauch nicht benommen haben, verrichter er um fo
eber und leichter alle feine Geſchaͤffte. Könte oder
wollte man auch bey zwey Menfchen Feine andere
Verfchiedenheit der Organe und der Genfationen ans
nehmen, als die eine unmäßige oder frugale Lebenss
weife bey ihnen bervorbringen möchte; und wäre es
möglich, durch Erfahrung die Summe des VBergnüs
gens zu vergleichen, Dag der eine und der andere in
feinem Leben. genofjen hätte; fo würde ohne Zweifel,
ohne Rückficht auf die Folgen, bloß in Betracht des
wahren Sinnengenuffes, das Mefultat zum VBortheile
des mäßigen und tugendhaften Menfchen ausfallen.
©34 . Den
Be v7 on
472 Geſchichte der neuern Philoſophie
: Dem Schaden abgerechnet, welchen Schwelgerey
und Wohlluft der Geſundheit des Körpers zufügen ;
der Schaden, den der Geift dadurch leider, ift nody ,
größer, obgleich er weniger gefürchtet wird, Gleiche
gültigfeit gegen alle höhere Bervollfomnung, ein elens
des Verbringen der Zeit, Indolenz, Weichlichfeit,
Trägheit, und die Aufregung einer Schaar anderer
teidenjchaften, die der entnervte, ftupide, thierifch
gewordene Geift weder die Luft, noch die Kraft und
den Much bat, zu beberfchen::. das find die rei
MWirfungen jener Ausſchweifungen. —
Nicht minder evident ſind die Nach theile der
| Unmäßigfeit für die Gefellfchaft, fo wie im entgegen⸗
geſetzten Falle die Vortheile der Maͤßigkeit für Dies
felbe. Unter allen geidenfchaften übt Feine einen fo
ia Defpotismus über ihre Sclaven aus, wie
efe. Kein Tribut mildert ihre Herrfchaft; je mehr
man ihr einraͤumt, je mehr fie fodert. Die natürliche
DBefcheidenheit und Ingenuitaͤt, die Ehre und die
Treue, find ihre erften Opfer. Es giebt feine andere
‚ unregelmäßige Meigungen, deren ungeftüme Launen
fo viel Stürme erregen, und ein Geſchoͤpf auf einem
gradern Wege in’s Elend ſtuͤrjen.
Die Habſucht hat zum Zwecke den Beſitz von
Reichthuͤmern und Gluͤcksguͤtern, und was man im
gemeinen Leben einen Stand (etat) nennt. Soll ſie
der Geſellſchaft nuͤtzlich und mit der Tugend vertraͤg—
lich ſeyn, fo darf fie feine unruhige Begierde erzeu—
gen. Die Induſtrie, welche die Opulenz der Fami—
lien und die Macht der Staten bewirkt, iſt die Toch—
ter des Intereſſe's. Aber wenn das Intereſſe in
| ehem MON zu beige wird, fo leiden feine
beſou⸗
#
*
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 473
befondre Wohlfarth und auch das gemeine Wohl dats
anter. Das Elend, das an ihm nagt, wird -unaufs
börlich Die Ungerechtigkeit, rächen, die er der Gefells
Schaft anthut; denn graufamer noch gegen ſich ſelbſt,
als gegen das menſchliche Geſchlecht, ift der Geuis⸗
das eigene — ſeines Gries,
Darin iſt auch —— einſtimmig, daß
Geiz und Habſucht zwey Geißeln des Menſchen ſind.
Man weiß uͤberdem, daß wenig Dinge zur Gubfis
‚ftenz und zum Bedürfniffe des Menſchen hinreichen,
"and daß die Zahl der Bedürfniffe ſehr Fein feyn wuͤr⸗
de, wenn man .der Frugalität erlaubte, fie zu bes
fchränfen; daß man aljo auch mit der Hälfte der Ars
beit, Sorge, Induſtrie, Die man zum Luxus und zue
Verfhwendung braudt, ein Leben der Mäßigfeit
führen Fönne. Wenn aber die Mäßigfeit vortheilhaft
iſt; wenn fie zu unferm Gluͤcke beytraͤgt; menn ihre
Früchte angenehm find; welches Elend ziehen nicht -
die entgegengefeßten. Leidenfchaften nach fih? Was
für Unruhe muß nicht ein Menfch empfinden, der uns
aufhoͤrlich von Begierden gequält wird, die feine
Grenzen fennen weder in ihrem Weſen, noch in der
Natur ihrer Gegenftände? Denn bey welchen Puncte
koͤnten fie ftehen bleiben? Giebt es in der Unermeßlich⸗
feit von Dingen, welche jene Begierde reizen, irgend
Erwas,. was dem Wunſche unzugänglih wäre?
Welcher Damm läßt fih der Wuth zu fammeln,
‚Einfünfte auf Einfünfte, Reichthuͤmer auf Reichthüs
mer, zu häufen, entgegenfeßen.? u
Daraus entfpringt in dem Geizigen jene Unruhe,
die durch Nichts beſchwichtigt wird. Nie wirklich
eig duch feine Schäße, ſtets arm durch feine. Bes
Gg5 gier⸗
474 Geſchichte der neuern Philoſophie
gierde nach mehrern, findet er keinen Genuß in dem,
was er wirklich beſitzt, und verdorrt gleichſam den
Blick auf das geheftet, was ihm fehle, Vom Durſte
nach: Ehre: oder Reichthume verzehrt werden, beißt
—— nicht genleßen. |
Die Unordnungen , wilde —— die Eher
fucht im Privatleben und in der bürgerlichen Gefelle
Schaft verurſacht, fi ind allgemein befant, Wenn die
. Ktebe zum Ruhme einen edein Wetteifer uͤberſchreitet -
wenn dieſer Enthuſiasmus über die Schraufen fogar.
der Eitelfeie hinausgeht; wenn. das Beſtreben, ſich
unter ſeines Gleichen hervorzuthun, in einen unbe⸗
grenzten Hochmuth ausartet; fo kann dieſe Leidens
fchafe die Urſache aller moͤglichen Uebel werden. Be⸗
trachten wir die Vorzüge beſcheidener Charaktere und
ruhiger Seelen; verweilen wir beym Anblicke der
Gluͤckſeligkeit und - Sicherheit, die demjenigen nie vers
‚läßt, weicher fich innerhalb feines Standes zu halten
weiß, fich mit dem Range beguügt, den er in der
Geſellſchaft bat, alle mit feiner Lage verbundene Uns
bequemlichkeiten zufrieden erträgt ; fo wird ung nichts
vernünftiger. und heilfamer fcheinen, als eine ſolche
Gemuͤthsſtimmung. Wenn in einer Seele aber die
Begierde nach Hoheit und Größe ungeftüm wird, und
fie zu beherſchen anfängt; fo muß zugleich eine vers
haͤltnißmaͤßige Abneigung gegen die Mittelmäßigfeit
‚des Staudes und Ranges entftehen. Dun wird der,
Menfch dem Argwohne und der Eiferfucht zur Beute;
“er ift immer von dem Mislingen feiner Plane, vor.
ungünftigen Zufällen beforgt; er ift immer den Ger .
fahren und der Mortificarion demüthigender abfchläs
giger Antworten feiner Obern ausgefeßt. Die unots
— Begierde sum —5 zu Cprenftelieh ; zu
einem
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Sant. 475
einem glänzenden Etat, vernichtet folglich alle Ruhe
und Sicherheit in der Zufunft; vergiftet jeden gegens
wärtigen Genuß, jede gegenwärtige iuchamuichtent.
+; Den Agitationen des Shrfüchtigen pflegt man
gewoͤhnlich die Indolenz und Traͤgheit gegen uͤber
zu ſtellen; allein dieſer Charakter ſchließt weder den
Geiz, noch die Ehrſucht ans; nur nit dem Unter—⸗
ſchiede, jener ſchlaͤft in ihm, und dieſer iſt ohne Efr
fect. Jene lethargiſche Leidenfchaft iſt eine uͤbermaͤ⸗
ßige Liebe zur Ruhe, welche der Seele den Muth
taubt, den Verftand abſtumpft, das Gefhöpf zu Ans
ſtrengungen unfähig macht, indem fie in den Augen
‚besfelben die Schwierigkeiten vergrößert, mit deuen
der Weg zu Reichthume und Ehre überfäet if. Der
"Hang zur Ruhe iſt weder minder natürlich, noch mir:
Der nuͤtzlich, als die Luft zu fchlafen ; aber eine bes
ſtaͤndige Schlaͤfrigkeit wuͤrde dem’ Körper nicht ver;
‚derblicher ſeyn, als eine allgemeine Abneigung vor
Gefchäfften es dem Geiſte ſeyn würde,
Wie wohlthaͤtig und nothwendig die koͤrperliche
Bewegung der Geſundheit ſey, kann man aus dem
Temperamente eines Menſchen abnehmen, der zur
Arbeit gewöhnt ift, und eines ſolchen, der nie eigent:
lich gearbeitet hat; oder aus der männlichen und ftats
ken Eonftitution eines Durch Arbeit abgebärteten Koͤr⸗
pers, und der weibifchen Complexion jener Automate,
Die- auf weihen Pflaume erzogen wurden, Die
Faulheit äußert aber ihren Einfluß nicht bloß auf den
Körper. Indem fie" die Organe verdirbt, fehwächt
“fie die finntichen Vergnuͤgungen; von den Ginnen
pflanzt fi das Verderbniß auf den Geift fort; und
bier iſt es, wo fe die vornehmfte Berwüftung an⸗
rich⸗e
‚476 Gefchichte der neuern Philofophie
richtet. Mur nach einiger Zeit empfinder die Maſchi⸗
ne eines Menſchen erft die Wirfungen des Muͤſſiggan⸗
ges; die Indolenz f[hlägt die Seele nieder, indenz
fie dieſelbe ganz einnimt; es bemächtigen fich ihrer
Aengftlichfeiten, Verwirrung, Langeweile, Ueber⸗
druß, Edel und üble Laune; und diefe melancholis
{hen Gefährtinnen find es, welche zuletzt den BR
fggänger begleiten, und nie verlaſſen.
i Was aber das Privatinterefje eines faufen Mens
fen betrifft, wie ſehr wird diefes nicht ‚gefährdet?
Bon Gegenftänden, und Gejchäfften umgeben zu feyn,
die Aufmerfjamfeit und Sorgfalt erfodern, und ſich
nun zu dieſer Aufmerffamfeit und Sorgfalt ſchlecht⸗
hin unfähig fuͤhlen; welch' ein Zuſtand! Welch”
eine Menge von Inconvenienzen, ſich ſelbſt nicht
helfen zu koͤnnen, und doch oft fremde Huͤlfe zu vers
miffen! Dies ift die Situation eines Indolenten,
der nie andere Perfonen cultivirte, und der gleich
wohl Andere um fo nöthiger bat, da er bey der Uns
wiſſenheit aller Pflichten der bürgerlichen. Gefellfchaft,
die fein Lafter verfchuldere, fich felbft völlig. unnäg iſt.
Aus diefer Charafteriftif. der Neigungen ı des
Privatintereffe, und der Inconvenienzen ihrer zu.gros
gen Heftigkeit erhellt aljo überhaupt genommen, daß
das Uebermaaß derfelben der menfchlichen Gluͤckſelig⸗
keit widerftreitet, und daß fie einen durch fie verderbs
ten Menfchen in wirfliches Elend ſtuͤrzen. Ihre
Herrſchaft wächft immer nur auf Koften unferer Frey⸗
‚ heit, und durch ihre enge und befchränfte Sphäre fets
zen fie den Menfchen der Gefahr aus,. eine nieders
teächtige und ſchmutzige Denfart anzunehmen, die
* allgemein verachtet und verabſcheuet wird.
I | Nichts
während d. achtz. Jahrhund. 6. auf Kant. 477
Nichts iſt daher an ſich ſelbſt verwerflicher, und trau⸗
riger in ſeinen Folgen, als den Leidenſchaften des
Pivatintereſſe's ein zu geneigtes Gehör zu geben,
ein Sclav derfelben zu feyn, fein Temperament ihr
ter Diferetion , und fein Betragen ihren er .
zu uͤberlaſſen. |
Ueberdem bringt das unbedingte Verfolgen des
Privatintereſſe s bey einem Menſchen eine gewiſſe Ver⸗
ſchmitztheit im Handel, etwas Betriegeriſches und Ver⸗
ftelltes in feinem Benehmen hervor, wobey die natürliche
Ehrlichkeit und Einfalt, die Auftichtigfeit, Die Frey⸗
müthigfeit und Biederkeit verloren geben. Auch das ges
genfeitige Vertrauen unter den Menfchen hört dadurch
änzlih auf; Neid, Argwohn, Eiferjucht, verviels
fältigen fi in’s Unendliche; mit jedem Tage eneftes
ben immer mehr neue egoiftifhe Entwürfe, während
die Hinfiht auf das allgemeine Beſte immer mehr
verfhwinde.e. Man bricht unmerflih mit feines
Gleichen, und in diefer Entfernung von der bürgers ⸗
lichen Gefellfhaft, die das engherzige Intereſſe zur
Seine bat, betrachtet man nur mit Verachtung die
ande, welhe uns noch daran fefleln. Alsdenn
wird der Menfch auch darauf hinarbeiten, jene im»
portünen Neigungen zum Schweigen zu bringen, und
bald, fie ganz auszurotten, deren Stimme im Ins
nern der Seele nicht aufhört, und uns das allgemeine
Wohl der Menfchheit als unfer wahres Intereſſe zur
Pflicht macht. Dies heiße: Man wird alsdenn aug
alten Kräften ſich bemühen, völlig unglücklich zu
werden.
| Itzt ftellt Diderot noch eine furze Mufterung ders
jenigen teidenfchaften auf, er fich weder auf das allge:
meine
I
478 | Gefchichte der neuern Philoſophie rn
meine- Wohl, noch auf das-Privatinterefie beziehe.
und weder der Geſellſchaft, noch dem Individůnm
vortheilhaft nd. Sofern fie den geſelligen und. ‚nase,
türlichen Neigungen entgegengefegt find, nennt fie
uͤberfluͤſſige und unnatürliche Neigungen. *8*
Zu dieſer Gattung gehoͤren das grauſame Ver⸗
gnuͤgen, welches manche Menſchen au Hinrichtun⸗
gen Andrer, an Qualen, Ungluͤcksfaͤllen, Blutver⸗
gießen, Metzeleyen, Verwuͤſtung und Zerſtoͤrung
finden. Es war dies zuweilen die herſchende Leiden⸗
ſchaft von ‚Tyrannen und barbariſchen Nationen.
Menfchen, die der Feinheit der Sitten und Maniez
ren, welche der Rohheit und Brutalität vorbeugt,
und eine gewiffe Achtung gegen die Menfchheit. ers
hält, entjagt haben, find ihr unterworfen... Sie
zeigt fid) auch da, wo es an Sanftmuth und teurfeligs
feit gänzlich fehlt. Alles, was man gute Erziehung
nennt, verbietet jede Inhumanitaͤt und jedes barbas
rifche Vergnügen. An dem Unglücfe eines Feindes
Wohlgefallen finden, ift eine Wirfung der Animos
fität, des Hafles, der Furcht, oder irgend einer ans
deren eigennüßigen Leidenſchaft. Aber fih an der
Noth und Qual eines uns gleichgültigen Weſens ers
gößen, fie habe in ihm felbft ihren Grund oder außer
ihm, jenes Wefen fey von derfelben Gattung oder
von einer anderen, fey Freund oder Feind, befant
oder unbefant; die Augen neugierig an feinem Blute
und feinem Todesfampfe weiden; Diefer Hang fegt
fein Sutereffe voraus; er ift monfrös, a
und unnatürlich.
..,. Ein 6wacher Anflug diſet Reigung iſt die boss
haſte Freude an der, Verlegenheit Anderer. Mer die
— | Natur
waͤhrend d. achtz. Jahrhund;-6. auf Kant: 479
‚ _ Matur.diefer Gemuͤthsſtimmung nur ein wenig fennt,
wird. fich nicht über die ſchlimmen Folgen vermunderı,
‚welche fie bat. Vielmehr wird er in Verlegenheit
ſeyn, zu erflären, durch welches Wunder ein Kind,
das. unter den Händen der Frauenzimmer gewöhnt ift,
fi an der Berlegenheit und Unruhe Anderer zu erz
goͤtzen, Ddiefen Gefhmac im reifern Alter verliert, °
und fich niche damit bejchäfftige,. Uneinigkeit in der
Familie zu ſtiften, Zaͤnkereyen unter ſeinen Freunden
zu veranlaſſen, und ſelbſt zu Empoͤrungen in der buͤr—
gerlichen Geſellſchaft Veranlaſſung zu geben. Aber
gluͤcklicherweiſe hat doch jeye Neigung feinen Grund.
in der menſchlichen Natur; daher fie auch im Ganzen
feltener vorfomt. — 2
| Zu der Claſſe der. Neigungen, von ‚welcher: hier
die Rede ift, gehört auch der Menſchenhaß (Mifans
cthropie); eine Art, von Abneigung gegen ihre, Mir:
menſchen und die Gefellfchaft, die in gewiflen Perfos
nen .berfchend wird. Gie. wirft. mächtig bey Allen,
‚denen eine uͤble kaune zur. Gewohnheit gewarden ift,
und die durch eine böfe Natur und fchlechte Erziehung -
‚eine folche Rufticitäe in den. Manieren und Härte ii‘
den. Sitten angenommen haben, daß der Anblick je—
:des- Fremden fie beleidigt. Das menfchliche Ger
ſchlecht enthaͤlt viel folcher Menfchen von ſchwarzer
‚Galle (arrabilaires). Der Haß ift. immer die erfte
Triebfeder diefer Gefinnung. Zumeilen ift die Krank;
‚beit des Temperaments epidemifch; bey wilden Tas
tionen ift fie gewöhnlich, und macht eines der vors
‚nehmften Merkmale der Barbarey aus. Man fann
fie gleichfam. als die Mückfeite (revers) jener edelmuͤ—
‚thigen Neigung anſehen, die bey den Alten unter dem
Namen der Hoſpitalitaͤt belant war: einer Tugend,
Die
430 Gefchichte der neuern Philoſophie
die eigentlich nichts atıders als die allgemeine. Liebe der
Menſchheit iſt, welche ſich in der Dienſtfertigkeit und
Gefaͤlligkeit gegen Fremde aͤußerte.
Die Undankbarkeit, die Verraͤtherey, firenge
genommen, hält Diderot für bloß negative Lafterz
fie drücken feine beftimte Neigung aus; ihre Urjache
ift eben fo unbeſtimt; fie entfpringen aus der Incon⸗
ſiſtenz und Unordnung der Neigungen überhaupt,
Mach diefen bisher von Diderot entwidelten
Megeln hat alfo die ewige Weisheit, die das Univers
fum regiert, das beſondere Intereſſe eines Geſchoͤpfes,
namentlich des Menſchen, mit dem allgemeinen Woh⸗
le ſeiner Gattung verbunden; ſo daß er das eine nicht
durchkreuzen kann, ohne ſich von dem andern zu ent⸗
fernen; noch feines Gleichen ſich entziehen kann, oh⸗
ne ſich ſelbſt zu ſchaden. In dieſem Sinne kann man
von dem Menſchen ſagen, daß er ſelbſt ſein groͤßter
Feind fen, weil ſeine Gluͤckſeligkeit in feiner eigenen
Hand iſt, und er nur dann dieſer verluſtig gehen kann,
wenn er das Intereſſe der Geſellſchaft und des Gan—
zen, von welchem er einen Theil ausmacht, aus dem
Geſichte verliert. Die Tugend, die anziehendſte al⸗
ler Schoͤnheiten, ja die Schönheit ſelbſt vorzugswei⸗
ſe, die Zierde und Grundlage der menſchlichen Ver⸗
Bindungen, die Stuͤtze der gemeinen Weſen, das
Band des Handels, Verkehrs und der Freundſchaft,
die Gluͤckſeligkeit der Familien, die Ehre der Voͤl⸗
fer; die Tugend, ohne welche Alles, was milde, an⸗
genehm ; groß, 'glänzend, und ſchoͤn fcheint,: "in
Nichts verfchwindetz die Tugend. endlich ‚” dieſe
Wohlthaͤterin der gefaimten bürgerlichen Geſellſchaft,
und des ganzen: menſchlichen Geſchlechts, macht. alfo
— | | auch
..
während d. achtz Jahrhund. b. auf Kant. 482
auch‘ das reelle und gegenwaͤrtige Gluͤck jedes Ges
ſchoͤpfes Insbefondre aus. Der Menſch Fann alfo nur
Durch die Tugend glücklich, und nur in Ermangelung
derſelben unglüctih jeyn. Die Tugend ift alfo ein
Gut, das tafter ift ein Uebel der bürgerlichen Geſell⸗
Schaft und jedes Mitgliedes, aus welchem — be⸗
ſebt.
Unter dem Titel Code de Ja Nature. eriſtitt noch
ein anderer intereflanter Auffaß von Diderot, wor»
in er. furg ein Syſtem dee Politik nach feinen
Prineipien entwickelt, wie er es in einem Lehrgediche
te unter dem Titel Bafiliade, und zwar in Form
einer Epopoe, Darftellen wollte. Aber wie fann
fich ‚möglicherweife, wird man fragen, ein folder
Stoff zu einer Epopoe eignen? Diderot bat diefe
Frage bey den Meiften feiner -tefer im Voraus geahns
der, und fie daher auch vorläufig zu beantmorten ges
ſucht. Dee Held der. didaktifchen Epovve ift Der
Menfch feibft gebilder durch die Lehren der Natur,
und. mittelft diejer ‘Bildung die Fundamente aller der
Vorurtheile zerſtoͤrend, die ihn gegen die Stimme
jener liebenswuͤrdigen Geſetzgeberin taub macht.
Durch den Schiffbruch der ſchwimmenden
Inſeln (Naufrage des isles flottantes) bezeichnet er
allegoriſch das Schickſal der meiſten Irrthuͤmer, Thor⸗
beiten und Frivolitaͤten, welche die Vernunft verdun⸗
leln und verwirren.
Diderot wirft hier das Problem auf:: Wie
‚ findet man eine Situation des Menfchen , in melcher
es ihm beynabe unmöglich wird, verderbt, oder böfe
zu werden, oder die wenigſtens unter allen ungünftt:
gen Situationen für die Moralitaͤt noch die günftiafte
Buble'e Geſch. >. — Vi D. Hh iſt?
482 Gefchichte der neuern Philsfophie
iſt? Die Altern Gefeßgeber und Politifer, da’ fie- die
Loͤſung dieſes Problems verfeldten, haben auch die
erfte und einzige Urfache aller Uebel überfehen, weiche
die Menjchheit drücken, fo wie auch das einzige evi⸗
dente Medium, wodurd fie ihren Irrthum hätten
erfennen koͤnnen. Die neuern Polttifer nach ihnen
haben fih noch welter von der urfprünglichen Wahr⸗
heit entfernt, um den wirklichen Urfprung, die Natur
und Verkettung der Lafter einzufehen und die Untaugs
lichkeit der Mittel, welche die gemeine Moral dages
gen anraͤth. Sie hätten ſehr leichte mit Hülfe dieſer
Einficht die Schulmoral decomponiren, das-Falfhe
Ihrer Hypotheſen, die Unwirkſamkeit ihrer Borfchrifs
ten, die Contrarieräten in ihren Maximen, die Unver⸗
träglichfeit der Mittel mit den Zwecke, furz die ein⸗
zelnen Mängel jedes Theils diefes monftröfen Ganzen
darthun fönnen. Kine‘ folhe Anatyfe, wie’ die der
mathematiſchen Aequationen, indem fie das Falſche,
Das Zweifelhafte, befeitigte und verſchwinden machte,
hätte endlich das Umbefante hervorgehen laſſen,
eine Moral, dje der deutlichften Demonfttarion
wahrhaft räbig geweſen waͤre.
Ben Befolgung diefer Methode glaubre Dis
derot entdeckt zu haben, das die Weiſen aller Zeit,
um eine Berfchlimmerung der Meufchen zu heilen, die
ſie unſchicklich für ein fatales. Erbiheil der Menſchheit
hielten, fich einbilderen, die Schwäche der Menfchen
fey da zu ſuchen, wo fie nicht eriftirte, und daß fie
Diefen Wahn, dem Gifte gleich, zur Arzney gegen das
Uebel brauchten, deſſen Urfache es ſeyn ſollte. Kei—
ner jener Philoſophen iſt auf den Verdacht gerathen,
daß jene Urſache des Verderbniſſes der Menſchen ge⸗
rade seine ihrer erſten Belehrungen war. Vielmehr
| waͤhrend d. act; Zohthundet bi AR 483
nahm; fie an, daß bevor der Menfch das Sicht er⸗
blickte, er ſchon in ſeiner Bruſt den traurigen Samen
des Verderbniſſes trug, Das ihn fein Gluͤck auf Kosi
ſten feiner Gattung, und Des ganzen Univerfum’ 8,
ER wiguch waͤre, ſuchen laͤßt.
Aus der Selbſiliebe machen die Moraliſten z. B
eine Hydra von Laſtern mit hundert Koͤpfen, und in
der That iſt fie es auch durch ihre eigenen Vorſchrife⸗
ten. gemprden.- Was iſt jedoch dieſe Selbſtliebe in
der Ordnung der Natur? Ein beſtaͤndiges Streben,
feyn- Daſeyn zu erhalten, Durch die leichten und uns!
ſchuldigen Mittel, welche die Borfehung uns in die.
Gewalt gab, und. zu welchen eine ſehr Feine Zahl
von Bedürfniffen uns. rieth unfere Zuflucht zu nehmen,
Aber feitdem die Moraliften jene Mittel mit einer Men⸗
ge faft unüberfteigliher Schwierigfeiten uingeben haben,
ſelbſt mir drohenden Gefahren, und Dadurch der Nas
tur gleichſam den Krieg anfündigten; hatte man bier
Urfache darüber zu erfiaunen, wie eine friedliche Deis .
gung wuͤthend, der furchebarften Ausſchweifungen
fähig werden, und die Nothwendigkeit erzeugen fonte,
mehrere taujend Jahre mit eben fo viel Arbeit als: ges
ringem Erfolge danach zu fireben, daß man das Ue⸗
bermaaß jener Neigung minderte, und ihre Verirrun⸗
‚gen verbefierte? War es zu vermundern, daß jene
unſchuldige Getbftliebe ſich in alfe-Lafter verwandelte;
gegen welche: die Moraliſten ige vergeblich decelamiren,.
oder daß fie Die Maſke erfünftelter Zugenden annahm⸗
die 3 Di Wiosalifien: — wollten;
Dar 7 N} | 6 I une
De cwaurigen Moral, den. Poitofepketdasfe iſt es
ins eigentlichen Verſtaude zuzuſchreiben; daß die"ges;
— Etzie hung von der en Kindheit an ae
434 Geſchichte der neuern Philoſophie
Aufruhr im Herzen der Menfchen erregt, deſſen man
faͤlſchlich die Natur befchutdigr " Der erſte Gebrauch,
den ein Vater von den Regeln der: gewoͤhnlichen
Schulmoral macht, um feine Kinder zu bilden, bes
wirft zugleich die farale Epoche,’ mo in den Kindern
der Geiſt der Ungelehrigfeit, des Widerfiandes, hef⸗
siger Leidenfchaft erwacht. Iſt diefer Widerſtand eine
Schuld der Narur? Gewiß nicht. Es iſt nichts weis
ter, als eine legitime WVBerrheidigung ihrer Rechte,
- Wenn ein einfältiger Wilde als Vater in den Mits
teln irrte, zur Polizirung feiner Familie und zur Er⸗
haltung des Friedens in derfelben ; wenn die Einrich⸗
sung, Die er für diefen Zweck traf, fehlerhaft war,
fo waren die hieraus folgenden Ineconvenienzen ans
fange nicht von Belange. Aber die Reformatoren
Des Menfchengefchlechts , die von diefen Inconvenien⸗
zen Der Mängel jener Polizey hätten unterrichter ſeyn,
die Urſachen davon hätten bemerfen, Die Wirkungen,
Die gefährlichen Folgen derfeiben hätten einfehen fols
Ien, find niche zu entſchuldigen, dag fie die Irrthuͤ⸗
ner roher Vorzeit adoptirten, ihren FZortfchritt begüns
fligten, und fie nebft den Nationen vervielfältigtem,
deren Statsverfaffung fie als Regeln vorgeſchrieben
Ban:
we Dideror ſhider nun weiter den Zuſtand des
Menſchen, da:er:erft aus der Hand- der Natur her—⸗
vorgieng, und was dieſe that, um ihm zur Gefelligs
feir vorzubereiten. Der Menfch hat nach ihm weder
Ideen, noch Neigungen, die augebohren wären. ;
Der erfte Augenblick feines Lebens drückt. die ents
ſchledenſte Gieich guůͤltigkeit (indifference) aus, ſelbſt
in Anſehüng feiner eigenen Exiſtenz. Ein blindes
ce das wvoͤllig ieh iR, laͤßt ihn zuerft —
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 485:
Diefer Indifferenz herausgeben. - Ohne fich weiter
über Das: Detail der. erften Dbjecte zu verbreiten, die:
Den Menfchen der. chierifchen Schläftigfeit entziehen,
noch über die Art, wie diefes gefchieht, braucht manı
nur zu bemerken, daß die Bedürfuiffe des Menſchen
ihn nach und nach aufwerfen, ihn auf feine Erhals
tung aufmerffam machen, und daß die erften Objerte
feiner Aufmerkſamkeit ihm auch die erften Ideen ges
währen: .: Weislih har die Natur unfere Bedürfs
niſſe dem allmähligen Anwachſe unferer Kräfte ges
mäß eingerichtet. : : Hernach, indem fie die Zahl unfes
ver. Bedürfniffe für.den übrigen Theil Des Lebens, ſixir⸗
te, hat fie es auch fo angeorduer, daß fie immer uns
etwas Die Grenzen unfers: Vermögens überftiegen:
* Pe au vage fie ſehr gute Gründe
te
Faͤnde der Menſch gar keine — um
ſeinen Beduͤrfniſſen genug zu thun, ſo wuͤrde er jedes⸗
mal, nachdem er ſie befriedigt haͤtte, in ſeine erſte
Zudifferen; zuruͤckfallen, und nur aus derſelben her⸗
auegehen, wenn das Gefühl diefer von neuem ers
wachenden Bedürfniffe ihn dazu anreizte. Bey der
Leichtigfeit fie zu befriedigen, gebräche es ihm an jes
dem Sporne, fich über. den Inſtinct des Thiers zu -
erbeben, und er würde nicht geſelliger werden, als
dieſes iſt.
Dies war jedoch Feinesweges die Abſicht der
hoͤchſten Weisheit. Sie wollte aus der menſchlichen
Gattung ein intelligentes Ganzes bilden, das fi
ſelbſt durch einen eben fo. einfachen als wunderbaren
Mechanismus orduete; feine Theile waren vorbereis
tet, und ſo zu reden — um ſich zu dem nr
E77 3
486: Behbicte der neienn Pptofophie A tEi
ften Enfemble zu "vereinigen; einige geringe Hinber⸗
niſſe mußten ihrer Tendenz weniger widerſtreben, als
fie deſto ſtaͤrker zur Vereinigung reizen, Einzein
ſchwach, delicat, empfindlich, mußten die Triebe;
und die Unruhe, welche die momentane Abweſenheit⸗
der Objecte zu ihrer Befriedigung verurſachte, dieſe
Ar det moraliſchen lan br ar —
Was mußte aber aus diefer Teaſi ioM: ‚jetieg:
Triebfedern entipringen? Zwey hewundernswuͤrdige
Wirkungen: ») eine wohlchäfige Neigung für:
Alles, was’ unfere Schwäde erleichtert oder ihr ab⸗
büft; 2) Die Entwickelung den Bernunfty
welche die Natur gleichfam der Schwäche zur Gefaͤhr⸗
tina gab, um fie zu unterflügen. : Aus dieſen beyden
ergiebigen Quellen mußten nun weiter fließen der Bers;
ſtand und die Motive zur Gefelligfeit, eine Juduſtrie,
eine einmürhige Vorſicht, kurz alle Ideen uud Keut⸗
niffe, die unmittelbar oder mittelbar zur allgemeinen
Gluͤckſeligkeit in Relation ftehen. Man kann daher
mit Seneca ſagen: Quicquid nos meliores beatosque.
faclurum eſt, natura in apertoaut in proximo polvit,
Genau in dieſem Gefichtspunkte bat auch die
Matur die Kräfte der gefamten Meufchheir nady vers
ſchiedenen Proportionen :auter alle Individuen der
Gattung vereheilt; hingegen das Eigenthum des herr;
vorbringenden ‚Feldes ihrer Gefchenfe hat fie unge
theilt gelaffen, und Allen und Jedem komt der Ges
brauch ihrer: Gaben: zu. Die Welt ift eine für alle
Säfte birreichend befegte Tafel, deren. Gerichte: batd
für Alle beftimie find, weil Alle Hunger haben, ' Bald
nur fire Einige, weil die Hebrigen ſchon geſaͤttigt ſind,
Auf dieſe Weiſe iſt Niemand an und fuͤr ſich der uns
be⸗
waͤhtend de achtz aha au 48
beſchränkte Herr detſeiben, und pad auch Fein. Recht,
auf die Herrſchaft Auſpruch zu machen. Die Natur hat⸗
te alſo auf die Feſtigkeit dieſes Fundaments gegründet,
_ was veränderlich-und’beweglich fenn mußte; fe para |
Sorge geträgeit, Die Bewegungen und Berdi
gen zu regeln und ju combiniten. — ER
Itzt laſſen ſich die Ordnung, die ‚Gräude,, und, |
Die Verbindung der. vortehniften Triebfedern dieſer
wunderbaren Maſchine kurz und, pollſtaͤndig in ſolgen⸗
der Ueberſicht darſtellen.
1) AUntheilbare Einheit des Eigenthums der
Erde, als Erbgutes der Menſchheit und semein⸗
ſchaftlicher Gebrauch ihrer Productlonen. *
2) Ueberfluß und Mannichfaliigkeit diefer. Bros
ductionen, die größer und ausgedehnter find, als uns‘
fere Bedürfuiffe, die mir aber doch nicht ohne Ürbeit
ſammeln und erndien fönnen. Das find die Vorbes
reirungsmiscel zu unferer Erpaltüng und die ..
unfers Daſeyns.
‚Um aber die Menſchen zur Sinmärßigtei ww
einer allgemeinen Harmonie zu difponiren, und um
dem Confliete der Anfprüche vorzubeugen, der in bes.
fondern Fällen entſtehen Fönte, hat die Natur wies
Derum :
1) Die Menſchen durch die Gleichheit —
Empfindungen und Bedürfniffe einſehen iaſſen die
Gleichheit ihres Zuftandes und ihrer Nechte, und die
Moihwendigkeit einer gemeinfchaftlichen. Arbeit.
2). Durch die momentane Abwechsiung dieſer⸗
‚ 'wermöge Deren fie uns nicht alle, nicht" -
auf gleiche Weife, und nicht zu derſelben Fett wegen,
Veprt uns die Natur, zuweilen von unſern Rechten
b4 uach⸗
488 Gefchichte der neuern Philoſophie
nachzulaſſen, um fie ändern einzuräumen, und bewege
| — dies ohne Ueberwindung und gerue zu ibun.
3. Manchmal fomt fie dem Widerſtreite, der
ven; der. Triebe, des Geſchmacks und der Nei⸗
gungen durch eine hinlängliche Zahl non Dbjecten zus,
vor, wodurch fie einzeln beftiedige werden koͤnnen;
oder vielmehr fie varkitt diefe Triebe und Neigungen,
um zu verhindern, daß fie nicht zu gleicher Zeit auf
m einziges Object fallen. . Trahit [ua quemque vo»
—
Br) "S- die: Verſchiedenheit der Staͤrke, bee
Sidüfrie, der nach dem verfchievenen Lebensaltern,
“oder der Bildung der Drgane abgemeffenen Talente,
zeigt fie dem Menfchen verfchiedene Beftimmungen,
zu denen fie ihre Kräfte nüßlich anwenden Finnen.
5) Die Natur bat gewollt, daß die Mühe und
Arbeit, für unſere Bedürfniffe zu forgen, ſtets ein
wenig ausgedehnter wären, als unſere Kräfte, wenn
wir allein find; Daß diefes uns die Norhwendigkeit ers
Fennen Tieße, zur Huͤlfe Anderer unfre Zufluche zu
nehmen, und uns. Wohlmwollen gegen diejenigen eins
floͤßte, welche uns helfen. Daher unfere Abneigung
gegen Einfamfeit und eine von Menſchen verlaflene
Dede, unſre Liebe für die Annehmlichkeiten und Vor⸗
theile einer mächtigen Vereinigung, einer bürgerlichen
| Geſellſchaft.
Endlich um unter ben Menfchen eine Reciprocitaͤt
der Huͤlfleiſtungen und der Dankbarkeit zu veranlaſſen
und zu unterhalten, und ihnen die Momente bemerl—
lich zu machen ‚Die ihnen dieſe Pflichten vorfchreibeng,
| " die Natur in das Lleinfte Detail hineingegangen,
und
‘
während: vd: achtz Jahrhund b auf Kant 285
und laͤßt ſie eines um bas andere, Mühe ober untuhe⸗
Sawäguig oder Vermehrung der Kraͤfte empfin den.
Alles ift angeordnet, abgeivogen,; vorhergeſehen,
in dem wunderbaren Automate der menjchfichen
Gefellfihaft; feine Verkettung, feine Gegengewichrt‘,’
feine Triebfedern, feine Effecte. Bemerkt man dad!
eine Conträrierät der Kräfte, fo ift es ein Schwanfen:
ohne Erſchuͤtterung, oder ein Gleichgewicht ohne ge⸗
waltſame Bewegung. Alles wird zu einem einzigen
gemeinfchaftlihen Ziele bingezogen. „Kurz diefe Mas’
f&ine, obgleich aus intelligenten Theilen zuſanmen⸗
geſetzt, wirft im Allgemeinen unabhängig: von ihrer
Vernunft in einzelnen beſondern Fällen, Den Deli⸗
berationen dieſes Fuͤhrers iſt die Natur zuvorgetonu
men, und laͤßt ihn nur dem Zuſchauer deſſen ſeyn,“
was das inftinctartige Gefühl bewirkt. Mit Eicero
kann man ſagen: Natura ingenuit, fine doctrina,
notitias parvas maximarum rerum, virtutem plan
— u.
Hiernach laffen fih nun auch die —— Pin
ftinnmen, nad) denen Die Moral und Politif ihre Vor⸗
ſchriften hätten einrichten müflen. Die Kunft muß:
te die Natur unterfiügen ; ihre Wirffamfeit mußte
fie nach der Wirkſamkeit dieſer abmeflen; nach der
Urt, wie die Kräfte unter den Menfchen vertheilt
find, mußte fie die Pflichten und Rechte jedes Mits
gliedes reguliren, und ihnen Die Sphäre ihrer Thäs
tigfeit anmweifen; bier war es, wo das Gleichgewicht
bervorzubringen war, Das cuique Suum. Nach den
Proportionen der Theile des Ganzen, mußte die
Wiſſenſchaft, die Herzen und Handlungen der Mens:
ſchen zu regieren, die wahren Mittel feſtſetzen, —8
al⸗
490 Geſchichte der neuen Philoſophie
halten, und beſtaͤrken, auf denen die; Bereinigung Dee.
Bürgerlichen Geſellſchaft beruht, und die, Uccorde wies
Derberftellen, wenn ihnen etwas gefhadet, oder fie
unterbrochen hatte. Was. man die Toͤne dieſer Har⸗
monie nennen fann, nebmlich der Rang, die Wuͤr⸗
den, die Ehrenſtellen, alles. mußte nach den Graden
des Eifers, der Faͤhigkeit, der Nuͤtzlichkeit jedes Buͤr⸗
gers abgemeſſen werden; man konte alsdenn ohne
Gefahr, um jede edelmuͤthige Anſtrengung aufzu⸗—
muntern, die zum gemeinen Wohle abzweckte, die
ſchmeichelhaften Ideen damit verbinden, womit Die,
wahren. Phantome, die frivolen Objecte des. Meides
ausſchmuͤckt; dieſes Laſter, ſo ſchaͤndlich es am ſich iſt,
iſt doch, auf nichts anders gerichtet, als was under
nuͤtzlich ſeyn kann; es exiſtirt ſelbſt nur da, und kann
nur da exiſtiren, mo die Eitelkeit ſich den Mamen
und die Vorzuͤge des Verdienſtes angeeignet bat
Mit Einem Worte: Hätte man es zur Örundmarime .
gemacht, daß die Menfchen nur in demſelben Maaße
groß und achtungswerth feyn würden, als fie beſſer
wären; fo würde nie etwas Anderes unter ihnen ges
berfcht ‚haben, als der Werteifer, fich .gegenfeitig
gluͤcklich zu machen; Müffiggang und. Unthätig⸗—
Feit-.mären dann Die einzigen Laſter, die einzigen
Verbrechen, die einzige Schande gemefen ; der Eher.
geiz hätte es nicht darauf angelegt, die Menfchen zu
unterjochen und zu unterdruͤcken, fondern‘ fie in Der
Induſtrie, Arbeitfamfeie und im Fleiße zu übers
treffen; die Weufferungen der Achtung, Die Lobſpruͤche,
die Ehrenbezeugungen, der Ruhm, hätten in den bes
ftändigen Gefühlen der Danfbarfeit und des Mitges
nuſſes beftanden, und wären nicht ſchaam⸗ und furcht⸗
volle Tribute für, diejenigen geweſen, die, fie gewaͤhr⸗
sen, oder eitle und hochmuͤthige Grüßen deſſen, was
man
während d. achtz Jahrhund. b. auf Kant, gr
man Gluͤck und Erpößungnennt, für dieſenigen,
welche ſie fodern und empfangen. —
Das einzige Laſter, ſagt Diderot, welches
Ad im Univerfum fenne, iſt der Geiz. Alle übris
*
gen, welchen Namen man ihnen auch geben mag,
ſind nur Töne und Grade von dieſem; es ift der Pros
Feus, der Mercur, die Bafıs, das Vehifel aller übris
gen tafter. Man analyfire die Eitelfeit, den Hochs
muth, den Ehrgeiz, die Betriegerey, die Heucheley,
den Hang zu Verbrechen (le Sceleratisine); man des
eomponite eben fo die meiften unſerer fophiftifchen Zus
enden, und Alles wird fich in das fubtile und vers
erblihe Element, Die Begierde zu haben, aufs
loͤſen. Selbſt im Schooße der Uneigennuͤtzigkeit wird
man dieſe antreffen. Dieſe allgemeine Peft aber,
das Privarintereffe, dieſes ſchleichende Fieber,
diefe Schwindfucht jeder bürgerlichen Geſellſchaft,
haͤtte ſie jemals da einwurzeln koͤnnen, wo ſie nicht
bloß gar feine Nahrung, ſondern auch nicht einmal
das geringfte gefährliche Ferment gefunden hätte?
Man fann alfo die Evidenz des Satzes nicht verfens
nen, dab da, wo gar fein Eigenthum eris
ſtiren würde, auch feine feiner gefährlichen
Folgen erifliren fann,
Diderot giebt nun eine Idee von der natuͤrli⸗
hen Rechtſchaffenheit, und wie man deu verderblie
hen Folgen derfelben vorbauen koͤnne. Die natürs
liche Rechtfchaffenheit ift in der allgemeinen Drdnung
des Univerfums das Reſultat einer unendlich weiſen
Einrichtung, in welcher kein Weſen ohne eine zufaͤlli⸗
ge Urſache der Bewegung oder der Exiſtenz eines an⸗
dern ſchaͤdlich ſeyn kann. Gie würde auch —
| j en⸗
| 492 Gecſchichte der: neuern Philoſophie
Menſchen geblieben ſeyn, was ſie war; eine unuͤber⸗
windliche Abneigung gegen jede. unnatuͤrliche Hands
lung, ein Geſetz, Durch das Gefühl dietirt, durch den
Verftand und das Herz gebilligt und geliebt. : Weit
Davon entfernt, beftändig Hinderniffen zu begegnen,
welche den ruhigen Zuftand des vernünftigen Weſens
ſchwaͤchen oder zeritören, hätte der Menfch frey von
der Furcht vor der Dürftigfeit nur einen einzigen Ge
genftand feiner Hoffnungen, nur ein einziges Motiv
feiner Handlungen, das Gemeinmwohl,. gehabt,
weil fein Privatwohl von diefem eine unfehibare Fol⸗
ge, gewefen feyn würde, Wer fieht nicht ein, daß
Diefe Moral nicht bloß der klarſten Demonftration -fäs
hig geweſen wäre, fondern auch der einfachftien und
jedem Menfchen verftändiichften? Wer mag zweis
feln, daß die Erziehung, indem fie ihre Vorſchriften
von diefer Moral entlehnte, fehr fühlbaren und aliger
miin intereffanten Wahrheiten, menigfiens eben jo
viel Gewalt und Credit über alle Herzen gegeben häts
te, als die gewöhnliche Erziehung taufend lächerlihen
Vorurtheilen Gewalt und Herrſchaft glebt? Die
Erziehung nah Dideror’s Theorie, indem fie jeder
fehlerhaften Gewohnheit zuvorfam, miürde, wie ihr
Urheber fich mit ſchwaͤrmeriſcher eitler Gutmuͤthigkeit
ſchmeichelte, die Menjchen unwiffend gelaſſen haben,
daß fie boͤſe werden Fönten.
Selbft aus den Einwürfen, melde die Mora⸗
fiften gegen feine Behauptung vorbringen oder vors
bringen fönten, ziehe Diderot einen Beweis, tie
wirffam die Erziehung nach feinen Principien geord⸗
net ſeyn würde. Man koͤnte ihm nehmlich entgegens
feßen: Eingeraͤumt, daß die Politif und. Moral biss
ber ſich fehlecht darauf verftanden haben, den politis
ſchen
während d. acht; Jahrhund. b. auf Kant. 498
fehen und moralifchen Webeln der Menfchheit abjufels
- fen; mürde, deshalb die Behauptung minder wahr
ſeyn, daß ihre Ohnmacht weniger aus ihren eigenen
Fonds herruͤhrt, als aus dem böjen Willen der Mens
ſchen, die mir fehlerhaften Neigungen gebohren wer»
Den, welche fi nur * Gewalt unterdruͤcken lafs .
fen. Denke man fich 5. B. zwey Kinder; kaum fans
gen fie an, Die Gegenftände zu unterfcheiden , fo bes
merkt man bereits bey ihnen einen Geift des Streits, .
des Diiputirens, der MWiderfpenftigfeit, der Lingen
duld, der Hartnädigfeit. Das eine, ob es gleich
befommen -hat, mas es Durch fein Schreyen begehrte,
will gleich wohl auch noch das haben, was man etwa
in feiner Gegenwart dem andern Kinde gab. Zus
weilen ſieht man fogar dieſe ſchwachen Automate fich
über ein erbärmliches Vergnügen mit Hitze und Ers
bitterung zanfen. in trauriger, Vorbote ihrer Fünfs
tigen teidenfchaftlichfeit, ihrer künftigen Zwietracht.
Dideror antwortet, daß die Kinder, da: fie
alsdenn noch nur mie einem Inſtinete verfehen find,
der nicht viel raffinierter ift, als der Inſtinct gewiſſer
Thiere, die man zaͤhmt, auch nur, wie diefe Thiere,
momentane Unwandiungen von Zorn haben, vorübers
gehende Antäffe zur Uneinigkeit, die Durch ein fchnels
es und lebhaftes Gefühl irgend eines Bedürfniffes
oder einer Unruhe erzeugt werden, und welche fie
manchmal in Anfehung des Beſitzes einer und ders
felben Sache in Concurrenz bringen. Uber 'diefe
Arten von Streitigkeiten, von fur; Dauernden Zänfes
regen, welche unter Thieren derfelben Gattung ents
ftehen , haben. für fie in Allgemeinen fo wenig Folgen,
Daß, wenn der Menfch gleich diefen Thieren auf eine
Beine Zahl von Fähigfeiten befchränft bliebe, fo würs
Zuple' Geif. d. philf. VI. gi de
4*
494 Gefchichte der neuern Philoſophie
de er to wenig wie diefe weder Haß, noch Eiferfurche,
noch irgend eine habituelle Leidenfchaft haben, noch
einen determinirten eigenfinnigen Willen, der ihn zu
brutalen Handlungen verleiten koͤnte. Er würde-auf
Diefe Weiſe nicht mehr der Geſetze und der Moral be⸗
dürfen, als das Thier; er wuͤrde gegen feines Glei⸗
chen moralifch nicht —— und berderbter kom, |
De * dieſes.
Aber wie * Po nach Didersr s Mey⸗
nung die Erziehung beſchaffen ſeyn, um jedem Laſter
zuoorzukommen? Da bey dem Menſchen die Ent⸗
wicfelung der Vernunft ‚auf das blinde Gefühl fotgtz
fo ift er von der Natur auch dazu gemacht, das ſanf⸗
tefte und Teiebarfte unter allen Thieren zu feyn, und er
‚würde es in dee That geworden feyn, wenn re ;
- jenes ſtupide Gefühl nur mechaniſch benutzt worden
wäre, um ihn mit friedlichen Neigungen und Ge⸗
wohnheiten zu familtarifiren; die Vernunft hätte her⸗
nach diefes angefangene Wert vervollkomnert; fie war
nicht beftimt, was auch die Philofophen biergegen
fagen mögen, um würhende Leidenſchaften in uns zu
‚befämpfen, oder um Unordnungen zuvorzufonimen,
die nie exiftirt Haben würden; wenn der Menfch durch
"eine den Principieh, Dideror’s entfprechende Exjies
‘hung gehörig vorbereitet, und gleichfam gezaͤhmt wor⸗
den wäre. Er hätte Dann von den Fähigfeiten —
Geiſtes nur Gebrauch zu machen noͤthig gehabt um
die Vortheile einer weiſe eingerichteten Geſellſchaft zu
erkennen und zu genießen. Bon ſeinen fruͤhſten Jah⸗
ren an gewoͤhnt, ſich nach den Geſetzen zu richten,
hätte er nie darauf gedacht, Ihnen zu widerſtreben
Keine Furcht vor Mangel an Huͤlfe, an norhwendb -
gen oder RR Dingen, Die in ihm —
2
wärend d. achtz Japepund: b. auf Sant, 495
ßige Triebe erzeugt. Jede Idee von Eigenthuln waͤ⸗
re durch die Vaͤter weislich entfernt worden; jeder
Rivalitaͤt im Gebrauche der allen Menſchen gemein⸗
ſamen Güter wäre man zuvorgekommen, oder fie wäs
‚re verbannt. Wie würde es unter ſolchen Umſtaͤnden
möglich geweſen feyn, daß der Menſch nur darauf
‚gedacht hätte, mit Gewalt oder tift zu rauben, was
ihm Fein Dienfch jemals freitig gemacht haben würde,
Diderot giebt übrigens zu, daß ungeachtet
aller weifen Vorſichtsmaaßregeln, die nach feinen Ers
ziehungsſyſteme beobachtet feyn möchten, Doch unter
den Menfchen immer Gelegenheiten zum Zwifte und
Difpute eriftirt haben würden; aber diefe Fleinen Uns
vegelmäßigfeiten würden auch eben fo vorübergehend
geweſen feyn, wie die Urfachen und Umſtaͤnde, wel—
he fie hervorgebracht hätten. Da die allgemeine und
permanente Urſache jeder Zwietracht gar nicht exiſtirte,
und das menfchliche Herz fich nicht- mehr langen und
heftigen Erſchuͤtterungen ausgefeßt fand, noch auch
von graufamen Berlegenheiten beunruhigt wurde; fo
ift evident, Daß es gar Feine lafterhafte Gewohnhei⸗
. sen zu feinem Verderbniſſe annehmen Fonte, Auffers
dem würden, auch die friedlichen Vorurtheile feiner
Erziehung die. Vernunft ftets unterftüge ‘haben, die
noch dazu nicht durch eine unendliche Menge falſcher
‚Ideen verdunfelt worden feyn wider .
- Da bingegen bey dem gegenwärtigen Zuſtande
Der Menfchheit fich durchaus Feine wirkſame Mittel
entdecken laffen, um jeder. Unruhe und Verwirrung
in. eimer bürgerlichen Geſellſchaft zuvorzukommen:
was für traurige. Wirkungen müfjen nicht aus den
Regeln, Benfpielen, Vorurtheilen, die vom Vater
— 3Ji'bæ⸗ auf
496 Gecſchichte der neuern Philoſophie
auf den Sohn durch eine Erziehung fortgepflanzt wer⸗
den, welche zufolge einer Moral voll enormer Irr⸗
shümer, die man doch für ewige Wahrheiten bälr,
‚ den Menfchen von feiner Kindheit an wild macht,
‚and feine auffeimende Vernunft nur zu niederfchlas
genden Berrachtungen führe, Iſt es zu verwundern,
wenn Diefe Vernunft eines der gefährlichften Werk⸗
zeuge der Bösarrigfeit wird ?_ Won hier an müflen
alle Verirrungen der Menfchen datire ‚werden.
Inder That wozu. bereitet wohl die gewöhnliche
Erziehung ſowohl den Verſtand, als das Hey? —
Zu nichts anderm, als fich unter das och einer fünfte
lihen Moral zu beugen, die der Natur den Mücken
kehrt, und ſtets mie fich felbft im Widerſtreite be⸗
griffen if; da durch ihre eigenen Rathſchlaͤge die
Dinge unglücklicherweife fo geordnet oder vielmehr
umgefehrt werden, Daß ben: zahllofen Veranlaſſungen
heftige und tobende Leidenfchaften entſtehen muͤſſen,
feld aus den Mitteln, welche die Moral anzeigt,
‚um fie zu beſtreiten und zu dämpfen. Ä
| Dideror erflärt feine Theorie für einen Schaf
der wichtigften und Foftbarfien Wahrheiten, der aber
feit fehs bis fieben Jahrtauſenden, d. i. ſeit der
zeit, daß ein großer Theil des Menfchengefchlechts
unter Geſetzen gelebt hat, immer durch diejenigen wir
Derfprochen worden ift, melche ſich angemaaßt haben,
ihm Geſetze vorzufchreiben. Diefe angeblichen Wei⸗
fen, welche unſere Imbecillitaͤt bewundert, indem fie
den Menſchen die Hälfte der Güter der Natur raub⸗
‚sen, haben ihre weiſe Einrichtung aufgehoben ,: und
allen Verbrechen Thuͤre und Thor geöffnen 1
Diefe
waͤhrend d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant, 497:
| Diefe Führer, gerade fo blind, wie Diejenigen,
welche fie führen wollten, haben alle Motive gegens
feitiger Zuneigung und Wohlwollens erfticht, - die
norhwendig das Vereinigungsband der Kräfte der
Menfchen hätten ausmachen muͤſſen. Sie haben alle
einmürhige Borfiche, alle Mitheilung der Hülfe, in,
ängftlihe Sorgen verwandelt, die unter den einzels
nen Gliedern Ddiefes großen Körpers vertheilt find.
Sie haben durch taufend entgegengefeßte verworrene
Agitationen Ddiefer uneinigen Glieder das Feuer einer
brennenden Begierde angezünde. Sie haben den
Hunger und die Gefraͤßigkeit eines unerfärtlichen Geis
ges erweckt. Ihre ehörichten Eonftiturionen haben
den Menfchen der Gefahr ausgefegt, an Allem Dans
gel zu leiden. Wie begreiflich ift es alfo, Daß um
ſich diefer Gefahr zu erwehren, die Leidenfchaften fich
bis zur Wurh entzünderen? Konten die Moraliften
ſich Flüger benehmen,, wenn fie es dahin bringen wolls
ten, Daß der Menfch feines Gleichen fraß? Welche
neue Anfirengungen machte es nun ihnen nothwen⸗
big, menn.fie den Gefahren ausweichen wollten , die
unvermeidlich aus ihren Verrirrungen entjpringen
mußten! Ä
Trog allen Regeln und Marimen hat man im
mer den unaufbsrlichen Durchbruch eines Dammes
verftöpfen müflen, der dem friedlichen Laufe eines Bas
‚ ches entgegengefeße, welcher eben Durch diefes Hin⸗
derniß feines Laufes anfchwoll, und durch feine Her
berſchwemmung zu einem ftürmifchen Meere wurde.
Als ungefchicfte Mafchiniften haben fie die Bande
zerriſſen, die Triebfedern zerbrochen, deren Auflös-
fung die Auflöfung aller Bande und Triebfedern der
menfchlichen Geſellſchaft nach ſich zog. Und nun
a 31i3 wollen
\
498 Geſchichte der neuern Philoſophie
wollen ſie den Ruin der Menſchen durch einen erkuͤn⸗
ſtelten zwangvollen Verband, durch zufaͤllig bald
hier bald dort angebrachte Gegengewichte aufhal⸗
ten. Was iſt aber der Erfolg ihrer Bemuͤhungen? —
Voluminoͤſe Abhandlungen über die Motal und Pos
litik, quorum tituii remedia habent, pixides venena;
Viele von dieſen Werken fönte man folgendermaßen
beriteln: Die Kunſt, dte Menfhen unter
den fheinbarften Borwänden böfe und ver
kehrt zu machen, felbfi mit Hülfe Der
Fhönften Borfchriften der Frömmigfeit und
Tugend. Ein Titel von andern Fönte feyn: Mits
tel, die Menfhen zu poliziren durch VBers
erdnungen und Gefeße, wodurch fie am
erfien wild und barbarifch werden.
Diderot’s Theorie. der Moral und Politik
fäuft im Ganzen darauf hinaus, den Menfchen wies
derum feinem natürlichen Zuftande zu nähern, im
weichen. die wohlwollenden Neigungen, unterflüße
durch die in reiferm Alter fich entwichelnde Vernunft,
die: Tugend begründen, und dem Lafter entgegenmwirs
fen. Hier hat er fich aber gänzlich in der Natur des
Menfchen geirrt. Würde diefer gleich vollendet an
Sinnen und Vernunft gefchaffen, fo daß beyde in
gegenfeitiger Harmonie und verhältnigmäßiger Eners
gie rege und wirkfam in ihm würden; erzeugteit nicht
die in der gefellfchaftlihen Verbindung enefpringenden -
Bedürfniffe, und die Nothwendigkeit, ihnen abzu⸗
‘ heifen, der Natur ihrer Gegenftände und der gefells
ſchaftlichen Verhaͤltniſſe ſelbſt nach, mehr die eigens
füchtigen Triebe und Neigungen, als die wohlwollens
den; und würden jene bey dem Webergewichte der
Sinnlichkeit überzdie Vernunft: in: den frühern Jab⸗
— — ren
während d. achtz. Jahrhund. b. auf Kant. 499
ren des Menſchen nicht weit maͤchtiger, als dieſe, ſo
ließe ſich von der Diderotſchen Moral und Politik eher
die Wirkung erwarten, die ihr Erfinder ſich und dem
Publicum davon verſprach. Allein das Gegentheil
wird durch die Erfahrung aller Zeiten und bey allen
Voͤlkern bewaͤhrt. Selbſt die wildeſten Voͤlker, die
am weiteſten von der Cultur entfernt, und deren Bes
Dürfniffe noch die einfachften find, denen man alfo
auch die größte Einfachheit der Triebe und Meiguns
gen, die größte Herfchaft der wohlwohenden Neigun⸗
gen über die eigenfüchtigen zutrauen follte, zeigen, und
Außern in ihren Handlungen eben die egoiftifche Denk⸗
art, die bey den cultivirteften Nationen Princip ges.
worden ft. Ueberhaupt ift nur durch Gefeße dee
Vernunft auf die Triebe und Meigungen zu wirfen,
‚und diefe Gefege müffen ihrem Grunde nach durch
die Vernunft felbft, und ihrer Anwendung nad) durch
‚Die Erfahrung beftimt werden. Wie fie zu. beſtimmen
find, darüber mögen die Philofophen ftreiten. Kine
falfche einfeitige Vernunft» Moral fann die Handluns
gen eines Menfchen verderben. Aber Dadurch, daß
man ihn den marürlihen DMeigungen Preis giebt,
wird er auch weder tugendhaft, noch glücklich werden.
Ende der erfien Hälfte des ſechſten Bandes.
Bey dern Werleger diefes find unter andern folgende
Ä Buuͤcher erſchienen:
J. Beckmann Vorrath kleiner Anmerkungen über manderlet
gelehrte Gegenſtaͤnde. Erſtes und Zweytes Stuͤck. 8. 1795.
4803. | ı rthlr. 4 9gr.
€. Brandes Ueber ben gegenmärtigen Suftand der Univerfitdt
Göttingen. 8. 1802. ı ıthir. 8 gar.
J. G. Buhle Ueber den Urſprung und die vornehmſten Schick⸗
ſale der Orden der Roſenkr. und Freym. 8. 1 rthl. 8. gar.
4,68. Eich horn Weltgeſchichte. Erſter Theil und Zweyten
Theils Erſter und Zweyter Band. Zwepte verbeſſerte Aus
gabe. gr. 8. 1804. 6 rthlr. 8 gar.
A. 9. 2. Heeren Heine hiſtoriſche Schriften. Erſter Theil. 8.
1803. ı rthlr. 499r.
S. 5. Herbart Peſtalozzi's Idee eines ABE der Anfhauung
ale ein Cyklus von Vorubungen zum Auffaffen der Seftalten
wiffenfchaftlih ausgeführt. Zweyte, durch eine allgemein
yadagogifche Abhandl. vermehrte, Ausgabe. 8. 1804. 18 ggr.
C. Meiners Ueber die Verfaſſung und Verwaltung deutſcher
Univerfitäten. Zwey Bände. gr. 8. 1801. 1802. 3tthlr.
effen Gefhichte der Entftehung und Entwidelung der hohen
P Schulen unfers Erdtheils. Erfter bie Dritter Band. gr. 8.
1802 - 1804. 5 rthlr,
Deſſen Beſchreibung einer Reife nad Stuttgart und Strasburg
im SHerbfte 1301. mebft einer Eurzen Geſchichte der Stadt
Strasb. waͤhr. d. Schredenszeit. 3. 1803. ıtthir. zo ggr.
2. W. Rehberg Ueber den deutſchen Adel. 8. 1803. 20ggr.
C. R. Treviranus Biologie, oder Philofopbie der lebenden
Natur für Naturforicher und Aerzte, Erfier und en
ter Band. gr. 8. 1802. 1805. 4 sthir,
f
U EEE F = .. “) er . wS- &
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